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German Pages 1385 [1383] Year 2020
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission
Band 3: Drittes Reich und Exil
De Gruyter
Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert Drittes Reich und Exil Teil 3: Der Buchhandel im deutschsprachigen Exil 1933–1945 Teilband 1
Im Auftrag der Historischen Kommission verfasst von Ernst Fischer
De Gruyter
Herausgeber: Historische Kommission Ordentliche Mitglieder: Prof. Thedel v. Wallmoden (Göttingen), Vorsitzender; Prof. Dr. Christine Haug (München), stellvertretende Vorsitzende; Prof. Dr. Ernst Fischer (Groß-Siegharts); Prof. Dr. Stephan Füssel (Mainz); Dr. Roland Jaeger (Hamburg/Berlin); Dr. Christoph Links (Berlin); Prof. Dr. Siegfried Lokatis (Leipzig); Prof. Dr. Wulf D. v. Lucius (Stuttgart); Prof. Dr. h. c. mult. Klaus G. Saur (München); Prof. Dr. Reinhard Wittmann (Fischbachau) Korrespondierende Mitglieder: Prof. Dr. Hans Altenhein (Bickenbach); Thomas Bez (Stuttgart); Dr. Achim Bonte (Dresden); Dr. Monika Estermann (Berlin); Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Fabian (Münster); Dr. Bernhard Fischer (Weimar); PD Dr. Johannes Frimmel (München); Prof. Dr. Wilhelm Haefs (München); Prof. Dr. Murray G. Hall (Wien); Dr. Ulrike Henschel (Wiesbaden); Dr. Stephanie Jacobs (Leipzig); PD Dr. Thomas Keiderling (Leipzig); Dr. Thekla Kluttig (Leipzig); Dr. Michael Knoche (Weimar); PD Dr. Mark Lehmstedt (Leipzig); Prof. Dr. Steffen Martus (Berlin); Prof. Dr. York-Gothart Mix (München); Dr. Helen Müller (Berlin); Dr. David Oels (Berlin); Bernd Rolle (Jena); Prof. Dr. Patrick Rössler (Erfurt); Prof. Dr. Wolfgang Schmitz (Köln); Prof. Dr. Carlos Spoerhase (Bielefeld); Dr. Volker Titel (Erlangen); Prof. Dr. Peter Vodosek (Stuttgart); Dr. Tobias Winstel (München)
ISBN 978-3-11-029684-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-030335-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038795-7 Library of Congress Control Number: 2020936599 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Inhalt Einleitung: Buchhandel im Exil ‒ ein historischer Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Exil als Phänomen einer Globalgeschichte des Buchhandels 1 – Der Buchhandel im Exil – kein »System«, aber ein komplexes Phänomen 2 – Eingrenzungsprobleme 4 – Das Exil 1933–1945: eine Epoche des Buches 5 – Die personengeschichtliche Dimension des Themas »Exil« 8 – Vorarbeiten und Dank 9 1
Geschichtliche Grundlagen: Vertreibung und Asyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur Vorgeschichte des Exils 13 – Phasen der Vertreibung: Die politische Emigration 14 – Die jüdische Emigration 16 – Die buchhändlerische Emigration 17 – Die Zerschlagung des linken Buchhandels 18 – Die »Entjudung« des Kulturlebens und der jüdische Ghettobuchhandel 21 – Topographie des Exils 25 – Fluchtländer in Europa 1933 bis 1938/1939 27 – Exkurs: Der »Anschluss« 1938 und seine Folgen für Verlag und Buchhandel in Österreich 30 – Weitere Fluchtländer in Europa 1933 bis 1945 41 – Palästina oder Erez Israel 52 – Das überseeische Exil 1939 bis 1945 53 – Nordamerika 54 – Lateinamerika 56 – Australien und Shanghai 62 2
Exilbuchhandel und Drittes Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abwehrmethoden des NS-Regimes: Propaganda und Überwachung 65 – Ein Hauptgegner: Willi Münzenberg 70 – Der Fall Berthold Jacob und die Affäre Liepmann 76 – Observierung des Exilbuchhandels: Das Leitheft »Emigrantenpresse und Schrifttum« 78 – Emigrantenliteratur und der Buchhandel im Reich 79 – Exilliteratur als Gegenstand der Listenindizierung in NS-Deutschland 82 – Verbotspolitik kontra Sammelauftrag: die Rolle der Bibliotheken 84 – Ausgrenzung des Exilbuchhandels aus dem deutschen Buchhandel 85 – Die NS-Bücherverbrennung und die Gegenpropaganda der Emigration 88 – Die Ausstellung »Das Freie deutsche Buch – seine Entwicklung 1933 bis 1936« 93 – Die Buchausstellung des SDS »Das deutsche Buch in Paris 1837‒1937« 96 – Tarnschriften 98 – Rundfunk im Exil 105 – Die deutsche Buchexportförderung: ein »Bücherdumping« zum Schaden der Exilverlage? 108 3
Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Schriftstelleremigration: Ein Massenexodus 111 – Der Zwang zur Politik: Schriftsteller als Repräsentanten des »Anderen Deutschland« 113 – Sammlung im Exil: Organisatorische Zusammenschlüsse 115 – Der PEN-Club im Exil 117 – Der Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil in Paris 124 – Der »Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« 1935 137 – Der SDS im Exil auf dem Weg zur KP-»Frontorganisation« 143 – Der Bund Freie Presse und Literatur 146 – Schriftstellerische Zusammen-
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I nh a l t schlüsse in Großbritannien und Schweden 148 – SDAS / GAWA: Ein Ableger des »Schutzverbandes« im US-amerikanischen Exil 148 – Schriftstellervereinigungen in Mexico City 151 – Arbeitsprobleme und soziale Lage der Schriftsteller im Exil 152 – Sprach- und Identitätsprobleme 155 – Autor-VerlegerBeziehungen im Zeichen des Exils 159 – Materielle Bedingungen schriftstellerischer Berufsausübung im Exil 167 – Rechtsunsicherheit 167 – Einkommensquellen der Schriftsteller 171 – Vorschuss- und Rentenzahlungen 172 – Marktorientierung in der Stoffwahl 175 – Valutaprobleme bei der Auszahlung von Autorenhonoraren 176 – Autorenlesungen und »lecture-tours« 177 – Selbstverlag 182 – Hilfswerke für Schriftsteller 184 – Literarische Preisausschreiben 186 – Der Literaturpreis der Zeitschrift Internationale Literatur 186 – Der Heine-Preis des SDS im Exil 187 – Der Herder-Preis, Prag 193 – Das Preisausschreiben der Sammlung 194 – Der Wettbewerb der American Guild – ein Desaster 195 – Weitere literarische Preisausschreiben im europäischen und überseeischen Exil 198
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Buchherstellung und Buchgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1933: Bruch und Kontinuität 203 – Technische und logistische Herstellungsprobleme 206 – Buchausstattung 213 – Der Schutzumschlag zwischen Politik und Marketing 221 – John Heartfield 221 – Georg Salter 226 – Buchgestalter in den Verlagen Gottfried Bermann Fischers 232 – Internationalisierung der Schriftkultur: Die Emigration der Typographen 234 – Jan Tschichold 236 – Die Bauhaus-Typographie im Exil 243 – Typographie in Palästina / Israel 245 – Buchillustratoren im Exil 247 – »Bücherluxus« im Exil: Bibliophile Bücher und Pressendrucke 263 – Innovative Buchkonzepte im Exil – das moderne Taschenbuch 272
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Verlagsbuchhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
5.1
Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Zur Typologie der Exilverlage 279 – Frühe Versuche der bibliographischen Erfassung der Buchproduktion des Exils 281 – Sammlung und Verzeichnung der Buchproduktion im Exil nach 1945 284 – Produktgruppenstatistik – charakteristische Schwerpunktbildungen 289 – Auflagenhöhen 292 – Bestseller des Exils 296 – Verkaufspreise der Bücher 298 – Verlagskooperationen, Gemeinschaftsausgaben 300
5.2
Verlagssparten und Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
5.2.1
Belletristische Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Niederlande: Verlagszentrum Amsterdam 306 – Der Querido Verlag 307 – Der Verlag Allert de Lange 316 – Die Kooperation von Allert de Lange mit E. P. Tal (Wien) 323 – Schweiz 328 – Die Verlage Emil Oprechts 328 – Das Verlagsprogramm von Oprecht & Helbling 334 – Das Programm des Europa-Verlags, Zürich, New York 337 – Humanitas Verlag, Zürich 341 – Steinberg Verlag, Zürich 345 – Verbano Verlag, Locarno 347 – Ring-Verlag,
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VII Zürich 349 – Luxemburg 351 – Frankreich 352 – Verlag Europäischer Merkur 352 – Les Éditions Bergis 355 – Éditions du Phénix 356 – Verlag Die Zone und der Kultur-Verlag (Prag, Paris) 361 – Die Éditions du Carrefour als Belletristikverlag 361 – Deutsche Exilverlage in Österreich 362 – Bermann-Fischer Verlag, Wien 363 – Thomas Verlag Jakob Hegner, Wien 377 – Bastei-Verlag, Wien 378 – Tschechoslowakei 379 – Malik-Verlag, Prag 379 – Julius Kittls Nachf., Mährisch-Ostrau 385 – Michael Kácha, Prag 391 – Verlag Martin Feuchtwanger (Fünf Türme Verlag), Prag 394 – UdSSR 396 – Die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter, Moskau und Leningrad 397 – Verlag für fremdsprachige Literatur 401 – Weitere Staatsverlage 402 – Schweden 403 – Bermann-Fischer Verlag, Stockholm 403 – Kooperation der Exilverlage: Die FORUM-Bücher 409 – USA 415 – L. B. Fischer Publishing Corporation, New York 415 – Die Bücherreihe »Neue Welt« 418 – Bermann Fischer: Rückkehr nach Deutschland 428 – Noch einmal Schweden: Der Neue Verlag, Stockholm 432 – Dänemark 436 – Trobris-Verlag 436 – Großbritannien 437 – Publikationsplattformen politischer Vereinigungen 437 – Heinemann & Zsolnay 440 – Die Vereinigten Staaten von Amerika 441 – Von Albatross zur NAL: die Karriere Kurt Enochs 442 – Henry Koppell und die Alliance Book Corporation 444 – Friedrich Krause als Verleger 447 – Pantheon Books, New York 448 – Frederick Ungar Publishing Comp., New York 459 – Storm Publishers, New York 465 – Der Aurora-Verlag, New York 468 – Schoenhof Verlag, Cambridge, Mass. 472 – Palästina 473 – Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem 473 – Olamenu Publishing House, Tel Aviv 476 – Joachim Goldstein, Tel Aviv 476 – Verlag Willy Verkauf, Jerusalem 477 – Edition Olympia, Tel Aviv 478 – Tarshish Books, Jerusalem 480 – Südamerika 480 – Editorial Cosmopolita, Argentinien 480 – Editorial Estrellas, Buenos Aires 484 – Editorial el Lago, Chascomús / Argentinien 485 – Editora Léo Jerônimo Schidrowitz, Porto Alegre / Brasilien 487 – Editorial Los Amigos del Libro, Cochabamba 487 – El Libro Libre, Mexiko 488
5.2.2
Politische Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Frankreich 497 – Die Éditions du Carrefour, Paris 498 – Gesellschafter und Mitarbeiter 501 – Funktion und Arbeit des Verlags 502 – Das Programm der Éditions du Carrefour 503 – Zu einzelnen Publikationen der Éditions du Carrefour 1933‒1940 507 – Das Ende des Verlags 516 – Éditions Sebastian Brant, Straßburg 519 – Münzenbergs Ende 524 – Éditions Prométhée, Straßburg / Paris 525 – Éditions du 10 Mai, Paris 527 – Éditions A.S.R.A., Paris 533 – Éditions Bernhard Rosner / Éditions Météore 534 – Éditions Nouvelles Internationales 536 – Politische Kleinverlage in Frankreich 540 – Tschechoslowakei 545 – Die Graphia Druck- und Verlagsanstalt, Karlsbad 545 – Eugen Prager Verlag, Bratislava (Wien) 550 – Großbritannien 551 – Lincolns-Prager Publishers Ltd., London 552 – New Europe Publishing Co. Ltd. (Jakob Hegner), London 554 – Schweiz 554 – RingVerlag 554 – Der Vita Nova Verlag in Luzern – ein Tarnverlag? 555
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5.2.3
Judaica-Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 Palästina 563 – Jüdischer Verlag / The Jewish Publishing House Ltd. 563 – Rubin Mass Publishing House, Jerusalem 564 – Romema-Verlag, Jerusalem 565 – Großbritannien 565 – Ararat, London 565 – East and West Library, Oxford 567 – USA 567 – Schocken Books, New York 567 – Philipp Feldheim, New York 574 – E. Laub Publishing, New York 574
5.2.4
Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Die Wissenschaftsemigration 575 – Frankreich 577 – Science et Littérature 578 – Wissenschaftliche Exilpublikationen in französischen Verlagen 580 – Dänemark 581 – Sexpol.Verlag 581 – Großbritannien 582 – Imago Publishing Co. 582 – Niederlande 584 – Die deutschsprachige Abteilung bei A. W. Sijthoff, Leiden 584 – E. J. Brill, Leiden 587 – Verlag Wilhelm Junk, Den Haag 588 – Tiefland Verlag und Akademische Verlagsanstalt Pantheon 589 – Tschechoslowakei 590 – Academia Verlag 590 – Schweiz 591 – Karger AG, Basel 591 – Palästina 593 – Ägyptologischer Verlag, Kartographischer Verlag 594 – Südamerika 594 – Casa Editora Liebmann, Quito, Ecuador 594 – Todtmann Editores, São Paulo, Brasilien 596 – Wissenschaftsverlage im US-Exil 596 – Academic Press, New York 598 – Nordemann Publishing Company und Interscience Publishers Inc. 601 – Grune & Stratton, New York 603 – Springer Publishing Company, New York 604 – Paul Perles bei Yearbook Medical Publishers Inc., Chicago 605 – International Universities Press Inc., New York 606 – Philosophical Library, New York 607 – Focal Press, London / New York, und Global Press, New York 610 – ABC-Clio, Santa Barbara, CA 611 – Reprintverlage 612 – Johnson Reprint Corporation, New York 613 – Kraus Reprint, New York / Nendeln, Liechtenstein 614
5.2.5
Kunstbuchverlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Das illustrierte Kunstbuch in Deutschland, eine kurze Vorgeschichte 617 – Großbritannien 619 – Bruno Cassirer Publishers Ltd., Oxford 619 – Phaidon Press, London 624 – Adprint Ltd., London 633 – Thames & Hudson, London 639 – Werner Schüller in Oxford University Press 641 – Die Focal Press, London, ein Fotografie-Verlag 642 – Schweiz 643 – Holbein Verlag, Basel 643 – Verlag S. A. W. Schmitt, Zürich 645 – Belgien 646 – Éditions de la Connaissance, Brüssel 646 – USA 646 – Chanticleer Press, New York 646 – Wittenborn & Comp., New York 648 – Twin Prints, The Twin Editions 648 – Kunstgalerien mit Verlagstätigkeit 648
5.2.6
Musikverlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Zur spezifischen Situation des Musikverlagswesens vor und nach 1933 651 – Großbritannien als Asyl für Musikverleger 653 – C. F. Peters / Hinrichsen Edition Ltd., London 654 – Edition Bernoulli / Sondheimer Edition, Basel / London 656 – British Standard Music Company 657 – Schauer & May / Richard Schauer Music Publishers 657 – Josef Weinberger Ltd.,
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IX London 658 – Brull Ltd. & Co. Paris, London 659 – Julius Hainauer Ltd., London 659 – Edition Eulenburg Ltd. 660 – Fürstner Ltd., London 660 – Die Universal Edition Ltd., London 661 – Die Rolle von Exilanten in britischen Musikverlagen (Novello, Boosey & Hawkes, Schott & Co. Ltd.) 663 – Schweiz 666 – Musikverlag und Bühnenvertrieb AG, Zürich 666 – Ars-VivaVerlag, Zürich 667 – Frankreich 668 – Éditions Méridian, Paris 668 – Die Wiener Musikverleger Otto und Erwin Hein im Pariser Exil 669 – USA 670 – C. F. Peters Corporation, New York 670 – Emigrantenkarrieren in US-Musikverlagen 672 – Belmont Music Publishers und International Music Corporation 675 – Alexander László und die American Colorlight-Music Society 676 – Verlage für Jüdische Musik in Palästina / Israel und in den USA 677 – Edition Pro Musica 678 – Israeli Music Publications Ltd.; Ilan Melody Press, Tel Aviv 678 – Transcontinental Music Publishers Corp., New York 679 – Hatikvah Music Publishing Comp., Boston 680 – Südamerika 681 – Edicion Fermata, Buenos Aires / Fermata Do Brazil, São Paulo 681 – Otto Preston, Buenos Aires 681
Inhalt 5.2.7
Kinder- und Jugendbuchverlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Spezifika der Kinder- und Jugendliteratur im Exil 683 – Tschechoslowakei 686 – UdSSR 689 – Frankreich 690 – Schweiz 691 – Der AtriumVerlag, Basel / Zürich 691 – KJL des Exils in Schweizer Verlagen 695 – Niederlande 698 – Schweden 699 – Großbritannien 699 – USA 706 – Island Press, New York 706 – Kinder- und Jugendbücher bei Pantheon Books, New York 707 – Erika Mann und die L. B. Fischer Publishing Corp. 709 – KJLAutor/innen und Illustrator/innen in US-Verlagen 710 – Südamerika 716 – Editorial Cosmopolita, Buenos Aires 716 – Palästina 719 – Lea Goldbergs Kinderbuchserie Ankorim 719
5.3
Zeitschriften und Zeitungen des Exils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 Die Presselandschaft des Exils 722 – Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung 725 – PTB und PTZ: Auflage und Verbreitung 729 – Das Feuilleton 731 – Die Literaturkritik 735 – Politisch-kulturelle Exilzeitschriften 740 – Kulturell-literarische Exilzeitschriften 744 – Politische Organe 749 – Politisch-kulturelle Zeitschriften der jüdischen Massenemigration 752 – Wissenschaftliche Zeitschriften 754
5.4
Literarische Agenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 Literaturagenten: Schlüsselfiguren auf den Buchmärkten des Exils 755 – Exilschriftsteller und ihre Einstellung zum Agenturwesen 757 – Barthold Fles und sein Einsatz für die Exilschriftstellerschaft 759 – Elias Alexanders Londoner Agentur European Books Ltd. 762 – Die Maxim Lieber Literary Agency und Anna Seghers 763 – Emigrierte Theater- und Literaturagenten in den USA: Max Pfeffer, Edmond Pauker und Hans Bartsch 764 – Franz Horch, Hilde Walter und Friderike Maria Zweig als »Newcomer« im Beruf des Literaturagenten 765 – Emigranten als Agenten in Hollywood: Liesl Frank und der »European Film Fund«, Hertha Pauli, Paul Kohner, Otto Klement und Ladislaus Szücs 768 – Georg Marton und seine »Playmarket Agency« 771 – Bühnenagenturen in Österreich und in der Schweiz 1938‒ 1945 772 – Südamerika 774 – Alfredo Cahn 774 – Anna und Hugo Lifczis: die International Editors Co. (IECO) 775 – Literarische Agenturen nach 1945 776 – Kalifornien: Felix Guggenheim 776 – New York: Robert Lantz Ltd. 778 – Die »zweite Generation«: Phänomen Literaturagentinnen 779 – Emigranten als Literaturagenten in Europa nach 1945 781 – Deutschland: Heinz und Ruth Liepman in Hamburg 781 – Großbritannien: Kalmer Literary Agency 782 – Niederlande: Hein Kohn und das Internationaal Literatuur Bureau 783 – Schweden: Grete Berges, »litterær agent« 784 – Zürich als Zentralort des internationalen Agenturgeschäfts 785 – Liepman AG 785 – Mohrbooks 786
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5.5
Das Übersetzungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 Die literarische Emigration in der Übersetzungsstatistik 787 – Verdienstchancen durch Übersetzungen und Übersetzen 789 – Problem Übersetzungsqualität 793 – Verlagsaufträge 795 – Emigranten als Übersetzer ins Deutsche 796 – Exilschriftsteller als Übersetzer 800 – Das Sachbuch in Übersetzung 805 – Emigrierte Verlagsmitarbeiter als Übersetzer 806 – Übersetzen im Teamwork 807 – Übersetzen: ein Frauenberuf? 810 – Übersetzer im Bereich der kommunistischen Literatur 815
6
Verbreitender Buchhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817
6.1
Distributionsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Die Einrichtung von Vertriebsnetzen seitens der Exilverlage 817 – Die »Zentralauslieferung« 821 – Distributionsnetze der kommunistischen Verlage 824 – Stützpunkte des Buchvertriebs für Exilverlage in den einzelnen Ländern 826 – Die Sonderstellung von Palästina / Israel im Bereich der Bücherdistribution 834 – Buchimport und Zwischenbuchhandel nach der Gründung des Staates Israel 843 – Buchvertrieb im überseeischen Exil nach 1939 845 – USA 845 – Sozialistischer und kommunistischer Buchvertrieb in New York 847 – Henry Koppells Alliance Book Corporation (ABC) 847 – Friedrich Krauses »Zentrale freier deutscher Bücher« 848 – Weitere Stützpunkte der Bücherdistribution in den USA vor und nach 1945 852 – »Findall, New York«: Mary S. Rosenberg 854 – Vertriebsnetze und -stützpunkte in Südamerika 855 – Verlags- und Buchhandelswerbung 859 – Verlagsvertreter 861
6.2
Sortimentsbuchhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865 Zur Vertreibungs- und Fluchtgeschichte 865 – Konkurrenz zum deutschen Auslandsbuchhandel 867 – Frankreich 869 – Au Pont de l’Europe 869 – Librairie internationale Biblion 872 – Librairie Franco-Allemande (Lifa) 873 – Agence de Librairie Française et Etrangère Ernest Strauss 874 – Science et Littérature 876 – C. Mayer & Cie. 877 – Schweiz 878 – Großbritannien 879 – Der International Bookstore von Hans Preiss 879 – Libris Ltd., Joseph Suschitzky 882 – Niederlande 888 – Spanien 888 – USA 889 – New York City 890 – Herman Kormis’ Moderne Deutsche Buchhandlung und die Deutsche Zentral-Buchhandlung 891 – Wittenborn & Schultz, Wittenborn Art Books Distribution 891 – Die Buchhandlung Peter Thomas Fisher: Treffpunkt für Schriftsteller und Künstler 892 – Theo Feldman Books 893 – Adler’s Foreign Books 894 – Helen Gottschalk Foreign Books 894 – Hebräische Buchhandlungen in New York 897 – Buchhändleremigranten in den Bundesstaaten 899 – Franz Bader Gallery and Bookshop, Washington D. C. 899 – Schoenhof’s, Cambridge, Mass. 899 – The Book Home (Leo Mohl), Colorado 900 – Pick’s Book & Pen Shop, Kalifornien 900 – Dagobert Sabatzky 901 – Mittelamerika: Mexiko 901 – Libreria Internacional, Mexico
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VII City 901 – Librería Europea, Mexico City 903 – Südamerika 904 – Chile: Buchhandlungen in Santiago de Chile und Valparaiso 905 – Brasilien: Die Livraria Kosmos in Rio de Janeiro 907 – Weitere Emigrantenbuchhandlungen in Brasilien 908 – São Paulo als Zentrum der buchhändlerischen Emigration 910 – Eva Herz und die Erfolgsgeschichte ihrer Livraria Cultura 913 – Kolumbien: Die Buchhandlungen von Hans Ungar und Karl Buchholz in Bogotá 913 – Argentinien: Gründungen der späten 1930er Jahre in Buenos Aires 918 – Lili Lebachs Librería Pigmalión in Buenos Aires 920 – Emigrantenbuchhandlungen in Buenos Aires nach dem Zweiten Weltkrieg 921 – Bolivien: Werner Guttentags Librería Los Amigos del Libro in Cochabamba 923 – Paraguay: Die Libreria Universal in Asunción 924 – Peru: Librería Internacional del Perú, Lima 925 – Ecuador: die Librería Cientifica in Guayaquil 926 – Uruguay 927 – Venezuela 927 – Palästina: Herbert A. Steins Bericht über den Buchhandel im englischen Mandatsgebiet 928 – Buchhandlungen in Jerusalem: Ludwig Mayer und seine Söhne 932 – Die Buchhandlung Heatid: Von Schalom Ben-Chorin zu Ulrich Salingré 933 – Liberty, Kedem und andere Bookstores in Tel Aviv 936 – Spezialisierte Buchhandlungen in Tel Aviv 940 – Buchhandlungen in Haifa 941 – Bookstands und Eselskarren 943 – Am anderen Ende der Welt: Buchhandel in Shanghai 946
6.3
Antiquariatsbuchhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949 Großbritannien 950 – Wegbereiter 950 – Erste Neuetablierungen 951 – Prominente und markante Vertreter der deutschen Antiquarsemigration in London 953 – Zwei Antiquarinnen: Lola Mayer und Gaby Goldscheider 956 – Schwerpunkt Musikantiquariat 957 – Modernes Antiquariat 960 – Emigranten in Londoner Auktionshäusern 961 – Frankreich 963 – Paul Graupe & Cie. 963 – Leopold Alfred Baer 964 – Niederlande 965 – Ludwig Rosenthal, Den Haag 966 – Wilhelm Junk, Den Haag 968 – Abraham Horodisch und das Erasmus Antiquariaat, Amsterdam 970 – Opfer des Holocaust 974 – Weitere Antiquarsemigranten in den Niederlanden 976 – Schweiz 978 – LʼArt Ancien in Lugano und Zürich 978 – Theo Pinkus: Vom »Büchersuchdienst« zu Pinkus & Co. 979 – Antiquarsemigration in Zürich, Bern, Basel und Olten 980 – Italien 982 – Werner Prager, Rom 982 – Schweden 983 – Dänemark 985 – USA 985 – Die »sanfte Invasion« der deutschen und österreichischen Antiquare 985 – Ostküste / New York 991 – Emil Hirsch und Hellmuth Wallach 991 – Walter Schatzki 992 – Felix Kauffmann 995 – Mary S. Rosenberg 996 – Fünfzehn aus Berlin stammende Antiquarsemigranten 997 – H. P. Kraus – Protagonist einer Rare book-Saga 1008 – Fünf weitere aus Wien emigrierte Antiquare in New York 1011 – Vertreter der »Zweiten Generation« 1016 – Florida 1019 – Amerikanische Westküste 1019 – Bernard M. Rosenthal Inc. 1019 – Musikantiquariat 1025 – Kanada 1028 – Palästina / Israel 1030 – Tel Aviv 1031 – Jerusalem 1036 – Lateinamerika 1039 – Argentinien 1039 – Brasilien 1040 – Mexiko 1043 – Ecuador 1043
VIII 6.4
I nh a l t Buchgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044 Die Weiterführung von Buchgemeinschaften im Exil 1044 – Die Büchergilde Gutenberg in Zürich 1044 – Die Universum-Bücherei in Basel, Prag und Zürich 1053 – Im Exil neu gegründete Buchgemeinschaften 1058 – Boekenvrienden Solidariteit, nach 1936 Het Nederlandsche Boekengilde 1059 – Buchgemeinschaftspläne im Rahmen der AmGuild 1061 – Buchgemeinschaftspläne und Gründungen in den USA 1064 – Ernst Wilhartitzʼ »Deutscher Buch Club in America« 1067 – Frederick Ungars »Programm einer deutsch-amerikanischen Buchgemeinde« 1068 – Pläne der Deutschen Zentral-Buchhandlung, New York für einen antifaschistischen Buchklub 1068 – Axel G. Rosin und der Book-of-the-Month-Club 1069 – Palästina: die »Kreise der Bücherfreunde« der Lepac 1069
6.5
Leihbibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071 Frankreich: die Librairie Eda 1072 – Italien: der Circolo Librario des Ehepaars Schlesinger 1073 – Großbritannien: die Leihbibliothek des Fritz Gross 1076 – Palästina, ein Leihbücherei-Paradies? 1079 – Südamerika: Leihbuchhandel als Zusatzgeschäft 1083 – Die »Biblioteca circulante« der Guttentags in Cochabamba / Bolivien 1084
7
Buchbesitz und Lesen im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 Buchkäufer und -leser 1087 – Sozialpsychologische Aspekte des Lesens im Exil 1089 – Zerstörung einer Buchkultur 1091 – Gerettete und verlorene Büchersammlungen 1095 – Buchbesitz im Exil 1101 – Verlust und Wiederaufbau von Büchersammlungen: Das Beispiel Lion Feuchtwanger 1104 – Existenzsicherung durch Bücherverkauf 1107 – Bibliotheken mit Exilkarriere 1108
8
Zur Wirkungsgeschichte des verlegerischen und buchhändlerischen Exils nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113
8.1
Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich nach 1945 . . 1113 Buchhändlerische Remigration und Nicht-Remigration 1113 – Emigranten als Deutschlandexperten des Office of Strategic Services 1115 – Nach dem Krieg: Emigranten als US-amerikanische und britische »Kulturoffiziere« 1118 – Im »Kalten Krieg«: Der westdeutsche Buchmarkt und die Rolle der CIA 1123 – »Clandestine book program«: Kiepenheuer & Witsch und Fritz H. Landshoff 1125 – Exil-Österreicher im psychologischen Kriegseinsatz 1128 – Remigranten und Exilliteratur in der SBZ 1945 bis 1949 1130 – Die Rolle der Remigranten im Aufbau Verlag 1131 – Der Verlag Volk und Welt: eine Remigranten-Gründung 1135 – Remigranten in weiteren Verlagen der DDR 1137 – Exilliteratur in der DDR – Kontinuitäten und Wandel 1139 – Die Situation nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen 1142 – Gottfried Bermann Fischer: Neustart mit Hindernissen 1145 – Problematische Erfahrungen der Ullsteins 1152 – Richard Friedenthal und die Droemersche
I nh a l t
IX Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 1154 – Die Europäische Verlagsanstalt (EVA), eine Emigrantengründung 1155 – Karl Anders und der Nest-Verlag, Nürnberg 1157 – Die buntschillernde Geschichte des Melzer Verlags 1158 – Buchhandlungen und Antiquariate von Remigranten in der Bundesrepublik 1159 – Die Rezeption der Exilliteratur in der Bundesrepublik 1160 – Exemplarische verlegerische Initiativen der 1970er und 1980er Jahre 1162 – Buchhandels-Remigranten und Exilliteratur in Österreich 1165 – Exilliteratur in österreichischen Verlagen der Nachkriegszeit 1176
8.2
Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . 1178 Emigranten als »Kulturverleger« auf dem amerikanischen Buchmarkt 1179 – Die Rolle deutschsprachiger Emigranten im US-Taschenbuchmarkt und in Buchgemeinschaften 1181 – Emigranten im Musik-, Kunstbuch- und Sachbuchverlag 1183 – Innovation und Internationalisierung. Verlegeremigranten mit amerikanischem »Think big« im Wissenschaftsverlag 1186 – Emigranten auf dem britischen Buchmarkt 1188 – Thomas M. Maschler als Verlagsleiter bei Jonathan Cape 1190 – André Deutsch: Renommee in England, Engagement in Afrika 1191 – Max Reinhardt: vom kleinen Wirtschaftsverlag zu The Bodley Head und Nonesuch Press 1192 – Paul Hamlyn, eine Schlüsselfigur des britischen Verlagswesens 1193 – Ein umstrittener Medientycoon: Robert Maxwell 1195 – Zwischen Verlagswesen und großer Politik: Lord Weidenfeld 1198 – Marion Boyars Ltd. – ein Verlag zwischen Avantgarde und Nobelpreisträgern 1200 – Ernest Hecht und die Souvenir Press 1201 – »Publishing the exciting, the difficult«: Peter Owen 1203 – Verlegerisches Downsizing: Tom Rosenthal 1204 – Andrew Fabinyi: Impulse für den Buchmarkt in Australien 1207 – Sortimentsbuchhandlungen als Stützpunkte des internationalen Buchhandels und der Emigrantenkultur 1208 – Die Librairie Martin Flinker in Paris und Fritz Picards Librairie Calligrammes 1210 – Zur Wirkungsgeschichte des Exils im Antiquariatsbuchhandel nach 1945 1214 – Emigranten und Remigranten und die Internationalisierung der Frankfurter Buchmesse 1216
Apparat Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1227 A.
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1227 Archivalien: 1227 – Oral History-Quellen 1229
B.
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1230
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 Register zu Band 3, Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1301
Einleitung: Buchhandel im Exil ‒ ein historischer Sonderfall Exil als Phänomen einer Globalgeschichte des Buchhandels Im Gesamtrahmen der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert stellt der vorliegende Band einen Sonderfall dar, denn er behandelt Vorgänge, die im Wesentlichen außerhalb Deutschlands stattgefunden haben. In der Tat muss für den Zeitraum 1933 bis 1945 diese Geschichte zweimal geschrieben werden, einmal für den Buchhandel im Dritten Reich, ein weiteres Mal für den Buchhandel im deutschsprachigen Exil. Denn wenn die nationalsozialistische »Machtergreifung« mit der von symbolischen Aktionen wie der Bücherverbrennung begleiteten »Gleichschaltung« der Verbände, Errichtung von Zwangsorganisationen, Berufsverboten, Polizeiaktionen, Verbotslisten und der Schließung und »Arisierung« von Betrieben zwar die Vertreibung tausender Autoren, Publizisten, Verleger und Buchhändler bewirkt hat, so wurden die damit verfolgten Ziele – die Entwurzelung, Demoralisierung und Marginalisierung derer, die man aus politischen oder »rassischen« Gründen aus dem Land verbannen wollte – nicht erreicht. Im Gegenteil hat sich erstaunlich rasch eine freie deutsche (Buch-)Kultur im Ausland entfaltet, in deren Rahmen mit einem Minimum an Mitteln bemerkenswerte Leistungen vollbracht wurden. So kam es, dass sich bald zwei sehr ungleiche Kontrahenten gegenüberstanden: Auf der einen Seite das über lange Zeit gewachsene, perfekt organisierte System des deutschen Buchhandels, das nun von einem ausgedehnten totalitaristischen Lenkungsapparat überwuchert wurde und kulturell weitgehend unfruchtbar blieb; auf der anderen Seite der Buchhandel im Exil, der weder eine territoriale Begrenzung noch ein organisatorisches Zentrum kannte, sich aber der räumlichen Zersplitterung zum Trotz zu einem überaus facettenreichen Gebilde formierte und letztlich einen entscheidend wichtigen Beitrag leistete zur politisch-kulturellen Repräsentanz eines »anderen Deutschland«. Rund 500.000 Menschen sind nach 1933 aus Deutschland und seit 1938 aus dem annektierten Österreich und Teilen der Tschechoslowakei geflüchtet. Die Zahl wäre – gemessen an anderen großen Fluchtbewegungen der Weltgeschichte oder der Gegenwart – nicht so außergewöhnlich, wenn es nicht zu bedenken gälte, dass es sich zu einem beachtlichen Prozentsatz um eine Elitenemigration gehandelt hat. Die vom NSRegime betriebene Verfolgung, Verbannung und Ausbürgerung so vieler tausend Kulturträger repräsentiert insofern einen weltgeschichtlich singulären Vorgang. Die Massenflucht der Schriftsteller und Publizisten, Politiker und Parteifunktionäre, Wissenschaftler und Intellektuellen hatte zur Folge, dass sich innerhalb dieser Emigration an vielen Orten Ansätze eines eigenständigen politischen, kulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Lebens herausbildeten,1 und dass parallel dazu kleinere und größere Verla-
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Die Begriffe »Exil« und »Emigration« werden in diesem Band austauschbar verwendet, wie dies auch in weiten Teilen der einschlägigen Forschungsliteratur so gehandhabt wird. Vor dem Zeithintergrund der Jahre 1933–1945, den vom NS-Regime ausgeübten Pressionen und der Gefährdungslage der vom Regime Verfolgten versteht sich Emigration stets und grundsätzlich als »Zwangsemigration«. Zur Diskussion dieser Begrifflichkeit vgl. u. a. En-
https://doi.org/10.1515/9783110303353-001
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ge, Sortiments- und Antiquariatsbuchhandlungen und noch andere Einrichtungen entstanden, wie sie für die Produktion, Distribution und Rezeption von Büchern vonnöten waren. Dass diese Vorgänge in einer Vielzahl europäischer und außereuropäischer Länder stattgefunden haben, verleiht dem Inhalt des vorliegenden Bandes den entscheidenden Akzent: Der Schauplatz des Geschehens ist aufgespannt zwischen London, Paris, Amsterdam, Stockholm, Moskau, Prag, Jerusalem, San Francisco und New York, Mexico City und Buenos Aires, Südafrika oder Shanghai. Insofern reiht sich dieser Band nicht nur in eine Gesamtdarstellung des Buchhandels im deutschsprachigen Raum ein, sondern versteht sich auch als Beitrag zu einer »Globalgeschichte« des Buchhandels, im Sinne jenes Forschungsparadigmas, das in den vergangenen Jahren in der Geschichtswissenschaft zu der am schnellsten wachsenden Disziplin geworden ist. Globalgeschichtlicher Betrachtung geht es um die Rekonstruktion von grenzüberschreitenden Verflechtungen und Austauschprozessen, um die Entstehung transnationaler Netzwerke, nicht zuletzt als Resultat von Migrationsbewegungen. Genau davon handelt auch diese Geschichte des Buchhandels im Exil: Von vielfältigen Austauschbeziehungen, von weltweiter Vernetzung und dem Internationalisierungsschub, den die Bücherwelt durch die Tätigkeit der über die Kontinente zerstreuten deutschen und österreichischen Emigranten erfahren hat. In der Tat wird zu zeigen sein, dass die ‒ hier wortwörtlich zu verstehende ‒ Welt des Buches durch die buchhändlerische Emigration tiefgreifend verändert und in einigen Bereichen entscheidend weiterentwickelt worden ist. Indem die Emigranten einerseits aus der Heimat mitgebrachtes ausgefeiltes verlegerisches sowie sortiments- und antiquarbuchhändlerisches Knowhow in alle Erdteile verbreitet haben, andererseits aber aus dem Kontakt mit fremden Buchhandelssystemen und Geschäftsmodellen namentlich in den USA und Großbritannien großen Nutzen gezogen und dort auch ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten vorgefunden haben, waren sie in der Lage, nach 1945 einen nachhaltig wirksamen Beitrag für die strukturelle Modernisierung des internationalen Buchhandels zu erbringen. Die aus Deutschland und Österreich geflüchteten Verleger, Buchhändler und Antiquare mussten sich in fremden nationalen Räumen und vielfach auch in einem internationalen Setting bewähren; dadurch erwarben sich viele von ihnen, manchmal auch in zweiter Generation, einen neuen, weiter gespannten Horizont und lernten, ins Große zu denken. Mit ihren Leistungen im globalen Wissens- und Kulturtransfer setzte sich eine Tendenz fort, die schon am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer verstärkten Aufnahme von interkontinentalen Buchhandelsbeziehungen geführt hatte, die nun aber eine enorme Beschleunigung erfuhr, so dass es nicht übertrieben wäre zu behaupten, dass sich mit der buchhändlerischen Emigration und ihren Folgen nicht nur der internationale Buchmarkt, sondern gleichsam die Welt selbst gewandelt hat, indem sie auf der Ebene des geistigen Austausches stärker zusammengewachsen ist.
Der Buchhandel im Exil – kein »System«, aber ein komplexes Phänomen Zu beschreiben ist zunächst aber eine Epoche in der Geschichte des deutschen Buchhandels, in der sich eine freie und offene Gegenwelt zum »gleichgeschalteten« Buchhandel derle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 1, Fn. 2; sowie schon Müssener: Die deutschsprachige Emigration in Schweden nach 1933, S. 71‒105.
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NS-Deutschlands entwickelt hat. Der Exilbuchhandel war eine Gegenwelt nicht nur zur Welt der Reichsschrifttumskammer, des Reichspropagandaministeriums und sonstiger Organe des nationalsozialistischen Regimes, die das Buch in den Dienst ideologischer Indoktrination genommen hatten; ebenso hatte er auch keine Verbindung zum deutschen Auslandsbuchhandel, jenem Netzwerk der oft von ausgewanderten Deutschen gegründeten Firmen, die von deutschen Verlagen, teils über Leipzig als Kommissionsort und teils über die Buchexportunternehmen in den Hansestädten beliefert wurden. Tatsächlich haben sich seine Identität und sein Zusammengehörigkeitsgefühl sehr stark aus der Gegnerschaft zum reichsdeutschen Buchhandel bestimmt; umgekehrt ist der Exilbuchhandel vom Dritten Reich aus mit allen Mitteln erbittert bekämpft worden. Diese Frontlinien und Kampfzonen werden in der Darstellung angemessen zu berücksichtigen sein. Das Hauptaugenmerk muss aber dem Exilbuchhandel selbst gelten, in all seiner institutionellen Komplexität. Denn tatsächlich haben sich im Zeichen des Exils neben den traditionellen Erscheinungsformen des literarischen und publizistischen Lebens – Schriftstellervereinigungen, Zeitungen und Zeitschriften (inklusive Rezensionswesen und Romanvorabdrucken), Literaturpreise, Lese- und Vortragsreisen von Autoren etc. – auch nahezu alle Strukturen und Funktionen des Buchmarkts wieder ausgeprägt und wiederhergestellt: Neben einem ausgedehnten Verlagswesen in unterschiedlichen Größenordnungen (und mit allen bekannten Strategien der Autorenbindung oder der Buchwerbung und des Buchmarketings), einem Netz von Sortimentsbuchhandlungen und einem florierenden Antiquariatsbuchhandel sind beispielsweise auch wieder Buchgemeinschaften oder Leihbüchereien entstanden, es sind Literarische Agenturen aufgekommen, das Übersetzungswesen hat als eine zentrale Form der Nebenrechtsverwertung ganz neue Dimensionen angenommen u. a. m. Aus diesem Grund ist es auch – allen Besonderheiten des Themas zum Trotz – möglich, im vorliegenden Band das Gliederungskonzept der bisher erschienenen Bände der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert mit relativ geringfügigen Adaptierungen fortzuschreiben. Klar ist: Bei diesem exterritorialen Buchhandel des Exils handelt es sich um eine jenseits der altehrwürdigen Traditionszusammenhänge entstandene, aus der Not der Umstände erzwungene ad-hoc-Bildung, die kaum Zeit und Gelegenheit hatte, systemhafte Eigenschaften zu entwickeln. Bei einem derart dislozierten, von Krieg und sonstigen geopolitischen Turbulenzen permanent beeinträchtigten Phänomen war das auch nicht zu erwarten. Nicht wenige Initiativen sind im Sand verlaufen; das Exil war auch eine Zeit der gescheiterten Bemühungen. Doch ist vieles, in einzelnen Bereichen sogar unglaublich vieles gelungen; das Exil kennt eine Fülle eindrucksvoller Erfolgsgeschichten. Auch unter dieser Perspektive soll und wird im Ergebnis deutlich werden, dass es sich beim Buchhandel im Exil keineswegs um eine Marginalie der deutschen Buchhandelsgeschichte des 20. Jahrhunderts handelt, sondern ganz im Gegenteil um ein welthistorisch folgenschweres Ereignis, dazu um eines, das außerordentlich spannende Fragestellungen bereit hält. Wie sich unter den Bedingungen der Vertreibung funktionsfähige Strukturen der Herstellung, Verbreitung und Rezeption von Büchern und anderen Medien neu herausgebildet haben, stellt sich aus wissenschaftlicher Perspektive als eine Art Laborexperiment dar: Sieht man von gelegentlichen Hilfestellungen ausländischer Berufskollegen und von Andockmöglichkeiten an bestehende Firmen ab, mussten in allen Belangen spontan neue Lösungen gefunden werden. Als eine wahre Schöpfung aus dem Nichts
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bietet der Exilbuchhandel die Chance, an ihm die ›essentials‹ verlegerischer, buchhändlerischer und sonstiger buchprofessioneller Arbeit zu studieren.
Eingrenzungsprobleme Bei näherer Befassung mit dem Thema brechen allerdings sehr bald Probleme mit der Eingrenzung des Gegenstandsbereiches auf. Diese beginnen bei der Frage, welche Verlage nun eigentlich berücksichtigt werden sollen: neben den von Exilanten gegründeten und geführten Verlagen auch jene im Ausland bestehenden, die deutschsprachige Exilliteratur herausbrachten? Will man hier bereits eine Einschränkung vornehmen, dann müssten z. B. die Züricher Verlage von Emil Oprecht außen vor bleiben.2 Macht es einen Unterschied, ob ein aus Deutschland geflüchteter Sortimentsbuchhändler in Argentinien deutschsprachige Bücher verkauft oder ausschließlich spanischsprachige? Viele exilierte Buchgestalter und Illustratoren sind für Exilverlage tätig geworden – ein klarer Fall für einen Abschnitt »Buchgestaltung im Exil«. Aber wie steht es um jene, die z. B. für einen Londoner Fachverlag als Buchgestalter tätig geworden sind? Wie um die aus Österreich geflohene Kinderbuchautorin, die ihre Bücher samt Zeichnungen nun in einem brasilianischen Verlag herausbringt? Die Liste von Fragen ließe sich fortsetzen. Beantwortbar sind sie nur in der Weise, dass man unter dem Stichwort Exilbuchhandel mit einer gewissen Großzügigkeit alle Phänomene bündelt, die als eine direkte oder indirekte Folge der politischen und »rassischen« Verfolgung in Hitlerdeutschland und als Folge der Vertreibung verstanden werden können. Weder ist der Sortimenter freiwillig in Argentinien gelandet, noch der Buchgestalter in London, noch wären Autoren genötigt gewesen, ihre Werk zuerst in einer fremden Sprache zu publizieren, wenn nicht der totalitäre Staat sie zu Flucht und Auswanderung gezwungen hätte. Die Darstellung konzentriert sich aus diesem Grund zwar auf die Tätigkeit der aus Deutschland und später aus Österreich geflüchteten Buchhändler, Verleger und Antiquare, sie bezieht aber auch das Wirken ausländischer Verlage und Buchhändler soweit mit ein, als dieses in mehr als bloß akzidentiellem Zusammenhang mit der deutschsprachigen Emigration stand. Alle bisher erschienenen Bände der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert 3 haben eine klare zeitliche Eingrenzung. In der Exilforschung ist es üblich, diese Grenzen mit den Jahren 1933 und 1945 zu markieren, in nicht wenigen Fällen wird der Zeitraum allerdings bis 1950 ausgedehnt, wie etwa von Hans-Albert Walter in seiner mehrbändigen Gesamtdarstellung zur Deutschen Exilliteratur.4 Solche
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Siehe Kap. 5.1 Typologie und Produktion, wo hierzu eine differenzierte Aufschlüsselung vorgenommen wird. Von der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert erschienen sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (2020) Band 1: Das Kaiserreich 1871‒1918 in drei Teilen, herausgegeben von Georg Jäger (2001, 2003, 2010); Band 2: Die Weimarer Republik 1918‒ 1933 in zwei Teilen, herausgegeben von Ernst Fischer und Stephan Füssel (2007, 2012); sowie von Band 3: Drittes Reich, Teil 1, herausgegeben von Ernst Fischer und Reinhard Wittmann (2015). Sowohl Walters erster, in den 1970er Jahren bei Luchterhand unternommener und nach drei (von sieben geplanten) Bänden abgebrochene Anlauf zu einer Gesamtdarstellung wie auch
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Ausdehnungen haben ihre Berechtigung, denn das Exil hat mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung Deutschlands aus der Hitler-Herrschaft nicht schlagartig ein Ende gefunden. Auch und gerade in buchhandelsgeschichtlicher Sicht ist 1945 kein Datum, an dem das Exil endet, im Gegenteil: Nicht wenige Geschäftsgründungen und unternehmerische Initiativen von Exilanten beginnen überhaupt erst nach Kriegsende. Sie deshalb aus dem Beobachtungsfeld ausschließen zu wollen, wäre ein sachliches Missverständnis. Allenfalls könnte man davon sprechen, dass mit dem Fall des NSRegimes und dem Einsetzen von Rückkehrmöglichkeiten die gewaltsame Vertreibung, wie sie der Begriff »Exil« zum Ausdruck bringt, abgelöst wird von bewusster »Emigration«, insofern im Verbleib in den Aufnahmeländern ein Moment von Freiwilligkeit liegt. Aber auch diese Überlegung ist mehr theoretischer Natur, denn verständlicherweise haben die allermeisten derer, die sich eine neue Existenz und damit auch neue berufliche und private Bindungen aufgebaut hatten, wenig Neigung gezeigt, all dies aufs Neue gegen ein Leben in Ungewissheit einzutauschen. Auch wurde Rückkehrwilligen keineswegs ein roter Teppich ausgebreitet; eine offiziell ausgesprochene Einladung zur Remigration erfolgte nur in ganz seltenen Fällen. Dementsprechend greift dieser Band immer wieder weit über die im Titel angegebenen Markierungen hinaus und kennt im Grunde mit 1933 nur ein klares Anfangs-, nicht aber ein Schlussdatum, denn wie insbesondere in den abschließenden Kapiteln zur Wirkungsgeschichte zu zeigen sein wird, reichen die Auswirkungen von Vertreibung und Exil bis in unsere Gegenwart herein.
Das Exil 1933–1945: eine Epoche des Buches Die Emigration selbst hat in den Jahren nach 1933 dem Medium Buch eine herausgehobene Bedeutung zugeschrieben und ihm diese besondere Bedeutung auch aktiv zu sichern gesucht. Dabei war die Tendenz zu einer mythischen Überhöhung des Buches durchaus politisch motiviert: Insbesondere in den Bücherverbrennungen des 10. Mai 1933 hatte sich die Kulturlosigkeit des Nationalsozialismus in einer Weise manifestiert, die sofort als idealer Ansatzpunkt für eine Gegenpropaganda des Exils wahrgenommen wurde: Die Weltöffentlichkeit sollte anhand dieses als Fanal interpretierten bücherfeindlichen Ereignisses über den wahren Charakter des »neuen Deutschland« aufgeklärt werden. Dass es sich dabei um ein propagandistisches Konzept gehandelt hat, das von kommunistischer Seite mit besonderem Nachdruck verfolgt worden ist, wurde in der Exilforschung bereits fundiert dargelegt.5 Einen Anfangspunkt setzte in dieser Hinsicht die Deutsche Freiheitsbibliothek in Paris, die demonstrativ am 10. Mai 1934, am ersten Jahrestag der NS-Bücherverbrennung, als eine Sammlung der verbrannten Bücher und als Plattform des Kampfes gegen Hitlerdeutschland eingeweiht wurde.6 Schon in den assoziierten Komitees, die in Paris und London im Zuge dieser Kampagne entstanden sind, zeigte sich aber, dass dieser Ansatz, den gegen das Buch gerichteten Kulturbarbarismus des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt des antifaschistischen Kampfes zu
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das zweite, von 1978 bis 2017 bei J. B. Metzler auf vier umfangreiche Bände gediehene Projekt hatten als Generaltitel Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Enderle-Ristori Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil. Genaueres zur Deutschen Freiheitsbibliothek im Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich.
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stellen, auch von bürgerlichen Kräften geteilt wurde. Seit damals begegnet – zunächst im französischen Exil, dann auch an vielen anderen Orten – die Wendung vom »freien deutschen Buch« auf Schritt und Tritt in unterschiedlichsten Zusammenhängen, mit dem ebenfalls in Paris begangenen »Tag des freien Buches« ebenso wie mit dem Almanach des freien Buches, der ersten systematischen Verzeichnung des Exilschrifttums aus dem Jahr 1935, bis hin zu dem in Mexico City gegründeten Verlag El Libro Libre. Mit der ubiquitären Verwendung löste sich die Formel vom »freien deutschen Buch« allmählich von allen parteipolitischen Konnotationen: »Frei« war in diesem Sinn alles, was dem Machtbereich der nationalsozialistischen Diktatur entzogen war, »gleichzeitig trat es an die Stelle präziser Parteizuordnungen wie sozialistisch bzw. kommunistisch oder ersetzte stark parteilich konnotierte Termini wie antihitlerisch oder antifaschistisch« und wurde so »zum zeitweiligen Angelpunkt einer einheitlichen Kulturpolitik im Pariser Exil«.7 Ganz besonders im exilliterarischen Feld erlangte dieses Adjektiv programmatischen Charakter, insofern die Distanzierung von der »gleichgeschalteten« NS-Literatur »den einzigen Grundkonsens« unter den vertriebenen Autoren bildete.8 Einen Markstein in der Verwendung der Formel setzte die Ausstellung »Das Freie Deutsche Buch – seine Entwicklung 1933 bis 1936«, die im November 1936 von der Deutschen Freiheitsbibliothek unter dem Protektorat des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller (SDS) veranstaltet worden war, zumal sie als Gegenaktion zu einer nationalsozialistischen Bücherschau in Paris auftrat.9 Der SDS propagierte auch sonst den Begriff des freien deutschen Buches in seinen Veranstaltungen, weil er sich – wiewohl unter starkem kommunistischem Einfluss stehend – als ein Sammelbecken aller linken und linksbürgerlichen Schriftsteller und Intellektuellen positionieren und deshalb den parteikommunistischen Sprachgebrauch vermeiden wollte (auch wenn daneben der Begriff der »antifaschistischen Literatur« immer wieder Verwendung fand).10 Zu dieser
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Vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 30 f. EnderleRistori unternimmt es in ihrem Aufsatz, dieses kulturpolitische Schlagwort »in seinen theoretischen und praktischen Implikationen« auszuleuchten, »ausgehend von den kulturellen Orten seiner Entstehung bis in die einzelnen Instanzen seiner Vermittlung« (S. 30). Sie verweist auch darauf, dass das Epitheton »frei« in Frankreich, besonders im Umkreis der Pariser Volksfront-Bewegung, aber auch in anderen Ländern eine noch viel größere Karriere machte, in Zeitschriftentiteln oder in der Benennung von literarischen Institutionen und politischen Organisationen des Exils. Allerdings änderte sich das mit zunehmender Polarisierung innerhalb der Anti-Hitler-Front: Enderle-Ristori (S. 32) weist darauf hin, dass der strikt antikommunistisch agierende Leopold Schwarzschild in dem von ihm herausgegebenen Neuen Tage-Buch die Exilliteratur schon seit Oktober 1934 in einer Rubrik ›Abseits von der Reichskulturkammer‹ ankündigte, während der von Bruno Frei redigierte kommunistische Gegen-Angriff seit Sommer 1934 den Begriff ›antifaschistische Literatur‹ benutzte. Umgekehrt ging die Pariser Tageszeitung im November 1936 von der Formulierung ›Literatur jenseits der braunen Grenzpfähle‹ zum Begriff ›freie deutsche Literatur‹ über. Zu der Ausstellung siehe Kap. 2. Exilbuchhandel und Drittes Reich. – Angesichts der Tatsache, dass das Literaturblatt des Völkischen Beobachters mit Das deutsche Buch betitelt war, kann die Wendung vom »freien deutschen Buch« auch hierzu als eine Entgegensetzung angesehen werden. Zum SDS siehe Kap. 3 Autoren.
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nach außen hin ideologisch undoktrinären und »in Paris einzig konsensfähige[n] Strategie« des »freien deutschen Buchs« gab es natürlich unterschiedliche Lesarten, die denn auch immer wieder zu Konflikten führten.11 Entscheidend ist aber im gegenständlichen Zusammenhang, dass das Medium Buch einen deutlichen Bedeutungszuwachs erlebte, in ganz praktischer Hinsicht wie auch auf symbolischer Ebene: Nur mit Büchern ließ sich der Aufbau einer Gegenöffentlichkeit bewerkstelligen; Bücher waren das Mittel der Wahl, wenn es darum ging, der Emigration eine weittönende Stimme zu geben. In der schwunghaften Produktion von Büchern (auf die immer wieder mit Stolz verwiesen wurde) manifestierte sich aber auch die erfolgreiche Selbstbehauptung des Exils, und immer wieder waren es die Bücher, mit denen das Exil seine geistig-moralische Überlegenheit unter Beweis stellen konnte. Wie das »freie deutsche Buch« zu einem Marken- und Erkennungszeichen der publizistischen Gegenwelt des Exils metaphorisiert wurde und immer stärker symbolische Dimensionen gewann, hat Hélène Roussel in ihrem Aufsatz Bücherschicksale. Buchsymbolik, literarische Buch- und Bibliotheksphantasien im Exil detailreich dargelegt.12 Die bildlichen und textlichen Belege dafür sind zahlreich und reichen von Fotomontagen John Heartfields bis hin zu literarischen Werken von Bertolt Brecht, Anna Seghers, Theodor Balk oder Walter Mehring. Zu verstehen ist diese Tendenz nicht zuletzt als Antwort auf die Ästhetisierung der Politik, wie sie vom Nationalsozialismus betrieben wurde, und auf die besonders bei Massenveranstaltungen geübte Theatralisierung, die »publikumswirksame Instrumentalisierung von Mythen und Symbolen«: »Der Widerstand aus dem Exil ist also gezwungen, darauf offensiv zu reagieren, und zwar zum Teil auf der gleichen Ebene«, mit wirksamen Symbolen, »die ebenfalls an das Gefühl appellieren und Identifikationen fördern«.13 Es lag daher nahe, die starke Symbolwirkung, die von der Bücherverbrennung ausging und ja auch ausgehen sollte, zu nützen und gegen das Regime zu wenden. Die verbrannten resp. geretteten Bücher wurden so zu einem entscheidend wichtigen Ansatzpunkt für den Symbolkampf, den das Exil unter dem Schlachtruf der »Verteidigung der Kultur« gegen den als barbarisch gebrandmarkten Nationalsozialismus führte. Dieser Kampf wurde »zu einem einigenden Moment zwischen den politisch zersplitterten Kommunisten, linken Sozialisten, Pazifisten, Linksliberalen und den ›frei schwebenden‹ Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen schon vor dem Volksfrontversuch. Das Sammeln, Ausstellen, Verlegen von Büchern wurde stark institutionalisiert, und zwar unter Nutzung symbolkräftiger Bilder, das Buch und der Umgang mit Büchern wurden zur symbolischen Kundgebung gegen das NSRegime schlechthin.«14 Die konkreten Manifestationen dieser politischen Inanspruchnahme der Symbolkraft des Buches werden in den folgenden Abschnitten dieses Bandes immer wieder begegnen und dort genauer beschrieben, von der »Bibliotheque allemande des livres brûlés« (der Deutschen Freiheitsbibliothek) und den jeweils am 10. Mai jährlich v. a. in Paris und London wiederkehrenden Gedenkfeiern über die Namensgebung
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Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 33. Roussel: Bücherschicksale. Buchsymbolik, literarische Buch- und Bibliotheksphantasien im Exil. Roussel, S. 14. Roussel, S. 15.
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von Verlagen wie Éditions du Phénix (Phoenix Bücher)15 oder Éditions du 10 Mai / Verlag 10. Mai bis zum Signet des in Mexiko gegründeten Verlags El Libro Libre, das ein von einem Buch zerschmettertes Hakenkreuz zeigt. Die Exilepoche war somit, durch vielfältige publikationspraktische Zusammenhänge, aber auch mythisch-symbolische Konnotierungen, in besonderer Weise eine Epoche des Buches.
Die personengeschichtliche Dimension des Themas »Exil« Das Konzept der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert zielt grundsätzlich auf eine institutionen-, struktur- und unternehmensgeschichtliche Darstellungsweise ab, Biographisches sollte nur dort zur Sprache kommen, wo dies unabdingbar notwendig erscheint. Dieser Ansatz konnte in der vorliegenden exilgeschichtlichen Darstellung nicht in gleicher Weise fortgeschrieben werden – aus einem einfachen Grund: Vom NS-Regime aus »rassischen« oder politischen Gründen verfolgt und vertrieben wurden in allererster Linie Menschen, nicht Unternehmen. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Exilierungsvorgangs und seiner Folgen liegt daher zunächst in den betroffenen Personen, auch wenn den von ihnen errichteten und betriebenen Firmen die gebührende Aufmerksamkeit zukommen soll. In jedem Fall hat Biographisches in diesem Band themenbedingt einen höheren Stellenwert als in den bisher erschienenen Bänden. Dem sich schon früh abzeichnenden Problem, dass einerseits der personengeschichtlichen Dimension des Themas besondere Bedeutung zukommt, andererseits aber in einer Geschichte des deutschen Buchhandels biographische Information nur in begrenztem Ausmaß untergebracht werden kann, hat der Verfasser dadurch zu begegnen gesucht, dass er – im Sinne einer notwendigen Vorarbeit – ein Biographisches Handbuch zur Emigration der Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich erarbeitet und 2011 im Druck vorgelegt hat.16 Eine 2., aktualisierte und erweiterte Auflage dieser Dokumentation ist nun als Supplement dem vorliegenden Band an die Seite gestellt worden und enthält Artikel zu rund 900 Personen, deren Lebensläufe in ihrer Vielfalt und Dramatik ein lebendiges Bild davon vermitteln, was diese Emigranten an schicksalshaften Wendungen zu bewältigen hatten, wie sie sich eine neue berufliche Existenz aufbauen konnten und was sie für den kulturellen Transfer und die internationalen Verflechtungen in der Welt des Buches geleistet haben. Infolgedessen kann alles, was hier von der Lebensgeschichte der Exilanten berichtet wird, auf das Notwendigste beschränkt bleiben, weil der Leser die Möglichkeit hat, ergänzende Informationen dem Supplement-Band zu entnehmen.17 Aus darstellungsökonomischen Gründen wird nach-
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Auch dies eine Antwort auf Joseph Goebbels, der bei seiner Rede auf der Berliner Bücherverbrennung den Phönix-Mythos in entstellter Form beschworen hatte. Dazu Roussel, S. 19: »Der Phoenix-Mythos wurde von den Exilanten auf ihre eigene Buchproduktion wieder und wieder angewandt, um deren ersehnte Unvergänglichkeit oder gar Unzerstörbarkeit trotz Verbrennung und Verboten zu behaupten […]«. Fischer: Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933 (2011). Ernst Fischer: Die Emigration der Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich nach 1933. Ein biographisches Handbuch. (Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 3: Drittes Reich und Exil, Teil 3: Exilbuchhan-
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folgend bei erster Nennung oder an sonst geeigneter Stelle mit einem den jeweiligen Namen nachgesetzten Asterisk (*) auf im Supplement vorhandene Artikel verwiesen; dieser Asterisk ersetzt grundsätzlich den Fußnotenverweis. Wird ein solcher doch gegeben, so werden von den im Handbuch angegebenen Quellen nur die wichtigsten angeführt und vorzugsweise jene, die seit dessen Ersterscheinen 2011 neu hinzugekommen sind. Diese Verfahrensweise soll es ermöglichen, den Darstellungsband von dem oft recht umfangreichen, vielfach auch Kleinliteratur (Zeitungsartikel, Nachrufe etc.) umfassenden biographischen Quellenapparat freizuhalten.18 Der Ökonomie nicht zum Opfer fallen sollten aber die Lebensdaten: Die Geburts- und Sterbejahre sowie -orte werden – soweit bekannt ‒ zu allen emigrierten Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren im vorliegenden Band hinter der ersten Namensnennung aufgeführt, weil diese im Vertreibungs- und Exilzusammenhang einen spezifischen Informationswert haben.19
Vorarbeiten und Dank Der Verfasser schöpft auch sonst aus eigenen Publikationen zum Thema Exil, wie sie im Laufe von vier Jahrzehnten entstanden sind und im Grunde sämtlich als »Vorarbeiten« zu diesem Band zu betrachten sind. Auf diese Arbeiten wird an passender Stelle zurückgegriffen, allerdings unter Verzicht auf Einzelnachweise. Im Rahmen meiner bis in die 1970er Jahre zurückreichenden Befassung mit dem Thema »Exil« habe ich Gelegenheit gehabt, mit zahlreichen Zeitzeugen in Verbindung zu treten. Im Bereich des politischen und schriftstellerischen Exils waren das Begegnungen mit Alfred Kantorowicz in Hamburg oder mit Bruno Frei in Wien, damals noch zur Vorbereitung meiner Dissertation zum Schutzverband deutscher Schriftsteller 1909‒193320 und bei den nachfolgenden, im Zusammenhang mit einem DFG-Projekt unternommenen Recherchen zum Pariser »SDS im Exil« 1933‒1939.21 1991 und 1992 habe ich ausführliche Interviews mit Susanne Bach in München und mit Mary S. Rosenberg anlässlich ihres Besuches in ihrer Heimatstadt Fürth führen können, ebenfalls 1992 war ich von Gottfried Bermann Fischer und Brigitte Bermann Fischer zum Gespräch in deren Haus
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del – Supplement). 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin: de Gruyter 2020. Im Weiteren abgekürzt als Fischer: Handbuch. Auf Quellennachweise zu einzelnen Daten und Informationen wird dort wie hier verzichtet, wo diese aus allgemeinen und leicht zugänglichen biographischen Nachschlagewerken stammen. Ebenso wurde in den allermeisten Fällen auf die Nennung von Internet-Adressen zugunsten des Hinweises ›[online]‹ verzichtet, da durch Eingabe der Titelinformationen in eine Suchmaschine die betreffenden Seiten meist zuverlässig und mit vergleichsweise geringerem Aufwand aufgespürt werden können; Adressen wechseln oft, während die Inhalte selbst im Netz andernorts erhalten geblieben sein könnten. Für taggenaue Lebensdaten ist der Supplementband zu dieser Darstellung (Fischer: Handbuch) heranzuziehen. Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« 1909‒1933 (im Druck erschienen 1980). Als ein (Zwischen-)Ergebnis publiziert: Fischer: »Organisitis chronica?« Aspekte einer Funktions- und Wirkungsgeschichte schriftstellerischer Zusammenschlüsse im deutschsprachigen Exil 1933‒1945.
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in Camaiore eingeladen. In der Schweiz hat mir Theo Pinkus einige Auskünfte erteilt. Vor allem aber konnte ich im Rahmen eines Oral History-Programms der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels mit zahlreichen emigrierten Buchhändlern, Verlegern und Antiquaren Interviews führen: Auf Basis eines von mir in Emigrantenorganen (Israel Nachrichten und MB, dem Nachrichtenblatt des Irgun Olej Merkas Europa) veröffentlichten Aufrufs und der darauf erfolgten Reaktionen hat sich im Oktober 1992 die Möglichkeit zu einer Interviewreise nach Israel ergeben. Meine Interviewpartner waren Schalom Ben-Chorin, Erwin Lichtenstein, Hermann Joseph Mayer, Shalom Miron, Felix Daniel Pinczower, Ernst Laske und Walter Zadek. Ich denke mit großem Respekt und Dankbarkeit an diese Begegnungen zurück. Dies gilt in gleicher Weise für das Gespräch, das ich 1994 mit Hans Jacoby in den Niederlanden geführt habe. 1995 bin ich gemeinsam mit meinem damaligen Projektmitarbeiter Ulrich Bach nach London gefahren, um dort Albi Rosenthal, Hanna Weil, die Tochter von Ernst Weil, H. A. Feisenberger, Nicolas Barker (über die Rolle der deutschsprachigen Emigranten im englischen Antiquariatsbuchhandel) und Hans Fellner zu interviewen. Bereits Anfang 1995 hatte Ulrich Bach eigenständig Interviews mit Bernard M. Rosenthal und Martha Schwarz, der Witwe von Kurt L. Schwarz, geführt. Im Rahmen einer Interviewreise nach New York habe ich 1996, wieder gemeinsam mit Ulrich Bach, Interviews mit Bernd H. Breslauer sowie mit Ilse Bernett geführt. Weitere Gespräche fanden im Zuge dieses Aufenthalts mit Will Schaber und Roland Folter (zu H. P. Kraus) statt. Eine weitere, von der Historischen Kommission unterstützte New York-Reise habe ich im Frühjahr 2001 unternommen; sie stand hauptsächlich im Zeichen von Archivforschungen in der Public Library (u. a. Nachlassmaterialien Kurt Enoch) und in der von John M. Spalek zusammengestellten Exilsammlung German and Jewish Intellectual Émigré Collection an der University at Albany / State University of New York. Viele der von mir geführten Gespräche wurden auf Tonband aufgezeichnet und transkribiert, sie befinden sich im Oral History-Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (jetzt im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der DNB in Leipzig) und stehen dort nach Abschluss der Arbeiten an dem Projekt der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert der allgemeinen Forschung zur Verfügung; einige wenige blieben als Arbeitsgrundlage in privatem Besitz. Zusätzlich zu diesen Zeitzeugeninterviews habe ich nicht nur mit den hier genannten Personen, sondern noch mit zahlreichen anderen Emigranten (z. B. mit Edgardo Henschel, Buenos Aires, oder Hans Ungar, Bogotá, und v. a. m.) und deren Nachkommen eine briefliche Korrespondenz geführt, in der mir für meine Forschungsarbeit wertvolle Auskünfte erteilt worden sind.22 Dank schulde ich nicht nur den Emigranten selbst, sondern noch zahlreichen weiteren Personen, die mich in meiner Arbeit unterstützt haben. Stellvertretend für viele andere nenne ich die Mitarbeiter des Sächsischen Staatsarchivs, wo ich 1991 und 1992 die Akten des Börsenvereins durchgesehen habe und den (2012 verstorbenen) Altvorsteher des Börsenvereins Gerhard Kurtze, der mir manchen wichtigen Hinweis hat zukommen lassen. Ganz besonders hervorheben möchte ich aber die Unterstützung, die ich
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Genauere Angaben hierzu finden sich im Quellen- und Literaturverzeichnis zu diesem Band.
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über den gesamten Arbeitszeitraum hindurch von Seiten Klaus G. Saurs erfahren habe: Er hat mich nicht nur vielfältigst mit Informationen versorgt, sondern war mir in seiner als Verleger und als praktizierender Geschichtsforscher gelebten Überzeugung, dass die umfassende Aufarbeitung der NS- und Exilepoche des deutschen Buchhandels eine dringliche Aufgabe und zugleich eine moralische Verpflichtung darstellt, stets ein ermutigendes Vorbild.
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Geschichtliche Grundlagen: Vertreibung und Asyl
Zur Vorgeschichte des Exils Die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, die 1933 zur Machtübernahme durch den Nationalsozialismus und nachfolgend zur Exilierung von rund einer halben Million Menschen geführt haben, sind in zahlreichen Überblicks- und Einzeldarstellungen dargelegt worden, in wesentlichen Zügen auch in Band 2 /1 dieser Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert.1 Bezogen auf Schriftsteller und Intellektuelle wurde diese Vorgeschichte am gründlichsten erforscht von Hans-Albert Walter, der im Rahmen seines großangelegten Projekts Deutsche Exilliteratur 1933‒1950 bereits 2003 den ersten Band Die Mentalität der Weimardeutschen / Die Politisierung der Intellektuellen vorgelegt hatte; der zweite Teilband Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen ist postum 2017 erschienen.2 Eine Vorgeschichte des Exils liefert Walter hauptsächlich darin, dass er die Anfeindungen und Verfolgungen dokumentiert, denen die Schriftsteller und Intellektuellen seitens des Staates und der Justiz bereits vor 1933 ausgesetzt gewesen sind, und dass er auch die Konflikte aufzeigt, welche die aus Deutschland Vertriebenen gleichsam ins Exil mitgenommen und dort untereinander neu ausgetragen haben. Aufschlussreich sind aber auch seine Recherchen zu der Frage, wer noch aus freiem Entschluss, manchmal bloß durch Zufall oder beruflich bedingt, Deutschland bereits vor 1933 verlassen hat.3 Einzelne Beispiele für politische 1
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Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918‒1933, Teil 1, bes. die Beiträge Ernst Fischer / Stephan Füssel: Kultur und Gesellschaft: Signaturen der Epoche (S. 5‒29) und Zensur (S. 71‒83), sowie Volker Hentschel: Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Ein Überblick, S. 29‒70. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 1: Die Vorgeschichte des Exils und seine erste Phase. Teilband 1,1: Die Mentalität der Weimardeutschen / Die »Politisierung« der Intellektuellen; Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen. Siehe hierzu die ausführliche Rezension des Verf. in AGB 73 (2018), S. 291‒295. – Nachdem Walters in den 1970er Jahren im Luchterhand Verlag unternommener Anlauf zu einer Gesamtdarstellung der deutschen Exilliteratur nach drei von sieben (Taschenbuch-)Bänden abgebrochen wurde, kam 1978 der erste Band der weit umfangreicher angelegten Neukonzeption bei J. B. Metzler in Stuttgart heraus, als erstes der Bd. 4 zur Exilpresse. Es folgten 1984 Bd. 2 zu Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, 1988 Bd. 3 zu Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg sowie die beiden oben genannten Teilbände zur Vorgeschichte. Vor allem die Bde. 1 und 2 der Luchterhand-Ausgabe 1972, die in der Metzler-Reihe nicht oder nur teilweise ersetzt wurden, enthalten immer noch schätzenswertes Material, u. a. zur Rechtslage der Geflüchteten, zu den Einreisebestimmungen und zur Asylpraxis der Gastländer sowie zur materiellen Lage der Exilierten. Walter geht es hier vor allem um den Aufweis von »Verhaltenswidersprüchen«, etwa durch vorsorgliche Vermögenstransfers wie beim Verleger Gottfried Bermann Fischer oder die Einrichtung von Auslandskonten seitens prominenter Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Alfred Döblin oder Arnold Zweig; vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle, S. 553‒560.
https://doi.org/10.1515/9783110303353-002
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Voraussicht ändern aber nichts daran, dass nach dem Befund Walters sich das Gros der Gefährdeten, allen Warnungen und schlimmen Erfahrungen zum Trotz, auf den 30. Januar 1933 »nicht wirklich vorbereitet« zeigte.4 Seinen Beobachtungen zufolge wurde sogar noch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler von den Intellektuellen aller Richtungen »erstaunlich gelassen« aufgenommen, letztlich auch die Einrichtung neuer Unterdrückungsinstrumente auf Notverordnungsbasis. Ein – von Münzenberg getarnt initiierter – Kongress »Das Freie Wort« vom 19. Februar 1933 blieb offenbar resonanz- und wirkungslos. Die entscheidende Wende markierten der Reichstagsbrand und der noch in der gleichen Nacht einsetzende Terror, formal legitimiert durch die »Verordnung zu Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar 1933.5 Noch in der Brandnacht sahen sich Hunderte von Hitlergegnern zur Flucht gezwungen, vor allem Kommunisten, denn die Tat wurde sogleich der KP angelastet. Es kam zu einer (offensichtlich wohl vorbereiteten) Welle von Verhaftungen, von der etwa 1.500 Menschen betroffen waren, unter ihnen zahlreiche kritische Publizisten. Mit der Notverordnung wurden alle Verfassungsartikel außer Kraft gesetzt, in denen bürgerliche Freiheiten garantiert waren; sie lieferte die »Rechtsgrundlage« für Maßnahmen gegen alle Personen und Vereinigungen, die vom NS-Regime als Gegner betrachtet wurden. Tausende flüchteten in den nächsten Tagen und Wochen in noch unorganisierter Weise nach Frankreich, in das Saargebiet, in die Tschechoslowakei, in die Niederlande, nach Belgien und Dänemark. Die akute physische Gefährdung namentlich der kommunistischen Parteifunktionäre war manifest: Allein in Preußen wurden im März und April fast 30.000 offiziell registrierte Festnahmen verzeichnet, Ende 1933 befanden sich zwischen 60.000 und 100.000 KPD-Mitglieder in Haft, 500 bis 600 wurden in den ersten Monaten nach der Machtergreifung von Nationalsozialisten ermordet, Tausende gefoltert. Die Flucht war nicht einfach: Verschärfte Grenzkontrollen und die Einführung eines Sichtvermerks für Auslandsreisende sollten für die Festsetzung der politischen Gegner sorgen, allein schon um zu verhindern, dass sie vom Ausland her ihre regimefeindliche Tätigkeit fortsetzten. Ab Mitte 1933 ging die parteigebundene Opposition notgedrungen zu stärker organisierten Formen der Flucht über, vor allem für die gefährdetsten Spitzenfunktionäre, die den Kampf gegen Hitler von rasch gebildeten Auslandsparteizentralen aus führen sollten.
Phasen der Vertreibung: Die politische Emigration Die Nacht des Reichstagsbrandes setzte somit die entscheidende Anfangsmarkierung für die erste Phase des Exils.6 Damit sollen nicht die – alles in allem nur sehr wenigen – Fälle jener politisch Hellhörigen negiert werden, die schon vor diesem Ereignis ins Ausland geflüchtet waren.7 Die Massenflucht begann aber erst mit diesem Datum und
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Walter: Weimarische Linksintellektuelle, S. 560. Walter, S. 581‒588, gibt einen Überblick über die Verhaftungen einerseits und die Fluchtbewegungen andererseits, mit Bayern als anfänglich weniger rabiatem Sondergebiet (S. 589‒ 593). Eine gute Überblicksdarstellung bietet immer noch Möller: Exodus der Kultur. Orientierend auch: Nationalsozialismus und Exil 1933‒1945. H. A. Walter hat für das »Schicksalsjahr« 1932 unter den Schriftstellern und Intellektuellen nur vier Beispiele ermittelt, Emil Julius Gumbel, Berthold Jacob, Alice Rühle-Gerstel und
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wurde durch verschiedene Maßnahmen des Regimes immer wieder angefacht, so dass bis 1940 mehrere Emigrationswellen entstanden. Zu diesen Maßnahmen gehörten noch im ersten Halbjahr 1933 die Annullierung der kommunistischen Reichstagsmandate am 9. März,8 Hitlers Ermächtigungsgesetz zum 23. März mit der formellen Beseitigung der Demokratie, die Auflösung der Gewerkschaften am 2. Mai und vor allem die Aufsehen erregenden Bücherverbrennungen ab 9. /10. Mai. Es folgten das Verbot der SPD am 22. Juni und das »Gesetz gegen die Neubildung von Parteien« vom 14. Juli, mit dem die Alleinherrschaft der NSDAP besiegelt war; die bürgerlich-konservativen Parteien hatten bereits zwischen dem 27. Juni und dem 6. Juli ihre Selbstauflösung verkündet. Die politische Emigration erreichte Mitte 1933 ihren Höhepunkt und flachte danach ab.9 Zwar erhielt die Parteiemigration bis Kriegsbeginn fortlaufend neuen Zuzug, zumal auch Vertreter der bürgerlichen Parteien emigrierten, Liberale, Christlich-Soziale, auch Nationalkonservative, Monarchisten, linke Nationalisten bis hin zu oppositionellen Mitgliedern der NSDAP. Im Vergleich zu den linken Parteien fielen diese Gruppen allerdings zahlenmäßig nicht ins Gewicht. KPD und SPD erschien es unter Gesichtspunkten des politischen Kampfes gegen das NS-Regime wichtig, dass verlässliche Parteigenossen im Lande blieben, denn es sollten sich Verbindungsnetze bilden zwischen dem in Deutschland aufgebauten illegalen Widerstand mit dem Widerstand im Exil. Jedoch blieben mit der fortschreitenden Stabilisierung des Systems, mit dem Ausbau der Geheimen Staatspolizei und der Sondergerichtsbarkeiten sowie der Einrichtung von Konzentrationslagern für politische Häftlinge die Motive für eine Flucht nicht nur bestehen, sondern nahmen weiter zu. Bis 1935 dürfte das gesamte politische Exil 16.000 bis 19.000 Menschen gezählt haben, zu denen nach 1934, nach der Errichtung des Ständestaates in Österreich, in dem die Linksparteien ebenfalls verboten waren, noch mehrere tausend Verfolgte hinzukamen. In den Folgejahren kam es zu drei weiteren großen, politisch bedingten Emigrationsschüben, der erste davon Anfang 1935 im Gefolge der Saarabstimmung mit rund 4.000 Saarflüchtlingen. Im März 1938 erfolgte der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, wobei neben noch verbliebenen Sozialdemokraten und Kommunisten nun auch die Repräsentanten des »christlichen Ständestaates« Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. Wieder kam es zu einem nach Tausenden zählenden politischen Emigrationsschub, ebenso im Herbst 1938, mit den politischen Flüchtlingen aus den annektierten Gebieten der Tschechoslowakei (ca. 5.000 Sozialdemokraten und 1.500 Kommunisten). Bis kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs haben so ca. 30.000 Personen das
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Otto Rühle. Ansonsten sind vor allem Fälle bekannt, in denen Kommunisten im Parteiauftrag in die Sowjetunion ausgereist waren, wie Béla Balász bereits 1931 oder der im KPVerlagsbereich tätige Erich Wendt. Ein Alfred Kurella war als Komintern-Funktionär ohnehin international tätig, zunächst in Frankreich, dann in der UdSSR. Dagegen wurde Wieland Herzfelde von der Partei daran gehindert, in Frankreich und Spanien Filialen des MalikVerlages zu gründen; dies »könnte Panik bei den Genossen auslösen«. Immerhin steckte er die Geschäftsunterlagen, die für eine Verlagsgründung im Ausland wichtig waren, seinem siebenjährigen Sohn ins Gepäck, als dieser im Sommer 1932 zu Verwandten nach Salzburg geschickt wurde. Walter: Weimarische Linksintellektuelle, S. 551. Am 26. Mai wurde das Vermögen der KPD eingezogen; eine weitere Verhaftungswelle folgte. Vgl. dazu auch den Überblicksartikel von Röder: Die politische Emigration.
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Deutsche Reich, Österreich und die deutschsprachigen Teile der Tschechoslowakei aus politischen Gründen verlassen und können, als aktive Gegner des Hitlerregimes, der politischen Emigration zugezählt werden.10 Das waren rund sechs Prozent der Gesamtzahl der Emigranten aus dem deutschsprachigen Raum nach 1933, die sich auf rund 500.000 beziffern lässt. Im Rahmen der »Parteiemigration« kam es schon seit 1933 zur Bildung von Auslandsstützpunkten, die Exil-Parteivorstände der Arbeiterbewegung positionierten sich in der Tschechoslowakei und Frankreich; seit 1937 /1938 auch in Großbritannien.11 Allerdings war die politische Emigration von Anfang an in eine Vielzahl von einander befehdenden Gruppierungen zersplittert. Insbesondere im linken Spektrum setzten sich die erbitterten Kämpfe von SPD und KPD sowie verschiedenen Abspaltungen davon aus der Zeit der Weimarer Republik fort. Der einzige gemeinsame Nenner ergab sich aus der Gegnerschaft zum NS-Regime, wobei dieser prinzipielle Konsens nicht ausreichte, um sich auf eine gemeinsame Linie oder gar auf eine Gesamtvertretung des Exils zu einigen; der Gedanke einer deutschen Exilregierung war zu keinem Zeitpunkt realistisch.12 Alle derartigen Initiativen scheiterten, so auch die Bemühungen um die Bildung einer deutschen Volksfront im Exil in Paris in den Jahren 1935 bis 1938. Insbesondere die Ereignisse des Jahres 1939, mit dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Kriegsausbruch, schufen mit der totalen Diskreditierung des kommunistischen Antifaschismus einerseits und der Notwendigkeit erneuter Flucht andererseits neue Verhältnisse in der Politemigration; Großbritannien und Schweden lösten Frankreich als Zentrum des exilpolitischen Geschehens ab; ein größerer Teil war nach Übersee geflohen, wo politische Betätigung teils inopportun war, teils im Bereich des bloßen Pläneschmiedens verbleiben musste.
Die jüdische Emigration Die jüdische Emigration aus Deutschland umfasste zwischen 1933 und 1945 278.000 Menschen (von etwa 525.000 Juden in Deutschland bzw. 870.000 »Nichtariern«), mit einem charakteristischen Verlauf, der sich von jenem der politischen Emigration unterschied: 37.000 gingen noch im Jahr 1933 außer Landes, zwischen 1934 und 1937 waren es jährlich zwischen 21.000 und 25.000, 1938 dann 40.000 und 1939 verzeichnete mit 78.000 die höchste Zahl an jüdischen Emigranten.13 Danach sank die Zahl von 15.000 auf 8.500 und noch tiefer. Es handelt sich demnach um ein prozesshaftes Geschehen, wieder mit spezifischen Markierungen wie dem Judenboykott-Tag am 1. April 1933, dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 oder den Nürnberger Rassengesetzen vom 15. September 1935. Nicht alle davon Betroffenen konnten schon in den ersten Jahren der Bedrohung aus dem Land gehen, nicht alle wollten
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Vgl. Mehringer: Der deutsche Widerstand im Ausland, S. 23‒32; hier S. 24. Zu berücksichtigen ist dabei, dass ein Teil der politischen Emigranten auch aufgrund ihrer jüdischen Abstammung Verfolgung zu gewärtigen hatte. Mehringer, S. 24 f. Mehringer, S. 25. Zahlen nach Röder: Einleitung. In: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, S. XIX. Vgl. auch Benz: Die jüdische Emigration.
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dies auch: Gerade unter den deutschen Juden befanden sich viele, die der deutschen Kultur so eng verbunden waren, dass sie es gar nicht für möglich hielten, dass in dem von ihnen geliebten Land die Unmenschlichkeit länger als einige Monate regieren könnte. Auch war die judenfeindliche Politik des Regimes in ihren tatsächlichen Zielen, der Vernichtung der »jüdischen Rasse«, nicht unter allen Umständen zu durchschauen; es gab in den polyzentrischen Macht- und Ideologiestrukturen der Partei und der Staatsbürokratie, den z. T. rivalisierenden Ämtern nicht immer schon ein feststehendes antisemitisches Aktionsprogramm, sondern unterschiedlich radikale Vorstellungen. So war es auch möglich, dass im Dritten Reich eine jüdische Verlagsproduktion fortbestand, ja im Rahmen des »jüdischen Ghetto-Buchhandels«, wie Volker Dahm in seinen Arbeiten zum Jüdischen Buch im Dritten Reich den strikt innerjüdischen Buchhandel benannte, sogar einen bemerkenswerten Aufschwung nahm. Phänomene wie der Ghettobuchhandel waren geeignet, die tödliche Bedrohung nicht voll hervortreten zu lassen. Bis Ende 1938 war unter den Machthabern das Konzept vorherrschend, die Juden zu isolieren, sie aus dem öffentlichen Kulturleben und aus der Wirtschaft zu verdrängen und von jedem Einfluss auf das deutsche Volk fernzuhalten, auch jede »Durchmischung der Rassen« zu verhindern. Darüber hinaus sollte der Welt aus politisch-taktischen Gründen (man brauchte Zeit für das Rüstungsprogramm) eine friedlich-legale Lösung der »Judenfrage« vorgespiegelt werden. Natürlich waren die meisten Maßnahmen darauf abgestellt, die Juden zum Verlassen Deutschlands zu zwingen. Erst nach der Reichspogromnacht vom 9. /10. November 1938 und spätestens ab 1941 setzte sich die radikale, auf physische Vernichtung abzielende und im Holocaust endende Politik durch, die »Endlösung der Judenfrage«, wie sie sich freilich in Hitlers Mein Kampf schon seit den 1920er Jahren abgezeichnet hatte. Eine Besonderheit der jüdischen Emigration war, dass sie in soziologischer Hinsicht völlig heterogen war: Bankiers gehörten ihr ebenso an wie der Straßenhändler, der trotz seines Judentums deutschnational eingestellte Theaterdirektor ebenso wie der kommunistische Journalist, der Rabbi ebenso wie der christlich getaufte jüdische Kaufmann. Einziges Kriterium für die Maßnahmen der Verfolgung und Vertreibung, später die Vernichtung, war die »rassische« Herkunft, unabhängig von politischer Einstellung, religiösem Bekenntnis und gesellschaftlicher Position. Viele waren auf ihre gesellschaftliche Ausgrenzung überhaupt nicht vorbereitet, weil sie nach perfekter Assimilation bzw. Akkulturation erst von der nationalsozialistischen Rassenideologie gleichsam wieder zu Juden, als welche sie selbst sich kaum noch wahrnahmen, gemacht worden sind. In nicht wenigen Fällen traf dies gerade auf die erfolgreichsten unter den deutschen Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren zu.
Die buchhändlerische Emigration Aussagen über die Größenordnung der buchhändlerischen Emigration sind immer noch auf Schätzungen angewiesen. Das Biographische Handbuch14 zur Emigration der Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich im Exil 1933‒1945
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Fischer: Handbuch (Supplement zu diesem Band).
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dokumentiert in der 2. Auflage die Schicksale von rund 900 Personen, es ist aber immer noch von einer gewissen Dunkelziffer auszugehen, so dass der Umfang der Buchhändler-Emigration auf an die tausend Personen geschätzt werden kann. Unvermeidlicherweise gibt es bei der Bestimmung dieser Personengruppe immer wieder Grenzfälle, so etwa wenn sich Schriftsteller an genossenschaftlichen Verlagen beteiligt oder Bücher im Selbstverlag herausgebracht haben. Ein weiteres Abgrenzungsproblem ergibt sich daraus, dass nicht alle der Buchhändleremigration zugerechneten Personen bereits als Verleger, Buchhändler, Antiquare etc. vertrieben worden sind, sondern viele von ihnen erst im Exil zu einem dieser Berufe gefunden haben. Klar ist: Die Kerngruppe bilden jene Personen, die bereits vor ihrer Emigration und dann auch in der Emigration, eventuell auch nach erfolgter Remigration, einschlägig tätig gewesen sind. Berücksichtigt werden müssen selbstverständlich auch jene Personen, für die die Emigration das Ende ihrer buchhändlerischen Tätigkeit markiert. Emigranten der zweiten Generation – hier verstanden als solche, die als Kinder oder Jugendliche in ihre Aufnahmeländer gelangt sind (im Einzelfall auch solche, die erst dort zur Welt gekommen sind) und sich dann für den Verleger- oder Buchhändlerberuf entschieden haben – bilden migrationswissenschaftlich gesehen eine besonders aufschlussreiche Gruppe, denn die Akkulturationsvorgänge ziehen sich mit spezifischem Verlauf über mehrere Generationen. Eine Zuordnung zu einzelnen Berufssparten erweist sich als schwierig, weil die Buchhändleremigranten in hohem Maße zur Kombination von Verlags-, Agentur-, Kommissions-, Sortiments- und Antiquariatstätigkeiten neigten. Darüber hinaus ist in gar nicht so seltenen Fällen die Emigration zum auslösenden Moment einer beruflichen Umorientierung geworden, etwa vom Sortimenter zum reinen Antiquar. Legt man also der Berufsspartenerhebung nur die über die gesamte Lebenszeit erkennbar werdende Hauptbeschäftigung zugrunde, so ergibt sich folgendes Bild: mehr als die Hälfte der erfassten Personen sind vor oder nach ihrer Emigration im Verlagsbereich tätig gewesen, reine Zwischenbuchhändler gibt es nur in geringem Ausmaß, die Sortimenter bilden mit 6–7 % eine relativ kleine Gruppe, dagegen sind die Antiquare mit mehr als 15 % relativ stark vertreten. Im Einklang mit den Usancen der Exilforschung wird in dieser Darstellung von der deutschsprachigen Emigration gesprochen und gehandelt, da auch die österreichischen und sogenannten »altösterreichischen«, aus den Ländern der Habsburgermonarchie stammenden Personen mit einbezogen werden. Diese sind ja aus dem durch Annexion erweiterten Reichsgebiet geflohen, und ähnliches gilt für die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei.
Die Zerschlagung des linken Buchhandels Mit der vom NS-Regime nach dem Reichstagsbrand in Gang gesetzten Ausschaltung der politischen Gegner entstand eine erste Fluchtwelle, von der auch Verlag und Buchhandel betroffen waren, soweit sie dem linken und linksextremen Spektrum angehörten. Die »Reichstagsbrandverordnung«15 hatte die Grundlage dafür geliefert, das kommunisti15
Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, die im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand erlassen worden war, bewirkte auch das sofortige Verbot der KPD- und SPD-Presse.
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sche, wenig später auch das sozialdemokratische16 Verlagswesen samt dem daran angeschlossenen Sortiment mit einem Schlag zu eliminieren. Die Inhaber der Unternehmen gingen nach Möglichkeit sofort in die Emigration, so auch die Zentralfigur der gesamten Agitation der KPD Willi Münzenberg, der in der Tat höchst gefährdet war und am Tag nach dem Reichstagsbrand unter dem Namen Studzinski über das Saarland nach Frankreich flüchtete. Von dort aus setzte er seine propagandistische Arbeit gegen den Nationalsozialismus fort, u. a. mit dem Carrefour-Verlag. Zerschlagen war somit auch der von ihm in der Weimarer Republik mit Unterstützung der Komintern aufgebaute Medienkonzern, dem der Neue Deutsche Verlag zugehört hatte, mit der Universum-Bücherei auch eine Buchgemeinschaft, darüber hinaus zahlreiche, teilweise von ihm selbst redigierte Zeitschriften und Zeitungen wie die Arbeiter Illustrierte Zeitung, Die Welt am Abend, Berlin am Morgen, Der Weg der Frau und noch andere; auch eine Filmgesellschaft war angegliedert gewesen. Aktenstücke aus dem Archiv des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig zeigen, dass der Börsenverein die Streichung von Kommunisten aus der Mitgliederliste und aus dem Adressbuch des Deutschen Buchhandels bereits relativ früh vorgenommen hat.17 Schon vom 23. März 1933 datiert ein Dossier, in dem die kommunistischen Mitglieder – jedenfalls einige der wichtigsten ‒ und ihre Verlage namhaft gemacht wurden: Münzenberg an erster Stelle, Louis Cahnbley, Bernhard Rosner, Hans Jaeger.18 Der Marx-Engels-Verlag, 1925 als Privatunternehmen von Felix Weil und Friedrich Pollock vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main gegründet und vertreten von Hans Jaeger, blieb von der Streichung kommunistischer Verlage zunächst ausgenommen, da es sich um einen rein wissenschaftlichen Verlag handelte. Als der Verlag laut eigenen Angaben nach Moskau verlegt wurde, wurde auch er aus dem Adressbuch gestrichen.
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Zur Schließung der sozialdemokratischen Volksbuchhandlungen vgl. als Beispiel Holzträger: Die Buchhandlung »Volkszeitung« in Mainz, S. 135‒140, bes. S. 140: »In den frühen Morgenstunden des 7. März 1933, zwei Tage nach den Reichstagswahlen, wurde das Gebäude der ›Volkszeitung‹ von Polizei und sogenannten Hilfspolizisten der SA und SS durchsucht. Im Anschluss an diese ergebnislose Aktion konnte der Betrieb noch einmal für einige Wochen aufgenommen werden. Das Ende für das Unternehmen kam am 3. Mai 1933. Angehörige der SA drangen in Räume der Druckerei ein und verhafteten einige Mitglieder des Reichsbanners, die eine Besetzung verhindern wollten.« Zum Folgenden siehe SStAL, BV, F 14.634, dort Bl. 15‒26 die Mitteilung über den Ausschluss kommunistischer Buchhandlungen, Brief über Ausschluss Münzenbergs u. a. m. Erste Streichungen wurden am 31. März vorgenommen, die Liste wurde bis zum 12. April noch stark erweitert. Zu den genannten Namen vgl. auch das Kap. 5.2.2 Politische Verlage. Nur Louis Cahnbley, der in Hamburg den Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley als Vertriebszentrale kommunistischer Literatur und als Parteibuchhandlung mit einer Filiale in Berlin geführt hatte, der wie alle kommunistischen Buchhandelsbetriebe 1933 behördlich geschlossen wurde, ist nicht ins Exil gegangen. Siehe hierzu Steinky: Hamburger Kleinverlage in der Zeit der Weimarer Republik, S. 236‒247.
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Abb. 1: Nach dem de facto-Verbot der KPD im Gefolge des Reichstagsbrands trennte sich der Börsenverein im März / April von den als kommunistisch eingeordneten Mitgliedern – ohne dies den Betroffenen bekanntzugeben.
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Die »Entjudung« des Kulturlebens und der jüdische Ghettobuchhandel Zwingender Anlass für Flucht und Auswanderung war aber auch im Bereich Verlagswesen und Buchhandel hauptsächlich die »rassische« Verfolgung. Der Rassenantisemitismus gehörte zum ideologischen Fundament der NS-Ideologie, und so war einer der wichtigsten Programmpunkte die »Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Kulturleben«.19 Die Voraussetzungen dafür ergaben sich mit dem fortschreitenden Ausbau des nationalsozialistischen Herrschaftssystems: wichtige Einzelmaßnahmen waren hier die Errichtung der Reichskulturkammer (RKK) mit ihren unterschiedlichen Abteilungen, insbesondere der Reichsschrifttumskammer (RSK), oder die bereits erwähnten, auf dem 7. Reichsparteitag der NSDAP am 15. September 1935 vom Reichstag ratifizierten »Nürnberger Rassengesetze« zum »Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. Der Vorgang der »Entjudung des Kulturlebens« zog sich über mehrere Jahre hin und verlief in wechselnder Härte. Insgesamt lassen sich dabei vier, einander teilweise überlappende Phasen unterscheiden: 1. Herbst 1933 bis 1935 als Aufbau- und Ausbauzeit der Reichsschrifttumskammer; 2. die Phase der »Arisierungen« im Buchhandel bis 1938; 3. die Ghettoisierung des jüdischen Buchhandels vor allem von Mitte 1937 bis Ende 1938; 4. die Liquidation des jüdischen Ghettobuchhandels im Dezember 1938 und die darauffolgende Schlussphase mit Formen des nicht-gewerblichen jüdischen Buchwesens und letzten Einzelaktionen in den Jahren 1939 bis 1943. Dieses von Dahm herausgearbeitete Schema widerlegt die lange Zeit umlaufende Vorstellung, dass bereits die am 1. November 1933 erlassene »1.Verordnung zur Durchführung des RKK-Gesetzes« die Ausschaltung der Juden aus dem kulturellen Leben bewirkt habe.20 Es hieß nun zwar in § 4, dass die Ausübung eines kulturschaffenden oder kulturvermittelnden Berufs an die Mitgliedschaft in der RKK gebunden sei und eine Aufnahme abgelehnt werden könne, wenn die erforderliche Zuverlässigkeit und Eignung nicht gegeben sei, aber dieser Paragraph ist in der ersten Zeit nicht als ein »Arier-Paragraph« gehandhabt worden (im Unterschied zum Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933, wo es einen solchen konkret gab, § 3). Tatsächlich sind auch Juden in die Kammern aufgenommen worden, ausgenommen waren nur die Vertreter der marxistischen Linken oder Antinazisten aus dem bürgerlichen Lager. Die Gründe für diese Zurückhaltung waren teils wirtschaftlicher, teils außenpolitischer Natur; man fürchtete einen internationalen Sturm der Empörung, vor allem aber hatten die ersten Terroraktionen der SA gegenüber jüdischen Geschäften die Aufmerksamkeit der Machthaber auf die Schäden für die deutsche Volkswirtschaft gelenkt, falls sofort in allen Bereichen radikale Maßnahmen ergriffen werden würden. Besonders das Reichswirtschaftsministerium unter Hjalmar Schacht
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Die Darstellung dieser Vorgänge folgt hauptsächlich Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 17‒199 (»Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler«). Dahm, S. 31‒38.
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drängte darauf, die »Judenfrage« dem Zugriff der Rassenpolitik zu entziehen. Daher wurden zunächst auch »nichtarische« Antragsteller in die Fachverbände der RKK aufgenommen, zumal die Behörden damit einen besseren Überblick gewannen und die »erkennungsdienstlichen« Voraussetzungen für spätere Säuberungsaktionen schaffen konnten. Diese ließen nicht lange auf sich warten: Bereits im Februar 1934 nahm Goebbels auf einer RKK-Tagung zur »Judenfrage« Stellung und hielt in einem folgenreichen Diktum fest, dass nach seiner Ansicht und Erfahrung ein »jüdischer Zeitgenosse im allgemeinen ungeeignet [sei], Deutschlands Kulturgut zu verwalten!«.21 Seit 24. März folgten die Kammern der Anweisung, »Nichtarier« nicht mehr aufzunehmen, sofern nicht besondere Umstände vorlagen (etwa bei Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs). Diese Sonderregelungen wurden Anfang 1935 nicht mehr praktiziert, denn inzwischen war bereits das Signal zu einer grundsätzlichen Umorientierung der Judenpolitik gegeben. Noch im Jahr 1934 wurden die Mitgliederlisten durchgesehen und zwischen Februar und Juni 1935 eine erste Säuberungsaktion durchgeführt, die sich aber zunächst gezielt auf die Schriftsteller bezog. Ungefähr 2000 jüdische und »jüdisch versippte« Autoren wurden damals aus der RSK ausgeschlossen. Seit Mai 1935 wollte man mit »tunlichster Beschleunigung«, wie der zuständige Ministerialrat Heinrich Wissmann Minister Goebbels versprach, die wesentlich schwierigere Aufgabe der »Entjudung des Buchhandels« vorantreiben, immer unter Bedachtnahme darauf, »Kapitalwerte und Arbeitsplätze zu erhalten« und das Hauptgewicht darauf zu legen, das »nichtarische« durch »arisches« Kapital abzulösen, also die bisherigen Firmeninhaber zu entfernen und den Betrieb im Wesentlichen zu erhalten (wie das z. B. beim S. Fischer Verlag der Fall war). Schon zuvor war der Ullstein-Verlag »arisiert« worden, Rütten & Loening und viele andere mehr. Energischer als im Verlagsbereich ging man im Sortiment zu Werke, weil man hier weniger erhaltenswerte wirtschaftliche Werte vermutete. Den jüdischstämmigen Sortimentern wurde im Herbst 1935 mitgeteilt, dass ihr Ausschluss aus der RSK, also Berufsverbot, bevorstünde und sie daher in allernächster Zeit ihr Unternehmen liquidieren bzw. an eine geeignete arische Persönlichkeit verkaufen sollten. Das wurde von den meisten Betroffenen ernst genommen, und nicht zu Unrecht. Wirklich wurde in den letzten Tagen des Jahres 1935 vom Präsidenten der RSK Hanns Johst ein Schreiben verschickt mit der Standardformel: »Da Sie jüdischer Abstammung sind, halte ich Sie nicht für geeignet, in einem kulturvermittelnden Beruf tätig zu sein.« Das lief auf den Ausschluss aus der Gruppe Buchhandel der RSK hinaus, und sollte dann auch die automatische Streichung aus der nächsten Ausgabe des Buchhändleradressbuches zur Folge haben. Es gab allerdings einige Gruppen, bei denen man eine Ausnahme machen wollte: bei den »jüdisch Versippten«, bei Firmen, die von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung oder besonderem Bekanntheitsgrad waren, bei dem größten Teil der Leihbüchereiinhaber (der Grund dafür ist nicht ganz klar; hier hatte man offenbar eine eigene Aktion geplant), und bei den Firmen, die auf rein jüdisches Schrifttum spezialisiert waren. In prominenteren Fällen behielt sich Goebbels die Entscheidung vor. Das Reichswirtschaftsministerium war bei diesen Maßnahmen nicht gefragt oder einbezogen worden, woraus sich sehr bald Probleme ergaben. Vieles spricht dafür, dass
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Dahm, S. 45 f.
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Abb. 2: Wie Walter Schatzki erhielten noch hunderte andere Buchhändler und Antiquare jüdischer Herkunft den Bescheid über den Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer und die Anordnung zu Verkauf oder Schließung der Firma.
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Hjalmar Schacht bei Hitler einen energischen Protest eingelegt hat, denn am 22. Januar 1936 wurde die Aktion von einem Tag auf den anderen gestoppt. Zwar wurden erfolgte Ausschlüsse nicht zurückgenommen, eingelegten Beschwerden musste aber sofort stattgegeben werden und die Ausschlussaktion durfte nicht weiter betrieben werden. Es gibt Akten, in denen der Abbruch der Entjudungsmaßnahmen mit »Rücksichten auf die deutsche Außenhandelsbilanz« begründet worden ist. Die ökonomischen Interessen des Reiches gingen vor, die ideologischen Prinzipien mussten zurückstehen. Solche Rücksichten waren übrigens auf Buchvertreter und Buchhandelsangestellte nicht zu nehmen, sondern nur auf Betriebsinhaber, weswegen erstere auch eine viel schlechtere Behandlung erfuhren; die zuständigen Fachschaften meldeten sich bereits Anfang 1937 als »judenrein«. In den anderen Fachschaften und Sparten führte die jetzt notwendige Einzelfallprüfung im Jahr 1936 zu einem schleppenden Verlauf der weiteren Ausschlussmaßnahmen. Erst Ende 1936, nach den Olympischen Spielen in Berlin, um derentwillen man sich in Nazi-Deutschland Zurückhaltung auferlegt hatte, betrieb man die »Entjudung« des Buchhandels wieder offensiv, man stellte den verbliebenen jüdischen Firmeninhabern brieflich eine Frist zur Auflösung oder Überleitung des Unternehmens bis zum 31. März 1937. Aus zwei erhaltenen Listen geht hervor, dass es Mitte März 1937 noch 20 Sondergenehmigungen gab und 50 »Judenfälle« noch zu bearbeiten waren. Wieder kam es damals zu einem Nachlassen des Säuberungsfurors, erkennbar in der individuellen Behandlung von Beschwerden und Fristverlängerungsansuchen, aber auch und vor allem erkennbar in der Entstehung eines jüdischen Ghettobuchhandels.22 Dieser auf Werke jüdischer Autoren über jüdische Themen und auf ein jüdisches Publikum eingeschränkte Buchhandel brachte für eineinhalb Jahre eine im Rückblick makaber anmutende Blüte jüdischen Kulturlebens, auch der Verlagstätigkeit und der Rezeption jüdischer Literatur hervor.23 Im Sinne einer »völkischen« Kulturpolitik war es den noch in Deutschland lebenden Juden erlaubt, im Rahmen des Kulturbunds deutscher Juden Theaterstücke, Opern, Konzerte etc. aufzuführen und innerhalb der Grenzen eines rein jüdisch gehaltenen Buchhandels eben auch ungehindert (oder besser: anfangs oder eine Zeitlang ungehindert) Bücher zu produzieren und zu verbreiten. Man wollte das jüdische Element gewissermaßen fördern, um die deutschen Juden, die an dem Land und der deutschen Kultur hingen, zum bewussten Juden umzuerziehen und sie zur Auswanderung nach Palästina, das als ein damals unzivilisiertes Wüstenland des Nahen Ostens für diese Gruppen wenig attraktiv war, zu motivieren. Diese kurzfristig stark expandierende Verlagsproduktion v. a. des Schocken Verlags und das aus mehr als 50 Betrieben bestehende Netz jüdischer Spezialbuchhandlungen wird bei Dahm genauer beschrieben. Im gegenständlichen Zusammenhang bedeutsam ist, dass damit ein weiteres Moment gegeben war, das sich auf die buchhändlerische Emigration vorerst eindämmend ausgewirkt hat: es gab durch diesen Ghettobuchhandel noch Aufgaben und Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland. Die Firmen gehörten zwar nicht mehr der RSK an, durften natürlich auch
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Dahm bezeichnet dieses Phänomen einer in sich geschlossenen jüdischen Buchkultur im Dritten Reich mit dem Begriff »Jüdischer Ghettobuchhandel«, um in einem übertragenen Sinne das streng Abgeschottete dieses Buchmarktes zu charakterisieren. Vgl. hierzu auch Schoor: Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto.
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nicht mit »deutschen« Büchern beliefert werden, mussten im Namen die Bezeichnung »Jüdischer Buchverlag« oder »Jüdischer Buchvertrieb« führen, und der Verkauf durfte nur »an Juden gegen Ausweis« erfolgen. Dem temporären Weiterbestehen dieser Betriebe stand aber eine große Zahl von erzwungenen oder pseudo-freiwilligen »Arisierungen« und Firmenliquidationen gegenüber. Viele jüdische Inhaber von Buchhandlungen und Verlagen waren ja unter Druck gesetzt worden, durch behördliche Anordnungen und Schikanen, aber auch durch Boykott und Hetze. Manche von ihnen versuchten, ihre Inhaberschaft durch Scheinveräußerungen zu verschleiern oder das Geschäft tatsächlich zu verkaufen; beides gelang nur in seltenen Fällen. Meistens musste das Geschäft mit Totalverlust aller Werte geschlossen werden. Das Jahr 1938 brachte eine Verschärfung der gesamten Judenpolitik im Dritten Reich mit sich, insofern nun einschlägige Gesetze die »legale« Basis für Zwangsverkäufe lieferten. In unzähligen Fällen bereicherten sich an diesen gegen Juden geübten Raubzügen Privatpersonen, vielfach Parteifunktionäre, aber auch der Staat selbst. Mit der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war dann der Punkt erreicht, von dem weg die Ausschaltung alles Jüdischen aus der Öffentlichkeit und aus der Wirtschaft mit unerbittlicher Konsequenz betrieben worden ist. Verordnungen vom 12. November und 3. Dezember 1938 schufen die offizielle Grundlage dafür; Mitte Dezember 1938 wurden die Inhaber der Ghettobuchhandlungen per Brief aufgefordert, ihre Tätigkeit sofort einzustellen und ihre Betriebe bis 31. Dezember 1938 zu schließen. Inkonsequent wurde an den weiterbestehenden Jüdischen Kulturbund ein nichtkommerzieller Einheitsverlag angegliedert, der über sieben Buchverkaufsstellen die Herstellung und den Vertrieb jüdischer Literatur übernahm. Aber das war dann eine staatliche Literaturversorgungsmaßnahme, die sich bald erübrigte. Ein Buchhandel in jüdischen Händen bestand ab Ende 1938 nicht mehr. Wer von diesem Personenkreis noch Wege dazu fand, ging jetzt außer Landes. Dass es sich bei der erzwungenen Emigration um Vorgänge handelte, die sich oft über viele Monate, im Einzelfall noch länger hinzogen, hängt mit den allgemeinen finanziellen (»Reichsfluchtsteuer« und andere Abgaben) und behördlichen (Ausreisepapiere, Visa, Affidavits etc.) Hindernissen zusammen, die es zu überwinden galt, aber auch mit den spezifischen Bedingungen dieser »Wirtschaftsemigration«. Im Vergleich etwa mit einem Schriftsteller, der auf die Bedrohung sehr viel rascher reagieren konnte, war die Auflösung eines Geschäfts oft mit zeitlichen Verzögerungen verbunden. Viele hofften, noch einen Käufer finden zu können, bevor die endgültige Schließung oder eine »Arisierung« verfügt wurde, manche Antiquare versuchten, das Lager oder Teile des Lagers ins Ausland zu verbringen. In den allerersten Jahren war dies ohne besondere Regularien möglich gewesen, später musste jedes einzelne Buch auf einer Liste verzeichnet sein, abgesehen von den behördlichen Auflagen, die sich aus der Regulierung der Vermögensangelegenheiten ergeben konnten. Namentlich Antiquare hatten aufgrund von Auslandsverbindungen relativ günstige Voraussetzungen für die Emigration; diese von früher bestehenden Kontakte spielten eine maßgebliche Rolle bei der Wahl des Flucht- bzw. Asyllandes.
Topographie des Exils Die Zerstreuung der aus Deutschland vertriebenen Schriftsteller und Intellektuellen, der Verleger, Buchhändler und Antiquare in viele fremde Länder, ja in alle Welt, zeitigte
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Abb. 3: Der Transfer von Büchern und Umzugsgut per »Lift« nach Übersee war mit beträchtlichen Kosten verbunden, wie hier am Beispiel Walter Schatzkis deutlich wird.
charakteristische Verteilungsmuster, verursacht von den unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Einreise und Aufenthalt in den Fluchtländern möglich war. Diese Bedingungen können hier nicht systematisch und umfassend vorgestellt werden, weder hinsichtlich der jeweils allgemeinen, auf alle Emigranten gleichermaßen zutreffenden asylpolitischen Bestimmungen, noch hinsichtlich der spezifischen, z. B. arbeits- und gewerberechtlichen
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Voraussetzungen, wie sie für eine verlegerische oder buchhändlerische Neuetablierung maßgebend waren.24 Solche von Land zu Land differierenden und sich auch im Beobachtungszeitraum verändernden Bestimmungen werden im Folgenden in ausgewählten Fällen, ansonsten aber dort zur Sprache gebracht, wo dies für das Verständnis einzelner Vorgänge wichtig ist. Ein kurzer Überblick nach Ländern soll hier aber über die zahlenmäßige Verteilung der deutschsprachigen Emigration nach 1933 informieren, auch über die Bildung einzelner politischer und literarisch-kultureller Zentren, um mittels einer solchen Topographie des Exils eine Vorstellung von der Dezentralität des Buchhandels im Exil zu vermitteln. Die Topographie des Exils zerfällt unter zeitlicher Perspektive in zwei Phasen und davon bestimmte Räume, in das europäische Exil bis 1939 und das überseeische Exil ab 1939. Es ist im Wesentlichen der Beginn des Weltkriegs, der die entscheidende Zäsur bewirkte: Aufgrund der politischen oder militärischen Gebietseroberungen folgte der ersten Vertreibung für die meisten der in kontinentaleuropäische Staaten geflüchteten Emigranten eine zweite Vertreibung; nach der Annexion Österreichs und der Tschechoslowakei und im Verlauf des Eroberungsfeldzuges Hitlers, dem u. a. die wichtigen Asylländer Frankreich, die Niederlande oder skandinavische Länder zum Opfer fielen, waren sie erneut zur Flucht gezwungen – bis auf einzelne Fälle, in denen es Emigranten gelang, Krieg und Besatzung im Untergrund zu überleben.
Fluchtländer in Europa 1933 bis 1938/1939 Für viele naheliegend war eine Flucht in eines der an Deutschland angrenzenden Länder: in die Tschechoslowakei, die Niederlande und die Schweiz, nach Österreich und Frankreich; auch Dänemark oder Belgien kamen in Frage. Maßgebend für diesen Entschluss war nicht zuletzt die weit verbreitete Hoffnung oder Erwartung, das NS-Regime werde bald zusammenbrechen; dafür wollte man sich bereithalten. Eines der anfänglich bevorzugten Fluchtländer war die Tschechoslowakei.25 Die Fluchtwege waren, namentlich von Berlin aus, kurz und mit keinen großen Kosten verbunden; für die Einreise wurde kein Visum benötigt, die 1.500 km lange Grenze war aber auch illegal leicht zu passieren. Eine Aufenthaltsgenehmigung war für deutsche Staatsbürger nicht erforderlich, wohl aber
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Für einen Überblick über die Einreise- und Asylrechtsbestimmungen vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (1972), S. 52‒ 157 (bis Frühjahr 1938). Zeitlich daran anschließend: Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒ 1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis (1984), S. 249‒496. – Kompakte Darstellungen zu den einzelnen Fluchtländern finden sich im Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933‒1945, jeweils mit weiterführenden Literaturhinweisen. Über einzelne Großstädte als Exilorte siehe Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 20: Metropolen des Exils. München: Edition text + kritik 2002, mit Beiträgen von Hélène Roussel / Lutz Winckler über das literarische und publizistische Exil in Paris, Peter Becher über Prag, Michael Winter über New York, Ehrhard Bahr über Los Angeles, Marcus G. Patka über Mexico City, Sauveur-Henn über Buenos Aires und Astrid Freyeisen über Shanghai. Vgl. u. a. Heumos: Tschechoslowakei; Drehscheibe Prag; Schneider: Exil in der Tschechoslowakei, S. 17‒156; Beck: Exil und Asyl.
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galt für Asylsuchende grundsätzlich ein Arbeitsverbot. Schriftstellern und Journalisten war allerdings eine Betätigung gestattet; ein nur durch Tricks überwindbares Hindernis war das Arbeitsverbot aber für die Etablierung von Verlags- und Buchhandelsunternehmen.26 Eine eigentliche Sprachbarriere gab es nicht, auch unter kulturellen und politischen Gesichtspunkten fanden die Flüchtlinge in der ČSR günstige Verhältnisse vor; zudem leisteten einige Hilfskomitees finanzielle Hilfe. An die 20.000 Emigranten haben in dem Land ihre erste Fluchtstation gefunden, jedoch gab es eine sehr hohe Weiterwanderungsrate. Der Flüchtlingsstrom konzentrierte sich stark auf Prag, das so, neben Paris, in dieser ersten Phase zu einem der wichtigsten Zentren der Hitler-Emigration auf dem europäischen Kontinent wurde. Dort hatten auch die Sozialdemokraten (SOPADE) ihren Exil-Parteivorstand etabliert, seit 1935 auch die KPD; nach dem Februar 1934 waren aus Österreich rund 2.000 Sozialdemokraten, Kommunisten und Schutzbund-Angehörige nach Brünn und in andere tschechoslowakische Städte geflüchtet; überhaupt konnten rund 80 % der Flüchtlinge als politisch motiviert gelten. Unter anderem aus diesem Grund entstanden vor allem Exilverlage mit parteipolitischem Hintergrund (u. a. der Graphia Verlag in Karlsbad). Doch gab es daneben auch eine starke intellektuell-kulturelle Emigration, mit Wieland Herzfeldes Malik Verlag agierte einer der wichtigsten Literaturverlage des Exils von Prag aus, und auch im Bereich der (durch liberale Pressegesetze begünstigten) Exilpublizistik, mit Vortragsveranstaltungen, Kunstausstellungen und Theateraufführungen konnte manches realisiert werden. Offenbar trugen die deutschen Emigranten in den 1930er Jahren merklich zu einem Aufschwung der Buchproduktion in der Tschechoslowakei bei; jedenfalls stieg im Zeitraum 1929 bis 1935 die Produktion deutschsprachiger Bücher von 10,4 % auf 14,8 %.27 Auch eingesessene Verlage, die sich wie der Verlag Julius Kittls Nf. der Exilliteratur öffneten, hatten daran ihren Anteil. Nach der 1938 erfolgten Angliederung der sudetendeutschen Gebiete musste in der Tschechoslowakei alles, was dort aufgebaut worden war, von heute auf morgen abgebrochen werden: »Als die Wehrmacht am 15. März 1939 den tschechischen ›Rumpfstaat‹ besetzte, befanden sich noch etwa 2.000‒3.000 Emigranten aus Deutschland auf dem Territorium der ČSR, die in der Mehrzahl im letzten Augenblick über Mährisch-Ostrau nach Polen entkamen.«28 Mit 30.000 Emigranten war fast die Hälfte der bis Ende 1933 Geflüchteten nach Frankreich gegangen, davon 7.000 bis 10.000 als politische Flüchtlinge, bis 1939 waren es rund 100.000.29 Damit hielt sich der größte Teil der Hitler-Emigration wenigstens zeitweilig in dem Land auf, das schon seit dem 19. Jahrhundert als traditionelle Zufluchtsstätte für politisch Verfolgte diente. Für die meisten handelte es sich aber nur um eine Durchgangsstation, de facto lebten einschließlich der Illegalen 18.000 bis 23.000 dauerhaft im Lande. Die Asylbedingungen wurden fortlaufend restriktiver, bedingt nicht zuletzt durch die von Krisen gekennzeichnete innenpolitische und wirtschaftliche Lage des Landes. Frankreich war bis 1939 /1940 ganz eindeutig das Zentrum des politischen
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Überwindbar etwa durch Scheingründungen im Ausland (Malik-Verlag, London) oder durch Erwerb eines bestehenden Firmenmantels (Michal Kácha Verlag). Šimeček: Geschichte des Buchhandels in Tschechien und in der Slowakei, S. 144 f. Heumos: Tschechoslowakei, Sp. 413. Vormeier: Frankreich.
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Geschehens im deutschsprachigen Exil: Hauptsächlich in Paris entstand ein Mikrokosmos von Organisationen, aufgebaut und gesteuert vor allem von der KPD, die dort zeitweilig ihre Auslandsleitung unterhielt, unterstützt von der Komintern. Schriftsteller wie Heinrich Mann und Publizisten wie Alfred Kantorowicz spielten in diesem Geflecht von teils getarnten, teils auch bloß fassadenhaften organisatorischen Initiativen eine zentrale Rolle. Dementsprechend kam es auch hier zur Bildung von Verlagen mit politischen Programmschwerpunkten; Buch und Zeitschrift waren die bedeutsamsten Instrumente im antifaschistischen Kampf. Aus dem politischen Exil rekrutierten sich zahlreiche Autoren von Kampf- und Aufklärungsschriften, es repräsentiert die Gruppe, in der es den intensivsten, vielfach auch über Broschüren geführten Diskurs gab. Münzenbergs Carrefour-Verlag ist nur ein besonders prominentes Element im Geflecht von Unternehmen, das sich auf dieser Grundlage herausbilden konnte; diesem Geflecht gehörten neben Verlagen auch Buchhandlungen, Buchdruckereien, Bibliotheken, Zeitschriftenredaktionen und insgesamt viele kulturelle Einrichtungen an. Hier vor allem entstand so etwas wie ein dynamischer »literarischer Markt« des Exils, der dazu beitrug, dass die Stimme des »anderen Deutschland« im Ausland gehört wurde.30 Freilich herrschte wenig Einigkeit innerhalb dieses politischen Mikrokosmos; Zusammenschlüsse, wie sie unter der »Volksfront«-Parole versucht wurden, scheiterten am gegenseitigen Misstrauen und vor allem an den durchsichtigen Bestrebungen der Kommunisten, diese Einigungsplattformen für ihre Sache zu instrumentalisieren.31 Abseits der politischen Zerwürfnisse gab es unter den Schriftstellern durchaus unterschiedliche Auffassungen von den Anforderungen, vor die sie sich von der aktuellen Zeitsituation auch in literaturästhetischer Hinsicht gestellt sahen.32 Diese unter den Exilländern konkurrenzlos facettenreiche Exilkultur in Frankreich erhielt zunächst schon durch den »Hitler-Stalin-Pakt« im August 1939 einen vernichtenden Schlag versetzt, mit Kriegsbeginn und dem Einmarsch deutscher Truppen wurde ihr gänzlich ein Ende bereitet; Internierungslager und Flucht hauptsächlich in die USA oder nach Lateinamerika waren für viele die nächsten Stationen ihres Emigrationswegs. Österreich konnte durch die schrittweise, bereits 1933 einsetzende Beseitigung der Demokratie kein bevorzugtes Zielland der Hitler-Emigration sein, erst recht nicht nach der 1934 erfolgten Errichtung des autoritären »christlichen Ständestaates«, die ihrerseits eine Fluchtwelle von linksgerichteten Oppositionellen aus Österreich erzeugte.33 Die
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Vgl. hierzu die Befunde bei Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld. Vgl. v. a. die in drei Bänden erschienene Gesamtdarstellung Deutsche Volksfront 1932–1939 von Ursula Langkau-Alex sowie die im Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933‒ 1945 erschienene Zusammenfassung: Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland. Unter den neueren Darstellungen zur Literaturkritik des Exils vgl. u. a. Englmann: Poetik des Exils; Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933‒1945; aus Perspektive der DDR-Literaturwissenschaft: Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag 1983. Es hat wohl mit diesen ambivalenten politischen Zusammenhängen zu tun, dass etwa im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933‒1945 unter den dort systematisch abgehandelten Zufluchtsländern Österreich gar nicht erst genannt wird. Im Blick auf die historischen Gegebenheiten bleibt diese Vorgangsweise aber schwer verständlich. Vgl. zu dieser Frage vor allem: Asyl wider Willen. Exil in Österreich 1933–1938.
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Tatsache, dass sich das kleine Land – jedenfalls bis zum Hitler-Schuschnigg Abkommen 1936 – nach Kräften gegen den Druck des Nationalsozialismus (dessen Höhepunkt der Putschversuch war, dem Bundeskanzler Dollfuß zum Opfer fiel) wehrte, ließ es manchem doch möglich erscheinen, sich hier festzusetzen. Im verlegerischen Bereich gilt das in erster Linie für Gottfried Bermann Fischer, aber z. B. auch Jakob Hegner. Für die meisten war Österreich von vornherein mehr ein Transitland, und endgültig wurde es dieses durch den »Anschluss« an das Deutsche Reich am 12. März 1938: Die aus Deutschland nach Österreich gekommenen Emigranten wurden so von ihren Verfolgern eingeholt und waren – vielfach über Nacht – gezwungen, sich erneut in Sicherheit zu bringen.
Exkurs: Der »Anschluss« 1938 und seine Folgen für Verlag und Buchhandel in Österreich 34 Ähnlich wie in der Weimarer Republik war auch die Geschichte der Ersten österreichischen Republik geprägt von einem schleichenden Prozess der Auflösung der Demokratie. Mit der »Selbstausschaltung des Parlaments« am 4. März 1933 und der Entscheidung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, auf der Basis von Notverordnungen weiter zu regieren, erreichte dieser Prozess einen ersten Kulminationspunkt; mit dem Arbeiteraufstand im Februar 1934, der nach schweren Kämpfen und insgesamt mehr als 300 Toten mit dem Verbot und der Auflösung der Sozialdemokratischen Partei endete, eskalierte die Situation zum Bürgerkrieg. Als eine neue Verfassung am 1. Mai 1934 die Errichtung eines »christlichen, deutschen Ständestaats« verkündete, markierte dies auch staatsrechtlich das Ende der Ersten Republik.35 Der Gedanke einer berufsständischen Gliederung der Gesellschaft, der dieser Verfassung zugrunde lag, sollte nach Auffassung des autoritären Regimes zu einer Befriedung nach innen führen. Folgerichtig waren jetzt alle politischen Parteien verboten; an ihre Stelle trat die bereits 1933 gegründete Einheitspartei, die »Vaterländische Front«, der etwas später auch eine umfassende Kultur- und Freizeitorganisation »Neues Leben« angegliedert wurde.36 Einen Schwerpunkt in den Aktivitäten des auch als »Austrofaschismus« charakterisierten »Ständestaat«-Regimes bildete die Kulturarbeit, die auf eine Bekämpfung der als dekadent gebrandmarkten Formen des Liberalismus und städtischer Zivilisation abzielte, zugunsten einer »geistigen Aufforstung« durch die alpenländische Provinz.37 Hauptbe-
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Dieser Exkurs ist auch als eine Ergänzung zu Band 3 /1 der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20 Jahrhundert zu verstehen. Zu den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Epoche vgl. Österreich 1918‒1938: Geschichte der Ersten Republik. Bd. 1; Hanisch: Der lange Schatten des Staates, bes. S. 299‒394; Bachinger / Hemetsberger-Koller: Österreich von 1918 bis zur Gegenwart, bes. ab S. 550. Die Kulturorganisation – ein österreichisches Pendant zur NS-Organisation »Kraft durch Freude« – sollte auch für den Buchhandel einige Bedeutung gewinnen; so wurde z. B. das Programm der »Woche des Buches« im April 1937 von der »Hauptleitung des V. F.-Werkes ›Neues Leben‹ mit dem österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhandel ausgearbeitet«, vgl. Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel vom 3. April 1937. Roßbacher: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung.
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streben war, auf christlicher Grundlage eine neue österreichische Identität zu begründen. Nicht zuletzt war mit der Förderung eines patriotischen Bewusstseins die Vorstellung verbunden, die Bevölkerung könne so gegenüber dem ideologischen Druck immunisiert werden, den das nationalsozialistische Deutschland seit 1933 über die Grenze hinweg ausübte. In Österreich selbst war seit dem 19. Juni 1933 die Nationalsozialistische Arbeiterpartei und jede Propaganda für sie verboten, und staatsoffiziell wurde dieses Verbot auch konsequent durchgeführt. Die in die Illegalität abgedrängten Nationalsozialisten reagierten mit Terrorakten und schließlich, im Juli 1934, mit einem Putschversuch, in dessen Verlauf das Bundeskanzleramt besetzt und Bundeskanzler Dollfuß erschossen wurde. Der Putsch selbst wurde niedergeschlagen, die Anschläge der NS-Sympathisanten, die sich in der Hauptsache gegen kirchliche und monarchistische Organisationen richteten, gingen aber weiter. Zugleich verstärkte Deutschland seinen Druck gegenüber Österreich: Schon seit Juni 1933 bestand die sogenannte »1000-Mark-Sperre«, – der Fremdenverkehr, für Österreich damals schon eine wichtige Devisenquelle, wurde dadurch schwer beeinträchtigt. Da die Republik inzwischen keinen außenpolitischen Rückhalt mehr hatte, war Bundeskanzler Schuschnigg zu Verhandlungen gezwungen. Im Juli 1936 wurde zwischen ihm und Hitler ein Abkommen getroffen, das von Seiten des Deutschen Reiches eine Aufhebung der 1000-Mark-Sperre und die Anerkennung der Selbständigkeit Österreichs vorsah, während sich Österreich im Gegenzug zu einer Amnestie der inhaftierten Nationalsozialisten und zur Aufnahme betont deutschnationaler Minister in das Kabinett verpflichtete. Trotz dieser Zugeständnisse kam es zu keiner Entspannung der Lage. Im Sinne einer Flucht nach vorn setzte Schuschnigg für den 13. März 1938 eine Volksabstimmung an, in der sicheren Erwartung, dass die Mehrheit des Volkes gegen den Anschluss an Hitler-Deutschland stimmen würde. Auf deutschen Druck hin wurde die Abstimmung zwei Tage vor Abhaltung abgesagt; in der Nacht vom 11. zum 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Als Hitler am 13. März 1938 nach Österreich kam, glich seine Fahrt einem Triumphzug, und als am 10. April nachträglich über den »Anschluss« abgestimmt wurde, lauteten 99,7 % der abgegebenen Stimmen auf Ja.38 Die Nichtbewältigung der ökonomischen Dauerkrise hatte in der durch anhaltende Arbeitslosigkeit demoralisierten Bevölkerung die Illusion erzeugt, im »großdeutschen Reich« besser aufgehoben zu sein. Im Blick auf dieses Ergebnis ist aber auch klar, auf welcher Grundlage die Maßnahmen der neuen Machthaber in Österreich aufbauen konnten: Jede noch so brutale Aktion gegenüber den Gegnern des NS-Regimes wusste sich gleichsam durch den Volkswillen gedeckt. Auch der österreichische Buchhandel hatte in den Jahren 1933 bis 1938 im Zeichen des konfliktgeladenen Verhältnisses zu Deutschland gestanden.39 Seine geschäftlichen
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Zu den politischen und gesellschaftlichen Aspekten vgl. den Sammelband NS-Herrschaft in Österreich 1938‒1945. Die Lage im österreichischen Buchhandel vor und um 1938 ist schon mehrfach Gegenstand eindringlicher Forschungsbemühungen gewesen. Zu nennen sind hauptsächlich Renner: Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (1933‒1940); sowie Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938. – Auf die Arbeiten von Renner und besonders von Hall, der auch in Aufsätzen umfangreiches Quellenmaterial erschlossen hat, konnte ich mich bereits in meiner Darstellung der Ständestaat- und NS-Epoche in der im Jahr 2000 erschienenen Geschichte des Buchhandels in Österreich stützen, auf die ich in Teilen auch in
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Beziehungen zum so viel größeren Nachbarland waren traditionell eng, damit geriet er jetzt aber zwischen die politischen Fronten. Die Errichtung des Ständestaates40, mit der Beseitigung der Demokratie zugunsten eines autoritären Staatssystems verbunden, hatte der »Verein der österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhändler« als Anbruch einer neuen Zeit durchaus begrüßt. Auf der Hauptversammlung am 6. Mai 1934 betonte der Vorsitzende Wilhelm Frick, die österreichischen Buchhändler wollten »werktätig […] am Umbau unseres Staates teilnehmen«. Dann aber hieß es weiter mit bezeichnender Wendung am Schluss: »Der Verein hat in diesem Bewußtsein seinen Eintritt in die Vaterländische Front vollzogen, in der wir als Buchhändler ständische Interessen vertreten werden, die darin wurzeln, daß wir in wirtschaftlicher und kultureller Verbundenheit mit dem deutschen Buchhandel bleiben müssen.«41 Das demonstrative Bekenntnis zum ständestaatlichen Österreich wurde also sofort relativiert durch die Bekundung eines nachdrücklichen Interesses an guten Beziehungen zu Deutschland, – eine Position, die absolut nicht in die damalige politische Landschaft passte. Der »Verein« sah sich zu einem Balanceakt gezwungen: Angesichts seiner Import- wie Exportabhängigkeit war für den Buchhandel eine Abkoppelung von Deutschland unvorstellbar; andererseits war der Beitritt in die Vaterländische Front mit der Hoffnung verknüpft, wichtige branchenpolitische Ziele erreichen zu können.42 Tatsächlich griff der Ständestaat dem österreichischen Buchhandel, der sich durch Errichtung von »Zwangsgilden« dem Geist der Zeit akkommodierte, mit der Verlängerung und Erweiterung des althergebrachten Konzessionszwangs entschieden unter die Arme. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, dass man sich von der staatlichen Neuordnung eine allgemeine »Gesundung«43 der Branche erhoffte und – ähnlich wie der Börsenverein der Deutschen Buchhändler 1933 mit seinem »Sofortprogramm«44 – auf obrigkeitliche Hilfe bei der Bekämpfung unerwünschter Konkurrenten des regulären Buchhandels wie Warenhausbuchhandel, Leihbuchhandel, Buchgemeinschaften oder dem »Auchbuchhandel« setzte. Der österreichische Buchhandel hätte daher mit dem 1934 entstandenen »Ständestaat« zufrieden sein können, andererseits sorgten dessen Zensurmaßnahmen45 für geschäftliche Einbußen: Verbotslisten richteten sich zwischen 1934 und 1938 gegen jede
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diesem Beitrag zurückgreife (Geschichte des Buchhandels in Österreich, Kap. 8, S. 288‒ 323). Die Leitvorstellung der Verfassung von 1934, wonach Parteienstreit und Klassenkampf im Rahmen einer berufsständischen Gesellschaftsordnung überwunden werden sollten, tangierte auch den Buchhandel und die Form seiner Interessenvertretung. Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 13 vom 12. Mai 1934, S. 64. Der Vereinssyndikus Dr. Wisloschill hatte dazu auf der genannten Hauptversammlung festgestellt: »Insbesondere könne auf dem Boden der Vaterländischen Front auch der Kampf gegen die Schleuderei und unlauteren Wettbewerb erfolgreich durchgeführt werden.« (Anzeiger, S. 65). Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 32, 21. Dezember 1935, S. 205. Zum »Sofortprogramm« des Börsenvereins siehe Barbian: Von der Selbstanpassung zur nationalsozialistischen »Gleichschaltung«. Vgl. zu diesem Kapitel die Ausführungen bei Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒ 1938, Bd. I, S. 108‒122. – Vgl. außerdem Malina: Bücherverbote in Österreich 1933‒1938.
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Form sozialdemokratischer und kommunistischer Agitation, massiver noch gegen die Bedrohung, die vom deutschen Nationalsozialismus ausging.46 Gleich die erste und umfangreichste dieser (insgesamt vier) Listen, die Liste 1 vom 19. Juni 1933, suchte die Verbreitung von in Deutschland erschienenen Druckwerken zu verhindern, die als Propaganda für die NSDAP aufgefasst werden konnten. Dazu kamen 1934 und 1936 noch jeweils die Verbote von ca. 250 Druckwerken, wobei zu berücksichtigen ist, dass ab dem 14. März 1934 der Verkauf sämtlicher reichsdeutscher Zeitungen und Zeitschriften in Österreich untersagt war,47 darunter auch die Verbreitung des Völkischen Beobachters. Gerade auf diese Presseverbote hat man in Berlin sehr empfindlich reagiert. Im Gefolge des Hitler-Schuschnigg-Abkommens vom Juli 1936 wurde zwar ein Teil der bis dahin verbotenen Schriften wieder zugelassen, die Möglichkeiten offizieller Einfuhr und Verbreitung waren aber immer noch deutlich eingeschränkt. Das Wechselspiel von Verboten und Gegenverboten in Österreich und NS-Deutschland kann an dieser Stelle nicht weiter ausgebreitet werden, ebenso wenig die vielfältigen Verhandlungen und Übereinkünfte, die u. a. zur Einsetzung eines Unterausschusses für Buchfragen und letztlich dazu führten, dass die deutsche Seite im Juli 1937 die Freigabe von Hitlers Mein Kampf erreichte. Selbst in diesem Fall aber blieb das Werk weiterhin mit einem Werbeverbot belegt. Ohne Zweifel sind vor und nach 1936 beträchtliche Mengen verbotenen NS-Schrifttums illegal in Österreich in Umlauf gebracht worden, in den Bundesländern wohl auch mit Duldung örtlicher Behörden. Auf den Buchhandel in Österreich wirkten sich jedoch die Verbotslisten in jedem Fall geschäftsschädigend aus, weil ihm dadurch profitträchtige Importartikel ganz oder zeitweise entzogen waren. Es gab im Übrigen noch andere Störungen in den Buchhandelsbeziehungen, etwa durch das nationalsozialistische Bücherdumping, jene staatliche Subventionierung, die zu einer 25prozentigen Preisreduktion des deutschen Buches im Ausland führte und das aus der inländischen Verlagsproduktion stammende Buch in Österreich teuer erscheinen ließ. Unter diesen Umständen musste der österreichische Buchhandel den »Anschluss« im März 1938 als Beendigung eines politischen Zustands empfinden, der für ihn mit wirtschaftlichen Einbußen verbunden war. Mit einer solchen Feststellung kann aber keinesfalls das moralisch verwerfliche Verhalten und der Opportunismus gerechtfertigt werden, der das Verhalten österreichischer Verleger und Buchhändler nach der Annexion kennzeichnete.48 So war bereits am 15. März 1938 im Börsenblatt ein vom Vorsitzenden 46
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Die Darstellung folgt hier vor allem Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, ab S. 114. Dort auch genauere Angaben zu den jeweiligen gesetzlichen Grundlagen. – Vgl. ferner Hall: Buchhandel und Verlag im Spiegel von Innen- und Außenpolitik. Presseverbote gab es bereits seit Herbst 1933; am 4. November 1933 erschien im Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 37 eine »Vollständige Liste der in Österreich verbotenen Zeitungen und Zeitschriften«; bis zum 10. November 1934 (Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 28, 10. November 1934) erschienen 15 Verbotslisten. Auf diesen Listen finden sich kommunistische Exilzeitschriften sowie einige österreichische Blätter, ganz überwiegend aber Zeitungen und Zeitschriften des Dritten Reiches, neben dem Völkischen Beobachter auch der Angriff aus Berlin, der N. S. Funk Berlin u. a. m. Eine aus den Quellen gearbeitete Darstellung hierzu liegt vor mit der Diplomarbeit von Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus. Buchhas hat u. a. ein-
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der Wiener Zwangsgilde Wilhelm Frick und seinem Vertreter Lambert Peters abgeschicktes Telegramm mit einer an den Leiter des Deutschen Buchhandels Wilhelm Baur gerichteten Ergebenheitsadresse abgedruckt worden: »In diesen geschichtlich bedeutungsvollen Tagen bekennt sich der deutsche Buchhandel der Ostmark zu seiner trotz Grenzen und äußerer Hemmnisse niemals unterbrochenen engsten inneren Verbundenheit mit dem ganzen Buchhandel des Deutschen Reiches und begrüßt Sie als Vorsteher in freudiger Erwartung der nun bald möglich werdenden völligen Vereinigung.«49 Dieser vorauseilende Gehorsam, nicht selten in Verbindung mit unverhohlener Bereicherungsgier, war ein Signum der damals nicht nur in der Buchhandelsbranche vorherrschenden Denk- und Vorgangsweise. Obwohl im Dritten Reich die schrifttumsorganisatorischen Strukturen zum Zeitpunkt der Annexion längst konsolidiert waren, kam es in den ersten Wochen und Monaten im »heimgeholten« Österreich zu ungeordneten, teilweise chaotischen Entwicklungen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Der militärische Einmarsch war im Grunde überraschend gekommen und traf nicht nur die Reichsschrifttumskammer in Berlin unvorbereitet. Die im kulturpolitischen Bereich anfänglich herrschende Verwirrung entstand damals auch aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Goebbels’ Propagandaministerium, der Reichsschrifttumskammer und vor allem dem Gauleiter der »Ostmark« Josef Bürckel, der sich die persönliche Genehmigung aller Maßnahmen vorbehielt. Dazu kam die bis dahin illegal tätige Landeskulturleitung der österreichischen NSDAP, die jetzt die Früchte ihres Kampfes in der sogenannten »Systemzeit« ernten und gleichzeitig verhindern wollte, dass eine Flut von Reichsdeutschen jene Posten besetzte, die eigentlich für die einheimischen Parteigenossen vorgesehen waren. Was unmittelbar nach dem 12. März 1938 im Wirtschafts- wie im Kulturleben am entschiedensten in die Verhältnisse eingriff, war das Auftreten von zum Teil selbsternannten kommissarischen Leitern in Betrieben, Organisationen und Einrichtungen aller Art; allein in Wien sollen damals in kürzester Zeit zwischen 20.000 und 30.000 solcher »wilden« Kommissare tätig geworden sein.50 Auch im Buchhandelsbereich war es zu-
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schlägige Akten im Archiv des Buchgewerbehauses Wien (AÖB), besonders die Sammlung der Rundschreiben und Korrespondenzen, und die Firmenakten im Archiv des Landesgremiums Wien des Handels mit Büchern, Kunstblättern, Musikalien, Zeitungen und Zeitschriften ausgewertet, ferner Akten des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Archivs der Republik. Eine Auswahl davon ist im Anhang ihrer Arbeit in Kopie beigegeben. Bbl. Nr. 62 vom 15. März 1938. Kurz darauf erschien bereits ein »Sonderheft Österreich« der Zeitschrift Der Buchhändler im neuen Reich, mit einem Beitrag von Hans Kodek Die große Stunde des österreichischen Buchhandels, in dem der Autor nicht nur eine »Reinigung des Buchhandels von volksfremden Elementen« (mindestens fünfzig Prozent der Wiener Firmen seien ja in jüdischem Besitz) forderte, sondern auch eine Säuberung von allen sich bloß national gebärdenden Kollegen, die ja doch immer wieder versuchen würden, antideutsche Werke und Pamphlete zu fördern. Sicherlich werde in diesen Fällen die Gestapo eingreifen, »aber warum soll man der Gestapo die Arbeit nicht erleichtern und von vornherein ein solches Tun verhindern?« (Der Buchhändler im neuen Reich, Nr. 4, April 1938, S. 126‒ 130). Zum Kommissarsystem vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 353‒357.
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nächst so, dass die »Zwangsgilde für den österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhandel« von einem kommissarischen Leiter übernommen worden war, und zwar von Karl Berger, einem Vorstadtbuchhändler, der seit 1932 Mitglied der illegalen NSDAP war (und gleichzeitig, seit 1934, Mitglied der Vaterländischen Front!).51 Berger war es auch, der am 28. März im Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel dekretierte: »Es ist noch zu früh, über organisatorische Fragen zu reden. Daß diese bald kommen und mit nationalsozialistischer Gründlichkeit durchgeführt werden, ist selbstverständlich.«52 Tatsächlich suchte er auf eigene Faust, den Buchhandel umzuorganisieren, indem er Parteigenossen in den einzelnen Bundesländern zu Vertrauensleuten ernannte; sie sollten an Ort und Stelle die notwendigen Maßnahmen durchführen. Als zentrale Maßnahme mussten die Vertrauensmänner innerhalb von acht Tagen »die arischen buchhändlerischen Betriebe Ihres Bereiches einwandfrei feststellen«, wozu ein Fragebogen auszufüllen war.53 Eine Anzahl von Buchhändlern nahm die Gelegenheit wahr, öffentlich – z. B. in Anzeigen im Börsenblatt – ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus abzulegen, mindestens aber die eigene arische Herkunft zu bekunden; auch wurde betont, man habe niemals auch nur einen jüdischen Angestellten beschäftigt.54 In der Tat ist davon auszugehen, dass es unter den österreichischen Buchhändlern damals nicht nur viel Opportunismus gegeben hat, sondern auch einen beachtlichen Prozentsatz von überzeugten Anhängern des Nationalsozialismus. Ein im April oder Mai 1938 angefertigtes Verzeichnis der NSDAP-Mitglieder bzw. -Anwärter in Verlag und Buchhandel, das sich erhalten hat, kommt allein für Wien auf immerhin 168 Firmen- und Personennamen.55 Unmittelbar nach dem »Anschluss« bildete sich eine »Arbeitsgemeinschaft der Wiener N.S.-Buchhändler«,56 deren Anführer Adolf Luser war, Inhaber eines Verlags, dessen Bücher nach eigener Darstellung »in den schwersten Jahren der Unterdrückung« – nämlich der Unterdrückung durch den »Ständestaat« – die »unbedingte Schicksalsgemeinschaft des Ostmark-Deutschtums mit dem Großdeutschen Reiche« verkündet und propagiert hatten.57 In einem Schreiben vom 11. Juni 1938 der »Arbeitsgemeinschaft«
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Hall, S. 370. Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 6 vom 28. März 1938, S. 31. Dieser Fragebogen sollte nach 1945 in den Entnazifizierungsverfahren all jene in eine fatale Lage bringen, die 1938 geglaubt hatten, ihn zur Anbiederung an die neuen Machthaber nutzen zu sollen; nicht wenige Buchhändler hatten in der Darstellung ihrer NS-»Heldentaten« in der »Systemzeit« dick aufgetragen und unter Angabe ihrer Mitgliedsnummern auf ihre Partei- und sonstigen Mitgliedschaften in NS-Gliederungen verwiesen. So der Verlagsbuchhändler Franz Deuticke im Bbl. Nr. 67 vom 21. März 1938. Vgl. auch die faksimilierte Wiedergabe in Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 362 sowie die weiteren S. 361‒366 genannten Beispiele. Vgl. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 28. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 376, erwähnt eine solche Liste mit 149 Namen. Zu der »Arbeitsgemeinschaft« vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 383 f., sowie Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 50 f. Bbl. Nr. 65 vom 18. März 1938, S. 1467 (Werbeanzeige), vgl. auch ebd., Nr. 84 vom 9. April 1938. – Der Einsatz für die nationalsozialistische Sache blieb nicht unbelohnt: der Adolf
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an ihr Mitglied Karl Berger heißt es entsprechend: »In den 5 Jahren des Kampfes gegen das System der Volksunterdrückung haben wir unterfertigten nationalsozialistischen Buchhändler wohl ohne Zweifel durch geheimen Vertrieb nationalsozialistischer Schriften und auch durch mündliche Werbung für die Partei einiges geleistet.«58 Umso empörter zeigten sich die Parteigenossen in eben diesem Schreiben über die Pläne des Zentralverlags der NSDAP, des Franz Eher Nf.-Verlags, in Wien eine Zweigstelle mit Sortimentsbetrieb zu eröffnen. Eine »derartige Brüskierung nach 5 Jahren aufreibenden Kampfes für den Führer und sein Gedankengut« würde man als »schlechten Lohn für unsere geleistete Arbeit« betrachten müssen. Die in der »Arbeitsgemeinschaft« zusammengeschlossenen Buchhändler gedachten auch sonst, aufgrund ihrer Verdienste eine Sonderstellung für sich in Anspruch zu nehmen. In einem weiteren, undatierten Schreiben, wohl vom Juni 1938, stellten sie folgende Forderung auf: »Die N. S. Buchhändler halten sich für berechtigt, zu verlangen, daß die kommiss. Leitung als Einrichtung des N. S. Staates auf Grund ihrer Erhebungen eine Liste der Parteibuchhändler verfaßt und diese allen Parteistellen in Stadt und Land, den Gauleitungen, Bezirksleitungen und deren Propagandastellen zur Verfügung stellt und diesen nahelegt, in erster Linie den verdienstvollen N. S. Buchhändler bei der Anschaffung von Büchern für Parteigliederungen und Mitglieder zu berücksichtigen.«59 Dem Verlangen wurde in der Weise entsprochen, dass der Gauschrifttumsbeamte eine Liste von 26 Buchhandlungen zusammenstellte, bei denen alle Bucheinkäufe von Parteigliederungen erfolgen sollten.60 Zu den im gleichen Schreiben erhobenen Forderungen gehörte auch die Überwachung der Buchgemeinschaften und vor allem eine einschneidende Verringerung der Buchhandlungen, außerdem forderten die 21 Wiener NS-Buchhändler, die diese Eingabe unterschrieben hatten: »Um den instinktlosen arischen Wiener vom Besuch jüdischer Buchhandlungen abzuhalten, erscheint uns die Aufstellung von SS-Posten vor solchen Geschäften zweckdienlich.« Allerdings: Wenige Wochen nach dem »Anschluss« gab es in Wien und in der gesamten »Ostmark« schon keine jüdische Buchhandlung mehr. Denn während im Deutschen Reich der Vorgang der sogenannten »Entjudung« des Kulturlebens sich über mehrere Jahre erstreckt hatte, wurden diese Maßnahmen in Österreich rasch und radikal durchgeführt.61 So war bereits dem ersten Schreiben des kommissarischen Leiters Karl Berger an die von ihm ernannten Vertrauensleute der Anweisung zur
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Luser-Verlag florierte nach 1938 und erhielt im Zweiten Weltkrieg umfangreiche Aufträge zur Produktion von Feldpostausgaben. Eine Liste der sich selbst als »nationalsozialistische Buchhändler der illegalen Kampfzeit« kennzeichnenden Firmen bei Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 51 f., mit einer näheren Charakterisierung der genannten Firmen(inhaber) S. 53‒68. Archiv des Buchgewerbehauses, Mappe 502; hier zitiert nach der Abschrift bei Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, Anhang Nr. 10, S. 176‒178. Zit. nach Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 38. Vgl. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 51. Zu den im Folgenden angesprochenen Ereignissen vgl. Hall: Jüdische Buchhändler und Verleger im Schicksalsjahr 1938 in Wien; Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 27 f. und S. 68‒106, sowie Pawlitschko: Jüdische Buchhandlungen in Wien. »Arisierung« und Liquidierung in den Jahren 1938‒1945.
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Benennung der »arischen« Betriebe das Postskriptum beigefügt: »Eine Liste der jüdischen buchhändlerischen Betriebe ist mitzusenden«. Tatsächlich scheinen aufgrund der damals einlangenden Angaben mehrere Listen zusammengestellt worden zu sein. Bereits vom 23. April 1938 datiert die »1. Liste der nichtarischen und politisch unzuverlässigen Buchhandlungen und Verleger in Wien nach dem Stand vom 13. März«; sie umfasste 134 Firmen.62 Vom 19. Mai 1938 stammt eine 2. Liste, die auf acht Seiten insgesamt 221 Namen verzeichnete.63 Soweit sie sich auf »nichtarische« Betriebe bezieht, spiegeln sich in den handschriftlich eingefügten Namen, Streichungen sowie Vermerken wie »Gattin Jüdin«, »Mischling 1. Grades lt. Fragebogen«, »Gesperrt u. verhaftet« oder »Emigrant« die Akribie und der Eifer, mit denen diese Ermittlungen vorgenommen worden sind. Auch die jüdischen Angestellten gerieten ins Visier der Behörden; einer Anordnung des NSDAP-Wirtschaftsamtes zufolge mussten sie bis 30. Juni 1938 entlassen und durch »arische« Mitarbeiter ersetzt werden.64 Über die weitere Vorgangsweise bestand bei den neuen Machthabern keineswegs Einigkeit. Eine Fraktion wollte die Betriebe als Beute unter sich aufteilen; das sprach für eine »Arisierung«, also die Übernahme durch einen im nationalsozialistischen Kampf verdienten, wenn auch vielleicht buchhändlerisch völlig unerfahrenen Volksgenossen. Die andere Fraktion wollte von der endgültigen Schließung der Firmen mit jüdischen Geschäftsinhabern profitieren, indem sie deren Umsätze an sich zogen. Aus der Sicht der ideologischen Scharfmacher haftete diesen Betrieben ohnehin ein untilgbarer Makel an; so gab Will Vesper noch im Mai 1938 öffentlich die Losung aus: »Unser Freund, der Zsolnay-Verlag, ist in zuverlässige Betreuung genommen worden. Wie einst bei Ullstein, raten wir auch hier: Man lasse den besudelten Namen so schnell wie möglich verschwinden! Unter der Flagge eines Judennamens kann kein deutsches Unternehmen glückhaft weitersegeln.«65 Im Falle des Zsolnay Verlags sprachen aber die vorhandenen wirtschaftlichen Werte doch allzu sehr gegen eine völlige Einstellung des Betriebs. 62
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1. Liste der nichtarischen und politisch unzuverlässigen Buchhändler und Verleger in Wien nach dem Stande vom 13. März 1938 (Typoskript). Archiv des Buchgewerbehauses, Mappe 507 (V 1938). Ein »Nachtrag« nennt weitere 34 Betriebe; Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 375, erwähnt außerdem eine nicht datierte Ergänzungsliste »Noch zu behandelnde jüdische Buchhandelsfirmen« mit 82 Buchhandlungen und Verlagen in Wien sowie 10 Verlagsauslieferungen. Die Firmen wurden dort in »bodenständig« und »gefährliche Juden« eingeteilt. Dabei wurde großzügig mit bloßen Vermutungen über die »arische« oder »nichtarische« Herkunft der Firmeneigentümer verfahren; viele Angaben erwiesen sich als unzutreffend. – Das Archiv des Hauptverbandes des österreichischen Buchhandels, das der Vf. noch im Buchgewerbehaus in Wien I, Grünangergasse, benutzt hat, befindet sich inzwischen in der Österreichischen Nationalbibliothek (siehe dort v. a. Cod. ser. n. 52346). 2. Liste der nichtarischen und politisch unzuverlässigen Buchhändler und Verleger in Wien (Typoskript). Archiv des Buchgewerbehauses, Mappe 507 (V 1938). Die maschinenschriftliche Liste (eine Kopie im Besitz des Vf.) enthält 193 Namen, von denen vier wieder gestrichen wurden; 32 Firmennamen sind handschriftlich hinzugefügt. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 28, verweist auf eine Version der Liste vom 19. Mai 1938, auf der nur 182 Betriebe verzeichnet sind. Vgl. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 71. In: Die Neue Literatur, H. 5 vom Mai 1938, S. 264; hier zit. n. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 393.
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Abb. 4: Zu den entlassenen jüdischen Buchhandelsangestellten zählte auch Siegfried Butterkle, der sich nach seiner Flucht nach Palästina in Shalom Miron umbenannte und erneut als Buchhändler tätig wurde.
Der Standpunkt der Wiener NS-Buchhändler in dieser Frage kommt am prägnantesten in einer Denkschrift Arisierung oder Liquidierung jüdischer Buchhandlungen? des kommissarischen Leiters Karl Berger vom 9. Juni 1938 zum Ausdruck, die in ihrer Infamie und Demagogie, auch in ihrem paranoiden Hass als sprechendes Dokument jener Zeit gelten kann und deshalb ausführlicher zitiert werden soll: Während der marxistischen und auch während der sogenannten »vaterländischen« Periode war es eine bekannte Übung der damaligen Machthaber in Wien, unbeschränkt und ohne Berücksichtigung des Lokalbedarfes jüdischen Bewerbern Buchhandelskonzessionen zu erteilen. Gesetzliche Bestimmungen sowie die von der Standesvertretung der Buch-, Kunst- und Musikalienhändler gegebenen Gutachten wurden so gut wie gar nicht beachtet, ausschlaggebend waren wohl einzig und allein jüdisch-freimaurerische Querverbindungen, bei dem damaligen Behördenapparat auch Bestechungen. Die Folge davon ist, daß der Wiener Buch-, Kunst- und Musikalienhandel vollkommen übersetzt ist. […] Der Wiener Buchhandel war in seiner Gesamtheit niemals recht lebensfähig, vielmehr hatte das Judentum und seine Hintermänner in den früheren Behörden stets nur ein Ziel im Auge, nämlich die Ausrottung des deutsch-arischen Buchhandels, um nach Erreichung dieses Zieles den für das kulturelle Leben so bedeutenden
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Buchmarkt ganz zu beherrschen. Es bietet sich jetzt die Gelegenheit, den deutschbewußten Wiener Buchhandel wieder lebensfähig zu gestalten, damit er seiner ihm auferlegten Arbeit an der Kultur unseres Volkes voll nachkommen kann. Als kommissarischer Leiter des österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhandels fühle ich mich verpflichtet, auf die Lage in diesem Beruf hinzuweisen. Eine Gesundung dieses volkswirtschaftlich und kulturell so ungemein wichtigen Berufes kann nur dann erfolgen, wenn alle zuständigen Stellen mit mir bemüht sind, eine starke Verminderung der Betriebe herbeizuführen. Es ist durchaus nicht damit beabsichtigt, etwa bestehende Werte zu zerstören, sondern planmäßig die jüdischen Betriebe zu liquidieren, bzw. dort, wo dies unmöglich ist, diese zu arisieren. Daß dies nur im Einvernehmen mit den am meisten betroffenen deutsch-arischen Berufsgenossen erfolgen kann, brauche ich wohl nicht besonders begründen.66 Damit war die Generallinie ausgegeben: Die »planmäßige Liquidierung« der jüdischen Betriebe sollte eine zahlenmäßige Reduktion im Sortimentsbuchhandel bewirken; der reguläre und regimetreue Buchhandel suchte den politischen Umbruch zur Beseitigung unerwünschter Konkurrenz zu nützen; zudem konnten die Läger der aufgelösten Buchhandlungen billig aufgekauft werden. Berger hatte bereits am 5. Mai 1938 ein Schreiben an Gauleiter Josef Bürckel gerichtet, in welchem er konkrete Vorschläge zur »Verbesserung« der Lage des Wiener Buchhandels machte. Unter anderem sollten die Versandbuchhandlungen des »Altreichs« daran gehindert werden, Bücher direkt an österreichische Kunden zu verkaufen; geschlossen werden sollten nicht nur der Großteil der jüdischen Buchhandlungen, sondern auch zwei Verlage der öffentlichen Hand, der Österreichische Landesverlag und der Deutsche Verlag für Jugend und Volk, die den österreichischen Buchhandel, wie es hieß, jahrelang »auf das Schwerste geschädigt« hätten.67 Während nun Vertreter des österreichischen Buchhandels sich darüber beschwerten, dass »entgegen anders lautenden Zusagen« sich die Fälle von »Arisierungen« mehrten, »die vollkommen überflüssig sind«,68 zeichnete Wilhelm Baur, der damals zugleich Vorsteher des Börsenvereins der deutschen Buchhändler, Leiter des Deutschen Buchhandels in der RSK und Vizevorsitzender der RSK war, in einer rückblickenden Stellungnahme im Börsenblatt vom 9. Mai 1939 aus deutscher Optik ein anderes Bild von den Vorgängen in der »Ostmark«: Ein Kapitel ist im letzten Jahr restlos liquidiert worden: das des Judentums. Ich habe schon im vorigen Jahr feststellen können, daß der jüdische Einfluß im Buch66
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Zitiert wird hier nach der etwas gekürzten Fassung bei Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich., S. 226 f. Die Denkschrift, die einem Schreiben Bergers an Gauleiter Bürckel beigelegt war, findet sich in vollem Wortlaut bei Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, Anhang Nr. 7, S. 172. Vgl. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 28 f., und die Kopie des Schreibens im Anhang, Nr. 6, S. 170 f. Schreiben der Wiener Buchhändler Karl Berger, Wilhelm Maudrich, Erwin Kreiner, Josef Letz und Oskar Lechner an den Staatskommissar Ing. Rafelsberger vom 10. Oktober 1938, Archiv des Buchgewerbehauses, hier zit. n. Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 75.
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1 Ge s c hi c ht l ic h e Gr u nd l ag e n : Ve rt r ei b u ng u nd A sy l handel im Altreich restlos beseitigt ist. Inzwischen ist auch die Ostmark in dieser Beziehung in Ordnung gekommen. Wir sind dabei bei der Kammer davon ausgegangen, daß es bis auf wenige Ausnahmen notwendig war, die jüdischen Betriebe zu beseitigen und nicht unter arischem Besitz fortführen zu lassen. Die breite Masse hätte kein Verständnis dafür gehabt, wenn wir Judenfirmen mit ihrem alten Namen unter neuen Besitzverhältnissen weiterhin die Möglichkeit zur Existenz gegeben hätten. So sind im Laufe des letzten Jahres in Österreich rund hundertundfünfzig jüdische Verlage und Buchhandlungen ausgemerzt und gleichzeitig ist damit den vorhandenen deutschen Betrieben eine raschere Möglichkeit zur Gesundung gegeben worden.69
Die Zahl 150 dürfte nur wenig aufgerundet sein. Nach einer anderen Quelle haben sich im August 1938 noch »109 buchhändlerische Judenfälle« in Bearbeitung befunden, der überwiegende Teil davon in Wien.70 Jedenfalls aber waren seit dem 30. November 1938 sämtliche jüdische Buchhandels- und Verlagsfirmen in Wien geschlossen, mit Ausnahme der von kommissarischen Verwaltern geleiteten. Aber auch diese, mindestens die Sortimente unter ihnen, wurden bald Abwicklern übergeben, gemäß einer »Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« vom 23. November 1938.71 Eine Reihe von Arisierungsvorgängen ist inzwischen näher erforscht oder dokumentiert;72 aus diesen Beispielen wird deutlich, dass es sich teils um rücksichtslos durchgeführte Raubzüge handelte, teils um mit abstruser scheinlegalistischer Akribie monateoder jahrelang betriebene Vermögenstransaktionen.73 Eine herausragend negative Rolle spielte in diesen Zusammenhängen der »Ariseur« Johannes Katzler, der insgesamt sieben jüdische Firmen mit brutalen Einschüchterungsmethoden in seinen Besitz brachte.74 Katzler hatte von sich aus wenig Interesse an der Weiterführung der z. T. renommierten Betriebe, es ging ihm vielmehr um eine Übernahme der Warenbestände bei anschließender Auflösung der Geschäfte, – ganz im Sinne der RSK und des Leiters des Deutschen Buchhandels Wilhelm Baur, dessen Protektion er genoss.75 69
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Baur, Wilhelm: Aufstieg und Entwicklung des deutschen Buchhandels seit 1938. In: Bbl. Nr. 106 vom 9. Mai 1939, S. 382; zit. n. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 388. Vgl. ebd. Vgl. allgemein Moser: Das Schicksal der Wiener Juden in den März- und Apriltagen 1938; Weis: Arisierungen in Wien; ferner Witek: »Arisierungen« in Wien. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 396‒427, sowie Bd. II, in den einzelnen Firmenbeschreibungen; ferner Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 78‒102; Pawlitschko: Jüdische Buchhandlungen in Wien. Vgl. auch Schroeder: Die »Arisierung« jüdischer Antiquariate zwischen 1933 und 1942. Teil II. Die Vorgänge in Österreich bieten Belegmaterial zur Stützung der kontrovers diskutierten These von Götz Aly, die »Judenpolitik« des Nationalsozialismus sei nicht so sehr von Rassenideologie und antisemitischem Ressentiment getrieben gewesen, sondern als planmäßiger Raubzug zu betrachten. Vgl. Aly: Hitlers Volksstaat. Es handelte sich um die Firmen Lanyi, Reichmann, Kende, Breitenstein, Perles, Stern und Saar; nach Buchhas: Der österreichische Buchhandel im Nationalsozialismus, S. 78. Buchhas dokumentiert S. 90‒102 noch weitere Beispiele für »Arisierungen«, darunter die Wallishausser’sche Buchhandlung und die Buchhandlung Pollak; Beispiele für Übernahmen
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Ein anderer »Ariseur« war der Verleger Dr. Gottfried Linsmayer, der 1926 im Rikola Verlag, danach in verschiedenen buchgewerblichen Großunternehmen in Wien tätig gewesen war und dort 1936 den Ostmarken Verlag gegründet hatte. Die Umtriebe des bereits in der »Verbotszeit« der NSDAP angehörenden Linsmayer können hier nicht ausgebreitet werden; es genügt aber der Hinweis darauf, dass er als Abwickler von mindestens 38 jüdischen Verlags- und Buchhandelsfirmen in Wien tätig geworden ist, darunter auch des Bastei-Verlags sowie der Verlage Bermann-Fischer und Herbert Reichner. Nach 1945 scheint er für sein Tun nicht gerichtlich belangt worden zu sein, vielmehr konnte er seinen Ostmarken Verlag unter dem neuen Namen Olbios Verlag fortführen bzw. neu aufbauen.76 Es stellt sich hier die Frage nach dem Schicksal der von den Arisierungs- und Schließungsmaßnahmen betroffenen Menschen. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen für eine besonders grausame Behandlung von jüdischen Geschäftsinhabern, noch in Wien, oder dann in den Konzentrationslagern. Josef Kende hatte als einer der wichtigsten Verlagsauslieferer der deutschen Exilverlage vor 1938 den Hass der neuen Machthaber, konkret auch seiner »national« gesinnten Kollegen auf sich gezogen;77 der Siebzigjährige wurde sofort nach dem »Anschluss« verhaftet und mit dem ersten Transport aus Österreich in das KZ Dachau gebracht; sechs Monate später starb er im KZ Buchenwald. Dem Holocaust fiel auch Dr. Mayer Präger von der Fa. Löwit zum Opfer, Vater des später international bekannten Frederick Praeger*. Im KZ mit 300 Stockschlägen zu Tode geprügelt wurde der Wiener Buchhändler Richard Lányi.78 Im Zuge der Geschäftsschließungen und »Arisierungen« hatte zwangsläufig auch die Flucht der politisch und »rassisch« gefährdeten Buchhändler, Antiquare und Verleger aus Österreich eingesetzt.79 Es handelte sich um eine zahlenmäßig beachtliche Gruppe innerhalb der deutschsprachigen Buchhandelsemigration, und nicht wenige von ihnen sollten auch in ihren neuen Heimatländern, namentlich in Großbritannien und den USA, aber auch in Südamerika eine herausgehobene Rolle in ihrem Metier spielen; Beispiele dafür werden in den nachfolgenden Kapiteln immer wieder begegnen.
Weitere Fluchtländer in Europa 1933 bis 1945 Vom klassischen Asylland Schweiz ist längst allgemein bekannt, wie zurückhaltend und zuweilen rücksichtslos sich das Land gegenüber Hitler-Flüchtlingen aus einer »Das Boot
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durch »arische« Angestellte liefern die Firmen Kuppitsch, die Ringbuchhandlung und die Vienna Buchhandels GmbH, für »Arisierungen« durch reichsdeutsche Buchhändler u. a. das Antiquariat Gilhofer & Ranschburg, Fischer & Bruder sowie die Firma Lechner (Walter Krieg). Vgl. Köstner: Ein Nutznießer seiner Zeit – der Verleger Dr. Gottfried Linsmayer. In der oben erwähnten »Liste der Auslieferer jüdischer Herkunft« ist er als »gefährlich« eingestuft. Pfäfflin: Richard Lányi, 2 Tle.; hier Tl. I, S. 9. Die allermeisten der aus Österreich vertriebenen Angehörigen dieser Berufsgruppen sind beschrieben in Fischer: Handbuch; rund ein Viertel der darin enthaltenen biographischen Einträge betrifft Emigranten aus Österreich.
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ist voll«-Mentalität heraus, aber auch in Rücksicht auf die wirtschaftlichen Beziehungen zum Dritten Reich gezeigt hat.80 Die überwiegende Zahl von Asylanträgen wurde abgelehnt; bis 1941 sind nur 1.800 jüdische Emigranten aus Deutschland und 3.500 aus Österreich registriert worden, allerdings gab es weitaus höhere Zahlen an Transitemigranten, allein 1938 z. B. 12.000.81 Während der Kriegszeit lebten ca. 10.000 Emigranten in der Schweiz, ein großer Teil nur geduldet, weil es keine Möglichkeit zur Weiterreise gab. Aufgrund des strengen Verbots jeder politischen Betätigung gab es kaum ein politisches Exil. Verlagsgründungen wurden vielfach blockiert: Gottfried Bermann Fischer*, Daniel Brody*, Ernst Eulenburg*, Otto Kallir*, Theodor Marcus* oder Kurt Leo Maschler*82 gelang es nicht, in der Schweiz Aufnahme zu finden. Trotz der Abwehrhaltung der (kantonsweise unterschiedlich agierenden) Behörden und namentlich auch des schweizerischen Buchhandels gegenüber immigrierten Berufskollegen schafften es aber doch einige, sich in diesem als internationaler Finanzplatz geschützten Land zu etablieren – als Beispiele seien genannt die von Bruno Dreßler* geleitete Büchergilde Gutenberg (seinem Sohn Helmut* war die Mitarbeit allerdings nicht gestattet worden) oder aufgrund seiner außerordentlichen wirtschaftlichen Bedeutung der medizinische Fachverlag S. Karger. Weitere Namen werden in den nachfolgenden Kapiteln zu nennen sein. Ungeachtet dieser restriktiven Asylpolitik (der übrigens eine rege Tätigkeit von Hilfsorganisationen gegenüberstand) wurde die Schweiz doch zu einem der bedeutendsten Zentren des Exilverlagswesens: Indem vor allem Emil Oprecht seine Verlage der deutschsprachigen Exilliteratur öffnete und eine ganze Anzahl bedeutender Schriftsteller, beginnend bei Thomas Mann und Robert Musil, ihre Zuflucht in diesem Land fanden, entstand – zusammen mit einem bedeutenden Exiltheaterschaffen – ein beachtlicher Beitrag zum kulturellen Leben der Emigration. Auch die Niederlande waren Zufluchtsort für eine große Zahl von Exilanten,83 schon aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft, der visumfreien Einreise und der erst allmählichen Anpassung des Asylrechts an die Flüchtlingsströme einerseits und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes andererseits: Seit 1935 wurden in Amsterdam meist nur mehr vorläufige Aufenthaltsgenehmigungen erteilt; die zwischen Frühjahr 1938 und Mai 1940 »geschlossene Grenze« wurde zeitweilig, nach der Reichspogromnacht und bei Kriegsbeginn, wieder geöffnet. So dürften allein zwischen März und September 1933 bereits rund 15.000 Flüchtlinge aus Deutschland eingereist sein, teils um politischer Verfolgung zu entkommen, zum größeren Teil aber, um dem NS-Rassenhass zu entgehen. Anfang 1936 lebten rund 30.000 Hitler-Immigranten im Lande, beim Einmarsch der
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Zum Exilland Schweiz vgl. den kurz gefassten Überblick von Wichers: Schweiz; ferner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. Zahlen nach Röder: Einleitung. In: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, S. XL f. Ende August 1937 emigrierte Maschler mit seiner Familie nach Österreich, weil ihm die Niederlassung in der Schweiz verweigert wurde, obwohl er als Inhaber des Atrium-Verlags Mitglied im Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband war. Siehe auch Joos: Trustees for the Public?, S. 149. Langkau-Alex / Würzner: Niederlande. Einige Aspekte des Exillandes werden genauer dargestellt bei Würzner: Deutsche Literatur im Exil in den Niederlanden, S. 11‒30; sowie Langkau-Alex: Asyl- und Exilpraxis in den Niederlanden.
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Wehrmacht waren es immer noch ca. 20.000, unter ihnen 5.000 politische Emigranten, von denen viele verhaftet und zu Haftstrafen oder zum Tode verurteilt wurden. 1941 waren noch mehr als 15.000 Juden aus Deutschland und Österreich in den Niederlanden registriert. Arbeitsgenehmigungen wurden hauptsächlich für besonders qualifizierte Berufe erteilt; finanzielle Unterstützung gab es nur von privaten Hilfsorganisationen. Nach 1939 wurde das Exilland für nicht wenige zur tödlichen Falle; einige entgingen dem Vernichtungsfeldzug des Nationalsozialismus gegen die Juden mit knapper Not (insgesamt wurden 117.000 Juden aus den Niederlanden deportiert), andere überstanden die Zeit der Besatzung im Untergrund oder unter falschem Namen, so etwa der Kreis der Stefan George-Jünger rund um Wolfgang Frommel* in ihrem Versteck »Castrum Peregrini«.84 Zufällig zum richtigen Zeitpunkt im Ausland befand sich Fritz H. Landshoff*, der mit dem Querido Verlag – wie auch Walter Landauer* mit dem Verlag Allert de Lange – in den Jahren 1933‒1939 Amsterdam zum Zentrum des deutschen Exilverlagswesens gemacht hatte. Darüber wird noch genauer zu berichten sein; an dieser Stelle sei vermerkt, dass in den Niederlanden vor allem auch die deutsche Wissenschaftsemigration, im Zusammenwirken mit niederländischen Verlagen, überdurchschnittliche Bedeutung entwickelt hat. Im benachbarten Belgien, wo die Asylpraxis ähnlich wie in den Niederlanden gehandhabt wurde, allerdings Visumpflicht bestand, wurden Ende 1938, nach der Reichspogromnacht, rund 5.000 unterstützungsbedürftige deutsche und österreichische Flüchtlinge registriert.85 Obwohl es dort ein Verbot politischer Betätigung für Asylsuchende gab, sammelten sich doch in Antwerpen und Brüssel eine ganze Anzahl von Politemigranten, hauptsächlich der SPD bzw. SOPADE und der KPD, darunter auch solche, die aus den Niederlanden nach Belgien abgeschoben worden waren. Neben publizistischer Betätigung86 lag der Hauptakzent auf humanitärer Hilfe; nach Maßgabe der Möglichkeiten wurde von dort aus auch die Widerstandsarbeit im Reich unterstützt. Ein Kulturleben hat sich in der deutschsprachigen Emigration in Belgien nur in Ansätzen entwickelt,87 und anders als in den Niederlanden ist bis zum Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 keine Exilverlagsszene entstanden. Wohl aber hat es in der Zeit der Besatzung eine rege Untergrundarbeit der im Lande verbliebenen politischen Exilanten gegeben, unter anderem durch die Verbreitung von gegenpropagandistischen Schriften. Das benachbarte Luxemburg verdient, trotz der geringen Größe und Bevölkerungszahl, als Exilland durchaus Erwähnung, denn nicht nur politische Emigranten ließen sich, wenigstens zeitweilig, dort nieder (Gewerkschaftler wie Willi Eichler, Sozialdemokraten, Kommunisten, aber auch Zentrumspolitiker), sondern auch Journalisten und Künstler, die u. a. mit großem Erfolg eine Theatergruppe »Die Komödie« gründeten.88 Die Buchhandlung von Lily Marx bildete einen Emigrantentreffpunkt; dort wurden auch Flugblätter der Roten Hilfe hergestellt.89 Mit Malpaartes kam es auch zur Gründung eines Exilverlags.90
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Philipp: Wolfgang Frommel und das Castrum Peregrini. Vgl. Langkau-Alex: Belgien. Siehe Biene: Exilpublizistik in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Vgl. Weinzierl: Österreicher im Exil: Belgien 1938‒1945. Hoffmann: Luxemburg. Hoffmann, Sp. 309. Vgl. Goetzinger: Malpaartes – ein unbekannter Exilverlag aus Luxemburg.
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Dass Dänemark trotz der unmittelbaren Nachbarschaft als Fluchtort nur eine untergeordnete Rolle spielte, beruht hauptsächlich auf der überaus restriktiven Asylpolitik des Landes, die wiederum durch politische Rücksichtnahme auf das Dritte Reich bedingt war.91 Offiziellen Angaben zufolge befanden sich im April 1937 1.512 deutsche Emigranten im Lande, davon waren 825 als Juden registriert. Dem steht aber – Schätzungen zufolge – die beachtliche Zahl von 20.000 bis 30.000 Emigranten gegenüber, die (z. T. über die »grüne Grenze« eingereist) über Dänemark in andere Länder weitergereist sind. Dänemark war somit in der ersten Exilphase eines der wichtigsten Transitländer. Die fortlaufenden Verschärfungen des Asylrechts waren dezidiert auf eine Fernhaltung von Kommunisten und Juden ausgerichtet. Offene politische Betätigung, etwa durch Verteilung von Druckschriften, war strikt verboten; politische Vergehen wurden kriminalisiert. Am ehesten genoss die Arbeit der Sozialdemokraten eine Tolerierung oder sogar eine gewisse Unterstützung durch offizielle Stellen. Allen Verboten zum Trotz agierte aber auch die KPD in Kopenhagen im Untergrund und unterhielt von dort enge Kontakte zum Widerstand im Reich. Verschiedene Hilfskomitees kümmerten sich um die Existenzsicherung der Emigranten, die vom Staat keinerlei Hilfe zu erwarten hatten. Von 1936 an wurden vermehrt Arbeitsbewilligungen erteilt, bevorzugt an Wissenschaftler und Intellektuelle; auch eine Reihe von Künstlern und Schriftstellern wählte Dänemark zu ihrem Zufluchtsort,92 der prominenteste von ihnen war Bertolt Brecht, der 1933 bis 1939 in Svendborg lebte, ohne sich aber vor Ort politisch zu exponieren. Im Vorfeld und nach der Okkupation Dänemarks kam es zu Verhaftungswellen, Internierungen und auch Auslieferungen nach Deutschland, gleichzeitig zur Flucht besonders gefährdeter Personen; eine beträchtliche Zahl von Emigranten verblieb allerdings im Lande. Doch »spätestens ab Sommer 1941 konnte Dänemark nicht länger als Asylland betrachtet werden«.93 Eine bescheidene Rolle als Exilland spielte Norwegen, aufgrund seiner Randlage, aber auch seiner Flüchtlingspolitik, die auf strikte Abwehr insbesondere einer »Judeninvasion« gerichtet war.94 Bis 1940 waren so höchstens 2.000 Flüchtlinge zu verzeichnen, inklusive der Illegalen und Transitemigranten. Die politische Emigration, insbesondere die kommunistische, hatte an dem Land kein vorrangiges Interesse, trotzdem stellte sie die Mehrheit derer, die nach 1933 hierher gelangt waren. Darunter befand sich in Oslo auch Willy Brandt als Exponent der SAP, nach 1938 kamen österreichische Sozialisten und Kommunisten hinzu. Die Politemigranten fanden letztlich gute, sogar von regierungsseitiger Unterstützung gekennzeichnete Bedingungen für ihre antifaschistische Propaganda vor. Die Toleranz fand jedoch ihre Grenzen dort, wo die Interessen des Landes berührt waren. Die künstlerisch-intellektuelle Emigration nach Norwegen war marginal; Max Tau* arbeitete seit 1938 als Verlagslektor in Oslo, musste aufgrund seiner Mitarbeit im norwegischen Widerstand nach der deutschen Besetzung nach Schweden flüchten und kehrte nach dem Krieg nach Oslo zurück, nachdem er zwischen 1944 und 1946 in Stockholm den Neuen Verlag betrieben hatte; Kurt Schwitters lebte in Norwegen
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Lorenz: Dänemark. Vgl. Dähnhardt / Nielsen: Exil in Dänemark. Lorenz: Dänemark, Sp. 207. Lorenz: Norwegen. Vgl. auch Lorenz: Exil in Norwegen.
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isoliert. Eine wichtigere Rolle spielten Psychoanalytiker und Psychologen, unter ihnen auch Wilhelm Reich. Rund 1.000 Exilanten konnten sich noch vor dem deutschen Überfall vom 9. April 1940 in Sicherheit bringen; die politische Emigration verlagerte sich hauptsächlich nach Schweden. Von der im Land verbliebenen jüdischen Emigration wurde rund die Hälfte verhaftet und deportiert. Auch in Schweden hatten sich bis 1937 nur 1.500 deutsche Emigranten niedergelassen, erst danach erhöhte sich der Zuzug von Asylsuchenden, 1938 durch die Annexion Österreichs und die erzwungene Besetzung des Sudetenlandes, 1939 durch die Zerschlagung des tschechoslowakischen Rumpfstaates und vor allem dann im Zweiten Weltkrieg nach dem Überfall der deutschen Truppen auf Norwegen und Dänemark. Angst vor Überfremdung und Schutz des Arbeitsmarktes waren von Anfang an die Leitlinien der schwedischen Asylpolitik. Bis 1943 summierte sich die Zahl der insgesamt aufgenommenen Flüchtlinge auf gerade 5.000; zwei Drittel davon können als »rassisch« Verfolgte gelten. In der politischen Emigration – die mit einem deutlich größeren Entgegenkommen rechnen konnte als die wie in Norwegen als »Wirtschaftsflüchtlinge« eingeordneten Juden – bildeten die reichsdeutschen (SOPADE und SAP, mit Willy Brandt), sudetendeutschen und österreichischen (Bruno Kreisky) Sozialdemokraten zahlenmäßig starke Gruppen, die jedoch untereinander die ideologischen Gegensätze nicht überwinden konnten.95 Von Schweden aus baute Herbert Wehner eine operative Leitung der KPD auf. Zu diesem Zeitpunkt war politische Arbeit allerdings nur noch in stark eingeschränktem Maße möglich. Trotz der vielfältigen Restriktionen war es Gottfried Bermann Fischer mit Hilfe des Bonnier-Konzerns gelungen, nach der Annexion Österreichs in Stockholm erneut einen Verlag zu errichten und ihn von dort aus zu leiten, bis er durch Bespitzelung und Haft in eine Situation kam, in der er es vorzog, in die USA zu gehen. Die Besetzung Dänemarks und Norwegens im April 1940 bedeutete eine reale Gefahr auch für alle, die in Schweden Zuflucht gefunden hatten, und veranlasste viele zum erneuten Landeswechsel. Mehrere tausend deutsche Exilanten (bis 1938 4.000, weitere 4.000 bis 1940 im Rahmen einer Transitemigration) sind auch in Italien gelandet, unter ihnen namhafte Schriftsteller wie Alfred Neumann, Walter Hasenclever, Karl Wolfskehl oder Armin T. Wegner.96 Unter buchhandelsgeschichtlicher Perspektive gibt es jedoch wenig Anlass, die ‒ bis 1938 überaus entgegenkommende – Asylpolitik des Landes genauer zu beschreiben. Ähnliches gilt auch für Polen,97 Ungarn98 oder Portugal: Jedes dieser Länder hat nach 1933 Schutzsuchende aufgenommen, die einen nur sehr wenige wie Polen, andere etwas mehr, jeweils unter ganz unterschiedlichen, sich meist auch stark verändernden gesetzlichen Voraussetzungen und ebenso unterschiedlicher Asylpraxis. In Ungarn z. B. gab es bis zum »Anschluss« Österreichs eine außerordentlich liberale Fremdenpolitik, mit Freizügigkeit bei der Einreise und Arbeitserlaubnis, aber nur sehr wenige machten
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Lorenz: Schweden. Dazu auch als ein Klassiker der Exilgeschichtsschreibung Müssener: Exil in Schweden. Siehe Voigt, Klaus: Italien; ferner Voigt, Klaus: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933‒ 1945. Nordblom: Polen. Geoffrey: Ungarn.
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davon Gebrauch, möglicherweise auch aus sprachlichen Gründen, am meisten noch Juden, während es so gut wie keine literarische (bis auf Otto Zarek) oder intellektuelle Emigration gab, die den Nährboden für kulturelles, publizistisches und damit auch verlegerisch-buchhändlerisches Exilgeschehen hätte bilden können. Derselbe Befund gilt auch für die Türkei,99 obwohl sich dort eine bemerkenswerte Anzahl von Akademikern und Künstlern angesiedelt hat. Unter Kemal Atatürk waren für den Aufbau des Staates nach europäischem Muster schon seit den 1920er Jahren zahlreiche ausländische Experten ins Land geholt worden, und diese Tendenz kam nach 1933 auch den Emigranten zugute. Obwohl sonst kein Einwanderungsland, kamen auf diese Weise mehr als 300 Akademiker mit ihren Familien in die Türkei; insofern bietet das Land einen aufschlussreichen Anschauungsfall vor allem für die Rolle der Wissenschaftsemigration und des exilbedingten Wissenstransfers. Eine Sonderstellung nimmt Portugal in seiner Eigenschaft als Transitland ein; die Fluchtroute tausender Exilanten, auch vieler Schriftsteller und Politiker, führte nach Beginn des Weltkriegs über Lissabon.100 Erst recht ein Sonderfall war Spanien: Hier gab es nach Errichtung der Republik 1931 faktisch keinerlei Hürden für Einreise und Aufenthalt, und so nützten auch jüdische Emigranten, vor allem aber auch Schriftsteller (u. a. Erich Arendt, Frank Arnau, Franz Blei, Karl Otten, Harry Graf Kessler, Albert Vigoleis Thelen), Künstler (z. B. Arthur Segal, Wols) und Journalisten die Möglichkeit, sich in Barcelona, Madrid, auf Mallorca und noch anderen Orten vor der NS-Verfolgung in Sicherheit zu bringen.101 In Spanien setzten sich auch politische Emigranten verschiedenster Schattierung fest; 1934 dürften sich allein 100 KPD-Mitglieder im Land, 40–60 davon in der katalanischen Hauptstadt aufgehalten haben.102 1936 änderte sich die Situation radikal: Mit dem Putsch General Francos und dem daraufhin entbrannten Bürgerkrieg, flüchteten viele Angehörige der unpolitischen jüdischen Emigration nach Frankreich und in andere Länder, während sich ein Teil der Politemigranten zu ersten Frontkämpfereinheiten formierte.103 Im Laufe des Bürgerkriegs verließen bis 1939 auch die meisten der nichtkämpfenden Schriftsteller und Intellektuellen das Land, allerdings gewann Spanien 1940 noch einmal besondere Bedeutung als Fluchtroute aus dem teilbesetzten Frankreich in Richtung Übersee. Nach Schätzungen haben in diesem Jahr 30.000 Flüchtlinge aus Mitteleuropa die Pyrenäen überschritten, unter ihnen auch Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger oder Alfred Döblin. Dieser Flüchtlingsstrom erfuhr im Zuge der Errichtung des VichyRegimes eine Unterbrechung, setzte aber erneut ein mit der deutschen Besetzung Südfrankreichs im November 1942: »Aufgrund portugiesischer Vergleichszahlen dürften 1940‒1944 etwa 80.000–100.000 Flüchtlinge Spanien betreten haben, unter ihnen 20.000‒30.000 deutschsprachige Emigranten und in zunehmenden Maße auch französische Marquisards sowie entlaufene alliierte Kriegsgefangene«.104 Die inzwischen stren-
99 Erichsen: Türkei. 100 Von zur Mühlen: Portugal; sowie Von zur Mühlen: Fluchtweg Spanien – Portugal; Pinto Correira: Abschied von Europa. Portugal als Exil und Transitland. 101 Von zur Mühlen: Spanien. 102 Von zur Mühlen, Sp. 397. 103 Vgl. hierzu auch von zur Mühlen: Spanien war ihre Hoffnung. Ferner Mallmann: Deutschsprachige Emigranten im Spanischen Bürgerkrieg. 104 Von zur Mühlen: Spanien. Vgl. hierzu auch von zur Mühlen: Fluchtweg Spanien – Portugal.
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gen Einreisebestimmungen führten dazu, dass sich viele für einen illegalen Grenzübertritt entscheiden mussten, mit dem tatsächlichen oder auch nur befürchteten Risiko der Auslieferung (bekannt ist das Schicksal Walter Benjamins, der sich aus Angst vor Rücküberstellung in das besetzte Frankreich das Leben nahm). Tatsächlich waren in Spanien inzwischen Internierungslager eingerichtet worden, in denen illegal ausgereiste Ausländer oder solche, die falsche Angaben gemacht hatten, unter schlechten Bedingungen festgehalten wurden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Spanien nur in den Jahren zwischen 1933 und 1936 tatsächlich ein Exilland gewesen ist, weder in den Jahren des Bürgerkriegs noch in den Kriegsjahren konnte das Land als ein Zufluchtsort, sondern allenfalls als Durchgangsstation gelten. Dadurch »bildeten sich unter den Emigranten nicht die für Aufnahmeländer charakteristischen Infrastrukturen von Zeitschriften, Clubs, Synagogengemeinden, Kultur- und Hilfsvereinen« heraus.105 So blieb es hier auch bei sehr vereinzelten Fällen exilbuchhändlerischer oder -verlegerischer Betätigung. Unter den Ländern, die Immigranten durchgehend, d. h. phasenübergreifend Schutz bieten konnten, nehmen Großbritannien und die Sowjetunion eine Sonderstellung ein. Großbritannien war für viele Flüchtlinge aus Deutschland nicht die erste Wahl. Ursache dafür waren, neben einer gewissen, noch von der Gegnerschaft im Ersten Weltkrieg herrührenden Distanz, die Immigrationsgesetze des Landes: Die vor 1914 vergleichsweise liberale Einwanderungspolitik erfuhr seither starke Einschränkungen; nach Kriegsende wurden diese Einschränkungen durch den »Aliens Restriction Act« (1919) und die »Aliens Order« bestätigt bzw. noch erweitert.106 Auf diesen Grundlagen verfolgte das Land bis Ende 1938 eine Asylpolitik, die auch dem Zustrom von Hitlerflüchtlingen enge Grenzen setzte. Dazu trugen auch wirtschaftsnationalistische Motive und die bis Anfang 1939 gegenüber NS-Deutschland betriebene Appeasement-Politik bei.107 1933 und 1934 wurden nur einige hundert Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen, ihre Zahl erhöhte sich 1935 auf 2.500, 1937 auf ca. 8.000 und im November 1938 auf 11.000. Akzeptiert wurden in erster Linie Transitemigranten aller Altersstufen, wobei ausreichende Geldmittel, finanzielle Garantien (von Privatpersonen oder Hilfsorganisationen) oder ein Beschäftigungsverhältnis nachgewiesen und verbindliche Angaben über das Wiederverlassen des Landes gemacht werden mussten. Die Einwanderungsbeamten konnten Asylsuchende ohne jede Berufungsmöglichkeit abweisen und taten dies bei Flüchtlingen deutscher oder österreichischer Herkunft 1933 /1934 in 484, 1935 in 365 und 1937 in 438 Fällen.108 Nach der Annexion Österreichs und der Sudetengebiete sowie nach dem
105 Von zur Mühlen: Spanien, Sp. 401. 106 Siehe Strickhausen: Großbritannien. Vgl. ergänzend: Hirschfeld: Deutsche Emigranten in Großbritannien und ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus; Literatur und Kultur des Exils in Großbritannien. 107 Bei Hans-Albert Walter (Deutsche Exilliteratur 1933–1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, S. 112) heißt es zu dieser Problematik: »Bis zum Frühjahr 1938 hatte Großbritannien von allen demokratisch regierten Staaten Europas prozentual (und zeitweise auch absolut) die wenigsten Exilierten und Emigranten aus Hitlerdeutschland aufgenommen. Gewiß war dies nicht allein auf die restriktive Asylpraxis, sondern auch auf die Insellage des Vereinigten Königreichs zurückzuführen.« In der Tat war illegale Einwanderung nahezu unmöglich. 108 Strickhausen: Großbritannien, Sp. 251.
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Münchner Abkommen und der Reichspogromnacht öffnete sich Großbritannien – ungeachtet eines 1938 neu eingeführten Visa-Systems – dem Flüchtlingsstrom und wurde neben den USA zu einem der Hauptzufluchtsländer der zweiten Exilphase. Die Angaben für die insgesamt aufgenommenen Immigranten sind aber wenig präzise und schwanken zwischen 50.000 und 80.000; das Innenministerium gab für Oktober 1939 die Gesamtzahl mit 55.000 an (davon 9.000 Kinder, allein 6000 davon aus der Tschechoslowakei), für 1943 dann 78.000, davon 55.000 Deutsche und Österreicher sowie 13.000 unbegleitete Kinder.109 Der Anteil von Flüchtlingen jüdischer Herkunft wurde mit 90 % geschätzt. Der überwiegende Teil der Asylsuchenden wanderte nach Übersee (USA, Kanada, Australien, Südamerika) weiter. Aufenthaltsgenehmigungen auf Dauer wurden besonders in den ersten Jahren nach 1933 nur in Ausnahmefällen gewährt, wobei aber Persönlichkeiten von internationalem Ruf und in der Regel auch Akademiker (mit Ausnahme von Rechtsanwälten und Ärzten) willkommen waren. Für viele Berufsgruppen gab es strikte Arbeitsverbote; in Mangelberufen wurde die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit auf Antrag von Arbeitgebern vom Arbeitsministerium genehmigt. Dazu zählten auch Hausangestellte und Krankenpflegerinnen, woraus sich das für das britische Exil charakteristische Phänomen erklärt, dass es nicht selten die Ehefrauen waren, die – obwohl selbst aus gutbürgerlicher Schicht stammend – in einem solchen Beruf für ihren Mann bzw. ihre Familie den Lebensunterhalt sicherten.110 Von den Berufsrestriktionen ausgenommen waren Wissenschaftler und Künstler, aber auch Unternehmer mit privatem Vermögen. Die Hoffnung, dass diese sich neu etablieren und damit Arbeitsplätze schaffen würden, dürfte aufgegangen sein. Letztlich bildete diese asylpolitische Vorgangsweise auch die Grundlage dafür, dass zahlreiche deutsche und österreichische Exilanten als Verleger, Buchhändler und Antiquare tätig wurden. Da der Flüchtlingsstrom den öffentlichen Haushalten nicht zur Last fallen durfte, bildeten sich zahlreiche Hilfsorganisationen, hauptsächlich für die Unterstützung jüdischer Immigranten, wie der Central British Fund for German Jewry oder das Jewish Refugee Committee. Es gab dazu christliche Pendants, u. a. der Quäker. Für Wissenschaftler gab es eigene Einrichtungen; so etwa hatte die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland seit 1936 ihren Sitz in London. Neben Unterhaltsbeihilfen wurden Sonderprogramme finanziert, mit befristeten Lehr- und Forschungsaufträgen. Auch wenn den Exilanten offiziell eine politische Betätigung untersagt war: Großbritannien und insbesondere London entwickelte sich, nach Beginn des Hitlerschen Eroberungskrieges, trotzdem zu einem neuen Zentrum der Exilpolitik, denn es hatten hier zahlreiche Vertreter der politischen Linken Zuflucht gefunden, nachdem sie aus den kontinentaleuropäischen Ländern flüchten mussten. Seit 1941 befand sich hier die Zentrale der SOPADE,111 daneben waren hier unterschiedliche Splittergruppen (Neu Begin-
109 Strickhausen, Sp. 254. – Die Schwerpunktsetzung auf der Rettung und Betreuung jüdischer Kinder (deren Eltern in der ganz überwiegenden Zahl dem Holocaust zum Opfer fielen) stellt eine Besonderheit in der Exilgeschichte Großbritanniens in diesem Zeitraum dar. 110 Vgl. hierzu Kushner: An Alien Occupation. 111 1941‒1945 befand sich die offizielle Zentrale der Exil-SPD in London, nachdem sie zuvor 1933‒1938 in Prag und 1938‒1940 in Paris stationiert war. Vgl. hierzu Glees: Das deutsche politische Exil in London 1939‒1945. S. 63.
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nen, ISK, SAP) sowie politische Gruppierungen auch der sudetendeutschen und österreichischen Sozialdemokratie aktiv, ebenfalls pazifistische Kreise, nicht zuletzt die Kommunistische Partei, die bemerkenswerterweise von den britischen Behörden mehr Unterstützung erfuhr als die Sozialdemokraten112 (der offizielle Parteisitz der KPD befand sich damals in Moskau). Auch hier wurde, wie in Frankreich, im Zeichen des Antifaschismus und der Volksfront-Bewegung verdeckte Agitation betrieben, allerdings mit begrenztem und allenfalls temporärem Erfolg.113 Auffällig ist das Entstehen von Jugendorganisationen, die – z. T. kommunistisch orientiert wie die Freie Deutsche Jugend (FDI) oder das Free Austrian Movement – eine rege Publikationstätigkeit und verlegerische Funktion entwickelten. Dies gilt aber auch für zahlreiche andere Organisationen des politischen Exils, die für das Erscheinen von Zeitungen, Zeitschriften und Informationsblättern sorgten. Gemeinsam ist diesen publizistischen Aktivitäten das Bestreben, das »andere Deutschland« zu repräsentieren, dazu an Nachkriegskonzeptionen für das befreite Deutschland bzw. Österreich zu arbeiten, zumal hier mit dem Vansittartismus ein Diskussionsfeld eröffnet war, das zu Stellungnahmen seitens des Exils herausforderte.114 Während in der ersten Exilphase London (im Unterschied zu Paris, Amsterdam, Prag oder Moskau) weder in politischer noch kultureller Hinsicht ein echtes Zentrum des Exils darstellte und es in Großbritannien bis Ende 1938 weder Zeitschriften noch organisierte kulturelle Einrichtungen des Exils oder auch Exilverlage gab, entwickelte sich in einer zweiten Exilphase eine »Infrastruktur des Exils«115 und ein durchaus reges literarisch-kulturelles Leben, zumal inzwischen auch zahlreiche Schriftsteller und Künstler hier Asyl gefunden hatten. Zwar waren die Möglichkeiten, in deutscher Sprache zu publizieren, eingeschränkt, aber neben einigen (allerdings nicht sehr zahlreichen) Exilverlagen nahmen sich britische Verleger wie Victor Gollancz (auch mit seinem Left Book Club), Allen & Unwin, Chatto & Windus, George Routledge oder Hamish Hamilton der emigrierten Autoren an und brachten deren Bücher in englischer Übersetzung heraus.116 London gewann als Sitz des Exil-PEN eine internationale Bedeutung für die
112 Vgl. Glees: Das deutsche politische Exil in London 1939‒1945, S. 71. 113 Dies gilt vor allem für die aus Deutschland geflüchteten Exilanten, während im Rahmen der österreichischen Emigration die Kommunisten stärker hervortraten und z. T. mit konservativen Kreisen zusammenarbeiteten, etwa bei der im September 1938 erfolgten Gründung eines überparteilichen Council of Austrians und der Errichtung eines Free Austrian Movements im Sommer 1941. Als ein kulturelles und soziales Zentrum hatte sich das Austrian Centre im Februar 1939 gebildet, damals mit Sigmund Freud als Ehrenpräsident. 114 Siehe Kettenacker: Der Einfluß der deutschen Emigranten auf die britische Kriegszielpolitik. 115 Vgl. Wiemann: Exilliteratur in Großbritannien 1933‒1945, S. 23; auch S. 12 u. 20. 116 Linksgerichtete oder liberale Verleger wie Gollancz und Unwin statteten deutsche Autoren auch mit Empfehlungsschreiben aus, die ihnen die Genehmigung der Visumanträge sichern oder erleichtern sollten. Vgl. Joos: Trustees for the Public?, S. 139 f. Dort als Beispiel aus dem Jahr 1939 eine solche Empfehlung von T. M. Ragg von Routledge für Hermann Kesten. – Bei den von britischen Verlegern publizierten Werken deutscher Exilautoren (siehe auch im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage den Abschnitt: Übersetzungen von Exilwerken in britischen Verlagen) handelte es sich in nicht wenigen Fällen um ein Entgegenkommen des Verlegers, da Bücher von in England kaum bekannten Autoren als wenig absatzträchtig gelten mussten. Einen problematischen Fall stellte etwa Karl Ottens A Combine of Aggres-
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deutschsprachige Exilliteratur. Für die politisch engagierten Schriftsteller und Künstler bildete der 1938 auf kommunistische Initiative hin gegründete, unter Vorsitz von Alfred Kerr und Oskar Kokoschka stehende Freie Deutsche Kulturbund einen Sammelort, zumal er sich in Sektionen für Literatur, Theater, Musik, Malerei und Wissenschaft gliederte und so für die Exilierten ein breites Angebot bereitstellte. Politische Kontroversen waren allerdings in dieser Konstellation unvermeidlich, und so kam es zur Abspaltung eines Club 1943, mit dem sich eine Gruppe von Publizisten und Schriftstellern vom Kulturbund distanzierte. Bereits im Frühjahr 1939 wurde aus Furcht vor Spionen eine Sicherheitsüberprüfung von 73.000 deutschen und österreichischen Exilanten (inklusive schon vor 1933 Eingewanderter) und eine Kategorienzuordnung vorgenommen; Kategorie A (ca. 1 %) wurde sofort interniert, 64.200 in der Kategorie C als zuverlässig und loyal eingeschätzt.117 Kategorie B war mit verschärfter Meldepflicht verbunden. Damit war dann auch für die Zeit des Kriegs vorgesorgt: Nach dem raschen Vorrücken der deutschen Wehrmacht auf dem Kontinent breitete sich eine Atmosphäre der Fremdenfeindlichkeit aus, die zur Internierung von tausenden Männern und Frauen der Kategorie B auf der Isle of Man oder in anderen Lagern führte, eine Situation, die für die Hitlerflüchtlinge eine schwere Belastung bedeutete, sahen sie sich doch mit den Sympathisanten des Nationalsozialismus in einen Topf geworfen oder sogar in den Lagern direkt konfrontiert. Immerhin konnte sich eine bemerkenswerte »Lagerkultur« mit Zeitungen, Theateraufführungen und wissenschaftlichen Vorträgen entfalten.118 Deportationen nach Kanada und Australien wurden begonnen, nach Torpedierung eines Transportschiffes aber wieder aufgegeben. Einem Entlassungsprogramm folgend, wurde bis 1941 mehr als die Hälfte der 30.000 Internierten freigelassen; vielen wurde auch gestattet, in die britische Armee einzutreten oder auf andere Weise einen Beitrag zu den britischen »war efforts« zu leisten. Besonders Schriftsteller und Intellektuelle nahmen die Gelegenheit wahr, entweder in Nachrichtendiensten oder bei der BBC am Kampf gegen Hitlerdeutschland teilzunehmen;119 einige waren dann nach Kriegsende auch an den britischen Reeducation-Maßnahmen beteiligt.
sion: Masses, Elite, and Dictatorship in Germany dar (London: Allen & Unwin 1942; entstanden in Zusammenarbeit mit Fritz H. Landshoff), das aufgrund von Einmischungen des Autors in der Übersetzung schlecht lesbar und daher ein Ladenhüter war. In einem Brief kommentierte der Verleger Stanley Unwin seine Erfahrungen: »Some of these German refugees are very charming, but our experiences in publishing for them had been almost uniformly disastrous.« (Brief Unwins vom 13. Juli 1942, hier zit. nach Joos: Trustees for the Public?, S. 141). 117 Strickhausen: Großbritannien, Sp. 257. Vgl. auch Wasserstein: Britische Regierungen und die deutsche Emigration 1933‒1945. 118 Vgl. dazu auch Seyfert: Im Niemandsland. 119 Die Mitarbeit der deutschen Emigranten war vor allem in jenen Bereichen willkommen, »die als Kriegseinsatz ohne politische Konsequenzen verstanden wurden; dazu gehörte der Bereich ›intelligence‹, also Informationsbeschaffung durch Gefangenenverhöre, Presseauswertungen etc., dann das weite Gebiet der psychologischen Kriegsführung und Propaganda. […] Jedermann wußte, daß gerade im Propagandaapparat sehr viele ›enemy aliens‹ beschäftigt waren, was immer Anlaß zu Verdächtigungen gab. Andererseits war dies mit der einzige Sektor, bei dem man auf das knowhow deutscher Emigranten glaubte angewiesen zu sein.«
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Die Sowjetunion hat – entgegen dem verfassungsmäßig verbrieften Recht auf Asylgewährung und auch entgegen dem, was man von ihr als Mutterland der kommunistischen Opposition erwarten durfte – nur sehr wenige Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland aufgenommen.120 Bis 1936 befanden sich wohl nicht mehr als 4.600 deutsche kommunistische Polit-Emigranten im Land; der jüdischen Emigration blieb es fast vollständig verschlossen. 1934 /1935 wurden rund 1.000 sozialdemokratische Schutzbund-Flüchtlinge aus Österreich aufgenommen, die dann zum Großteil in die KPÖ eintraten; nach 1936 gab es nur noch vereinzelte Aufnahmen, jeweils nach strenger Überprüfung durch eine Kommission. Tatsache ist, dass die SU nicht einmal den Parteimitgliedern und -funktionären die Einreise erlaubte, ja sogar jeden ohne spezielle Erlaubnis eingereisten Genossen als »Deserteur« aus Deutschland betrachtete;121 spezielle Einladungen für vorübergehende Aufenthalte erhielten vor allem Schriftsteller. Im Rückblick konnten viele froh sein, nicht in die SU gelangt zu sein, im Blick auf die Stalinschen »Säuberungen«, die vielen sich in Moskau aufhaltenden oder dorthin zitierten Mitgliedern der kommunistischen Exilparteien das Leben gekostet haben, darunter auch einigen Schriftstellern. Schätzungen zufolge sind zwischen 1936 und 1939 rund 3.000 (= 70 %) der Parteigenossen bzw. -funktionäre, darunter auch sechs ehemalige Politbüro-Mitglieder, unter dem Vorwurf von ideologischen, v. a. trotzkistischen »Abweichungen« dem NKWD-Terror zum Opfer gefallen. Gleichzeitig wurden zahlreiche Organisationen, in denen Emigranten tätig waren, aufgelöst: die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller (IVRS) 1935, der Deutsche Club 1937, die Deutsche Zentral-Zeitung und die Exilzeitschrift Das Wort 1939. Der Hitler-Stalin-Pakt hatte im gleichen Jahr auch in der SU negative Auswirkungen auf die Motivation der Emigranten. Als sich aber Stalin 1943 entschloss, auch die Komintern aufzulösen, brachte dies eine Aufwertung der deutschen Exilbewegung in Moskau mit sich, vor allem mit der Gründung des »Nationalkomitees Freies Deutschland« im Juli 1943. Damit wurde eine Strategie verbunden, die bereits auf eine Koalitionsregierung für ein Nachkriegsdeutschland abzielte, in der die Kommunisten eine führende Rolle spielen wollten. Der im Ganzen horriblen Bilanz des sowjetischen Exils122 stehen einige wenige positive Faktoren gegenüber, im Besonderen der Aufbau eines leistungsfähigen Exilverlagswesens. Die bereits 1931 gegründete Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR), die wichtigste publizistische Plattform für die kommunistischen Exilschriftsteller, zählte rund 300 Mitarbeiter; in der Zeit ihres Bestehens produzierte sie mindestens 735 Buch- und Broschürentitel in z. T. hohen Auflagen. Sie wurde allerdings bereits 1938 geschlossen, nachdem der Mitarbeiterstab durch den stalinistischen Terror gewaltig dezimiert worden war. An diese Produktivität kamen die verbliebenen Verlage wie Meshdunarodnaja kniga – Das Internationale Buch, der Staatsverlag der nationalen Minderheiten in Kiew und Charkow oder der Verlag für fremdsprachige
Kettenacker: Der Einfluß der deutschen Emigranten auf die britische Kriegszielpolitik, S. 105. 120 Vgl. zu diesem Abschnitt Schafranek: Sowjetunion. 121 Wilhelm Pieck sprach sich im August 1936 sogar dafür aus, zwei Drittel der Emigranten nach Deutschland zurückzuschicken (nach Schafranek, Sp. 389). 122 Vgl. hierzu auch Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil.
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Literatur nicht heran; letzterer war nach 1942 der einzige, der noch deutschsprachige Literatur herausbrachte.
Palästina oder Erez Israel Palästina nimmt unter den Asylländern eine Sonderstellung ein, weil viele, vielleicht die Mehrzahl der hierher gelangten deutschen Juden sich nicht als Exilanten oder Emigranten verstanden, sondern als Heimkehrer in das Land ihrer Väter, nach Erez Israel – eine subjektive Deutung, die es zu berücksichtigen gilt. In besonderer Weise trifft diese religiös bedingte Sichtweise auf die schon nach der Jahrhundertwende einsetzende Einwanderung zu, die auf Theodor Herzls »Neuland«-Ideen und der davon ausgelösten zionistischen Bewegung beruhte und weitgehend auch die spätere Immigration bestimmte. 1932 setzte eine Jugend-Alija (Alija = Aufstieg) ein, mit der bis 1935 rund 7.000, bis 1939 weitere 5.000 junge Menschen im Alter von 15 bis 17 Jahren in das Land kamen. Überhaupt war Palästina für die jüdische Emigration bereits in der ersten Exilphase von größter Bedeutung.123 Nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus stieg die Einwanderung in das unter britischer Mandatshoheit stehende Land stark an. Zwischen 1933 und 1941 waren die deutschen Juden mit 60.000 Personen, rund 26 %, an der gesamten Palästina-Einwanderung124 beteiligt. Keineswegs alle, die nach Palästina wollten, konnten auch dorthin gelangen: Die Einwanderung war von der britischen Mandatsregierung durch halbjährlich festgelegte Quoten beschränkt und durch unterschiedliche Zertifikate geregelt, die z. T. nach Vermögensgesichtspunkten zugeteilt wurden: Wer eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert hatte, konnte ohne jede Zahlung als »Pionier« mit der Einreiseerlaubnis rechnen; mit solchen Zionisten-Zertifikaten waren bis zum Frühjahr 1939 3.525 Einwanderer in 88 Siedlungsgemeinschaften (Kibbuzim und Moshavim) untergekommen.125 Wer 1.000 Pfund – eine hohe Summe, die nur von wenigen aufgebracht werden konnte – vorweisen konnte, erhielt das sogenannte KapitalistenZertifikat. Die Auswanderung nach Palästina wurde über mehrere Jahre hinweg auch vom nationalsozialistischen Deutschland gefördert, durch das zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der Jewish Agency abgeschlossene Haavara-Abkommen, das durch Verrechnung mit deutschen Warenexporten die erforderlichen Geld- und Vermögenstransfers ermöglichte. Dies hatte besondere Bedeutung für die Inhaber von Kapitalisten-Zertifikaten, die so bis zu 50.000 Reichsmark zu günstigeren Konditionen als der Auswanderersperrmark transferieren konnten, womit dann auch Betriebsgründungen in Palästina ermöglicht wurden. Das Haavara-Abkommen endete 1939; 1941 wurde im Dritten Reich dann mit Erlass vom 23. Oktober ein Emigrationsverbot verhängt, mit dem die NS-»Judenpolitik« endgültig auf die physische Vernichtung der Juden umgestellt wurde. Mit Beginn des Weltkriegs verbesserten sich die bis dahin angespannten, auch durch umfangreiche illegale Einwanderung belasteten Beziehungen zwischen Juden und briti-
123 Vgl. zum gesamten Abschnitt Heid: Palästina / Israel. 124 Die Bezugsgröße bildet die fünfte Alija, jene Einwanderungswelle, die in den Jahren 1932‒ 1948 insgesamt 265.000 Personen aus unterschiedlichsten Ländern, z. B. auch aus der Sowjetunion, umfasste; vgl. Heid, Sp. 351. 125 Heid, Sp. 349 f.
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scher Mandatsmacht; dazu trug auch bei, dass sich 130.000 jüdische Freiwillige zum Kriegseinsatz auf britischer Seite meldeten. Viele der nicht-zionistisch motivierten Immigranten aus Deutschland betrachteten Palästina eher als eine Wartestation und zögerten damit, Hebräisch zu erlernen. Dieses Verhalten stieß auf Ablehnung v. a. seitens der vor 1933 Eingewanderten, besonders der ostjüdischen Zionisten; auch waren die Möglichkeiten, ohne Hebräischkenntnisse Arbeit zu finden, sehr begrenzt. Insofern bildeten sich Vorurteile und auch z. T. militant ausgetragene Konflikte innerhalb der jüdischen Einwanderergesellschaft aus,126 die besonders die aus Deutschland kommenden »Jeckes« betrafen, die als Schriftsteller, Gelehrte oder auch als Buchhändler an der in Palästina verpönten deutschen Sprache festhielten. Insbesondere der Buchhandel bot ja, wie zu zeigen sein wird, eine gewisse Möglichkeit, wenigstens innerhalb des deutschsprechenden Einwanderermilieus ein Auskommen zu finden. Aber auch solche, meist nur das Existenzminimum sichernden Geschäfte konnten nicht verhindern, dass für den Großteil der überwiegend dem Mittelstand und dem Bildungsbürgertum entstammenden deutschen Einwanderer das Leben im rückständigen Agrarland Palästina mit einem gravierenden sozialen Abstieg und den damit einhergehenden psychischen Belastungen verbunden gewesen ist. Eine dem Ausbildungsstand adäquate Anstellung war in den wenigsten Fällen erreichbar, schmerzliche Anpassungsprozesse waren unerlässlich. In dieser Situation entschieden sich viele, auch hochgebildete Menschen für landwirtschaftliche Tätigkeit. Allen Widrigkeiten zum Trotz entfalteten die aus Mitteleuropa eingewanderten Anwälte127 und Ärzte, Wissenschaftler und Literaten und andere Angehörige von Kulturberufen jedoch ein beachtliches geistiges und kulturelles Leben; exilpolitische Aktivitäten waren dagegen, abgesehen von der Entstehung einiger Einwandererorganisationen wie der schon 1932 gegründeten Hitachdut Olej Germania (1938 erweitert zur Hitachdut Olej Germania we Austria), seit 1942 aufgespalten in eine politische Partei und die unpolitische Wohlfahrtsorganisation Irgun Olej Merkas Europa,128 kaum erkennbar. Das gesellschaftlich weitgehend abgeschottete deutschkulturelle Milieu hielt sich, auch nach der Staatsgründung Israels 1947, mit Lesungen, Diskussionsabenden und Vorträgen in deutscher Sprache noch viele Jahrzehnte, in Ausläufern bis in die unmittelbare Gegenwart.129
Das überseeische Exil 1939 bis 1945 Der von Hitler entfesselte Weltkrieg bedeutete für die Geschichte des deutschsprachigen Exils einen tiefen Einschnitt. Zwar hatte schon der Hitler-Stalin-Pakt zerstörerisch auf 126 So wurde 1943 von der Haganah ein Bombenattentat auf die Druckerei der deutschsprachigen, von Arnold Zweig und Wolfgang Yougrau herausgegebenen Zeitschrift Orient verübt. Die Zeitschrift wurde wenig später eingestellt. 127 Alleine mehr als 700 ausgebildete Juristen zählten zu dieser großen Gruppe der Akademiker, auch die Mediziner und Techniker brachten sich, soweit möglich, mit nachhaltigem Erfolg in den Aufbau des Landes ein. 128 Die von der Vereinigung herausgegebene Wochenzeitung MB (Mitteilungsblatt der Vereinigung der Juden aus Mitteleuropa) bildet eine hervorragende Quelle zum Leben der deutschjüdischen Einwanderer. 129 Vgl. hierzu auch Erel: Neue Wurzeln. 50 Jahre Immigration deutschsprachiger Juden in Israel.
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die Emigrantenschaft eingewirkt und für viele zu einem schmerzhaften Bruch in der Biographie geführt, insofern sie von ihrem kommunistischen Glauben abfielen, während die Nichtkommunisten über die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten im Anti-Hitler-Kampf jetzt endgültig desillusioniert waren. Entscheidend war aber, dass mit dem Krieg zehntausende Exilanten erneut in eine Situation gebracht wurden, in der sie um ihr nacktes Überleben kämpfen mussten. Nachdem 1938 durch die Annexion Österreichs und des Sudetenlandes sowie 1939 durch Besetzung der Tschechoslowakei schon neue Fluchtwellen entstanden und die Fluchträume enger geworden waren, führten die Eroberungen der deutschen Wehrmacht dazu, dass bis 1940 in rascher Folge auch die Niederlande, Belgien, Frankreich, Dänemark und Norwegen als Asylländer wegfielen und die dort lebenden Exilanten erneut an Leib und Leben bedroht waren. Wer es schaffte, sich rechtzeitig eine Passage nach Übersee zu sichern, entging den Nazis durch eine zweite Flucht – die oft dramatischen Bemühungen, die erforderlichen Visa und Schiffskarten, die von den Einreiseländern verlangten Bürgschaften etc. zu erhalten, sind in vielen Berichten dokumentiert, ebenso das bange Warten und die Irrfahrten der Exilierten. Wenn auch Teile Europas wie England oder Schweden und letztlich auch die Sowjetunion noch standhielten, so verlagerten sich nun die Hauptschauplätze des Exilgeschehens nach New York und Los Angeles, Mexico City und Buenos Aires, nach Tel Aviv und Jerusalem.130
Nordamerika Obwohl klassisches Einwanderungsland, spielten die Vereinigten Staaten von Amerika vor 1937 /1938 als Exilort für Hitleremigranten nur eine untergeordnete Rolle.131 Vor allem nach Kriegsausbruch und der rasch zunehmenden Bedrohung in Europa wurden sie aber zum Fluchtziel Nummer eins; mit 132.000 »Refugees« zwischen 1933 und 1945 liegen sie für diesen Zeitraum an der Spitze der Aufnahmeländer. Aufgrund der nach dem Ersten Weltkrieg eingeführten Quotenregelungen132 und der insgesamt strengen,
130 Einwanderungsgesetzgebung und Asylpraxis in den überseeischen Gebieten sind genauestens dokumentiert in Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, S. 249‒496. 131 Vgl. zum Folgenden Krohn: Vereinigte Staaten von Amerika. 132 Die Gesamtzulassung umfasste seit 1929 jährlich 153.879 Personen, wovon der (zuvor doppelt so hohe) deutsche Anteil sich auf 25.957 belief; gleichzeitig war die Quote für Großbritannien von 34.007 auf 65.721 hinaufgesetzt worden. Die deutsche Quote wurde allerdings bis Mitte 1938 nicht einmal zur Hälfte ausgeschöpft, zumal den bis dahin 45.000 deutschen Eingewanderten (die nicht nur aus den europäischen Fluchtländern, sondern durchaus auch aus dem nationalsozialistischen Deutschland kamen) 22.000 deutsche Rückkehrer gegenüberstanden. Bis auf einen Spitzenwert 1939 ist die deutsche Quote auch in den Kriegsjahren bei weitem nicht erreicht worden, vielmehr ist sie durch die Transitprobleme der Exilanten und das im Dritten Reich verhängte Ausreiseverbot so stark gesunken, dass sie Mitte 1942 auf 18 % und am Ende dieses Jahres auf 5 % gefallen war (vgl. Krohn, Sp. 449 f.). Die Einreiseengpässe waren also nicht eigentlich quotenbedingt, sondern Ergebnis einer restriktiv-schikanösen Handhabung des Asylrechts, insbesondere der Visumerteilung, in deren Hintergrund Ängste wirksam waren, von zahlreichen anderen Ländern neben Kommunisten und anderen politisch Oppositionellen auch unerwünschte jüdische Bevölkerungsteile
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schon von den US-Konsulaten, aber auch den Behörden z. B. auf Ellis Island restriktiv gehandhabten Einreisebestimmungen war es aber – abgesehen von den schwer zu ergatternden Schiffspassagen – trotzdem nicht einfach, in die von isolationistischer Politik geleiteten USA zu gelangen: man brauchte üblicherweise ein Spezialvisum (meist ein non-quota-Visum, wenigstens ein Besuchervisum), ein Affidavit (affidavit of support, eine Bürgschaftserklärung eines Amerikaners, am besten eines Verwandten) und musste auch sonst bestimmte Voraussetzungen erfüllen; Parteikommunisten z. B. hatten kaum eine Chance. Es waren v. a. Flüchtlinge aus akademischen Berufen, Schriftsteller und Publizisten, auch einige prominentere Politiker aus dem bürgerlichen und sozialdemokratischen Lager, die auf eine weniger strenge Behandlung ihres Einreisewunsches hoffen durften. Bemerkenswert: Im Sinne des nationalen Interesses war für Wissenschaftler die Quotenregelung unwirksam; aufgrund der hohen Wertschätzung des deutschen Bildungssystems und der Leistungen der deutschen Wissenschaft hat man sich dieser intellektuellen Potentiale versichern wollen – schon bis Mai 1933, nach Entlassung zahlreicher Hochschullehrer an den deutschen Universitäten, waren mehr als 300 nonquota-Visen ausgegeben worden, auch wurde rasch eine eigene Exil-Universität in New York gegründet.133 An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass es in Europa einen Ort gab, an dem tausenden, vom Vorrücken der deutschen Truppen in Frankreich bedrängten Exilanten geholfen wurde: In Marseille sorgte 1940 /1941 der legendäre Varian Fry als Repräsentant des Emergency Rescue Committee (ERC) dafür, dass auf großzügigste Weise die notwendigen Papiere vom dortigen Konsulat ausgestellt wurden.134 Der behördlichen Blockadehaltung stand eine außerordentlich große Hilfsbereitschaft gegenüber seitens der Bevölkerung und der entsprechenden, von privatem Engagement getragenen Hilfsorganisationen; neben den jüdischen Einrichtungen waren das jene der Quäker oder von Gewerkschaften, christlichen Vereinen, Philanthropen, liberalen Politikern oder von den Emigranten selbst gegründete Komitees. Für eine Integration in die amerikanische Gesellschaft waren beste Voraussetzungen gegeben; so gab es auch keinerlei Hindernisse beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Besonders in New York, wo sich rund zwei Drittel der Flüchtlinge niederließen,135 ebenso aber an der Westküste konnte sich so eine Emigrationsszene herausbilden, deren Zusammenhalt und Vitalität Jahrzehnte anhalten sollte. Bekannt ist, in welcher Weise sich Emigranten beispielsweise in der Filmindustrie bewährten; auch im Theatersektor und der Literatur konnten sie sich er-
aufnehmen zu müssen. Die Roosevelt-Zeit war gekennzeichnet von einem Aufleben antisemitischer Strömungen und einem Erstarken fremdenfeindlicher Kräfte, die eine Unterwanderung der amerikanischen Gesellschaft durch Agenten und Agitatoren befürchteten. Tatsächlich wurde jeder Einwanderer vom FBI überprüft und beobachtet. 133 Krohn, Sp. 457 f. Die USA haben insgesamt mehr als zwei Drittel der 2.000 aus NSDeutschland geflohenen Wissenschaftler aufgenommen. 134 Vgl. u. a. Hasler: Mit dem letzten Schiff (fiktionalisierte Darstellung); Meyer: »Gesucht von der Gestapo«; Klein: Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940‒1942. 135 In einzelnen Wohngebieten wie den Washington Heights bildeten sich eigene Zentren deutscher und österreichischer Emigrantenkultur heraus. Auch die im engeren Sinn jüdische Emigration entwickelte einen besonderen Zusammenhalt, u. a. jahrzehntelang gefördert durch das deutschsprachige Nachrichtenorgan Aufbau, dessen Auflage zeitweise mehr als 30.000 betrug.
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folgreich in Szene setzen. Ebenso waren in Wirtschaft und Politik exemplarische Karrieren möglich, bis hin zu Präsidentenberatern wie Henry A. Kissinger.136 Von dem Beitrag, den Exilanten für die Entwicklung des Verlagswesens und Buchhandels geleistet haben, wird an anderer Stelle genauer zu berichten sein. Erst spät, seit den 1960er Jahren, entstand in den USA ein Bewusstsein davon, welchen gewaltigen Beitrag die vom Nationalsozialismus Vertriebenen für Wissenschaft und Kultur Amerikas geleistet haben. Im klassischen Einwanderungsland Kanada fand eine erstaunlich geringe Anzahl von Hitlerflüchtlingen Asyl, zwischen 1931 und 1945 insgesamt höchstens 28.000 »Refugees«, wobei nur einige tausend davon aus Deutschland und Österreich gekommen sein dürften.137 Ökonomische Interessen, Fremdenfeindlichkeit und manifester Antisemitismus verhinderten auch hier eine großzügigere Asylpolitik; die Aufnahme von Schutzsuchenden erfolgte nach überaus selektiven Kriterien. Auf ein gewisses Entgegenkommen stießen 1938 allenfalls die sudetendeutschen Sozialdemokraten, von denen auf Drängen der britischen Regierung und im Zuge eines Ansiedlungsprogramms rund 1.200 Familien aufgenommen werden sollten; nach Verzögerungen in den Verhandlungen konnten aber nur noch 300 Familien bzw. insgesamt etwas mehr als 1.000 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Als Bestandteil des britischen Commonwealth war Kanada dann auch gezwungen, in den Kriegsjahren 4.000 »enemy aliens« und 3.000 Kriegsgefangene aufzunehmen, die in Europa ein zu großes Risiko darstellten. In den Camps entwickelten die Internierten, wie in Großbritannien, ein bemerkenswert reges kulturelles Leben. Gleiches lässt sich von den deutschen und österreichischen Exilanten, die in Kanada Asyl gefunden hatten, nur bedingt berichten. Exilpolitisch sind in erster Linie Österreicher hervorgetreten; Hans Rott als Gründer der konservativen Frei-ÖsterreicherBewegung und des Free Austrian National Council / Austrian National Committee; linksgerichtet war das Free Austrian Movement. Die immigrierten Wissenschaftler bekamen überwiegend erst nach 1945 die Möglichkeit, sich an kanadischen Universitäten und Forschungseinrichtungen zu betätigen. Unter den Künstlern darf der Buchillustrator Walter Trier wohl als der bekannteste gelten; er war aber erst 1947 in Kanada eingereist. Nicht hoch genug einzuschätzen ist dagegen der Beitrag, den deutsche und österreichische Antiquare für die Entwicklung des Antiquariatsbuchhandels in Kanada geleistet haben.
Lateinamerika Lateinamerika, d. h. die Gesamtheit der spanisch- und portugiesischsprachigen Länder des amerikanischen Kontinents, war zunächst schon aus Entfernungsgründen kein bevor-
136 Einfluss auf die amerikanische Politik nahmen Emigranten schon im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sie als Experten in Geheimdiensten, vor allem dem Office of Strategic Services (OSS) tätig wurden (später CIA) oder später für das State Department und die Besatzungsbehörden in Europa arbeiteten. Im Übrigen fanden auch innerhalb der deutschen und österreichischen Emigration schon vor 1945 Debatten statt, die sich mit politischen Konzepten zur Nachkriegssituation befassten. Bestrebungen zur Bildung einer einheitlichen Vertretung oder gar einer Exilregierung scheiterten aber hier genauso wie alle früheren Pläne dieser Art. 137 Strickhausen: Kanada.
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zugtes Ziel der Hitler-Emigration.138 Ein Anstieg der Einwanderungszahlen war erst seit 1936 zu registrieren, hauptsächlich in Brasilien, Uruguay, Argentinien und Chile; nach Verschärfung der Einreisebestimmungen in diesen Ländern dann auch in Bolivien, Kolumbien und Ecuador. Kuba, in geringerem Maße auch die Dominikanische Republik, waren hauptsächlich temporäre Anlaufpunkte: In der zweiten, überseeischen Exilphase landete hier an, wer aus politischen Gründen, v. a. als parteikommunistischer Kader, in den USA keine Chance hatte, und fuhr dann in den meisten Fällen nach Mexiko weiter. Nur dort und allenfalls noch in Argentinien hat sich eine nennenswerte politische Emigration herausgebildet, obwohl natürlich in faktisch allen Ländern politische Gruppierungen, nach 1938 auch solche der österreichischen Emigranten, vertreten waren. Die Auswahl des Asyllandes gewann in den Kriegsjahren etwas zunehmend Beliebiges, da nun »Zufallsfaktoren wie die Erteilung von Einreisevisa und der erforderlichen Transitvisa für Drittländer sowie der Schiffspassagen im wesentlichen die Emigrationsströme steuerten. Viele lateinamerikanische Staaten bildeten daher nur Fluchtziele ›zweiter Ordnung‹.«139 Auf dem gesamten Subkontinent dürften in der Zeit des Weltkriegs zwischen 75.000 und 90.000 Emigranten untergekommen sein,140 wobei gut 90 % jüdischer Herkunft gewesen sein dürften. Die Schätzungen zur Verteilung auf die einzelnen Länder ergeben für Argentinien 35.000, Brasilien 16.000 bis 17.000, Chile 13.000, Uruguay 7.000, Bolivien 5.000 bis 7.000, Ecuador 3.500 bis 4.000, Mexiko 3.000, Kolumbien 2.700 bis 3.000; in Kuba sind immerhin 8.000, in der Dominikanischen Republik 2.000 Flüchtlinge hängengeblieben.141 Die Einreisebestimmungen waren unterschiedlich, sie hatten aber eine Gemeinsamkeit darin, dass nahezu alle Staaten – bis auf Mexiko – die Flüchtlinge als Wirtschaftsemigranten betrachteten und dementsprechend entweder den Nachweis von Eigenkapital oder die Verpflichtung zur Ausübung bestimmter Berufe, v. a. in der Landwirtschaft, verlangten. Dazu kam: »In zahlreichen Fällen mußten Emigranten Hindernisse durch illegale Methoden (Scheintaufen, gefälschte Dokumente, Schmiergelder) überwinden.«142 Die in lateinamerikanische Länder gelangten Flüchtlinge waren in der Regel wenig begütert oder auch mittellos; sie mussten daher für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts jede sich bietende Möglichkeit wahrnehmen. Die Fortsetzung eines erlernten Berufes war nur einem kleineren Teil von ihnen möglich, zumal dafür nicht nur sprachliche Barrieren zu überwinden waren, sondern auch Rechtsvorschriften. Trotz der ungewohnten Verhältnisse gelang es aber doch nicht wenigen, z. B. im Dienstleistungssektor Betriebe aufzubauen; gerade im Bereich von Sortiments- und Verlagsbuchhandel gibt es dafür in verschiedensten Ländern überzeugende Beispiele. Die Gründung zahlreicher
138 Vgl. von zur Mühlen: Lateinamerika, übriges., sowie die nachfolgend genannten Länderartikel. Vgl. ferner von zur Mühlen: Fluchtziel Lateinamerika; Alternative Lateinamerika; Fröschle: Die Deutschen in Lateinamerika. 139 Vgl. von zur Mühlen: Lateinamerika, übriges, Sp. 297. 140 Roeder gibt hierzu die genauere Zahl von 86.000 an (Roeder: Einleitung, S. XXXI). Alle Angaben über Immigrantenzahlen sind allerdings durch illegale Einwanderung oder Weiterwanderung und daraus resultierende Doppelzählungen unzuverlässig. 141 Von zur Mühlen: Lateinamerika, übriges. – In allen anderen Ländern wie Peru, Venezuela oder Paraguay sowie in den kleineren französischen, britischen und niederländischen Karibikkolonien hielten sich nur wenige Dutzend oder allenfalls einige hundert Flüchtlinge auf. 142 Von zur Mühlen: Lateinamerika, übriges.
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deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften gibt schon einen Hinweis darauf, dass es durchaus beachtliche Bestrebungen gegeben hat, die mitgebrachte Kultur zu erhalten und zu pflegen; auch der (meist nur kurzfristige) Betrieb von Rundfunksendern und die Errichtung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zielten in diese Richtung. Alles in allem erreichten die literarischen kulturellen Aktivitäten in einigen Städten, besonders in Buenos Aires, Montevideo, São Paulo oder Mexico City, beachtliches Ausmaß.143 Nur in wenigen Ländern erwies sich diese Exilkultur als etwas Nachhaltiges, zumal nach 1945 – befördert von der politischen und wirtschaftlichen Instabilität mancher Regionen – weitere Wanderungsbewegungen, hauptsächlich in Richtung USA und Palästina / Israel, aber auch von den ärmeren südamerikanischen Ländern in die reicheren einsetzten. Eine Remigration in die Heimatländer war in erster Linie bei den Exilanten zu beobachten, die aus politischen Gründen nach Lateinamerika gelangt waren. Umgekehrt wurde der Subkontinent nach 1945 zum Fluchtort und Versteck für viele Nationalsozialisten, die sich so, oft unter falschem Namen, der Ahndung ihrer Verbrechen entziehen wollten. Mit Hilfe von Gesinnungsfreunden durften sie dabei rechnen, denn hauptsächlich in Ländern wie Argentinien, Uruguay oder auch Brasilien hatte sich schon zwischen 1933 und 1945 eine problematische Konstellation herausgebildet, insofern die aus Hitlerdeutschland vor rassistischer Diskriminierung und Verfolgung geflüchteten Juden hier auf Angehörige deutscher Kolonien trafen, die sich mit dem Nationalsozialismus identifizierten. Als Buchhändler z. B. konnten sie daher nur für die zahlenmäßig begrenzte jüdische Emigration tätig werden – oder sich möglichst rasch auf die Bedürfnisse der nativen Einwohner einstellen. Das ist auch vielen gelungen, nicht nur in Buenos Aires oder in Rio de Janeiro, sondern auch in zahlreichen weiteren Ländern und Städten Lateinamerikas. Als limitierender Faktor gilt es allerdings zu bedenken, dass es auf dem Subkontinent Länder gab, in denen mehr als 50 % der Bevölkerung Analphabeten waren. Das bei weitem wichtigste Asylland Lateinamerikas, Argentinien, hatte nach einem seit Ende des 19. Jahrhunderts andauernden wirtschaftlichen Aufschwung in den 1930er und 1940er Jahren ein Lebensstandard erreicht, der »zu den höchsten weltweit« gehörte und »deutlich über dem der Länder Südeuropas und mit Abstand über dem der näheren oder entfernteren lateinamerikanischen Nachbarländer« lag.144 Die Exilanten fanden hier also in jeder Hinsicht – nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell – wesentlich günstigere Bedingungen vor als in den anderen Ländern. Das galt allerdings nicht für die politische Situation; das von der konservativen Partei beherrschte Land war allenfalls formal eine Demokratie, und die lange Zeit unproblematischen Einreisebestimmungen wurden nach Anschwellen des Flüchtlingsstromes 1938 /1939 vom Regime bis hin zur weitgehenden Schließung der Grenzen verschärft. Bis dahin hatte Argentinien aber, bezogen auf die Bevölkerungszahl, pro Kopf mehr Asylsuchende (insgesamt 35.000) aufgenommen als jedes andere Land der Welt (mit Ausnahme von Palästina); nicht wenige von ihnen waren illegal eingereist. Jedenfalls: Die deutsche Emigration wusste die guten Rahmenbedingungen zu nützen, was sowohl in einer großen Zahl von Firmengründungen wie auch in einem regen Kulturleben seinen Niederschlag fand. Und obwohl die
143 Vgl. u. a. Maas: Deutsche Exilpresse in Lateinamerika; Kießling: Exil in Lateinamerika. 144 Spitta: Argentinien.
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politischen Emigranten nur eine kleine Minderheit bildeten, waren sie – auch im Bestreben, der NS-Propaganda der fast vollständig »gleichgeschalteten« deutschen Kolonie in Argentinien entgegenzuwirken – auf publizistischer und vereinsorganisatorischer Ebene sehr aktiv, so etwa im Rahmen der Hilfsorganisation Das Andere Deutschland. Brasilien, das zweitwichtigste Einwanderungsland in Lateinamerika, hat aufgrund einer eher abwehrend ausgerichteten und antisemitisch gefärbten Asylpolitik im fraglichen Zeitraum mit 16.000 bis 17.000 deutschen und österreichischen Flüchtlingen nicht einmal halb so viele wie Argentinien aufgenommen; von April 1941 an war jede Einwanderung grundsätzlich verboten.145 Von Präsident Gétulio Vargas autoritär regiert, wurde 1938 Ausländern jede politische Betätigung strikt untersagt, was hauptsächlich auf die NSDAP-Umtriebe unter den deutschstämmigen Bewohnern zielte, in gleicher Weise aber auch die Hitler-Emigranten traf. Das Erstarken nationalistischer Tendenzen führte u. a. 1941 zum Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit, von dem alle deutschsprachigen Presseerzeugnisse und Zeitungsverlage betroffen waren. Zentren bildeten sich in der Hauptstadt Rio de Janeiro, aber auch in Porto Alegre und ganz besonders in São Paulo, das in klimatischer Hinsicht den Mitteleuropäern entgegenkam. Dort wurden von Exilierten bis 1940 187 Betriebe gegründet: Handwerksbetriebe, Gaststätten und Pensionen, aber auch Buchhandlungen. Schwieriger war die Lage für Angehörige akademischer Berufe; sie bekamen zumeist keine entsprechende Zulassung; Wissenschaftler konnten dagegen auf Betätigungsmöglichkeiten an den Universitäten hoffen. Schriftsteller kamen nur in sehr beschränkter Zahl ins Land,146 was auch wenig günstige Voraussetzungen für die Gründung von Buchverlagen bot. Im Einwanderungsland Chile waren nach 1933 rund 13.000 Flüchtlinge angekommen, wobei bis Herbst 1938 die Asylgesetzgebung mehrfach verschärft, danach aber, bedingt durch einen Wechsel von Regierung und Präsident, die Praxis der Asylgewährung deutlich liberaler gehandhabt wurde. Die exilpolitischen Aktivitäten waren nicht besonders ausgeprägt, auch wenn es zur Gründung verschiedener Vereinigungen kam. In Presse und Rundfunk suchten die Exilanten der Propaganda der NSDAP-Landesgruppe entgegenzutreten. Umgekehrt sah die Deutsche Botschaft, wie in manchen anderen Ländern, auch in Chile »die ›Abwehr antinazistischer Propaganda‹ und die ›Emigrantenobservation‹ als ihre Hauptaufgabe.«147 Hervorzuheben ist das Erscheinen der Zeitschrift Deutsche Blätter in Santiago de Chile (ab 1943), die sich rasch zu einem der profiliertesten Organe des lateinamerikanischen Exils entwickelte. Unter den südamerikanischen Zufluchtsländern nimmt Bolivien unter mehreren Gesichtspunkten eine Sonderstellung ein: Der Andenstaat war der ärmste von allen, die extreme Höhenlage namentlich seiner Hauptstadt La Paz war für viele Europäer gesundheitlich problematisch, und das Land hat pro Kopf die verhältnismäßig meisten jüdischen Emigranten aufgenommen; insgesamt waren rund 7.000 Flüchtlinge dorthin
145 Vgl. Furtado-Kestler: Brasilien. Vgl. ferner Furtado-Kestler: Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien. Vgl. auch Mertin: Deutschsprachige Exilschriftsteller in Brasilien nach 1933. 146 Der in Brasilien gefeierte Stefan Zweig, der ein Dauervisum besaß und von 1940 bis zu seinem Selbstmord im Februar 1942 in Petrópolis gelebt hat, repräsentiert einen Sonderfall. 147 Wojak: Chile. Vgl. auch Wojak: Exil in Chile.
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gelangt.148 Die stärksten Einwanderungswellen fielen in eine Zeit, als Gérman Busch, der Sohn eines deutschen Arztes, das Land als Präsident diktatorisch regierte; er hatte im Juni 1938 ein Dekret unterzeichnet, das die Einreise und Niederlassung von Juden ausdrücklich genehmigte. Nach seinem Tod im August 1939 (und nur noch bis April 1940) durften ausschließlich Landwirte oder »capitalistas« mit einem Vermögen von mindestens 1.250 Dollar einreisen; allerdings war auch hier Bestechung oft das Mittel der Wahl, der Handel mit Visa blühte. In Bolivien gab es schon seit längerem eine einflussreiche deutsche Kolonie, die aber nur zu einem kleinen Teil mit dem Nationalsozialismus sympathisierte. Für die Hitler-Emigranten zählte das Land in keiner Weise zu den Wunschzielen, aber wer entschied, sich hier – meist in La Paz oder in der zweitgrößten Stadt Cochabamba – festzusetzen, fand doch berufliche Möglichkeiten. Zudem entwickelte sich, nicht nur in den deutschjüdischen Gemeinden und den Exilorganisationen (Federación de Austriacos Libres149 ), ein reges Kulturleben. In Ecuador haben nach 1933 nur ca. 3.500 bis 4.000 Vertriebene Zuflucht gefunden, eine verhältnismäßig geringe Zahl.150 Ein Teil davon siedelte sich in Guayaquil am Pazifik an, der größten Stadt des Landes mit tropischem Klima, ein anderer Teil zog es vor, in der hoch gelegenen Hauptstadt Quito oder in Kleinstädten in den Anden zu leben. Den Ankommenden wurde je Familie ein »Vorzeigegeld« von 1.000, später 400 Dollar ausbezahlt, was das Fußfassen in der Gesellschaft erleichterte oder sogar eine Geschäftsgründung ermöglichte. Die asylrechtlich geforderte Betätigung in Landwirtschaft oder Industrie wurde nicht streng überprüft, ein Umstand, der in der Bevölkerung fremdenfeindliche und auch antisemitische Ressentiments aufleben ließ. Anlaufpunkt für die Neuankömmlinge waren jüdische Gemeinden und Organisationen, die aber erst 1937 / 1938 entstanden, wie die von Julius Rosenstock gegründete Asociación de Beneficencia Israelita in Quito; politische Vereinigungen, in denen es die üblichen Richtungskämpfe gab, spielten eine vergleichsweise geringere Rolle. Bedeutung gewannen die nichtjüdischen Vereinigungen vor allem als Plattform für Geselligkeit und kulturelle Veranstaltungen; beachtlich waren die Beiträge der Emigranten zu (Volks-)Kunst und Kunsthandwerk, Musik, Theater, Architektur, Publizistik und nicht zuletzt zu Verlagswesen und Buchhandel. Mexiko unterschied sich als Asylland von allen anderen lateinamerikanischen Ländern durch eine vorbehaltslose, ja freundliche Aufnahme politischer Emigranten.151 Dies galt zunächst für alle, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft hatten, für Spanier ebenso wie für die Angehörigen der Internationalen Brigaden, diese Asylpraxis ermöglichte aber auch allen politischen Hitlerflüchtlingen die ungehinderte Einreise in das Land. Auf diese Weise fanden dort auch jene deutschen Kommunisten und Linkssozialisten Zuflucht, die von anderen Ländern, vor allem den USA, ausgesperrt worden waren. Dementsprechend gab es in Mexiko aus dem KP-Umkreis auch
148 Wojak: Bolivien; sowie Blaschitz: Bolivien; Seelisch: Jüdische Emigration nach Bolivien Ende der dreißiger Jahre. 149 Vgl. Zwerger: »Eine kleine Gruppe Entschlossener …«. 150 Vgl. Kreuter: Ecuador; sowie Kreuter: Wo liegt Ecuador? 151 Pohle: Mexiko; sowie ausführlicher: Pohle: Das mexikanische Exil; ferner Kießling: Alemania Libre in Mexiko (z. T. überholt, aber mit aufschlussreichem Quellenmaterial).
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eine bedeutende Schriftstellerkolonie, die sehr aktiv und gut organisiert war und der neben Anna Seghers und Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn und Bodo Uhse auch publizistisch tätige Parteifunktionäre wie Alexander Abusch, Paul Merker oder von österreichischer Seite Bruno Frei angehörten. Dazu kamen noch zahlreiche weitere schriftstellerische Exponenten des linken politischen Spektrums, auch Renegaten wie Gustav Regler. Es bildeten sich auf dieser Grundlage mehrere Vereinigungen heraus, wie 1938 die Liga Pro Cultura Alemana en Méxiko, die als Plattform der Anti-Hitler-Propaganda regierungsseitig Unterstützung fand. Allerdings entstanden in ihr bald innere Turbulenzen und Konflikte, ausgelöst durch den Hitler-Stalin-Pakt. Erst mit dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion waren wieder die Voraussetzungen zu politischer Aktion geschaffen. Im November 1941 entstand unter kommunistischer Patronanz die Zeitschrift Freies Deutschland, die bis Mitte 1946 in einer Auflage von 4.000 Exemplaren internationale Verbreitung fand; wenig später, Anfang 1942, folgte die Gründung der Bewegung Freies Deutschland, die den bündnispolitischen Strategien entsprechend einen überparteilichen Vertretungsanspruch erhob, aber ebenfalls klar kommunistisch beherrscht war. Sie war Basis für höchst beachtliche kulturelle Aktivitäten, zusammen mit dem im November 1941 entstandenen Heinrich-Heine-Club, der sich in Mexico City zum Zentrum eines dichten literarischen Lebens entwickelte, an dem auch nichtkommunistische Schriftsteller teilnahmen. Sein Programm ähnelte jenem des Pariser SDS im Exil und wurde zum Teil auch von ehemaligen SDS-Funktionären getragen: Anna Seghers152 war Präsidentin, Egon Erwin Kisch einer der Vizepräsidenten. Bis zu seiner Auflösung Anfang 1946 wurden im Rahmen des Heinrich-Heine-Clubs 68 Veranstaltungen – Autorenabende, Vorträge über Literatur, wissenschaftliche und politische Themen, Musikabende, Filmvorführungen – abgehalten.153 In diesem Umfeld entstand auch der Verlag El Libro Libre, der bedeutendste der letzten Exiljahre. Ein emigrantenfreundlicher Präsident sorgte dafür, dass diese Organisationen und auch der Verlag ihre Ziele mit staatlichem Rückenwind verfolgen konnten. Der La Plata-Staat Uruguay hatte in den 1930er Jahren rund drei Millionen Einwohner und mit 30.000 Juden den verhältnismäßig größten Anteil jüdischer Bevölkerung in Lateinamerika; er galt auch als »Einwanderungsparadies«.154 In der Tat konnte offiziell jeder einreisen, der einen Arbeitsvertrag oder 400 US-Dollar vorweisen konnte, allerdings wurde die Asylgesetzgebung unter dem Druck konservativer Kräfte laufend verschärft und die Einreisegewährung mit immer größeren Schikanen verbunden, z. B. mit Referenzen über die politische Einstellung oder gar mit der Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses der Geheimen Staatspolizei. Im Gefolge einer antisemitischen Kampagne wurden die Einreisebedingungen so verschärft, dass de jure eine Einwanderersperre bestand; allerdings kam es, u. a. durch Behördentoleranz und Verkauf von Touristenund Transitvisa de facto doch weiterhin zu Einreisen. Die Auswertung der Schiffslisten ergab, dass zwischen 1936 und 1940 /1941 rund 6.800 Emigranten in Montevideo anka-
152 Vgl. Maier-Katkin: »Dem verbotenen Geist ein Zentrum schaffen«. 153 Vgl. Kloyber: Der Heinrich-Heine-Club und der literarische Salon der Wiener Irma und Ernst Römer. 154 Vgl. Wojak: Uruguay; ferner Fröschle / Hoyer: Die Deutschen in Uruguay; Neumann: Uruguay; Wegner: Deutschsprachiges Exil in Uruguay 1933‒1945.
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men und bis 1944 weitere 43 Schiffe aus Europa, sodass von einer Gesamtzahl von 7.000 bis 7.500 eingewanderten Flüchtlingen ausgegangen werden kann. Diese fanden, wenn sie sich an die Sitten des Gastlandes akkommodierten,155 günstige Bedingungen für die gesellschaftliche Integration und auch für Geschäftsgründungen vor – die Immigranten erwiesen sich letztlich als ein Wirtschaftsmotor. Ein Problem ergab sich, auch aus Regierungssicht, aus den Aktivitäten der Auslandsorganisation der NSDAP, die Uruguay sogar zum Ausgangspunkt von nationalsozialistischen Eroberungsplänen in Lateinamerika machen wollte. Nach Festnahmen führender Parteileute löste sich aber die NSDA-AO auf. Die von politischen Exilgruppierungen gegründeten Organisationen suchten u. a. mit Zeitschriften (u. a. Deutsche Einheit gegen den Faschismus, Zs. des Freien Deutschen Klubs, ab 1939; Das Freie Wort, ab 1941) eine Gegenfront gegen die nationalsozialistischen Umtriebe aufzubauen, es kam hier aber zu den auch aus anderen Ländern bekannten Konflikten und Konkurrenzverhältnissen zwischen den Kommunisten und anderen linksgerichteten Gruppen. Nach Auflösung des Freien Deutschen Klubs 1943 war das Deutsche Antifaschistische Komitee die wichtigste Exilorganisation in Uruguay, fiel aber 1945 aufgrund der Uneinigkeit über die Zukunft Deutschlands auseinander. Keiner politischen Richtung gehörte der von Hermann P. Gebhardt 1938 gegründete Rundfunksender La Voz del Dia an, eine »deutsche demokratische Rundfunkstunde«, die gleichsam die Funktion eines Nachrichtenorgans für das deutschsprachige Exil in Uruguay übernahm. La Voz del Dia sendete bis 1990.
Australien und Shanghai Vereinzelt schon seit 1933, um ein Vielfaches verstärkt aber nach Kriegsbeginn sind Exilanten in fernen Kontinenten und sogar in entlegensten Winkeln dieser Erde gestrandet, in Australien (nur ca. 7.000)156 und Neuseeland (bis 1936 38 Juden, bis Kriegsbeginn 1.100)157 ebenso wie auf dem indischen Subkontinent (rund 1.000)158 oder in ostasiatischen und afrikanischen Zufluchtsorten. Jedoch haben sie dort in aller Regel keine Tätigkeit entfaltet, die aus buchhandelsgeschichtlicher Sicht als relevant angesehen werden könnte, weshalb auf eine Vorstellung dieser Länder und Regionen verzichtet wird. Am ehesten von Interesse wäre Südafrika,159 auf diesem Kontinent das Hauptfluchtziel deutscher Exilanten (bis 1936 4.000, bis 1945 nur noch weitere 1.500). Shanghai war der einzige Ort, der bis Dezember 1941 noch visumfrei erreichbar und daher für viele die letzte Rettung war, in Ostasien der einzige Ort auch, »der aufgrund der zahlreichen Flüchtlinge und der von ihnen geschaffenen Infrastrukturen in Form von Schulen, Clubs, Kaffehäusern, Zeitungen und Zeitschriften, religiösen, sozialen und kulturellen Einrich-
155 Die deutsch-jüdische Gemeinde veröffentlichte für ihre Mitglieder entsprechende Empfehlungen: »Man gehe nicht in großen Gruppen zusammen spazieren, Frauen rauchen nicht in der Öffentlichkeit und man spreche in der Öffentlichkeit nur in der Landessprache.« Vgl. Wojak: Uruguay, Sp. 439. 156 Kwiet: Australien. 157 Kwiet: Neuseeland. 158 Voigt, Johannes H.: Indien. 159 Wojak: Südafrika; siehe auch Vormeier / von zur Mühlen: Afrika.
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tungen Bedeutung erlangte«.160 Die Zahl der deutschsprachigen, ganz überwiegend jüdischen Emigranten, die sich während des Weltkriegs in Shanghai aufgehalten haben, wird auf 18.000 bis 20.000 geschätzt. Die Lebensumstände dort waren allerdings für die meisten höchst prekäre, auch blieb die Stadt nicht von den Auswirkungen des pazifischen Krieges verschont; der von den Emigranten hauptsächlich besiedelte Stadtteil Hongkew wurde bei der Einnahme durch die Japaner Ende 1941 schwer beschädigt. In den Jahren bis 1941 allerdings »verfügte Shanghai über das dichteste Netz kultureller Institutionen im Exil«.161 Unter anderem entstand ein reges Bühnenleben mit dem organisatorischen Zusammenschluss der European Jewish Artist Society (EJAS).162 Auch eine buchhändlerische Szene hat sich dort entwickelt, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird.163 Orientiert man sich nur am jeweils letzten Asylland, das für viele zur neuen Heimat geworden ist, so ergibt sich für die vertriebenen Verleger, Buchhändler und Antiquare folgendes Bild: Etwas mehr als ein Drittel ist früher oder später in den USA gelandet, mehr als ein Viertel in Großbritannien. An dritter Stelle, mit 10 %, liegt Palästina, dem aber aufgrund der zionistischen Einwanderungspolitik als Asylland von vornherein ein besonderer Status zukommt. Es folgen Lateinamerika in seiner Gesamtheit, die Niederlande und die Schweiz und dann erst Frankreich, das für viele zwar ein erstes Fluchtziel gewesen war, im Zuge der politischen Entwicklung allerdings zum Durchgangsland wurde, mit Marseille als Zentrum der neuerlichen Fluchtbemühungen. Skandinavien und die Sowjetunion sind in einer solchen Statistik nur mit marginalen Ziffern vertreten. Das Ergebnis erweist die herausragende Bedeutung der Vereinigten Staaten und auch Englands für die buchhändlerische Emigration und deckt sich übrigens in weiten Teilen mit den Ziffern, die für die Wissenschaftsemigration erarbeitet worden sind.
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Von zur Mühlen: Ostasien, Sp. 338. Von zur Mühlen, Sp. 342. Von zur Mühlen, Sp. 341. Siehe im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel den Abschnitt Shanghai.
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Exilbuchhandel und Drittes Reich
Der Exilbuchhandel stand in all seinen Facetten – Exilverlagen, Exilbuchhandlungen, Exilpublikationen, kulturpolitischen Organisationen etc. – von Anfang an unter der Beobachtung des Dritten Reiches, insbesondere dort, wo er sich in den Dienst einer Aufklärung über die wahre Natur des Nationalsozialismus stellte und eine publizistische Gegenöffentlichkeit formierte, die den neuen Machthabern überaus unangenehm war. In einer von den Wechselfällen der weltpolitischen Entwicklungen immer wieder heftig tangierten Auseinandersetzung suchte er als Vertretung des »anderen Deutschland« der Weltöffentlichkeit den Zivilisationsbruch im »gleichgeschalteten« Kultur- und Wirtschaftsleben NS-Deutschlands vor Augen zu führen und war daher immer wieder Behinderungsversuchen, aber auch wütenden Attacken des Regimes und seiner Behördenapparate ausgesetzt.
Abwehrmethoden des NS-Regimes: Propaganda und Überwachung Der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und der Auflösung des Reichstags folgten sogleich Maßnahmen zur Errichtung des totalitären nationalsozialistischen Regimes. Mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar, die bis zum Ende des Dritten Reiches galt, wurden wesentliche demokratische Grundprinzipien wie die Freiheit der Person, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Damit nahm auch die Beobachtung und Bekämpfung der deutschen Exilanten ihren Anfang. Um die von ihnen unternommenen Versuche, der Welt das wahre Gesicht des Nationalsozialismus zu zeigen, in ihrer Wirkung möglichst zu neutralisieren, wurde die gesamte Exilpublizistik als Hetze oder als »jüdische Greuelpropaganda« diffamiert. Diese Strategie ließe sich mit einer Vielzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln belegen. Bereits im März 1933 sah sich die Reichsregierung veranlasst, im Völkischen Beobachter Stellung zu nehmen: Amtlich wird mitgeteilt: In einem Teil der ausländischen Presse werden die unsinnigsten, von angeblichen Flüchtlingen stammenden Gerüchte aus Deutschland veröffentlicht. Danach sollen u. a. Verhaftete in grausamer Weise mißhandelt und insbesondere auch Ausländer vielfach tätlich belästigt werden. Es liegt auf der Hand, daß diese Gerüchte von Feinden der nationalen Regierung in böswilliger Absicht verbreitet werden, um in Ermangelung anderer Mittel durch eine wohlorganisierte Greuelpropaganda das Ansehen und die Autorität der Regierung zu untergraben.1
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Völkischer Beobachter vom 14. März 1933, hier zit. n. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933‒1939, S. 10. – Neben dem Völkischen Beobachter hat sich immer wieder auch die Gauzeitung der Berliner NSDAP Der Angriff mit Hetzartikeln gegen die Emigration hervorgetan und dabei auch auf Ergebnisse der Emigrantenobservierung Bezug genommen. Die von Bruno Frei 1933 mitbegründete und 1935‒1936 in Prag redigierte Exilzeitschrift Der Gegenangriff sollte eine Antwort auf die Attacken des Angriffs sein.
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In ähnlicher Weise warnte Außenminister Neurath davor, »den Lügenberichten deutscher Emigranten das Ohr zu leihen«, und Finanzminister Schwerin von Krosigk wandte sich in einem offenen Brief an das englische Wirtschaftsblatt Economist, weil dieses in einer Besprechung des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror die »einseitige Darstellung« kritiklos übernommen und so an der Hetze gegen Deutschland teilgenommen habe.2 In die gleiche Kerbe schlägt auch ein Rundschreiben der (geheimen) Bayerischen Politischen Polizei vom März 1935: »Es unterliegt keinem Zweifel, daß die deutschen Emigranten am allerwenigsten zur Hebung des Ansehens des Deutschen Reiches im Auslande beigetragen haben. Vielmehr sind sie es gerade gewesen, denen angesichts der von ihnen geförderten Boykott- und Greuelpropaganda die Mißkreditierung Deutschlands in der Welt zu einem beträchtlichen Teil zuzuschreiben ist. Durch ihre Haßgesänge in der Emigrantenpresse haben sie nicht nur deutsche Nationalehre, sondern auch die deutsche Volkswirtschaft erheblich geschädigt.«3 Das Regime und seine Helfer beließen es allerdings nicht dabei, die Aktivitäten der Emigranten auf publizistischer Ebene zu bekämpfen. Die an die Macht gelangten Nationalsozialisten nahmen den Kampf gegen die Emigranten von Anfang an sehr ernst.4 Mit einigem Recht ist es als Ausdruck der »tiefen Unsicherheit des bombastisch und selbstbewußt daherkommenden Nazistaates« bewertet worden,5 dass von der Gestapo in Verbindung mit dem Auswärtigen Amt sehr schnell ein umfassendes Überwachungssystem errichtet worden ist. Die Gestapo wies bereits am 4. Mai 1933 in einem Runderlass alle Länderpolizeistellen an, geheime Emigrantenlisten zu erstellen, denn für eine »wirksame Bekämpfung aller gegen den Bestand und die Sicherheit des Staates gerichteten Angriffe« sei »eine namentliche Erfassung aller derjenigen Personen erforderlich, die seit der nationalen Erhebung des deutschen Volkes ausser Landes gegangen sind und die Vermutung rechtfertigen, dass sie im Auslande staatsfeindliche Bestrebungen verfolgen.«6 Für die systematische Überwachung der Geflüchteten wurden nach weiteren Anweisungen im Februar und November 1934 ein Fragenkatalog und eine »Namenskartothek« angelegt, in der neben Name und Geburtsort auch der »letzte Wohnort im Reiche«, »wann und wohin abgereist«, mithin der aktu-
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Zit. n. Tutas, S. 11. Zit. n. Tutas, S. 14. Grundlegend zu diesem Thema sind die Forschungen von Alexander Stephan, besonders der 2007 erschienene Band mit einer Sammlung einschlägiger Aufsätze: Stephan: Überwacht. Ausgebürgert. Exiliert. Schriftsteller und der Staat. Bielefeld. Darin u. a.: Kein Ort. Nirgends. Die Ausbürgerung und Überwachung deutscher Exilanten durch Behörden des Dritten Reiches, S. 125‒148; Im Visier der Diplomaten. Die Überwachung deutscher Exilanten durch die Botschaft des Dritten Reiches in Paris, S. 149‒158 (auch abgedruckt in: Fluchtziel Paris, S. 181‒189); »Hetz- und Greuelpropaganda«. Die Überwachung der deutschen Exilschriftsteller in Großbritannien durch das Auswärtige Amt, S. 159‒177 (zuvor auch erschienen in: German-Speaking Exiles in Great Britain, S. 23‒40). – Eine gute Zusammenschau der Maßnahmen gibt Fox: Das nationalsozialistische Deutschland und die Emigration nach Großbritannien. Stephan: Im Visier der Diplomaten, S. 151. Geheimes Staatspolizeiamt an alle Staatspolizeistellen vom 4. Mai 1933, zit. n. Stephan: Im Visier der Diplomaten, S. 150.
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elle Aufenthaltsort, und Bemerkungen über »die bisherige politische Betätigung« festgehalten wurden. Im Propagandaministerium wurde Ende 1933 eine Abteilung »Abwehr« eingerichtet, mit der Sonderaufgabe einer »Lügen- und Greuelabwehr«.7 In einem weiteren Schritt wurden auf der Grundlage eines Ausbürgerungsgesetzes, zu dessen Kriterien jede Form von Kritik am Regime aus dem Ausland gehörte, Ausbürgerungslisten angelegt, die sich in allererster Linie gegen Emigranten richteten: Sieben Listen wurden bis 1936 erstellt, 17 Listen im Jahr 1937 und 57 im Jahr 1938. »Bis Februar 1939 waren insgesamt 6.095 Reichsangehörige ausgebürgert, nach dem Stand vom 31. Juli 1939 waren es bereits 10.882, d. h. allein in der Zeit von Februar bis Juli 1939 wurden nahezu 5.000 Aberkennungen der Staatsbürgerschaft ausgesprochen.«8 Eine bis in die Kriegsjahre hinein geführte Kartei der Ausgebürgerten sollte sicherstellen, dass keinem Emigranten bei einer deutschen Behörde der Reisepass verlängert wurde. Die Ausbürgerung hatte durchaus schwerwiegende Folgen – die Betroffenen wurden staatenlos, konnten nur noch unter Schwierigkeiten Schutzrechte beanspruchen und waren der Bürokratie der Asylländer ausgeliefert, zumal sie nach dem Ablaufen ihres Passes kein gültiges Legitimationspapier hatten. Außerdem mussten sie fürchten, dass ihnen bei nächster Gelegenheit der Pass abgenommen würde.9 Auch für diese Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft wurden im Ausland aktiv und systematisch Daten gesammelt: »Das Berliner Auswärtige Amt und die deutschen diplomatischen Missionen im Ausland beteiligten sich dabei, und zwar sowohl direkt wie indirekt, an einer der ruchlosesten Aktionen der nationalsozialistischen Politik gegen die Emigranten: der Überwachung und Verfolgung von Emigranten in den Ländern, in denen diese, halbwegs in Sicherheit, begonnen hatten, sich ein neues Leben aufzubauen.«10 Das Auswärtige Amt fungierte somit als verlängerter Arm des Gestapa.11 Die deutschen Exilanten wurden in den Asylländern von den deutschen Botschaften und Konsu-
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Stephan: Im Visier der Diplomaten, S. 150 f., mit Quellennachweis. Es ging aber auch um die Bekämpfung der vom Ausland aus geleiteten Widerstandsarbeit im Reich: »Für die Gestapo gab es keinen Zweifel daran, daß die Emigration wesentlichen Anteil an der illegalen Tätigkeit im Reich hatte. Die Überwachung und systematische Erfassung der Emigration war als präventiv-polizeiliche Maßnahme notwendige Voraussetzung effektiver Gegnerbekämpfung.« Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933‒1939, S. 68; siehe auch Fox: Das nationalsozialistische Deutschland, S. 30. Fox: Das nationalsozialistische Deutschland, S. 29. Fox weist auch darauf hin, dass Hitler Ende 1935 alle Emigranten in Bausch und Bogen ausbürgern wollte, aber von Reichsinnenminister Frick im Blick auf die Olympischen Spiele davon abgehalten wurde. – Im Pariser Exil wurde eine Kumulation erstellt, die mehr als 5.000 Einzelpersonen umfasste: Gesamtverzeichnis der Ausbürgerungslisten 1933‒1938 nach dem amtlichen Abdruck des ‚Reichsanzeigers‘. Zsgest. und bearb. von Carl Misch. Paris: Verlag der Pariser Tageszeitung 1939. Maßgeblich ist inzwischen aber die bei K. G. Saur 1985‒1988 in drei Bänden erschienene Dokumentation: Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933‒1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen 1933‒1945. Danach wurden bis zum Ende des NSRegimes mehr als 39.000 Personen ausgebürgert. Fox: Das nationalsozialistische Deutschland, S. 31. Fox, S. 29; vgl. hierzu auch Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933‒1939, S. 144 f. Ähnlich Stephan: Im Visier der Diplomaten, S. 152 f. Fox: Das nationalsozialistische Deutschland, S. 37.
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laten meist mittels eines eigens eingestellten Personals und oft über in Emigrantenorganisationen bzw. in deren Versammlungen und Veranstaltungen eingeschleuste Spitzel überwacht. Unter anderem aus Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn und des Bundesarchivs in Koblenz geht hervor, dass namentlich die Tätigkeit exilierter Schriftsteller und Journalisten im Ausland aufmerksam verfolgt worden ist. Mitarbeiter der deutschen Botschaften beobachteten die Veröffentlichungen der Emigranten in Büchern und Zeitschriften und sandten Dossiers sowie Abschriften von »Hetzartikeln« nach Berlin, oder sie schlichen sich als Spitzel in die Kundgebungen und literarischen Veranstaltungen ein, die vom literarischen Exil organisiert wurden. Stephan stellt dazu fest: Die Intensität und der Umfang der bislang von der Exilforschung erst punktuell wahrgenommenen Beschattung der Exilanten durch den deutschen diplomatischen Dienst ist in der Tat überwältigend, selbst wenn man die erhalten gebliebenen Aktenkonvolute nur oberflächlich anblättert. Siebzehn Bände mit weit über 6.000 Dokumenten wurden von Botschaften und Konsulaten in den Jahren nach 1933 allein zu den Themen ›Hetz- und Greuelpropaganda‹ bzw. ›Lügenmeldungen über Mißhandlungen und Inhaftierungen politischer Gegner und über Konzentrationslager‹ produziert. ›Deutsche Emigrantentätigkeit im Ausland‹ ist eine Sammlung von 24 Ordnern mit nahezu 10.000 Aktenstücken überschrieben. Zu Größen des Exils wie den Mitgliedern der Familie Mann und den besonders in England viel beachteten Fällen der KZ-Häftlinge Gerhart Seger und Carl von Ossietzky legte das Auswärtige Amt Sonderakten an, ebenso wie […] zu der seit 1941 im Auftrag des Informationsministeriums in London von Exilanten gemachten Zeitschrift Die Zeitung. Und nur punktuell läßt sich das gigantische, auf Veranlassung von Gestapo und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) bis kurz vor Kriegsende vom Auswärtigen Amt, dem Reichsinnenministerium, dem Finanzamt Berlin-Moabit und anderen Behörden des Dritten Reiches zusammengestellte Material zu den abertausenden, im Falle Englands von Bruno Adler über Walter Bergmann und Peter de Mendelssohn bis zu Stefan Zweig reichenden Ausbürgerungsfällen erfassen.12 Die Emigrantenüberwachung funktionierte somit länder- und sogar kontinenteüberspannend, konzentriert hat sie sich aber nachvollziehbarerweise auf die Hauptschauplätze des politischen und literarischen Exils, zunächst auf Frankreich und später auf Großbritannien. Zu beiden Ländern liegen genauere Studien vor.13 Stephan bringt aus der Exilmetropole Paris eine Fülle von Beispielen der Observierung von Schriftstellern und gibt eine eindringliche Schilderung der dort wie auch an anderen Orten ergriffenen Maßnahmen:
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Stephan: »Hetz- und Greuelpropaganda«, S. 162. – Hier ist – wie bei Stephan – hauptsächlich auf die Arbeiten von Charmian Brinson und Marian Malet zu verweisen: Brinson: The strange Case of Dora Fabian and Mathilde Wurm; Brinson: The Gestapo and the Political Exiles in Britain During the 1930’s; sowie Brinson / Malet: The House at 3 Regent Square. Stephan: Im Visier der Diplomaten; ders.: »Hetz- und Greuelpropaganda«. Zu Großbritannien auch Fox: Das nationalsozialistische Deutschland.
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Spitzel werden in Paris, Prag und anderswo in Ausstellungen der Emigranten geschickt; sogenannte Vertrauenspersonen hören bei Vorträgen und Lesungen mit. Diplomaten sitzen in den Exilzentren und in der Zentrale des Amtes in der Berliner Wilhelmstraße über den Zeitschriften und Büchern der Ausgestoßenen, fassen Zeitungsmeldungen zusammen und übersetzen, was Thomas Mann in den USA in einem Interview gesagt oder sein Bruder Heinrich für eine französische Zeitung geschrieben hat. Und sogar den künstlerischen Arbeiten der Exilanten – Dramen, Gedichte, Romane, Fotomontagen usw. – widmen Geheimpolizisten, Bürokraten und Diplomaten des Dritten Reiches ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit wenn sie, wie etwa im Fall von Arnold Zweig, die ›sittlichen und ethischen Werte deutscher Kultur herabsetzen zugunsten einer volksfremden, jüdischen und von Klassenhass beseelten proletarischen Kultur.‹14 Die Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft in Paris waren auf diese Weise einem besonders hohen Arbeitsdruck ausgesetzt, zumal sie immer wieder auch massiv bei französischen Stellen, z. B. bei der Sûreté Generale oder beim Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, zu intervenieren hatten. Da die schon in der Weimarer Zeit auf ihre Stellen berufenen, oft der alten preußischen Elite entstammenden Diplomaten nur zögerlich bereit waren, den Wünschen und Erwartungen Berlins nachzukommen, wurden sie nicht selten ausgetauscht oder ihnen ein schneidiger Abgesandter an die Seite gestellt, wie in Paris dem Botschafter Johannes Graf Welczek der Scharfmacher Werner Best.15 Über die Verhältnisse in Paris werden in der Erinnerungsliteratur von Emigranten immer wieder sprechende Details berichtet, so etwa von Maximilian Scheer (d. i. Walter Schlieper). Demnach habe ein Günther Freiherr von Dincklage, früherer Presseattaché an der Deutschen Botschaft in Paris, dem Chef der Geheimen Staatspolizei Diehls eine Liste von Emigranten mit genauen Adressen überreicht und sich auch erbötig gemacht, genauere Angaben über die »Hetzarbeit der KPD-Mitglieder im Auslande, besonders Frankreich, zu machen.«16 Aus wieder anderen Quellen geht hervor, dass die Deutsche Botschaft in Paris ins Reich berichten konnte, dass es der exilierte Berliner Anwalt Botho Laserstein war, der das juristische Material für das Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror zusammengestellt hat.17 Auch dies war wohl nur durch konsequente Bespitzelung der Emigrationsaktivitäten möglich. Die Tatsache, dass Willi Münzenberg als ein Hauptgegner des Dritten Reiches betrachtet wurde und er selbst sowie die zahlreichen von ihm in Paris gegründeten gelenkten Organisationen, darunter auch der Carrefour-Verlag, konsequenterweise auch ein Hauptziel der Überwachung gewesen sind, lässt es angebracht erscheinen, über dieses Feld im nachfolgenden Abschnitt ausführlicher zu berichten. In Großbritannien hat der deutsche Botschafter Leopold von Hoesch von London aus schon früh und bis zu seinem Tod 1936 einschlägige Berichte geliefert, obwohl er selbst nicht zu den überzeugten Parteigängern des Nationalsozialismus gezählt haben dürfte.18 Insbesondere den in den ersten Exiljahren erscheinenden dokumentarischen 14 15 16 17 18
Stephan: Im Visier der Diplomaten, S. 150 f. Das Zitat stammt aus einem »Personalbogen« im Bestand Inland II A / B, Ausbürgerungen, Liste 5, Wilhelm Herzog, Arnold Zweig. Stephan, S. 154 f. Scheer: So war es in Paris. Berlin, S. 101. Vgl. Bericht vom 3. November 1933 im IfZ, Fb 226. Stephan: »Hetz- und Greuelpropaganda«, S. 163 f.
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Berichten über deutsche Konzentrationslager wie etwa Gerhart Segers Bericht über seine Flucht aus dem KZ Oranienburg galt das Interesse der Beobachter, da diese Bücher in relativ hohen Auflagen gedruckt und rasch in Übersetzungen verbreitet wurden und z. T. auch durch Vortragstourneen der Autoren und Fortsetzungsabdrucke in Zeitungen ein breites Publikum erreichten.19 Aber es blieb nicht bei vereinzelten Maßnahmen: Offenbar wurden alle Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen in England in einen direkt mit der Gestapo zusammenarbeitenden Spionagering zusammengefasst und in die Emigrantenorganisationen gezielt Spitzel eingeschleust. Namen, Adressen und Berufe der deutschen Flüchtlinge wurden, soweit ermittelt, nach Berlin weitergemeldet.20 So etwa lieferte der Londoner Botschaftsrat Prinz Otto von Bismarck auf Grundlage der Informationen eines Zuträgers aus Emigrantenkreisen (eines ehemaligen Redakteurs des Vorwärts) Berichte über »antideutsche Aktivitäten« des Pazifisten Otto Lehmann-Russbüldt, des Journalisten und Schriftstellers Gerhart Seger, des Sozialwissenschaftlers Franz L. Neumann, der Münzenberg-Lebensgefährtin Babette Gross und noch anderen.21 Ziel war es, die Flüchtlinge selber zu hetzen; zu diesem Zweck wurden manche auch beim Home Office als »unerwünscht« oder als Kriminelle denunziert.22 Auch Ernst Toller wurde bei seinen Vortragsreisen durch England observiert, wiewohl man Anfang 1935 seitens der Deutschen Botschaft in London glaubte feststellen zu können, dass es bereits zu »einer entschiedenen Abschwächung des Interesses für Flüchtlinge aus Deutschland« gekommen sei: »Die Hochflut von Emigrantenbüchern hat erheblich nachgelassen; das Interesse an solchen Veröffentlichungen hat gleichfalls nachgelassen.«23 Das gesamte Ausmaß der Überwachung der politischen Hitler-Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich durch den britischen Geheimdienst MI5 zwischen 1933 und 1950 ist erst durch die Recherchen von Charmian Brinson und Richard Dove offenbar geworden, die – gestützt auf die »personal and organisational files« des MI5, die erst in den letzten Jahren freigegeben worden sind – rekonstruieren konnten, in welcher Weise nicht nur Einzelpersonen (Kommunisten oder solche, die dafür gehalten wurden), ins Visier des Geheimdienstes kamen, sondern auch kulturelle Flüchtlingsorganisationen wie das Austrian Centre oder die Free German League of Culture.24 Teils durch Agenten, teils durch Informanten wurde manches Material zusammengetragen, in nicht wenigen Fällen mit beträchtlichem Aufwand, aber magerem Resultat.
Ein Hauptgegner: Willi Münzenberg Der effektivste und auch gefürchtetste Gegner des Nationalsozialismus in den Reihen der Emigranten war zweifellos Willi Münzenberg*. Seit 1919 KPD-Mitglied, hatte er 19 20 21 22
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Stephan, S. 166 f. Fox: Das nationalsozialistische Deutschland, S. 37. Fox, S. 35. Fox, S. 38. Allerdings fanden diese Interventionen selten Gehör; im Gegenteil wurden einige besonders auffällige linientreue Deutsche wegen ihrer NS-Umtriebe aus Großbritannien ausgewiesen; vgl. Fox, S. 41. Fox, S. 36. Brinson / Dove: A Matter of Intelligence. MI5 and the Surveillance of Anti-Nazi Refugees 1933–1950.
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schon in der Weimarer Republik sich den Ruf eines »roten Medienzars« erworben, weil er in virtuoser Orchestrierung sowohl im Bereich der Massenpresse und des Buchverlags wie auch in Film und Fotografie neue Maßstäbe im propagandistischen Einsatz der Medien setzte. Gestützt auf die Internationale Arbeiterhilfe (IAH), die er 1921 in Lenins Auftrag gegründet hatte, baute er mit Unterstützung der Kommunistischen Internationale ein umfassendes, konzernartig strukturiertes Mediengeflecht auf, an dem der Neue Deutsche Verlag (geleitet ab 1922 /1924 von seiner Lebensgefährtin Babette Gross, ab 1928 auch von Karl Retzlaw), ferner die Verleih-, Vertriebs- und Produktionsgesellschaft Prometheus, die mit der sowjetischen Filmgesellschaft Meschrabpom kooperierte,25 die Buchgemeinschaft Universum-Bücherei sowie mehrere Zeitungen (u. a. seit 1931 die Tageszeitung Berlin am Morgen, ferner Die Welt am Abend oder Der Weg der Frau) und Zeitschriften (u. a. die Arbeiter Illustrierte Zeitung, aber auch die satirische Zeitschrift Eulenspiegel) beteiligt waren.26 Als Leiter dieses Konzerns bewies Münzenberg enormes unternehmerisches Talent, auch beachtlichen Einfallsreichtum als Organisator, er gewann unter Künstlern und Intellektuellen viele Sympathien und war damals schon mehr oder minder der Einzige, der der Propaganda der Rechten (Hugenberg und dem Nationalsozialismus) auf Augenhöhe entgegentreten konnte. Von 1924 bis 1933 war Münzenberg Mitglied des Zentralkomitees der KPD und saß als Abgeordneter im Reichstag, stand aber immer auch in enger Verbindung mit Moskau und der Komintern. Aus parteiinternen Kämpfen konnte er sich weitgehend heraushalten; er legte vielmehr Wert auf Eigenständigkeit, auch in Fragen der Finanzierung seiner Aktivitäten. Nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 musste er als einer der meistgesuchten Kommunisten sofort flüchten und gelangte über das Saargebiet nach Frankreich; bezeichnenderweise stand sein Name auf der ersten Ausbürgerungsliste des deutschen Reiches vom 25. August 1933. Durch Vermittlung von Sympathisanten27 konnte er seinen illegalen Status bald in den eines anerkannten »réfugié« umwandeln und erhielt eine Carte d’Identité.28 Im Pariser Exil sah sich Münzenberg vor die Aufgabe gestellt, den politischen Kampf gegen die neuen Machthaber mit allen Mitteln von außen zu führen, um die westlichen Demokratien über den wahren Charakter des NS-Regimes und die Gefahren, die von ihm ausgingen, aufzuklären. Dabei kam ihm zugute, dass er aufgrund seiner internationalen Verbindungen (die IAH unterhielt inzwischen Sektionen in mehreren Ländern) mit der finanziellen und logistischen Unterstützung durch Partei und vor allem Komintern rechnen konnte; er konnte daher sofort mit seiner Arbeit beginnen. Darüber hinaus hatte er vorsorglich bereits Gelder ins Ausland verbracht bzw. war in der Lage, von geheimen Konten in Deutschland Gelder abzuziehen und nach Frankreich zu trans-
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Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus (1921–1936). Zu Münzenberg als Medienorganisator in der Weimarer Republik siehe auch Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit im Kontext seines Umgangs mit den Medien in der Weimarer Republik und im französischen Exil, bes. S. 158‒168. Vgl. hierzu in Band 2 / 2 dieser Buchhandelsgeschichte den Beitrag von Siegfried Lokatis: Weltanschauungsverlage, S. 111‒138. Zu Münzenbergs Verbindungen zu französischen Persönlichkeiten und Institutionen siehe Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 177‒180. Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie (1991), S. 368.
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ferieren.29 Von diesen Voraussetzungen her gelang es ihm, mindestens in den ersten Jahren nach 1933, in den organisatorischen und publizistischen Aktionen, die gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet waren, die führende Stellung einzunehmen: In den ersten Exiljahren finanziert Münzenberg einen Mikrokosmos von Organisationen, […] dies übrigens, ohne daß die Aufgabenverteilung und die Personalverteilung zwischen den jeweiligen Organisationen klar in Erscheinung treten. Dazu gehören laut einer im französischen Nationalarchiv aufbewahrten, undatierten Aufstellung mit dem Titel: ›Liste des dirigeants des organismes‹ das Internationale Antifaschistische Archiv und ab 1934 die Deutsche Freiheitsbibliothek, das Internationale Befreiungskomitee für Thälmann und alle eingekerkerten Antifaschisten (Thälmannkomitee), die Weltjugendgemeinschaft, die Weltstudentenbewegung für Frieden, Freiheit und Kultur, das Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus und ab 1936 das Rassemblement Universel pour la Paix (Weltfriedensvereinigung).30 Ergänzend dazu sind das Welthilfskomitee für die Opfer des deutschen Faschismus zu nennen31 und noch andere organisatorische Plattformen des antifaschistischen Kampfes, für den er innerhalb der Emigration auch alle nichtkommunistischen Intellektuellen zu gewinnen trachtete, die das große Ziel teilten, die Herrschaft des Nationalsozialismus möglichst bald zu stürzen. Um dem Reich früh eine Niederlage zu bereiten, engagierte sich Münzenberg, entgegen seiner ursprünglich kritischen Einschätzung der Parteilinie, in der Propaganda zur Saarabstimmung. Diese endete allerdings mit einer schweren Niederlage der linken Kräfte und einem überdeutlichen Sieg Hitlerdeutschlands.32 Der Tätigkeitsbereich Münzenbergs erweiterte sich ab dem Jahr 1935 noch mehr, als er auf dem VII. Weltkongress der Komintern von Dimitroff den Auftrag erhielt, sich an die Spitze der Volksfront-Bewegung zu stellen, die sich im Juli 1935 in Paris mit dem »(Vorläufigen) Ausschuss zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront« gebildet hatte.33 Die Aufgabe war, im Rahmen einer »Bündnispolitik« eng mit nichtkommunisti-
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Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 363 und 371. Roussel: Zu Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 183. – Münzenberg selbst dürfte anlässlich der Rückgabe seiner Ämter Ende 1936 / Anfang 1937 diese Liste erstellt haben; Roussel zufolge könnte er dabei, in Rechtfertigungsabsicht, seine Rolle überzeichnet haben, zumal er zusätzlich noch die Leitung zweier Bulletins für sich in Anspruch nahm, der Nouvelles d’Allemagne (Deutsche Informationen) der Deutschen Volksfront und des Organs des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus Clarté. Das Welthilfskomitee war mit seinen nationalen Sektionen und Unterorganisationen als überparteiliche Plattform konzipiert und stand unter der Präsidentschaft Lord Marleys (auch »Marley-Komitee«); der französischen Sektion stand Graf Karolyi vor. Sekretär und de facto politischer Leiter des Komitees war ein Vertrauter Münzenbergs Otto Katz (Ps. André Simone). Das zentrale Büro in Paris diente Münzenberg als sein Hauptquartier. Überhaupt kann das Komitee als eine Nachfolgeorganisation der Internationalen Arbeiterhilfe verstanden werden, die vor 1933 eine wichtige Operationsbasis für ihn gewesen war. Vgl. Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, S. 42 (zum Exil ab S. 43). Vgl. hierzu Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932–1939, bes. Bd. 2: Geschichte des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront. Sekretär des Ausschusses war
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schen Politikern und Journalisten sowie Intellektuellen auch des bürgerlich-demokratischen Lagers zusammenzuarbeiten.34 Dafür war nun Münzenberg geradezu prädestiniert, denn er galt ja, schon seit der Weimarer Zeit, als Erfinder der »fellow travellers«-Strategie: Bekannte Künstler und Intellektuelle wurden zur Teilnahme an politischen Kampagnen eingeladen, »aus der Nennung ihrer Namen und der Nutzung ihres Rufes wird symbolische Macht zur Verstärkung der Kampagne bezogen. […] Diese ›großen Namen‹ werden dann gezielt zu neuen Unterstützungsäußerungen gebeten – oder einfach benutzt: Es ist bekannt, daß sich Münzenberg und seine Mitarbeiter erlaubten, über die Namen von Persönlichkeiten, die bereits fünfmal Unterstützungstexte unterzeichnet hatten, frei zu verfügen.«35 Der instrumentalisierende, manipulative Charakter dieser Einbeziehung von Künstlern und Linksintellektuellen in die Kampagnen blieb den Betroffenen zumeist verborgen. Diese Taktik wurde von Münzenberg bereits betrieben, als sie noch als klare Abweichung von der vorgegebenen politischen Linie gelten musste.36 Genau diese eigenständige Politik der Öffnung gegenüber allen, die in ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus als Bündnispartner zu gewinnen waren, setzte Münzenberg im Exil fort. Münzenberg klinkte sich in den bereits angelaufenen Volksfront-Prozess ein und bildete einen eigenen Kreis, der dann nach einer Zusammenkunft im Hotel Lutetia mit dem Vorbereitenden Ausschuss zu einem Exekutivkomittee bzw. dem »Lutetia-Comité« fusionierte, dem Heinrich Mann vorstand und in dem u. a. Georg Bernhard, Leopold Schwarzschild, Max Braun, Hans Schulz, Else Lange, Otto Katz, Gustav Regler und Arthur Koestler zusammenarbeiteten. Gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Max Braun plante Münzenberg ein Antifaschistisches Informationsbüro; daraus entwickelte sich die Herausgabe der Deutschen Informationen. In der Nachfolge des »Lutetia-Comités« entstand 1936 ein erneut von Heinrich Mann präsidierter »Volksfront-Ausschuss«, in welchem sich allerdings sehr bald Konflikte zeigten, erst recht, als die Sowjetunion ihre Linie stillschweigend wieder änderte und die KP-Vertreter hinter den Kulissen eine unaufrichtige, nach Dominanz strebende Parteitaktik betrieben. Münzenberg wollte bei diesen Manövern nicht mitmachen und arbeitete weiter mit sozialdemokratischen und anderen nichtkommunistischen Exilgruppen zusammen.37 Dies lief den Plänen der stalinistischen KPD und der Komintern zuwider, die auf einer kommunistischen Führungsrolle in der Volksfrontbewegung beharrten; Münzenberg wurde daher im Mai 1937 im Ausschuss durch Walter Ulbricht ersetzt, der ihn des Trotzkismus bezichtigte – ein gefährlicher Vorwurf. Über die Aktivitäten, die Münzenberg im Exil als Buchverleger setzte, wird an anderer Stelle zu berichten sein.38 Vorwegnehmend sei auf den gewaltigen Aufmerksamkeitserfolg hingewiesen, den er mit dem unter seiner Anleitung zusammengestellten Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror39 und mehr noch mit dem von ihm initiierten, im August / September 1933 in London unter Beteiligung renommierter
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Rudolf Leonhard, Vorsitzender des SDS im Exil, der Schriftstellervereinigung, die diese Volksfront-Politik gleichsam vorweggenommen hatte. Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 180. Roussel, S. 165. Roussel, S. 167. Vgl. Schlie: Politische und publizistische Aktionen Willi Münzenbergs (1936 bis 1940), S. 41. Siehe bes. das Kap. 5.2.2 Politische Verlage in diesem Band. Online zugänglich über archive.org.
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(nicht-kommunistischer) internationaler Rechtsanwälte abgehaltenen Gegenprozess zum Leipziger Reichstagsbrandprozess verzeichnen konnte. War schon das Braunbuch darauf angelegt, eine nationalsozialistische Urheberschaft des Brandes zu suggerieren und die gegen den im brennenden Reichstag festgenommenen, 24-jährigen Holländer Marinus van der Lubbe sowie gegen den deutschen Kommunisten Ernst Torgler und drei Bulgaren, unter ihnen Georgi Dimitroff, erhobene Anklage als absurd zurückzuweisen, so geriet der Gegenprozess zur eindeutigen Niederlage für NS-Deutschland. Das unabhängige Tribunal bestätigte am 20. September 1933, am Vortag des Prozessbeginns in Leipzig, in seinem Urteilsspruch nicht nur die Unschuld der Angeklagten, sondern letztlich alle Thesen des Braunbuchs und hielt es, wie dieses, für wahrscheinlich, dass der Brand von den Nazis, die davon politisch profitierten, gelegt worden war, möglicherweise unter Benutzung des im Braunbuch dargestellten unterirdischen Ganges, der vom Gebäude des Reichstagspräsidenten (das war Hermann Göring) zum Reichstag führte.40 Die Weltöffentlichkeit war mobilisiert, und so war dem Reichsgericht der Weg zu einem Schauprozess mit eindeutigem Ausgang abgeschnitten; unter internationaler Beobachtung stehend, war man um den Schein von Rechtsstaatlichkeit bemüht. Im Rahmen der drei Monate andauernden Verhandlungen gelang es dem Gericht nicht, die im Braunbuch aufgestellten Behauptungen zu widerlegen, im Gegenteil: Das mutige und überaus intelligente Auftreten Georgi Dimitroffs führte zu einer Umkehrung der Anklagesituation, bis schließlich das Gericht sich gezwungen sah, Dimitroff und seine bulgarischen Genossen freizusprechen, weil keine Verbindung zu Tat oder Täter nachzuweisen war.41 Torgler wurde nach »Schutzhaft« freigelassen; der im Prozess geistig verwirrt auftretende Hauptangeklagte Marinus van der Lubbe allerdings als schuldig erkannt und am 10. Januar 1934 hingerichtet, vielleicht um Spuren zu verwischen, die doch noch eindeutig auf die NS-Täterschaft hingeführt hätten.42 Der Ausgang des Reichstagsbrandprozesses bedeutete letztlich einen Triumph, nicht nur für Münzenberg und sein Braunbuch-Team;43 es blieb allerdings der einzige große Sieg der Emigration über Hitlerdeutschland – abgesehen vielleicht von der Freilassung des Publizisten Berthold Jacob.44 In der damaligen Situation aber erhielt die von Mün-
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Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, S. 50. Sie wurden in die UdSSR ausgewiesen; Dimitroff fungierte 1935 bis 1942 als Generalsekretär der Komintern. Die Forschungskontroverse um die Frage von Alleintäterschaft oder Mehrtäterschaft unter Beteiligung von NS-Hintermännern, die seit den 1960er Jahren geführt wird, ist bislang zu keinen eindeutigen Ergebnissen gelangt; vgl. zuletzt Fischler: Zum Zeitablauf der Reichstagsbrandstiftung; sowie Kellerhoff: Der Reichstagsbrand – Die Karriere eines Kriminalfalls. Vgl. Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs S. 55 (Fn. 20): »Zu seinen engsten Mitarbeitern zählten Otto Katz, Hans Schulz, Else Lange sowie kommunistische Funktionäre oder Verlagsangestellte wie Kurt Sauerland, Redakteur der Zeitschrift ›Der rote Aufbau‹, Bruno Frei, Alexander Abusch und kommunistische Schriftsteller wie Regler, Koestler, Hans Siemsen.« Zu Berthold Jacob siehe weiter unten. – Zu den Erfolgen der Emigrantenpropaganda vgl. die Einschätzungen von Palmier: Weimar in Exile. The Antifascist Emigration in Europe and America, S. 307‒323 (die umfangreiche Studie ist in frz. Sprache 1987 zuerst erschienen und 2006 in englischer Übersetzung).
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zenberg aufgebaute Gegenpropaganda großen Auftrieb, wie sich allein schon im Verlagsprogramm des von ihm gelenkten Carrefour-Verlages zeigt. Es folgte nicht nur ein Braunbuch II, sondern eine ganze Serie von Büchern, mit denen der in Deutschland wütende Terror und auch die politischen und militärischen Absichten Hitlerdeutschlands enthüllt werden sollten. Der Fokus verschob sich immer mehr in Richtung einer Aufdeckung der vom Reich heimlich getroffenen Kriegsvorbereitungen, zu denen auch die Tätigkeit der Auslandsspione gehörte. Unter diesen Bemühungen, die Weltöffentlichkeit auf die friedensbedrohenden Umtriebe des Reiches aufmerksam machen, nimmt die in Münzenbergs Éditions du Carrefour schon relativ früh, 1935 erschienene Dokumentation Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Ausland arbeiten und den Krieg vorbereiten eine besondere Stellung ein. Das demonstrativ mit einem Vorwort des Mitglieds des englischen Oberhauses Lord Listowel versehene Enthüllungsbuch wollte den Umfang der Bespitzelung sichtbar machen und enthielt allein für Paris eine Liste von fast 600 »Propagandisten, Agenten, Spitzeln und Spionen«. Das anonym erschienene Werk, erarbeitet möglicherweise mit Unterstützung der Pariser Münzenberg-Mannschaft, erregte denn auch einiges Aufsehen, zumal davon auch Übersetzungen erschienen. Die darin enthaltenen Informationen über die Nazi-Netzwerke der Auslandsspionage sowie der Emigrantenbeobachtung und -unterwanderung waren so konkret, dass es z. B. in der ČSR bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Aktivitäten benutzt wurde.45 Dass Münzenberg selbst andauernd und intensiv beobachtet worden ist, muss nicht erst hervorgehoben werden. Seine Lebensgefährtin Babette Gross berichtete auf der Grundlage nachträglicher Quellenstudien, dass die ersten Agentenberichte aus Paris schon im April und Mai 1933 in der politischen Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums (der späteren Gestapo) eingelangt waren, dass sich in ihnen aber richtige und falsche Angaben mischten.46 Die Überwachung durch die Polizeibehörden der Exilländer und die Bespitzelung durch die in die Exilgruppen und -parteien infiltrierten Gestapoagenten erforderte bei allen, die politische Widerstandsarbeit leisteten, besonders aber bei Münzenberg einige Vorsichtsmaßnahmen. Dazu gehörte auch die Unterscheidung zwischen einer legalen, öffentlichen, und einer illegalen Arbeitsebene. »Sicherheitsmaßnahmen muß Münzenberg aber auch sehr früh für sich selbst treffen, da die Gestapo nicht nur die Arbeit seiner Büros überwacht, sondern, mindestens einmal, ein Attentat auf ihn plant.«47 Ab Herbst 1936 ist er allerdings auch von Seiten der KP bzw. Komintern gefährdet und wehrt sich daher gegen eine Einbestellung nach Moskau. »Von dem Zeitpunkt an, als er von der KI-Leitung aus allen seinen Ämtern entfernt wird, d. h. von Ende 1936, Anfang 1937 an, ist Münzenbergs Leben vor Anschlägen von Gestapo- bzw. von Stalinagenten nicht mehr sicher.«48 Die Überwachung durch NS-Stellen hat aber deswegen in keiner Weise nachgelassen; man interessiert sich für die neuen, parteiun-
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Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. Zu Das braune Netz siehe auch im Kap. 5.2.2 Politische Verlage den Abschnitt über die Éditions du Carrefour. Siehe Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 373 f. Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 174 f. Roussel, S. 175.
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abhängigen Aktivitäten Münzenbergs (die Zeitschrift Zukunft und den Sebastian Brant Verlag in Straßburg) in gleicher Weise wie vorher für den KP-Mann. Ein Beispiel dafür liefert ein Dossier vom Sommer 1939, auf das später Babette Gross gestoßen ist: »Die Gestapo-Leitstelle Münster, die sich in Verbindung mit einem ominösen ›V-Mann Nr. 49‹ auf die Beobachtung der Aktivität der deutschen Emigration in Paris spezialisiert hatte, berichtete im Juli 1939 von den ›großen Anstrengungen‹ der Münzenberg-Gruppe, die ›Zukunft‹ zum Sprachrohr der gesamten Opposition zu machen und stellte fest: ›Dank der Kunst Münzenbergs ist diese Zeitung zum führenden Blatt der Emigration und auch der allgemeinen deutschen Opposition geworden.‹«49 In der Zeit vor Beginn des Weltkriegs, vor allem aber in den ersten Kriegsmonaten scheinen die Bemühungen um eine möglichst lückenlose Erfassung der Emigranten verstärkt worden zu sein: Verschiedene erhalten gebliebene Akten aus der Berliner Prinz-Albrecht-Straße zeigen, daß die GESTAPO ab Frühjahr 1939, besonders aber ab April 1940 detaillierte Analysen über die verschiedenen Kreise der antifaschistischen Emigration in Frankreich ausarbeitete und diese auf Namenslisten personell erfaßte, die regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wurden. Auch nach der französischen Niederlage wurden die Fahndungslisten und operativen Auszüge aus der Personenkartei der GESTAPO laufend aktualisiert. Als Hauptquelle dienten dabei Auszüge aus den Protokollen der Vernehmungen von in Frankreich gefaßten Antifaschisten. […] Die Auszüge zeigen, daß der GESTAPO daran lag, die Emigranten in den besetzten Ländern lebend zu fassen, um sie zu verhören und erst danach zu Zuchthaus oder zum Tode zu verurteilen. Selbstverständlich stand Münzenberg auf allen Fahndungslisten.50
Der Fall Berthold Jacob und die Affäre Liepmann Die Emigration war sich von Anfang an bewusst, dass die von ihr entfalteten Aktivitäten vom Dritten Reich aufmerksam beobachtet wurden. Dass aber politisch exponierte Personen befürchten mussten, im scheinbar sicheren Ausland von der NS-Polizeigewalt eingeholt zu werden, wurde erst allmählich offenbar. Große Aufregung verursachte in Exilantenkreisen daher der Fall Berthold Jacob.51 Der Journalist Jacob, Sohn des 1943 im KZ ermordeten Berliner Antiquars David Salomon, war aus Sicherheitsgründen bereits 1932 nach Straßburg emigriert und setzte von dort aus seine kritische Berichterstattung über die Aufrüstung Deutschlands fort. Den Nazis aufgrund seines pazifistischen publizistischen Engagements verhasst, stand er auf der ersten Ausbürgerungsliste vom 25. August 1933. Gemeinsam mit Kurt Großmann initiierte er 1934 die Nobelpreiskampagne für Carl von
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Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 477 (Quellennachweis in Fn. 302: Mikrofilm Inst. f. Zeitgeschichte MA 644, S. 7738 f.) Wessel: Münzenbergs Ende, S. 361, Anm. 21 und 22. Vgl. zum Folgenden »Warum schweigt die Welt?« Die Entführung von Berthold Jacob.
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Ossietzky, die im November 1936 Erfolg haben sollte. Inzwischen aber, im März 1935, war Berthold Jacob mit Hilfe eines in der Emigration tätigen Spitzels und mehrerer Gestapo-Agenten in die Schweiz gelockt und von dort nach Weil am Rhein entführt, anschließend in ein Berliner Gefängnis gebracht worden. Allerdings erhob die Schweiz öffentlichen Protest ob dieser Verletzung ihrer Hoheitsrechte und konnte dem Protest Nachdruck verleihen, indem sie in Ascona einen deutschen Lockspitzel, einen deutschen Emigranten in Gestapo-Diensten namens Hans Wesemann, verhaftete, der in Verhören zahlreiche Details der Entführung Jacobs, darunter auch die Beteiligung hoher GestapoOffiziere, verriet.52 Um die Sache möglichst rasch aus der Welt zu schaffen, übergab die deutsche Regierung am 17. September 1935 Jacob den Schweizer Behörden, von wo aus er nach Frankreich ging und sich dort wieder seiner journalistischen Arbeit widmete. Hans Wesemann aber wurde in Basel zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Berthold Jacob war den Fängen der Gestapo nur vorläufig entkommen: Nach Kriegsbeginn in Le Vernet interniert, gelang ihm im Juni 1940 zwar die Flucht nach Spanien und nach Portugal, er wurde aber 1941 kurz vor Besteigen des rettenden Schiffes von Agenten des Sicherheitsdienstes (SD) erneut entführt und nach Deutschland gebracht. In der Gestapo-Haft zog er sich eine Lungentuberkulose sowie Fleckfieber zu und starb im Jüdischen Krankenhaus am 26. Februar 1944. Im gegenständlichen Zusammenhang waren es die Vorgänge im Jahr 1935, die unter den Emigranten eine enorme Furcht vor den auch im Ausland agierenden Agenten des SD und der Gestapo verursachte und auch in jeder Exilantenorganisation die Frage nach Bespitzelung und Verrätertum aufkommen ließ. Zuvor hatte schon die Affäre Liepmann große Unsicherheit unter den emigrierten Literaten erzeugt.53 1933 war in den Niederlanden bei van Kampen & Zoon ein Tatsachenroman von Heinz Liepmann (später: Liepman) mit dem Titel Das Vaterland erschienen, in welchem der Autor, der aus einem deutschen Konzentrationslager entflohen war, die Situation eines Heringsschiffes beschreibt, das nach drei Monaten auf hoher See in einen deutschen Hafen zurückkehrt und dort erst von der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfährt. Dass dabei auch Paul von Hindenburg Erwähnung fand, reichte hin, um Liepmann wegen »Beleidigung des Oberhauptes eines befreundeten Staates« zu einem Jahr Gefängnis zu verurteilen und ihn danach – immerhin nach Ablehnung eines deutschen Auslieferungsbegehrens – nach Belgien abzuschieben. Bewirkt wurde diese Entscheidung aber erst durch eine internationale Protestwelle. In jedem Fall ließ die Affäre bei Schriftstellern und auch Verlegern die Besorgnis wachsen, sie könnten sich schon durch im Grunde harmlose Textpassagen eine Strafverfolgung seitens jener Behörden und Regierungen zuziehen, die sich aufgrund außenpolitischer Erwägungen als verlängerter Arm des NS-Regimes missbrauchen ließen.
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Vgl. hierzu auch Brinson: The Gestapo and the Political Exiles in Britain During the 1930’s. Vgl. zum Folgenden Müller-Salget: Zum Beispiel: Heinz Liepmann, bes. S. 297; sowie Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa, S. 88‒90.
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Observierung des Exilbuchhandels: Das Leitheft »Emigrantenpresse und Schrifttum« Dass verschiedene Stellen im Dritten Reich, insbesondere auch das Sicherheitshauptamt (ab 1939 das Reichssicherheitshauptamt) und damit der Sicherheitsdienst der SS54 und die Gestapo, einen guten Überblick auch über die Exilverlagsszene gehabt haben, geht – bei aller Fehlerhaftigkeit im Detail – aus dem Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum des Sicherheitshauptamtes vom März 1937 hervor.55 Hier wurde – so die Diktion des Leitheftes ‒ der »Ring der Hetzer«, der sich um das Deutsche Reich gelegt hatte, bis in Einzelheiten analysiert. »Presse und Schrifttum« werden in dem Leitheft als »Hauptkampfmittel der Emigration« bezeichnet (S. 8). In diesem Zusammenhang wird sehr ausführlich aus dem von Wolf Franck verfassten, in Paris in den Éditions du Phènix erschienenen Führer durch die Emigration zitiert, wonach es die wichtigste Aufgabe der Emigration sei, die öffentliche Meinung der zivilisierten Menschheit wachzurütteln. Seien diese Berichte vom NS-Regime als »Gräuelmärchen« abgetan worden, so habe die Welt inzwischen den Wahrheitsgehalt dieser Schilderungen erkannt: »Seither ist die deutsche Emigration eine der wichtigsten Informationsquellen über das Dritte Reich.« Dieser, im Original durch Unterstreichung hervorgehobene Satz, blieb im Leitheft unkommentiert. Akribisch werden in der Folge die »Organisation der Hetze in Presse und Schrifttum«, sodann deren »Inhalt, Methoden, Ziele und Wirkungen« dargelegt; die Entwicklung des Emigrantenschrifttums wird in ein Drei-Etappen-Modell gefasst. Als Merkmal der Anfangszeit wird die starke Emotionalisierung genannt: »Den Vogel in der direkt auf den Führer abzielenden Hetze schoss in gewisser Beziehung Alfred Kerr mit seiner Schrift: ›Die Diktatur des Hausknechts‹ ab, in der unter dem ›Hausknecht‹ Adolf Hitler verstanden war.« In der zweiten Etappe habe sich der Ton auf raffinierte Weise beruhigt, die Angriffe seien in scheinbar sachlichem Ton und einer sich wissenschaftlich gebenden Methodik vorgetragen worden, etwa von Dorothy Woodman in Hitler treibt zum Krieg (erschienen bei Carrefour 1934 in Paris). Hervorgehoben wird einmal mehr Willi Münzenberg, dem eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Emigrantenschrifttums zugesprochen wird,56 das nach der ersten, von »Hysterie und dümmsten Lügen« gekennzeichneten Phase nun in einen neuen Abschnitt eingetreten sei: »Je mehr die fanatischen, auf jegliche Beweisführung selbst primitivster Art verzichtenden Schriften als bloße Hetze erkannt wurden, desto kürzer drohten die namhaften Anfangserfolge zu werden, desto mehr machte sich ein Übergang zu objektiver wirkenden Methoden notwendig und bemerkbar. Mit Schriften, die sich scheinbar kühl gaben, wurde nun auch auf die
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Dazu Schreiber: »Das Erkennen des Gegners«. Als Reprint abgedruckt in Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933‒1939, S. 135‒ 188. Zum Leitheft s. Greiser: Das Leitheft »Emigrantenpresse und Schrifttum«. In: Presse im Exil. (Dort auch weitere wichtige Artikel, u. a. zu den Ausbürgerungslisten und zur Emigrantenbeobachtung durch das Dritte Reich). Vgl. ferner Schroeder: Emigrantenausforschung des Sicherheitsdienstes der SS. Zutreffend wird hier von einer »zielbewußten Regie« Münzenbergs und der Finanzierung seiner Aktivitäten durch die Komintern ausgegangen. Vgl. hierzu auch Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil, S. 36‒37.
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Abb. 1: Liste der »Hetzverlage« des Exils in dem geheim angelegten Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum des Sicherheitshauptamtes (Ausschnitt).
Schichten der Gebildeten im Ausland Einfluss genommen.« Die dritte Etappe, um das Jahr 1935, sei gekennzeichnet durch die Aufspaltung der Emigration zwischen den Marxisten und den Vertretern eines liberalistischen Literatentums; führend seien in dieser Phase die Autoren des Amsterdamer Querido-Verlags gewesen, u. a. Bertolt Brecht, Jakob Wassermann, Albert Einstein, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger oder Alfred Neumann. Es folgen Aufstellungen zur Verlagsproduktion der Éditions du Carrefour, von Querido, Allert de Lange, Oprecht und Helbling, dem Europa-Verlag und dem MalikVerlag sowie ein 43 Namen umfassendes »Verzeichnis der Emigranten- und ausländischen Hetzverlage (mit Ausnahme der sowjetrussischen)«, ehe sich der nächste Abschnitt der Emigrantenpresse zuwendet; den Beschluss bildet eine auf Grundlage der Ausbürgerungslisten erstellte »Liste der wesentlichen Emigranten«. Trotz zahlreicher Fehler lässt das Leitheft erkennen, wie aufmerksam das NS-Regime seine Gegner im Ausland beobachtet hat.
Emigrantenliteratur und der Buchhandel im Reich Die Diffamierungskampagne gegenüber den Emigranten sollte, unabhängig von allen formellen Verboten, eine Verbreitung von deren literarischer Produktion in Deutschland
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bereits im Ansatz verhindern. Dieses Ziel verfolgte mit besonderem Eifer Will Vesper in der Zeitschrift Die Neue Literatur; er führte einen persönlichen Feldzug gegen die »auslandsdeutschen Verlage, die in Judenhänden sind und die nun versuchen, vom Ausland aus die jüdische und judenfreundliche Literatur hinter allerlei Tarnungen und auf allerlei Seitenwegen wieder nach Deutschland zu bringen«.57 So etwa schrieb er im November 1933 in seiner Kolumne »Unsere Meinung«: »Die aus Deutschland entflohenen kommunistischen und jüdischen Literaten versuchen von ihren sicheren Schlupfwinkeln aus das neue Deutschland mit einem Wall von literarischem Gift- und Stinkgas zu umgeben. Pilzartig schießen von Prag bis Paris ihre Emigrantenzeitschriften aus der Erde, gut gedüngt mit tschechischem und französischem Geld.«58 Im gleichen Artikel machte sich Vesper eine von der »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« verbreitete Warnung zu eigen: »Wer heute in Deutschland Bücher kauft von Schriftstellern, die draußen im Ausland Deutschland aufs schmählichste beschmutzen, die teilweise ganz bewußt draußen zum Krieg gegen Deutschland hetzen, macht sich des Landesverrats schuldig. Wir hoffen, daß sich der deutsche Verlag und der deutsche Buchhandel der Tragweite dieser Tatsache bewußt sind.« Im deutschen Buchhandel hatte man allerdings die Zeichen der Zeit längst verstanden. Schon in seinem Ende April 1933 beschlossenen »Sofortprogramm« hatte der Börsenvereins der Deutschen Buchhändler bekundet, dass sich der Buchhandel in den Dienst der »nationalen Sache« stellen und sich speziell in der »Judenfrage« den Maßnahmen der neuen Reichsregierung anvertrauen wolle.59 Noch am Tag vor der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 war im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine Bekanntmachung über »auszuschaltende Werke« erschienen, derzufolge – im Vorgriff auf die laufenden Verhandlungen mit zentralen Regierungsstellen – der Börsenverein als »selbstverständlich« voraussetzte, »daß unsere Mitglieder solche Werke, die als in nationaler oder kultureller Hinsicht zersetzend anzusehen sind, bereits aus dem Vertrieb gezogen haben«.60 Drei Tage nach der Bücherverbrennung teilte der Vorstand des Börsenvereins in einer mit 11. Mai datierten Erklärung mit, er sei sich mit der Reichsleitung des Kampfbundes für deutsche Kultur und der Zentralstelle für das deutsche Bibliothekswesen darin einig geworden, dass die zwölf Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Ernst Glaeser, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Ernst Ottwalt, Theodor Plivier, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Arnold Zweig »für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten« seien und dass der Vorstand erwarte, dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet. Allerdings: Nicht alle Buchhändler mochten sich auf die neuen Verhältnisse so rasch umstellen. Im Leitheft Buchhandel des Sicherheitshauptamtes wird berichtet, die im
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Will Vesper: Juden- und Jesuitenverlage. In: Die Neue Literatur, Dezember 1935, 761 f.; hier zit. nach Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 277. In: Die Neue Literatur, 34. Jg. der Schönen Literatur, 11 (November 1933), S. 654 f.; hier zit. nach: In den Katakomben, S. 72. Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1995), S. 96‒100. Vgl. hierzu auch Barbian: Von der Selbstanpassung zur nationalsozialistischen »Gleichschaltung«: Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler in den Jahren 1933–1934. Bekanntmachung. In: Bbl. Nr. 106 (9. Mai 1933), S. 337.
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Herbst 1936 durchgeführte Durchsuchung der Buchhandlungen habe die Notwendigkeit der »laufenden SD-mässigen Überwachung« erwiesen, denn es seien tausende verbotene Bücher gefunden worden, und zwar nicht etwa bloß aus der Zeit vor 1933, »sondern es konnte vielfach deutschsprachiges ausländisches Schrifttum aus neuester Zeit sichergestellt werden. An Hand der Fakturen ergibt sich, dass grosse Teile des Buchhandels direkten Verkehr mit ausländischen Verlagen aufrechterhalten. Die Einfuhr volks- und staatsfeindlichen Schrifttums ist umso mehr möglich, als die Grenzkontrolle vorwiegend in zollrechtlicher Hinsicht erfolgt. Eine umfassende politische Überwachung wurde bisher nur für die sowjetrussischen Druckschriften in die Wege geleitet.«61 In der Tat scheinen dem Import von Emigrantenliteratur damals noch nicht alle Wege versperrt gewesen zu sein. Aus dem Bericht des Reichsführers SS, Chef des Sicherheitshauptamts, vom 5. August 1937 ergibt sich, dass bei der Durchsuchung von rund 5.000 Buchhandlungen und Antiquariaten ca. 300.000 verbotene Schriften zutage gefördert worden sind; gleich an erster Stelle wurden »Erzeugnisse emigrierter – zumeist jüdischer – Schriftsteller« genannt. Wenn es sich in der Hauptsache um Werke gehandelt haben wird, die vor 1933 erschienen sind, so waren doch auch Publikationen von Exilverlagen mit darunter; in der Nürnberger Buchhandlung Schneider & Henning etwa wurde die »Emigrantenhetzschrift ›Dimitroff contra Goering‹. Braunbuch II, Auflage vom Mai 1934 gefunden.«62 Die Schlupflöcher für den Bezug von Exilpublikationen wurden aber immer enger. Von trickreichen Versuchen einiger Exilverlage, ihre Produktion unter falscher Flagge in das Reich einzuschleusen, wird später, im Kapitel zu den belletristischen Verlagen, noch die Rede sein. Dass auch die Kooperation mit den Reichsbehörden keine Lösung bot, musste Emil Oprecht feststellen: Er hatte einige Zeit auf ausdrückliche Bestellung mit Verbot belegte Bücher über seinen Leipziger Kommissionär Fleischer geliefert, ließ sie aber vorsichtshalber der Reichsschrifttumskammer vorlegen, um keinen Verstoß gegen die Reichsgesetze zu begehen.63 Trotzdem kam es zur Beschlagnahmung solcher Titel bei der Einfuhr und schließlich, im Oktober 1934, zur Sicherstellung des gesamten Bücherlagers beim Leipziger Kommissionär durch die politische Polizei. Nach Protesten des Verlegers wurden die unpolitischen Bücher freigegeben, dafür kam es nachfolgend zum Ausschluss Oprechts aus dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler und zur Streichung aus dem Adressbuch des deutschen Buchhandels. Begründet wurde der Ausschluss mit der Verbreitung von sieben im Europa-Verlag erschienenen Werken von Exilanten sowie mit dem Vertrieb von drei Exilzeitschriften, die »das deutsche Volk, seinen Reichskanzler Adolf Hitler, seine Reichsregierung, die nationalsozialistische Bewegung und Einrichtungen, die dem deutschen Volk heilig sind, verunglimpfen, verächtlich machen und beschimpfen.« Es sei unerheblich, dass Emil Oprecht nicht der Verfasser dieser Schriften sei, »denn jeder Buchhändler, ob Verleger, ob Sortimenter, ist für
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Leitheft Buchhandel. März 1937, Abschnitt C. Die politische Bedeutung des Buchhandels, S. 31 (Institut für Zeitgeschichte, Archiv, Akz. 4416 / 70). »Gesamtbericht über die vom Oktober 1936 bis Juni 1937 erfolgte Durchsuchung buchhändlerischer Betriebe nach schädlichem und unerwünschtem Schrifttum«, abgedruckt in: »Das war ein Vorspiel nur…« Bücherverbrennung Deutschland 1933, S. 294‒297. Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 128.
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die von ihm verlegten und vertriebenen Bücher voll verantwortlich«.64 Es liegt auf der Hand, dass der Ausschluss aus Adressbuch und Börsenverein kein geeignetes Mittel war, das Einsickern unerwünschter Literatur nach Deutschland definitiv zu verhindern; dies konnte nur durch ein straff organisiertes Zensursystem gewährleistet werden.
Exilliteratur als Gegenstand der Listenindizierung in NS-Deutschland Nach einer Phase unkoordinierter Maßnahmen gegen jene Literatur, die man als »Kulturbolschewismus« und unter anderen verunglimpfenden und verfemenden Bezeichnungen »auszumerzen« suchte – bis Anfang Dezember 1933 waren 1.000 Druckschriften verboten und beschlagnahmt worden, wobei nicht weniger als 21 Stellen daran beteiligt waren65 ‒, nahm die nationalsozialistische Literaturpolitik systematischeren Charakter an. Immer noch war aber die Zensursituation von Autoren, Verlagen, Buchhändlern, den Bibliotheken und dem Publikum kaum zu überblicken, zumal die Verbote nicht durchgehend öffentlich gemacht wurden. Denn auch die Ende 1935 von der Reichsschrifttumskammer herausgebrachte Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, die eine Zusammenfassung aller kursierenden Verbotslisten anstrebte (und selbstverständlich eine große Zahl von Werken der Emigrationsliteratur aufwies), war »streng vertraulich« und durfte nur von dazu befugten Dienststellen eingesehen werden. Anfragen von Seiten des Buchhandels wurden kühl abgefertigt: Wer im neuen Deutschland einen kulturtragenden Beruf ausübe, müsse von sich aus wissen, welche Art von Literatur als unerwünscht zu betrachten sei. Die Verbotsgründe waren allerdings so vielfältiger Art (sie reichten von der Anthroposophie über nationalsozialistisches »Konjunkturschrifttum« bis zu »Nacktkörperkultur«), dass Buchhändler in ständiger Unsicherheit schwebten – eine zweifellos beabsichtigte Wirkung der Geheimhaltung der Verbotsliste, mithin ein charakteristisches Element der nationalsozialistischen Herrschaftstechnik. Dazu kam, dass die erste Fassung der im März 1936 an die Dienststellen versandten Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums sich als so fehlerhaft erwies, dass sie im April 1937 zu einer gründlichen Überarbeitung wieder eingezogen wurde. Dietrich Aigner, der in einer 1971 erschienenen Untersuchung die Indizierungspraxis im Dritten Reich analysiert hat, nennt – ausgehend von der zweiten, mit 31. Dezember 1938 datierten Ausgabe der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums ‒ insgesamt 18 Kategorien, die für die Aufnahme in die Verbotsliste maßgeblich gewesen sind.66 Neben der »gesamten deutschsprachigen Literatur des Marxismus in allen seinen Spielarten« (27 % aller verbotenen Titel) behauptet die Kategorie »Alle gegen den Nationalsozialismus und das Dritte Reich gerichteten Schriften aus dem Ausland« mit 11 % aller Verbote den zweiten Platz. Diese Kategorie wurde mit einem ausdrücklichen, in der Liste kenntlich gemachten Verbot des Reichsführers SS und des Chefs der Deutschen Polizei belegt – ein Hinweis darauf, dass diese Bücher mit besonderer Energie verfolgt worden sind. Ein hoher Prozentsatz der Verbote rekrutierte sich aus den Publikationen
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Zit. n. Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 134. Vgl. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1995), S. 517. Aigner: Die Indizierung »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« im Dritten Reich.
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Abb. 2: Auf der nur Dienststellen zugänglichen Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums in der Version vom Dezember 1938 stellte die Exilverlagsproduktion einen wichtigen Bereich dar.
der Éditions du Carrefour und der Éditions Prométhée, der faktische Effekt der Liste erstreckte sich aber weit über den errechneten Anteil von 11 % hinaus, denn in dieser erweiterten und verbesserten zweiten Ausgabe der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums gab es erstmals eine Abteilung (III) »Verlage, deren Gesamtproduktion verboten ist«. Gesperrt war dort die Gesamtproduktion folgender 22 Verlage: Schweden: Bermann-Fischer / Stockholm, Verlag Nordeuropa / Lund; Frankreich: Éditions du Carrefour / Paris, Éditions »La Lutte socialiste« / Paris, Éditions Nouvelles Littéraires / Paris, Neues Europa / Straßburg, Verlag des 10. Mai / Paris, Sebastian BrantVerlag / Straßburg, Prometheus-Verlag / Straßburg; Schweiz: Europa-Verlag / Zürich, Humanitas-Verlag / Zürich, Jean-Christophe-Verlag / Zürich, Mopr-Verlag / Zürich-Paris, Oprecht / Zürich-New York, Freie Schweiz / Basel, Vita Nova-Verlag / Luzern, Verlag für soziale Literatur / Zürich, Paris; Niederlande: Allert de Lange / Amsterdam, Querido-Verlag / Amsterdam; England: Malik-Verlag / London[!]; UdSSR: Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR / Moskau; USA: Verlag[!] Herbert Reichner / New York. Von 1939 bis 1943 kamen noch 26 ausländische Verlage hinzu, von denen sich 12 in
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der dem militärischen Zugriff entzogenen Schweiz befanden.67 Obwohl damit auch die Liste von 1938 / 39 von Vollständigkeit weit entfernt war, war sie nun doch ein vergleichsweise effektives Instrument der Verbotspolitik – gerade auch für die Bibliotheken, denen im Gegensatz zum Buchhandel die Einsichtnahme erlaubt war.
Verbotspolitik kontra Sammelauftrag: die Rolle der Bibliotheken Die wissenschaftlichen Bibliothekare waren sich von Anfang an darin einig, dass die »schädliche und unerwünschte« Literatur keinesfalls aus den Bibliotheken entfernt werden dürfe und dass auch neu hinzukommende verbotene Bücher gesammelt werden sollten.68 Anders als in den Volks- und Leihbüchereien wurden daher 1933 in den Staats-, Universitäts- und Landesbibliotheken keine »Säuberungen« durchgeführt. Allerdings entsprach dies ohnehin der von den Aufsichtsbehörden vorgegebenen politischen Linie; so etwa untersagte bereits am 5. April 1933 ein Ministerialbeschluss des bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus die Entfernung verbotener und unerwünschter Literatur aus den wissenschaftlichen Bibliotheken, »da eine erfolgreiche wissenschaftliche Bekämpfung des bolschewistischen, marxistischen und pazifistischen Giftes die Kenntnis des einschlägigen Schrifttums voraussetzt«.69 Damit schien die Archivfunktion der wissenschaftlichen Bibliotheken gesichert, vor allem aber schien nun die Deutsche Bücherei in Leipzig ihrem Auftrag, der vollständigen Sammlung und Verzeichnung der nationalen Buchproduktion, ungehindert nachkommen zu können.70 Ihr Direktor Heinrich Uhlendahl hatte diesen Auftrag nach 1933 hartnäckig verteidigt und dafür gesorgt, dass in der Deutschen Bücherei weiterhin alle Neuerscheinungen in deutscher Sprache, mithin auch die Literatur der deutschsprachigen Emigration, gesammelt wurden.71 Dass in Leipzig einigermaßen konsequent die Produktion der deutschen Exilverlage erfasst wurde, vermittelte allerdings auch den NS-Behörden eine zwar nicht lückenlose, aber doch sehr weitgehende Übersicht über die Emigrantenliteratur. Auch auf die bibliographische Erfassung wurde zunächst nicht verzichtet: Ausgesprochen »deutschfeindliche« Werke von Emigranten (z. B. von Heinrich und Klaus Mann) wurden nur in den Halbjahresverzeichnissen und Fünfjahresverzeichnissen ange-
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Vgl. hierzu auch Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 183. Vgl. zum Folgenden Blum: Nationalbibliographie und Nationalbibliothek, bes. S. 262‒264. Zit. n. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1995), S. 782. Näheres wurde dann durch einen Runderlass des Reichserziehungsministeriums am 3. April 1935 geregelt, der reichsweit die genaue Prüfung der Bestände und die Sekretierung des »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« verfügte. Zur Geschichte der Deutschen Bücherei im Dritten Reich siehe Flachowsky: »Zeughaus für die Schwerter des Geistes«, bes. Kap. V: »Wohlbestellt und Wohlgerüstet«. Die Deutsche Bücherei im Nationalsozialismus 1933 bis 1945, Abschnitt A 5. Selbstverständlich war dieses Schrifttum für die allgemeine Benutzung zu sperren; für die wissenschaftliche Forschung und auch für behördliche Zwecke sollte es jedoch Zugangsmöglichkeiten geben. Vgl. hierzu Halfmann: Das Schrifttum der Emigration in der deutschen Bücherei; sowie Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen ExilLiteratur.
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zeigt, unpolitische Werke von »harmlosen« Autoren oder solchen, die zunächst nur als »anrüchig« galten (wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger), konnten auch im Täglichen Verzeichnis der Neuerscheinungen oder in die Deutsche Nationalbibliographie aufgenommen werden. Im Herbst 1936 allerdings verschärfte sich der Widerstand der Schrifttumsbehörden gegen diese Praxis; der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda wies Uhlendahl an, die Sammeltätigkeit weiter fortzusetzen, in die Bibliographien jedoch nur noch »deutsches Schrifttum« aufzunehmen. Allerdings: »Nicht zum deutschen Schrifttum rechnen 1. in Deutschland verbotene Bücher, 2. Bücher, die von Emigranten geschrieben sind, 3. Bücher deutschfeindlichen Inhalts, 4. Bücher, in denen bolschewistische Theorien vorgetragen und vertreten werden.«72 Die Aussonderung dieser Titel wurde einem Beauftragten der Geheimen Staatspolizei übertragen. Später, ab 1939, bekam die Deutsche Bücherei die Erlaubnis, eine monatliche Liste der in der Deutschen Bücherei unter Verschluß gestellten Druckschriften in gedruckter Form zu erstellen und diese Liste an staatliche oder Parteistellen sowie an rund 150 wissenschaftliche Bibliotheken zu versenden. Damit war die so wichtige bibliographische Funktion der Bibliothek auch für die Emigrationsliteratur wenigstens ansatzweise gerettet, zumal diese monatlichen Listen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Erstellung des Verzeichnisses der Schriften, die 1933‒1945 nicht angezeigt werden durften (Deutsche Nationalbibliographie, Ergänzung I, Leipzig 1949) herangezogen werden konnten. Das Verzeichnis umfasste 5.485 Titel, darunter hunderte, die dem Emigrationsschrifttum zugerechnet werden können. Auch wenn – wie Uhlendahl beklagte – die Exilverlage »in der unrichtigen Annahme, daß die Deutsche Bücherei auf ihre Werke keinen Wert lege, gar nicht oder erst nach Mahnung mit erheblicher Verspätung« einsandten73 und also der Bestand wie auch die Verzeichnung dieser Werke außerordentlich lückenhaft blieben, so hat sich in diesem Beharren auf umfassende Sammeltätigkeit bibliothekarisches Ethos gegenüber ideologischer Ausgrenzung behauptet. Wie in Leipzig haben auch andere mit Archivfunktion ausgestattete Bibliotheken im nationalsozialistischen Deutschland Werke der Emigration gesammelt und damit einen Beitrag dazu geleistet, dass die damals so wütend bekämpfte Literatur später in das kulturelle Gedächtnis eingeschlossen werden konnte.
Ausgrenzung des Exilbuchhandels aus dem deutschen Buchhandel Die Abgrenzung gegenüber der Emigration, konkret gegenüber den verlegerischen und buchhändlerischen Exilanten, war auch dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler ein zeitgemäßes Anliegen. Dabei wurde gelegentlich auch die Auslandsorganisation der NSDAP für Ermittlungen in Anspruch genommen; so im Falle des Humanitas-Verlags in Zürich, einer Gründung des emigrierten Buchhändlers Simon Menzel.74 Auf eine am 16. Juli 1936 erfolgte Anfrage des Börsenvereins75 teilte die Leitung der Auslandsabtei72 73 74 75
Blum: Nationalbibliographie und Nationalbibliothek, S. 264. Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur, S. 199. Zu den Vorgängen um den Humanitas-Verlag siehe SStAL, BV, F 12503. Der Börsenverein schrieb am 16. Juli 1936 an das »Referat Schweiz« der Auslandsorganisation der NSDAP in Berlin: »Der Auslandsorganisation wären wir dankbar für eine Beurteilung des ›Humanitas‹ Verlages Dr. S. Menzel, Zürich, Dianastr. 3, gegründet 1. Januar 1935.
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lung der NSDAP mit, der Antrag auf Aufnahme des Verlags in das Adressbuch des deutschen Buchhandels sei »unbedingt abzulehnen«, denn: »Ihre Vermutung, dass in dem Verlag des Simon Menzel auch Emigrantenliteratur erschienen ist, trifft zu.«76 Der Börsenverein und insbesondere seine Auslandsabteilung wurde also ebenfalls zu einem Instrument der Emigrantenbeobachtung, und war dabei umso erfolgreicher, je mehr er auch mit staatlichen Stellen und Parteiorganisationen zusammenarbeitete, um Erkundigungen über »verdächtige« Auslandsfirmen einzuziehen. Auf der Grundlage dieser konzertierten Observierung erwarben die Behörden in Deutschland erstaunlich detaillierte Kenntnisse über die Bücherproduktion des Exils. Die Verfolgung der emigrierten Buchhändler durch die Schrifttumsorganisationen des Dritten Reiches setzte sich ins Ausland schon dadurch fort, dass den deutschen Verlegern die Belieferung jüdischer Buchhändler im Ausland untersagt worden ist. Es ist die Frage, wieweit dieses Verbot eingehalten oder auch unterlaufen worden ist; jedenfalls aber haben z. B. die Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag immer wieder Warnungen vor Emigranten abgedruckt, die nach ihrer Wiederetablierung im Ausland Bücher von deutschen Verlagen zu beziehen versuchten. So heißt es dort am 11. März 1936 in Bezug auf die »Belieferung jüdischer Buchhändler in Brasilien«, genannt sind Fabian & Co. in São Paulo und Georg Apfel in Rio de Janeiro, diese Belieferung sei unverzüglich »einzustellen bzw. keine Verbindung mit diesen Firmen, welche nach Auskunft der Auslandsorganisation der NSDAP besonders Emigrantenund Hetzliteratur vertreiben, aufzunehmen«.77 Die Lieferung an diese Firmen musste als politische Unzuverlässigkeit angesehen werden. So trugen die Reichsstellen selbst zur sauberen Trennung von NS-deutschem und freiem deutschen Buchhandel bei. Allerdings bewahrte diese Haltung die antinazistischen Buchhandlungen gerade in den südamerikanischen Ländern nicht vor dem Boykott durch deutschstämmige Bevölkerungsteile, die mehr Sympathien für Hitler entwickelten als für die NS-Flüchtlinge. Die Firmenakten des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig enthalten darüber hinaus vielfältige Zeugnisse der Überwachung des Buchhandels im Ausland auch für die Kriegsjahre und die besetzten Gebiete. So etwa wurde 1940 von der RSK und dem Börsenverein gegenüber den Verlagen ein Verbot ausgesprochen, den kommunistischen Schriftsteller Alfred Kurella mit Rezensionsexemplaren zu beliefern, die dieser für Moskauer antifaschistische Zeitschriften ha-
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Dr. S. Menzel war nach eigenen Angaben Gründer und Inhaber von Buchhandlungen in Hamburg und Berlin. Die Vermutung liegt nahe, dass er in Zürich die Verbindung mit Emigranten pflegt. Den Entscheid des Aufnahmeantrages in das Adressbuch des deutschen Buchhandels machen wir von der Beurteilung der Auslandsorganisation abhängig. Heil Hitler! i. A. Schulz«. (SStAL, BV, F 12503). Darüber hinaus teilte der Auslandsdienst mit, dass Menzels ebenfalls jüdische Ehefrau Sophie Gisela Steinberg gemeinsam mit ihrer Schwester Mitinhaberin der Buchhandlung Steinberg & Co. in Zürich 4, Badener Str. 120, sei. – In der Akte findet sich auch eine Notiz: »liess eine Anzeige in der gegen Deutschland eingestellten Zeitschrift ›Das Buch‹ (Herausgeber: Editions Nouvelles Internationales, Paris) Heft 1 erscheinen.« (Mit Vermerk: »Die Nummer befindet sich in der Akte BV 13420«). Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag vom 11. März 1936.
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ben wollte.78 In den Jahren 1942‒1944 wurden mehrere »jüdische und deutschfeindliche« Firmen in Dänemark, Griechenland, Italien, Slowakei, Ungarn und noch anderen Ländern vom Buchhandel ausgeschlossen, auch eine Firma in Wien wegen früherer Volksfrontunterstützung.79 Der Börsenverein hatte allerdings nicht den Apparat zur Verfügung, den es zur flächendeckenden Kontrolle des Exilverlagswesens und -buchhandels gebraucht hätte. An anderer Stelle war dies aber sehr wohl der Fall, wie das Beispiel des SS-Führers Franz Alfred Six belegt.80 Six arbeitete ab 1935 hauptamtlich für den Geheimdienst der SS, zunächst als Amtschef für Presse und Schrifttum, mit 30‒40 Mitarbeitern, die das Pressewesen durchforsteten, seit 1939 als Leiter von drei Abteilungen des SD-Hauptamtes. Als solcher war er führend beteiligt an der Erstellung jener Schwarzen Listen, die die SS beim Einmarsch in die jeweiligen Länder ihrer Jagd nach den politischen Gegnern zugrunde legten. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde Six zum Leiter des SD-Kommandos in Wien ernannt, wo er in großem Stil Akten und Bibliotheken zur gründlichen Auswertung beschlagnahmte. Nach 1945 in Nürnberg mitangeklagt und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, nahm er nach seiner Entlassung 1952 u. a. als Inhaber des Leske-Verlags wieder eine geachtete Position in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ein. Im Zusammenhang mit der Vorgangsweise in den von der deutschen Wehrmacht eroberten Gebieten ist auch die sogen. »Liste Otto« zur »unerwünschten französischen Literatur« zu nennen, von der im September 1940 eine erste, im August 1942 eine zweite und im Mai 1943 eine dritte Version erstellt worden ist.81 Erfasst wurden in der nach dem damaligen Botschafter oder eigentlich deutschen Statthalter in Paris, dem an Judendeportation und Kunstraub maßgeblich beteiligten Otto Abetz benannten Liste grundsätzlich nur Titel, die in Frankreich vor der Besetzung erschienen waren, wobei »insbesondere [auf] die Publikationen der politischen Emigranten oder der jüdischen Schriftsteller« abgezielt werden sollte.82 Auch diese Listen, auf denen mehr als 1.000 Werke genannt wurden, die beschlagnahmt und vernichtet werden sollten, zeugen davon, dass das ExilPublikationswesen erfolgreich ausgespäht worden war. Tatsächlich hielt das Dritte Reich noch in den letzten Kriegsjahren die Beobachtung der emigrierten Verleger weiter aufrecht, so etwa als Gottfried Bermann Fischer 1943‒ 1945 in den USA eine Historiker- und eine Germanisten-Gruppe damit beauftragte, ein
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SStAL, BV, F 17.197. SStAL, BV, F 28.305, Ausschluss vom Buchhandel 1942‒1944. Vgl. Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six. Vgl. dazu Traiser: Listen verbotener Literatur in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. – Liste I: Ouvrages retirés de la vente par les éditeurs ou interdits par les autorités allemandes, Sept. 1940; Liste II: Unerwünschte französische Literatur, Juli / Aug. 1942; Liste III: (Titel wie Liste II), 10. Mai 1943. – Vgl. das Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum, sowie Roussel / Kühn-Ludewig: Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933‒1940, S. 268. Babilas: Der literarische Widerstand, S. 50. – Die »Liste Otto« hatte Gültigkeit nur im besetzten Gebiet; in der freien Zone wurde sie nicht angewandt. Zu Abetz vgl. auch Ray: Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930–1942.
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Konzept zu einer Weltgeschichte auf liberal-demokratischer Grundlage bzw. Pläne für deutsche Lesebücher für die Nachkriegszeit auszuarbeiten. Der Verleger stellte dazu fest: »Daß das Propagandaministerium eine ausführliche Akte über unsere bescheidenen Bemühungen angelegt hatte und sich in hämischen Artikeln dazu äußerte, erfuhr ich erst nach dem Kriege.«83 Im Übrigen ist die Publikationstätigkeit der Exilanten sowie der Vertrieb ihrer Bücher und Zeitschriften nicht bloß durch Gestapa und Stellen im Reich, sondern die ganze Zeit über auch durch Polizeistellen und andere Behörden der jeweiligen Asylländer beobachtet und kontrolliert worden. So etwa war in Paris die Sûreté nicht selten schon im Voraus über das Erscheinen eines Buches oder einer Broschüre informiert: »Auch ihre Kenntnis der Interna von Emigrationsverlagen und -organen war erheblich, ein Indiz dafür, dass sie immer wieder Spitzel in Druckereien und Redaktionen hatte platzieren können. In bestimmten Fällen waren es sogar Angestellte dieser Unternehmen selbst, die freiwillig den Polizeiinformanten Material zukommen ließen, in der Hoffnung, sich dadurch das Wohlwollen der Behörden zu sichern.«84 Und selbstverständlich überwachte die Sûreté General besonders auch die politisch-literarische Prominenz wie Heinrich Mann in Nizza oder Willi Münzenberg.85 Im Anschluss an die Auflösungserscheinungen der Emigration in Frankreich nach dem Hitler-Stalin-Pakt und nachdem am 26. September 1939 die Kommunistische Partei in Frankreich verboten worden war, kam es auch – lange vor der erst im Sommer 1940 erfolgten Besetzung von Paris durch deutsche Truppen – zur Beschlagnahme von Buchbeständen des Exils seitens französischer Stellen.86
Die NS-Bücherverbrennung und die Gegenpropaganda der Emigration Die Bücherverbrennungen vom Mai 1933 schienen der Emigration in besonderer Weise geeignet, die moralische Monstrosität des NS-Regimes herauszustellen. Den Schlüssel lieferte das berühmte Zitat von Heinrich Heine: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch Menschen«. Diese Vorgänge wurden daher nicht bloß als tätlicher Angriff auf das Kulturgut Buch gesehen, sondern vielmehr als Fanal betrachtet, als Vorbote einer zukünftig gegen Menschen gerichteten Vernichtungspolitik.
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Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 240. Vgl. Enderle-Ristori: Kontrolle und Überwachung der deutsch-österreichischen Emigration durch die französische Sûreté Nationale, S. 198. Konkrete Beispiele werden dort nicht angeführt. Enderle-Ristori: Kontrolle und Überwachung, S. 200 bzw. 201 f. Hélène Roussel berichtet hierzu: »Weniger verlags- als exilgeschichtlich interessant ist eine bisher wenig bekannte Quelle, eine in der B[ibliothèque] N[ationale] im Handapparat des Hauptlesesaals (Signatur: Impr. 157) aufbewahrte Liste von Ende 1939 in Paris beschlagnahmten Büchern und Zeitungen u. a. aus dem Bestand der 1934 gegründeten Deutschen Freiheitsbibliothek. Etwa 1.000‒1.200 Titel gelangten im Februar 1940 über die Préfecture de Police als ›DON 335052‹ in die BN, einige davon sind Bestandteil des vorliegenden Verzeichnisses und mit ›BN, DON (1940)‹ gekennzeichnet.« (Roussel: Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil, S. 269 f. Eine Kopie der Liste befindet sich im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main).
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Im April 1933 initiierte die nationalsozialistische Deutsche Studentenschaft eine auf mehrere Wochen angelegte »Aktion wider den undeutschen Geist«, in deren Rahmen auch eine öffentliche Verbrennung »jüdischen, zersetzenden Schrifttums« geplant war, und zwar »aus Anlass der schamlosen Hetze des Weltjudentums gegen Deutschland«.87 Zu diesem Zweck wurden von den Studierenden die eigenen Bestände, sodann aber auch Buchhandlungen und Bibliotheken durchsucht und Bücher, die unter das Verdikt des »undeutschen Geistes« zu fallen schienen, eingesammelt. Eine ideologische Unterfütterung und auch eine Art Anleitung zu dieser Säuberungsaktion enthielten die »12 Thesen wider den undeutschen Geist«, die seit 12. April u. a. durch Plakatierung verbreitet wurden. Seit Anfang Mai wurden an einigen Universitäten auch »Schandpfähle« aufgestellt, an denen die Namen von jüdischen oder widerständigen Professoren sowie auch bereits von Autoren der »übelsten literarischen Werke« angeschlagen wurden, von Tucholsky, Lion Feuchtwanger, Remarque, Emil Ludwig und anderen. Die öffentliche Verbrennung der eingesammelten Bücher sollte am 10. Mai möglichst in allen Universitätsstädten Deutschlands stattfinden und durch ein Begleitprogramm, v. a. Reden und Musik, zu einem Großereignis ausgestaltet werden. Dafür gab es eine minutiöse Planung, die schon deshalb so genau sein musste, weil zwischen 23 und 24 Uhr eine Rundfunk-Staffelreportage der Deutschen Welle über den Äther gehen sollte. Auf dieser Grundlage wurden dann die Verbrennungen auch tatsächlich durchgeführt, in Berlin und den meisten Universitätsstädten, aber auch an anderen Orten. In insgesamt 21 Städten fanden die Autodafés am 10. Mai statt, an weiteren 37 Orten wurden sie in den folgenden Wochen und Monaten nachgeholt – aufgrund sehr starker Regenfälle hatte man sich dort zu einer Verschiebung entschlossen. An vielen Orten handelte es sich nicht um studentische Bücherverbrennungen, sondern um Nachahmungen davon, ebenso wie es schon seit März 1933 nicht-studentische Bücherverbrennungen gegeben hatte. Alle bisher nachgewiesenen Verbrennungsakte im Jahr 1933 summieren sich auf 74, eine Zahl, die den Blick auf den Massencharakter des Phänomens frei gibt. Dafür sprechen auch die (geschätzten) Teilnehmerzahlen: In Berlin, der größten Veranstaltung, waren es – trotz des schlechten Wetters – rund 5.000 Studenten und Studentinnen, 40.000 Zuschauer auf dem Platz zwischen Oper und Universität, und noch einmal 40.000 auf den acht Kilometern entlang der Straßen während des Fackelmarsches.88 Das Verlaufsmuster der studentischen Bücherverbrennungen war im Kern festgelegt: Nach Durchführung der Fackelzüge und der Ansprachen sollten landesweit die gleichen »Feuersprüche« vorgetragen werden, wie zum Beispiel: »3. Rufer: Gegen Gesinnungslumperei und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner.« Betroffen waren vor allem jene Autoren, die schon vor 1933 als »Kulturbolschewisten«
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Zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung liegt umfangreiche Literatur vor. Hier eine Auswahl: 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen; Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933; Verfemt und Verboten; Treß: »Wider den undeutschen Geist«; Verbrannte Bücher 1933. Mit Feuer gegen die Freiheit des Geistes. Vgl. dazu auch Jan-Pieter Barbian in Band 3 /1 dieser Buchhandelsgeschichte, S. 7‒16. Dazu: Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933.
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oder »Asphaltliteraten« gebrandmarkt worden waren. Die insgesamt neun Feuersprüche waren zuvor versandt worden mit einem Begleitschreiben, in welchem es hieß: »Als Grundlage für die symbolische Handlung im Verbrennungsakt ist die im folgenden gegebene Aufstellung zu benutzen und möglichst wörtlich der Rede des studentischen Vertreters zugrunde zu legen.«89 Die Erreichung einer eindrucksvollen Symbolik war somit das erklärte Ziel der gesamten Veranstaltung. Dieser Absicht dienten noch andere zeichenhafte Handlungselemente: So etwa wurden begleitend vielfältige historische, seit dem Mittelalter bekannte Straf- und Marterrituale zitiert oder evoziert: Neben dem bereits erwähnten Schandpfahl gab es auch das Ochsenfuhrwerk, mit welchem früher die Delinquenten zum Richtplatz, hier jetzt die Bücher herangekarrt wurden. In Berlin wurde eine Büste auf einem Stock aufgespießt voran getragen; dieser Kopf stand für Magnus Hirschfeld, dessen »Institut für Sexualwissenschaft« im Rahmen der Durchsuchung und Plünderung der Bibliothek verwüstet worden war. Die symbolische Dimension der Bücherverbrennung wurde in den Ansprachen oder vielmehr Hetzreden immer wieder direkt angesprochen. In seiner »Flammen-Rede« in Göttingen erging sich der Germanist Gerhard Fricke in hemmungslosem Pathos: »Als Symbol dieses leidenschaftlichen Willens zur Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes lodern heute an zahlreichen deutschen Hochschulen die Flammen empor in den nächtlichen Himmel, zu verzehren jenen Schutt und Unrat, der das geistige Leben Deutschlands überfremdet, gelähmt und erstickt hat, ‒ freie Bahn zu schaffen für das Kommende, für die reine Verwirklichung des deutschen Geistes, der heute noch einmal aus Millionen losgelöster Einzelner ein Volk erwachsen lässt.«90 Es erscheint im historischen Rückblick bemerkenswert, dass im vielzitierten »Land der Dichter und Denker« eine solche Inszenierung breiteste Zustimmung finden konnte. Die nationalsozialistischen Machthaber selbst hatten offensichtlich kein Problem damit, dass es sich bei den Bücherverbrennungen um Akte handelte, die als anachronistisch, als barbarisch gedeutet werden konnten, wie sich dies in den Reaktionen der zivilisierten Welt sehr bald zeigte. Obwohl bekanntlich nicht wenige Länder der braunen Revolution in Deutschland gegenüber zunächst gar nicht so kritisch eingestellt waren: Auf die Bücherverbrennung reagierte man im Ausland teils mit Verwunderung, teils mit Spott, teils aber auch schockiert. Mit ungläubigem Erstaunen registrierten dänische Zeitungen, dass in Berlin offenbar längst entschwundene Zeiten Einzug gehalten haben, und auch in den USA zeigte man sich, zum Teil in Karikaturen, überrascht über diesen »Throwback to dark ages«. Die zu diesem Zeitpunkt bereits aus Deutschland geflüchteten Schriftsteller und Intellektuelle reagierten in ihren Asylländern alarmiert auf die Bücherverbrennung. Soweit sie in den Flammensprüchen namentlich genannt worden waren, war damit die Verbreitung ihrer Bücher in Deutschland de facto unmöglich geworden; ihre Exilierung war nun manifest. Andere solidarisierten sich mit den betroffenen Autoren – wie Oskar Maria Graf, der energisch dagegen protestierte, dass seine Bücher nicht auf den Scheiterhaufen geworfen worden waren.91 Die schriftstellerische Emigration in Paris trug sich
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Rundschreiben P 4 der Deutschen Studentenschaft; hier zit. nach: Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933, S. 77. Sauder: Akademischer »Frühlingssturm«. Germanisten als Redner bei der Bücherverbrennung, S. 150. Oskar Maria Graf: Verbrennt mich! In: Arbeiter-Zeitung (Wien), 2. Mai 1933.
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schon sehr bald mit dem Plan, eine Bibliothek der verbrannten Bücher zusammen zu stellen; vor allem Alfred Kantorowicz trat mit entsprechenden Ideen auf den Plan und erreichte es tatsächlich, dass am ersten Jahrestag der Bücherverbrennung im Rahmen einer großen Eröffnungsfeier die »Deutsche Freiheitsbibliothek« – so ihre offizielle Bezeichnung – vorgestellt werden konnte. Die Freiheitsbibliothek blieb einige Jahre lang ein Hauptprojekt der Emigranten in Paris und war, gemeinsam mit dem Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil, ein organisatorisches Zentrum der Gegenpropaganda gegen das Dritte Reich.92 Die Aktivisten wie Kantorowicz standen zwar der Kommunistischen Partei nahe, das Engagement gegen die Kulturbarbarei zog aber noch weitere Kreise, in Frankreich und darüber hinaus, zunächst vor allem in England, wo sich bedeutende, gemäßigt linksgerichtete Persönlichkeiten wie Lady Oxford and Asquith und andere Intellektuelle und Aristokraten für eine »Bibliothek des verbrannten Buches« begeistern ließen.93 Ein internationales Initiativkomitee entstand, mit Heinrich Mann als Präsidenten und André Gide, Romain Rolland, H. G. Wells und Lion Feuchtwanger als Ehrenpräsidenten sowie verschiedenen Landeskomitees. Die Gedenkveranstaltung am 10. Mai 1934 war in London ein gesellschaftliches Ereignis; insgesamt aber waren die Versuche einer Internationalisierung der Idee »Deutsche Freiheitsbibliothek«, zum Beispiel in Prag oder New York, nur begrenzt erfolgreich. Dennoch: der Öffentlichkeitseffekt war beachtlich. Aufschlussreich ist dabei die Tendenz, diese Aktivitäten mit gleichem Nachdruck symbolisch aufzuladen wie die Nationalsozialisten – selbstverständlich mit umgekehrtem Vorzeichen. Symbolisch war schon die Wahl des ersten Jahrestags, des 10. Mai 1934, für das Hervortreten der Bibliothek und die damit begonnene Kampagne gegen den Kulturterror in Hitlerdeutschland. Und es war nun die Deutsche Freiheitsbibliothek, die ‒ so in der Eröffnungsansprache von Alfred Kerr – als »Denkmal und Pranger gleichermaßen« fungieren sollte.94 Gleichzeitig sollte auch ein »Tag des verbrannten Buches« installiert werden, um die Weltöffentlichkeit fortgesetzt über die Kulturfeindlichkeit des Nationalsozialismus aufzuklären und generell auf die Folgen hinzuweisen, die mit der Machtübernahme des Regimes verbunden sein würden: Verwüstung des kulturellen Erbes, brutale Unterdrückung jeder Opposition, allgemeine Kriegsgefahr. Die nationalsozialistische Bücherverbrennung sei nichts anderes gewesen als die »mit terroristischen Mitteln durchgeführte Barbarisierung Deutschlands«, so Kantorowicz in seiner Rede »Stichtag der Barbarei«.95 Die Freiheitsbibliothek dagegen sollte ein Zeichen setzen für die »Unbesiegbarkeit und Unausrottbarkeit der Dokumente des fortgeschrittenen menschlichen Bewusstseins« und für die Fortexistenz jenes »anderen Deutschland«, das mit solchen Methoden nicht zum Schweigen gebracht werden könne.
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Die Einrichtung ist gut erforscht, siehe Bores: Die Deutsche Freiheitsbibliothek in Paris 1934 bis 1939. Zur deutschen Freiheitsbibliothek vgl. auch Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil (1983), S. 256‒314. Siehe auch Hoffmann: Die Deutsche Freiheitsbibliothek in Paris 1934‒1939. Bores: Die Deutsche Freiheitsbibliothek, S. 26. Bores, S. 31. Alfred Kantorowicz: Stichtag der Barbarei in Nazi-Deutschland. In: Alfred Kantorowicz: Vom moralischen Gewinn der Niederlage. Artikel und Ansprachen. Berlin: Aufbau 1949, S. 40 f.
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Die Kundgebungen am Jahrestag der Bücherverbrennungen wurden in den Folgejahren zur festen Einrichtung,96 und immer wieder wurde in den Ansprachen und Veröffentlichungen, etwa von Heinrich Mann, der symbolhafte Wert der Deutschen Freiheitsbibliothek unterstrichen: Sie beweise das unzerstörbare Wesen einer geistigen Kultur, sie stehe für die Weiterexistenz der deutschen Literatur. Bruno Frank bezeichnete die Bibliothek als »unsere Waffenkammer«; das »Steinbeil« der Gegner, des weltbedrohenden Faschismus, werde nicht triumphieren. Der Widerhall der Bücherverbrennungen in der Kulturwelt setzte sich noch in den 1940er Jahren im überseeischen Exil fort; in den USA bildeten sich »Gesellschaften der Freunde der verbotenen Bücher«, im Radio wurde Stephen Vincent Benets Hörspiel »They burned the Books« gebracht.97 Aus den Beispielen wird deutlich: Für die Exilanten eröffnete sich auf dem Feld der politischen Symbolik ein probates Instrument der publizistischen Gegenwehr. Das Symbol der Bücherverbrennung wurde von ihnen gleichsam doppelt kodiert: negativ besetzt wurde die barbarische Tat der Nationalsozialisten, in positiver Konnotation erschien dagegen das Schicksal der davon betroffenen Literatur: »Verbrannt« worden zu sein, wurde zu einem Ehrentitel eines Buches und seines Autors. Von dieser Doppelkodierung der Verbrennungssymbolik wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit publizistisch Gebrauch gemacht. Unzählige Notizen, Berichte und Artikel erschienen zu diesem Thema in der Exilpresse, aber auch in den Zeitungen und Zeitschriften der Asylländer. Auf diese Weise gestaltete sich gerade diese Kampagne – militärisch gesprochen – zu einem der erfolgreichsten Frontabschnitte im antinazistischen Kampf des Exils, denn der von den Nationalsozialisten offen begangene Kulturfrevel hatte Empörung quer durch alle politischen Lager erregt, gerade auch in bürgerlichen und aristokratischen Kreisen. Die Kampagne verzweigte sich in Signalbegriffe hinein wie jenen vom »freien deutschen Buch« oder von der »Verteidigung der Kultur«; zusammen mit weiteren einprägsamen Formeln ähnlicher Art entfachten die Exilanten ein publizistisches Trommelfeuer oder doch wenigstens ein politisch-propagandistisches Störfeuer, das die von Hitlerdeutschland nicht nur im Olympiajahr 1936 unternommenen Bemühungen um internationale Imagepflege empfindlich zu konterkarieren vermochte. 1936 wurde in Paris eine von Mitarbeitern der Deutschen Freiheitsbibliothek zusammengestellte Ausstellung »Das freie deutsche Buch – seine Entwicklung 1933‒1936« gezeigt – als örtliche Gegenveranstaltung zur nationalsozialistischen Buchwoche, die ebenfalls in Paris gezeigt wurde (siehe dazu weiter unten). Exakt zum dritten Jahrestag der Bücherverbrennung, am 10. Mai 1936, wurde der vom SDS im Exil gestiftete Heinrich-Heine-Preis ausgeschrieben, der bedeutendste Literaturpreis im Exil, auch dies ein Akt mit Symbolcharakter. 1938 wurde in Paris, wieder aus dem Kreis der Mitglieder des SDS im Exil heraus, ein Verlag mit dem programmatischen Namen Éditions du 10 mai / Verlag des 10. Mai gegründet, der allerdings bald ein Opfer des Kriegbeginns werden sollte. Und am 10. Mai 1942 wurde in Mexico City die Errichtung des Verlags El Libro Libre bekannt gegeben, der sich zum bedeutendsten Verlag dieser Exilphase entwickeln sollte – geleitet von einem literarischen Beirat, dem u. a. Anna Seghers, Ludwig Renn und Egon Erwin Kisch angehörten.98 96 97 98
Vgl. Schiller: Tag des verbrannten Buches. Bores: Die Deutsche Freiheitsbibliothek, S. 51. Siehe dazu Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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Die Exilanten hatten also sehr rasch begriffen, dass das Unterdrückungssystem des Nationalsozialismus in der so hochgemut durchgeführten Bücherverbrennungsaktion die Entlarvung seiner aggressiven Ideologie unwillkürlich bereits mitgeliefert hatte.99 Als Ausgeschlossene unterlagen sie auch nicht der kollektiven Wahnhaftigkeit,100 die innerhalb des Reiches die Abhaltung der Autodafés begünstigt hatte. Aus heutiger Sicht bleibt es eine Tatsache, dass die nationalsozialistische Studentenschaft mit der »Aktion wider den undeutschen Geist« einen ganz entscheidenden Beitrag zur Radikalisierung der NSHerrschaft geliefert hat. Vielen Aussagen zufolge konnten sich Beobachter in den ersten Wochen und Monaten nach der »Machtergreifung«, selbst nach dem Reichstagsbrand und den damals sofort einsetzenden Verfolgungen der linken Gegner, nicht vorstellen, dass es zu »Ungeheuerlichkeiten, wie Bücherverbrennungen und Schandpfahlfesten« kommen könnte; nach Stefan Zweig seien sie »einen Monat nach Hitlers Machtergreifung selbst für weitdenkende Leute noch jenseits aller Fassbarkeit gewesen.«101 Die Spirale der Gewalt wurde durch zeichenhafte Akte wie die Bücherverbrennungen in entscheidender Weise höher gedreht.
Die Ausstellung »Das Freie deutsche Buch – seine Entwicklung 1933 bis 1936« Dass die Formel vom »freien deutschen Buch« im Kampf der Exilanten gegen Hitlerdeutschland eine besondere Bedeutung erlangt hat, wurde bereits in der Einleitung dargelegt. Als eine öffentlichkeitswirksame Manifestation dieser Formel ist die vom 14. bis 23. November 1936 in Paris gezeigte Ausstellung »Das Freie deutsche Buch – seine Entwicklung 1933‒1936« zu betrachten, die von der Deutschen Freiheitsbibliothek102 mit Unterstützung und unter dem Patronat des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller erstellt worden war.103 Es handelte sich um eine gezielte Gegenveranstaltung zu einer zeitgleich, nur wenige Straßenzüge entfernt stattfindenden staatlichen Bücherschau des nationalsozialistischen Deutschland. Besucher beider Ausstellungen konnten sich davon
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Die Bemühungen, den 10. Mai zu einem Ehrentag der Literatur und des freien Wortes auszugestalten, wirkten weit über das Exil und weit über 1945 hinaus. So wurde der 10. Mai später in der DDR als Tag des Buches begangen, und in der Bundesrepublik spielte die Bücherverbrennungssymbolik in Reihen wie »Bibliothek der verbrannten Bücher« oder »Verboten und verbrannt« eine wichtige Rolle in den verlegerischen Versuchen, die deutsche Exilliteratur dem Publikum zu erschließen. Sehr eindrücklich gestaltet wird diese massenpsychotische Wahnhaftigkeit von Elias Canetti in seiner Theaterparabel Komödie der Eitelkeit, in welcher eine hypnotisierte Bevölkerung auf Regierungsbefehl alle Spiegel und Bilder zur Verbrennung zusammenträgt. Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: Fischer Tb. 1970, S. 416. Sehr wahrscheinlich hat Max Schroeder von der Deutschen Freiheitsbibliothek bei der Vorbereitung der Ausstellung eine führende Rolle gespielt. Die Ausstellung fand im Hause der Société de Geographie, 184 Boulevard St. Germain statt. Für Bilder von der Ausstellung siehe Holz / Schopf: Im Auge des Exils. Josef Breitenbach und die Freie Deutsche Kultur in Paris 1933‒1941. – Der Exilfotograf J. Breitenbach, der diese Buchausstellung dokumentierte, war auch für verschiedene Buchverlage durch Anfertigung von Autorenporträts, Reprographien von Umschlaggestaltungen u. a. m. tätig.
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überzeugen, dass die Exilverlage erfolgreiche verlegerische und buchgestalterische Konzepte aus der Zeit vor 1933 getreulicher fortführten als die vielfach auf einen martialischen oder volkstümelnden Auftritt umgestellten Bücher aus dem »Neuen Deutschland«. Es hatte daher hohen Symbolwert, als 1936 in Paris diese erste direkte Konfrontation der beiden Buchhandelssphären des Reiches und des Exils zustande kam. Vom nationalsozialistischen Deutschland wurden damals – bezeichnenderweise sämtlich unter Glas und daher nicht einsehbar – Beispiele der laufenden Buchproduktion ausgestellt, zuvorderst und natürlich in eigener Vitrine eine in einen Prachteinband gebundene Ausgabe von Adolf Hitlers Mein Kampf. Demgegenüber war in der »Deutschen Freiheitsbibliothek« die damals schon beachtliche Produktion der Exilverlage (Belletristik, Essayistik ebenso wie illegale Kampfschriften) zu sehen104 – aber nicht nur diese, sondern auch NS-Literatur, offen ausgelegt zum Blättern und Lesen, gedacht als eine Antipropaganda, die aus sich selbst heraus wirkte. Das Ausland sollte auf diesem Wege über die wahren Vorgänge in Hitler-Deutschland aufgeklärt werden. Dass auch Werke von Lessing, Voltaire und Heine sowie Bücher zeitgenössischer bürgerlicher Autoren ausgestellt waren, unterstrich den Traditionszusammenhang, als dessen Hüter sich die Emigration verstand. Zu der Ausstellung ist auch ein acht Seiten starkes Blättchen Das freie und das unfreie deutsche Buch erschienen,105 das neben einer »Kundgebung« von Heinrich Mann, Auszügen aus der Eröffnungsansprache von Hans Siemsen, einer »Kundgebung von Alfred Döblin« und einem Bericht über eine Veranstaltung des Internationalen -Thälmann-Befreiungs-Komitees im Rahmen der Buchausstellung auch einen »Rundgang durch die Ausstellung« sowie »Das Echo der französischen Presse« enthielt; beschlossen wurde es von einem Gedicht von Max Herrmann-Neiße: »Epilog zur Ausstellung ›Das Freie Deutsche Buch‹«. Von besonderem Interesse sind die Ausführungen Hans Siemsens, der Bezug nahm auf die Buchausstellung des Dritten Reiches, in welchem die »andere Seite« gezielt nicht gezeigt werde, nämlich »[…] die echte Nazi-Literatur. Die kriegshetzerische, kriegsvorbereitende, die sogenannte ›Wehrliteratur‹, die hunderte von Büchern und Broschüren umfasst, die Jugend-Bücher, die zu Hass und Krieg aufreizen, die Schulbücher, aus denen sie Goethe entfernt haben und nicht nur ihn, die Bilderbücher, in denen kleine Kinder zum Handgranatenwerfen angeleitet werden, das alberne aber bösartige Rassen-Geschwafel der Mythos-Männer, das Blubo-Gebabbel, die ›Stürmer-Pornographie‹, die antichristlichen und antikirchlichen Schriften, kurzum die ganze echte Nazi-Literatur, sie ist in dieser Nazi-Buch-Ausstellung nicht zu sehen. Einsam thront auf einem
104 Die gezeigten Bücher wurden von der Pariser Buchhandlung Ernest Strauss (zu dieser siehe das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel) zur Verfügung gestellt. Siehe Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 49 f. u. 58. Dort auch der Hinweis, dass Strauss sich in einem Schreiben an den Verlag Allert de Lange vom 26. November 1936 sogar die Initiative zu der Ausstellung zuschrieb. 105 Anonym: Das freie und das unfreie deutsche Buch. Sonderdruck von »Das freie Deutschland«. Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek. (Paris 1936). [Deutsches Exilarchiv Ks 755].
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Ehrenplätzchen: Hitlers ›Mein Kampf‹. Aber nur in der ›deutschen‹ Ausgabe. Dass die vollständige Uebersetzung dieses Buches auf Betreiben Hitlers in Frankreich verboten und unterdrückt ist, diese viel- ja allessagende Tatsache wird weislich verschwiegen.«106 Auf eine Gegenüberstellung der bereits zu beachtlichem Umfang angewachsenen Literatur des Exils mit dem nationalsozialistischen Terror war auch der in der Broschüre enthaltene »Rundgang« angelegt: »Ein bescheidener Saal, der kaum für die Fülle der Bücher und Dokumente reicht, die er darzubieten hat. Im Mittelpunkt dieser Ausstellung steht das Freie Deutsche Buch: denn die deutsche Literatur lebt. Und wenn sie im Augenblick auch aus ihrer Heimat vertrieben ist, so hat sie doch fast in der ganzen Welt von Anfang an ein Obdach gefunden, in Amsterdam und Zürich, in Prag und London, in Moskau und New York. Hier stehen ihre Zeugnisse in einer geradezu erstaunlichen Fülle, die aufzuzählen nur ein dicker Katalog reichen würde. […] Die Wände des bescheidenen Saales aber waren einer anderen Demonstration gewidmet: Hier wurde gezeigt, was die Nazis dem Ausland nicht zeigen dürfen. Hier erhielt die echte Nazi-Literatur den Raum sich zu entfalten und ihr wahres Gesicht zu zeigen, den sie bei ihrer eigenen Ausstellung nicht haben durfte. Hier hatte Hitler zwar keinen Ehren-, aber einen wichtigen Platz. Da stand nicht nur sein Buch ›Mein Kampf‹, da waren die Wände bedeckt mit Zitaten aus eben diesem Buch, deutsch und französisch. Auf derselben Wand aber wurde dem Besucher der Ausstellung dann gleich demonstriert, wie Hitler-Ideologie und Hitler-Politik in Deutschland sich praktisch auswirken: man sah in einem Original-Exemplar die ›Lager-Ordnung‹ des Konzentrationslagers Esterwegen, dieses Schanddokument, das alle literarischen Produkte Hitler-Deutschlands um Jahrhunderte überdauern wird: ›§ 8. Mit 14 Tagen strengen Arrest und mit 25 Stockhieben zu Beginn und am Ende der Strafe wird bestraft, wer in Briefen oder sonstigen Mitteilungen abfällige Bemerkungen über nationalsozialistische Führer, über Staat und Regierung, Behörden und Einrichtungen zum Ausdruck bringt, marxistische oder liberale Führer oder Novemberparteien verherrlicht, Vorgänge im Konzentrationslager mitteilt.‹«107 In der Ausstellung wurde auf diese Weise politische Aufklärungsarbeit mit einer Leistungsschau des Exils verbunden. In buchhandelsgeschichtlicher Betrachtung verdient der Umstand, dass das deutschsprachige Exil relativ rasch Erfolge auf der Ebene der Verlagsproduktion vorweisen und damit auch offensiv an die Öffentlichkeit gehen konnte, durchaus Beachtung: Diese im Medium Buch errungenen Erfolge bewirkten in der Gemeinschaft der aus Deutschland Vertriebenen ganz offenbar eine enorme Stärkung des Selbstbewusstseins und hatte für sie objektiv eine in diesem Stadium wichtige stabilisierende Funktion.
106 Das freie und das unfreie deutsche Buch, S. 2. 107 Das freie und das unfreie deutsche Buch, S. 6 f.
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Möglicherweise ließ die gute Resonanz auf die Ausstellung »Das Freie deutsche Buch« die Idee entstehen, man könnte noch vor bzw. zu Weihnachten eine Büchermesse veranstalten, mit einem Bücherverkauf zugunsten notleidender Schriftsteller. Wie schon die Ausstellung im November wurde diese vom 19. bis 31. Dezember 1936 in der Galerie Billet-Worms in der rue La Boétie stattfindende Messe von der Exilbuchhandlung Ernest Strauss beschickt.108
Die Buchausstellung des SDS »Das deutsche Buch in Paris 1837‒1937« Auch im Folgejahr 1937 trat die deutsche Emigration in Frankreich wieder mit einer Buchausstellung hervor, diesmal unter dem Titel »Das deutsche Buch in Paris 1837‒ 1937«.109 Es sollte dies eine Art Begleitveranstaltung zur Pariser Weltausstellung sein, die vom 25. Juni bis 22. November 1937 stattfand. In diesem Fall muss Ernest Strauss definitiv als Initiator gesehen werden, denn aus einem Schreiben vom 15. April 1937 an den Verlag Allert de Lange geht hervor, dass er mit den Verantwortlichen der Weltausstellung gesprochen und festgestellt habe, dass dort kein deutsches Buch gezeigt werde: »Unter diesen Umständen habe ich mich – im Einvernehmen mit einigen wichtigen Verlagen – entschlossen, im Anschluss an die Internationale Weltausstellung, aber ausserhalb ihres Rahmens, eine besondere Ausstellung des freien deutschen Buches von Mitte Mai 1937 bis Anfang Januar 1938 zu veranstalten. Träger dieser Veranstaltung ist der Schutzverband Deutscher Schriftsteller, der die Freundlichkeit hatte (in Gemeinschaft mit der französischen Societé des Gens de Lettres) das Protektorat zu übernehmen und die Ausstellung durch seinen Namen und die tätige Mitwirkung seiner Mitglieder zu unterstützen.«110 Die Ausstellung erfuhr dann noch einige konzeptionelle Modifikationen; präsentiert wurden schließlich in einem historischen Teil Werke von Klopstock, Schiller, Humboldt, Freiligrath, Heine, Börne, Marx, Engels, Büchner, Richard Wagner, und in einem zeitgeschichtlichen Teil Werke der aktuellen Emigration.111 Erstellt wurde die Ausstellung von Theodor Fanta, Hans A. Joachim und Bruno Frei; um die Finanzierung kümmerte sich Strauss.112
108 Vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 49. Dort auch der Hinweis auf den Briefwechsel von Strauss mit dem Amsterdamer Verlag Allert de Lange (Brief vom 8. Januar 1937; IISG, AdL, Akte 25, Bl. 375). 109 Näheres dazu bei Enderle-Ristori, S. 49 f. Die von Ende Juni für die Dauer der Weltausstellung (bis 20. November) geöffnete Ausstellung fand im Quartier Latin in der Salle de la Société d’Encouragement de l’industrie nationale statt (15, rue Gay-Lussac, Paris 5e). 110 Brief von Ernest Strauss an den Verlag Allert de Lange vom 15. April 1937 (IISG, AdL, Akte 25, Bl. 398); hier zit. nach Enderle-Ristori, S. 49 f. 111 Vgl. die Berichterstattung zur Ausstellung in der PTZ, u. a. in den Nummern 378, 380, 385 und 495 vom 25. Juni, 27. Juni, 2. Juli und 21. Oktober 1937. 112 Die Gesamtkosten waren mit ffrs 18.000 veranschlagt worden; 5.000 davon waren durch Spenden englischer Schriftsteller und französischer Gönner abgedeckt. Die fehlenden 13.000 wurden durch Zuwendungen von Exilverlagen und -zeitschriften aufgebracht. Vgl. hierzu Enderle-Ristori, S. 58, Anm. 119 (dort genannte Quellen: Strauss an AdL, 15. April 1937; IISG, AdL, Akte 25, Bl. 398; Bundesarchiv Berlin, Bestand Pariser Tageszeitung, Akte 47, Bl. 413 ff.)
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Abb. 3: Die Büste Heinrich Heines auf der Einladungskarte zur Ausstellung 1937 sollte an den hundert Jahre zuvor im Pariser Exil lebenden Dichter erinnern, spielte aber auch auf den vom SDS im Exil vergebenen Heine-Preis an.
Die Exilautoren stellten sich mit diesem hundertjährigen Bezugsrahmen 1837‒1937 in eine ehrwürdige Tradition, in die Nachfolge freiheitsliebender deutscher Dichter, die vielfach selbst das Schicksal der Exilierung erlitten hatten und inzwischen in den Kanon der deutschen Literatur und des deutschen Geisteslebens aufgenommen worden waren. Genau darauf wies Lion Feuchtwanger in seiner Eröffnungsrede hin;113 und auch in den Berichten in den Exilorganen wurde diese Traditionslinie entsprechend hervorgehoben, so in einem mit »Stormann« gezeichneten Artikel in der Zeitschrift Das Wort: »Deutsche und deutschsprechende Gäste der Weltausstellung, alle Freunde der großen deutschen Dichtkunst werden überrascht sein von dem imposanten Reichtum der antifaschistischen deutschen Literatur. Hier zeigt sich eines klar: die großen Kulturtraditionen deutschen Geistes, die man im Dritten Reich zertrampelt, werden von den deutschen Schriftstellern im Exil sorgsam gepflegt und weiterentwickelt.«114
113 Lion Feuchtwanger: Das deutsche Buch in der Emigration. In: PTZ 2. Jg. Nr. 385 v. 2. Juli 1937, S. 3. Vgl. auch die Notiz in der Neuen Weltbühne vom 10. Juni 1937. 114 Brief aus Paris. In: Das Wort 1937, Heft 4, S. 78 f. Hervorhebung im Original.
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Diesem »imposante[n] Reichtum der antifaschistischen Literatur« stellte der Kommentator der Ausstellung die Dürftigkeit des nationalsozialistischen Kulturlebens gegenüber, wie sie im Auftritt Deutschlands auf der Weltausstellung zum Ausdruck kam: Der Pavillon des Dritten Reichs zeigt von der literarischen Produktion im faschistischen Deutschland nur ein (Mach)Werk: ein dünnes Gedichtbändchen des von Goebbels preisgekrönten SA-Mannes Gerhart Schumann. Von einem zweiten ›deutschen Dichter‹ namens Heinrich Waggerl, zeigt man nur – ein Porträt. Alles andere, was der deutsche Pavillon an Literatur enthält, ist vor der faschistischen Barbarei in Deutschland geschaffen worden oder gehört zum größten Teil sogar der deutschen Klassik an, die in Deutschland diffamiert, verfälscht und unterdrückt wird. […] Womit der Hakenkreuzpavillon in Paris protzt, das sind die herrlichen Piper-Drucke, vor allem Reproduktionen von Dürer und Rembrandt ‒ längst vor Anbruch der Hitler-Diktatur dagewesen; die kleinen prächtigen Dünndruckausgaben des InselVerlages ‒ längst vor Anbruch der Hitler-Diktatur dagewesen; Prachtausgaben von Grimms Märchen, Charles de Costers ›Tyll Ulenspiegel‹, Rainer Maria Rilkes ›Stundenbuch‹ und anderes – alles längst vor Anbruch der Hitler-Diktatur dagewesen! Aus der Ära des Dritten Reiches werden, wie gesagt, zwei lebende ›deutsche Dichter‹ genannt: Gerhart Schumann und Heinrich Waggerl. Außerdem natürlich – und das hätte ich doch beinahe vergessen – wird ›Mein Kampf‹ gezeigt, in Leder gebunden. In Schweinsleder.115 Was der Verfasser noch nicht wissen konnte: für die in Halbleder gebundene Geschenkausgabe von Mein Kampf sollte der Eher-Verlag im Rahmen der Weltausstellung einen »Grand Prix« zugesprochen bekommen.116 Das Medium Ausstellung wurde noch mehrfach zur Erzielung von öffentlicher Aufmerksamkeit für die Sache des Anti-Hitler-Kampfes in Anspruch genommen, sehr zum Ärger des NS-Regimes. Als Anfang 1938 in Paris eine hauptsächlich vom ThälmannKomitee organisierte Ausstellung »Cinq ans de régime hitlérien« gezeigt wurde, kam es zu energischen Interventionen und Demarchen des deutschen Botschafters in Paris.117 Im Allgemeinen wurden solche Versuche, die politische Aufklärungsarbeit der Exilanten zu unterbinden, von diesen als willkommener »Wirkungstreffer« aufgefasst; einen besonderen Triumph bedeutete sicherlich der offizielle Protest des Dritten Reiches gegen Arbeiten John Heartfields, die in Prag ausgestellt wurden.118
Tarnschriften Eine besondere Facette des publizistischen Exils repräsentieren die vor allem von Seiten der KP entwickelten Bemühungen, mittels Tarnschriften nach Deutschland hineinzuwir-
115 Ebd., S. 79. 116 Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers »Mein Kampf« 1922‒1945, S. 418. 117 Vgl. die genaue Darstellung dieser Proteste und der französischen Reaktionen darauf bei Badia: Heurs et malheurs d’une exposition sur le IIIe Reich (1938). 118 Siehe Buchgestaltung im Exil, S. 104.
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ken und politische Aufklärung unter ein Volk zu bringen, das sich ganz offensichtlich von den Machthabern täuschen und blenden ließ.119 Im Zeichen dieses in das gegnerische Gebiet hinein getragenen antifaschistischen Kampfes entstanden vielfältige Formen einer camouflierten Literatur, meist kleinformatige, leicht transportierbare, mit nach außen hin unverfänglichen Titeln und Einbänden versehene Broschüren subversiven Inhalts, die auf geheimen Wegen eingeschmuggelt wurden.120 Die Bedeutung der Tarnschriften ist mehr auf symbolischer Ebene zu sehen; die konkrete Wirkung der in NSDeutschland zumeist sehr rasch aus dem Verkehr gezogenen Schriften war sicherlich bescheiden. Selbst im Falle einer weiteren Verbreitung stand angesichts der meist wenig einfallsreichen Inhalte – meist Zitaten aus Werken von Marx und Engels, Ausschnitten aus Parteischrifttum, pathetischen Appellen von Autoren, Agitprop-Literatur etc. – kaum eine Stärkung der inneren Widerstandsfront zu erwarten. Es gab allerdings auch politische Appelle z. B. von Heinrich Mann, die auf diese Weise Verbreitung finden sollten.121 119 Nahezu 80 % aller Tarnschriften wurden von kommunistischer Seite herausgebracht. 120 Zur Erfassung siehe Gittig: Bibliographie der Tarnschriften 1933 bis 1945 (1996). Es handelt sich hier um eine Neuausgabe der von Gittig 1972 in Leipzig veröffentlichten Bibliographie (Gittig: Illegale antifaschistische Tarnschriften 1933 bis 1945). Die Neuausgabe verzeichnet 1.024 Tarnschriften (mit 2.857 Standortnachweisen in 29 Archiven und Bibliotheken) und damit fast doppelt so viele wie die erste Fassung 1972, die nur 590 Tarnschriften kannte. Der Verlag K. G. Saur brachte darüber hinaus eine umfassende Mikrofiche-Edition der Tarnschriften heraus: Tarnschriften 1933 bis 1945 (auch Bestandteil der vom K. G. Saur Verlag erstellten Online-Datenbank Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933‒ 1945 / National Socialism, Holocaust, Resistance and Exile 1933‒1945, in der rund 40.000 Quellen mit ca. 450.000 Seiten zur Verfügung gestellt werden, u. a. mit Schriftwechseln aus den Behörden des Dritten Reiches wie der Parteikanzlei der NSDAP; Reden, Schriften und Anordnungen Hitlers bis 1945; die Tagebücher von Joseph Goebbels; Stimmungs- und Lageberichte des Geheimen Staatspolizeiamts aus dem Reich; Anklageschriften und Urteile des Volksgerichtshofes; Ausbürgerungs- und Deportationslisten u. a. m.). – Erste Hinweise auf diese Form maskierter Exilliteratur hatte bereits 1947 F. C. Weiskopf gegeben (Weiskopf: Unter fremden Himmeln, Kap. »Unter der Tarnkappe«. Ausgabe Aufbau-Verlag 1981, S. 83‒86). – Sammlungen von illegalen antifaschistischen Tarnschriften befinden sich in der Deutschen Nationalbibliothek (Frankfurt am Main und Deutsche Bücherei Leipzig), in Berlin in Archiv und Bibliothek der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin, in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz sowie in der Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst und Sprachpflege; Abt. Geschichte der sozialistischen Literatur Deutschlands; weitere Tarnschriften-Bestände halten die Friedrich-Ebert-Stiftung, Bad Godesberg, das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, die Königliche Bibliothek in Kopenhagen, die von Theo Pinkus aufgebaute Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Zürich, das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien und die Wiener Library in London. 121 Vgl. hierzu Greinert: Subversives Brausepulver. Heinrich Manns Tarnschriften gegen den Nationalsozialismus. Als Tarnschrift in Umlauf gebracht wurde auch Thomas Manns Briefwechsel mit der Philosophischen Fakultät Bonn von 1936 /1937 über die Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde. Die 1937 bei Oprecht in Zürich erschienene Schrift wurde u. a. mit dem Umschlag Briefe deutscher Klassiker versehen. Vgl. https://kuenste-im-exil.de/KIE/ Content/DE/Themen/tarnschriften.html. Außerdem erschien sie als Prospekt für einen neuartigen Gasherd: Bei uns gibt es jetzt Braten, ohne daß etwa das Haus verräuchert würde! (Katalog des Deutschen Exilarchivs, Bd. 1, Nr. 388).
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Abb. 4: Warum nicht ein Musikinstrument? Münster i. W.: H. Herforth (1934) [mit Texten von W. Pieck, D. Manuilski, G. Dimitroff]; Neues SA-Liederbuch. München: Franz Eher Verl. 1934 [mit Witzen über NS-Führer und Umdichtung rechtsradikaler Lieder]; Erfolg durch Nivea. O. O. Beiersdorf & Co. (1935) [mit Rede von KPF-Chef Maurice Thorez].
Das Einschmuggeln des Propagandamaterials erfolgte hauptsächlich über das von der Kommunistischen Partei aufgebaute Verteilernetz, das von den sogen. »Grenzsekretariaten« ausging und die Mithilfe von Oppositionellen im Reich voraussetzte, auch von Eisenbahnarbeitern und Seeleuten, die den Transport bewerkstelligten und die Schriften unauffällig ins Land schafften.122 Wieder war Münzenberg einer der Hauptbeteiligten an diesen Aktionen: Münzenberg nutzte seinen erstaunlichen Erfindungsgeist, um diese antinazistischen Flugblätter und Schriften in der harmlosesten Aufmachung nach Deutschland zu schmuggeln: in Prospekten von Reiseagenturen, Gebrauchsanweisungen für Fotopapier, Werbung für Haarshampoo, Samentüten mit Parolen wie ›Neue Saat in der deutschen Politik aussäen und das Nazikraut ausrotten‹ oder ›Deutschland riecht nach Blut, das Vaterland muß von Kopf bis Fuß gereinigt werden‹. Eine andere Methode bestand darin, winzige Bücher auf Bibelpapier zu drucken oder Bücher mit harmlosen Titelblättern zu versehen. Die deutschen Klassiker wurden oft Opfer solcher surrealistischen Vertauschungen.123 Mehrfach wurden Schriften von Becher, Brecht, O. M. Graf, E. E. Kisch und anderen in den Umschlag von Reclams Universalbibliothek gekleidet,124 anstelle des dritten Akts von Schillers Jungfrau von Orleans fand sich das Kommunistische Manifest. Auch die Manesse-Miniatur-Bibliothek eignete sich gut für solche Camouflage; auf diese Weise
122 Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, S. 52. Vgl. auch Ruppelt: »Die Kunst des Selbstrasierens«. Tarnschriften gegen die nationalsozialistische Diktatur. 123 Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, S. 52 f. 124 Dazu: Gittig: Antifaschistische Schriften im Tarnumschlag.
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Abb. 5: H. Bach: Rechenkunststücke und mathematische Scherze. Reutlingen: Ensslin & Laiblin (1935) [mit Referat von Walter Ulbricht über den gewerkschaftlichen Kampf in Deutschland] und einem Ausschnitt, der den fließenden Übergang vom Original- zum Propagandatext zeigt.
wurden etwa die Reden des Internationalen Schriftstellerkongresses 1935 getarnt. Brechts »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit« sollten unter dem beziehungsreichen Titel Handbuch in erster Hilfe. Sofortmaßnahmen verbreitet werden. Auch Heinrich Manns Aufrufe wurden in einfallsreicher Weise »verpackt«; »An alle Deutschen« (1938) in einen Reiseprospekt, »Deutsche Arbeiter!« in Briefmarkenheftchen, »Einig gegen Hitler!« in Brausepulvertütchen mit Cola-Zitronengeschmack. Schriften Thomas Manns gelangten zusammen mit Lyon’s Teebeutel nach Deutschland. »Doch so einfallsreich diese Propaganda auch war – ihre Wirkung blieb begrenzt. Sie bereitete der Gestapo viel Arbeit und Ärgernis, war aber nicht in der Lage, das Regime zu gefährden, und die Lektüre dieser illegalen Schriften konnte immerhin die Einlieferung ins Konzentrationslager kosten.«125 In dem 1972 von Gittig aufgestellten Verzeichnis antifaschistischer Tarnschriften wurden von den insgesamt 590 Tarnschriften 464 der KPD zugeordnet,126 45 den Volks-
125 Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs, S. 53. Siehe auch den Hinweis in Fn. 56: »G. Regler erinnert in seinen Memoiren daran, daß die deutsche Eisenbahndirektion 1934 die Entdeckung von 699 subversiven Schriften in Zügen aus Richtung Belgien und Holland gemeldet habe. Mehr als 1.860 Broschüren und Druckerzeugnisse wurden bei Reisenden beschlagnahmt.« Reglers Informationsquelle ist nicht verifizierbar. 126 Eine Auswahl dieser Drucke aus den Jahren 1935 /1936 ist erschienen in: Tarnschriften der KPD aus dem antifaschistischen Widerstand. Die Kassette enthält 12 Reproduktionen von Tarnschriften, die unter folgenden Titeln erschienen waren: Gackenholz: Das Diktat von
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frontorganisationen, 32 dem KJVD / KJI, 30 anderen Gruppen, zehn dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS), neun der SPD.127 Im Rahmen der von ihm 1996 vorgelegten erweiterten Bibliographie hat Gittig eine solche statistische Zuordnung nicht mehr vorgenommen, es dürfte sich aber an der absoluten Dominanz der Schriften kommunistischer Provenienz nichts Grundsätzliches geändert haben. Allerdings handelte es sich nicht immer um politisches Agitationsschrifttum: So etwa wurde 2017 in einem Antiquariatskatalog ein getarntes Exemplar des 1936 bei Querido in Amsterdam erschienenen Romans Die Saat von Gustav Regler angeboten, das – in Text und Satz mit dem Original übereinstimmend ‒ mit einem fingierten Titel (Peter Dillinger: Der böse Pfennig. Historischer Roman aus der deutschen Vergangenheit. Tannkirch / Elsass: Heimat und Freiheit 1936) versehen worden war und offensichtlich vom Verlag selbst für die illegale Verbreitung in Deutschland gedacht war.128 Eine dieser Tarnschriften verdient besondere Hervorhebung, auch weil sie 1978 als Reprint neu aufgelegt worden ist und in dieser Form relativ weite Verbreitung gefunden hat: Deutsch für Deutsche, das 1935, als ein Bändchen der in Leipzig erscheinenden ›Miniaturbibliothek‹ getarnt, vom Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Exil (›SDS im Exil‹) und der Deutschen Freiheitsbibliothek anlässlich des 1. Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur in Paris herausgebracht worden ist.129 Zusammengestellt worden ist es allerdings hauptsächlich von Otto Katz, dem engen Mitarbeiter Willi Münzenbergs,130 und seitens der Deutschen Freiheitsbibliothek von Max Schroeder und ver-
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Versailles und seine Auswirkungen; Wiechert: Das Spiel vom deutschen Bettelmann; Roesingh: 50 Eintopfgerichte. Zum Gelingen des Winterhilfswerks; Donop: Sportgymnastik. Übungen zur allgemeinen Vorbildung; Kosch: Pilze ‒ Beeren ‒ Wildgemüse. Genaue Beschreibung von 189 Pilzen, Beeren und Wildgemüse; Mappes: Ratgeber für den Haus-, Schreber- und Siedler-Garten; Wilde: Der ideale Gatte; Schwandt: Rundfunkempfang störungsfrei; Zwing: Hans Narr Das Kleeblatt; Bach: Rechenkunststücke und mathematische Scherze; Bechlingen: Kindermund. Allerhand Drolliges aus der Kinderstube. Vgl. Gittig: Bibliographie der Tarnschriften 1933 bis 1945, S. 15 f. Angebot des Wiener Antiquariats Georg Fritsch, Monatsliste Austria Drei ‒ Juni 2017, Nr. 38; in der Beschreibung dieses »ungehobenen Schatzes der Exil-Literatur« heißt es weiter: »Bibliographisch nicht ermittelt, für uns lediglich ein Exemplar (ohne Hinweis auf Regler) im Verzeichnis der Bibliothek seiner damaligen Genossin und späteren Feindin Anna Seghers nachzuweisen. Vorsatz mit handschriftlichem Eintrag ›Regler‹«. Deutsch für Deutsche. Hrsg. v. Schutzverband Deutscher Schriftsteller und der deutschen Freiheits-Bibliothek (Miniaturbibliothek Nr. 481/ 483). Leipzig: Verlag für Kunst und Wissenschaft Albert Otto Paul 1935 (eig. Paris 1935). Reprintausgabe u. d. T.: Tarnschrift »Deutsch für Deutsche«. Herausgegeben im Juni 1935 vom Schutzverband deutscher Schriftsteller Sektion Frankreich. Mit einem Nachwort von Theo Pinkus. (Neu herausgegeben von der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Zürich. Die Tarnschrift erschien 1935 im Format 8 x 12 cm und wurde für diese Ausgabe um 25 % vergrößert). Frankfurt am Main: Zweitausendeins o. J. (1978). Vgl. den Brief von Johannes R. Becher an Willi Bredel vom 14. Juni 1935: »Übrigens bringen wir zum Kongreß eine Anthologie heraus, die von O[tto] K[atz] gemacht wird. Es wird eine besonders wirksame Sache sein und die deutsche Arbeit auf dem Kongreß außerordentlich gut vertreten.« (hier zit. n. Paris 1935. Reden und Dokumente, S. 489, Anm. zur Rede von Jan Petersen).
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Abb. 6: Die Tarnschrift Deutsch für Deutsche ist ein Dokument der Bestrebungen, innerhalb des SDS im Exil eine oppositionelle Einheitsfront herzustellen. Sie erschien u. a. auch als Deutsche Mythologie.
mutlich auch Alfred Kantorowicz.131 Schroeder war auch für Münzenbergs Verlag Éditions du Carrefour tätig, der sich bei dieser Tarnschrift im Hintergrund hielt, jedoch an Herstellung und Vertrieb beteiligt war. Wieder andere Quellen legen nahe, dass der von Hans Beimler (ZK der KPD) mit der Leitung der KPD-Parteiorganisation der Schriftsteller in Paris betraute Michael Tschesno-Hell* die Arbeit an der Anthologie angeregt hat und auch einer der Hauptbeteiligten bei der Zusammenstellung der Texte gewesen ist.132 Von Erich Weinert stammt das (nicht namentlich gezeichnete) programmatische Vorwort; er war schon vor seiner Tätigkeit im Saarkampf 1934 im SDS für die Erarbeitung illegaler Schriften zur Unterstützung des Widerstands im Reich verantwortlich und ist beim Pariser Schriftstellerkongress 1935 mit einer thematisch einschlägigen Rede aufgetreten. Auch Gustav Regler dürfte an der redaktionellen Arbeit teilgenommen haben,
131 Eingehend zur Entstehung der Anthologie Schiller: Leidenschaft der Anklage und Mut zur Vision. Durch diese über weite Strecken neu konzipierte Auseinandersetzung mit der Tarnschrift ist Schillers früherer, in DDR-Zeiten erschienener Aufsatz: »Deutsch für Deutsche«. Zur Anthologie des Schutzverbands deutscher Schriftsteller im Exil (erschienen in: Weimarer Beiträge, H. 6, 1985, S. 942‒965) überholt. 132 Schiller: Leidenschaft der Anklage, S. 129.
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sicher aber Bodo Uhse, von dem auch der (nicht verwendete) Entwurf eines Vorworts zur Anthologie erhalten ist.133 Mit Beiträgen (auch Fotomontagen sowie Kompositionen) von 43 emigrierten deutschen Schriftstellern und Künstlern – hauptsächlich aus dem kommunistischen Lager, aber auch von Bruno Frank, Max Herrmann-Neiße, Emil Ludwig, Klaus Mann, Walter Mehring, Rudolf Olden – handelt es sich bei dieser Anthologie um die erste umfassende Repräsentation deutscher Exilliteratur. Im Allgemeinen kennt man die Tarnschrift unter dem einen »Sprachkurs« simulierenden Titel Deutsch für Deutsche, daneben gab es aber noch zwei weitere Versionen unter den Titeln Deutsche Volkskunde und Deutsche Mythologie. Gemeinsam haben alle drei Versionen eine Dimension des Ironisch-Doppelbödigen. In der Tat nehmen sie ideologiekritisch die Deutschtümelei des Nationalsozialismus aufs Korn und machen sie in einer Art Umkehrung zu einer »Leseorientierung«. Die enthaltenen Texte wollten – nach Heinrich Mann ‒ in der historischen Situation für sich in Anspruch nehmen, die Stimme des zum Schweigen gebrachten deutschen Volkes zu repräsentieren. Die aus Weinerts Vorwort sprechende »Revolutionserwartung« verkannte allerdings die reale Situation, die von einer weitgehenden Zustimmung der Bevölkerung zum neuen Deutschland geprägt war. Aber noch in solcher Selbstsuggestion konnte ein wichtiges Wirkmoment liegen, nämlich auf die Emigration selbst bezogen: Dieter Schiller statuiert, dass »die Arbeit an der ›Anthologie‹ des Schutzverbandes in Paris für den Prozeß der Selbstverständigung unter exilierten Autoren wichtiger war als sie auch unter günstigsten Bedingungen für die Wirkung ins Reich hätte werden können.«134 Nicht unbedingt überzeugend ist aber die Einschätzung, die Tarnschrift Deutsch für Deutsche könne als eine erste Umsetzung des neuen breiten Bündniskonzepts verstanden werden, das nach Überwindung der »sektiererischen« proletarisch-revolutionären Positionen nun auch – entsprechend den neuen Richtlinien der KP – nichtkommunistische, hauptsächlich linksbürgerliche Hitlergegner in den antifaschistischen Kampf mit einbeziehen wollte. Eine solche breite Bündnispolitik wurde bereits seit 1933 im SDS praktiziert, nicht zuletzt von Münzenberg, auch wenn dieser es hauptsächlich darauf anlegte, politische und literarische Prominenz vor den kommunistischen Karren zu spannen. Wenn die Anthologie also eine breitangelegte (vorläufige) Bilanz der Literatur des Exils vorstellen wollte und ihr ein für die damalige Zeit »sehr differenzierter Literaturbegriff zugrundegelegt« war, so reflektierte dies nur eine im SDS schon seit Beginn der Emigration gelebte Praxis, die allerdings in den folgenden Jahren durch die KP-Führung sehr schnell wieder zerstört wurde, weil diese Strategien verfolgte, die auf krassen Fehleinschätzungen beruhten. Die Anthologie Deutsch für Deutsche sollte in ihrer Bedeutung auch nicht überschätzt werden. Zum einen handelte es sich über weite Strecken um eine Klitterung von Textausschnitten, im Grunde ohne inneren Zusammenhang. Kenntlich wird diese Heterogenität schon äußerlich darin, dass durch Anwendung eines elektrostatischen Druckverfahrens das originale Aussehen der Texte beibehalten wurde. Zum anderen aber wurde das erklärte Ziel, die Tarnschrift in großer Auflage in Hitlerdeutschland zu verbreiten, allem Anschein nach komplett verfehlt. Es gibt Hinweise darauf, dass die zur heimlichen Einfuhr in das Deutsche Reich vorgesehenen 3.000 Exemplare in Strasbourg liegen geblieben sind;135 ein Vertrieb dürfte somit nur im Ausland, unter Emigran133 Schiller, S. 130. 134 Schiller, S. 135. 135 Schiller: Leidenschaft der Anklage und Mut zur Vision, S. 134.
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ten und sonstigen Interessenten, erfolgt sein. Die Meldung in der Neuen Weltbühne vom 3. August 1935 enthielt insofern eine Falschmeldung: Der ›Schutzverband Deutscher Schriftsteller‹ hat in den letzten Wochen ein etwa zweihundert Seiten starkes Dünnpapier-Heftchen herausgebracht, für das neben ihm die ›Deutsche Freiheitsbibliothek‹ verantwortlich zeichnet. […] Das Heft, eine Anthologie der seit dreissig Monaten im Ausland erschienenen deutschen Literatur und Publizistik, ist in dreitausend Exemplaren nach Deutschland geschafft worden. Es enthält Beiträge von zweiundvierzig Schriftstellern, drei Photomontagen von Heartfield, eine Notenseite von Eisler zu einem Gedicht von Brecht und die Noten zu einem Gedicht von Weinert.136 Offensichtlich machte man sich Illusionen über die Nachfrage nach solchen Schriften, denn in dem Artikel heißt es weiter: Die Anthologie wendet sich an die Aufrichtigen unter den Gegnern, an die Ehrlichen, die labil geworden sind, zweifeln, aufbegehren. Wenn man weiss, dass Passagiere selbst der ›Kraft durch Freude‹-Dampfer in Auslandshäfen Bücher, Zeitschriften und Zeitungen der Emigration erstehen […]; wenn man bedenkt, dass zu solchen Fahrten Privilegierte ausgewählt werden – dann kann man ermessen, dass der Wirkungsradius einer solchen Anthologie unmessbar gross zu sein vermag. Unter Zehntausenden illegaler Druckschriften in Deutschland ist dieses Heftchen zweifellos quantitativ bedeutungslos. Doch in ihm zeigt sich für Deutschland zum erstenmal die Manifestation einer literarischen Einheitsfront gegen den deutschen Fascismus.137
Rundfunk im Exil Größere Erfolge bei der Durchbrechung der um Deutschland gelegten Mauern versprach ein Medium, das vom NS-Regime selbst mit gewaltigem Aufwand als Massenpropagandainstrument gehandhabt wurde: der Rundfunk.138 Die Hoffnung, mit Ätherwellen ungehindert und sehr viel effektiver als etwa durch Tarnschriften die deutsche Bevölkerung mit politischen Botschaften erreichen zu können, ließ die Exilanten immer wieder nach Möglichkeiten suchen, eigene Sendestationen aufzubauen oder sich bei bestehenden Sendern in den jeweiligen Asylländern Sendezeiten zu sichern. Von den insgesamt erstaunlich vielfältigen Ansätzen dieser Art sind vier hervorzuheben, an denen Exilschriftsteller aktiv beteiligt waren: der »Deutsche Freiheitssender« 29,8 in Spanien, die deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau, der Deutsche Dienst der BBC und die Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Privat- und Regierungssendern. In Spanien wurden im Zusammenhang mit dem Einsatz der Internationalen Brigaden seit Anfang 1937 über staatliche Sender wie Radio Barcelona, dann auch über Madrid regelmäßig deutschsprachige Sendungen gebracht. Parallel dazu gab es auch 136 In: Die Neue Weltbühne, 3. August 1935, S. 1132. 137 Ebd. 138 Vgl. Pütter: Rundfunk gegen das Dritte Reich. Vgl. ferner die zusammenfassende Darstellung von Pütter: Rundfunk; sowie Pütter: Deutsche Emigranten und britische Propaganda.
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einen von der KPD organisierten, leistungsstarken Kurzwellensender, der seit dem 11. April 1937 auf der Welle 29,8 als »Deutscher Freiheitssender« zu hören war.139 Vorbereitende Arbeiten dazu wurden von Gerhart Eisler und Kurt Hager geleistet, ab Juli 1937 war Hans Teubner der leitende Redakteur. Zu den Autoren, die dem Sender Texte und Aufrufe zugeliefert haben, gehörten u. a. Heinrich Mann (in diesem Fall über eine eigens in Paris angefertigte Schallplattenaufnahme), Lion Feuchtwanger, Gustav Regler, Rudolf Leonhard, Alfred Kerr, Hans Marchwitza; auch wurden die Reden des »II. Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur« im Sommer 1937 ausgestrahlt. In der Sowjetunion war unter den damals herrschenden Bedingungen die Mitwirkung an Rundfunkaktivitäten mit hohen persönlichen Risiken verbunden. Der politisch streng kontrollierte und ideologisch überwachte Staats- und Parteirundfunk brachte unter dem Namen Radio Moskau bereits seit 1929 regelmäßig deutschsprachige Sendungen für das Ausland; berichtet wurde in erster Linie vom Aufbau des Sozialismus, nach 1933 standen die Sendeinhalte im Zeichen von Angriffen auf das NS-Regime in Deutschland. Neben den im Lande lebende Emigranten wie Willi Bredel, Erich Weinert oder Erwin Piscator kamen in den Jahren 1933‒1935 auch Besucher der Sowjetunion zu Wort; Ernst Busch, Bertolt Brecht oder John Heartfield gaben Interviews oder lasen aus ihren Werken. Als sich eine Verständigung zwischen Hitler und Stalin abzeichnete, wurde der Deutsche Dienst eliminiert und durch den Sender der Wolgadeutschen Republik ersetzt; Manifestationen des Antifaschismus waren nun unerwünscht. Die Situation kehrte sich mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wieder um, nun waren die Emigranten aufgerufen, ihren rundfunkpropagandistischen Beitrag zur Verteidigung des Sozialismus zu leisten: »Über 100 deutschsprachige Emigranten schrieben zwischen 1933 und 1954 Texte für den Deutschen Dienst von Radio Moskau.«140 Nach 1941 verdoppelte sich der Mitarbeiterstab auf 20 Redakteure und Sprecher; die Leitung des deutschen Dienstes lag stets in sowjetischen Händen, alle am Sender Tätigen wurden vom Geheimdienst GPU sowie von einer Führungsgruppe überwacht, der auch die KPD-Spitze unter Leitung Walter Ulbrichts angehörte. Zu den meistbeschäftigten Rundfunkautoren gehörten wieder Weinert und Bredel, daneben auch Johannes R. Becher, aus dessen Gedichtwerk fast täglich gesendet wurde, sowie Friedrich Wolf.141 In dem bei der BBC im Oktober 1940 eingerichteten Deutschen Dienst waren mit Robert Lucas (d. i. Robert Ehrenzweig) und Carl Brinitzer anfänglich nur zwei Emigranten als Sprecher und Übersetzer tätig; nach und nach wuchs diese Abteilung auf 100 feste und freie Mitarbeiter an.142 In Zusammenarbeit mit weiteren Emigranten wie Martin Esslin, Karl Otten oder Bruno Adler wurden mehrere Sendereihen entwickelt, zu den bekanntesten gehörten die satirischen »Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal« von Robert Lucas.143 Einen Höhepunkt der Rundfunkaktivitäten des Exils stellten die rund
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Vgl. Hermsdorf: Exil in den Niederlanden und in Spanien, S. 242–257. Pütter: Rundfunk, Sp. 1099. Vgl. hierzu auch Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, S. 353‒367. Vgl. Pütter: Rundfunk, Sp. 1090 f. Diese Briefe erschienen mit dem Vortitel Teure Amalie, vielgeliebtes Weib! 1945 in Zürich im Europa Verlag und waren ein großer Verkaufserfolg (Reprint der Originalausgabe und Hörbuch u. d. T. Die BBC gegen Hitler 2007).
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60 Reden dar, die Thomas Mann zwischen Oktober 1940 und Kriegsende an die »Deutschen Hörer« richtete. Anfangs von Carl Brinitzer verlesen, sendete BBC später Thomas Mann im Originalton von Los Angeles aus. Anders als fast alle anderen Sendungen unterlagen Manns Ansprachen nicht der britischen Zensur. Ende Mai 1940 wurde der erste deutschsprachige Schwarzsender auf britischem Boden eingerichtet, der Sender »Hier spricht Deutschland…«, unter der Leitung des Journalisten F. A. Voigt, der vor dem Krieg Korrespondent des Manchester Guardian in Deutschland gewesen war. Der Sender begriff sich als Stimme des »wahren Deutschland«, zielte auf ein national-konservativ gesinntes Bürgertum mittelständischen Zuschnitts (»ein echter Deutscher kann kein Nazi sein«), erwies sich aber als kurzlebig.144 Ein nächster, größer angelegter Versuch folgte mit dem »Sender der Europäischen Revolution«, eine deklarierte Initiative »deutscher Sozialisten« (Waldemar von Knoeringen), er nahm den Sendebetrieb am 7. Oktober 1940 auf und stellte ihn im Juni 1942 wieder ein.145 Die Initiative zu diesen beiden Sendern war von deutschen Emigrantenkreisen ausgegangen: »Bei allen acht anderen deutschsprachigen Schwarz- und Grausendern, die im Laufe des Krieges noch folgten, kam der Anstoß zur Einrichtung, die Festlegung der Rahmenbedingungen sowie die Auswahl des deutschen Personals allein von britischer Seite.«146 Die Geschichte des mit dem deutschsprachigen Exil verbundenen Rundfunks in Großbritannien war damit noch nicht zu Ende: Mit dem Sender »Gustav Siegfried Eins« (GS 1) begann 1941 die Phase, in der man sich psychologischer Methoden der Kriegsführung bediente; GS 1 war darauf angelegt, im Stil eines rechten Boulevardjournalismus die Granden des NS-Regimes zu attackieren, wobei auch auf eine Mischung aus »Sex and Crime« nicht verzichtet wurde.147 In den USA bot zunächst das privatwirtschaftlich organisierte Radiowesen beste Zugangsmöglichkeiten für deutschsprachige Emigranten, hier waren u. a. Hans Habe und Stefan Heym funkpublizistisch tätig. Später gewann das vom amerikanischen »Office of War Information« (OWI) eingerichtete gegenpropagandistische Sendewesen überragende Bedeutung, vor allem nach dem großzügigen Ausbau der Auslandsrundfunkorganisation: »Über 150 Mitarbeiter aus den Kreisen des deutschsprachigen Exils können namentlich nachgewiesen werden, darunter fast alle nach Amerika emigrierten deutschsprachigen Schriftsteller.«148 Josef Aufricht, Bertolt Brecht, Leopold Schwarzschild, Hans Sahl, Thomas Mann hatten sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt an der Arbeit des OWI beteiligt. Aber auch bei den im letzten Kriegsjahr in Europa positionierten Sendern wie Radio Luxemburg oder dem Deutschen Dienst der »American Broadcasting Station in Europe« spielten Emigranten wie Hans Habe bzw. Golo Mann eine wichtige Rolle. Die Bedeutung des Mediums Rundfunk für die Bildung einer Exilöffentlichkeit darf somit nicht unterschätzt werden, allein schon in psychologischer Hinsicht: Den Schriftstellern war bewusst, dass sie mit dem über Radio verbreiteten Wort unvergleichlich mehr Menschen erreichten als mit ihren gedruckten Werken; mithilfe des
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Pütter: Deutsche Emigranten und britische Propaganda, S. 111. Pütter, S. 113. Pütter, S. 120. Pütter, S. 123. Pütter: Rundfunk, Sp. 1095.
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grenzüberschreitenden Funks schien die Wiedergewinnung politischer Einwirkungsmöglichkeiten und zugleich eines literarischen Resonanzraumes in Deutschland erzielbar.
Die deutsche Buchexportförderung: ein »Bücherdumping« zum Schaden der Exilverlage? 1937 hat Wieland Herzfelde in einem in der Zeitschrift Das Wort erschienenen Aufsatz mit dem Titel David gegen Goliath die wesentlichen Probleme markiert, denen sich die Exilverleger in der damaligen Situation gegenübersahen, und wies dort auch auf Maßnahmen des Dritten Reiches hin, die sich aus seiner Sicht gegen den Emigrationsbuchhandel richteten. Insbesondere ging er auf das vom Reich seit dem 9. September 1935 betriebene »Bücherdumping« ein, also die Verbilligung des deutschen Buches im Ausland durch Herabsetzung des Verkaufspreises um 25 %.149 Diese Maßnahme, bei der die exportierenden Verlage für ihren Einnahmeausfall durch eine Exportprämie des Staates in gleicher Höhe entschädigt worden sind, wurde im Ausland zwar verschiedentlich als Versuch des Dritten Reiches interpretiert, die nationalsozialistische Weltanschauung international stärker zu verbreiten,150 tatsächlich handelte es sich aber um eine Reaktion auf den alarmierenden Rückgang des deutschen Bücherexports, der allerdings bereits am Ende der 1920er Jahre eingesetzt hatte; 1934 wurde kaum noch die Hälfte des 1926 erreichten Wertes erzielt.151 Hauptursache waren die für das Ausland zu hohen Preise der Bücher und vor allem der wissenschaftlichen Zeitschriften, bedingt nicht zuletzt durch die Abwertung der Währung in den USA, England und anderen Ländern.152 Auch sonst hatte das Reich mit sinkenden Deviseneinnahmen aus dem Export zu kämpfen. Bereits im Frühjahr 1934 hatte daher Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht eine umfassende Außenhandelskontrolle und Devisenbewirtschaftung verfügt, was übrigens zu beträchtlichen Schwierigkeiten im buchhändlerischen Zahlungsverkehr führte. Im Weiteren sollte im Zeichen eines »Neuen Plans« die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte – vor allem Stahl-, Textil- und Papierprodukte – durch staatliche Exportsubventionen erhöht werden. Ab dem 9. September 1935 erstreckte sich die Exportförderung deutscher Waren auch auf Bücher und Zeitschriften sowie auf Musikalien und graphische Lehrmittel (nicht aber auf Zeitungen und antiquarische Bücher). Die Regelung sah eine Senkung der Verkaufspreise im Ausland um 25 % vor, wobei der Differenzbetrag dem exportierenden deutschen Verlag, der die Druckwerke um einen entsprechend verminder-
149 Die ausführlichste Darlegung hierzu findet sich bei Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 1 in Kap. VI. Der »Gleichschaltung« zweiter Schritt [online]. 150 So etwa vermutete man in Österreich hinter der deutschen Buchexportförderung vorrangig politische Motive; in der Wochenzeitung Der Heimatschützer hieß es: »Das über Österreich verhängte deutsche Buchdumping ist ein offener Angriff des deutschen Propagandaministeriums auf den österreichischen Büchermarkt, auf die österreichischen Verlagsanstalten, auf die österreichischen Schriftsteller und auf die österreichische Kultur.« (zit. n. Hall, Bd. I, S. 154 bzw. online). 151 Vgl. Hall, S. 147. Vgl. hierzu auch Band 2 / 2 dieser Buchhandelsgeschichte. 152 Vgl. dazu u. a. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1993), S. 646‒653; ferner Hövel: Die Wirtschaftsstelle des deutschen Buchhandels.
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ten Auslandsnettopreis auslieferte, mittels Exportprämien aus staatlichen Geldern ersetzt wurde; monatsweise konnte er – im Rahmen eines komplizierten bürokratischen Verfahrens – die Rückvergütung bei der Wirtschaftsstelle des deutschen Buchhandels in Berlin beantragen. Das Reichswirtschaftsministerium hat angesichts des gesamtwirtschaftlich nicht sonderlich bedeutsamen Volumens des Buchexports diese Stützungsmaßnahmen mit wenig Nachdruck betrieben und hätte es nicht ungern fallengelassen; dagegen setzte sich Goebbels’ Propagandaministerium für die Beibehaltung des Verfahrens ein. Diese Tatsache war der Emigration bekannt und wurde als Beweis dafür gewertet, dass der ökonomische Aspekte nicht von vorrangiger Bedeutung war. Sie fasste daher, subjektiv zu Recht, die deutsche Buchexportförderung als einen Versuch Goebbelsʼ auf, das Schrifttum der Emigration zurückzudrängen und deren Verlage zu ruinieren, denn tatsächlich war es so, dass die Exilverlage mit Absatzrückgängen rechnen mussten, da ihre Bücher im Vergleich zum preisgestützten deutschen Buch auf den Auslandsmärkten nur noch vermindert konkurrenzfähig waren. So musste der Verlag Allert de Lange schon Anfang 1936 von einigen Büchern den Verkaufspreis senken bzw. preisgünstige Volksausgaben veranstalten, weil er sogar aus Rumänien Beschwerden von Buchhändlern erhielt, die klipp und klar vorrechneten, dass sie ein reichsdeutsches exportgestütztes Buch um den halben Preis eines Allert de Lange-Buches verkaufen konnten. Rumänien war für Exilverlage damals ein durchaus wichtiger Absatzmarkt, und auch aus anderen Ländern kamen vergleichbare Reaktionen: überall, wo das NS-Bücherdumping griff, entstanden Preisdifferenzen von bis zu 50 %.153 Es war also kein Verfolgungswahn, der die Exilverleger die deutsche Exportstützung als eine gegen sie gerichtete Maßnahme verstehen ließ. Zudem wurde ihre Sicht der Dinge noch genährt durch die Überzeugung, es sei hauptsächlich das Desinteresse des Auslands an Nazi-Literatur, das den Rückgang des deutschen Buchexports bewirkt hatte, und komplementär dazu die Nachfrage nach Exilliteratur. Sicherlich überzeichneten die Emigranten aus propagandistischen Motiven heraus ihren Erfolg, wenn sie – wie auch Wieland Herzfelde – triumphierend feststellten, die Exilliteratur beherrsche den Auslandsmarkt für deutschsprachige Bücher praktisch zur Gänze. Es war diese Sichtweise aber auch nicht gänzlich aus der Luft gegriffen, wenn man die Aufmerksamkeitswirkungen in Anschlag bringt, die einzelne Exilbücher in der internationalen Öffentlichkeit damals errungen haben. Von daher war es nur ein logischer Schritt, die deutsche Buchexportförderung als Angriff auf das dem Dritten Reich verhasste Exilverlagswesen zu interpretieren.
153 Nawrocka: Verlagssitz, S. 110.
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Autoren
Die Schriftstelleremigration: Ein Massenexodus Die Verbannung von Autoren stellt eine seit der Antike praktizierte Maßnahme politischer Machthaber dar. Ein historisch einzigartiges Phänomen repräsentiert aber die 1933 einsetzende Massenvertreibung von rund 5.500 Persönlichkeiten des kulturellen Lebens aus Deutschland, unter ihnen mehr als 2.000 Schriftsteller und Publizisten.1 Zahlenmäßig machten sie nur einen geringen Teil der mehr als 500.000 Personen umfassenden deutschsprachigen Gesamtemigration nach 1933 aus, unter Berücksichtigung ihrer Sprecherfunktion muss man in ihnen aber eine ihrer Kerngruppen sehen. Politisch exponierte Schriftsteller waren, da von Verhaftung bedroht, bei erster Gelegenheit ins Ausland gegangen; andere, noch nicht unmittelbar gefährdete, aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft öffentlich diffamierte Autoren verstanden sehr bald, dass sie in intellektueller, moralischer und kreativer Hinsicht unter den Bedingungen des Nationalsozialismus weder leben noch arbeiten und publizieren konnten, und zogen daraus sehr bald die Konsequenzen. Besonders die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 waren für viele das Fanal, das über die aggressive Geistfeindlichkeit und den bösartigen Rassismus dieses Systems keinen Zweifel mehr offen ließ. Aus diesem Grund befand sich der größte Teil der bedeutenderen, auch der international anerkannten deutschen Autoren bereits Ende 1933 im Ausland.2 Es war der Romanschriftsteller Alfred Döblin, der dieses im Exil zusammengeballte schriftstellerische Potential in seiner 1938 publizierten Broschüre über Die deutsche Literatur im Ausland seit 1933 als »gespenstischen Anblick« beschrieben hat: Diese Dutzende kräftiger, vielgelesener, ja gefeierter, hochbegabter Autoren im Ausland, diese Verschwendung, dieser losgerissene Apparat, groß genug, um ein gebildetes Millionenvolk zu bedienen, an einen kleinen Ort verschlagen! Ein ganzes Kriegsschiff in einen Tümpel gesetzt. Wer kann diese Maschine auf die Dauer feuern? Wem soll ihre Leistung dienen?3
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Horst Möller zufolge können »unter Einschluß der politischen Publizisten ungefähr 5.500 Persönlichkeiten im weiteren Sinn zu den verschiedenen Sektoren des kulturellen Lebens« gezählt werden (Möller: Exodus der Kultur, S. 38). Das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 (3 Bde., München 1980‒1983) zählt bei insgesamt 8.600 Einträgen trotz seines Auswahlverfahrens 1.600 Emigranten zu Schriftstellern und Publizisten; die 2., verbesserte und stark erweiterte Auflage der von Sternfeld und Tiedemann vorgelegten Bio-Bibliographie Deutsche Exil-Literatur 1933‒1945 (Heidelberg 1970) verzeichnete, obwohl ebenfalls nicht vollständig, die Namen von 1.880 Autoren. Alexander Stephan schätzt die Zahl der »exilierten Vertreter aus Literatur, Publizistik und Presse« auf 2.500 (Stephan: Die intellektuelle, literarische und künstlerische Emigration). Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 1: Bedrohung und Verfolgung bis 1933 (1972), bes. Kap. IV: Flucht aus Deutschland, S. 197‒257. Zu den Fluchtwellen und insgesamt zur Chronologie und Topologie der Vertreibung siehe in diesem Band das Kap. 1 Geschichtliche Grundlagen. Döblin: Die deutsche Literatur [im Ausland seit 1933], S. 208.
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Diese Frage sollte ihre Antwort finden: mit dem Aufbau von Verlagen, der Gründung von Zeitschriften, der Errichtung von Distributionsnetzen und Verkaufsstellen, und der schwierigen, aber doch nicht erfolglosen Suche nach einem Lesepublikum. Mit dem durch politische und »rassische« Verfolgung erzwungenen Massenexodus deutscher Schriftsteller war gewissermaßen eine Grundvoraussetzung für den Aufbau eines eigenständigen literarischen Lebens und im Weiteren auch eines literarischen Marktes im Exil bereits seit den ersten Monaten des Jahres 1933 gegeben. Wie bereits angedeutet liegt das Außerordentliche dieser schriftstellerischen Massenmigration nicht nur in der schieren Menge der Vertriebenen, sondern auch in dem Faktum, dass diese fast alle der literarisch renommiertesten und auf dem Buchmarkt erfolgreichsten Autoren Deutschlands und Österreichs umfasste. Die lange Liste der Exilschriftsteller enthielt einen Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger ebenso wie einen Alfred Döblin, Oskar Maria Graf, Arnold Zweig oder Joseph Roth; die Bestsellerautoren Emil Ludwig und Stefan Zweig ebenso wie Georg Hermann, Alfred Neumann, Robert Neumann, René Schickele und Annette Kolb; sie schloss hauptsächlich mit Bühnenstücken hervorgetretene Namen wie Ferdinand Bruckner, Ödön von Horvath, Ernst Toller und Carl Zuckmayer ebenso ein wie Lyriker und Lyrikerinnen wie Else Lasker-Schüler, Walter Mehring, Berthold Viertel, Alfred Wolfenstein oder Max Herrmann-Neiße, der weder »rassisch« noch politisch verfolgt war, aber in diesem Deutschland nicht mehr leben wollte. Anders als sein Bruder Heinrich und seine Kinder Klaus und Erika brauchte Thomas Mann einige Zeit, bis er sich zur Emigration bekannte, setzte sich dann aber an deren Spitze und wurde, als der weltweit berühmteste deutsche Autor, auch als deren wichtigste Stimme wahrgenommen. Die Aufzählung könnte noch beliebig verlängert werden mit Namen wie Bernard von Brentano, Leonhard Frank, Bruno Frank, Alexander Moritz Frey, Heinrich Eduard Jacob, Hans Henny Jahnn, Harry Graf Kessler, Hermann Kesten, Siegfried Kracauer, Ludwig Marcuse, Hermynia Zur Mühlen, Ernst Weiß, Karl Wolfskehl u. v. a. m. Mit Bertolt Brecht und der jungen Anna Seghers prominent angeführt wird auch die Liste der politisch exponierten Autoren, insbesondere jener mit kommunistischer oder auch sozialdemokratischer Parteibindung oder Parteinähe, zu denen u. a. Johannes R. Becher, Hans Marchwitza, Ernst Ottwalt, Theodor Plivier, Gustav Regler, Ludwig Renn, Adam Scharrer, Werner Türk, Bodo Uhse, Erich Weinert, Franz Carl Weiskopf oder Friedrich Wolf gehörten. Beträchtliches Renommee hatten auch politische Publizisten wie Rudolf und Balder Olden oder Wilhelm Herzog, Franz Pfemfert, Hellmut von Gerlach, Konrad Heiden oder die Journalisten Georg Bernhard, Theodor Wolff, Leopold Schwarzschild, Joseph Bornstein, Willy Haas und Manfred Georg. Aus dem Bereich der Philosophie und Soziologie wären an dieser Stelle zu nennen Ernst Bloch, Walter Benjamin sowie die gesamte Frankfurter Schule mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse. Einige Autoren lebten bereits vor 1933 im Ausland, doch verwandelte sich ihr frei gewählter Aufenthalt unversehens in ein Exil; das gilt etwa für Walter Hasenclever in Paris oder Vicki Baum in den USA. Einige konnten erst nach einiger Haftzeit ins Ausland flüchten, wie Willi Bredel, Kurt Hiller, Wolfgang Langhoff oder Ludwig Renn; andere, obwohl hoch gefährdet, weigerten sich, das Land zu verlassen, so Carl von Ossietzky, oder schafften es nicht, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen: Erich Baron,
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Erich Mühsam, Klaus Neukrantz starben wie Ossietzky in Lagern oder an den Folgen von Lagerhaft. Natürlich hatten nicht schlechthin alle bekannten und bedeutenden Schriftsteller sich zum Weggang aus Deutschland entschlossen: der greise Gerhart Hauptmann blieb, Erich Kästner wäre ein Kandidat für die Emigration gewesen, konnte sich aber nicht dazu durchringen und fand Wege, sich als Filmautor durchzuschlagen; andere gingen, mindestens anfänglich, mit der »nationalen Revolution« konform, wie etwa Ernst Jünger, und schmähten sogar die Emigranten, wie etwa Gottfried Benn oder später dann Frank Thieß. Letztlich waren es aber die Beumelburgs und ähnliche Autoren zweifelhafter Qualität, die zu Aushängeschildern der NS-Literatur wurden. Unter diesen Umständen war der Anspruch des literarischen Exils, die »eigentliche« deutsche Literatur zu repräsentieren, nicht überzogen.
Der Zwang zur Politik: Schriftsteller als Repräsentanten des »Anderen Deutschland« Bereits in der Weimarer Republik hatte in der deutschen Schriftstellerschaft ein Prozess der Politisierung eingesetzt, der bei manchen bis hin zur Mitgliedschaft in einer Partei führte, und mag dieses Engagement auch über weite Strecken von Realitätsferne und Selbstüberschätzung gekennzeichnet gewesen sein,4 so war es doch eine Art Vorbereitung darauf, was im Exil gleichsam zur Pflicht wurde: sich als Schriftsteller einzubringen in die Sphäre der Politik, in den Kampf gegen die Machthaber in Deutschland. Eine Flucht ins Apolitische, zu der einzelne vor 1933 noch geneigt hatten, war nun keine Option mehr; die gesamte Existenzform eines jeden war durch die Vertreibung zu einer politischen geworden. Dazu kam, dass es ganz offensichtlich die Schriftsteller waren, die zum vorrangigen Objekt des vom NS-Regime veranstalteten Terrors wurden; als Repräsentanten der Macht des Wortes sollten sie als erstes mundtot gemacht werden. »Der Haß des Faschismus gegen die Schriftsteller ist kein Zufall«5 – dieses von Alfred Kantorowicz stammende Diktum bezieht sich auf das gegen die Vertreter einer liberaldemokratischen und linksgerichteten Literatur entfesselte öffentliche Kesseltreiben, das – nach einer ersten großen Verfolgungswelle im Anschluss an den Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 – im symbolischen Akt der Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 kulminierte. Kantorowicz zufolge sei es eben kein Exzess gewesen, dass damals in vielen deutschen Städten und Universitäten auf öffentlichen Plätzen »der Extrakt des fortschrittlichen Bewusstseins von Jahrhunderten« verbrannt und verfemt worden sei: »Es war eine notwendige Handlung, eine für den Faschismus unerlässliche Regierungs-
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So der Befund bei Hans-Albert Walter im ersten Band von Deutsche Exilliteratur 1933‒ 1950 (Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 1: Die Vorgeschichte des Exils und seine erste Phase. Bd. 1,1: Die Mentalität der Weimardeutschen / Die »Politisierung« der Intellektuellen; Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen). Alfred Kantorowicz: Die Einheitsfront in der Literatur. In: Die Sammlung, 2. Jg., H. 7 (März 1935; Reprint München 1986), S. 337‒347; vgl. auch den Teilabdruck in: EXIL. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933‒1945, S. 732.
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Abb. 1: Dritte Ausbürgerungsliste im Deutschen Reichsanzeiger Nr. 258 vom 3. November 1934, S. 1, u. a. mit den Namen von Willi Bredel, Leonhard Frank, John Heartfield, Wieland Herzfelde, Alfred Kantorowicz, Klaus Mann, Erwin Piscator, Gustav Regler, Bodo Uhse und Erich Weinert.
maßnahme«.6 Die ersten Ausbürgerungslisten vom Sommer 1933 bestätigten indirekt diesen Hass und zugleich das politische Kalkül, denn die Schriftsteller waren darauf von Anfang an prominent vertreten. Auf der ersten, im Deutschen Reichsanzeiger veröffentlichten Liste vom 25. August 1933 (33 Personen) standen Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Ernst Toller und Kurt Tucholsky (neben den Publizisten und Verlagsleuten Georg Bernhard, Kurt Grossmann, Emil Julius Gumbel, Peter Maslowski, Willi Münzenberg und Leopold Schwarzschild), auf der zweiten Liste vom 29. März
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Kantorowicz: Die Einheitsfront in der Literatur, S. 340.
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1934 (37 Personen) Johannes R. Becher, O. M. Graf, Rudolf Leonhard und Theodor Plivier, und auf der dritten Liste vom 3. November 1934 (27 Personen) waren die Schriftsteller und Publizisten gegenüber den Politikern sogar deutlich in der Überzahl.7 Mit einigem Recht verstanden die Literaten diese Maßnahmen als indirekte Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, als Aufwertung ihrer sozialen Rolle, und so ist es auch nachvollziehbar, dass sie sich zu offensiver Haltung ermutigt sahen. In der Tat haben sie aus dieser Verfolgungssituation eine besondere Motivation bezogen, auf der Ebene der Literatur, aber auch auf konkret politischer Ebene gegen Hitlerdeutschland aktiv zu werden. Wenn daher die neuen Machthaber in Deutschland gehofft hatten, dass die aus ihren Lebenszusammenhängen gerissenen Autoren verstummen, in Passivität und Lethargie verfallen würden, so erwies sich diese Erwartung als verfehlt. Im Gegenteil entwickelte sich unter den vertriebenen Schriftstellern und Publizisten geradezu eine Aufbruchsstimmung, die nicht allein der literarischen Produktivität förderlich war, sondern viele auch dazu bewog, politische Repräsentanz- und Führungsaufgaben zu übernehmen. Darin übertrafen sie sogar das Politiker-Exil: »Nicht die Parteien, sondern die Schriftsteller bestimmten während langer Phasen die Politik des Exils«.8 Es war dies eine klare Folge des Versagens des politischen Exils, das zu keinem Zeitpunkt imstande war, seiner historischen Aufgabe – eine einheitliche Front gegen den Nationalsozialismus zu organisieren – wirkungsvoll nachzukommen. Ob »Volksfrontpolitik« oder »Verteidigung der Kultur«: Die Schriftsteller haben nicht nur die Parolen und Stichworte geliefert, die das Pathos des Exils prägten,9 sie waren auch stets in vorderster Linie zu finden, wo es galt, Komitees zu bilden, Kongresse zu veranstalten, Kampagnen zu lancieren, Sammlungsbewegungen einzuleiten. Der »Primat der Politik« (Thomas Mann) wirkte sich auch auf die Literaturproduktion aus; die Parole beim Schreiben lautete: »Mit dem Gesicht nach Deutschland«. Auch wenn die Hoffnung auf politische Wirkung teilweise übertrieben hoch oder illusionär war und das NS-Regime mit den Mitteln der Literatur sicherlich nicht hätte gestürzt werden können, so hat die Exilschriftstellerschaft doch das Verdienst, durch ihre Einwirkung auf die Weltöffentlichkeit und durch das Vorantreiben politischer Aktionen und Diskurse ein ernstzunehmender Gegner des NSRegimes geworden zu sein.
Sammlung im Exil: Organisatorische Zusammenschlüsse Verbannung zielt auf Ausgrenzung und Vereinzelung, auf die Entfernung von Oppositionellen aus dem gesellschaftlichen Umfeld, in welchem sie herrschenden Mächten gefährlich werden könnten. Mit Recht verstanden daher die vom Nationalsozialismus verfolgten Schriftsteller ihre Exilierung als Versuch einer sozialen Entortung. Rückblickend auf die Epoche zeigt sich, dass es dem nationalsozialistischen Regime zwar
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Siehe dazu: Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933–1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen 1933–1945, sowie die Ausführungen zum Thema Ausbürgerung im Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich. Trapp: Schriftsteller als Politiker, S. 17 f. Wichtige Aspekte davon wurden untersucht von Roussel: Bücherschicksale, sowie von Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«.
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gelungen war, die Verbindungen der vertriebenen Autoren zu ihrem angestammten Publikum in Deutschland fast vollständig zu unterbrechen, dass aber das literarische Exil das Trauma der Entwurzelung wenigstens zum Teil erfolgreich kompensieren konnte – nicht zuletzt durch Zusammenschluss in Gruppen und Organisationen, die im einen oder anderen Fall zu wahren Biotopen des Exils wurden, in denen das literarische Leben hohe Intensität gewann. Bemerkenswert, dass es gerade die sonst oft einzelgängerischen Schriftsteller waren, unter denen schon sehr früh und sehr vehement Aufrufe zur Überwindung der exilbedingten Desintegration laut wurden.10 »Organisiert die Emigration«, forderte Alfred Kantorowicz bereits im Juni 1933 in der Exilzeitschrift die aktion,11 Stefan Zweig schlug zur gleichen Zeit Klaus Mann gegenüber die Gründung einer »kameradschaftlichen Vereinigung« vor, aus der »sowohl im Materiellen wie im Moralischen etwas Wichtiges resultieren könnte«,12 und ebenso regte Kurt Hiller 1935 in einem Aufruf »Emigranten vereinigt euch!« in der Neuen Weltbühne die Bildung einer umfassenden Organisation der aus Deutschland Vertriebenen an, denn: »Zusammenschluß entisoliert«.13 Für sich selber sahen die Schriftsteller im Zusammenschluss eine Möglichkeit, die literarische Diskussion aufrechtzuerhalten: sich über ein Zeitgeschehen zu verständigen, das ohne geschichtliches Beispiel war, über Schreibweisen, die als der Situation angemessen gelten durften, und über die konkreten politischen Aufgaben, die das Exil an sie stellte. In der Tat hatten Schriftstellervereinigungen an der Rekonstituierung eines Literaturbetriebes im Exil großen Anteil, indem sie im Rahmen von Veranstaltungen die Gelegenheit zu direkter Begegnung, zu Vortrag und Diskussion boten. Den Veranstaltungen und der Anschlusskommunikation entsprang wohl auch manche thematische Anregung, zu Zeitschriftenbeiträgen, eigenen Vorträgen oder Essays, aber auch zu größeren Werkplänen, sodass man solche Foren auch als Elemente eines umfassenden Produktions- und Verwertungszusammenhanges betrachten kann. Die schriftstellerischen Vereinigungen im Exil unterschieden sich im Typus freilich sehr deutlich voneinander; manche entsprachen dem eben geschilderten Typus des an einem bestimmten Exilort hochaktiven Veranstaltungszentrums, andere waren länderüberspannende Organisationen, die in der Hauptsache Repräsentativfunktionen wahrnahmen oder auch für notleidende Schriftsteller Unterstützungsleistungen erbrachten. Im Folgenden sollen die wichtigsten davon vorgestellt werden, wobei sich zwei Organisationen demonstrativ als Fortsetzung bestehender Einrichtungen verstanden, der PEN-Club im Exil und der SDS im Exil. Beide haben in der Geschichte des literarischen und politischen Exils eine herausragende Bedeutung gewonnen und verdienen eine ausführlichere Betrachtung.
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Vgl. zum Folgenden Fischer: »Organisitis chronica«? Aspekte einer Funktions- und Wirkungsgeschichte schriftstellerischer Zusammenschlüsse im deutschsprachigen Exil 1933‒ 1945. Vgl. ferner Schiller: Kulturelle Organisationen. Alfred Kantorowicz: Organisiert die Emigration. In: die aktion 1 (1933), Nr. 8, S. 1‒6. Brief Stefan Zweigs an Klaus Mann vom 19. Juni 1933. In: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949 (1991), S. 101 f. Kurt Hiller: Emigranten vereinigt euch! In: Die Neue Weltbühne 31 (1935), H. 22, S. 682‒ 687.
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Der PEN-Club im Exil 14 Als in den Wochen nach dem Reichstagsbrand die »Gleichschaltung« der Schriftstellervereinigungen einsetzte, sollte dabei grundsätzlich der Anschein einer »inneren Erneuerung« aus den eigenen Reihen heraus gewahrt bleiben – im Sinne jenes Scheinlegalismus, der in dieser »revolutionären« Phase der »Machtergreifung« das bevorzugte Verfahren der neuen Machthaber gewesen ist. Den Anfang machte die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, in der schon am 15. Februar Heinrich Mann zum Rücktritt von seinem Amt als Vorsitzender der Sektion gezwungen wurde und Mitte März mittels einer von Gottfried Benn initiierten und von Akademiepräsident Max von Schillings unterstützten Loyalitätserklärung zugunsten der nationalsozialistischen Reichsregierung alle missliebig gewordenen Dichter wie Alfred Döblin, Thomas Mann oder Leonhard Frank entfernt wurden, indem sie teils zum Austritt genötigt oder eben ausgeschlossen wurden.15 Sie wurden durch nationalsozialistische oder sogenannte »nationale« Schriftsteller ersetzt, wie Werner Beumelburg, Hans Friedrich Blunck, Hanns Johst, Erwin Guido Kolbenheyer oder Will Vesper. Ebenfalls Mitte Februar war der Vorsitzende des deutschen PEN-Zentrums Alfred Kerr in die Tschechoslowakei geflüchtet; nach dem Rücktritt weiterer Vorstandsmitglieder Anfang März war das Zentrum faktisch ohne Führung.16 In dieser Situation taten sich im März nationalkonservative und nationalsozialistische Gruppierungen (hauptsächlich aus dem Kampfbund für deutsche Kultur) zusammen, um die Vereinigung im Rahmen einer »Säuberungsaktion« unter ihre Kontrolle zu bringen.17 Am Ende waren es aber die Nationalsozialisten, die mit erpresserischen Methoden auch ihre »nationalen« Kollegen hinausdrängten. Nach der im April 1933 abgeschlossenen »Gleichschaltung« des deutschen PEN-Zentrums war der Konflikt mit der Londoner Zentrale unausweichlich, vor allem aber war abzusehen, dass es auf dem für 22.–28. Mai 1933 in Ragusa (Dubrovnik) anberaumten internationalen PEN-Kongress zu einer Konfrontation mit
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Im Folgenden wird der Schreibung PEN oder PEN-Club (gegenüber der korrekteren Form P.E.N.) der Vorzug gegeben (ausgenommen in Quellenzitaten), in Anlehnung an den Sprachgebrauch, der sich in der wissenschaftlichen Befassung mit der Schriftstellervereinigung eingebürgert hat; vgl. etwa Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948 oder Handbuch PEN. Vgl. hierzu in Band 3 /1 dieser Buchhandelsgeschichte das Kap. 2.1 von Jan-Pieter Barbian: Die »Gleichschaltung« des literarischen Lebens, S. 16 f.; sowie Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1995), S. 71–79. Vgl. ferner Inge Jens: Dichter zwischen links und rechts; Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen, bes. S. 217–275. Siehe auch den Abschnitt 2.1 bei Barbian: Die »Gleichschaltung« des literarischen Lebens in Band 3 /1 dieser Buchhandelsgeschichte, S. 118‒121. Vgl. hierzu vor allem Peitsch: Versuchte Gleichschaltung durch das NS-Regime, die Auflösung und Flucht ins Exil (1933‒1945); sowie ältere Dokumentationen wie den Katalogband Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948. Die zugehörige Ausstellung beruhte hauptsächlich auf dem Archiv des Exil-PEN, das 1975 von der Schriftstellerin und PEN-Sekretärin Gabriele Tergit dem Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main übergeben wurde.
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exilierten deutschen Schriftstellern kommen würde.18 Die Strategie der NS-deutschen Delegation sah vor, die Tagungsteilnehmer »in Gestalt einer grundsätzlichen Proklamation im Geist des neuen Deutschland unter seinem Führer Adolf Hitler über die nationale Revolution und ihr Wollen [zu] unterrichten und alle böswilligen Angriffe, vor allem aber die Gräuelhetze einzelner zurück[zu]weisen«.19 Dieser Plan schien zunächst aufzugehen, feindlich gestimmte Fragen an die deutsche Delegation wurden vorerst nicht gestellt. Die dramatische Wende auf dem Kongress wurde ausgelöst von einer Resolution belgischer und französischer Autoren, die sich explizit gegen die Kulturpolitik des nationalsozialistischen Deutschland richtete. Die deutsche Delegation drohte damit, die Sitzung zu verlassen, wenn dieser Antrag in dieser Form diskutiert würde, und konnte mit dieser Drohung tatsächlich eine Abschwächung erreichen. Es gelang ihr aber nicht, eine Debatte des Antrags zu verhindern; H. G. Wells, seit 31. Januar 1933 Nachfolger des verstorbenen John Galsworthy im Amt des Präsidenten des Internationalen PEN, zeigte sich fest entschlossen, die kritischen Stimmen gegen die politische Vereinnahmung des deutschen PEN zu Wort kommen zu lassen. Inzwischen war als Vertreter der deutschen Exilschriftsteller Ernst Toller erschienen und von »geradezu tosendem Beifall« empfangen worden.20 Toller zeigte sich bereit, seine angemeldete Rede erst nach Annahme der Resolution zu halten, wurde aber von Wells aufgefordert, sofort zu sprechen. Die deutsche Delegation erklärte daraufhin, dass diese Vorgangsweise gegen alle getroffenen Vereinbarungen verstoße; sie würde im Falle einer Rede Tollers den Saal verlassen. Mitten in diesen Disput hinein erteilte Wells dem Generalsekretär Hermon Ould das Wort, der nun ganz offiziell die entscheidenden Fragen stellte: Had the German P.E.N. Centre protested against the ill-treatment of German intellectuals and the burning of the books? Was it true that the Berlin Centre has issued a notice to its members depriving those of Communist or ›similar‹ views of their rights of membership, thereby violating the first rule of the P.E.N. that it should stand aside from politics?21 Edgar von Schmidt-Pauli protestierte namens der deutschen Gruppe sofort energisch »gegen diesen eklatanten Bruch der Geschäftsordnung« und drohte erneut mit dem Verlassen
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Die im Folgenden geschilderten Vorgänge werden genauer beschrieben und mit detaillierten Quellennachweisen belegt bei Fischer: Das PEN-Zentrum in der Weimarer Republik, bes. S. 104‒125. Protokollnotiz einer Vorstandssitzung, Berlin, 20. Mai 1933, abgedruckt in: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 13. Bericht des deutschen Delegationsmitglieds Fritz Otto Busch an Erich Kochanowski (27. Mai 1933), zit. n. Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 84–89, hier S. 88. So in den P.E.N. News No. 56 (June 1933), S. 4 f., zit. n. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 24. – Die deutsche Delegation übermittelte die Fragen in nicht ganz vollständiger Übersetzung nach Deutschland: »1) Hat der deutsche PEN-Club gegen die Bücherverbrennungen protestiert? 2) Ist es wahr, dass der deutsche PEN-Club in einem Rundschreiben eine Anzahl von Mitgliedern wegen ihrer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei ausgeschlossen hat? Wenn das der Fall ist, würde der deutsche PEN-Club gegen die Regeln des PEN-Clubs verstoßen haben«. Bericht von Fritz Otto Busch und Edgar von Schmidt-Pauli (27. und 28. Mai 1933), zitiert nach: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 22.
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der Sitzung.22 Wells, davon unbeeindruckt, gab Toller das Zeichen zum Beginn seiner Rede, worauf die deutsche Delegation in der zum Tumult gesteigerten Szene geschlossen abrückte, gefolgt von einigen sympathisierenden Delegierten aus Österreich, der Schweiz und den Niederlanden.23 Toller sprach an diesem Tag nur kurz; die Resolution wurde mit 10 Stimmen bei 2 Gegenstimmen und 14 Enthaltungen angenommen; Deutschland wurde an diesem Tag trotz Abwesenheit wieder in das Exekutiv-Komitee gewählt. An der Sitzung des nächsten Tages und am offiziellen Festbankett hat die deutsche Delegation nicht mehr teilgenommen. Der letzte Bericht vermerkt lapidar, dass in der Schlusssitzung – neben Schalom Asch – Ernst Toller »eine kurze Rede« gehalten habe.24 Tatsächlich aber kann seine große Rede als Höhepunkt des PEN-Kongresses betrachtet werden, insofern sie die Szene zum Tribunal machte und eine bemerkenswerte, auch nachhaltige Resonanz erzielt hat.25 Bei der von Toller formulierten Anklage handelte es sich um den bis dahin und für lange Zeit wirkungsvollsten Versuch der exilierten Schriftsteller, die Weltöffentlichkeit über die Vorgänge in Deutschland, über die Bücherverbrennungen, die Verfolgung und Vertreibung von Schriftstellern und Künstlern aus ihrer Heimat aufzuklären. Ex post betrachtet haben Toller und die Emigration recht eindeutig den »Sieg« davongetragen, und nicht zuletzt war damit auch die Grundlage für die Errichtung eines eigenständigen deutschen PEN-Exil-Zentrums gelegt.26 Lange vor Ragusa, am 16. April 1933, hatte Herwarth Walden – vor der »Gleichschaltung« Schriftführer des Berliner PEN-Zentrums – von seinem Moskauer Exil aus bei Hermon Ould angefragt, ob die Bildung einer deutschen PEN-Gruppe im Ausland denkbar erschiene.27 Im August und Anfang September 1933 wiederholte er seine Anfrage und betrieb dabei, mit der Übersendung einer ausformulierten Beschlussvorlage, auch den Ausschluss des unter illegitimer Führung stehenden Berliner Zentrums.28 Ould reagierte darauf nur hinhaltend. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Rahmenbedingungen für die Arbeit des Berliner PEN allerdings bereits markant verändert: Am 14. Oktober 1933
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Bericht von Fritz Otto Busch und Edgar von Schmidt-Pauli (27. und 28. Mai 1933), zitiert nach: Der PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 22. Eine präzise Darstellung zu der ambivalenten Rolle des österreichischen PEN in Ragusa gibt Amann: P.E.N. Politik, Emigration, Nationalsozialismus. Zur Rolle der Schweiz in diesen Vorgängen vgl. Münch-Küng: Die Gründungsgeschichte des PEN-Clubs in der Schweiz. Fortsetzung des Berichts (28. Mai 1933), zit. n. Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 92. Der erste Abdruck erfolgte in der in Prag erscheinenden Neuen Weltbühne: Ernst Toller: Rede auf dem Penklub-Kongreß. In: Die neue Weltbühne 2 (1933) 24 vom 15. Juni 1933, S. 741–744. Auszugsweise abgedruckt in: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 27–30. Die deutsche Delegation war mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen insofern zufrieden, als sie sich die Möglichkeit einer weiteren Mitarbeit im Internationalen PEN offen halten konnte. Herwarth Walden [Moskau] an Hermon Ould (16. April 1933). PEN – German Centre 1926– 1933 (PEN Letters, PEN Recip., PEN Misc. ‒ nicht katalogisiert). Harry Ransom Humanities Research Center (HRHRC), The University of Texas at Austin. – Die in den PENArchivalien dokumentierten Interventionen Waldens finden in den Darstellungen zur Vorgeschichte des deutschen Exil-PEN bisher keine Erwähnung. Herwarth Walden an Hermon Ould (14. August 1933); ders. an H. G. Wells (6. September 1933). Weitere Briefe folgten am 27. und 30. September; alle in HRHRC.
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hatte Adolf Hitler den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund verkünden lassen – Signal für einen neuen, aggressiven Kurs in der Außenpolitik, auf das der Vorstand des PEN denn auch sehr bald reagierte, am 1. November, mit einem »vor allen Schriftstellern der Welt« geleisteten Bekenntnis »zum Führer des deutschen Volkes, Reichskanzler Adolf Hitler, in der Gewißheit, daß der wirkliche Friede und die wirkliche Völkerversöhnung allein unter seiner Führung geschaffen werden«.29 Auslösendes Moment dafür war ein vom Reichsverband deutscher Schriftsteller inszeniertes »Treuegelöbnis« von 88 deutschen Schriftstellern, hinter dem der deutsche PEN nicht zurückstehen wollte.30 Auf der am 8. November 1933 in London stattfindenden Sitzung des PEN-Exekutivkomitees wurde der reichsdeutsche Vertreter Schmidt-Pauli mit konkreten Vorhaltungen in die Enge getrieben, bis dieser eine Erklärung abgab, wonach er die Zusammenarbeit der deutschen Gruppe mit dem Internationalen PEN vorbehaltlich der Zustimmung seines Vorstands für beendet ansehe.31 Diese Austrittserklärung wurde in Berlin vom Vorstand gebilligt, außerdem eine »Umgründung« des Zentrums beschlossen. Tatsächlich kam es am 8. Januar 1934 zu der Errichtung der Union Nationaler Schriftsteller, die – auch vermögensrechtlich – die Nachfolge des Berliner Zentrums antrat; Hanns Johst wurde zum Präsidenten, Gottfried Benn zum Vizepräsidenten gewählt. Am 1. März 1934 wurde im Völkischen Beobachter ein programmatischer Aufruf »An die Schriftsteller aller Länder!« veröffentlicht, der zunächst noch einmal die Billigung des am 8. November 1933 vollzogenen Austritts aus dem PEN durch die »gesamte deutsche Schriftstellerschaft« unterstrich.32 Diese habe »mit äußerster Erbitterung« davon Kenntnis genommen, dass das internationale Exekutivkomitee »von der deutschen Gruppe die Aufnahme kommunistischer Mitglieder verlangte in einem Augenblick, als die kommunistischen Literaten vom Ausland her eine fanatische Verleumdungspropaganda gegen das Deutsche Reich vor aller Welt entfesselten«. Insbesondere die Attacken gegen die Emigranten erinnern deutlich an die Sprache Gottfried Benns, etwa wenn behauptet wird, die aus Deutschland geflüchteten Schriftsteller, »deren Beleidigungen, Haß und Lügen gegen ihr ehemaliges Vaterland notorisch« seien, seien vom Londoner PEN zu Ehrenmitgliedern gemacht worden: Das heißt nach Auffassung der deutschen Schriftstellerschaft eine Gesinnung krönen, ja sie vor dem Forum der ganzen weißen Rasse feiern, die in ihren Folgen den Rang 29 30
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Zit. n. Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1995), S. 86 (mit näheren Angaben zum Originaldokument). Siehe dazu die Schreiben von Hanns Martin Elster an Erich Kochanowski und an den Reichsverband deutscher Schriftsteller vom 27. Oktober 1933 bzw. 28. Oktober 1933, abgedruckt in Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 113 f. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 37. – Vgl. auch (anon.): Herr von SchmidtPauli in London. In: Die Sammlung 1 (1934) 4, S. 222. Hier wird berichtet, H. G. Wells habe den Vorschlag gemacht, »dass die deutschen Mitglieder des Clubs auf ihre Mitgliedschaft an der Internationalen Vereinigung verzichten sollten, bis sie wieder bereit wären, ein Mitglied aufzunehmen, ohne eine Rasse oder Gesinnung zur Bedingung zu machen«. Dies habe den Beifall aller Anwesenden (mit Ausnahme Schmidt-Paulis) gefunden. An die Schriftsteller aller Länder! Aufruf der »Union nationaler Schriftsteller«. In: Völkischer Beobachter 60, 1. März 1934. Der Aufruf ist abgedruckt in Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 99–101.
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und die Zukunft dieser Rasse für immer vernichtet. […] Die deutsche Schriftstellerschaft richtet daher an die Schriftsteller aller anderen Länder die Bitte, von nun an nicht mehr den Haßausbrüchen einer zum Absterben verurteilten Emigrantenliteratur zu glauben, sondern aus uns die Stimme der deutschen Geschichte zu vernehmen. Wir sind das Erbe und die Tradition jenes Reiches, das seit tausend Jahren den Begriff und die Leistung Europas kämpfend miterschuf. Wir sind die deutschen Schriftsteller.33 Den Hintergrund dieser Gegenüberstellung von angeblich wahrhaft vaterländischer Gesinnung und den »Haßausbrüchen einer zum Absterben verurteilten Emigrantenliteratur« bildete die Entstehung eines Exil-PEN, die parallel bzw. sogar noch vor Unionsgründung vonstatten gegangen war. Denn das internationale Exekutivkomitee hatte auf der Sitzung am 8. November 1933 nicht nur die Resolution gefasst, die den deutschen PEN zur Austrittserklärung veranlasste; das Protokoll vermerkte außerdem: The question of whether a Centre composed of those writers who have for various reasons left Germany should be formed was considered, and it was agreed that if a suggestion to this effect were made by any of the writers in question it would be handled according to the usual routine of the P.E.N.34 Dies war als eine Einladung an die exilierten Schriftsteller zur Gründung eines eigenen Zentrums zu verstehen, und tatsächlich traf bereits am 15. Dezember 1933 eine entsprechende »suggestion« ein: Rudolf Olden, die treibende Kraft hinter diesen Bestrebungen, beantragte gemeinsam mit Lion Feuchtwanger, Max Herrmann-Neiße und Ernst Toller die Anerkennung einer autonomen PEN-Gruppe der außerhalb Deutschlands lebenden Schriftsteller. Der deutsche PEN-Club im Exil wurde im Juni 1934 auf dem 12. Internationalen PEN-Kongress in Edinburgh / Glasgow offiziell als Zentrum bestätigt. Und während die Union Nationaler Schriftsteller sich als Fehlschlag erwies, entwickelte sich das bis 1940 von Heinrich Mann präsidierte und von Rudolf Olden geleitete neue Zentrum, das sich als legitime Fortsetzung des deutschen PEN-Zentrums verstand und an eine freiheitliche Tradition anzuknüpfen suchte, wie sie im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr geduldet war, in den folgenden Jahren mit einem Minimum an Apparat und einer über viele Länder zerstreuten Mitgliederschaft zu einer bedeutenden Stimme des deutschsprachigen Exils. Bis Anfang März 1934 waren, neben den genannten vier Gründern und dem Präsidenten, dem neuen Zentrum beigetreten Georg Bernhard, Bernard von Brentano, Bruno Frank, Oskar Maria Graf, Fritz Landshoff, Emil Ludwig, Klaus Mann, Peter de Mendelssohn, Paul Roubiczek, Balder Olden und Arnold Zweig;35 zahlreiche weitere folgten in den nächsten Wochen und Monaten, wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Hermann Kesten, und die Mitgliederliste vom 18. November 1938
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Zitiert nach Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 100 f. P.E.N. News No. 59 (Nov. 1933), S. 3 f., Protokoll der Sitzung des International Executive Committee of the P.E.N. vom 8. November 1933, teilabgedruckt in: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 36 f., hier S. 37. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 67 f.
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verzeichnete bereits 70 Namen, Thomas Mann inbegriffen.36 Entsprechend den Regeln des internationalen PEN war für eine Aufnahme in das Zentrum die Unterstützung zweier Paten vonnöten, der Exil-PEN wahrte so weiterhin eine gewisse Exklusivität. Auf dieser Grundlage gewann der Exil-PEN unter seinem Sekretär Rudolf Olden,37 der die Gruppe bis 1940 faktisch im Alleingang führte, beträchtliche Bedeutung als überparteiliche Vertretung eines »anderen Deutschland«, namentlich auf den Internationalen PEN-Kongressen, die 1935 in Barcelona, 1936 in Buenos Aires, 1937 in Paris, 1938 in Prag stattfanden; der für September 1939 in Stockholm geplante Kongress wurde kriegsbedingt abgesagt.38 Auf diesen Kongressen haben die deutschen Delegierten mehrfach vielbeachtete Ansprachen gehalten und Anträge eingebracht, so etwa Lion Feuchtwanger 1937 in Paris eine Rede zum Thema »Wie das Dritte Reich die Schriftsteller verfolgt«, die mit einer Resolution für eine Freilassung Carl von Ossietzky einherging.39 Intern herrschte nicht immer Eintracht; so gab es immer wieder Kritik daran (etwa von Seiten Emil Ludwigs), dass der PEN-Club im Exil zu wenig erreichte, zu wenig durchschlagskräftig war. Nur darin war man sich in der deutschen Gruppe zunehmend einig: dass die seit Gründung ausgegebene und nach Kräften verfolgte Losung, wonach im PEN das Prinzip »No politics!« herrschen müsse, in Zeiten wie diesen so nicht durchzuhalten war. Besonders nach Kriegsausbruch fungierte die Vereinigung auch als Hilfsorganisation: Olden konnte einer Reihe von Schriftstellern finanzielle Unterstützung verschaffen; hervorzuheben sind die Hilfsaktionen speziell für Robert Musil 40 sowie jene für die aus der Tschechoslowakei flüchtenden Autoren41 und die in Frankreich internierten Schriftsteller.42 Darüber hinaus konnte Olden etlichen Kollegen zu Einreisemöglichkeiten in die USA verhelfen. Den nach der Annexion Österreichs diskutierten Vorschlag, die exilierten österreichischen Kollegen aufzunehmen, lehnte Olden ab; es sollte nicht auch auf diesem Wege der »Anschluss« nachvollzogen werden. Im Oktober entstand zur Unterstützung der Flüchtlinge aus Österreich ein »P.E.N. Austrian Writersʼ Fund«; Anfang 1939 ist dann eine Austrian Group, eine eigenständige österreichische Sektion des PEN errichtet worden, mit Franz Werfel als Vorsitzendem und Robert Neumann als Geschäftsführer.43 36
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Mitgliederliste Deutscher Pen-Club im Exil, 18. November 1938. Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Unterlagen des Deutschen PEN-Clubs im Exil (»Exil-PEN«): 1933‒1940, EB 75 /175‒787. Zu Olden siehe Rudolf Olden. Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik. Die Geschichte des deutschen Exil-PEN ist gut dokumentiert, 1980 im Ausstellungskatalog Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948 und 2006 durch Peitsch: »No politics«? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933‒2002. Vgl. auch Peitsch: Versuchte Gleichschaltung durch das NS-Regime, die Auflösung und Flucht ins Exil (1933‒ 1945; und ders.: PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 169‒172. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 230‒238. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 304‒322. Mithilfe eines »Refugee Writersʼ Fund« wurden u. a. Wieland Herzfelde und dessen Bruder John Heartfield die Flucht aus Prag ermöglicht. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 335‒344. Siehe Amann: P.E.N. Politik, Emigration, Nationalsozialismus, S. 66; zur Entstehung der »Austrian Group« siehe auch Amann: Der österreichische PEN-Club in den Jahren 1923 bis 1952.
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Abb. 2: Mitgliederliste des deutschen Exil-PEN vom 18. November 1938, mit den Namen von 70 Exilschriftstellern.
Rudolf Olden selbst ist 1940 auf der Überfahrt in die USA auf der von einem deutschen U-Boot torpedierten »City of Benares« zu Tode gekommen. Als Organisation beruhte der Exil-PEN bis dahin auf einer hauptsächlich ideellen Grundlage: War der deutsche
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PEN-Club vor 1933 eine »Bankettgesellschaft« gewesen,44 so war es im Exil aufgrund der über viele Länder verstreuten Mitglieder zunächst zu keinerlei Zusammenkünften gekommen; das Zentrum war in organisationstechnischer Hinsicht lange Zeit »mehr eine Illusion als eine Realität«.45 Erst nach dem Neubeginn 1941 unter dem (einigermaßen autokratisch gehandhabten) Vorsitz Alfred Kerrs (bis 1947) und der Übernahme der Sekretärsfunktion durch Richard Friedenthal (bis 1950; 1941 gemeinsam mit Friedrich Burschell) bildete sich ein Lesungs- und Vortragsprogramm heraus, das allerdings nur den in und bei London wohnhaften Mitgliedern Gelegenheit zur direkten Begegnung bot – ein relativ kleiner Kreis, denn viele Mitglieder des Zentrums waren inzwischen nach Nord- oder Südamerika weitergeflohen. Kontrovers diskutiert wurde in diesem Londoner Kreis nun, veranlasst durch den Vansittartismus, die Frage, wie nach dem Krieg mit den Deutschen zu verfahren sei. Nach dem Krieg, 1948, wurde der Deutsche PEN-Club im Exil in das »PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland« umbenannt.
Der Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil in Paris »Gleichgeschaltet« wurde, wie andere Schriftstellerorganisationen, 1933 auch der Schutzverband deutscher Schriftsteller (SDS), der 1909 in Berlin gegründet worden war und sich seither, zeitweise als »Gewerkschaft deutscher Schriftsteller«, zu der maßgebenden, rund 2.000 Mitglieder in verschiedenen Gauen und Ortsgruppen vereinigenden Vertretung der schriftstellerischen Berufsinteressen entwickelt hatte.46 Am 12. März 1933 eroberte eine schon seit 1931 bestehende »Arbeitsgemeinschaft nationaler Schriftsteller« den SDS gleichsam im Handstreich; am 9. Juni 1933 wurde er – gemeinsam mit dem Verband deutscher Erzähler, dem Deutschen Schriftsteller-Verband (DSV) und dem Kartell lyrischer Autoren – in den »Reichsverband deutscher Schriftsteller« (RDS) umgewandelt.47 Als eine Art Dachverband diente der RDS dem Bestreben der NS-Behörden nach konsequenter Ausschaltung linksgerichteter und jüdischer Autoren aus dem Kulturleben. Die Mitgliedschaft in dem Verband war Voraussetzung jeglicher Publikationstätigkeit im Dritten Reich, die Aufnahme war gebunden an »deutschblütige Abstammung« und »politisch einwandfreies« Verhalten. In seiner Eigenschaft als Zwangsorganisation war der RDS Vorläufer der im November 1933 errichteten Reichsschrifttumskammer (RSK), der er als Fachverband mit rund 12.000 Mitgliedern angehörte, bis er Ende September 1935 aufgelöst und im Herbst 1936 in die »Gruppe Schriftsteller« der RSK überführt wurde. Parallel dazu war im Sommer 1933 in Paris der »Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil« (SDS im Exil) entstanden, der sich als die für die Sammlung des literari-
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Fischer: Das PEN-Zentrum in der Weimarer Republik, bes. S. 93‒96. Brief des damaligen PEN-Sekretärs Friedrich Burschell an Richard Friedenthal vom 23. April 1941, abgedruckt in: Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 358. Vgl. hierzu auch Abbey: »Die Illusion genannt Deutscher PEN-Club«. Vgl. Fischer: Der »Schutzverband deutscher Schriftsteller« 1909‒1933. Vgl. Fischer, Sp. 611–636. Vgl. ferner das Kap. 2.1: Die »Gleichschaltung« des literarischen Lebens von Jan-Pieter Barbian in Band 3 /1 dieser Buchhandelsgeschichte, S. 21‒23.
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schen Exils bedeutendste Vereinigung erweisen sollte.48 Er verstand sich ganz explizit als Fortsetzung der im März 1933 »gleichgeschalteten« Berufsvertretung der deutschen Autorenschaft, und tatsächlich suchte der anfänglich unter der Bezeichnung »Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland« auftretende Zusammenschluss die seit der Gründung des SDS geübte Praxis der Interessenvertretung durch Rechtsberatung und einen professionellen Informationsservice fortzusetzen. Von der zeitlichen Abfolge her kann der SDS im Exil, der sich anfänglich noch »Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland« (SDSiA) nannte, als die erste Neugründung einer Schriftstellervereinigung im Exil gelten. Bereits Ende Mai fand eine Versammlung des Vorbereitungskomitees statt mit dem Ziel, alle »Verbannten und Verbrannten«, »alle Vertreter des wahren, vom Dritten Reich verfolgten deutschen Schrifttums« zu vereinigen.49 Aus diesen Tagen datiert auch das erste Dokument offiziellen Charakters, das vom Bestehen des SDSiA zeugt: In einem Telegramm an den XI. Internationalen PEN-Kongress, der vom 25.‒28. Mai in Dubrovnik / Ragusa stattfand, meldete der neugegründete Verband von Paris aus seinen Anspruch an, als einzige legitime Vertretung der deutschen Schriftsteller anerkannt zu werden: Der Schutzverband deutscher Schriftsteller Ausland, der zur Zeit das deutsche Schrifttum repräsentiert, stellt fest: Die in Ragusa vertretene jetzige Leitung des deutschen Penklubs ist unter dem Druck uniformierter SA-Leute (Nichtschriftsteller) eingesetzt worden. Sie hat in keiner Weise die Befugnis, im Namen des deutschen Schrifttums aufzutreten. Die deutschen Schriftsteller, die diesen Namen verdienen, d. h. Deutsche und Schriftsteller sind, befinden sich im Ausland, sofern nicht Ermordung, Konzentrationslager oder »freier« Aufenthalt in Deutschland sie zum Schweigen verurteilen. Der Schutzverband deutscher Schriftsteller Ausland als nunmehr legitime Vertretung ersucht die in Ragusa anwesenden Vertreter des Penklubs, ihren Landesorganisationen von diesem Sachverhalt Kenntnis zu geben. Schutzverband deutscher Schriftsteller Ausland. Für den Vorstand und das Organisationsbüro: Unterschrift 50 In dem bereits erwähnten Artikel Organisiert die Emigration51 rief Alfred Kantorowicz im Juni 1933 seine Mitexilanten zu Selbsthilfemaßnahmen auf und führte als ein erfolg48
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Vgl. zum Folgenden Schiller: Der Pariser Schutzverband deutscher Schriftsteller. Vgl. ferner die (nicht immer verlässliche) Darstellung eines Zeitzeugen, der die Geschichte des SDS im Exil mitgestaltet hat: Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil; sowie die aus zeitgenössischer Perspektive geschriebenen Jubiläumsartikel: Alfred Kantorowicz: Fünf Jahre Schutzverband Deutscher Schriftsteller. In: Das Wort 1938, H. 12, S. 62‒76; Bruno Frei: Fünf Jahre Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Exil. In: Internationale Literatur / Deutsche Blätter 10 /1938; wieder abgedruckt in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 2: Eine Auswahl von Dokumenten 1935‒1941. Auswahl und wissenschaftliche Gesamtredaktion: Friedrich Albrecht. Berlin und Weimar: Aufbau 1979, S. 797‒807. Scheer: So war es in Paris, S. 176 f. Scheer zitiert hier eine von dem Gründungssekretär David Luschnat verbreitete Meldung aus einem Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1933. Zit. n. einem Aktenstück des Auswärtigen Amtes über einen Bericht der Deutschen Botschaft in Paris, Oktober 1933 im Bundesarchiv Koblenz, R 56 V, 169 fol.1‒5. Alfred Kantorowicz: Organisiert die Emigration. In: die aktion 1. Jg., Nr. 8 vom 22. Juni 1933, S. 6.
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reiches Beispiel bereits den SDSiA auf. Seiner Darstellung zufolge war die Initiative zur Gründung des SDSiA von Rudolf Leonhard und ihm selbst ausgegangen; in späteren Darstellungen hat er die Bedeutung Leonhards noch mehr herausgestrichen: »Wenn von der Sammlung der exilierten deutschen Schriftsteller in Paris und der Begründung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil die Rede ist, muss man ihn wohl an erster Stelle nennen«.52 Der radikale Pazifist und ehemalige expressionistische Dichter Rudolf Leonhard* (1889 Lissa (Leszno) – 1953 Berlin / DDR) war schon in Deutschland Funktionär im SDS gewesen, 1922 als Beisitzer, 1923‒1926 als 2. Schriftführer der Berliner Ortsgruppe des Verbandes.53 Er war in diesen Jahren auch erfolgreich als Verlagslektor tätig und als Mitbegründer der »Gruppe 1925« hervorgetreten, 1927 aber auf Einladung seines Freundes Walter Hasenclever nach Paris gegangen. Leonhard war also bereits in Frankreich gut verankert und auch in französischen Literatenkreisen vernetzt, als seine aus Deutschland geflüchteten Schriftstellerkollegen dort ankamen. Weil Leonhard nicht nur als »Quartiermacher«, sondern als formell parteiloser Linker auch als Integrationsfigur taugte, bot es sich an, ihm den Vorsitz des Pariser SDS zu übertragen. Er sollte den Vorsitz des Exil-SDS unangefochten bis zu dessen Auflösung 1939 behalten; sein Stellvertreter war zunächst der Schriftsteller und zugleich KPD- und Komintern-Funktionär Alfred Kurella, 1932 bis 1934 Sekretär des Internationalen Komitees zum Kampf gegen Krieg und Faschismus und von dessen Vorsitzendem Henri Barbusse. Kurella verließ Paris jedoch bereits Anfang 1934; seine Stelle nahm nach der Reorganisation des SDSiA eine Persönlichkeit von unzweifelhaft stärkerer Integrationskraft ein, Egon Erwin Kisch. Als ehrenamtlicher Sekretär fungierte im ersten Verbandsjahr David Luschnat.54 Kantorowicz zufolge war die Vereinigung »keine der Tarnorganisationen Willi Münzenbergs«, eine sicherlich zutreffende Feststellung, mindestens was die Entstehungsumstände betrifft. Festzustellen sind aber deutliche Parallelen mit Münzenbergs Exilaktivitäten, insofern auch der SDS im Exil darauf angelegt war, die geflüchteten Schriftsteller und Intellektuellen unter verdeckter Regieführung der Kommunistischen Partei zu sammeln. Es haben sich demzufolge einige Münzenberg-Leute im SDS aktiv betätigt, sodass ebenso Kantorowiczʼ weitere Einschätzung plausibel ist, wonach der Schutzverband Deutscher Schriftsteller wie später die Deutsche Freiheitsbibliothek »am Rande seines [Münzenbergs] Einflussbereichs« lagen.55 Wie Kantorowicz selbst war auch Leonhard –
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Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil, S. 148. Leonhard hatte seit 1916 Gedichtbände, auch Erzählungen, Dramen, Aufsätze und Hörspiele publiziert; in den 1920er Jahren war er als Lektor im Verlag Die Schmiede tätig und hat dort eigenständig eine Reihe »Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart« betreut, für die er u. a. Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Iwan Goll, Theodor Lessing als Autoren gewinnen konnte. 1937 nahm Leonhard am Spanischen Bürgerkrieg teil, 1939‒1941 war er in Vernet und Les Milles interniert, 1943 gelang ihm die Flucht aus dem Auslieferungslager Castres. Er schloss sich in Marseille der Résistance. 1950 übersiedelte Leonhard in die DDR; in Ost-Berlin ist 1961‒1970 eine vierbändige Werkausgabe erschienen. Zu seinen durchaus problematischen Exilerfahrungen vgl. Leonhard: Das Traumbuch des Exils; sowie Schiller: »Der Abschied aus dem aktiven Leben fällt mir immerhin schwer…«. Siehe hierzu Kaynis: Der SDS (Schutzverband Deutscher Schriftsteller) in Berlin und Paris. Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil, S. 149.
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als Übersetzer des Braunbuchs ins Französische – im Umfeld Münzenbergs tätig, gemeinsam mit dem Publizisten Maximilian Scheer teilte sich Leonhard die Redaktion der Zeitschrift die aktion / l’action, die 1933 als »erste öffentliche Stimme von Emigranten in Paris«, als »Organ zur Verteidigung der deutschen Flüchtlinge und zum Kampf gegen den Hitlerfaschismus« erschien. Im Gegensatz dazu war ein weiterer Mann der ersten Stunde, der Lyriker David Luschnat, der in den Anzeigen des SDSiA als Kontaktmann ausgewiesen wurde, mehr ein idealistischer Einzelgänger, jedenfalls aber kein KP-Mann. Sein Name steht für die Anknüpfung an die Schutzverbandtradition vor 1933 und hier vor allem an die oppositionelle Berliner Ortgruppe, die sich dem Rechtsruck des Hauptvorstands widersetzt hatte. Der marxistische Literaturtheoretiker und BPRS-Funktionär Oto Bihalji-Merin stellte im Juli 1933 in Münzenbergs Exilzeitschrift Unsere Zeit den SDSiA, dessen Zielgruppe, Organisation und Programmatik vor: Im Mai d. J. hat sich in Paris der »Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland« konstituiert. Die Initiative hierzu ergriffen eine Reihe aus dem »gleichgeschalteten« deutschen Schriftstellerverband ausgeschlossener, aus Deutschland vertriebener Schriftsteller in der Absicht, für alle Angehörigen des deutschen Schrifttums, die auf Grund freiheitlicher und fortschrittlicher Anschauungen nicht mit dem HitlerFascismus paktiert haben, eine repräsentative gewerkschaftliche Vertretung zu schaffen. Zu Vorsitzenden der Pariser Ortsgruppe wurden gewählt: Rudolf Leonhard und Alfred Kurella (Adresse: David Luschnat, Paris, rue du Louvre, poste restante). Der »SDS Ausland« will in der nächsten Zeit auch an anderen Zentren der deutschen Emigration Ortsgruppen bilden bzw. mit dort bestehenden Schutzverbandorganisationen, welche die Verbindung mit der Berliner Zentrale abgebrochen haben, die Zusammenarbeit aufnehmen.56 Das gewerkschaftliche Programm des »SDS Ausland« sieht vor: I. Vertretung der Rechte seiner Mitglieder gegenüber Rechts- und Vertragsbrüchen der deutschen Behörden und Verleger. II. Vertretung der Rechte gegenüber ausländischen Verlegern und deutschen Verlegern im Ausland. Der Verband wird Verbindung aufnehmen mit den entsprechenden Berufsorganisationen der einzelnen Länder.
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Der SDS war von Anfang an bestrebt, ein internationales Netz von Filialen zu errichten, gleichsam in Nachahmung der Ortsgruppenstruktur des »alten« SDS. Schon im Oktober 1933 hatte Alfred Kantorowicz im Gegen-Angriff gemeldet, der SDS habe »die Verbindung mit den Schriftstellern in anderen Emigrationszentren wie Prag, Zürich, Basel, Wien, Amsterdam und auf den spanischen Inseln (Balearen)« hergestellt. (Kantorowicz: Der Schutzverband Deutscher Schriftsteller. In: Der Gegen-Angriff, Nr. 11, 1. Oktober 1933). In der Tat gelang es, an verschiedenen Orten Vertrauensleute zu gewinnen; eine Landesgruppe in Belgien wurde von Nico Rost geleitet, eine andere war in Skandinavien von Wolfgang Steinitz ins Leben gerufen worden. (Das Neue Tage-Buch 4 (1936), H. 7). Zum internationalen SDSVerbund kam auch der schon in den 1920er Jahren von deutschsprachigen Schriftstellern gegründete »SDS in der Tschechoslowakei« hinzu, dessen Vorsitzender seit 1933 Ludwig Winder war. (Prag ‒ Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938, S. 71, Fn. 21).
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3 Au t o re n III. Beratung in allen Rechtsfragen, gegenseitige Hilfe durch Bekanntgabe von Listen solcher Verleger und Organe, die Arbeiten deutscher Autoren suchen, durch Beratung in Übersetzungsfragen, Schaffung eines Mitteilungsblattes, Veranstaltung von Vortrags- und Ausspracheabenden etc. Als besonders bedeutungsvollen Punkt seines Programms betrachtet der »SDS Ausland« das tätige Eintreten für die in Deutschland gebliebenen, vom deutschen Fascismus verfolgten, verhafteten und misshandelten Kollegen.57
Bemerkenswert an dieser Ausrichtung ist der demonstrative Versuch, an die gewerkschaftliche Tradition des SDS und die in der Weimarer Republik in der Vertretung schriftstellerischer Berufsinteressen erzielten Erfolge anzuknüpfen. Der Rechtsschutz war damals zum wichtigsten Feld der Verbandsarbeit avanciert; er mochte nun den vertriebenen Schriftstellern wichtiger denn je erscheinen: Das Exil war für die meisten Schriftsteller mit dem Verlust aller bisherigen Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten verbunden, auch fühlten sie sich in einen Zustand der absoluten Rechtlosigkeit versetzt, und so konnten die vom SDS in Aussicht gestellte Eintreibung von finanziellen Ansprüchen gegenüber deutschen Verlagen und ebenso die Aussicht auf Vermittlung von Kontakten zu Verlagen und Redaktionen im Gastland ein entscheidendes Motiv zum Beitritt in den neuen Schutzverband abgeben. Der SDSiA wollte aber ebenso eine ideelle »Schutz«Funktion für die in Deutschland inhaftierten Kollegen übernehmen; er verstand sich als Anwalt für alle oppositionellen Schriftsteller, die in Deutschland verblieben waren; auch damit griff der Exilverband auf Traditionen des alten SDS zurück, der sich für die Freiheit des Schriftstellers, gegen Zensur und politische Verfolgung eingesetzt hatte. Die Berichte über die gut besuchten ersten beiden Veranstaltungen58 dokumentieren, wie dieses Programm eingelöst werden sollte. Über die erste Zusammenkunft am 9. Juni 1933 schrieb die aktion: In der verflossenen Woche fand in Paris die erste umfassende Versammlung des SDSiA, Ortsgruppe Paris, statt. Rudolf Leonhard, der Vorsitzende der Ortsgruppe Paris, eröffnete die Versammlung und begrüßte vor allem die beiden aus den Zuchthäusern Deutschlands Entkommenen: Egon Erwin Kisch und Dr. Apfel. Er erklärte, daß der Schutzverband die Opposition im gesamten Ausland organisiert werde. Die Opposition, und allein die Opposition, sei berechtigt, das deutsche Schrifttum zu vertreten. Dr. Botho Laserstein sprach über das Thema: »Sind unsere Verträge mitverbrannt?« Es sei grotesk, daß deutsche Verleger Tantiemen von Büchern verlangen, die in Deutschland verbrannt und verboten worden sind, aber im Ausland neu aufgelegt werden sollen. Klaus Mann verlas den Brief, den er an Gottfried Benn
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P. M. (Peter Merin = Ps. f. Oto Bihalji-Merin): SDS Ausland. In: Unsere Zeit, Heft 11 vom 15. Juli 1933, S. 48. Einige Wochen davor war erschienen der Aufruf »SDS im Ausland. Das deutsche Schrifttum organisiert sich neu«. In: Der Gegen-Angriff, Nr. 3 vom 1. Juni 1933. Vgl. auch den Bericht von Alfred Kantorowicz im Gegen-Angriff Nr. 11 vom 1. Oktober 1933 (S. 8), demzufolge mehr als 120 deutsche Schriftsteller der Einladung zur ersten Versammlung gefolgt sein sollen.
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schrieb und den Benn in der Deutschen Allgemeinen Zeitung und vor dem Mikrophon beantwortet. Die Gegenantwort Kischʼs (die im Anruf [!] erschien), von ihm selbst verlesen, wurde begeistert aufgenommen.59 Klaus Mann, der von David Luschnat für den Auftritt auf der Versammlung gewonnen worden war, vertraute unter dem 9. Juni 1933 seinem Tagebuch eine Schilderung des Abends an, die auch kritischere Töne enthielt: […] Abends: die langbesprochene Schutzverband-Versammlung in der Mutualité. Mit E[rika Mann], Miro [Annemarie Schwarzenbach], Wolfgang [Hellmert], Teddy [Theo de Villeneuve] hin. Viele Leute. Zuerst Holitscher, Rudolf Leonhard, Magnus Hirschfeld (schönster alter Märchenonkel) usw. gesprochen. Erst endlose Reden. Leonhard, recht matt. Ein jüdischer Anwalt [Botho Laserstein] zur »Rechtslage« ‒ hoffnungslos, kein neues Wörtchen. Am interessantesten, Apfel über die Lage. – Dann meine Vorlesung der Benn-Briefe; freundliche Aufnahme, ganz würdevoll deklamiert. Kisch liest noch eine Antwort. Kurze Auseinandersetzung mit Wieland Herzfelde. Zwei Interviews zugesagt. Spüre keine grossen Resultate des Abends.60 In der Tat war es ein »hoffnungsloses« Unterfangen, im Exil die Vertretung schriftstellerischer Berufsinteressen in gewohnten Bahnen weiter betreiben zu wollen. Wenn der Exil-SDS mit Botho Laserstein wie in der Zeit vor 1933 wieder einen Syndikus einsetzte, der für die Beratung in Rechtsfragen zur Verfügung stehen sollte, so erwies sich in der Folgezeit sehr bald, dass Ansprüche gegenüber den Verlagen in NS-Deutschland auf keine Weise durchzufechten waren. Schon aussichtsreicher waren Versuche, Ersatz für den verlorengegangenen literarischen Markt zu schaffen. So etwa meldete der SDSFunktionär Alfred Kantorowicz in seinem Artikel Organisiert die Emigration, der SDS
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die aktion, Nr. 7 vom 15. Juni 1933. – Klaus Mann hatte am 9. Mai 1933 einen Brief an Gottfried Benn gerichtet, in welchem er sein Entsetzen darüber ausdrückte, dass das literarische Idol einer ganzen Generation sich mit den neuen Machthabern in Deutschland zu arrangieren schien. Benn reagierte mit der berüchtigten Antwort an die literarischen Emigranten, die er am 24. Mai auch im Rundfunk verlas. Klaus Mann skizzierte wenige Monate später die Auseinandersetzung in einem Beitrag Gottfried Benn oder die Entwürdigung des Geistes (In: Die Sammlung, Sept. 1933, H. 1), der zugleich eine Kritik des Aufsatzbandes von Gottfried Benn Der neue Staat und die Intellektuellen ist. ‒ Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung bei Betz: Exil und Engagement, S. 59‒68. Die Debatte fand ihren Höhepunkt mit Klaus Manns Artikel Gottfried Benn, die Geschichte einer Verirrung (In: Das Wort 1937, Nr. 9). Zusammen mit Alfred Kurellas Aufsatz Nun ist dies Erbe zuende… (erschienen unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler ebenfalls in Das Wort 1937, Nr. 9) löste diese Stellungnahme die »Expressionismus-Debatte« aus, die hauptsächlich in der Zeitschrift Das Wort geführt wurde. Darin wurde, mit Georg Lukács als Leitstimme, das Realismus-Konzept der kommunistischen Literaturpolitik gegen einen Avantgardismus ins Treffen geführt, der – wie bei Benn – logischerweise in Nihilismus und das Lager des Nationalsozialismus hineinmünden müsse. Klaus Mann: Tagebücher 1931‒1933, S. 145. Angesprochen wird hier u. a. der Rechtsanwalt Alfred Apfel, der in der Weimarer Republik mehrfach als Verteidiger von angeklagten Linksoppositionellen aufgetreten ist.
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habe Verhandlungen mit französischen Verlagen, Zeitschriften und Zeitungsredaktionen eingeleitet. Allerdings: Arbeitsverbote, Sprachprobleme, die Konkurrenzsituation und häufig auch die Unvertrautheit mit dem geistig-kulturellen Leben in den Gastländern haben solchen Bemühungen nur bescheidene Erfolge zuteilwerden lassen. Effektiver als offizielle Initiativen waren wohl die sich im Rahmen der Veranstaltungen ergebenden informellen persönlichen Kontakte und der kollegiale Informationsaustausch, wobei eine solche Nachrichtenbörse nicht nur in beruflicher Hinsicht, also für den Aufbau neuer Verlags- und Redaktionsbeziehungen von Bedeutung gewesen ist, sondern auch für den Austausch von Erfahrungen mit den Behörden des Gastlandes, gegenseitiger Tipps zur Erlangung von Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, Ausweispapieren, Visa u. a. m. Materielle Hilfe in Notlagen konnten schriftstellerische Vereinigungen selbst in aller Regel nicht gewähren, wohl aber im Einzelfall vermitteln. In weiterer Folge wurde die Eintragung des SDS im Exil in das französische Vereinsregister vollzogen; unter der Bezeichnung »Société allemande des gens de lettres. Section Française« wurde der Verband am 25. August 1934 registriert.61 Der Verbandszweck wurde wohl ganz bewusst in einer sehr allgemeinen, ganz unpolitischen Formulierung umrissen: »L’association a pour objet de représenter et de soutenir les interêts économiques, juridiques et intellectuels de ses membres«. Als Adresse wurde angegeben Paris XVe, 1, rue Henri Duchène, die Privatanschrift des »président« Rudolf Leonhard. Namentlich als Funktionäre genannt wurden Gustav Regler (sécrétaire), Alfred Kantorowicz (sécrétaire adjoint), Ernst Leonard (trésorier), Ludwig Marcuse (trésorier adjoint), Botho Laserstein (conseil juridique); die beim Registergericht eingereichte Vorstandsliste trägt die Unterschrift von Ernst Leonard.62 Mit der Ausarbeitung von Statuten, Eintragung in das Vereinsregister, jährlichen Generalversammlungen, Wahl eines Vorstands und eines Ehrenpräsidenten (Heinrich Mann), Ausstellung von Mitgliedsausweisen hatte die Arbeit durchweg vereinsmäßiges Gepräge. In diesem Formalismus spiegelt sich das Bestreben, in existenziell bedrängter Situation eine Insel der Normalität herzustellen; der Verlust des gewohnten Lebensumfeldes zog als natürliche Reaktion die Suche nach neuer sozialer Anbindung nach sich, auch bei den Schriftstellern, deren individualistische Attitüde jede Form kollegialen Zusammenwirkens bisher so erschwert hatte. Wie nach Brecht der Pass jetzt als »der edelste Teil des Menschen« angesehen werden konnte,63 so bedeutete auch der Mitgliedsausweis des SDS ein sichtbares Zeichen von Zugehörigkeit, ein Stück Identitätsgewinn in der Fremde, wohltuend gegenüber der »Entwurzelungs-Neurose«, wie Klaus Mann die Krankheit der Heimatlosen, der Emigranten,
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Paris, Préfecture de Police, Bureau des Associations, AC 09013. Ebd., HR 52949. ‒ Nach der Darstellung von Bruno Frei muss für den exilinternen Gebrauch eine deutschsprachige Verbandssatzung existiert haben, die von dem vom Registergericht genehmigten formalistischen Statut, mit welchem dem Vereinsgesetz Genüge getan war, deutlich abweicht. Danach habe § 1 gelautet: »Die Gewerkschaft Deutscher Schriftsteller (SDS) ist die Berufsvertretung derjenigen deutschen Schriftsteller in Deutschland und im Ausland, welche sich der Unterdrückung und Verfolgung des freien Schrifttums durch den Faschismus nicht unterwerfen und die Herrschaft des Faschismus in Deutschland bekämpfen« (Lexikon sozialistischer deutscher Literatur, S. 453). ‒ Die Artikel 2, 3, 5 und 10 der Satzung waren auf der Rückseite jedes Mitgliedsausweises abgedruckt. Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche, S. 380.
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benannte.64 Der SDS im Exil brachte auch wieder eine Zeitschrift heraus, die aus Camouflagegründen den gleichen Titel führte wie vor 1933: Der Schriftsteller bzw. Der deutsche Schriftsteller. Insgesamt drei Nummern erschienen: 1934, 1937 und 1938.65 Durch die Beteiligung weiter Teile der exilschriftstellerischen Prominenz an diesen Heften errang das Organ zeitgenössisch viel Aufmerksamkeit; sie sind auch aus heutiger Sicht sprechende Dokumente des literarischen Exils. Eine weitere bemerkenswerte Veröffentlichung gelang dem SDS im Exil mit der Herausgabe der Tarnschrift Deutsch für Deutsche; einen Erfolg feierte er auf anderer Ebene mit der Stiftung des Heine-Preises.66 Seine überragende Bedeutung in der Geschichte des deutschsprachigen Exils errang der SDS aber in der Hauptsache mit der Veranstaltung regelmäßiger Autorenlesungen, Vortrags- und Diskussionsabende (»Montagsabende«), Kundgebungen, Ausstellungen, Theateraufführungen oder »Kulturwochen«, die ihn zu einem Brennpunkt des geistigen, literarischen und auch politischen Lebens im französischen Exil werden ließen. Dem Jubiläumsheft von Der deutsche Schriftsteller vom November 1938 war auf den letzten drei Seiten eine Veranstaltungschronik beigegeben, die besser als jede Beschreibung die Intensität des literarischen Lebens im Exil 67 zur Anschauung bringt. Die Chronik listet 167 Veranstaltungstermine auf, 4 im Gründungsjahr 1933, 14 im Jahr 1934, und in den folgenden Jahren 1935, 1936 und 1937 wurden jeweils 38, 41 und 40 Veranstaltungen abgehalten; für die Zeit bis November 1938 wurden 30 Termine vermerkt. Sich über mehrere Tage hinziehende Ausstellungen, Theateraufführungen oder »Kulturwochen« wurden dabei nur einfach gezählt. Die Aufstellung ist weder korrekt noch vollständig; neben der ersten, weiter oben beschriebenen Veranstaltung vom 9. Juni 1933 fehlen noch andere Termine oder sind fehldatiert, und natürlich lief das Programm nach dem Jubiläum noch einige Monate bis Mitte 1939 weiter, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Dessen ungeachtet lässt sich sagen, dass der SDS im Exil mit seinen über gut fünf Jahre hinweg in dichter Folge abgehaltenen Veranstaltungen für viele seiner Mitglieder und Funktionäre zu einem Teil ihrer Lebenswelt im Exil geworden
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Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 523. Dabei wurde mit der Titelschrift die gleichnamige in Berlin erscheinende Zeitschrift des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller nachgeahmt; anfangs wurde sogar die Jahrgangsund Nummernzählung fiktiv weitergeführt, und im Spanien-Sonderheft wurde Berlin als Erscheinungsort genannt – die Absicht war, den Heften wenigstens andeutungsweise den Charakter einer Tarnschrift zu verleihen. Die genauen Titel lauteten: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Herausgeber: Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Sektion Frankreich, 22. Jahrgang, August 1934, Heft 3 [8 Seiten]; Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. Sonderheft: Spanien. Berlin, Juli 1937 [12 Seiten]; Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller. Sondernummer zum Jubiläum des SDS, Paris, November 1938 [32 Seiten]. – Das Heft vom August 1934 brachte auf S. 8 eine »Bibliographie der Exilverlage«, die allerdings nur Anzeigen des Querido Verlags und der Éditions du Carrefour enthielt. Zur Tarnschrift Deutsch für Deutsche siehe Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich; der Heine-Preis wird weiter unten im Abschnitt über Literaturpreise näher vorgestellt. Eine umfassende, auch andere Exilorganisationen in Frankreich mit einbeziehende »Chronik der deutschsprachigen Emigration in Frankreich 1933‒1940« bringt Betz: Exil und Engagement, S. 281‒327.
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Abb. 3: Fuenf Jahre SDS in Paris / Eine Chronik. In: Der deutsche Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Sondernummer zum Jubiläum des SDS, Paris, November 1938, S. 30‒32.
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ist.68 Tatsächlich kann man ohne Übertreibung feststellen, dass mit diesen Gemeinschaftsaktivitäten den Schriftstellern in Paris die Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch geboten war, wie er in dieser Dichte vor 1933 weder in Berlin noch an anderen Orten in Deutschland stattgefunden haben dürfte! Für die ins Ausland geflüchteten Autoren erwies sich der SDS im Exil als eine geeignete Plattform, um sich über adäquate Reaktionen auf die politische Katastrophe des Nationalsozialismus und über notwendige Veränderungen in der Schreibhaltung oder auch über Formen eines direkt politischen Engagements zu verständigen. Ohne Zweifel haben die dort abgehaltenen Diskussionen in einer zunächst höchst unübersichtlichen Lage erste Orientierungen geboten. Dies ließe sich exemplarisch demonstrieren am Thema »Deutschland«: Schon der erste Diskussionsabend des SDS im Oktober 1933 trug den Titel »Wie stehen wir zu Deutschland?«, als Redner traten Emil Gumbel, Alfred Kurella und Ludwig Marcuse auf; es folgten u. a. Diskussionen über Aspekte wie »Der Reichsverband Deutscher Schriftsteller und wir«, »Das 3. Reich im Spiegel der Emigrationsliteratur«, »Fallada und Reger, der Gesellschaftsroman auf dem Wege zum Faschismus«, »Kriegsgefahr und Emigration«, »Literatur, die den Krieg vorbereitet«, über das Hitler-Buch Konrad Heidens, über nationalsozialistische Jugendliteratur, über die Nürnberger Kulturerlasse, über die Jugend im Dritten Reich u. s. f. Man beschäftigte sich mit Fragen wie »Was geschieht eigentlich in Deutschland« oder »Wie entwickelt sich der Nationalsozialismus«, man befasste sich mit der Literaturpolitik des Dritten Reiches, und auch viele Autorenlesungen wie diejenigen Gustav Reglers, der aus seinem Saar-Roman vortrug, Wolfgang Langhoffs oder Karl Billingers (d. i. Paul W. Massing), die ihre KZ-Berichte vorstellten, standen im Zeichen einer Auseinandersetzung mit NS-Deutschland. Dieser permanente DeutschlandDiskurs, mit seinen teils realitätshaltigen, teils mehr ideologischen Interpretations- und Argumentationsmustern, wurde in der Exilpublizistik weitergesponnen und hat auch Niederschlag im politischen Sachbuch und Roman des Exils gefunden. Der SDS nahm in seiner Arbeit, in Debattenabenden, Kundgebungen, Aufrufen, Solidaritätskampagnen etc. faktisch alle aktuellen Themen auf: So finden sich in seinem Programm Reflexe auf den »Saarkampf« 1934 / 35, vor allem aber entwickelte er sich von einer »literarischen Einheitsfront« zur Avantgarde-Organisation der Volksfrontbe-
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Im Jubiläumsheft 1938 von Der deutsche Schriftsteller bringen dies mehrere Beiträger zum Ausdruck. Es gab allerdings auch kritische Beobachter dieses Exil-Biotops, wie Klaus Mann, der – wie weiter oben bereits dokumentiert – immer wieder Veranstaltungen des SDS besucht und diese in seinem Tagebuch kommentiert hat. So am 4. Februar 1935: »Mit ihr [Fränze Herzfeld] in die Sitzung des Schutzverbandes, Saal ›Mephister‹ [Mephisto]. Oh welch verzweiflungsvoller Eindruck! Man glaubt sich zwischen fast nur Narren. Ein Knallverrückter zwischen ihnen – Gottlieb – der immer eine Satire gegen mich vorlesen will und etwas über ›Arrivierte‹ schreit. – Einer namens [Max] Schroeder liest stotternd aus unseren Äusserungen zum Jubiläum des Pariser Tageblatts. – Bodo Uhse referiert – sympathisch, viel zu lang – über den Roman von [O. M.] Graf. Schroeder soll über meinen referieren, stockt, simuliert Magenkrampf, bricht ab. Koestler improvisiert Referat über ›Flucht in den Norden‹, ziemlich gescheit und übersichtlich. Aber die Diskussion! Quälend niveaulos, quälend konfus. Meistens ahnungslose kleine Vulgärmarxisten, die die Bücher nicht gelesen haben. […] Mit Fränze und dem intelligenten Koestler noch im Café. Völlig erledigt. Wie vergeht einem die Lust zu Organisationen!« (Klaus Mann: Tagebücher 1934‒1935, S. 95 f.).
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wegung; einige seiner Mitglieder und Funktionäre, allen voran Heinrich Mann, waren auch im »Deutschen Volksfrontausschuss« engagiert. Ein großes Thema war ferner der Spanische Bürgerkrieg: in diesen waren zahlreiche Funktionäre des SDS direkt involviert, indem sie sich den Internationalen Brigaden anschlossen oder als Kriegsberichterstatter tätig waren, so Theodor Balk, Alfred Kantorowicz, Hans Marchwitza, Gustav Regler oder Egon Erwin Kisch. Neben Lesungen aus Erlebnisberichten von der Front hielt der SDS mehrfach Großveranstaltungen ab, so Anfang Mai eine Kundgebung, auf der – nach einer Begrüßung durch den republikanischen spanischen Außenminister Del Vayo und den spanischen Botschafter in Paris – Max Aub, Tristan Tzara, Pablo Neruda und Otto Katz als Redner auftraten. Der SDS war nicht nur in diesem Fall der SpanienKampagne in der Lage, öffentliche Aufmerksamkeit und nachfolgend auch eine entsprechende, über das deutschsprachige Exil hinausreichende Berichterstattung herzustellen. Aktuelle Anlässe dazu gab es weiterhin, etwa nach dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich im März 1938. Der SDS war gleichfalls von Anfang an eine wichtige Plattform der Begegnung mit französischen Schriftstellerkollegen und Intellektuellen, die zu Vorträgen oder als Teilnehmer an Deutsch-französischen Solidaritätsabenden geladen waren, unter ihnen Louis Aragon, Jean Richard Bloch, Paul Vaillant-Couturier, Edmond Vermeil, Jean Cassou oder Jean Guehenno. Auch dieser Brückenschlag zu den (teilweise in der KPF aktiven) französischen Kollegen war der öffentlichen Wahrnehmung des SDS durchaus förderlich; zu dem Vortragsabend am 14. Dezember 1934, auf dem André Malraux (gemeinsam mit Ilja Ehrenburg)69 als Redner auftrat, sollen – es ging um den 1. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller, auf dem als neue Leitlinie der »Sozialistische Realismus« ausgerufen wurde – dem Bericht Johannes R. Bechers zufolge »ca. 400 Personen« erschienen sein.70 Höchst beachtlich war der Beitrag des SDS zum Aufbau eines (im engeren Sinn) literarischen Lebens im Exil: Zahlreiche, teils in Paris lebende, teils in Durchreise begriffene Autoren lasen aus in Entstehung begriffenen Manuskripten oder aus Neuerscheinungen, von Gustav Regler und Egon Erwin Kisch über Ernst Bloch und Walter Benjamin bis Klaus Mann, Lion Feuchtwanger und Anna Seghers; es wurde aber auch über Bücher abwesender Autoren kritisch diskutiert, ebenso über Repräsentanten des literarischen Erbes wie etwa Gottfried Keller, Victor Hugo, Heinrich Heine, Leo Tolstoi oder Georg Büchner. Literarische Nachwuchsförderung wurde betrieben, indem junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen (u. a. Elisabeth Karr, H. W. Katz) die Gelegenheit zur Präsentation ihrer Texte bekamen oder von routinierten Autoren geleitete Werkstattkurse und Arbeitsgemeinschaften stattfanden. Selten dürfte an einem Ort außerdem so intensiv über Literaturtheorie (z. B. über Gattungen wie den historischen Roman oder die Reportage) und Maßstäbe der Literaturkritik diskutiert worden sein, wenngleich dies nicht vorbehaltlos erfolgte, sondern als Instrument der ideologischen Indoktrination gedacht war. Auch die Gedächtnisfeiern für jüngst Verstorbene (Henri Barbusse, Kurt
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Der dritte unter diesem Datum angekündigte Redner, Klaus Mann, war am Erscheinen durch Probleme mit dem Reisepasss verhindert; sein Manuskript wurde verlesen. Becher, Johannes R.: [Brief aus Paris vom 15. Dezember 1934]. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1: 1926‒1935, S. 825‒827; hier S. 825.
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Tucholsky, Karl Kraus, Maxim Gorki, Ödön von Horvath) und Geburtstagsfeiern etwa für Kisch oder Döblin gehören zu diesem Bild eines überaus abwechslungs- und facettenreichen Literaturlebens. Die gemeinschaftsbildende Funktion, die dieses Programm des SDS mit nahezu wöchentlichen Veranstaltungsterminen entwickelte, wird noch unterstrichen durch Kinder- und Jugendveranstaltungen, auf denen vorgelesen wurde oder bekannte Autoren wie Hans Marchwitza als Erzähler auftraten. Literaturhistorisch bemerkenswert ist schließlich auch die Tatsache, dass unter der Patronanz des SDS im Exil zwei Brecht-Stücke in Paris uraufgeführt worden sind, im Oktober 1937 Die Gewehre der Frau Carrar in einem Bühnenbild von Heinz Lohmar mit Helene Weigel in der Hauptrolle und im Mai 1938 der Zyklus 99 Prozent. Bilder aus dem Dritten Reich (acht Szenen aus Furcht und Elend des Dritten Reiches), beide unter der Regie von Slatan Dudow. Über die Buchausstellungen des SDS (»Das freie deutsche Buch«, 1936; »Das deutsche Buch in Paris«, 1937) wurde bereits an anderer Stelle berichtet.71
Der »Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« 1935 Ein Großereignis hat 1935 aufgrund seines geradezu spektakulären Charakters besonderes Aufsehen in der Exilschriftstellerschaft und weit darüber hinaus erregt. Den Initialpunkt dazu setzte Anna Seghers, als sie – dem Bericht Johannes R. Bechers zufolge – am 14. Dezember 1934 auf dem erwähnten Abend mit André Malraux im Rahmen der allgemeinen Debatte den Vorschlag machte, der SDS möge doch »eine Konferenz aller fortschrittlichen Kräfte der Literatur innerhalb absehbarer Zeit in Westeuropa organisieren«.72 Dieser Vorschlag sei von der ganzen Versammlung einstimmig und begeistert angenommen worden; der Vorstand des SDS sei beauftragt worden, sich an die maßgebenden Persönlichkeiten und Organisationen zu wenden.73 Becher selbst erkannte die Chance, mit einer solchen Veranstaltung Terraingewinne im exilschriftstellerischen Feld
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In Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich. Becher: [Brief aus Paris vom 15. Dezember 1934], S. 825. – Der Vorschlag war sehr wahrscheinlich von dem I. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller inspiriert gewesen, auf dem ein solcher Plan bereits diskutiert worden war. Literatur zum Kongress in Auswahl: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Eine erweiterte und verbesserte Version des Dokumentationsbandes ist in frz. Sprache erschienen: Pour la défense de la culture. Siehe auch Klein: Nachträge zu »Paris 1935«. Zum Schriftstellerkongress ist eine Fülle von Aufsätzen in der DDR erschienen, die aber aufgrund ihrer Unergiebigkeit hier nicht aufgeführt werden müssen. Vgl. aber: Midgley: Eine Gemeinschaft mit Verzögerung: Bemerkungen zum Schriftsteller-Kongress zur Verteidigung der Kultur, Paris 1935. – Zur zeitgenössischen Rezeption: Ein (vom realen Verlauf des Kongresses z. T. abweichendes) Programm des Schriftstellerkongresses erschien im Pariser Tageblatt vom 19. Juni 1935. ‒ Ausführliche kritische Berichte über den Kongress verfasste täglich R. Br. (Rudolf Breitscheid?) für das Pariser Tageblatt vom 22. bis zum 27. Juni 1935; zum weiteren Presseecho vgl. (in Auswahl): Rundschau Nr. 28 u. 29, S. 1397‒1404 und 1443‒1449; Die neue Weltbühne Nr. 29 v. 18. Juli 1935, S. 917 f.; Unsere Zeit, H. 6 / 7, Juli 1935, S. 41‒55.
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und bei der Partei zu erzielen, und stellte sich tatkräftig hinter die Idee, die dann auch tatsächlich im Mai des folgenden Jahres mithilfe der französischen (Partei-)Kollegenschaft als »Erster Internationaler Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« in die Tat umgesetzt und dann als »Meilenstein in der Entwicklung der antifaschistischen Kulturfront« angesehen wurde.74 Die Formel von der »Verteidigung der Kultur« stammte eigentlich von Paul VaillantCouturier (aus einem Artikel in der Zeitschrift Commune), Becher nahm sie auf, weil er darin ein Moment der Gemeinsamkeit, den Schnittpunkt zwischen den Positionen der »bürgerlichen« und kommunistischen Schriftsteller zum Ausdruck gebracht sah. In der Planungsphase ergaben sich offenbar Kompetenzstreitigkeiten und ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen dem SDS und der ebenfalls als Veranstalterin auftretenden Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR); die deutschen Schriftsteller überließen schließlich den Franzosen die Bildung eines Initiativkomitees, das auch den Kongressaufruf formulierte. Dieser wurde vom SDS akklamiert, der nun seinerseits propagandistische und organisatorische Aktivitäten zur Vorbereitung des Kongresses innerhalb der deutschen Emigration ankündigte. Becher akzentuierte gegenüber seinen Parteigenossen die Erwartungen und den großen Nutzen, den man aus einem solchen Kongress ziehen könne: Die Sammlung aller antifaschistischen Schriftsteller der Welt und der Plan einer Konferenz, das kann man ruhig pathetisch sagen, ist eine Angelegenheit, die unsere gesamte Literaturentwicklung gewaltig anzuregen und auf eine neue Höhe zu heben imstande ist. Gerade für die proletarische Literatur als den Kern dieser Bewegung ergeben sich neue und große Möglichkeiten, wenn sie in eine dauernde und nahe Berührung mit der Weltliteratur kommt.75 Die von den Organisatoren wohl unter Mitwirkung des SDS zusammengestellte Rednerliste der deutschen Teilnehmer wies mit Heinrich und Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Rudolf Leonhard und Ludwig Marcuse prominente Namen auf; mit »proletarischer Literatur« hatte das allerdings wenig zu tun. Der »Erste Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« fand dann als eine fünftägige Veranstaltung vom 21. bis 25. Juni 1935 im Gebäude der »Mutualité« statt. Der SDS stellte als Mitveranstalter eine der stärksten Delegationen der Tagung, an der insgesamt etwa 250 Schriftsteller aus 38 Staaten teilnahmen. Dem Kongresspräsidium gehörten als Vertreter der deutschen Schriftsteller Heinrich Mann und Egon Erwin Kisch an; daneben gab es noch zahlreiche weitere Mitglieder des SDS, die als Redner in Erscheinung traten: Alfred Kerr, Bertolt Brecht, Klaus Mann, Johannes R. Becher, Alfred Kantorowicz, Hans Marchwitza, Rudolf Leonhard, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Ernst Bloch, Bodo Uhse, Gustav Regler, Erich Weinert, als Beiträger Ludwig Marcuse und Ernst Toller. Außerdem hatte der SDS den überraschenden und effektvollen Auftritt eines Redners aus Deutschland organisiert: Als Vertreter der illegalen deutschen Literatur sprach Jan
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Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland?, Bd. 1, S. 66. Zit. n. Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, Vorwort, S. 18.
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Petersen, der Leiter des verbotenen Berliner BPRS; er war mit einer Gesichtsmaske unkenntlich gemacht, um seine Rückkehr nach Berlin nicht zu gefährden.76 Eine Grußadresse des SDS, verlesen von Henri Barbusse, und ein Schlussempfang im Haus des Schriftstellers Renaud de Jouvenel, den der SDS gemeinsam mit der »Deutschen Freiheitsbibliothek« veranstaltete, vervollständigten die Präsenz des Verbandes auf dem Kongress. Die Referate auf dem Kongress gliederten sich in sechs Themenkreise: Unter den Stichworten »Das Kulturerbe«, »Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft«, »Das Individuum«, »Der Humanismus«, »Nation und Kultur« und »Probleme des Schaffens und Würde des Denkens« sollte der Grundfrage nach der Stellung der Literatur und des literarisch Tätigen innerhalb der politischen Auseinandersetzungen der Zeit nachgegangen werden. In ihrer Mehrheit suchten die Redner nach Gemeinsamkeiten zwischen der bürgerlichen und der marxistischen Kultur und Ästhetik, wofür sich insbesondere der Begriff des »sozialistischen Humanismus« anbot. Die Überzeugung, dass dieser bereits in der klassenlosen Gesellschaft der Sowjetunion verwirklicht sei, wurde hauptsächlich von sowjetischen Referenten vertreten, während die deutschen Schriftsteller den Zielund Endpunkt ihres Kampfes gegen das Dritte Reich u. a. im Bild eines »Deutschland von Goethe und Marx« zu fassen suchten. Aus den Reden der deutschen Delegierten ergab sich alles in allem gleichwohl ein recht buntes Bild: Egon Erwin Kisch sah in seinem Beitrag »Reportage als Kunstform und Kampfform«77 den sozial bewussten Schriftsteller vor eine doppelte Aufgabe gestellt, nämlich »zugleich Kämpfer und Künstler zu sein«; Alfred Kerr erkannte in der »Verteidigung der Kultur« die identitätsbegründende Aufgabe des emigrierten Schriftstellers; Johannes R. Becher synthetisierte in seiner Rede »Im Zeichen des Menschen und der Menschheit« traditionelle Werte wie Wahrheit, Menschenwürde, Freiheit und Vaterlandsliebe mit den Zielsetzungen der proletarischen Literatur, gab sich aber doch auch klassenkämpferisch: Unser Kongreß steht im Zeichen des Humanismus. Der Einladung zu diesem Kongreß sind Schriftsteller gefolgt, die sich die Aufgabe gestellt haben, die großen Ideale des Humanismus in ihrem Werk zu vertreten, die mit ihrem Werk jener Kraft dienen, die heute einzig und allein die Verwirklichung jener Ideale verbürgt. Diese einzige und alleinige Kraft ist die Arbeiterklasse. Die Bewahrenden und die Kämpfenden sind hier auf diesem Kongreß erschienen.78 Klaus Mann distanzierte sich von dem »revolutionären Optimismus« der meisten Kongressteilnehmer und merkte kritisch an, dass der »sozialistische Humanismus« noch nicht verwirklicht sei; jenseits eines doktrinären Materialismus forderte Mann eine »humanitäre Toleranz im Geistigen«.79
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Zu Petersens Auftritt vgl. Scheer: So war es in Paris, S. 116 f. Abgedruckt in: Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, S. 56‒60. Zit. n. Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1, S. 847‒859; hier S. 847 f. Klaus Mann: »Der Kampf um den jungen Menschen«. In: Paris 1935, S. 151‒156.
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Im Schwerpunkt »Nation und Kultur« bildeten die deutschen Referenten eine dominierende Gruppe, wobei – neben Kantorowicz,80 Marchwitza,81 Weinert 82 und Leonhard,83 die sich mit ihren Ausführungen über den proletarisch-revolutionären Schriftsteller bzw. die nur aus dem Kollektiv entwickelbare Individualität an das Regelbuch marxistischer Literaturauffassung hielten – es insbesondere Anna Seghers gelang, in ihrem Vortrag »Vaterlandsliebe«84 einen bürgerlichen Wertbegriff dialektisch für eine überzeugende antifaschistische Argumentation fruchtbar zu machen. Leonhard Franks mahnende Worte »Einendes ist Pflicht«85 und Heinrich Manns zentrale Aussage »es gibt keine Würde des Denkens unter faschistischer Herrschaft«86 waren eindringliche Appelle an das Forum, Solidarität im politischen Kampf zu üben. Der bereits erwähnte anonyme Überraschungsgast Jan Petersen hob die eminente Bedeutung der Exilpublikationen und der politischen Agitation im Ausland für die deutschen Schriftsteller im Untergrund hervor.87 Zu den »Problemen des Schaffens« schließlich stellten Lion Feuchtwanger und Ernst Bloch auf je spezifische Weise Überlegungen an: Feuchtwanger zu literaturimmanenten Fragen des historischen Romans, Bloch zum Verhältnis von Phantasie und revolutionärem Prozess. Eine Außenseiterposition nahm Robert Musil ein, indem er Kultur als »unpolitisches Gut« kategorisierte, und ebenso der christlich-sozial orientierte Emmanuel Mounier (»der Humanismus, den ihr meint, ist nicht der unsere«) wie auch Julien Benda, der die Parole vom »kulturellen Erbe« als fundamentalen Widerspruch zum »Leninismus« kritisierte. Außenseiter blieb sogar Brecht, der seine thematische Vorgabe (»Individuum«) ignorierte und »Eine notwendige Feststellung zum Kampf gegen die Barbarei«88 vortrug. Brecht beurteilte die aktuelle Situation vom Gesichtspunkt des historischen Materialismus und leitete daraus sein Postulat ab für jenes Verhalten, das der gestellten Aufgabe, der Bekämpfung des Faschismus, adäquat sei: »Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!« Indem Brecht am Begriff des Klassenkampfes festhielt, legte er sich quer zum Volksfront-Konsens, dessen labiles Gleichgewicht auch durch Auftritte der »Trotzkisten« Paul Eluard, Magdalena Paz und des Italieners Salvemini gestört wurde. Nicht nur bei Brecht und Seghers handelte es sich um niveauvolle, ausgefeilte Texte; auch viele andere Teilnehmer waren sichtlich bemüht, mit ihrem Auftritt dem Anlass gerecht zu werden. Dass nicht in allen Punkten Übereinstimmung erzielt
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Alfred Kantorowicz: »Literarische Kriegsvorbereitung«. In: Paris 1935, S. 230‒235. Hans Marchwitza: »Wir schreiben nur unsere Erfahrungen«. In: Paris 1935, S. 247‒249. Erich Weinert: [Referat auf dem Schriftstellerkongreß in Paris]. In: Paris 1935, S. 360‒362. Rudolf Leonhards Rede wurde abgedruckt in: Heute und Morgen Nr. 43 / 44, 29. Juni 1935, S. 292‒295; sowie in: Paris 1935, S. 259‒261. In: Paris 1935, S. 278‒281. Zit. n. dem Kongressbericht in der Rundschau, S. 1445; nicht in Paris 1935. Zit. n. dem Bericht in der Rundschau, S.1445; vgl. auch Paris 1935, S. 290‒292. Zu den Referaten von Feuchtwanger und H. Mann vgl. auch den Bericht im Pariser Tageblatt vom 26. Juni 1935. Jan Petersen: »Deutschland ist nicht Hitler«. In: Paris 1935, S. 298. Abgedruckt u. a. in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1, S. 871‒ 876.
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werden konnte, kann nicht überraschen.89 Zur Vervollständigung des Bildes müssten hier im Grunde auch die Auftritte der französischen und sonstigen ausländischen Teilnehmer vorgestellt werden, insbesondere jene der dominant auftretenden André Gide und André Malraux.90 Eine alles in allem realistische Bilanz des Kongresses zog Leopold Schwarzschild im Neuen Tage-Buch, das zu diesem Zeitpunkt die Bemühungen um eine deutsche Volksfront (noch) unterstützte: Die einberufende Stelle blieb unbenannt: doch gab es keinen Zweifel über das kommunistische Timbre des Arrangements und der Zuhörerschaft. Die Absicht war […] nach dem Eintritt Rußlands in die europäische Politik auch Brücken zwischen der kommunistischen und bürgerlichen Intelligenz zu schlagen […]. Bis zu einem gewissen Grad wurde dieser Zweck wohl erreicht […]. Das Bekenntnis, das diesmal dominierte, war das zum »kulturellen Erbe«, zur fundamentalen Bedeutung des gesamten Kulturguts. […] Dem schlossen sich in bemerkenswerter Weise ‒ es ist eine gewisse Wende ‒ auch die Kommunisten an. […] Dagegen war es verständlicherweise ziemlich aussichtslos, zwischen Russen und Westlern, Bürgerlichen und Kommunisten schon irgendwelche prinzipielle Übereinstimmung zu Fragen wie der des Individuums und seiner Rechte zu entdecken.91 Als – sicherlich unerwartetes – Resultat des Kongresses kann der »völlige Verfall der Konzeption einer ›proletarischen Kultur‹ gelten, so wie diese jedenfalls vom BPRS innerhalb des Rahmens der IVRS anvisiert worden war«.92 Daher sollte anstelle der IVRS die zum Abschluss des Kongresses ins Leben gerufene »Internationale SchriftstellerVereinigung zur Verteidigung der Kultur« (ISVK), in deren Vorstand Heinrich und Thomas Mann berufen wurden,93 auf internationaler Basis die Theorie und Praxis des Marxismus für die ideologische Orientierung des »antifaschistischen Kampfes« einbringen. Doch gelang es nicht, an die Publizität des Kongresses anzuknüpfen und »jene Diskussion über die gesellschaftlichen Grundlagen der Verteidigung der Kultur unter den Schriftstellern vertiefend weiterzuführen, deren Notwendigkeit sich in Paris gezeigt hatte«.94 Allerdings kam es zwei Jahre später zu einer Fortsetzung der Kongressaktivitäten; der
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Klaus Manns Resümee des Kongresses: »Man ist sich einig in der Ablehnung der Barbarei, aber in anderen Punkten gibt es Meinungsverschiedenheiten«. (Zit. n. Paris 1935, Vorwort, S. 22). Ludwig Marcuse schrieb am 10. August 1935 an Manfred Georg: »Der Kongreß war unerfreulich. Eine schwer bourgeoise Angelegenheit, gemacht von Kommunisten. Soweit persönliche Impressionen eine prinzipielle Haltung beeinflussen können: ich glaube nicht an die Zukunft des Kommunismus«. (Marbach, A: George 75.3366 / 6) Vgl. hierzu Betz: Exil und Engagement, S.104‒113, bes. S. 108. Bericht über den internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. In: Das Neue Tage-Buch, H. 26, 29. Juni 1935, S. 622. Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland?, Bd. 1, S. 67. Vgl. Rundschau Nr. 29, S. 1443 u. 1449. Paris 1935, Vorwort, S. 25.
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»Zweite Internationale Kongress zur Verteidigung der Kultur« wurde 1937 in Barcelona abgehalten. Auch dort waren SDS-Mitglieder vertreten; organisatorisch war die Vereinigung aber nicht involviert. In Paris war es im SDS nach dem Kongress zu einer gewissen Erschöpfung oder auch Krise vor allem im engeren Bereich der Parteischriftsteller gekommen: Gustav Regler berichtete später, er sei von Anna Seghers und Johannes R. Becher scharf zurechtgewiesen worden, weil er am Schluss seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress das Absingen der »Internationale« provoziert habe; damit habe er alles verdorben ‒ der bewusst als »überparteilich« angelegte Kongress habe sich in diesem Moment als kommunistische Veranstaltung entlarvt.95 Im Juli und Anfang August gab es dann doch noch eine intensive Nachbearbeitung des Kongresses im Rahmen von nicht weniger als acht Diskussionsabenden, mit der Folge, dass nach einem Beschluss der Mitgliederversammlung die Zusammenkünfte, die während der Sommermonate eigentlich vierzehntägig stattfinden sollten, wieder wöchentlich veranstaltet wurden.96 Zur Diskussion gestellt wurden insbesondere die Reden Aldous Huxleys und des amerikanischen Schriftstellers Edward Morgan Forster durch Ernst Leonard,97 sowie der Reden Robert Musils und Max Brods.98 Am 12. August wurde Maxim Gorkis Kongressreferat vorgelesen und debattiert,99 die Serie wurde zum Abschluss gebracht mit der Mitgliederversammlung am 18. August, in der die Frage des »historischen Erbes« anhand des Vortrags »Gottfried Keller als politischer Schriftsteller«100 aufgeworfen wurde; schließlich folgte am 26. August noch ein Diskussionsabend über Ernst Blochs Rede »Dichtung und sozialistische Gegenstände«.101 Darüber hinaus sind im Zusammenhang mit dem Kongress beachtenswerte Publikationen und Aktivitäten des Exil-SDS entstanden: zum einen die Anthologie mit Beiträgen von 43 emigrierten deutschen Schriftstellern, die als eine Tarnschrift unter dem Titel Deutsch für Deutsche im Dritten Reich verbreitet werden sollte;102 zum anderen erschien unmittelbar nach Abschluss des Kongresses unter der Mitherausgeberschaft des SDS eine Sondernummer der Mitteilungen der Deutschen Freiheitsbibliothek mit einer ersten Zusammenstellung von Beiträgen des Kongresses. Und nicht zuletzt kündigte der SDS am letzten Tag des Kongresses die Auslobung eines »Heine-Preises« an, einer Stiftung »zur Förderung des Schaffens freiheitlicher deutscher Dichter und der Verbreitung ihres Schaffens in Deutschland«.103 Insgesamt betrachtet markierte der Kongress sicherlich einen Höhepunkt in der kurzen Geschichte des SDS im Exil, einen Höhepunkt wohl zugleich im literarisch-kulturellen Leben der deutschsprachigen Emigration in Paris.
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Regler: Das Ohr des Malchus, S. 316 f. Pariser Tageblatt, 10. August 1935, S. 3. Ankündigung im Pariser Tageblatt vom 21. Juli 1935, S. 3. Ankündigung im Pariser Tageblatt vom 4. August 1935, S. 3. Ankündigung im Pariser Tageblatt vom 10. August 1935, S. 3. Ankündigung im Pariser Tageblatt vom 18. August 1935, S. 3. Chronik des SDS. In: Der Schriftsteller 1938. Zu Deutsch für Deutsche siehe den Abschnitt »Tarnschriften« im Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich. 103 Zum Heine-Preis vgl. in diesem Kapitel weiter unten.
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Der SDS im Exil auf dem Weg zur KP-»Frontorganisation« Wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, standen in der Exilschriftstellerschaft den positiven gemeinschaftsbildenden Effekten der Organisationsarbeit gravierende destruktive Kräfte gegenüber. Der SDS im Exil wurde zum Schauplatz tiefgreifender Auseinandersetzungen, deren Ursache vor allem in den konspirativ betriebenen Bestrebungen einer Fraktion kommunistischer Schriftsteller zu sehen ist, die diesen Zusammenschluss zum Vehikel einer KPD- und kominterngesteuerten Intellektuellen- und Volksfrontpolitik zu machen suchte.104 Diese unter dem Deckmantel und der (in der Sache unangreifbaren) Losung des Antifaschismus betriebene, letztlich jedoch rein parteitaktisch motivierte Strategie verlangte selbst dem Kern der Fraktionsmitglieder ein sacrificium intellectus ab, das nicht alle zu leisten imstande waren. Weniger die Komintern, sondern insbesondere die KPD-Auslandsleitung unter Walter Ulbricht suchte den SDS auf brutale Weise unter Kontrolle zu bringen, wie unsinnig ihre Maßnahmen und Einsatzbefehle auch gewesen sein mochten. Ulbricht dürfte die Eigendynamik, mit der sich im SDS ein reiches, auch bürgerliche Kreise umfassendes Kulturleben entfaltete, suspekt gewesen sein, sodass er es darauf anlegte, die Freiräume zu zerstören, die sich in dem Pariser SDS ansatzweise gebildet hatten. Von dieser Belastung, an der einige Beteiligte innerlich zu zerbrechen drohten, gibt unter anderem Hans Sahls romanhafter Bericht Die Wenigen und die Vielen105 Auskunft; Sahl war nach der Euphorie der Anfangszeit in eine existentielle Krise geschlittert, ausgelöst durch das Verhalten der kommunistischen Parteimitglieder im SDS; seit 1936 verstärkt durch die Moskauer Schauprozesse.106 Sahl, der 1937 aus dem SDS im Exil austrat, war nicht der einzige Fall dieser Art; bei Arthur Koestler, Gustav Regler und Manès Sperber107 mündeten vergleichbare Erfahrungen später in offensives Renegatentum.108 Ein Hauptprotagonist der KP-Lenkungsstrategie und verlängerter Arm Moskaus, zugleich Ulbrichts, war Johannes R. Becher. Zum Verständnis der Vorgänge muss in das Jahr 1933 zurückgegangen werden, in die Monate Juli bis September, in denen Becher europäische Zentren der Emigration bereiste, um Informationen über die Haltung der vertriebenen Schriftsteller zu einer Sammlungsbewegung einzuholen. In seinem Bericht an das Hauptquartier der IVRS109 in Moskau ging Becher zunächst auf den Zustand
104 Vgl. hierzu auch die Aufzeichnungen über die Fraktionssitzungen des SDS von Erich Weinert im Archiv der Akademie der Künste, Berlin (DDR) 196 18 /15. 105 Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Vgl. aber auch Sahl: Memoiren eines Moralisten, sowie Sahl: Das Exil im Exil. 106 Dazu: Kellenter: Hans Sahls Roman »Die Wenigen und die Vielen«, der Roman des Exils überhaupt? Zu den traumatischen Erfahrungen Sahls vgl. Reiter: Hans Sahl im Pariser Exil. In dem Aufsatz werden die literarischen Spiegelungen von Sahls Exilerlebnissen in Roman und Autobiographie behandelt. Vgl. ferner Skwara: Hans Sahl. Leben und Werk. 107 Manès Sperber war Komintern-Agent und seit 1935 ideologischer Leiter des Instituts zum Studium des Faschismus in Paris; 1937 brach er mit dem Kommunismus und bekämpfte seither den Stalinismus. Vgl. Corbin: Manès Sperber et les exilès allemands et autrichiens en France. 108 Dazu allgemein Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. 109 Die von Johannes R. Becher, Willi Bredel und Georg Lukács geleitete Deutsche Sektion der »Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller« (IVRS) in Moskau, die nach der
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der ebenfalls in Paris gegründeten Exilgruppe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) ein,110 berichtete dann aber weiter: In der Frage des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller beschlossen wir, den Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Ausland umzubilden in einen Schutzverband Deutscher Schriftsteller (da es einen solchen in Deutschland nicht mehr gibt), den Vorstand des Schutzverbandes repräsentativ auszugestalten und sowohl die österreichische wie auch die tschechische Organisation deutschsprachiger Schriftsteller aufzufordern, sich diesem Schutzverband anzugliedern.111 Damit sollte der SDS schon kurz nach seiner Gründung zu einer kommunistischen »Frontorganisation« mit neutraler Fassade gemacht werden. Arthur Koestler hat nach seinem Bruch mit der KP beschrieben, wie die Aktivitäten des SDS durch die in ihm insgeheim gebildete kommunistische Fraktion, die von den Verbandsmitgliedern auch der »Kopf« genannt wurde, dirigiert wurden: Offiziell war der Verband politisch neutral, abgesehen von seiner Opposition gegen das Nazi-Regime; in Wirklichkeit wurde er von der Fraktion geleitet, einer Gruppe kommunistischer Schriftsteller, welche die einzuladenden Redner bestimmte und die öffentlichen Diskussionen in das richtige Fahrwasser lenkte. Wie bei solchen Frontorganisationen üblich, war der Vorsitzende (ein Literat namens Rudolf Leonhard) nicht Parteimitglied, erhielt aber ein Gehalt und die nötigen Anweisungen von der Partei.112
1935 erfolgten Auflösung der IVRS zu einer Untergruppe des Sowjetischen Schriftstellerverbandes wurde, spielte eine nicht unbedeutende Rolle in der Vermittlung der jeweils aktuellen Richtlinien der Literaturpolitik der Komintern, von der Faschismusthese bis zum Sozialistischen Realismus. Vgl. hierzu Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933‒ 1945, S. 179‒195, 204‒216. Mit den Zeitschriften Internationale Literatur und Das Wort standen dafür auch publizistische Organe zur Verfügung. Zahlreiche Mitglieder der Gruppe, die sich durch gegenseitige Denunziation vielfach selbst dezimierte, fielen den stalinistischen Säuberungen zum Opfer (siehe hierzu die aufschlussreiche Dokumentation Georg Lukács, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u. a.: Die Säuberung. Moskau 1936); im Juni 1941 stellte die Sektion ihre Arbeit ein. 110 Der BPRS, der einige Zeit illegal in Deutschland weiterzuarbeiten suchte, hatte sich im Prager und Pariser Exil sehr rasch wieder formiert und zählte nach Bechers Angaben im Spätsommer 1933 in der Pariser Gruppe 30 Mitglieder (Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1, S. 630. Die Zahl der Mitglieder des SDS im Exil gibt Becher dort mit »ungefähr 150 Kollegen« an, ein für September 1933 eher unrealistischer Wert). Zum BPRS siehe Schiller: Wenn nötig eben jeden sechsmal rütteln … Zur BPRS-Gruppe in Prag siehe Schiller: Ottwalt, Herzfelde und der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller im Prager Exil. 111 Johannes R. Becher: Bericht über die Tätigkeit während meiner Reise vom 5. Juli bis 27. September 1933. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1, S. 624‒ 645; hier S. 631 f. 112 Koestler: Die Geheimschrift, S. 241.
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Mitte Dezember konnte Becher von Paris aus erste Erfolge an die IVRS in Moskau berichten: Die Reorganisation des SDS sei abgeschlossen, nun sollten mit »größtmöglicher Eile Hein[rich] Ma[nn] und Feucht[wanger]« in den Vorstand einbezogen werden.113 Am 28. Januar 1935 fand die Hauptversammlung des SDS statt, die erste offizielle Generalversammlung des SDS in Paris.114 Das Pariser Tageblatt berichtete über die »Arbeit des SDS«: Die Stellung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller kam auf der Hauptmitgliederversammlung durch nichts so treffend zum Ausdruck als durch die Begrüßungsschreiben von Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, die beide die Notwendigkeit dieser Organisation als Sammelbecken des geistigen Kampfes gegen den Hitlerismus betonten. Einstimmig wurden Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger zu [Ehren-]Vorsitzenden des Schutzverbandes gewählt, dessen Vorstand sich im übrigen wie folgt zusammensetzt: Rudolf Leonhard, Ludwig Marcuse, Ernst Leonard, Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Alfred Kantorowicz.115 In dieser Vorstandsbesetzung spiegelt sich mit Kisch und Becher bereits der Zugriff der Partei, wobei Becher sich nur kurz in Frankreich aufhielt, als er im Frühjahr 1935 den ersten »Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« organisierte; Kisch dagegen hatte die Funktion eines stellvertretenden Vorsitzenden bis zur Auflösung des Verbandes 1939 inne. Politisch unabhängige Autoren wie David Luschnat wurden »ausgemustert«; da Luschnat in Paris keinerlei Unterstützung genoss, ging er 1934 in die Schweiz. In den Vorstandsbesetzungen der folgenden Jahre tauchten neben den bereits genannten noch weitere Parteigänger der KP auf, nebenbei wurde die »Fassadenarbeit« vorangetrieben respektive die »repräsentative Ausgestaltung« des SDS und seines Vorstands. Dem diente nicht nur die Einbeziehung von Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, später auch des im dänischen Exil lebenden Bertolt Brecht als prominenten Aushängeschildern, sondern auch die Betrauung von anderen linksbürgerlichen oder allenfalls KP-Sympathisanten mit Funktionärsämtern; als Beispiele können dienen Emil Gumbel, Hans Siemsen oder der 1933 als einer der Bahnbrecher der »entarteten Kunst« verfemte Kunstkritiker Paul Westheim.116 Aus Anlass seines fünfjährigen Bestehens 1938 wurde im SDS schließlich ein erweitertes Präsidium eingerichtet, in das neben Heinrich Mann, Feuchtwanger, Brecht, Becher und Seghers jetzt auch Leonhard Frank, Oskar Maria Graf, Alfred Kerr, Ludwig Renn, Ernst Toller, Franz Werfel und Arnold Zweig mit einbezogen wurden, um so den SDS im Exil als die maßgebliche Stimme der Exilschriftstellerschaft herauszustellen.117 Damit war der Höhepunkt in der Geschichte des SDS im Exil erreicht oder im Grunde bereits überschritten, denn längst schon hatte sich
113 Becher, Johannes R.: [Brief aus Paris]. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur, Bd. 1, S. 825‒827; hier S. 825. 114 Beleg in Schiller u. a.: Exil in Frankreich, S. 541, Anm. 18. 115 Pariser Tageblatt vom 30. Januar 1935. 116 Im französischen Exil Herausgeber des Mitteilungsblattes Freie Kunst und Literatur. 117 Préfecture de Police, Meldung an das Bureau des Associations KE 33073 v. 28. November 1938, gezeichnet von Rudolf Leonhard und Alfred Kantorowicz.
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der Widerstand gegen diese von kommunistischer Seite betriebene Vereinnahmung des literarischen Exils formiert und zu Gegengründungen geführt.
Der Bund Freie Presse und Literatur Die von den taktischen KP-Manövern ausgelösten Spannungen hatten in der literarischen Emigration in Paris Polarisierungstendenzen zur Folge, die im Juli 1937 in die Errichtung des »Bundes Freie Presse und Literatur« mündeten.118 Dieser vom Herausgeber des Neuen Tage-Buchs Leopold Schwarzschild initiierten Vereinigung, einer deklarierten Gegengründung einerseits zum »Verband deutscher Journalisten in der Emigration«, andererseits zum »SDS im Exil«, schlossen sich die Publizisten und Schriftsteller an, die sich der Umarmungsstrategie der Parteikommunisten entziehen wollten. Zu den auslösenden Momenten gehörte – neben den Russlandbüchern André Gides und Lion Feuchtwangers, die von einigen Kreisen als Beschönigung von Stalins terroristischer Herrschaftspraxis empfunden wurden – die »Pariser Tageblatt-Affäre«,119 der Übernahme-Coup, der von dem Hitler-Biographen Konrad Heiden (neben Schwarzschild die zweite treibende Kraft der Bund-Gründung) im Neuen Tage-Buch zum »moralischen Prüfungsfall für die ganze Emigration« stilisiert worden war.120 Der Gründungsaufruf trug neben den beiden Genannten u. a. die Namen Alfred Döblin, Bruno Frank, Leonhard Frank, Iwan Heilbut, Hans A. Joachim, Hermann Kesten, Ernst Leonard, Klaus Mann, Valeriu Marcu, Walter Mehring, Ernst Erich Noth, Karl Otten, Heinz Pol, Joseph Roth, Hans Sahl und von Hilde Walter, die nachfolgend auch als Sekretärin des Bundes agierte.121 Von 33 »Gründungsmitgliedern« haben 24 an der Gründungsversammlung am 7. Juli 1937 teilgenommen; danach stieg die Zahl der Mitglieder auf 60, nach anderen Quellen auf fast 80 an.122 Leopold Schwarzschild nutzte damals jede Gelegenheit, öffentlich und auch in privaten Briefen in dem für ihn charakteristischen aggressivpolemischen Stil gegen die »Partei-Zutreiber unter Schriftsteller-Maske, die Parteikassen-Parasiten und die Postenjäger«123 und namentlich gegen die »Münzenberg-Clique« zu agitieren, die alles, »was für die deutsche Antihitler-Schriftstellerei organisiert auftritt, beschlagnahmt«124 habe. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Münzenberg zu diesem Zeitpunkt bereits im Begriff war, sich von der KP abzulösen. Die Gründung dieses »Ver-
118 Vgl. Schiller: »In bewusstem Gegensatz zu der kommunistisch-ullsteinschen Bande«; ferner: Schiller: Die »Volksfront-Sache« ‒ »moralisch zerstört«? – Die erste Gründungsnachricht stammt von Mitte Juni 1937: Aufruf. In: Das Neue Tagebuch, H. 25 vom 19. Juni 1937. Vgl. auch den Bestand im BA Potsdam 90 Schw 6 / 2 NL Leopold Schwarzschild (eingesehen am 30. Oktober 1991). 119 Siehe dazu das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils. 120 Konrad Heiden: Der Prüfungsfall der Emigration. In: Das Neue Tage-Buch, H. 12 vom 20. März 1937, S. 276. 121 Klaus Mann und Bruno Frank traten später, nicht zuletzt wohl auf Druck Heinrich Manns, stillschweigend wieder aus. 122 Schiller: »In bewusstem Gegensatz zu der kommunistisch-ullsteinschen Bande«, S. 215. 123 In einem Brief an Rudolf Olden vom 10. Juni 1937; hier zit. n. Schiller, S. 219. 124 In einem Brief an Joseph Roth vom 18. Juni 1937; hier zit. n. Schiller, S. 219.
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bands unabhängiger deutscher Schriftsteller und Journalisten« war nicht zuletzt gegen die Volksfrontbewegung gerichtet, aber auch dezidiert gegen die »kommunistisch-ullsteinsche Bande«, worunter Schwarzschild vor allem seinen publizistischen Hauptgegner Georg Bernhard und die mit ihm zusammenarbeitenden Redakteure attackierte. Der Bund machte es sich in seiner Satzung zur Aufgabe, »auch allen innerhalb der deutschen Emigration selbst auftretenden Bestrebungen zu widerstehen, die der Freiheit der Journalisten und Schriftsteller Abbruch tun«.125 Für die meisten Mitglieder – repräsentativ für sie ein Joseph Roth oder Hans Sahl – war der entscheidende Punkt aber die kompromisslose Gegnerschaft zum Stalinismus und dessen Hereinwirken in das deutschsprachige Exil. Gleichwohl gab es innerhalb des Bundes unterschiedliche Positionierungen: Alfred Döblin etwa verstand ihn als nicht-kommunistischen, aber nicht antikommunistischen Verband; Antikommunismus sei die Privatsache einzelner. Wie Döblin lehnten auch andere Mitglieder eine weitere Vertiefung der Spaltung des Exils ab und behielten nicht nur ihre Mitgliedschaft im SDS bei, sondern traten dort weiterhin in Veranstaltungen auf. Umgekehrt kam es aber erwartungsgemäß zu heftigen Angriffen von Seiten der Kommunisten auf die Neugründung, wobei sich besonders Bruno Frei hervortat, der die Mitglieder des Bundes als »gleichgeschaltete Söldner der GoebbelsPropaganda« beschimpfte.126 Der Bund Freie Presse und Literatur baute, parallel zu jenem des SDS im Exil, ein Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen und Autorenlesungen auf, die in der Regel von den Mitgliedern bestritten wurden.127 Hervorhebenswert erscheinen die Auftritte von Alfred Döblin mit einer Rede über »Die weltgeschichtliche Situation des heutigen Europa« im Oktober 1937 und einer Lesung aus November 1918 im Februar 1939; Hermann Kestens Überlegungen zur Frage »Gibt es eine Emigrationsliteratur?« im Januar 1938, mehrere Auftritte Konrad Heidens u. a. zu Themen wie »Warum werden die Juden verfolgt?« oder ein Bericht Walter Mehrings über »Die heutige Lage in Österreich«. Weitere Veranstaltungen mit politischen Vorträgen und literarischen Lesungen wurden bestritten von Willi Schlamm, Erich Wollenberg (»Ich lebte zehn Jahre in der Sowjetunion«), Karl O. Paetel bzw. H. W. Katz, Stefan Lackner oder Hans Mayer (»Georg Büchner und seine Zeit«). Der Bund hielt auch von Walter Mehring, Hermann Kesten und Leopold Schwarzschild gestaltete Totengedenken für Ödön von Horvath, Ernst Toller und Joseph Roth ab. Die Absicht, mittels einer Sozialen Kommission bedürftigen Mitgliedern Hilfe zu gewähren, konnte aufgrund akuter Geldknappheit nur sehr beschränkt eingelöst werden. »Die Alternative zum Schutzverband deutscher Schriftsteller, die seinen Gründern vorschwebte, ist der Bund Freie Presse und Literatur nicht geworden«, resümiert Dieter Schiller; der SDS sei immer noch breiter aufgestellt gewesen als es die Polemik der »Sezessionisten« wahrhaben wollte. Immerhin konnte Schwarzschild zu seiner Genugtuung beobachten, wie seine kommunistischen Widersacher im Zuge des stalinistischen Terrors, vor allem aber mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 den letzten Rest
125 Klaus Mann: Briefe und Antworten, Bd. 1, S. 398. Zum Bund vgl. dort S. 396‒398. 126 Zit. n. Schiller, »In bewusstem Gegensatz zu der kommunistisch-ullsteinschen Bande«, S. 223. 127 Vgl. zum Folgenden Schiller, S. 227‒229.
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an Reputation und Einflussmöglichkeiten in der schriftstellerischen Emigration verloren. Der Triumph währte allerdings nicht lange; mit Kriegsbeginn war in Frankreich allen organisatorischen Bestrebungen der Boden entzogen. Auch wenn noch im Oktober 1938 in Paris mit einiger Großartigkeit ein »Deutsches Kulturkartell« (mit einer eigenen Zeitschrift Freie Kunst und Literatur) ins Leben gerufen worden war, mit dem sogar ein Dachverband über verschiedenste literarische, publizistische und künstlerische Exilorganisationen geschaffen werden sollte, so war zu diesem Zeitpunkt die Gemeinschaft der Exilanten in Paris, die über einige Jahre hinweg – trotz oder vielleicht auch wegen der Ausnahmesituation der Vertreibung – der Utopie eines lebendigen freien Geisteslebens erstaunlich nahe gekommen war, bereits in Auflösung begriffen. Die Spaltung der Emigration war nunmehr manifest und setzte sich nach der zweiten Flucht aus dem mit Krieg überzogenen Kontinentaleuropa in Großbritannien und in Übersee weiter fort.
Schriftstellerische Zusammenschlüsse in Großbritannien und Schweden Nach 1939 blieb die Problematik der politischen Frontenbildung innerhalb des literarischen Exils virulent. So etwa waren ähnliche Polarisierungsprozesse wie in Frankreich auch in England zu beobachten, wo aus Opposition zum kommunistisch gesteuerten »Freien Deutschen Kulturbund« und dessen literarischer Sektion 1939 unter Führung Kurt Hillers eine »Gruppe unabhängiger Deutscher Autoren« entstand und vier Jahre später ein »Club 1943«, der sehr bald 200 Mitglieder umfasste.128 Die auf Initiative von Hans José Rehfisch entstandene, unpolitisch ausgerichtete Vereinigung entfaltete eine Tätigkeit von beachtlichem Umfang. Ein ähnliches Bild ergab sich in Schweden: Dort war nach verschiedenen Emigrantenselbsthilfe-Initiativen von Wolfgang Steinitz 1939 der Versuch unternommen worden, eine Ortsgruppe des »SDS im Exil« einzurichten, um ein politisch-literarisches Veranstaltungsforum zu schaffen.129 Die Besetzung Dänemarks und Norwegens führte zur Unterbrechung dieser Versuche; 1943 wurde aber der »Freie Deutsche Kulturbund in Schweden« ins Leben gerufen, der ab Januar 1944 mit einem Veranstaltungsprogramm hervortrat. Sehr bald kam es auch im Kulturbund zu internen Auseinandersetzungen; nach dem Rücktritt des Vorsitzenden Max Hodann, der sich einer parteipolitischen Vereinnahmung der Vereinigung zu widersetzen suchte, war ab Herbst 1944 der Weg frei für die Durchsetzung einer kommunistisch akzentuierten Kulturarbeit.
SDAS / GAWA: Ein Ableger des »Schutzverbandes« im US-amerikanischen Exil Im US-amerikanischen Exil manifestierte sich die politische Spaltungsproblematik in voller Brisanz. Bereits im Jubiläumsheft von Der deutsche Schriftsteller hatte der SDS im Exil die am 7. Oktober 1938 erfolgte Gründung eines Schutzverbandes Deutschamerikanischer Schriftsteller (SDAS) gemeldet, mit Oskar Maria Graf als Präsidenten,
128 Vgl. Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940‒1954. 129 Vgl. Peters: Exilland Schweden, S. 114 f.
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Ferdinand Bruckner als zweitem Vorsitzenden und Manfred Georg als Sekretär.130 Die Vereinigung, die sich auch German-American Writersʼ Association (GAWA) nannte, war in der Rekrutierung von Mitgliedern aufgrund des starken Zuzugs deutschsprachiger Schriftsteller in die USA bzw. nach New York recht erfolgreich; auch Thomas Mann, der dann als Ehrenpräsident figurierte, und Klaus Mann schlossen sich, neben anderen prominenten Vertretern der Exilliteratur, der Vereinigung an, die sich anschickte, in den USA jene Rolle einzunehmen, die in Paris der SDS im Exil gespielt hatte.131 Die GAWA bot auch nach Kräften Hilfestellung bei der Flucht von Schriftstellerkollegen aus dem bedrohten Europa, schwerpunktmäßig durch die Beschaffung von Affidavits, wobei ein gewisses Konkurrenzverhältnis zur American Guild for Cultural Freedom des konservativ eingestellten Prinz Hubertus zu Löwenstein entstand, das Anfang 1939 in Angriffen der GAWA auf die Guild und Prinz Löwenstein zum Ausdruck kam.132 Die GAWA machte sich außerdem durch ein Veranstaltungsprogramm verdient, u. a. mit Vorträgen, Manuskriptauktionen u. ä., um für die Hilfsaktionen Geld einzusammeln. Im Rahmen einer GAWA-Radiostunde konnte der Verband 1940 wöchentlich von einer New Yorker Rundfunkstation aus ein halbstündiges Programm senden. Letztlich brachen aber sehr bald wieder die aus Europa mitgebrachten ideologischen Spannungen auf, zunächst schon, weil die GAWA-Führung nicht bereit war, sich kritisch zum Hitler-Stalin-Pakt oder zu Stalin selbst zu äußern. Diese Problematik spitzte sich zu, als der Redakteur der New Yorker Neuen Volks-Zeitung Julius Epstein auf der Generalversammlung der GAWA eine Resolution einbrachte, in der die Verurteilung Hitlers und Stalins als qualitativ gleichwertige Diktatoren gefordert wurde.133 Der Antrag wurde vom Präsidium nicht zur Diskussion zugelassen, woraufhin Epstein aus der GAWA austrat. Gerhart Seger, seit 1936 Chefredakteur der sozialdemokratischen Neuen VolksZeitung, brachte am 14. Oktober 1939 in seinem Blatt einen Bericht, in welchem es hieß: »Die Generalversammlung des ›antifaschistischen‹ deutschen Schriftsteller-
130 Der deutsche Schriftsteller, Paris 1938, S. 23. Als weitere Vorstandsmitglieder wurden u. a. Curt Riess, Walter Schoenstedt, Paul Tillich, Gerhart Seger, Stefan Heym und Erika Mann genannt. 131 Einblick in die Arbeit der GAWA aus dem Blickpunkt ihres Vorsitzenden O. M. Graf gewährt dessen Korrespondenz: Oskar Maria Graf in seinen Briefen, S. 125‒155; vgl. ferner die Werk-Biographie von Gerhard Bauer: Gefangenschaft und Lebenslust. Oskar Maria Graf in seiner Zeit, S. 290‒293. Vgl. ferner Middell u. a.: Exil in den USA, S. 110‒113. Die Vorgänge in der GAWA werden dort allerdings nicht völlig zutreffend dargestellt. 132 Siehe hierzu den Brief von Klaus Mann vom 2. März 1939 an die GAWA, in welchem er sich gegen deren verdeckte Korruptionsvorwürfe gegenüber der AmGuild verwahrte und mit dem Austritt, auch dem seines Vaters und seiner Schwester, aus der GAWA drohte, »sollte das sinnlose und unwürdige Kesseltreiben von Ihrer Seite gegen die durchaus klaren und lobenswerten Aktivitäten des Prinzen Löwenstein nicht aufhören«. (Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 372 f.). 133 Vgl. hierzu Schneider: »Neue Volks-Zeitung«, S. 360. Epstein hatte Ende August eine Rundfrage unter deutschen Schriftstellern im US-Exil veranstaltet, ob sie den Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich billigten und wie sie ihren Standpunkt begründeten. Die von O. M. Graf gegebene ausweichende Antwort (in: Oskar Maria Graf in seinen Briefen, S. 139‒143) veröffentlichte er am 7. Oktober in der Neuen Volks-Zeitung unter der Überschrift »Keine Antwort ist auch eine!«.
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Schutzverbandes enthüllt ihn als das, was er immer war und was Eingeweihte immer wußten: Als Agentur des Stalinismus«.134 Dies löste wiederum Angriffe der kommunistischen Parteigänger auf Seger aus, der ebenfalls aus der GAWA austrat. Thomas Mann war nicht wohl in seiner Ehrenpräsidentschaft eines Verbandes, der von seinen Gegnern als »Agentur Stalins« attackiert wurde, und drohte in einem besorgten Brief an den Vorstand vom 22. November 1939 mit seinem Rücktritt, sollten diese stalinistischen Tendenzen offen zu Tage treten.135 Dass sich die nicht-kommunistischen Mitglieder weiterhin gegängelt fühlten, spiegelt sich in aufschlussreicher Weise in den Tagebüchern Klaus Manns. Am 9. Januar 1940 notiert er zu einer recht zähen und ergebnislosen Sitzung des »Schutzverbandes« bei Curt Riess [inzwischen Sekretär der GAWA]: Peinliches, heuchlerisches aneinander-vorbei-Reden. Bloch, Graf, Herzfelde ‒: the »comrades« [gemeint: Parteifreunde]. Bruno Frank, Bruckner, Gumpert, Tillich u. s. w. Debatte um den »Fall G. Seger«. Ich spreche endlich ein offenes Wort. Sage: »Es ist schwer, Volksfront zu spielen, wenn eine Volksfront nicht mehr existiert«.136 Damit hatte Klaus Mann das Problem auf den Punkt gebracht: Die Position der Kommunisten war, erst recht in den USA, bereits unhaltbar geworden; dennoch versuchten sie, ihre Politik der Vereinnahmung der Schriftsteller und Intellektuellen ungebrochen fortzusetzen. Im Mai 1940 bricht bei Klaus Mann im Gespräch mit Schwester Erika noch einmal das »Kommunisten-Problem« auf und die beiden beschließen ihren Austritt aus dem Schutzverband: »Unmöglichkeit irgendeiner Solidarität mit den Kommunisten […] Arbeit an unserer – kollektiv geplanten – Austrittserklärung«.137 Wie die beiden am 27. Mai 1940 ihrem Vater mitteilten, betrachteten sie diese Vorgangsweise noch als »die humanste – weil nicht denunziatorische; (ich meine: nicht-die-Kommunisten-direktans-Messer-liefernde)« und wollten dafür auch die Unterschriften noch anderer Mitglieder gewinnen: von »Raoul Auernheimer, Bruckner, Zuckmayer, Vicky[!] Baum, Bruno Frank, Wittfogel. (und natürlich, Riess, Gumpert, und wir)«.138 In ihrer relativ ausführlichen Austrittserklärung an den Vorstand der German-American Writersʼ Association vermieden sie, Klartext zu sprechen; vielmehr begründeten sie ihre Entscheidung damit, dass es die GAWA verabsäumt habe, »sich auf ein präzises, politisches und kulturpolitisches Programm festzulegen«: in »ihrer – statutenmäßig festgelegten – Selbstbeschränkung auf die ›unpolitische‹ Sphäre sehen wir ihr fatales Manko«. Zwar interessierten sich die einzelnen Mitglieder für Politik, zwischen ihnen bestehe aber keine »klare und komplette Übereinstimmung in den moralisch-politischen Voraussetzungen und Zielen«.139 So rücksichtsvoll sie gegenüber O. M. Graf und Genossen formuliert war, so
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Zit. n. Schneider: »Neue Volks-Zeitung«, S. 360. Vgl. hierzu Radkau: Die deutsche Emigration in den USA, S. 172 f. Klaus Mann: Tagebücher 1940‒1943, S. 10 f. Klaus Mann, S. 37 f. Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 417. An den Vorstand der »German-American Writers Association« [Mai 1940]. In: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 418.
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folgenreich war die Erklärung: Am 13. Juni fand eine Sitzung des erweiterten Vorstands statt, an der Klaus Mann noch einmal teilnahm und zu der er in seinem Tagebuch am nächsten Tag lapidar vermerkte: »Viel geredet. Viel Unsinn. Auflösung beschlossen«.140 Den entscheidenden Schritt dazu hatte Oskar Maria Graf selbst gesetzt, indem er zwar einen Brandbrief »an den engeren Vorstand der GAWA« vom 10. Juni 1940, eine harsche Abrechnung mit Thomas Mann, im Weiteren aber mit der »Gruppe Mann« (v. a. also Klaus und Erika Mann) nicht abschickte,141 durch seine Nichtteilnahme an der entscheidenden Sitzung aber den Weg frei machte für den Auflösungsbeschluss. Nach weniger als zwei Jahren fand so dieser Versuch, auf US-amerikanischem Boden die Erfolgsgeschichte des SDS im Exil zu wiederholen, ein jähes und wenig rühmliches Ende.142
Schriftstellervereinigungen in Mexico City Im überseeischen Exil kam es auch in Mexiko zu einer bemerkenswerten literarischen Gruppen- und Zentrenbildung.143 Zahlreiche Exilanten, die aus politischen Gründen keine Chance auf Einreise in die USA hatten, waren nach ihrer Flucht aus Europa nach Mexiko immigriert, damals das Land mit den liberalsten Einreise- und Aufenthaltsbedingungen; auch Kommunisten und Linkssozialisten sowie den freiwilligen Kämpfern in den Internationalen Brigaden des spanischen Bürgerkriegs wurde vorbehaltslos Asyl geboten. Es bildete sich dort eine aktive Schriftstellerkolonie, die sich zunächst (Anfang 1938) in der »Liga Pro Cultura Alemana« sammelte; doch brachen auch in der Liga bereits nach wenigen Monaten, im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes, Konflikte auf. In diesem Falle sahen sich die kommunistischen Schriftsteller gezwungen, eine eigene organisatorische Plattform zu schaffen. Der 1941 gegründete »Heinrich-Heine-Club« realisierte einige Jahre ein Programm, das jenem des »SDS im Exil« in Paris ähnelte, zum Teil auch von ehemaligen SDS-Funktionären getragen wurde; Anna Seghers war Präsidentin, Egon Erwin Kisch einer der Vizepräsidenten. Bis zu seiner Auflösung Anfang 1946 wurden im Rahmen des »Heinrich-Heine-Clubs« 68 Veranstaltungen – Autorenabende, Vorträge über Literatur, wissenschaftliche und politische Themen, Musikabende, Filmvorführungen – abgehalten.144 Parallel zu diesen Aktivitäten wurde von der kommu-
140 Klaus Mann: Tagebücher 1940‒1943, S. 43. Siehe zu dem Vorgang auch die Briefe Klaus Manns an Bruno Frank vom 30. Mai und 5. Juni 1940, in: Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 419‒421. 141 Das aufschlussreiche Dokument ist abgedruckt in: Oskar Maria Graf in seinen Briefen, S. 146‒152. 142 Der O. M. Graf-Biograph Gerhard Bauer vermerkt hierzu: »Einen Monat später kommentierte Graf bitter, von den 180 Mitgliedern hätten sich fünf gerührt und über die Auflösung aufgeregt. Mit solchen ›Kämpfern‹ habe er nichts mehr zu tun«. (Bauer: Gefangenschaft und Lebenslust, S. 293). 143 Vgl. hierzu Kießling: Alemania Libre in Mexiko; Kießling: Exil in Lateinamerika; sowie Pohle: Das mexikanische Exil. Siehe auch im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage den Abschnitt zu El Libro Libre. 144 Eine eindrucksvolle »Chronik der Veranstaltungen« des Heinrich Heine-Clubs enthält Kießling: Alemania Libre in Mexiko, Bd. 2: Texte und Dokumente, S. 185‒196.
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nistischen Emigrantengruppe die Zeitschrift Freies Deutschland herausgebracht, mit der die Kulturarbeit dieser Gruppe auch in eine größere Exil-Öffentlichkeit hinein wirkte.145 Eine Bilanz der Arbeit schriftstellerischer und literarisch-kultureller Organisationen im Exil 1933 bis 1945 fällt zwiespältig aus. Auf vielen Feldern haben diese Zusammenschlüsse beachtliche Erfolge erzielt: Neben praktischer, oft überlebenswichtiger Hilfe scheinen vor allem jene Leistungen hervorhebenswert, die sie für eine soziale Integration der versprengten Exilanten, für die Entstehung literarischer Kommunikationsstrukturen und für die Wahrnehmung von politischen Repräsentanzaufgaben gegenüber der Weltöffentlichkeit erbracht haben. Diesen Erfolgen steht das Bild einer in sich gespaltenen, in tiefgreifende interne Auseinandersetzungen verwickelten Schicksalsgemeinschaft gegenüber, die ihre Kräfte in weltanschaulichen Positionskämpfen verschliss. Das literarische Exil, in welchem sich anfänglich die soziale Utopie einer von äußerer Bedrohung zusammengeschweißten Gemeinschaft zu verwirklichen schien, scheiterte nach wenigen Jahren an der Unmöglichkeit, die ideologischen Gegensätze zugunsten eines produktiven Zusammenwirkens zu überwinden. Erst in diesem Scheitern bildete sich das Trauma des Exils in seiner vollen Stärke aus.
Arbeitsprobleme und soziale Lage der Schriftsteller im Exil Der Versuch, die ökonomischen Grundlagen literarischer Prozesse zu erhellen, gilt manchem als bedenkliche Profanierung eines Gutes, das seinen Wert gerade aus dem Gegensatz zur Welt des bloß Materiellen zu gewinnen scheint. Bedenken dieser Art könnten gerade dort entstehen, wo es um das literarische Exil der Jahre 1933 bis 1945 geht. Denn war nicht das Exil für die deutschen Schriftsteller zunächst und allererst eine moralische Herausforderung, eine Stunde der Bewährung, ein heroisches Zeitalter? Die Exilforschung hat vor allem in ihrer frühen Phase dieses aus der Selbstdarstellung der Emigranten stammende Pathos aufgenommen und daher Fragen nach der sozioökonomischen Lage der vertriebenen Autorenschaft kaum gestellt. Dabei brachten die Jahre der Verbannung keineswegs ein Moratorium jener materiellen Zwänge mit sich, denen Produktion und Distribution von Literatur in aller Regel unterliegen, im Gegenteil. Zutreffender könnte vielmehr gesagt werden, dass es unter den Bedingungen des Exils für fast alle Autoren zu einer dramatischen Verschärfung dieser Zwänge und damit zu einer ernsten inneren Konfliktlage gekommen ist: denn zur gleichen Zeit, da ihre Lebenssituation am wenigsten gesichert war, mussten sie versuchen, ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden, ‒ ob sie diese nun als »antifaschistischen Kampf«, Repräsentation des »anderen Deutschland« oder »Bewahrung des kulturellen Erbes« begriffen. Dieser Antagonismus zwischen materiellem Druck und ideeller Verpflichtung bestimmte, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität, die Schreibsituation der Autoren; er prägte sich der literarischen Arbeit jener Jahre ein und wurde letztlich mit jedem einzelnen Werk neu ausgetragen. Ein aufschlussreiches Dokument für diese Problematik stellt der Vortrag dar, den Lion Feuchtwanger zu den »Arbeitsproblemen des Schriftstellers im Exil« im Oktober
145 Siehe dazu das Kap. 5.3 Zeitungen und Zeitschriften.
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1943 in Los Angeles gehalten hat, auf dem Writersʼ Congress, der zur Mobilisierung der Literatur und Medienindustrie im Krieg (»war effort«) beitragen sollte.146 Feuchtwanger, in den USA damals der bekannteste deutsche Autor,147 verstand sich als Repräsentant des Exilschriftstellertums, wenn er sich als »Diagnostiker von Schwierigkeiten« betätigte, wie sie aus ihrer Heimat vertriebenen Autoren gemeinsam sind, unabhängig von Herkunft und Sprache, unabhängig auch vom Asylland.148 Sein persönliches Schicksal war allerdings nicht unbedingt repräsentativ, gehörte er doch zu den bestsituierten Schriftstellern – wenngleich auch er nicht von exiltypischen Problemen wie Internierung oder Visabeschaffung verschont geblieben ist. Den Vortrag gliederte Feuchtwanger in fünf Abschnitte: Nach einem Prolog wurden zunächst die »äußeren Schwierigkeiten«, dann die »inneren Schwierigkeiten« und schließlich, vor dem Epilog, Aspekte der Akkulturation angesprochen. Im gegenständlichen Zusammenhang interessieren vor allem die »äußeren Schwierigkeiten«, denn Feuchtwanger verstand darunter vor allem die ökonomischen Folgen der Exilierung, den Verlust des bisherigen Leserkreises, den Verlust des literarischen Marktes, mit allen negativen Konsequenzen für die materielle Existenz der Autoren. Für den exilierten Autor sah er die Notwendigkeit, sich auf den Märkten der Asylländer zu behaupten, allen Problemen zum Trotz, wie sie allein schon bei der Stoffwahl auftreten könnten, wenn diese die Lektüregewohnheiten des neuen Publikums verfehlt. Klar beschrieb er die Zwangslage: Den gutgemeinten Anregungen mancher Verleger, Konzessionen an den Geschmack des ausländischen Publikums zu machen, können und wollen viele exilierte Schriftsteller nicht nachkommen. Es ist erstaunlich, wie viele Autoren, deren Leistungen die ganze Welt anerkannt hat, jetzt im Exil trotz ernsthaftester Bemühungen völlig hilf- und mittellos dastehen.149 Der Erfolgsschriftsteller Feuchtwanger, der auch unter den spezifischen Bedingungen des Exils alle Register seiner Marktgeschicklichkeit zu ziehen wusste, teilte mit seinen Kollegen allenfalls den »aufreibenden Kampf gegen Nichtigkeiten, die nicht aufhören«, nicht aber deren gravierende Sorgen im Kampf um den nackten Lebensunterhalt. Intensiver erlebte er dagegen die »inneren Schwierigkeiten« die sich nach seinen Erfahrungen für den Schriftsteller und Dichter hauptsächlich aus dem Abgeschnittensein von der lebendigen Praxis der Muttersprache ergaben. Nicht nur war die solcherart
146 Die englischsprachige Fassung wurde unter dem Titel The Working Problems of the Writer in Exile in den Kongressakten abgedruckt; die deutsche Originalfassung erschien zuerst in Das Freie Deutschland 3 (1943), H. 4, S. 27 f.; nach dem Krieg in Sinn und Form 6 (1954), H. 3, S. 348–353, und dann in veränderter Form und unter verändertem Titel noch mehrfach. Vgl. dazu Roussel: Zu Feuchtwangers Vortrag von 1943 Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil. – Neben Feuchtwanger und einigen amerikanischen Autoren traten auf dem Writers’ Congress auch Thomas Mann und Hanns Eisler auf. 147 Er war das bereits seit dem außergewöhnlich großen Erfolg der amerikanischen Übersetzung von Jud Süss u. d. T. Power (New York: Viking 1926). 148 Roussel: Zu Feuchtwangers Vortrag von 1943, S. 278. 149 Zitiert n. Roussel, S. 284.
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isolierte dichterische Sprache von Erstarrung bedroht, sie war auch den Einflüssen der fremden Sprache im Ausland ausgesetzt, mit dem Risiko, dass sich »der fremde Tonfall an die oberste Stelle drängt«.150 In der Entscheidung, dann gleich in der fremden Sprache zu schreiben, sah Feuchtwanger keinen gangbaren Ausweg. Zwar hätten dies einige Kollegen versucht (in der Tat trifft das z. B. auf Robert Neumann, Arthur Koestler, Gina Kaus und Vicki Baum, auch auf Ernst Erich Noth zu), aber es sei letztlich nicht möglich, in einer fremden Sprache auf gleichem Niveau zu gestalten wie in der Muttersprache; die Qualitätseinbußen seien allzu groß. Im Grunde gelte das gleiche für Übersetzungen; auch sie machten durch Vereinfachung alles Bemühen des Originalautors um dichterische Raffinesse zunichte.151 Zu den – durchaus ambivalenten – Aspekten der Akkulturation, den Folgen der Austausch- und Integrationsprozesse mit dem Asylland bemerkte Feuchtwanger, es sei unmöglich, als Autor von seiner Umgebung unbeeinflusst zu bleiben; gleichwohl trat er für ein bewusstes Zulassen solcher Akkulturationsprozesse ein, für eine aktive Auseinandersetzung mit der neuen Umwelt, da sonst ein »Sicheinschließen in die tote Vergangenheit«, und im Weiteren Isolation, Misserfolge und Verbitterung drohten.152 Feuchtwanger beschränkte sich in seinem Vortrag jedoch nicht bloß auf eine Darlegung der negativen Folgen des Exils, sondern er war in gleicher Weise bemüht, positive Auswirkungen herauszustellen. Dazu gehörten für ihn die Fülle neuer Stoffe und Ideen, die auf den exilierten Autor einströmten, auch die Fülle an Begegnungen, die das Leben in der Fremde mit sich brachte; jede solche Erweiterung des Erfahrungshorizonts könne durchaus eine künstlerische Bereicherung darstellen. Selbst der Sprachproblematik gewann er abschließend noch positive Seiten ab, denn die Begegnung mit der fremden Sprache könne dazu führen, die Muttersprache noch feiner und reflektierter handzuhaben. Im Epilog kennzeichnet er schließlich das Exil als eine »harte Schule«, als einen Lernprozess, der den Schriftsteller, der sich auf ihn einlasse, in seiner Entwicklung entschieden fördern könne. In diesem Falle führe er zu »mehr Weite und Elastizität«, zu einem freieren Blick »für das Große, Wesentliche«, zu Reifung und Erneuerung, unter Umständen auch zu Weisheit und größerer Gerechtigkeit gegenüber der Welt.153 Feuchtwangers Vortrag über Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil gewinnen besondere Bedeutung vor dem Hintergrund seiner eigenen schriftstellerischen Praxis in jenen Jahren, die geprägt war von einer maximalen Nutzung aller damals zu Gebote stehenden Möglichkeiten. So korrespondierte er mit seinen Verlegern angelegentlich über alle Fragen, die sich aus der besonderen Situation des Exils ergaben, wie z. B. mit seinem amerikanischen Verleger Ben Huebsch, dessen New Yorker Viking Verlag er von 1926 bis zu seinem Tod 1958 die Treue hielt; von ihm wollte er erfahren, wie das
150 Zit. nach Roussel, S. 286. 151 Wie Roussel mit Recht anmerkt, muss es als erstaunlich gelten, dass diese Grundsatzkritik von einem der meistübersetzten Autoren seiner Zeit geübt wird. – Zu Beispielen von Sprachwechsel und zum Problem des Qualitätsverlustes durch Übersetzung siehe das Kap. 5.5 Übersetzungswesen. 152 Roussel, S. 288 f. 153 Roussel, S. 295.
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amerikanische Publikum angesprochen werden könne.154 Er bediente sich virtuos der Dienste von Literaturagenten, und betätigte sich nicht nur in diesem Punkt immer wieder als Ratgeber gegenüber Autorenkollegen, die von diesem Grad an Professionalität z. T. weit entfernt waren.155 Gemeinsam mit Stefan Zweig stand er in der Liste der meistübersetzten Autoren des deutschsprachigen Exils ganz weit oben, und lukrierte daraus einen Großteil seines Einkommens, was angesichts des fortgesetzt schrumpfenden Marktes für Originalausgaben immer größere Bedeutung gewann. Er selbst führte vor, wie man die von ihm apostrophierte Fülle neuen Stoffs oder das Thema Exil selbst literarisch umsetzen konnte; in seinem Roman Exil (1939; US-Ausgabe u. d. T. Paris Gazette 1940) reflektierte er erzählerisch nicht allein Aspekte des Lebens im Exil, sondern verarbeitete ganz konkret auch den Skandal um die Pariser Tageszeitung.
Sprach- und Identitätsprobleme Feuchtwangers Aufriss der spezifischen Probleme der Schriftsteller im Exil wurde von seinen Schicksalsgenossinnen und -genossen in späteren Jahren und Jahrzehnten noch vielfach bestätigt und beglaubigt. Hilde Spiel etwa sprach, noch im Abstand von drei Jahrzehnten, vom Exil als einer offenen Wunde. Ihr 1975 gehaltener Vortrag mit dem Titel Psychologie des Exils156 setzt ein mit den starken Worten: Das Exil ist eine Krankheit. Eine Gemütskrankheit, eine Geisteskrankheit, ja zuweilen eine körperliche Krankheit. Sie ist vererbbar ‒ wir haben Beispiele dafür. Oft tritt sie erst in der zweiten oder dritten Generation zutage, und nicht die Sünden, sondern die Leiden der Väter wirken sich in ihren Kindern und Kindeskindern aus. Die Krankheitsmetapher, deren Hilde Spiel sich hier bedient, ist nur eine Möglichkeit, die verheerenden psychischen Auswirkungen des Exils zu verdeutlichen. Ähnlich stellte Theodor Adorno in seinen 1951 zuerst erschienenen Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben fest: Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muss.157 Und Carl Zuckmayer wird von Hilde Spiel mit der Bemerkung zitiert: Die Fahrt ins Exil ist »the way of no return«, die Reise ohne Wiederkehr. Wer sie antritt und von der Heimat träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren, aber der Ort,
154 Vgl. Jeffrey B. Berlin: Further remarks about Lion Feuchtwanger’s Interaction with Ben Huebsch. 155 Vgl. etwa den Briefwechsel Feuchtwangers mit Arnold Zweig. 156 Spiel: Psychologie des Exils. 157 Adorno: Minima moralia, S. 32.
156
3 Au t o re n den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er selbst ist nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er kehrt niemals heim.158
Wie unterschiedlich auch die einzelnen Biographien verliefen, immer waren – so H. Spiel – »die gleichen quälenden Erfahrungen zu machen: Heimweh, das Gefühl des Ausgestoßenseins, des Unverstandenseins, der unüberbrückbaren Barrieren von Sprache, Tradition, Erziehung, Gewohnheit, familiären Bezügen, die den Emigranten von jenen trennen, unter denen er Asyl gefunden hat.« Die Vertriebenen wurden in eine Lebenssituation gestoßen, die gekennzeichnet war von einem nicht revidierbaren Bruch in der Biographie. Die bei aller Individualität der Schicksale in entscheidenden Punkten übereinstimmenden Aussagen der hier als Zeitzeugen aufgerufenen Autoren lassen sich somit in drei Problembereiche bündeln, die als konstitutiv gelten können für die spezifische Exilerfahrung von Schriftstellern: in der Identitätsproblematik, der Sprachproblematik und der Anpassungsproblematik. Betrachtet man diese Bereiche im Einzelnen, so zeigt sich bei der Identitätsproblematik das folgende Bild: Die Exilanten sahen sich nach erfolgreicher Flucht einer meistenteils feindlichen Welt gegenüber: Faktisch kein einziges Land zeigte sich wirklich aufnahmebereit, im Gegenteil waren die meisten sehr erfinderisch im Aufbau abschreckender Barrieren, im Erlass schikanöser und demütigender Vorschriften. Verschärft wurde die Situation u. a. durch die Ausbürgerungspraxis des Dritten Reiches, mit der die Emigranten zu Staatenlosen wurden. Mit der Jagd auf Papiere begannen schon die Leiden: die den Alltag beherrschende Sorge, eine Aufenthalts-, gar eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, einen Pass oder einen gleichwertigen Ausweis. Was der österreichische Schriftsteller Ernst Lothar von seinem Pariser Exil berichtet, kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten: Einmal wöchentlich hatten wir uns auf der Préfecture, der Fremdenpolizei auf der Île de la Cité, vorzustellen, ein barbarischer Vorgang, der vom Schlange stehen frühmorgens, von Amtszimmer-zu-Amtszimmer-Gedrängt-, mit Hunderten in ähnlicher Situation Befindlichen Geschoben-, Vernommen-, Angebrüllt-, zur Abnahme von Fingerabdrücken wie krimineller Handlungen Verdächtiger Bestimmt-, zum Photographieren, Weggeschickt- und endlich, nach gänzlicher Erschöpfung, WiederVernommen-Werden, acht bis neun Stunden beanspruchte, mit dem jämmerlichen Ergebnis, eine »convocation« zu erhalten, die nur zu neuer Pein, doch keineswegs zur wildbegehrten Carte dʼIdentité führte, womit der Aufenthalt erst gesichert gewesen wäre. Deshalb teilte Alfred Polgar, den wir regelmäßig trafen, die Emigranten in »Monsieur Convocation« und »Monsieur dʼIdentité« ein, zu den ersteren, meinte er, könne man es bei Lebzeiten vielleicht bringen, zu den letzteren nur nach Hitlers Tod.159 »Vielleicht klingt das alles zu gelassen«, fügt Ernst Lothar noch hinzu, »vielleicht ist das graue heulende Elend nicht darin, das darin war und jedes Rosa schwärzte. Mir liegt aber nicht daran, mit Qualen zu paradieren, die gemessen an den in Dachau und Belsen,
158 Spiel: Psychologie des Exils, S. XXII. 159 Lothar: Das Wunder des Überlebens, S. 122.
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Mauthausen und Gurs gelittenen immer noch Wonnen blieben«. Tatsächlich kam nach Kriegsbeginn mit Internierung und drohender Deportation für viele noch die Angst um Leib und Leben dazu, mindestens aber – in der Phase der Flucht nach Übersee – das bange Warten auf Transit- und Einreisevisa, Affidavits, d. h. die geforderten Bürgschaften mit dem Nachweis einer ausreichenden finanziellen Absicherung, die vielleicht letzten Schiffskarten u. a. m. Dass die nach 1933 aus ihrem bürgerlichen Leben, ihrem sozialen Netz, ihrem sozialen Status abrupt herausgerissenen Emigranten durch all dies in Identitätsprobleme hineinmanövriert wurden, lässt sich nachvollziehen. Das Versinken in der Anonymität, das Ausgeliefertsein an das Wohlwollen undurchschaubarer Gewalten in Gestalt von Behörden und Ämtern, die fortdauernde Unsicherheit: das machte vielen zu schaffen, selbst den vergleichsweise Privilegierten. Stefan Zweig sagt darüber in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern: Und ich zögere nicht zu bekennen, dass seit dem Tag, da ich mit eigentlich fremden Papieren oder Pässen leben musste, ich mich nie mehr ganz als mit mir zusammengehörig empfand. Etwas von der natürlichen Identität mit meinem ursprünglichen und eigentlichen Ich blieb für immer zerstört.160 Das schrieb Zweig kurz vor seinem Freitod 1941. Dabei war die Schwierigkeit, sich mittels der geforderten Papiere eine Identität zu verschaffen, längst nicht die einzige. Viele Emigranten waren dazu verurteilt, ihren Beruf zu wechseln, eine Tätigkeit auszuüben, die nicht ihren Fähigkeiten entsprach, Hilfsdienste zu leisten, vielfach beschäftigungslos zu bleiben. Das führte zum Verlust des Selbstwertgefühls, zu weiterer Destabilisierung. Hinsichtlich der Sprachproblematik liegt es auf der Hand, dass der Wechsel ins fremdsprachige Ausland für Schriftsteller besondere Härten mit sich bringen musste: den Verlust ihrer angestammten Sprachwelt, ihres sprachlichen Resonanzraumes. Dementsprechend häufig wurde dieses Thema von den Exilierten reflektiert; als ein Beispiel kann an dieser Stelle Alfred Döblins Aufsatz »Als ich wiederkam« dienen: Wir, die sich mit Haut und Haaren der Sprache verschrieben hatten, was war nun mit uns? Mit denen, die ihre Sprache nicht loslassen wollten und konnten, weil sie wußten, daß Sprache nicht nur »Sprache« war, sondern Denken, Fühlen und vieles andere? Sich davon ablösen? Aber das heißt mehr, als sich die Haut abziehen, das heißt sich ausweiden, Selbstmord begehen. So bleibt man, wie man war – und war, obwohl man vegetierte, aß, trank, lachte, ein lebender Leichnam.161 Was Döblin hier in so drastischen Worten ausspricht, ist die Einsicht, dass für ihn wie für die allermeisten der Wechsel der Schreibsprache keine ernsthafte Alternative darstellte, dass aber andererseits mit dem in der fremdsprachigen Umgebung der Exilländer unvermeidlichen Verlust der sprachlichen Austauschbeziehungen Stillstand und ein Austrocknen der kreativen Fähigkeiten eintreten musste. Damit einher gingen im Exil oft-
160 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, S. 428. Vgl. dort den gesamten Abschnitt zu diesem Thema S. 424‒429. 161 Alfred Döblin: Als ich wiederkam. In: Vaterland, Muttersprache, S. 26 f.
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mals Tendenzen zu Stilkonservativismus oder sogar zu ästhetischer Regression; literarischer Avantgardismus war absolut nicht typisch für das Exil, denn sprachliche Isolation begünstigte das Haltsuchen im Bewährten. Die Verkümmerung der Muttersprache unter den Bedingungen des Exils hat Günther Anders treffend in den Begriff des »Stammeldaseins« gefasst; eine andere, bitter getönte Formulierung spricht vom »Emigranto« der Flüchtlinge. In der Exilforschung werden die Themen Sprachverlust und Sprachwechsel bis heute angelegentlich diskutiert.162 Die Sprachproblematik ist eng verknüpft mit der Anpassungsproblematik. Das Anklammern an die Muttersprache verhinderte häufig und fatalerweise die Offenheit gegenüber der Kultur des Gastlandes. Was als positive Aufgabe begriffen worden ist, die Bewahrung der Sprache des »anderen« Deutschland, das erwies sich nur zu oft als ernstes Hindernis für eine Annäherung an die neue Umgebung. Natürlich gibt es Beispiele für geglückte Anpassung unter Schriftstellern, meist kam es aber anders: Sprachisolation blockierte Assimilation und Akkulturation, sie führte zu Abkapselung von der Umwelt. Dabei spielten auch noch andere Faktoren eine Rolle, wie die Neigung der Emigranten, in ihrer Verbannung nur ein Intermezzo zu sehen. Vor allem in den ersten Jahren war alles angelegt auf eine Überbrückung der Zeit bis zu dem Tag, an dem der Nationalsozialismus abgewirtschaftet haben und Hitler gestürzt sein würde. Die relative Festigung des Systems hat dieser Hoffnung einen Schlag versetzt, doch die Exilierten konnten sich nicht so rasch und ohne weiteres befreien aus dem geistigen Warteraum, in den sie sich hineinbegeben hatten. Ein Effekt der daraus entstehenden »inneren Exterritorialität« der Exilanten (der Begriff stammt von Ludwig Marcuse) war die Abkoppelung vom konkreten Gegenwartsgeschehen, war also »Gegenwartsverlust« (so Manès Sperber). Das Verweilen in einem als transitorisch aufgefassten Zustand des »Inzwischen« oder »Einstweilen« hatte zur Konsequenz, dass das Exildasein als »ungültiges Leben« aufgefasst wurde, wie Günther Anders es ausdrückte. Davon waren nur die ausgenommen, die erst im Exil ihre Rolle gefunden haben oder diejenigen, für die das Exil zu einem produktiven Lernprozess geworden ist. Wenn viele Schriftsteller im Exil mit diesen ernsthaften Gefährdungen noch irgendwie zurechtgekommen sind, so hatten daran nicht selten ihre Verleger einigen Anteil. Indem sie Publikationsmöglichkeiten schufen und damit auch eine Fortsetzung der schriftstellerischen Arbeit in der Muttersprache ermöglichten, trugen sie zur Bewältigung und Entschärfung dieser Probleme bei. Die Verleger selbst waren von den beschriebenen Problemen nicht in gleichem Maße tangiert. Bei ihnen verlief die Anpassung an die Verhältnisse der Gastländer in den allermeisten Fällen unproblematischer; manche agierten sogar in einem internationalen Raum, und zwar mit solchem Erfolg, dass sie unter Isolationsgefühlen nicht zu leiden hatten. Freilich schieben sich die Beispiele geglückter Integration stärker in den Vordergrund der Wahrnehmung und drängen die Fälle des Scheiterns in den Hintergrund. Doch scheinen die vielfach mit bestem beruflichen Knowhow ausgestatteten Verleger-, Buchhändler- und Antiquarsemigranten weitaus bessere Chancen gehabt zu haben, tiefgreifenden mentalen Beschädigungen zu entgehen.
162 Vgl. Dove: »Das grosse Elend der Fremde«; Dove: Almost an English Author: Robert Neumann’s English-Language Novels; Brunnhuber: The Faces of Janus; Strickhausen: Schreiben in der Sprache des Anderen.
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Umso eher konnten sie in nicht wenigen Fällen zur moralischen Stütze ihrer vergleichsweise schwerer geprüften Autoren werden.
Autor-Verleger-Beziehungen im Zeichen des Exils Mit der Flucht aus Deutschland endeten in den allermeisten Fällen die zum Teil über Jahrzehnte gewachsenen Bindungen von Autoren an ihre Verlage; neue Beziehungen mussten gefunden und aufgebaut werden. Selbst dort, wo sich Schriftsteller und Verleger in der Vertreibung wieder fanden, konnte die Zusammenarbeit nur selten bruchlos weiter geführt werden. Die spezifischen Wirkungen des Exils drücken sich markant auch im Wandel des Verhältnisses zwischen Autoren und Verlegern aus, negativ und positiv, in psychologischer wie in ökonomischer Hinsicht.163 Schwierig war zunächst schon die Beurteilung der Lage: Würde das NS-Regime ein Intermezzo bleiben und würde es bald wieder möglich sein, in Deutschland zu publizieren? Für diesen letzteren Fall musste eine vorschnelle Trennung von Verlagen in Deutschland unklug erscheinen. Auch war die Verbotspraxis des Regimes in den ersten Monaten und Jahren eine unübersichtliche, und oft nur auf einzelne Titel, nicht auf das Gesamtwerk eines Autors bezogen. Die vage Chance, vielleicht doch auf dem deutschen Buchmarkt präsent bleiben zu können, ließ manchen Autor eine abwartende Haltung einnehmen, ging es doch außerdem um die – wenn auch häufig überschätzte – Chance einer geistigen Einwirkungsmöglichkeit auf das Publikum. Mit fortlaufender Festigung des NS-Systems wurde der Zwang zur Neuorientierung jedoch unabweislich. Zur Vorgeschichte der Autor-Verleger-Beziehungen im Exil gehört, dass schriftstellerische Tätigkeit in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Prozess der Professionalisierung durchlaufen hat, ein Verdienst nicht zuletzt von Interessensvertretungen wie dem Schutzverband deutscher Schriftsteller.164 Die Berufsschriftsteller wollten die Abhängigkeit von Verlagen nicht ohne weiteres hinnehmen und organisierten sich nach gewerkschaftlichen Mustern zur Durchsetzung von besseren Vertragsbedingungen, eventuell sogar Mindesttarifen. Einiges davon konnte verwirklicht werden; der eigentlich wichtige Effekt war aber eine Veränderung im Selbstverständnis der Autorenschaft. Dieser Wandel wirkte nach: In Briefwechseln von Exilautoren mit Exilverlegern finden sich immer wieder Spuren dieses gestiegenen Selbstbewusstseins. Am Beispiel von Stefan Zweig lassen sich dieses neue Selbstbewusstsein und zugleich die faktischen Schwierigkeiten einer Lösung aus alten Verlagsbindungen nachvollziehen. Zweig, in den 1930er Jahren der meistübersetzte deutschsprachige Schriftsteller, war seit 1906, seit den Anfängen seiner literarischen Karriere, Autor des Insel-Verlags; er war mit dessen Inhaber Anton Kippenberg befreundet und er hatte darüber hinaus als
163 Zu Grundproblemen der Autor-Verleger-Beziehung vgl. Fischer: »…diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann«. Dort wird in besonderer Weise Bezug genommen auf die Korrespondenz Carl Zuckmayers mit Gottfried Bermann Fischer (Zuckmayer / Bermann Fischer: Briefwechsel 1935‒1977). 164 Dieser Professionalisierungsprozess wird nachgezeichnet in Fischer: Der Schutzverband deutscher Schriftsteller 1909‒1933.
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literarischer Berater dazu beigetragen, das Profil des Insel Verlags zu entwickeln.165 Noch bevor er 1934, aus einem Gefühl der Gefährdung und des Unbehagens heraus, von Salzburg ins Exil nach London ging, musste er sich mit der Frage auseinandersetzen, wie er es mit seiner bisher so engen Verlagsverbindung halten wollte. Wenn er zunächst geneigt war, Kippenberg solange wie nur möglich die Treue zu halten, so schien bereits im Spätherbst 1933 der Bruch mit der »Insel« kaum noch vermeidbar.166 Auslösendes Moment war der Skandal um die von Klaus Mann beim Amsterdamer Querido Verlag herausgegebene Zeitschrift Die Sammlung. Einige Autoren, die ihre Mitarbeit zugesagt hatten – unter ihnen Thomas Mann, René Schickele, Robert Musil und Stefan Zweig –, wurden von ihren Verlegern Bermann Fischer, Rowohlt und Kippenberg gezwungen, sich von der Exilzeitschrift öffentlich zu distanzieren, um auf diese Weise die noch vorhandenen Verbreitungsmöglichkeiten ihrer Werke zu wahren.167 Als diese Distanzierungsschreiben im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel veröffentlicht wurden, sahen sich die Autoren vor der gesamten Emigration kompromittiert. Stefan Zweig, von seinem Freund Joseph Roth gedrängt, erklärte nun in einer an die Weltpresse gegebenen Stellungnahme seinen Bruch mit Kippenberg und der »Insel«. In einem Brief an Roth wies er darauf hin, dass es bei einer solchen Entscheidung auch wirtschaftliche Aspekte zu bedenken gebe: Bis 1933 sei sein Gesamtwerk für den Verlag »ein ganz grosses Vermögensobjekt« gewesen; wie es nun darum stehe und wie weiter zu verfahren sei, müsse erst geklärt werden: Ihr, die Ihr, junge Leute, nur ein Gastspiel von 3‒5 Jahren in der deutschen Verlagswelt gehabt habt und mit Eurem Verlag übersiedeln konntet, habt eben keine Ahnung, dass für Thomas Mann und für mich Bindungen bestehen, die nicht über Nacht zu lösen waren (Fischer verlangt z. B. für die Freigabe Jacob Wassermanns 200.000 Mark, nur damit Ihr eine Idee habt, wie die Dinge eben durch dreissig Jahre Bindung mit der verfluchten Materie verbunden sind).168 Die Trennung Zweigs vom Insel Verlag erfolgte dann wider Erwarten ohne größere juristische Schwierigkeiten, allerdings sah der Schriftsteller mit diesem Schritt sein Lebenswerk zerrissen. Vor allem aber brauchte er nun einen neuen Verlag. Die Lösung, die er dafür fand, war für alle überraschend: Er vertraute seine Werke – die Rechte aller bisher bei der »Insel« erschienenen und der neu entstehenden Werke – einem kleinen Wiener Verleger an, Herbert Reichner*, der seine Firma erst 1925 gegründet hatte und bis 1934 hauptsächlich durch die Herausgabe der Zeitschrift Philobiblon und einiger
165 So im Zusammenhang mit der Insel-Bücherei oder der Reihe Bibliotheca Mundi, einer Serie mit klassischer Weltliteratur in den Originalsprachen. Vgl. dazu Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 70‒172. 166 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und seinem Schriftstellerfreund Joseph Roth (Roth: Briefe 1911‒1939). 167 Vgl. die Darstellung bei Walter: Der Streit um die »Sammlung« ‒ Porträt einer Literaturzeitschrift im Exil; auch Walter: Die deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 4: Exilpresse, bes. S. 425‒427; sowie Kerker: Weltbürgertum – Exil – Heimatlosigkeit, bes. Kap. 5. 168 Brief Stefan Zweigs an Joseph Roth vom November 1933 (Roth: Briefe 1911‒1939, S. 290 f.).
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anderer Schriften zur Druckkunst und Bibliophilie aufgefallen war. Genau dadurch war er auch mit Zweig, der einer der bedeutendsten Autographensammler seiner Zeit war, bekannt geworden. Entscheidend scheint für Zweig aber ein Punkt gewesen zu sein: Dass er als Autor im Verhältnis zum Verleger absolut das Sagen haben würde. In einem Brief an Anton Kippenberg vom 10. Dezember 1934 schrieb er denn auch: Wenn ich Reichner wähle, so ist es, weil i c h dort die Bedingungen stellen kann, vor allem die, dass nie bei ihm ein Buch erscheint, das auch nur im entferntesten mißgedeutet werden könnte. Lieber in einem strict bibliophilen und kleinen Verlag als Zwischenpause als in irgendeinem, der mit einem Accent belastet ist.169 Hier ist somit die besondere Situation entstanden, dass ein Autor seine Machtposition nutzen wollte gegenüber einem Verleger, der glücklich sein musste, das Werk eines dermaßen berühmten Autors betreuen zu dürfen. Ein zusätzliches Motiv für die Entscheidung pro Reichner dürfte auch die Tatsache dargestellt haben, dass damals, 1934, österreichische Verlage nach Deutschland liefern konnten, im Gegensatz zu den Exilverlagen, die dies allenfalls auf Umwegen schafften. Allerdings wurde Reichner als Jude bald zum Ziel von antisemitischen Angriffen aus dem Reich; Will Vesper nahm ihn in der Zeitschrift Die Neue Literatur aufs Korn: »Es muß verhindert werden, daß etwa der jüdische Verlag Reichner (Wien und Zürich) mit Prospekten, die die Werke Stefan Zweigs und anderer Juden anpreisen, Deutschland überschwemmt«.170 Es blieb nicht bei verbalen Angriffen: Am 19. März 1936 wurde das Bücherlager Reichners in Leipzig auf Anordnung der RSK von der Polizei beschlagnahmt, wobei der Schlag nicht allein Reichner galt, sondern dem österreichischen Verlagswesen insgesamt, soweit es in jüdischen Händen war; auch E. P. Tal, Zsolnay, der Internationale Psychoanalytische Verlag waren von solchen Aktionen betroffen. Die Beschlagnahme der Werke Zweigs – rund 2.250 Exemplare von sieben Titeln – wurde von Reichner nicht hingenommen. Er erhob schriftlich Einspruch, reiste nach Leipzig und Berlin, sprach im Propagandaministerium vor und erreichte tatsächlich die Freigabe der Bestände, wenn auch nur für die Belieferung außerdeutscher Länder. Im Juli 1936 wiederholte sich der Vorgang; diesmal mobilisierte Reichner das Bundeskanzleramt und erreichte erneut die Freigabe. Es waren indessen Pyrrhussiege, die Reichner errang: Durch die Nichtaufnahme seiner Anzeigen in das Börsenblatt und sonstige Behinderungen wurde die Verbreitung seiner Verlagsproduktion in Deutschland nach und nach zum Erliegen gebracht. Jedenfalls: An persönlichem Einsatz für die Bücher Stefan Zweigs hat es Reichner nicht fehlen lassen, und auch sonst hat die Zusammenarbeit zwischen Reichner und Zweig gut funktioniert, denn anders wäre es nicht möglich gewesen, dass dort zwischen 1934 und 1938 eine beachtliche Anzahl wichtiger Bücher Zweigs erschienen ist, von Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934) über Maria Stuart (1935), Georg Friedrich Händels Auferstehung (1936) bis zu Castellio gegen Calvin (1936), Der begrabene Leuchter (1937) und Magellan (1938), dazu auch einige Neuausgaben von Titeln, die früher bei der »Insel«
169 Stefan Zweig: Briefe an Freunde, S. 262 f. (Hervorhebung im Original). 170 Will Vesper: [Rubrik] »Unsere Meinung«. In: Die Neue Literatur, 36. Jg., H. 12 vom Dezember 1935, S. 761; hier zit. nach: In den Katakomben, S. 80.
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erschienen waren. Als aber Reichner am Tag der Annexion Österreichs mit seiner Familie in die Schweiz flüchtete, entstand eine Situation, die zu unfreundlichen Auseinandersetzungen führte und in einer schmerzhaften Scheidung endete. Die Verbreitungsmöglichkeiten für sein literarisches Oeuvre zu sichern, war Zweig ein vorrangiges Anliegen, und einem exilierten Reichner traute er dies nicht zu. In seinem Kündigungsbrief vom 13. April 1938 hieß es: Da zu meinem aufrichtigen Bedauern dieser Fall des staatlichen Eingriffes eindeutig und unbestreitbar eingetreten ist und der Verlag Herbert Reichner an der Verbreitung meiner Bücher im Sinne des deutschen Verlagsgesetzes verhindert ist, mache ich hiermit für alle mit dem Herbert Reichner Verlag geschlossenen Verträge von meinem Rücktrittsrecht am heutigen Tage Gebrauch. Sämtliche mit dem Verlag unter der ausschließlichen Voraussetzung des ungehinderten Vertriebes getroffene Abmachungen für alle meine Bücher sind damit gelöst, alle Rechte an mich zurückgefallen und der Verlag Herbert Reichner von allen aus diesen Verträgen entstehenden Verpflichtungen entbunden. Kraft dieser Kündigung kann der Verlag Herbert Reichner meine Bücher weiterhin weder drucken, vertreiben noch die früher abgeschlossenen und nun annullierten Verträge Gegenstand eines Verkaufs oder einer Übertragung von Seiten des Verlages bilden, sodaß jede weitere Auseinandersetzung zwischen dem Verlage und mir in loyalster Weise vermieden ist.171 Zweig nahm als Kündigungsgrund somit genau das Rechtsargument in Anspruch, das schon seit 1933 zur Auflösung der Verlagsbindungen herangezogen wurde. Reichner, der das »Loyale« dieser Vorgangsweise nicht erkennen konnte und seine Verlegertätigkeit gerne aus der Schweiz weitergeführt hätte, protestierte unter dem Hinweis, dass der Verlag als Einzelfirma immer dort sei, wo er sich aufhalte, und dass er über genügend Büchervorräte verfüge, um die Belieferung des Handels sicherzustellen.172 Zweig zögerte nun nicht, die Hilfe der Gerichte in Anspruch zu nehmen; Reichner wollte aber auch das am 20. April 1938 ergangene Urteil eines Wiener Gerichts, in welchem sämtliche zwischen ihm und Zweig geschlossenen Verträge für null und nichtig erklärt wurden, nicht akzeptieren. Zweig brachte darauf eine Feststellungsklage ein – eine, wie er sagte, »wenig sympathische Notwendigkeit«. Zu diesem Zeitpunkt war die Übernahme von Zweigs Gesamtwerk durch Gottfried Bermann Fischer bereits beschlossene Sache, und Zweig nahm die grobe Undankbarkeit gegenüber dem ihm jahrelang treu dienenden Reichner in Kauf, um sein literarisches Lebenswerk zu retten. Der Roman Ungeduld
171 Zit. nach Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 308. Vgl. auch S. 312: Zweig schob in der Korrespondenz mit Reichner das Argument nach: »[…] obwohl Sie mir seinerzeit im Falle der Insel an der Hand des Verlagsgesetzes und in dutzenden Briefen selbst nachgewiesen haben, daß die Nicht-Auslieferung von Exemplaren allein schon zur Lösung eines Vertrages ausreicht«. 172 Reichner hatte auf seiner Flucht nicht nur die Verträge mit Zweig in die Schweiz mitgenommen, wo er ja schon seit einiger Zeit einen nominellen zweiten Verlagssitz hatte, sondern er hatte es auch geschafft, über das Schweizer Vereinssortiment 22 Kisten aus Wien mit mehr als 3.000 Zweig-Bänden nach Olten kommen zu lassen (rund ein Siebtel der auf Lager gehaltenen Zweig-Bestände).
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des Herzens, über den er mit Reichner erst 1937 einen Vertrag abgeschlossen hatte, kam 1939 bereits im Verlag von Bermann Fischer in Stockholm heraus. Diese Erlebnisse mögen dazu beigetragen haben, dass Reichner zusammen mit seiner Frau in die USA emigrierte und dort nicht mehr als Verleger tätig wurde, sondern im Oktober 1940 in New York ein Antiquariat für »Old, Rare and Scholarly Books« mit Schwerpunkt 16. Jahrhundert eröffnete.173 Der Zweifel der Autoren, ob ihre Verleger unter den Bedingungen des Exils noch in angemessener Weise für den Absatz ihrer Bücher sorgen konnten, führte im Exil immer wieder zu Spannungen. Das prominenteste Beispiel dafür stellt Thomas Mann dar, der an seinem Stammverlag S. Fischer lange festhielt und sich zur Aufrechterhaltung dieser Verbindung mit politischen Bekundungen zurückhielt, ja sogar bereit war, von der Zeitschrift seines Sohnes abzurücken. In seiner erst im Februar 1936 gefallenen Entscheidung, sich definitiv und öffentlich mit der Emigration zu solidarisieren, spielte das Verhältnis zu seinem (inzwischen emigrierten) Verleger Gottfried Bermann Fischer eine Schlüsselrolle. Nach dem Streit um die Sammlung war Mann auch in den Exilskandal verwickelt, den der Exilpublizist Leopold Schwarzschild mit einer Attacke auf Bermann Fischer entfacht hatte, indem er diesem in einem Artikel im Neuen Tage-Buch unterstellte, in Wien mit Unterstützung Goebbelsʼ einen »getarnten Exilverlag« gegründet zu haben.174 Eine Gegendarstellung Thomas Manns zugunsten des Verlegers nahm Schwarzschild zum Anlass, den Dichter selbst zu einer klaren Positionierung aufzufordern; diese erfolgte allerdings erst aus Empörung über die anschließende Attacke des schweizerischen Kritikers Eduard Korrodi auf die von ihm als vorwiegend jüdisch charakterisierte Exilliteratur. Der Autor und sein Verleger – diese Einsicht ist aus der Beobachtung solcher kritischen Situationen heraus zu gewinnen – bildeten im Exil zwar eine Schicksalsgemeinschaft, innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft waren aber die unterschiedlichen Interessenlagen nicht aufgehoben. Denn als Bermann Fischer im März 1938 aus Wien fliehen musste, nachdem er dort zwei Jahre lang seine Geschäfte als Verleger mit gutem Erfolg betrieben hatte, sah sich Thomas Mann in seinem bereits seit längerem gehegten Misstrauen gegenüber der politischen Weitsicht seines Verlegers bestätigt. Da weder Buchlager noch Geschäftsunterlagen gerettet werden konnten, zweifelte Thomas Mann an der Sinnhaftigkeit eines weiteren Versuchs und riet Bermann Fischer ab, in die USA zu kommen, um dort einen neuen Verlag aufzubauen. Die Korrespondenz aus diesen Monaten lässt erkennen, wie in dieser zugespitzten Lage das latent Problematische dieser Beziehung aufgebrochen ist.175 Mann scheute sich nicht, Bermann Fischer die Rückkehr in den Chirurgenberuf nahe zu legen, und kündigte ihm – nach Vorrechnung der Streitfälle sowie der Nachteile, die er schon seit Jahren habe in Kauf nehmen müssen – die Fortsetzung der bisher bewiesenen Solidarität auf. Bermann Fischer gelang es allerdings einmal mehr, den berühmten Autor, das Zugpferd seines Unternehmens, zum Einlenken zu bewegen, doch hinterließ die Auseinandersetzung zweifellos Narben im Verhältnis der beiden.176
173 174 175 176
Siehe dazu Kap. 6.2 Antiquariatsbuchhandel. Dokumentiert bei Arnold: Deutsche Literatur im Exil 1933‒1945, Bd. I, S. 93‒124. Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger Bermann Fischer 1932 bis 1955. Vgl. zu diesem Konflikt auch die entsprechenden Passagen im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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Die Beispiele zeigen, in welchem Maße die schwierigen Zeiten den Autor-VerlegerBeziehungen Belastungen auferlegten. Eine für die Exilgemeinschaft von Autoren und Verlegern vergleichsweise glückliche Konstellation war dagegen in Amsterdam entstanden, wo im Querido- und im Allert de Lange-Verlag mit Fritz H. Landshoff, Walter Landauer und Hermann Kesten die frühere Mannschaft des Gustav Kiepenheuer Verlags tätig wurde, die in zahlreichen Fällen an die Autorenbeziehungen aus der Berliner Zeit anschließen konnte. Vertrauensvolle Zusammenarbeit war das Kennzeichen vor allem der von Landshoff fürsorglich gepflegten Verbindungen. Spannungen entstanden aber auch hier, vor allem durch die fortschreitenden Veränderungen in den ökonomischen Rahmenbedingungen – Veränderungen, die in den Verlagen naturgemäß rascher begriffen wurden als auf Autorenseite. Während Landshoff feststellen musste, dass selbst bei prominenten Autoren die Verkaufsziffern nicht annähernd an die aus Deutschland gewohnten heranreichten und nach einiger Zeit auch im Durchschnitt geringer wurden, orientierten sich die Absatz- und Honorarerwartungen der Schriftsteller lange Zeit an dem vor 1933 erreichten Niveau. Erst allmählich konnten Autoren – auch routinierte Schriftsteller der ersten Reihe wie Heinrich Mann – davon überzeugt werden, dass an eine lineare Fortschreibung der bisherigen Vertragsbedingungen nicht zu denken war.177 In vielerlei Hinsicht unterschied sich das Verhalten der Autoren mindestens anfänglich wenig von jenem, das sie auch vor 1933 an den Tag gelegt hatten: Die einen glaubten das Recht auf Vorzugsbehandlung zu haben, andere fühlten sich ohnehin stets benachteiligt oder vernachlässigt. Die meisten waren sich darin einig, dass von ihren Büchern mehr verkauft werden könnte, wenn der Verlag aktiver wäre oder nicht diesen oder jenen Fehler gemacht hätte. Landshoff musste oft lange Briefe schreiben, in denen er Punkt für Punkt Beschwerden der Autoren aufklären oder widerlegen musste, etwa wenn es darum ging, Rechte ins Ausland zu verkaufen – was aus Sicht der Schriftsteller natürlich stets mit zu wenig Nachdruck und zu geringem Erfolg geschah. Sein Brief an Arnold Zweig vom 2. Juli 1935 ist ein Beispiel dafür, mit insgesamt 12 Punkten, oder jener vom 19. September 1935, in welchem sich bereits die Schwierigkeiten mit den bisher recht großzügig bemessenen Tantiemen abzeichnen: So gerne wir Ihre Wünsche erfüllen, können wir in der von Ihnen angeschnittenen Prozentfrage eine Änderung beim besten Willen nicht eintreten lassen. Da es sich bei Ihrem neuen Roman wiederum um ein recht umfangreiches Buch handelt, dessen Preis bestimmt nicht unter hfl 3.90 liegen wird, ist ohnehin eine Tantieme von 15 % vorgesehen. Dieser Satz hat sich bei uns als so untragbar herausgestellt, daß wir z. B. auch beim neuen Vertrag, den wir über den »Falschen Nero« mit Feuchtwanger abgeschlossen haben, bis zum 10.000 Exemplar unterhalb dieses Satzes bleiben. Auch Emil Ludwig, der ebenfalls ursprünglich 15 % erhielt, ist uns bei seinem neuen Vertrag erheblich in der Tantieme entgegengekommen.178
177 Vgl. etwa die 1935 geschriebenen Briefe Landshoffs an Arnold Zweig und Heinrich Mann in: Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 241‒244, 247 f. 178 Brief Landshoffs an Arnold Zweig vom 19. September 1935, in: Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 241 f.
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Immer wieder sah sich Landshoff genötigt, bei seinen Korrespondenzpartnern den Verdacht zu zerstreuen, anderen Autoren seien bessere Bedingungen eingeräumt worden. Mancher Autor war der Meinung, die Verkaufspreise seiner Bücher seien zu hoch und bremsten den Absatz, so auch Heinrich Mann, dessen insistierender Klage Landshoff, mit ausführlicher Begründung und Vergleichen mit Büchern Jakob Wassermanns und Bruno Franks, widersprach: »Ich bedaure es aufrichtig, dass Sie immer noch annehmen, wir hätten Ihr Buch, dessen Vertreibung uns besonders am Herzen liegt, durch die Festsetzung eines zu hohen Preises geschädigt«.179 Aufgrund der im Exil besonders schwer überblickbaren Marktsituation übten die Verleger eine wichtige Beratungsfunktion in berufspraktischen Fragen aus.180 Nicht weniger wichtig war die Rolle, die sie im Bereich einer psychologischen Betreuung gewannen: Infolge der Vereinzelung und Entwurzelung war bei den Autoren das Bedürfnis nach verlegerischer Zuwendung gestiegen, gleichzeitig hatten unter dem Druck des Exils auch Gereiztheit und Ungeduld zugenommen. Nur wenige – und auch diese oft erst allmählich – entwickelten die Fähigkeit zur analytischen Erfassung der Situation und die Bereitschaft zur Anpassung ihres Lebensstils an die neuen Gegebenheiten. Als Berater in Verlagsfragen fungierten übrigens auch einzelne, in Geschäftsdingen besonders beschlagene Schriftsteller. Lion Feuchtwanger etwa kümmerte sich in kollegialer Weise um Arnold Zweig, der von Haifa aus die Verlagschancen in den westlichen Exilländern kaum zutreffend einschätzen konnte.181 Feuchtwanger gehörte zu den wenigen Autoren, die im Exil keine finanziellen Schwierigkeiten hatten und bei denen sich der Umgang mit Verlegern weitgehend unproblematisch gestaltete. Dies gilt sowohl für seine Beziehung zu Landshoff bei Querido wie auch für jene zu den englischen und amerikanischen Verlegern, die seine Werke in Übersetzungen herausbrachten; vor allem mit dem New Yorker Verleger Ben Huebsch verband Feuchtwanger eine vertrauensvolle Freundschaft. Professionell gestaltete sich desgleichen die Zusammenarbeit zwischen Franz Werfel – auch er ein Erfolgsautor des Exils, vor allem mit dem Lied von Bernadette – und Gottfried Bermann Fischer: Werfel, der sich erst 1938 dem Verlag BermannFischer anschloss, legte in seinem Briefverkehr mit dem Verleger den Akzent auf eine sachlich gehaltene Regelung aller Fragen, über die Fertigstellung von Manuskripten ebenso wie über Fragen der Herstellung oder der Lizenzvergabe an ausländische Verlage.182 In der Tendenz sachlich gehalten sind auch die Briefe Alfred Döblins an Bermann Fischer; dagegen spiegelt sich in der Korrespondenz mit Carl Zuckmayer ein sehr viel persönlicheres Verhältnis, auch wenn die jeweils unterschiedlichen Interessenlagen nicht unter den Tisch gekehrt wurden.183 Freundschaftlicher Umgang, kombiniert mit produktiv-anregender Verständigung über literarische Fragen war auch unter den vielfältig belasteten Autor-Verlegerbezie-
179 Brief Landshoffs an Heinrich Mann vom 19. November 1935, in: Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 247‒249; hier S. 247 f. 180 In dieser Funktion gewannen im Exil auch Literaturagenten enorm an Bedeutung; siehe das Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 181 Vgl. Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel 1933‒1958. 182 Vgl. Gottfried Bermann Fischer, Brigitte Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren. 183 Vgl. Carl Zuckmayer, Gottfried Bermann Fischer: Briefwechsel. Dazu: Ernst Fischer: »…diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann«.
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hungen des Exils möglich. Exemplarisch wird dies sichtbar in dem zwischen Anna Seghers und Wieland Herzfelde unterhaltenen Kontakt in den letzten Jahren des Exils; die zwischen Mexiko und New York gewechselten Briefe dokumentieren eine Übereinstimmung, die sich in hohem Maße auf dem gemeinsamen Interesse an reflektierter Arbeit am Text gründete.184 Der Verleger entwickelte hier eine Ratgeberfunktion, die auch Kritik mit einschloss; wie das Schreiben erschien auch die verlegerische Arbeit als ein Mittel zur Überwindung der kulturellen Isolation in der Fremde. In anderer Weise bemerkenswert war das Engagement, das Kurt Wolff nach Gründung seines New Yorker Pantheon Verlags für Hermann Broch entwickelte, um dessen Roman Tod des Vergil herauszubringen.185 Unter den Bedingungen des Exils war es den Autoren aber nicht durchweg möglich, immer nur mit einem Verleger zusammenzuarbeiten, auch wenn sich bei Querido, Allert de Lange und Bermann-Fischer viele Beispiele einer solch treuen Hausautorenschaft aufzeigen lassen.186 Gefragt war auf der Autorenseite auch jene Flexibilität, die es brauchte, um alle Publikationschancen wahrzunehmen, die sich in dem beengten Markt und bei wechselnden bzw. sich fortschreitend verschlechternden Verhältnissen boten. Als ein Beispiel mag Anna Seghers dienen, deren Bücher im Zeitraum von 1933‒1945 bei acht verschiedenen Exilverlagen herauskamen, bei Carrefour, Querido, Universum Bücherei, El Libro Libre, und Aurora sowie drei Verlagen der Sowjetunion (VEGAAR, Staatsverlag der Nationalen Minderheiten, Meshdunarodnaja Kniga), nicht zu rechnen die zahlreichen ausländischen Verlage, in denen ihre Werke in Übersetzung erschienen. Auch andere Autoren mussten sich schon unter Erwerbsrücksichten offen zeigen für jede Möglichkeit, ein Manuskript zum Druck zu bringen. Vergleichsweise bequemer war die Lage von Autoren wie Hermann Kesten, der als Lektor von Allert de Lange einige Bücher im »eigenen« Verlag unterbringen konnte, es aber vorzog, drei wichtige Titel bei Querido erscheinen zu lassen – was angesichts der gemeinsamen Vorgeschichte im Verlag Gustav Kiepenheuer ebenfalls kein Problem gewesen sein dürfte. Verlegen im Exil, Schreiben im Exil: Beides bedeutete Arbeit jenseits der Routine. Wie damals für den Autor die Frage: Für wen schreibe ich, wer sind meine Leser? neu beantwortet werden musste, so stand auch der Verleger angesichts rasch wechselnder Verhältnisse vor der Notwendigkeit einer permanenten Neuorientierung. Die Änderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen trieb zwischen dem Verleger und seinem Autor Interessenkonflikte hervor, führte zu Missverständnissen und Irritationen, nicht selten resultierte daraus aber auch die Bereitschaft zu einer engen Zusammenarbeit, wie sie in einer weniger prekären Situation vielleicht nicht zustande gekommen wäre.
184 Seghers / Herzfelde: Gewöhnliches und Gefährliches Leben. Ein Briefwechsel aus der Zeit des Exils 1939‒1946. – Aufschlussreich für das Verhältnis des Verlegers Herzfelde zu seinen Autoren sind auch die Briefwechsel-Editionen: Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940‒1949; Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938 (bes. mit Willi Bredel); »Wir haben das Leben wieder vor uns«. Ernst Bloch und Wieland Herzfelde: Briefwechsel 1938‒1949. 185 Vgl. Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers 1911‒1963. – Hermann Broch hat auch mit dem Verleger Daniel Brody eine bemerkenswerte Korrespondenz unterhalten: Broch, Hermann / Daniel Brody: Briefwechsel 1930‒1951. Vgl. ferner Broch: Briefe. 186 Vgl. dazu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage die entsprechenden Verlagsporträts.
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Materielle Bedingungen schriftstellerischer Berufsausübung im Exil Hinsichtlich der sozialen Lage der Exilschriftsteller gilt es zu berücksichtigen, dass die meisten von ihnen durch Flucht außer Landes gelangt waren, also für ein Leben im Exil keinerlei Vorsorge treffen konnten. Nur sehr wenige waren in der Lage, Vermögensoder andere Werte zuvor schon ins Ausland zu transferieren, Kurt Tucholsky etwa, Alfred Döblin oder Heinrich und Thomas Mann.187 Auch war die Lage am Beginn des Exils gekennzeichnet von einer generellen Verunsicherung hinsichtlich der Möglichkeiten einer Weiterführung der literarischen Tätigkeit. »Aber wie man die nächsten Jahre als Emigrant praktisch überstehen soll, ist mir total rätselhaft. […] Dabei soll man arbeiten, und ich will eben einen neuen Roman anfangen ‒ aber für wen?«, schrieb Klaus Mann in einem Brief an den Journalisten Franz Goldstein am 30. März 1933, kurz nach seiner Flucht aus Deutschland, und auch Joseph Roth sah ‒ wie viele andere ‒ im ersten Augenblick seine »literarische und materielle Existenz« als vernichtet an.188 Wenn auch das Exil gerade für Klaus Mann und Joseph Roth eine Zeit besonders hoher Produktivität werden sollte, so musste die gesamte vertriebene Schriftstellerschaft sich zunächst einmal erste Orientierungen verschaffen.
Rechtsunsicherheit Unmittelbar nach Flucht und Vertreibung war die Situation der exilierten Autoren von ungelösten Fragen und allgemeiner Rechtsunsicherheit geprägt: Waren die Verträge mit den Verlagen in Deutschland hinfällig geworden, oder bestanden sie fort, mindestens bis konkrete Vereinbarungen darüber getroffen waren?189 Es scheint jedoch rasch ein allgemeiner Konsens entstanden zu sein, wonach Autoren, deren Bücher in Deutschland nicht mehr verbreitet werden durften, wieder über die Rechte an ihren Werken verfügen konnten. Die Verlage verloren ja die von ihnen erworbenen Verlagsrechte, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer ‒ nicht in der Lage waren, ihren in den Verträgen verankerten Publikations- und Werkpflegeverpflichtungen nachzukommen. Die deutschen Verlage hüteten sich, im Reich verfemte Schriftsteller öffentlich oder juristisch für sich zu reklamieren. Umgekehrt hatten die exilierten Autoren kein Interesse daran, mit Verlegern weiter zu arbeiten, die offenkundig bereit waren, sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren – bis auf einige wenige, denen es schwerfiel, sich von ihrem Publikum in Deutschland zu trennen. Doch herrschte einige Zeit Unklarheit auf beiden
187 Vgl. zu dieser Thematik Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd.1: Bedrohung und Verfolgung bis 1933, S. 116; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa, S. 164‒178. 188 Klaus Mann an Franz Goldstein am 30. März 1933, in: Klaus Mann Briefe (1988), S. 87 f.; hier S. 88; Brief Joseph Roth an Stefan Zweig von Mitte Februar 1933, in: Joseph Roth: Briefe 1911‒1939, S. 249. 189 Vgl. hierzu Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa, S. 171‒178. – Auf den Vortrag des Juristen Botho Laserstein auf der ersten Versammlung des SDS im Exil in Paris zum Thema »Sind unsere Verträge mitverbrannt?« wurde bereits weiter oben hingewiesen.
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Seiten. So teilte Alfred Neumann in einem Brief an René Schickele aus Florenz am 8. Januar 1934 mit: Ullstein lässt nach langem Hin und Her mein neues Buch nicht frei, ohne doch zu sagen, wann er es bringen kann und ohne mich wirtschaftlich zu sichern. Da ich aber die bekannte Erklärung [zur Aufnahme in die RSK] nicht unterschrieben habe, weiß ich nicht recht, wie er sich die Dinge und deren weiteren Verlauf vorstellt. Ich werde zunächst von mir aus die Auslandsausgaben vergeben und mich für die weitere Produktion mit Allert de Lange verbinden.190 Um die hierzu notwendigen Verhandlungen persönlich zu führen, begab sich Alfred Neumann Mitte Januar 1934 nach Paris und übertrug der Edition Stock die Rechte für die französische Ausgabe seines Neuen Cäsar; außerdem trat er in Vorverhandlungen für den zweiten Teil seiner Trilogie ein. In Paris lernte er neben Joseph Roth auch Hermann Kesten kennen, mit dem ihn von da an eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Da Kesten als Lektor für die deutschsprachige Abteilung des Amsterdamer Verlags Allert de Lange tätig war, konnte Neumann mit diesem wohl gleich auch einen Vertrag für das nächste Buch aushandeln und sich einen Vorschuss sichern. Auf der Rückreise nach Florenz machte Neumann Station in Mailand und führte dort bei Mondadori Gespräche über eine italienische Ausgabe des Neuen Cäsar. Was den Fall Ullstein betraf, so schrieb er am Ostersamstag 1934 an René Schickele: Beruflich geht es mir nicht übel. Die internationale Vorbereitung meines Neuen Cäsar geht gut vonstatten; nach langer Mühe ist es mir gelungen, den total paralysierten Ullstein zu einer Entscheidung zu bringen und die deutsche Ausgabe freizubekommen. Sie erscheint am 1. September bei Allert de Lange. Ich arbeite sehr gut am zweiten Roman und habe wohl für ein Jahr zu leben.191 Wie wenig eindeutig die Lage war, illustriert auch der Fall des unmittelbar nach dem Reichstagsbrand geflüchteten Rudolf Olden, der zuvor mit Ernst Rowohlt einen Vertrag über eine Hindenburg-Biographie abgeschlossen hatte.192 Das von Olden im Exil fertiggestellte Werk wurde 1934 unter dem Titel Hindenburg oder Der Geist der preußischen Armee vom Pariser Exilverlag Europäischer Merkur in Paris angekündigt, doch überraschenderweise meldete sich jetzt Rowohlt bei dem in England lebenden Autor und stellte, unter Berufung auf den bestehenden Vertrag, zunächst über einen Angestellten, dann über einen Anwalt die Forderung nach Beteiligung an den Erträgen aus der Publikation. Den Drohungen des Anwalts zum Trotz lehnte Olden das sittenwidrige Ansinnen ab (das Buch hätte ja in Deutschland nicht erscheinen können), musste aber feststellen, dass sich Rowohlt inzwischen an den Drucker des Buches gewandt und diesen dazu
190 Deutsches Literaturarchiv Marbach, NL Schickele, 60.672, 7‒12. 191 DLA, Alfred Neumann an René Schickele, Florenz, Ostersamstag 1934 [30. April 1934]. 192 Dieser Fall wird von Hans-Albert Walter geschildert in: Die deutsche Exilliteratur 1933‒ 1950, Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen, S. 635 f.
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gebracht hatte, mit dem Druck erst beginnen zu wollen, wenn der Verlag die Rechtsverhältnisse geklärt habe. Über die Lösung des Problems berichtete Olden: Der Verleger war in einer abscheulichen Verlegenheit, jede Minute war kostbar, und tatsächlich wurde der Druck des Buches durch dieses Manöver um zwei Monate aufgehalten, und der materielle Erfolg, wie es scheint, vernichtet. Nicht weniger bedrängt war meine eigene Lage. Aber ich sagte mir, ein Abkommen, das von der einen Seite mit entsichertem Revolver verhandelt wird, könne für die andere keine moralische Belastung bedeuten. Ich schickte eine Blankovollmacht an den Verleger und erklärte, ich wolle nicht einmal wissen, was er abmache. Also wurde Rowohlts »Wünschen« willfahrt. Nicht ohne Betrübnis habe ich bei dieser Gelegenheit Abschied genommen von dem Menschen Rowohlt.193 Offenbar ist es in den ersten Monaten des Exils öfter vorgekommen, dass deutsche Verlage an den von Exilverlagen herausgebrachten Neuausgaben beteiligt werden wollten. Darauf lässt jedenfalls eine Äußerung des Anwalts Botho Laserstein in seinem bereits erwähnten SDS-Vortrag »Sind unsere Verträge mitverbrannt?« schließen, in der dieser es als grotesk bezeichnete, dass deutsche Verleger Tantiemen von Büchern verlangen, die in Deutschland verbrannt und verboten worden sind, aber im Ausland neu aufgelegt werden sollen. Seit Anfang 1935 hätten sich, mindestens in der Theorie, die Exilschriftsteller jüdischer Herkunft auch auf einen Gerichtsentscheid des Münchener Oberlandesgerichts vom 4. Februar 1935 berufen können, wonach einem Verleger »aus wirtschaftlichen Gründen infolge der völlig veränderten politischen Verhältnisse nicht zugemutet werden kann, das Werk eines nichtarischen Verfassers weiterhin zu verlegen«.194 Spätestens mit diesem Urteil konnten alle bestehenden Verträge, die von jüdischen Emigranten mit deutschen Verlagen abgeschlossen worden waren, für nichtig gelten. In der Praxis hatte sich aber bereits zuvor die Auffassung durchgesetzt, dass sämtliche Verträge dadurch ungültig geworden waren, dass die Verlage ihrer darin festgelegten Verpflichtung auf Herstellung und Verbreitung der Werke der verfemten Autoren in NS- Deutschland nicht nachkommen konnten. Auch war allen Beteiligten hüben und drüben der Grenzen klar geworden, dass die Durchsetzung irgendwelcher Ansprüche nach keiner Seite hin Aussicht auf Erfolg hatte. Da sich die Autoren nicht mehr an ihre Verträge mit deutschen Verlagen gebunden fühlten, konnten sie daran denken, nicht allein neu Geschriebenes zu veröffentlichen, sondern – zur Verbesserung ihrer Einkommenssituation – ebenso Neuauflagen älterer Werke herauszubringen – soweit es die Bereitschaft von Verlagen gab, diese noch einmal zu publizieren. Alfred Neumann liefert auch hierfür ein Beispiel: Da er für Allert de Lange nicht wie vereinbart ein neues Werk in Jahresfrist abliefern konnte, brachte der Verlag 1935 eine neue Ausgabe von Neumanns 1926 zuerst erschienenem Erfolgsbuch
193 Rudolf Olden: Geschäfte mit dem Staatsfeind. In: Neues Tagebuch, 4. Jg., Heft 11 v. 14. März 1935, S. 262 f.; hier zitiert nach Walter, S. 636. 194 Abgedruckt im Bbl. Nr. 184 /1935; vgl. hierzu auch Barbian: Literaturpolitik im »Dritten Reich« (1993), S. 209.
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Der Teufel heraus. Damit nicht genug, konnte er sogar ein älteres Werkmanuskript unterbringen, Königin Christine von Schweden, einen bereits 1923 entstandenen, bis dahin noch unpublizierten Roman, den Neumann selbst als »Mumie«195 und als »aufgewärmte Lückenbüßerin«196 einstufte. Der neue Roman Kaiserreich erschien dann ebenfalls 1936 bei Allert de Lange. In Großbritannien allerdings wurde von den einheimischen Verlagen diese Rechteproblematik deutlich strenger gehandhabt: »Nicht alle aus dem ›Dritten Reich‹ geflohenen Autoren konnten die Rechte an ihren Werken ins Exil mitnehmen. Manche hofften, ihre früher in Deutschland erschienenen Werke in einem britischen Verlag unterbringen zu können, wurden aber enttäuscht, da sich die Verlage auch im Krieg überwiegend an die Urheberrechtsabkommen hielten«.197 Nach Kriegsausbruch verschärfte sich die Situation noch weiter: »Wenn es nicht möglich war, deutsche Verlage zu kontaktieren, um die Übersetzungsrechte von ihnen zu erwerben, mussten die Autoren entweder eine Bewerbung an das Trading with the Enemy Department des Board of Trade richten oder bis zur Beendigung des Krieges warten«. Dazu kommt, dass Bücher von britischen wie auch von den amerikanischen Verlagen in aller Regel erst dann übernommen wurden, wenn sie zuvor von deutschen bzw. Exilverlagen in deutscher Sprache mit einigem Erfolg herausgebracht worden waren.198 Eine weitere Folge der Nichtigkeit der alten Verlagsverträge war die Verramschung von Werken exilierter Autoren: die Verlage in NS-Deutschland warfen z. T. in großem Stil die Bücher der verbotenen Autoren im Ausland zu stark herabgesetzten Preisen auf den Markt, zum Schaden der Autoren, aber auch zum Schaden der Exilverlage, die dadurch einer Billigkonkurrenz ausgesetzt waren.199 Die deutschen Verlage fühlten sich besonders dann dazu berechtigt, wenn sie an inzwischen emigrierte Autoren Vorschüsse gezahlt hatten, die sie auf diese Weise abgegolten haben wollten. Die exilierten Autoren und die Exilverlage mussten sich durch die Bücher, die mit Schleuderpreisen den Markt verstopften, in der Tat enorm geschädigt fühlen. Walter nennt als bekannte Fälle Rudolf Olden, Lion Feuchtwanger, Kurt Kersten, O. M. Graf,200 Alfred Döblin und Arnold Zweig (von letzterem waren 20.000 Bände verramscht worden). Inzwischen sind aber noch weit mehr Fälle bekannt. Besonders Buchhandlungen in Österreich, der Schweiz und in der Tschechoslowakei waren bereit, solche Ramschpartien zu übernehmen. Wiener Buchhandlungen warben sogar in Exilzeitschriften für Bücher aus deutschen
195 LBI, Alfred Neumann an Alexander Moritz Frey, 3. März 1935. 196 Brief von Alfred Neumann an Thomas Mann vom 21. Oktober 1935, in: Briefwechsel Thomas Mann – Alfred Neumann, S. 34 f.; hier S. 35. 197 Joos: Trustees for the Public?, S. 151. 198 Joos, S. 151. Ähnlich auch bei Wiemann: Exilliteratur in Großbritannien 1933‒1945, S. 21. 199 Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa, S. 177 f. 200 Graf klagte 1936 sogar beim Kreisgericht Brünn gegen den Drei Masken Verlag auf Freigabe seiner Bücher, die er selbst verkaufen wollte. Vgl. die Anmerkungen in der Briefedition: »Graf möchte mit einem kleinen Kapital seine gesamten Buchbestände von seinen deutschen Verlegern aufkaufen (immerhin fast 10.000 Bücher) und in Brünn so etwas wie einen Verlag aufziehen; er verspricht sich ein ›nettes kleines Geschäftchen‹ davon.« […] »Leider fehlts halt an Geld!« (Oskar Maria Graf in seinen Briefen, S. 99 f.).
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Ramschverkäufen, etwa für Lion Feuchtwangers Roman Jud Süß, der von einer Wiener Buchhandlung im Neuen Tagebuch zum Schleuderpreis angeboten wurde. Die Verramschungen hatten nicht nur negative Wirkung auf den Absatz der Exilbücher, sie drückten auch auf deren Verkaufspreise.201
Einkommensquellen der Schriftsteller Die Einkommensquellen202 der vertriebenen Autoren unterschieden sich zunächst nicht grundsätzlich von denen der Zeit vor 1933: Es gab reguläre Verlagseinkünfte aus Buchtantiemen, teils in Gestalt von Vorschüssen oder Rentenzahlungen, es gab Einkünfte aus Nebenrechten, hauptsächlich aus dem Verkauf von Übersetzungslizenzen, an dem die Schriftsteller mit unterschiedlich hohen Prozentsätzen beteiligt waren, oder aus Vorabdrucken und aus der Publikation als Fortsetzung, aus dem Verkauf von Rundfunk- oder – im Glücksfall – von Verfilmungsrechten; Dramenautoren bezogen Honorare aus Theateraufführungen, die es auch im Exil gab, wie z. B. am Schauspielhaus Zürich. Dazu konnten (vergleichsweise regelmäßigere) Einkünfte aus publizistischer und journalistischer Tätigkeit kommen, vornehmlich aus dem Schreiben von Feuilletonartikeln und politischen Zeitkommentaren, von Literaturkritiken und Veranstaltungsberichten. Allerdings: Nichts davon verstand sich im Exil von selbst, vielmehr mussten alle diese Einkommensquellen erst wieder neu erschlossen werden, und außerdem kam es zu markanten Verschiebungen innerhalb dieser Verdienstmöglichkeiten, sowohl im Verhältnis zueinander wie auch im zeitlichen Verlauf der Exilepoche. Davon wird im Folgenden genauer zu berichten sein. Die wichtigste Quelle hinsichtlich der Verlagseinkünfte bilden die mit Exilverlagen abgeschlossenen Buchverträge. Allein aus dem Amsterdamer Verlag Allert de Lange haben sich mehr als 70 Verlagsverträge erhalten, aus denen sich die dort üblichen Konditionen destillieren lassen – die freilich je nach Bekanntheitsgrad der Autoren differierten. Nach den Erkenntnissen von Kerstin Schoor reichte die Bandbreite der Garantiezahlungen von 300 bis 5.000 holl. Gulden, auf die Beteiligung des Autors am Ladenpreis, die für die erste Auflage üblicherweise zwischen 10 und 17 ½ Prozent lag, aber nach Verkauf einer bestimmten Anzahl von Exemplaren auf 20 % steigen konnte.203 Allert de Lange gehörte zu den bestzahlenden Verlagen des Exils, darin auch Querido überbietend, der
201 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Brief von Heinrich Mann vom 23. Oktober 1938 an den Querido Verlag, in welchem er darauf hinwies, dass eine eventuelle Neuausgabe seines Romans Der Untertan keinesfalls mehr als 12 FF kosten dürfe, da die Vorräte aus den von den Nazis enteigneten Verlagen noch immer ins Ausland ausgeliefert würden. So bei Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 189. 202 Zum sozialen Status, den Verdienstmöglichkeiten und den Lebensbedingungen der Schriftsteller und Intellektuellen im Exil hat Hans-Albert Walter schon in den 1970er und 1980er Jahren einiges Material zusammengetragen: Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (bes. Kap. II: Die materielle Lage der Exilierten bis Kriegsbeginn), sowie Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg (bes. Kap. 4 Materielle Lage und Lebensbedingungen in den Kriegsjahren). 203 Siehe hierzu Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 91 f.
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1.300‒1.700 Gulden Vorschuss gezahlt haben soll. Die Zahlungsweise wurde indes flexibel gehandhabt: Die Vorschusssumme wurde entweder hälftig oder gedrittelt ausgezahlt bei Abschluss des Vertrages bzw. Manuskriptabgabe, oder als monatliche Rentenzahlung bis zum festgesetzten Zeitpunkt der Abgabe des Manuskripts, oder als Einmalzahlung bei Ablieferung des fertigen Manuskripts. Es waren speziell diese Vorschusszahlungen, denen unter Exilbedingungen besondere Bedeutung zukam, insbesondere in Gestalt von monatlichen Teilbeträgen.
Vorschuss- und Rentenzahlungen Landshoff zufolge handelte es sich bei der Umwandlung von Vorschuss- in Rentenzahlungen um eine Praxis, die zwar nicht neu war, die aber aus seiner Sicht für die exilierten Autoren ungleich wichtiger war als in der Zeit davor: Um den bei uns erscheinenden Autoren eine gewisse, wenn auch beschränkte Sicherheit zu geben, hatte ich bei der Gründung des Verlages Queridos Zustimmung erbeten und erhalten, ihnen – wie wir es in den Kiepenheuer-Tagen getan hatten – ein Lebensminimum zu garantieren und à conto ihrer zukünftigen Tantiemen monatliche Zahlungen zu leisten, die mit Abschluß des Vertrages begannen und bis zur Ablieferung des Manuskriptes liefen. Diese monatlichen Zahlungen schwankten zwischen 250 und 400 Gulden (Mein eigenes Einkommen als Direktor des Verlages belief sich auf 400 Gulden, von denen ich nicht nur meinen Lebensunterhalt, sondern auch einen monatlichen Betrag für meine geschiedene Frau und meine Kinder bestreiten mußte.).204 Die seinen Erinnerungen beigegebenen Abrechnungen zeigen, dass etwa der in Haifa lebende Arnold Zweig zwischen Juli 1933 und Juni 1934 monatlich 350 Gulden erhalten hatte, insgesamt 4.200 Gulden, denen aber Einnahmen durch den Verkauf von Bilanz der Judenheit von nur 601 Gulden gegenüberstanden.205 Heinrich Mann bezog lt. Abrechnung vom 31. Dezember 1935 über Die Jugend des Königs Henri IV bei einer Auflage von 4.000 Exemplaren über acht Monate hinweg (Juni 1934 bis Februar 1935) eine monatliche Rente von 400 Gulden (in der Höhe also dem Einkommen des Verlegers entsprechend); dem Gesamtbezug von 3.500206 Gulden standen bis zu diesem Zeitpunkt durch den Verkauf von 653 broschierten und 1.708 gebundenen Exemplaren Einnahmen von 1.781 Gulden gegenüber.207 Auch bei Allert de Lange, wo ja Landauer vom Verlag Gustav Kiepenheuer her ebenfalls diese Vorgangsweise geläufig war, wurden Rentenzahlungen praktiziert: Alfred Neumann besuchte den Allert de Lange Verlag im August 1934 in Amsterdam und handelte dort eine monatliche Zahlung aus, wie sie bei Verlagen üblich war, die auf
204 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 85 f. 205 Landshoff, S. 86. 206 Im Juni 1934 erhielt Heinrich Mann 800 Gulden, im Februar 1935 nur 300, ansonsten immer 400 Gulden. 207 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 87.
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diese Weise Autoren an das Haus binden wollten. Er erhielt über mehrere Jahre hinweg (1934 bis 1938, mit Ausnahme von 1937) 350 bis 500 Gulden im Monat, 1939 noch bis in den August hinein 250 Gulden, was aber einen kontinuierlichen »Titelfluss« voraussetzte. An Auslandsausgaben oder an der Vergabe von Filmrechten war Allert de Lange mit 20 % beteiligt. Damit hatte Alfred Neumann in Florenz bis zum Kriegsausbruch eine gesicherte Einkommensgrundlage. Die materielle Existenz ganz auf die Spitze von Vorschusszahlungen zu setzen, brachte allerdings mancherlei Gefahren mit sich. Joseph Roth etwa verstrickte sich in ein Netz von Verlagsrenten und Voraushonorierungen, die ihn zu rastloser Schreibarbeit zwangen.208 Da die Verlagsgeldquellen ausgeschöpft waren, flehte Roth am 8. August 1937 in einem Brief seinen Gönner Stefan Zweig einmal mehr um finanzielle Unterstützung an: Bitte, sehen Sie meine Arbeit. Ich habe mir den Namen ruiniert, durch Fleiß, es sind zu viele Bücher hintereinander. Ich habe bei diesem Verleger erreicht, daß mein nächstes Buch nicht Weihnachten, sondern erst 38 erscheint. Aber bis Ende 37 zu leben, habe ich mich verpflichtet, bis Anfang September noch einen Roman abzuliefern. – Ach wie ist das schmählich, degradierend, erbärmlich.209 Und wenige Tage später, am 18. August 1937: … ich zerbreche mir den Kopf, was ich machen könnte, um unabhängig vom Verleger zu werden, aber durch Kopfzerbrechen schafft man sich kein Wunder. Ich werde ja noch daran krepieren, an diesem Gemansch von Hirn, Hand, Bettel, Vorschuß, gewissenloses Garantieren für Wechsel, die mein Kopf nicht sicher einlösen kann ‒ und alles vergebens, ohne Leser, ohne den Glauben, der von außen kommt, Echo auf den Innern.210 Nachdem Roths Honorarforderungen von seinen Freunden Landshoff und Landauer auch durch ein Hin- und Herschieben zwischen Allert de Lange und Querido nicht mehr zu befriedigen waren, landete der Autor schließlich bei dem Verlag De Gemeenschap, und auch hier drohten die an ihn geleisteten Vorschusszahlungen das Unternehmen zu ruinieren.211 Wie Joseph Roth waren im Exil viele Autoren auf Vorschusszahlungen angewiesen. Siegfried Kracauer etwa verhandelte über sein Offenbach-Buch zunächst mit Oprecht in Zürich, schloss aber nicht ab, weil dieser keinen Vorschuss zahlen wollte; als Walter Landauer ihm namens des Allert de Lange-Verlags einen Vorschuss von 500 Gulden anbot, unterschrieb er sofort. Zwar hat der Verkauf dann nicht ausgereicht, den Vorschuss abzudecken, er benötigte aber schon wieder den nächsten und bekam ihn auch gegen einen Vertrag für sein bekanntes Filmbuch From Caligari to Hitler,
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Siehe hierzu Joseph Roth: Geschäft ist Geschäft. Joseph Roth: Briefe 1911–1939, S. 503. Roth, S. 506. Vgl. Roth: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit.
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das allerdings erst nach dem Krieg in englischer Sprache und 1958 in deutscher Fassung bei Rowohlt erschien. Die Vorschusszahlungen bzw. monatlichen Rentenzahlungen hatten neben dem produktionsfördernden noch einen anderen Effekt: sie begünstigten literarische Großformen, denn nur für diese, vor allem also für Romane bzw. komplette Buchprojekte, gab es Vorschuss. Nach kleineren Erzählungen und Novellen, von denen sich viele Autoren in der Weimarer Republik ernährt hatten, bestand angesichts des vergleichsweise bescheidenen Pressewesens im Exil keine besondere Nachfrage. Lion Feuchtwanger, Arnold Zweigs Mentor in Verlagsfragen, empfahl diesem daher in einem Brief vom 5. Juni 1934: »Schreiben Sie bitte, wenn ich Ihnen raten darf, wirklich recht wenig Aufsätze, und konzentrieren Sie sich auf Ihr Buch«.212 [gemeint ist: Einsetzung eines Königs. Querido 1937] Und noch deutlicher wurde er am 22. April 1936: »Machen Sie sich doch bitte nicht vor, daß das Schreiben von Artikeln, Marionettenspielen, Novellen neben der Arbeit an einem Roman auch nur marktmäßig nützlich sei«.213 Übrigens scheint die Geschäftstüchtigkeit Feuchtwangers im Exil gewissermaßen Angstblüten getrieben zu haben; Klaus Mann, der in Sanary bei ihm zum Tee geladen war, vermerkte in seinem Tagebuch unter dem 26. April 1935: »Er spricht ununterbrochen von seinen Auflagen, dem was er isst, verdient usw. Völlig desinteressiert an allem anderen!«214 Feuchtwanger ist aber nur ein Extrembeispiel für einen Prozess,215 dem auch andere Autoren unterworfen waren: Denn der Wegfall der bisherigen Verlagsbeziehungen und Einkommensquellen zwang die Schriftsteller im Exil zur Anpassung an die neuen Marktgegebenheiten, zumal sich die Situation durch die Konkurrenz und den Verdrängungswettbewerb unter Emigranten verschärfte. Briefe wie die zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth, Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, auch die zwischen Annette Kolb und René Schickele216 gewechselten geben darüber Auskunft, in welcher Intensität und Ausführlichkeit sich Autoren über aussichtsreiche Kontakte, über Verleger und deren Praktiken, über gute und schlechte Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge verständigten. Die Briefwechsel, deren Quellenwert in diesen Zusammenhängen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, dokumentieren auch die fortschreitende Hinorientierung der Autoren auf eine internationale literarische Öffentlichkeit. So lässt sich zeigen, dass die Exilschriftsteller die deutschsprachige Erstveröffentlichung in zunehmendem Maße als bloßes Sprungbrett in den Übersetzungsmarkt begriffen haben; immer öfter erschien jetzt die fremdsprachige Ausgabe noch vor der deutschsprachigen. Die Übersetzungstauglichkeit eines Buches wurde ein zunehmend wichtiges Kriterium seiner Verwertungschancen. Steigende Bedeutung gewannen im Exil dazu die Rechte für die Verfilmung eines Buches; dass man in Hollywood ständig nach geeigneten Vorlagen suchte, sprach sich rasch herum.
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Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig Briefwechsel 1933‒1958, Bd. 1: 1933‒1948, S. 50. Feuchtwanger / Zweig Briefwechsel, Bd. 1, S. 111. Klaus Mann: Tagebücher 1934‒1935, S. 103 f. Grote: Schreiben im Exil 1933‒1935. Neben den bisher herangezogenen Briefeditionen siehe auch weitere wie Annette Kolb, René Schickele: Briefe im Exil 1933‒1940. Eine Auswahlbibliographie (18.−20. Jh.) findet sich im Anhang zu Fischer: »… diese merkwürdige Verbindung als Freund und Geschäftsmann«.
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Marktorientierung in der Stoffwahl Die Rolle ökonomischer Interessen in stoffliterarischen Entscheidungssituationen lässt sich gerade in den bedrängten Verhältnissen des Exils genauer studieren, etwa an Klaus Mann. Er hatte im Sommer 1935 seinen Tschaikowsky-Roman Symphonie pathétique abgeschlossen – wie er selbst fand, eigentlich ein »autobiographisches« Werk – und war seither ständig auf der Suche nach einem neuen Sujet. In seinem Tagebuch vermerkte er am 1. Oktober 1935: »Ein neuer Roman-Stoff reizt mich. Nicht mehr der Roman der beiden Schwestern, mit dem Knaben R. in der Mitte. (Ich kann jetzt keinen modernen Roman machen, der unpolitisch wäre.)«217 Unter dem 16. November 1935 hielt er fest, Hermann Kesten habe ihm in einem Brief den Tipp für einen neuen Roman gegeben: »›Der Intendant‹, die Geschichte des Gründgens«.218 Zehn Tage darauf verspürte er »große Lust, einen KLEIST-Roman zu schreiben«,219 also nach dem Tschaikowskyroman einen weiteren Künstlerroman, und weitere vier Tage später, am 30. November, nach einem Besuch im elterlichen Haus in Küsnacht, spielte er mit dem Gedanken an einen Familienroman, der, wie er notierte, »aus Pringsheims-Manns zu machen wäre«.220 Am 21. Dezember schließlich fällt die Entscheidung: »Es wird doch wohl der Gründgens-Stoff werden…«.221 Tatsächlich hat Klaus Mann im folgenden Jahr den Gründgens-Roman Mephisto geschrieben und im Querido-Verlag veröffentlicht. Die Entstehungsgeschichte dieses bis in die Gegenwart herauf skandalumwitterten Werkes zeigt, wie der Autor einen Schnittpunkt der divergierenden Überlegungen und Interessen gesucht und auch gefunden hat: Mit Mephisto hat er in gewisser Weise einen Mannʼschen Familienroman geschrieben (denn Gründgens war sein ehemaliger Schwager, der ExMann seiner Schwester Erika); er hat in verschiedenen anderen Figuren und Themen ‒ z. B. in der homosexuellen Neigung Höfgens / Gründgensʼ – eine autobiographische Dimension eingearbeitet; er hat zugleich wieder einen Künstlerroman geschrieben, und indem er sich in Mephisto mit den psychologischen Voraussetzungen der Nazi-Herrschaft auseinandergesetzt hat, unterwarf er sich dem »Zwang zur Politik« (um die von seinem Vater Thomas Mann im Exil geprägte Formel zu verwenden). Nicht zuletzt aber hat Klaus Mann mit seiner Entscheidung für den Gründgens-Stoff den Ratschlag des Schriftstellerkollegen, Lektors und Buchmarktkenners Hermann Kesten beherzigt, einen Ratschlag, der ohne Zweifel auf die guten Absatzchancen eines solchen Buches bezogen gewesen ist. Die Entstehungsgeschichte von Mephisto illustriert in exemplarischer Weise, wie neben der spezifischen Zeitsituation auch die Gravitationskräfte des Marktes Stoff- und Themenwahl eines Autors mit beeinflussen. Bezeichnend für eine gewisse Dominanz dieser Kräfte ist die Art und Weise, in der Verlage auf die Wahl von Genre und Stoffen eingewirkt haben. So berichtet Joseph Roth in einem Brief an Mynona / Salomo Friedlaender vom 10. August 1934: »Der Verlag de Lange, dessen deutsche
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Klaus Klaus Klaus Klaus Klaus
Mann: Tagebücher 1934‒1935, S. 132. Mann, S. 144. Mann, S. 146; Hervorhebung im Original. Mann, S. 147. Mann, S. 153.
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Abteilung Herr Landauer leitet, wünscht nunmehr – so viel ich weiß – möglichst unpolitische ›unterhaltsame‹ Literatur«.222
Valutaprobleme bei der Auszahlung von Autorenhonoraren Ein für das Exil charakteristisches Problem entstand im Bereich des Zahlungsverkehrs: Aufgrund der von fast allen Ländern vorgenommenen Devisenbewirtschaftung war der Transfer von Geldern über die Grenzen hinweg oft drastisch erschwert, zuweilen unmöglich. Aus diesem Grund konnten Autoren in vielen Fällen Honoraransprüche, die sie an Verlage und Zeitschriften in anderen Ländern hatten, nicht oder erst mit starken Verzögerungen realisieren. Im September 1935 erläuterte Fritz Landshoff in einem Brief an Arnold Zweig die Problematik: Wir arbeiten fast ausschließlich mit Ländern, in denen irgendwelche schwerwiegenden Devisenschwierigkeiten bestehen. Wir sind daher genötigt, in jedem einzelnen Land eine Zentralstelle zu halten, die die Gelder an den verschiedenen Stellen einzieht und für ordnungsgemäße Devisenbeschaffung sorgt. Wir würden sonst überall »eingefrorene« Guthaben haben. Selbstverständlich ist diese umständliche Art der Geldeinziehung sehr teuer und erhöht indirekt den an sich nicht so hohen Rabatt, den wir dem Buchhandel geben. Eine zu scharfe Kürzung des Rabatts dürfen wir aber nicht vornehmen, mit Rücksicht auf die Konkurrenz des deutschen Buches. Die Kampfmaßnahmen des Propagandaministeriums werden Ihnen ja bekannt sein.223 Landshoff erläutert im Folgenden das NS-Bücherdumping und schließt die Bemerkung an: Selbstverständlich lassen wir uns durch diese Dinge nicht irritieren und überschätzen sie auch nicht. Jemand, der »Erziehung vor Verdun« haben will, wird deshalb nicht einen Roman von Blunck kaufen. Immerhin erreicht das Propagandaministerium damit einen Zweck, den Markt äußerst zu beunruhigen, und wenn dem reichsdeutschen Buch vielleicht auch daraus kein Nutzen erwächst, so schadet die Beunruhigung des Marktes auf alle Fälle wiederum unseren Büchern. […] Ich glaube, daß Sie gut daran tun würden, uns die Verwaltung der Auslandsrechte weiterhin ganz zu überlassen. Seien Sie sicher, daß alle Autoren, die das in letzter Zeit getan haben, sehr gut dabei gefahren sind. Wir haben den ausländischen Verlagen gegenüber eine recht günstige Position.224 Auch die sowjetischen Verlage sahen nur ausnahmsweise die Möglichkeit, Geld in den Westen zu überweisen. Bezeichnend ist ein Brief Wieland Herzfeldes an Willi Bredel, geschrieben in Prag am 18. August 1935: Herzfelde berichtet von den finanziellen Pro-
222 Friedlaender / Mynona: Briefe aus dem Exil 1933–1946, S. 38 (Hervorhebung im Original). 223 Brief Fritz Landshoffs an Arnold Zweig vom 19. September 1935, in: Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 241‒244; hier S. 242. 224 Landshoff, S. 242 f.
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blemen O. M. Grafs, der sich an Johannes R. Becher und Willi Bredel gewandt und nachgefragt habe, »ob man sich in Moskau (beim Staatsverlag) nicht dazu verstehen könnte, mir meine dort stehenden Honorare in Kč auszubezahlen«. Romain Rolland z. B. erhalte das Honorar für sein in der Sowjetunion erschienenes Gesamtwerk in Valuten, da wäre es nur recht und billig, wenn einem notleidenden deutschen emigrierten Schriftsteller sein weniges Geld auch in dieser Form ausbezahlt werde.225 Tatsächlich war es für die weniger prominenten parteinahen Autoren so, dass sie ihre Rubel-Honorare in der Sowjetunion gutgeschrieben bekamen und diese nur dort verbrauchen konnten. Solche Probleme gab es weltweit, auch im Westen und verstärkt in der Kriegsphase, desgleichen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. So etwa konnte Anna Seghers 1942 nach ihrem Bestsellererfolg mit Das siebte Kreuz und dessen Verfilmung das ihr zustehende Honorar (geschätzte 200.000 Dollar) nach zwei bescheidenen, einzeln genehmigten Zahlungen von 2.500 und 5.000 Dollar nur in monatlichen Zahlungen und auch diese nur in Höhe von max. 500 Dollar nach Mexiko überwiesen bekommen.226
Autorenlesungen und »lecture-tours« Die Vortragstätigkeit hatte unter Einkommensgesichtspunkten einen nicht geringen Stellenwert; zusätzlich war sie den Autoren wichtig als öffentliche Wirkungsmöglichkeit.227 In den europäischen Ländern ergaben sich allerdings nur vereinzelt solche Auftritte vor Publikum (die Veranstaltungen etwa des SDS im Exil in Paris fallen unter eine andere Kategorie); als ein Beispiel dafür kann Alfred Neumanns Vortrag am 6. November 1935 in Zürich dienen – er nahm diese Möglichkeit umso lieber wahr, als zu diesem Zeitpunkt in seinem ersten Exilland Italien öffentliche Auftritte von Emigranten nicht erlaubt waren. Eine ganz andere Dimension hatten die von einschlägigen Agenten professionell organisierten »lectures« in den Vereinigten Staaten, die meist in Form von Tourneen durch die ganzen USA oder wenigstens durch mehrere Staaten führen konnten. Diese »lecture-tours« gehörten dort in der Tat zu den Besonderheiten des öffentlichen Lebens; Klaus Mann hat dieses Phänomen, das »in anderen Erdteilen so gut wie unbekannt« sei, zu erklären versucht: Romanciers, Polarforscher, Politiker, exilierte Prinzen, Tennismeister, Religionsstifter seien im Nebenberuf »lecturers«, andere reisten sogar im Hauptberuf
225 Prag – Moskau. Briefe, S. 32. 226 Stephan: Ein Exilroman als Bestseller, S. 244 f., 251. In einem Brief an ihren Verlag Little, Brown vom 5. Oktober 1942 beklagte sich Seghers: »I am glad that arrangements are now made so that I can receive monthly this minimum sum, but at the same time, I must urge most strongly that you make every possible effort to have this monthly payment increased to the maximum. For the minimum sum does not begin to be enough to live on and to pay back the many obligations I incurred while I was getting no money whatsoever. There are many emigres around me who are allowed very much more by the month ($ 500.) and this they got only by explaining that they had lost all they had, in Europe […]«. (S. 245). 227 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller in den USA; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 455‒457.
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durch die Lande. Erwartet werde ein Plaudern möglichst in freier Rede. Die Zuhörer seien meist »Damen der mittleren und hohen Bourgeoisie, Mitglieder der berühmten ›womenclubs‹, die sich von solchen Wanderrednern zur Lunchzeit oder nach dem Dinner belustigen und belehren lassen; aber auch männliche Vereine zeigen sich ›lecture‹freudig, und es kommt selbst vor, daß man von gemischten Gruppen, Studentenorganisationen, schöngeistigen Zirkeln, religiösen Sekten, zu einem Vortrag eingeladen wird«.228 Klaus Mann kann in diesem Metier zweifellos als höchst geeignete Auskunftsperson gelten, denn er, seine Schwester Erika und natürlich auch sein Vater Thomas Mann haben das Instrument »lecture-tour« in den USA am virtuosesten gehandhabt. Angesponnen hat sich diese Praxis bereits lange vor dem Krieg, mit Reisen des Ehepaars Thomas und Katia Mann, denen aber vorerst noch Einzeleinladungen zu Vorträgen zugrunde lagen. Den ersten beiden Reisen 1934 und 1935 folgte vom 6. April bis 2. Mai 1937 eine dritte Reise, zu einem Zeitpunkt also, an dem Thomas Mann bereits als der politische Repräsentant des Exils und auch Repräsentant des deutschen Kulturerbes wahrgenommen wurde. Als solcher bekam er zahlreiche Einladungen von Universitäten und anderen Einrichtungen;229 auch sollte eine »Thomas Mann Collection« an der Yale University eingerichtet werden. Die amerikanische Öffentlichkeit schenkte damals seinen Auftritten viel Aufmerksamkeit; so wurde eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus vor einer Massenversammlung am 21. April 1937 im Rundfunk übertragen. Kurz nach seiner Rückkehr nahm der amerikanische »lecture-agent« Harold R. Peat (1893‒1960) Kontakt mit ihm auf, der von seinem New Yorker »Speakers Bureau« aus u. a. auch Winston Churchill oder H. G. Wells betreute und der nun auch Thomas Mann eine Vortragsreise vorschlug.230 Zunächst aber hielt Thomas Mann auf Einladung der Harvard Universität im Dezember 1937 – noch vor Erscheinen von Lotte in Weimar – drei Vorträge über Goethe und erhielt dafür 1.000 Dollar. In seinem Tagebuch hielt er am 11. Dezember 1937 fest: »Das Geschäft blüht oder könnte es tun«.231 So kam es dann auch: Im Februar 1938 trat Thomas Mann seine erste echte, von Peat organisierte »lecture-tour« an, die ihn – hauptsächlich mit dem Vortrag Vom kommenden Sieg der Demokratie232 – über vier Monate hinweg durch 14 große Städte in den USNordstaaten führte und ihm pro Abend 1.000 Dollar einbrachte.233 Die Veranstaltungen fanden vor großem Publikum statt, jeweils 2.000 bis 6.000 Zuhörern; unter diesen Um-
228 Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 382. 229 Thomas Mann hat im Laufe der Jahre mehrere Ehrendoktorate von amerikanischen Spitzenuniversitäten (Harvard, Yale, Princeton) erhalten. 230 Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Adolphs: Thomas Manns Beziehung zu seinen amerikanischen Verlegern, Förderern und Agenturen. Ferner: Boes: Thomas Mann’s War, bes. Kap. 4: Harold R. Peat Presents the World’s Greatest Living Man of Letters, S. 130‒154. 231 Thomas Mann: Tagebücher 1937‒1939. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: S. Fischer 1980, S. 141. 232 Auch im Druck erschienen: Thomas Mann: Vom zukünftigen Sieg der Demokratie. Zürich: Oprecht 1938 (Maß und Wert, Sonderheft). 233 Nach Boes: Thomas Mann’s War, S. 131, verdiente er bei dieser Lecture-Reise mit 15 Vorträgen in 14 Städten insgesamt 15.000 Dollar – ähnlich viel, wie er jährlich durch Buchhonorare einnahm. – Zu Thomas Manns Vortragsreisen siehe auch Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller in den USA, S. 318‒322.
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ständen war dann eine jährliche Vortragstour fortan fix eingeplant. Die darin offenbar werdenden guten Verdienstmöglichkeiten trugen zu Thomas Manns Entschluss bei, ganz in die USA zu übersiedeln, was im September 1938 auch erfolgte. Von seinem amerikanischen Wohnsitz aus unternahm er, in Begleitung Katias, noch eine ganze Reihe von »lecture-tours«, so März bis Mitte April 1941, eine weitere im gleichen Jahr vom 14. Oktober bis Ende November. Im Jahr darauf führte ihn eine Vortragsreise vom 8. November bis Mitte Dezember über Chicago nach Washington und New York und Princeton; 1943 reiste er vom 9. Oktober bis 8. November 1943 von Washington über New York bis nach Kanada. Hervorhebung verdient dann vor allem die vom 24. Mai bis 4. Juli 1945 unternommene »Jubel-Tournee«, auf der sich Vortragsveranstaltungen mit Feiern zum 70. Geburtstag Thomas Manns verbanden. Auf diesem Feld nicht weniger aktiv als ihr Vater waren Klaus und Erika Mann. Einen gemeinsamen Bezugspunkt hatten sie in einem sogenannten »Family Speech« (A family against a dictatorship), der von ihnen immer wieder vorgetragen wurde – eine bemerkenswerte Form der »Markenbildung« (und Selbstvermarktung) im Rahmen des Exils.234 Klaus Mann war schon von September 1936 bis Januar 1937 auf Tournee, nicht nur mit dem »Family Speech«, sondern auch mit dem Vortrag Germany and the World, und erneut dann ab 10. Oktober 1939.235 Er arbeitete nicht mit Peat, sondern mit William B. Feakins zusammen, dessen Agentur hunderte von »Speakers« betreute; Feakins war darauf spezialisiert, Vortragende von internationaler Reputation ins Land zu holen. Er stand im Ruf, jedem, den er als Klienten akzeptierte, erfolgreiche Tourneen garantieren zu können. Dieses Business betrieb er bereits seit Beginn des Jahrhunderts, er war also überaus erfahren. Gegenüber Klaus und Erika Mann scheint Feakins Eigenschaften eines väterlichen Freundes entwickelt zu haben; er schoss ihnen gelegentlich Geld vor236 und stellte ihnen auch seine Postadresse in der New Yorker Fifth Avenue zur Verfügung, wo er ein riesiges Büro im 36. Stockwerk eines Wolkenkratzers unterhielt. Aufschlussreich ist, wie Klaus Mann als Lecture-Routinier am 14. Juli 1938 in einem Brief an den befreundeten Ludwig Hatvany dessen Anfrage nach Vortragsmöglichkeiten in den USA beantwortet: »Ihre Idee halte ich durchaus nicht für aussichtslos. Es handelt sich darum, einen der großen lectures-Agenten zu interessieren. Es kommen eigentlich nur drei in Frage: Colston Leigh,237 Peets[!] oder Feakins. Feakins ist Erikas und mein Agent; Peets der unseres Vaters«. Klaus Mann verspricht, sich bei den beiden Agenten für Hatvany zu verwenden: Für diesen Herbst kommt eine Tournée sicher nicht mehr in Frage, da so etwas drüben sehr lang und ausführlich vorbereitet werden muß; vielleicht für den Früh234 Vgl. etwa den Brief von Klaus Mann an Katia Mann vom Oktober 1937: »Den FamilySpeech […] habe ich nun schon eine ganze Reihe von Malen exekutiert – immer mit dem nettesten success. Gestern hier in New York, Columbia-University, in einem nicht sehr großen dafür auch schrecklich überfüllten Saal. (E[rika] musste stehen)«. (Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 728). 235 Ausführlicher bei Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller, S. 315‒318. 236 Klaus Mann war aufgrund seines Hangs zu luxuriösem Leben sowie seines Drogenkonsums öfter in finanziellen Schwierigkeiten. 237 Nach Feakins war Colston Leigh Erika Manns lecture-agent; zu Leigh wechselte 1942 auch Thomas Mann, der bis dahin von Peat betreut worden war.
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3 Au t o re n ling – ich fürchte aber: erst für den nächsten Herbst. Auf eine finanzielle Garantie können Sie bei einer ersten Tournée wohl kaum rechnen. Zu erreichen müsste sein, daß der Agent Ihnen wenigstens die Reisen innerhalb der Staaten zahlt. Entscheidend ist natürlich, ob Ihr Englisch in der Tat verständlich ist; meisterhafte Aussprache wird von Ausländern nicht verlangt. Schicken Sie mir doch bitte jedenfalls nach Küsnacht eine Photographie und eine Art von kurzem Propaganda-Text – englisch ‒: etwa die Daten, die der Agent dann auf seinen Prospekten verwenden würde. […] Es wäre charmant, wenn wir uns in Kansas City, als zwei reisende Vortragskünstler, nächstens begegneten …238
Ebenso begehrt als »lecturer« war die bereits 1937 in die USA übersiedelte Erika Mann, die bis Ende der 1940er Jahre die Vortragstätigkeit zu einem Teil ihres Berufs als politische Journalistin gemacht und daraus auch einen guten Teil ihres Lebensunterhalts bestritten hat.239 Schon in ihrem ersten Vortrag am 15. März 1937 auf einer vom American Jewish Congress und dem Jewish Labour Committee organisierten Großveranstaltung sprach sie vor 23.000 Zuhörern im Madison Square Garden zum Thema »Women in the Third Reich«. Der ersten Tournee vom Herbst 1937 bis Frühjahr 1938 folgten zahlreiche weitere, von Feakins organisierte Reisen; in 50 bis 90 »lectures« im Jahr oder 4 bis 5 pro Woche suchte sie vor allem, Amerika über Nazi-Deutschland aufzuklären. Dabei waren ihre Themen durchaus vielfältiger Art und teils von politischer Aktualität geprägt (Spanienkrieg, Weltkriegsgefahr), teils auch bezogen auf ihre gemeinsam mit Klaus Mann publizierten Bücher Escape to life (1939), The other Germany (1940) oder ihre Veröffentlichungen School for barbarians. Education under the Nazis (1938),240 The lights go down (1940, eine »Docufiction« über eine deutsche Kleinstadt in der NS-Zeit) und das Jugendbuch A gang of ten (1942). Querverbindungen zu ihren Vorträgen ergaben sich auch aus ihrer Tätigkeit als Kriegskorrespondentin und aus den zahlreichen Essays, Statements und Kommentaren, die sie für Zeitungen und Magazine schrieb. Dass sie auch die US-Politik gegenüber NS-Deutschland oder die politischen Verhältnisse in den USA nach 1945 kritisierte, ließ sie ins Visier des FBI und anderer Behörden geraten, bis hin zu dem Punkt, wo öffentliche Auftritte nicht mehr möglich waren und sie, unter öffentlicher Zurücklegung ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft, nach Europa zurückging. Feakins hat in den USA auch die »lecture-tour« 1936 /1937 von Ernst Toller organisiert;241 auch Heinz Liepmann arbeitete mit ihm zusammen. Noch zahlreiche weitere Exilanten traten, hauptsächlich als Zeitzeugen mit besonderem Schicksal, in den USA als Redner auf, so der sozialdemokratische Politiker Gerhart Seger, der aus dem KZ Oranienburg entflohen war und den in 200.000 Exemplaren verbreiteten »ersten authenti-
238 Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922‒1949, S. 363 f. 239 Vgl. hierzu auch Erika Mann: Blitze überm Ozean; sowie Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller in den USA, S. 322‒326. 240 Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. Amsterdam: Querido 1938. 241 Genaueres zu Toller als Lecturer in den USA bei Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller, S. 311‒315.
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schen Bericht« darüber publiziert hatte. Er war 1933 /1934 auf rund 150 Veranstaltungen in ganz Europa aufgetreten, um die Verbrechen des Nationalsozialismus anzuprangern. Nach seiner Emigration im Oktober 1934 in die USA, wo eine (erweiterte) Übersetzung seines Fluchtberichts, von Heinrich Mann bevorwortet, unter dem Titel A nation terrorized erschienen ist,242 hat der u. a. als Journalist tätige Seger bis zu seinem Tod 1967 auf zahlreichen Vortragsreisen insgesamt 11.000 Vorträge gehalten.243 Eine Fluchtschilderung konnte auch Hans Habe seinem Publikum bieten; er war aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager in Frankreich entkommen und hat seine Erlebnisse 1941/1942 in rund 200 Vorträgen einem amerikanischen Publikum vermittelt.244 Eine politisch exponierte Stellung nahm auf seinen Vortragsreisen in den USA und Kanada (1944 sogar auf Kuba) Emil Ludwig ein, der sich 1940 in Santa Barbara niedergelassen hatte.245 Er vertrat – auf der Grundlage seines 1941 publizierten Werks The Germans. A Double History of a Nation den Standpunkt, dass Hitler und der Nationalsozialismus nicht ein Unfall der Geschichte, sondern eine logische Konsequenz aus dem deutschen Volkscharakter seien. Seine zugespitzte These, nicht eine verbrecherische Clique, sondern das gesamte deutsche Volk sei schuld an all den Verbrechen, erregte entsprechend große Aufmerksamkeit, allerdings auch den Protest der deutschen Mit-Emigranten und sogar der amerikanischen Presse. Ludwig ließ aber nicht davon ab, für das Kriegsende eine strikte Entmachtung Deutschlands und eine breit angelegte Umerziehung des Volkes mit Austreibung des Preußengeistes zu fordern. Nicht zuletzt aufgrund dieser kontrovers diskutierten Positionen wurde er immer wieder zu Vorträgen eingeladen, vom Committee on Foreign Affairs des amerikanischen Abgeordnetenhauses ebenso wie von der Militärschule Charlottesville; die dort gehaltenen Reden wurden von der Willard Publishing Company (einem von Ernst Wilhartitz* gegründeten Exilverlag) unter dem Titel How to treat the Germans publiziert. In weitaus begrenzterem Ausmaß tourten als Politiker bzw. Verfasser politischer Bücher auch Hermann Rauschning und Otto Strasser; kaum politische oder auch ganz politikferne Themen behandelten dagegen Ernst Lothar, der hauptsächlich über Österreich sprach, oder Heinrich Eduard Jacob, der in seinen Lectures von seinem Sachbuch 6.000 Jahre Brot ausging. Viele deutsche Exilanten waren in ihren Sprachkenntnissen, auch in den englischen, überaus limitiert; manche überwanden diese Barrieren mit großem Selbstbewusstsein, aber auch großem Fleiß und großer Zähigkeit; Oskar Maria Graf, der in fast dreißig Jahren USA die englische Sprache nicht erlernt hat, war wohl der einzige, der es schaffte, mehrfach Vortrags- und Lesereisen in deutscher Sprache zu absolvieren, nämlich vor kleinen Klubs demokratischer Deutsch-Amerikaner im Osten und Mittelwesten des Landes. In diesem Fall beschränkten sich allerdings auch die
242 Gerhart Seger: A nation terrorized. Chicago: Reilly & Lee 1935. 243 Über seine ersten Erfahrungen als Vortragender hat Gerhart Seger bereits 1936 berichtet (G. S.: Reisetagebuch eines Emigranten. Zürich: Europa 1936). – Vgl. auch Helmut Hartmann: Gerhart Heinrich Seger [online]. 244 Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 455. 245 Zum Folgenden siehe Schreckenberger: Vortragstätigkeit der Exilschriftsteller in den USA, S. 326‒330.
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Einnahmen daraus auf 5 bis 50 Dollar pro Abend. Graf war im Übrigen einer jener Autoren, die sich eine Aufbesserung ihrer finanziellen Verhältnisse durch Selbstverlag erhofften.
Selbstverlag Der Selbstverlag war im Exil keineswegs bloß eine letzte Zuflucht von Autoren, die aufgrund ihres geringen Bekanntheitsgrades keinen Verlag fanden; es gab noch andere Gründe dafür, sich dieser Publikationsweise zu bedienen.246 Ein prominentes Beispiel dafür gibt Oskar Maria Graf* (1894 Berg am Starnberger See – 1967 New York);247 er brachte in New York auf eigene Kosten 1939 Das bayrische Dekameron (in Fraktur!) und 1941 den Anton Sittinger-Roman als Teil der Ausgewählten Werke heraus; 1943 erschien, ebenfalls im Eigenverlag, auch sein autobiographisches Buch Wir sind Gefangene, mit dem ihm 1927 der literarische Durchbruch gelungen war, als englischsprachige Ausgabe unter dem Titel Prisoners all. Im Prager Exil hatte er keine Mühe gehabt, seine Werke entweder bei Querido oder in Wieland Herzfeldes Malik Verlag unterzubringen (Der harte Handel, Amsterdam: Querido 1935; Der Abgrund, London: Malik 1936; Anton Sittinger, London: Malik 1937). Seit Sommer 1938 im US-Exil lebend, fand er in New York jahrelang keine befriedigende Möglichkeit für das Publizieren seiner Werke und betrieb daher von allen exilierten deutschen Schriftstellern den Selbstverlag am intensivsten. Erst mit der 1945 erfolgten Gründung des Aurora-Verlags ergaben sich neue Möglichkeiten: in dem wieder von Wieland Herzfelde geleiteten Verlag erschienen Der Quasterl. Dorf- und Jugendgeschichten (1945) und der Roman Unruhe um einen Friedfertigen (1947). Graf verkaufte auch nach 1945 bei seinen populären Leseabenden seine Bücher – am meisten das Bayrische Dekameron und den Roman Bolwieser – direkt an das Publikum. Ein anderes Beispiel lieferte Paul Zech* (1881 Briesen bei Torún (Thorn, Westpreußen) – 1946 Buenos Aires), der in der Weimarer Republik ein überaus produktiver und
246 Vgl. Shin: Selbstverlag im literarischen Leben des Exils in den Jahren 1933‒1945 [online]. 247 Mit dem während einer Vortragsreise am 12. Mai 1933 in der Wiener Arbeiter Zeitung erschienenen Aufruf »Verbrennt mich!« hatte Graf großes Aufsehen erregt. Nach dem Februaraufstand 1934 emigrierte Graf von Wien aus mit seiner Lebensgefährtin Mirjam Sachs nach Brünn, und nahm als entschiedener Verfechter der Einheitsfront gegen Hitler gemeinsam mit Klaus Mann, Ernst Toller und anderen emigrierten deutschen Schriftstellern im August desselben Jahres am 1. Unionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau teil; anschließend bereiste er sechs Wochen lang die Sowjetunion. In Prag gehörte Graf neben Anna Seghers und Wieland Herzfelde zum Redaktionsstab der Monatsschrift Neue Deutsche Blätter; die Jahre im tschechoslowakischen Exil waren auch für sein eigenes literarisches Werk sehr produktiv. 1938 gelang es ihm, für sich und Mirjam Sachs ein amerikanisches Visum zu erhalten, am 26. Juli 1938 erreichten sie New York. Graf, der 1957 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, aber in Kleidung und Lebensstil stets seine bayerische Herkunft hochhielt, gehörte über drei Jahrzehnte hinweg zu den auffälligsten Erscheinungen in der deutschsprachigen Emigrantenkolonie New Yorks. – Zu Graf vgl. Recknagel: Ein Bayer in Amerika; Bauer: Gefangenschaft und Lebenslust; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1423, 1444; Drehscheibe Prag, S. 103‒109; Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher.
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mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller war. Er war im März 1933 über Wien nach Triest und von dort nach Südamerika geflüchtet; in Buenos Aires lebte er von geringfügigen Honoraren aus Veröffentlichungen in der Exilpresse (Argentinisches Tage- und Wochenblatt, Deutsche Blätter, Internationale Literatur) sowie privaten Zuwendungen und Unterstützungsgeldern US-amerikanischer Flüchtlingsorganisationen.248 Neben seinen beiden im Quadriga Verlag, Buenos Aires, erschienenen Lyrikbänden Bäume am Rio de la Plata (1935) und Neue Welt (1939) sowie dem im Editorial Estrellas erschienenen kleinen Roman Ich suchte Schmied…und fand Malva wieder (Sternen-Bücherei Bd. 2, 1941) publizierte Zech auch im Selbstverlag herausgegebene Privatdrucke in kleinsten subskribierten Auflagen.249 Es konnte unterschiedliche Gründe dafür geben, dass Autoren keine Verlage fanden oder dass sie es sogar vorzogen, Bücher im Selbstverlag herauszubringen. Ersteres traf häufig zu bei Lyrik, bei der es sich um wenig marktgängige Ware handelte, wenn nicht ein berühmter Name dahinterstand. So entschloss sich etwa Josef Luitpold Stern im tschechoslowakischen Exil, die vier Bände seiner gesammelten Dichtungen unter dem Titel Das Sternbild 1937 und 1938 in Brünn im Selbstverlag herauszubringen und Jahre später auch Die hundert Hefte (Die Gedichte eines Lebens; Brünn, Philadelphia 1944– 1947). In ähnlicher Weise hat David Luschnat 1935 in Ascona das Bändchen Aufbruch der Seele (Druckschrift No. 1) publiziert und nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris erneut zum Mittel des Selbstverlags gegriffen, bei seinen Sonetten vom Weg und Sinn. Wer im Literaturbetrieb vor 1933 und erst recht im Exil nach 1933 noch unbekannt war, musste damit rechnen, keinen Verlag für seine Werke interessieren zu können. Das galt beispielsweise für Peter Grund (d. i. Otto Mainzer, 1903 Frankfurt am Main – 1995 New York), der nach seiner Promotion zum Dr. jur. 1928 als Anwalt am Berliner Kammergericht tätig gewesen war. Nachdem ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft die Anwaltszulassung entzogen wurde, emigrierte er 1933 nach Paris und fand dort Unterstützung u. a. von André Gide, Heinrich Mann und Arnold Zweig. Das Erscheinen eines von ihm zusammengestellten Gedichtbands Der zärtliche Vorstoß. In 66 Gedichten (Paris: Les Presses Modernes 1939; 2. Aufl. 1940; Nachdruck München: Kirchheim Verlag 1986) wurde in diesem Fall durch eine Subskription ermöglicht.250 Ganz anders der
248 Aufgrund der beschränkten Veröffentlichungs- und Einkommensmöglichkeiten kam es in Südamerika vielfach zu Selbstverlagspublikationen: als ein Beispiel unter vielen sei noch genannt der Gedichtband von Hans Jahn Es geht dich an. Kommentare zur Zeit, der 1945 in Buenos Aires erschien. 249 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wäre Zech gerne nach Deutschland zurückgekehrt, doch ließ dies sein schlechter Gesundheitszustand nicht mehr zu. Den Bemühungen seines Sohnes Rolf, der in West-Berlin im selbst gegründeten R. R. Zech Verlag von 1947 bis 1960 Werke seines Vaters herausbrachte, war kein großer Erfolg beschieden; mehr Resonanz fand Paul Zech als antifaschistischer »Arbeiterdichter« in der DDR, wo der Greifenverlag von 1952 bis 1956 und nochmals in den 1980er Jahren Zechs Werke herausbrachte. Zu Zech vgl. u. a. den Teilnachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N.; Spitta: Paul Zech im südamerikanischen Exil 1933‒1946; Shin: Selbstverlag im literarischen Leben des Exils in den Jahren 1933‒1945. 250 1941 ging Mainzer in die USA. In Deutschland ist er erst spät bekannt geworden als Verfasser des Romans Prometheus, in welchem er Wilhelm Reichs Ideen zur Sexualökonomie
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Fall bei Hans Marchwitza, der weit über das kommunistische Literaturleben hinaus einen Namen hatte, aber im US-Exil eben wegen seiner KP-Vergangenheit kaum auf Zugang zur amerikanischen Verlagswelt hoffen durfte. Seine »Collections of Antifascist Poems« Untergrund und Wetterleuchten erschienen daher 1942 in New York im Selbstverlag. Nicht marktgängig waren auch Theatermanuskripte. Das Theaterstück des 1933 aus Deutschland geflüchteten begüterten Kaufmannssohnes Stefan Lackner (d. i. Ernst Morgenroth) Der Mensch ist kein Haustier erschien 1937 mit sieben Originallithographien von Max Beckmann in den Éditions Cosmopolites; da aber weitere Publikationen dieses Verlags nicht bekannt sind, dürfte es sich um eine Form des verdeckten Selbstverlags handeln.251 Auch Max Zweig brachte Die Marranen (Schauspiel in 3 Akten, Tel Aviv 1938) im Eigenverlag heraus, wobei der Druck bei A. Haase in Prag erfolgt war. Weniger ökonomische als politische Motive mochten im Spiel sein, wo es sich um die Veröffentlichung politischer Manifeste handelte, zumal solchen, in denen nonkonformistische Standpunkte vertreten wurden und die daher für Parteiverlage nicht in Frage kamen. Zum Teil handelt es sich dabei um Broschüren, die ohne großen Kostenaufwand hergestellt werden konnten. Als Beispiele können dienen Otto Lehmann-Russbüldt mit seinem Memorandum on the Case of Berthold Jacob (Leicester 1942, mit allerdings nur 4 Seiten Umfang) und seiner Schrift Wann ist der Krieg aus? Interviews im Jenseits (Leicester 1942, 45 S.), Siegfried Marck mit Freiheitlicher Sozialismus (Dijon, ca. 1936), Sonka (d. i. Hugo Sonnenschein) mit Für Recht und Wahrheit. Materialien zum Moskauer Prozeß (Prag ca. 1936) oder Irene Harand mit »Sein Kampf«. Antwort an Hitler (Wien 1935).
Hilfswerke für Schriftsteller Für in Not geratene exilierte Schriftsteller gab es eine Vielzahl von kleineren und größeren Hilfsorganisationen, manche davon getragen von jenen Autoren, die in materieller Hinsicht vergleichsweise besser gestellt waren und ihre Solidarität mit der Kollegenschaft tätig zum Ausdruck bringen wollten. Ein Beispiel dafür stellt der Thomas-MannFonds zur Unterstützung emigrierter deutscher Schriftsteller dar, der im Januar 1937 in Prag unter dem Patronat von Thomas Mann gegründet worden war252 und insbesondere in den Jahren 1938 / 39 beachtliche Wirksamkeit entfaltete. Nach dem Überfall auf die
propagierte. – Bei Roussel: Éditeurs et publications des émigrés allemands, findet sich S. 390‒392 ein Überblick über Selbstverlagsunternehmen im französischen Exil. 251 Vgl. Roussel: Éditeurs et publications des émigrés allemands, S. 390. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um den Erwerb und die Wiederbelebung eines gleichnamigen Verlags, der in Paris 1930‒1934 bereits eine (gemischte) Reihe von Titeln herausgebracht hatte. Morgenroth / Lackner (1910 Paris – 2000 Santa Barbara, Calif.) war u. a. Mitarbeiter an Leopold Schwarzschilds Exilzeitschrift Das Neue Tagebuch und hat den von ihm verehrten, damals im Amsterdamer Exil lebenden Max Beckmann durch Bildankäufe und Aufträge (mit fixen Monatszahlungen) unterstützt und später zahlreiche Bücher über ihn veröffentlicht. 252 Thomas Mann hat im November 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angenommen (wie zuvor schon sein Bruder Heinrich).
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Tschechoslowakei konnte die Organisation vielen das Leben retten, indem sie ihnen zur Flucht über die Grenze verhalf. Ein noch eindrucksvolleres Beispiel für eine erfolgreiche Hilfsorganisation war die American Guild for German Cultural Freedom (AmGuild), die von Hubertus Prinz zu Löwenstein in Verbindung mit Horace M. Kallen und George N. Shuster gegründet und am 4. April 1935 in das Vereinsregister in New York eingetragen worden ist.253 Sie hatte sich das Ziel gesetzt, das aus Deutschland vertriebene Kulturgut zu fördern, die exilierten Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler ideell und materiell zu unterstützen und zum Zusammenschluss der in Europa und Übersee Verstreuten beizutragen. Dies suchte sie zu erreichen, indem sie die amerikanische Öffentlichkeit zu Spenden aufrief und selbst durch Konzerte oder Buch- und Manuskriptauktionen finanzielle Mittel aufbrachte; auch bereitete sie die Bildung einer Deutschen Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil vor und veranstaltete ein Literarisches Preisausschreiben.254 Die AmGuild gewährte Stipendien, Arbeitsbeihilfen und in dringenden Fällen, aus einem Sonderfonds, finanzielle Soforthilfe. Außerdem verfasste sie Gutachten oder stellte Empfehlungen aus, die den Verfolgten bei Behörden oder potenziellen Arbeitgebern den Weg ebnen und insbesondere bei der Beschaffung von Visa von Nutzen sein konnten. Für die Gewährung einer Arbeitsbeihilfe mussten mindestens zwei Akademiemitglieder das Gesuch befürworten. Eine Liste »Die Stipendiaten der American Guild for German Cultural Freedom 1938‒1940« umfasst 163 Namen, von Günther Anders bis Arnold Zweig.255 Zu den Empfängern von AmGuild-Hilfsgeldern zählten Bertolt Brecht, Hermann Broch, Alfred Döblin und Oskar Maria Graf genauso wie Hermann Kesten, Irmgard Keun, Egon Erwin Kisch, Annette Kolb oder Robert Musil, Alfred Neumann, die Brüder Olden, Hans Sahl, Anna Seghers oder Paul Zech sowie noch viele weitere prominente Repräsentanten des literarischen Exils. Aufgrund der Beteiligung zahlreicher bedeutender deutscher und amerikanischer Persönlichkeiten des geistigen und kulturellen Lebens genossen die Guild und ihre Akademie hohes Ansehen. Das ständige Büro befand sich in New York, später kamen Zweigstellen in Chicago, St. Louis, Minneapolis und anderen Städten hinzu. Sie unterhielt einen amerikanisch besetzten Senat, dem u. a. Universitätspräsidenten angehörten; den Vorsitz führte der Gouverneur des Staates Connecticut Wilbur L. Cross, den Ehrenvorsitz hatte der Senator des Staates New York Robert F. Wagner; als Generalsekretär fungierte Hubertus Prinz zu Löwenstein, als dessen Stellvertreter Volkmar von Zühlsdorff von 1937 bis 1940. Die Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil, deren Gründung Prinz Löwenstein auf dem PEN-Kongress in Paris im Juli 1937 bekanntgab,256 war ähnlich gegliedert wie die Preußische Akademie; für die Klasse der Künste und Literatur
253 Dazu: Deutsche Intellektuelle im Exil. Ferner: von Zühlsdorff: Die Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil; Amann: Die ›American Guild for German Cultural Freedom‹. 254 Zum Preisausschreiben der AmGuild, initiiert von Barthold Fles, siehe den nachfolgenden Abschnitt. 255 Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 559 f. 256 Vgl. Löwenstein: Botschafter ohne Auftrag, Abschnitt »American Guild for Cultural Freedom«, S. 132‒137; von Zühlsdorff: Deutsche Akademie im Exil.
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hatte Thomas Mann das Amt des Präsidenten übernommen, später trat Sigmund Freud als Präsident der Klasse der Wissenschaften an seine Seite. Der Abteilung Literatur gehörten die bedeutendsten Vertreter der deutschen Exilliteratur an: Richard A. Bermann, Franz Blei, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Max Brod, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Leonhard Frank, Alexander M. Frey, Oskar Maria Graf, Max Herrmann-Neiße, Annette Kolb, Arne Laurin, Heinrich Mann, Robert Musil, Alfred Neumann, Rudolf Olden, Gustav Regler, Joseph Roth, René Schickele, Anna Seghers, Ernst Toller, Fritz von Unruh, Franz Werfel, Arnold Zweig und Stefan Zweig.
Literarische Preisausschreiben Literarische Preisausschreiben im Exil belegen überzeugend die Tendenz zur Wiederherstellung der gewohnten Funktionen des Buchmarktes und des Literaturbetriebs. Es war nur allzu verständlich, dass man von den spezifischen Wirkungsmöglichkeiten eines Literaturpreises auch im Exil Gebrauch machen wollte: Solche meist periodisch vergebenen und mit einer finanziellen Dotierung oder sonstiger geldwerten Zuwendung verbundenen Auszeichnungen steuern die Aufmerksamkeit des Publikums und lenken das Interesse auf einzelne Autoren und Bücher, aber auch auf bestimmte Schreibweisen und Literaturauffassungen. Sie bestätigen das öffentliche Interesse an Literatur, sind aber ebenso in der Lage, dieses überhaupt erst zu erzeugen. Häufig sind sie Instrument einer literarischen Nachwuchsförderung, oder haben kulturpolitische, unter Umständen auch im engeren Sinn politische Motive. Auf die spezifischen Aufmerksamkeits- und Lenkungseffekte von Literaturpreisen wollte das literarische, verlegerische und desgleichen das politische Exil nicht verzichten. Im Gegenteil: Die Herstellung von Öffentlichkeit betrachteten die Vertriebenen als eine zentrale Aufgabe; sie ergab sich allein schon aus dem Anspruch auf politischkulturelle Repräsentanz eines »anderen Deutschland«. Die demonstrative Auszeichnung von Werken exilierter Autoren erschien in besonderer Weise geeignet, diesen Repräsentanzanspruch zu unterstreichen. Unter den Lebensbedingungen des Exils gewann selbstverständlich die materielle Förderung von Autoren besondere Dringlichkeit, und letztlich galt das auch für die Autorenakquisition seitens der Exilverlage. Die Preisausschreiben haben zweifellos anregend auf die literarische Produktivität gewirkt; für die Entstehung und Entwicklung einer spezifischen Literaturästhetik des Exils haben sie indes, wie im Folgenden deutlich werden wird, keinen nennenswerten Beitrag geliefert.
Der Literaturpreis der Zeitschrift Internationale Literatur Die wichtigste Funktion der literarischen Auszeichnungen ergab sich von Anfang an auf der Ebene politisch-ideologischer Einflussstrategien. Die für das Exil charakteristische Einbettung der Preise in politische Kontexte wurde bereits mit dem 1933 von der in Moskau erscheinenden Zeitschrift Internationale Literatur ausgeschriebenen Preis deutlich,257 der sich in erster Linie an kommunistische Schriftsteller richtete. Dieser erste 257 Vgl. Internationales Preisausschreiben der Internationalen Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller. In: Internationale Literatur (Moskau), 1933, H. 1, S. 95. Vgl. auch Internationale Literatur 1933, H. 3, S. 112 und H. 6, S. 68.
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Literaturpreis des Exils wurde geteilt vergeben, wenig überraschend an zwei eng an die Partei angeschlossene Autoren, nämlich an Johannes R. Becher für seinen Gedichtzyklus »Der Mann, der alles glaubte«, und an Fritz Erpenbeck für Aber ich wollte nicht feige sein. Tagebuch eines Kriegsfreiwilligen.258 Von beiden Werken gab es Teilabdrucke in der Zeitschrift Internationale Literatur.259 Die Entscheidung für zwei KPD-Autoren sollte zweifellos zur Aufwertung der kommunistischen Literatur in der Öffentlichkeit beitragen. Sie war kennzeichnend noch für das sektiererische Stadium der kommunistischen Literatur- und Intellektuellenpolitik, für die damals geltende Doktrin einer Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen und auch gegenüber dem sozialdemokratischen Lager. Diese Linie wurde 1934 abgelöst von der Öffnung gegenüber allen politischen Gruppierungen, soweit sie antifaschistisch ausgerichtet gewesen sind. Die nunmehr propagierte »Volksfrontpolitik« hat sich dann gleichfalls auf die Vergabepraxis bei Literaturpreisen ausgewirkt.
Der Heine-Preis des SDS im Exil Literaturpolitische oder eigentlich parteitaktische Intentionen lagen auch dem bedeutendsten Literaturpreis des Exils zugrunde, dem vom SDS im Exil in Paris initiierten Heinrich-Heine-Preis.260 Am 25. Juni 1935, dem letzten Tag des spektakulär angelegten »Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur« in Paris, kündigte Rudolf Leonhard namens des SDS die Stiftung eines »Heine-Preises« an, mit dem »das beste unveröffentlichte Werk der schönen Literatur« ausgezeichnet werden sollte; teilnahmeberechtigt waren alle »nichtgleichgeschalteten« Schriftsteller, die vor 1933 wenigstens für einige Zeit in Deutschland gelebt hatten. Beabsichtigt war also die »Förderung des Schaffens freiheitlicher deutscher Dichter und der Verbreitung ihrer Werke in Deutschland selbst«.261 Der Preis, dessen Geldgeber ungenannt blieb, sollte alljährlich zur Verleihung kommen. Erwartet wurde von den eingereichten Texten ein eindeutiger politischer Tendenzcharakter, insofern – so hieß es in der Verlautbarung – der Preis dazu bestimmt war, »die Schmiedung einer guten antifaschistischen Waffe zu belohnen«.262 Die geistige »Patronanz« Heinrich Heines, unter die der Preis gestellt wurde, entsprach dem programmatischen Kurs der »Verteidigung der Kultur«, dem sich die internationale Kongressteilnehmerschaft verpflichtet hatte. Heine, der von den Nationalsozialisten verfemte Dichter, als Pariser Exilant ein Vorgänger und historischer Schicksalsgenosse, wurde zum »Mitkämpfer«263 stilisiert; entscheidend dabei war, dass Heine quer durch die weltanschaulichen Lager als eine Identifikationsfigur akzeptiert werden konnte. 258 Deutsche Literatur im Exil, 1933‒1945. Dokumente und Materialien, Bd. 2, S. 10. 259 Internationale Literatur, H. 2 und H. 6. 260 Zum Heine-Preis vgl. die in der Pariser Tageszeitung verstreut erschienenen Mitteilungen sowie die nachfolgend genannten gedruckten und ungedruckten Quellen. 261 Rundschau Nr. 29, S. 1448. 262 Pariser Tageblatt, 27. Juni 1935, S. 3. 263 Pariser Tageblatt, 19. Februar 1936. Heine wurde im Pariser Exil in einer Vielzahl von Artikeln und Veranstaltungen als Vorbild gewürdigt; hierzu eine Auswahl: Maximilian Scheer: Heines Grab. In: Die neue Weltbühne Nr. 30, Juli 1935, S. 952. ‒ Am 17. Februar 1936 veranstaltete der SDS einen »Heine-Abend«, Hauptredner war Rudolf Leonhard, Maximilian Scheer wurde für diesen Abend um einen entsprechenden Beitrag gebeten (NL
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Die offizielle Ausschreibung des Preises erfolgte allerdings erst nahezu ein Jahr später zum dritten Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1936.264 In den Statuten des Heine-Preises wurde bekanntgegeben: 1. Ein anonymer Stifter hat dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller, Sektion Frankreich, die Summe von Frs. 1000.− für ein Preisausschreiben übergeben. Es ist die Zahlung von je Frs. 1000.− für weitere vier Jahre in Aussicht gestellt worden. […] 2. Der Preis von Frs. 1000.− wird ausgesetzt für das beste unveröffentlichte Werk der schönen Literatur. 3. Teilnahmeberechtigt ist jeder nichtgleichgeschaltete Schriftsteller deutscher Sprache, der vor März 1933 längere Zeit im Deutschen Reiche gelebt hat, ohne Rücksicht darauf, ob er zur Zeit seinen Wohnsitz in und ausserhalb Deutschlands hat. 4. Das Preisrichterkollegium besteht aus sieben Mitgliedern des S.D.S., die vom Vorstand bestimmt werden. Für 1936 wurden bestimmt Frau Anna Seghers und die Herren Bruno Frank, Hans Arno Joachim, Ernst Leonard, Rudolf Leonhard, Hans Marchwitza, Hans Sahl. Sekretär des Preisrichterkollegiums ist Herr Ernst Leonard. 5. Kein Mitglied des Vorstandes des S.D.S., Sektion Frankreich, kein Mitglied des Präsidiums des S.D.S. ist am Preisausschreiben teilnahmeberechtigt. 6. Nichtteilnahmeberechtigt ist ferner derjenige, der bereits einen der ständig zur Verteilung gelangenden Literaturpreise erhalten hat, oder wer durch einen ständigen Vertrag mit einem bekannten Verlag als Schriftsteller als bereits »durchgesetzt« anzusehen ist. 7. Bereits bei einem Verlag angenommene Manuskripte dürfen nicht eingesandt werden. 8. Das Manuskript ist in deutscher Sprache einzureichen. Das Manuskript ist mit einem Kennwort versehen zu übersenden. Gleichzeitig ist in einem verschlossenen Kuvert, das auch mit dem Kennwort versehen sein muss, Name und Adresse des Einsenders anzugeben. […]265 Die Ausschreibung fand lebhaftes Interesse, insgesamt liefen mehr als 80 Beiträge von (überwiegend emigrierten) deutschen Schriftstellern aus England, Italien, Rumänien, der Sowjetunion, Palästina, Belgien, Österreich, Frankreich, den Vereinigten Staaten, der
Scheer, Brief Rudolf Leonhard vom 14. Februar 1936). ‒ Am 29. August 1937 hielt Robert Breuer im SDS einen Vortrag zum Thema »Die große Revolution und die deutsche Literatur« unter besonderer Berücksichtigung der Beziehung Schillers, Klopstocks, Heines und Marxʼ zur französischen Revolution. ‒ Am 19. September 1937 wurde im SDS ein Rezitationsabend unter dem Motto »Von Heine bis Heinrich Mann« veranstaltet. ‒ Vgl. auch den Artikel in der DVZ vom 19. Dezember 1937: Ein deutscher Demokrat. Zum 140. Geburtstag Heinrich Heines. – 16. Mai 1938: Heine-Abend im SDS. E. Vermeil spricht über »Heines soziale Ansichten«. – Zum generellen Thema »Heine im Exil« siehe Steinecke: Heine im Exil: »Schutzpatron« in der Emigration. 264 (anon.) Der Heinrich-Heine-Preis. Zum Jahrestag der Bücherverbrennung. In: Pariser Tageblatt, 10. Mai 1936, S. 3. 265 Pariser Tageblatt, 25. Mai 1936, S. 3.
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Schweiz und der Tschechoslowakei ein; aus Deutschland wurden zwei Arbeiten eingesandt.266 Wenige Tage nach Ablauf der Einsendefrist 31. August 1936 wurde deren Verlängerung und die Aufstockung des Preisgeldes auf Frs. 2000.− bekanntgegeben.267 Finanziert wurde der Heine-Preis offensichtlich durch den emigrierten jüdischen Bankier Hugo Simon, der vor 1933 Mitglied des Aufsichtsrates der S. Fischer-VerlagsAG gewesen war und seither mit bedeutenden Schriftstellern befreundet war; er war im Pariser Exil Mitarbeiter sozialdemokratischer Flüchtlingshilfsstellen und ab 1935 Gesprächsbeteiligter an der Bildung einer deutschen Volksfront. Wie er in einem Schreiben an den SDS-Sekretär Ernst Leonard vermerkte, habe er auf Veranlassung von Rudolf Leonhard einen Scheck über Frs. 1.000.− ausgestellt.268 Die Vielzahl der eingereichten Manuskripte und die Kommunikationsprobleme unter den Jurymitgliedern (Bruno Frank z. B. lebte im Londoner Exil, Rudolf Leonhard damals im südfranzösischen Hyères) hatten ihren Anteil an der verzögerten Abwicklung des Verfahrens, als weiteren Grund nannte Bruno Frank das »erstaunlich hohe Niveau«.269 Erst im März 1937 langte das Votum Rudolf Leonhards ein; nach Auswertung der eingegangenen Nennungen ergab sich eine überzeugende Mehrheit für den unter dem Kennwort »Flucht« eingereichten Roman, als dessen Autor sich Henry William Katz herausstellte (so nannte er sich jedenfalls später in den USA).270 Willy Katz, Jahrgang 1907, war vor seiner Emigration 1933 Mitglied der Weltam-Montag-Redaktion; seit 1924 Mitglied der SPD und Anhänger des sozialistischen Zionismus. In seinem Dankschreiben an Ernst Leonard berichtete er über seine Existenz im französischen Exil und die Entstehung des Manuskriptes: War hier u. a. Gläserspüler, Ledermäntelzuschneider, Zettelverteiler, Reisender, Übersetzer von Handelsbriefen, Lehrer der deutschen Sprache an einer Mädchenschule, versuchte es mit Versicherungen, übernahm den Vertrieb von Schiffskarten nach Palästina (vertrieb aber nichts), sammelte Zeitungsinserate, ass oft in der Heilsarmee und oft (was ich nicht vergesse) bei französischen Freunden ‒ und oft ass ich nichts; das Manuskript schrieb ich in verdammt kalten Wintermonaten in einer ungeheizten Bodenkammer und wenn ich schlapp machen wollte, habe ich mir auf einen schönen weissen Bogen immer wieder folgende Worte niedergeschrieben: »Erst fertigschreiben, dann verrecken.« Und dann kriegt man den Heine-Preis.271
266 Über die Beteiligung und die Entscheidungsfindung der Jury gibt der Nachlass von Ernst Leonard im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde detaillierte Auskunft (BArch N 2173 / alte Signatur: 90 Le 5). 267 Pariser Tageszeitung, 6. September 1936, S. 4; Die Neue Weltbühne, 3. September 1936, Nr. 36, S. 1144. 268 BA Potsdam, NL Ernst Leonard. 269 Brief Bruno Frank an Ernst Leonard vom 27. Dezember 1936, BA Potsdam, NL Ernst Leonard (90 Le 5). 270 BA Potsdam, NL Ernst Leonard (90 Le 5). 271 Brief von H. W. Katz an Ernst Leonard vom 9. Mai 1937, BA Potsdam, NL Ernst Leonard (90 Le 5).
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In dem Roman, dem Katz in der Folge den Titel Die Fischmanns gab, hat der Autor sein persönliches Schicksal als Nachkomme jüdischer Emigranten aus dem Osten Europas aufgearbeitet: Mein Buch ist ein menschliches Buch von der »Tragödie der Heimatlosigkeit«. […] Ich weiss, dass viele vor mir dieses Milieu schilderten, z. B. Joseph Roth, Perez, Schalom Asch u. a., aber keiner schrieb so bewusst als Emigrant. Ich habe den Ehrgeiz, die »ewige Heimatlosigkeit«, die »schuldlose Heimatlosigkeit« zu beschreiben.272 Mit dem weitgehend übereinstimmend gefällten Urteil des Preisrichterkollegiums hatte sich ein literarischer Qualitätsmaßstab gegen den Primat des Agitatorischen, der bei Gründung des Preises noch ganz offensichtlich gewesen war, durchgesetzt. Dennoch brachen während des Verfahrens Diskrepanzen unter den Beteiligten auf, verärgert notierte der SDS-Vorsitzende Rudolf Leonhard in seinem Tagebuch: Kaum einen Tag öffne ich die Zeitungen ohne Grund zum Ärger zu finden ‒ ich meine Ärger in Angelegenheiten, die mit meiner Arbeit und mir zusammenhängen. Dass unter den Mitgliedern der Jury des Heinepreises gerade mein Name fehlt, der ich allein den Preis ausgedacht und zustandegebracht habe, kann hingehen, wenn es nicht Absicht hat; mir sind solche Unterlassungen in letzter Zeit zu oft vorgekommen, als dass ich nicht an Absicht glauben musste. Nicht hingehn kann, dass gegen die auf meinen Vorschlag getroffene Abrede eine Liste »ehrenvoller Erwähnungen« veröffentlicht worden ist, in der nicht weniger als sieben Titel stehen (das nützt den Autoren nichts und schwächt die Wirkung des Preises), darunter das zweit- und drittschlechteste Manuskript der engeren Wahl, aber nicht das immerhin bemerkenswerteste von Alexan, und sogar eines, ein Roman von Heilbut, den ich überhaupt nicht gesehen habe!273 Die von Leonhard kritisierte Liste umfasste in der Mehrzahl Texte mit politischer Ausrichtung – hier werden Einflussnahmen sichtbar, denen das unabhängig gefällte Urteil der Jury gegenzusteuern versucht hatte. Lobende Erwähnung fanden übrigens u. a. Heimfahrt von Stefan Heym, ein Drama über den italienischen Feldzug in Abessinien, Esterwegen, ein Buch über Konzentrationslager von Ernst Goldschmidt, ein Kinderbuch von Ruth Rewald Die Kinder aus China, Meer von Ivan Heilbut, Wien von Fritz Gross und ein psychologischer Roman von Ellen Kuhn.274 Am 10. Mai 1937, anlässlich einer Kundgebung des SDS zum »Tag des verbrannten Buches«, fand die offizielle Preisverleihung an Katz statt. Eingeleitet wurde der Abend
272 H. W. Katz: Kurze Selbstbiographie. In: Pariser Tageszeitung, Nr. 345, 1937. 273 Tagebuch Rudolf Leonhard, Sign. 762, Akademie der Künste der DDR. Leonhard bezieht sich mit seiner ersteren Bemerkung über das Weglassen seines Namens auf die Veröffentlichung des Ausschreibungstextes in Das Wort, Nr. 1, Juli 1936. 274 Nach »egrt.« (d. i. Erich Kaiser): »Die Verteilung des Heinrich-Heine-Preises«. In: Pariser Tageszeitung, 12. Mai 1937, S. 5.
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mit einem Brief der »Spanienkämpfer« Alfred Kantorowicz, Ludwig Renn, Gustav Regler, Hans Marchwitza, Kurt Stern, Theodor Balk und Bodo Uhse, der von Anna Seghers vorgelesen wurde. Anschließend referierte Ernst Leonard über die Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung und die literarische Qualität der eingegangenen Texte, nicht ohne hervorzuheben, dass »die Hälfte der Arbeiten völlig unpolitisch war«.275 Am 14. Juni 1937 las dann Katz an einem der »Montagabende« des SDS aus seinem prämiierten Roman; die Pariser Tageszeitung berichtete darüber: »Die wenigen Kapitel, die der Autor las, zeigen eine starke Darstellungskunst, reiches Gefühl und vor allem einen immer wieder hervorquellenden Humor, dem auch die Selbstironie nicht fremd ist.«276 Das Buch Die Fischmanns erschien 1938 bei Allert de Lange im Druck – wobei es keineswegs einfach gewesen war, einen Verlag zu finden. In einem Brief vom 11. Juli 1937 berichtete Katz Leonard von den Schwierigkeiten, den Roman bei einem Verlag unterzubringen.277 Allert de Lange nahm ihn nur unter der Bedingung an, dafür auch die Auslandsrechte zu erhalten; für die deutsche Ausgabe allein bestand kein Interesse. Katz hatte jedoch zuvor schon dem Literaturagenten Barthold Fles die Option auf das Buch zugesichert. Es erschien dann tatsächlich eine englische Ausgabe der Fischmanns bei Constable, London, eine amerikanische Ausgabe bei Viking Press in New York.278 Übrigens suchte Katz an den Erfolg seines Romanerstlings mit einer Fortsetzung anzuknüpfen, noch im Mai 1939 las er daraus an einem SDS-Abend im Café Mephisto.279 Die Ankündigung des Heine-Preises 1937 erschien erst im Dezember 1937; die Verleihung sollte wiederum am darauffolgenden 10. Mai erfolgen, die Ausschreibung wurde Ende 1937 / Anfang 1938 in den einschlägigen Zeitungen und Zeitschriften des Exils veröffentlicht.280 Es galten die bekannten Bestimmungen, Einsendefrist war bereits Mitte Februar. Das Preisrichterkollegium setzte sich diesmal zusammen aus Egon Erwin Kisch, Klaus Mann, Ludwig Marcuse, Gustav Regler und Hans Siemsen. Allerdings gab es eine bemerkenswerte Abänderung der Statuten, indem die Einsendungen mit dem vollen Namen des Teilnehmers versehen sein mussten. Hieran lässt sich ein zunehmender Druck der Parteifunktionäre im SDS ablesen, für welche die Vergabe des vorjährigen Preises an Katz offenbar mehr eine Panne darstellte, weil sich daraus kein politischpropagandistisches Kapital schlagen ließ; der Roman war einfach nicht so prononciert antifaschistisch, wie dies die Initiatoren des Heine-Preises für wünschenswert hielten. Erneut verzögerte sich die Preisvergabe; es gibt Indizien dafür, dass es die Frontoder Pattstellung zwischen KP-Leuten und sogenannten »Freien« war, die eine zügige Durchführung des Verfahrens verhinderte. Im Sommer 1938 verlautete dann, dass die Verleihung des Heine-Preises im Zusammenhang mit den Feiern des 5-jährigen Bestehens des »SDS im Exil« im Oktober über die Bühne gehen werde; die Einsendungen seien wieder außerordentlich zahlreich gewesen, die gewissenhafte Prüfung erfordere
275 276 277 278 279 280
Ebd. Pariser Tageszeitung, 16. Juni 1937. BA Potsdam, NL Leonard. Nach einer Notiz im Neuen Tagebuch, Jg. 5, H. 50, S. 1199. Vgl. Deutsche Volkszeitung, 21. Mai 1939, S. 7; Pariser Tageszeitung, 21. / 22. Mai 1939. Pariser Tageszeitung, 19. Dezember 1937; Die Neue Weltbühne, 20. Januar 1938, Nr. 3, S. 92.
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daher mehr Zeit als vorgesehen.281 Und im September wurde überraschend mitgeteilt, dass der Heine-Preis 1937 /1938 demnächst »mit besonderer Berücksichtigung der jungen deutschen Dichter und Schriftsteller« verliehen werde.282 Am 7. November 1938 fand schließlich im Rahmen der vom SDS veranstalteten »Deutschen Kulturwoche« die öffentliche Vergabe des Heine-Preises 1937 und gleichzeitig des Heine-Preises 1938 statt. Im Namen der Jury sprachen Egon Erwin Kisch und Hans Siemsen; Rudolf Leonhard gab die Namen der Preisträger bekannt.283 Unter den mehr als 80 Einsendungen284 war die Wahl auf den jungen Lyriker Henryk Keisch gefallen für seinen Gedichtband Das Leben kein Traum (Heine-Preis 1937) und an die Schriftstellerin Elisabeth Karr für ihren Roman Alles ist ganz [sic!] umgekehrt (HeinePreis 1938).285 Der erst 25jährige Henryk Keisch gehörte zum Kreis der vom SDS in Schreibkursen herangezogenen Nachwuchsschriftsteller, die mit ihren Arbeiten ganz dem literarischen Aufbauprogramm des Verbandes entsprachen. Seine politische Lyrik, seit 1937 verstreut in Exilzeitschriften erschienen,286 legitimiere den »posthumen Waffenbruder« Heines für den Preis im besonderen Maße, hieß es denn folgerichtig in einer Würdigung des Preisträgers.287 In einem später in der DDR erschienenen Schriftstellerlexikon hieß es zu dem prämiierten Autor: »In seinem ersten Gedichtband ›Das Leben kein Traum‹ besang er in immer neuen Variationen den Traum der einfachen Menschen vom glücklichen Leben, sagte ihren Feinden ‒ den Ausbeutern, Kriegstreibern und Faschisten ‒ den Kampf an und ergriff für die spanischen Freiheitshelden Partei.«288 Keisch war denn auch in der DDR ein wichtiger Funktionär im ostdeutschen PEN-Klub. Das Manuskript des Gedichtbandes ging in den Kriegsjahren verloren. Elisabeth Karr schildert in ihrem preisgekrönten pazifistischen Roman die weltanschaulichen Kämpfe ungarischer Jugendlicher während des Ersten Weltkrieges. Karr, die ihre Heimat Ungarn 1922 verlassen musste, hatte vor ihrer zweiten Emigration 1933 in Berlin gelebt. Novellen von ihr waren in der Exilpresse erschienen. Die Deutsche Volkszeitung hob in ihrem Bericht über den Auftritt der Autorin im SDS ihre literarischen Stärken hervor: »Elisabeth Karr las aus ihrem Roman zwei eindrucksvolle Kapitel vor, die durch dialektische Schärfe, unerbittlichen Realismus, geistige Überlegenheit ausgezeichnet sind«.289 Der Roman von Elisabeth Karr (eig. Elisabeth Kádár-Karr) wurde damals nicht veröffentlicht. Ein kurzer Textausschnitt wurde abgedruckt in der Pari-
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Pariser Tageszeitung, 6. August 1938, S. 4. Verlautbarung in: Freie Kunst und Literatur, Nr. 1, September 1938. Deutsche Volkszeitung, 13. November 1938, S. 7. So Kisch in seiner Preisverleihungsansprache. Vgl. die Berichte in: Die Zukunft, 11. November 1938; Pariser Tageszeitung, 10. November 1938. ‒ Der Titel lautete später Alles ist umgekehrt. Vgl. »Die Verteilung des Heine-Preises durch den SDS«. In: Die Zukunft, 11. November 1938. Bericht in der Pariser Tageszeitung, 10. November 1938, S. 3, gezeichnet von R[obert] Br[euer?]. Art. Keisch, Henryk. In: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1, S. 451. Deutsche Volkszeitung, 13. November 1938, S. 7; der Artikel ist mit F. gezeichnet.
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ser Tageszeitung, ein Kapitel in der Zeitschrift Das Wort.290 Sowohl Keischs politische Lyrik wie auch Karrs Roman entsprachen recht genau den Vorstellungen der kommunistischen Schriftstellerfraktion, die im SDS die Fäden zu ziehen suchte. An diesem Abend im SDS erfolgte auch die Ankündigung des Heine-Preises 1939, der aber nicht mehr vergeben worden ist.291 Zu diesem Zeitpunkt war die Zersplitterung der deutschen Emigration bereits weit fortgeschritten. Schon im Dezember 1938 hatte das Jurymitglied Kurt Kersten (der Jury gehörten außerdem Alfred Kerr, F. C. Weiskopf, Balder Olden und ‒ laut Freie Kunst und Literatur ‒ sogar Franz Werfel an)292 in einem Brief an Manfred Georg ein nüchternes Bild vom Zustand der deutschen Schriftsteller in Frankreich gegeben: »Du glaubst ja nicht, wie sich Alles hier im Laufe eines halben Jahres verändert hat. […] Alles spricht hier nur von Amerika, jedes Gefühl der Sicherheit und Ruhe ist dahin, die Leute jagen sich förmlich in die Fluchtstimmung hinein«.293 Und im Mai 1939 schrieb Kersten wieder aus Paris an Manfred Georg: Ich würde so gerne südlich der Loire mich in einem kleinen Nest verkriechen, wenn ich nur die Mittel hätte […]. Ich habe alles so satt. […]. Ich kann den Leuten nicht antworten, weil ich sie doch anlügen müsste ‒ es hat mir lange, lange nichts ausgemacht, politisch faustdick zu lügen, ‒ aber man kann nicht mehr lügen, nicht ein Mal die Lüge wird mehr geglaubt ‒ wie soll das Alles nur enden.294 Die Preisrichter des Heine-Preises 1939 waren zu diesem Zeitpunkt noch in Europa, die Mehrzahl von ihnen befand sich kurze Zeit später aber auf der Flucht: Bodo Uhse gelangte im Juni in die USA, Kurt Kersten glückte erst 1940 die Flucht von Paris nach Casablanca; Alfred Kerr befand sich bereits seit 1936 in London.
Der Herder-Preis, Prag Aus einer ähnlichen Konstellation heraus wie der Heine-Preis in Paris entstand im Prager Exil der Herder-Preis, der vom »SDS in der Tschechoslowakei« vergeben wurde.295 In Prag bestand schon seit Jahrzehnten eine Ortsgruppe des Schutzverbandes deutscher
290 Elisabeth Karr: Der Wahltag. Aus dem Heinepreis-Roman: »Alles ist umgekehrt«. In: Pariser Tageszeitung, Bd. 3, 14. November 1938, Nr. 841, S. 3 (auch online zugänglich in der Sammlung Exilpresse Digital der DNB); Das Wort, Nr. 2, Februar 1939, S. 34‒44 (»Die Erfindung«). Zu Karr siehe u. a. auch Gutachten von Wolf Franck im Archiv der American Guild in DEA (OPAC Frankfurt); dort auch Gutachten von Kesten über Karr für Allert de Lange u. a. m. 291 Pariser Tageszeitung, 6. Mai 1939; Deutsche Volkszeitung, 23. April 1939 und 14. Mai 1939. 292 Freie Kunst und Literatur, 1. Jg., Nr. 4 vom Dezember 1938; dagegen nennt Das Wort, H. 2, Februar 1939, Werfel nicht mehr als Juror. 293 Brief Kurt Kersten an Manfred Georg, Paris 11. Dezember 1938 (DLA Marbach A: Georg, Zuord.nr. 75.2986 / 4). 294 Brief Kurt Kersten an Manfred Georg, Paris 31. Mai 1939 (DLA Marbach A: Georg, Zuord.nr. 75.2987 / 2). 295 Vgl. Dambacher: Literatur- und Kulturpreise, S. 80 f.; vgl. ferner Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei; Beck / Vesely: Exil und Asyl; Drehscheibe Prag.
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Schriftsteller, die 1936 von einer Fraktion kommunistischer Exilschriftsteller im Handstreich erobert und seither von dieser kontrolliert wurde; plötzlich war die Mitgliederzahl um 50 gestiegen, und mithilfe einer ausgefeilten Regie konnten jetzt verschiedene Aktionen durchgezogen werden. So trat Franz Carl Weiskopf auf der Hauptversammlung am 8. März 1936 mit dem Vorschlag zur Schaffung eines deutschen Literaturpreises hervor, der den Namen Herder-Preis tragen sollte,296 im Andenken an den Verfechter der Humanität und Völkerverständigung – und somit bestens geeignet als ein Repräsentant des bürgerlichen kulturellen Erbes. Das Preisgeld von 5.000 Kronen wurde vom Präsidenten der tschechoslowakischen Republik Edvard Beneš zur Verfügung gestellt. Am 18. Dezember 1937, dem Todestag Herders, wurde der Preis zum ersten Mal vergeben, und zwar an den sudetendeutschen Autor Joseph Mühlberger und an den Prager Lyriker und Übersetzer Rudolf Fuchs. Ehrungen wurden Thomas Mann zuerkannt (der seit Anfang 1937 mit tschechischem Pass reiste), weiterhin Heinrich Fischer, wieder ein sudetendeutscher Schriftsteller, und Weiskopf selbst wurde auch mit einer Ehrung bedacht. Sieht man von Letzterem ab, so waren die Auszeichnungen – ganz im Sinne der unter Komintern-Richtlinien betriebenen Volksfrontpolitik – Signale einer Annäherung an die nichtkommunistische Autorenschaft, zugleich der Versuch einer Immunisierung der deutschen Literatur in der ČSR gegenüber der aggressiven Volkstumspolitik der rechtsgerichteten Kreise rund um Erwin Guido Kolbenheyer.
Das Preisausschreiben der Sammlung Ein »klassisch« verlagsstrategisches Motiv lag dagegen dem ebenfalls sehr früh, bereits 1934, von der von Klaus Mann in Amsterdam bei Querido herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung ausgeschriebenen Novellenpreis zugrunde, denn hier ging es in erster Linie um die Gewinnung von Autoren, die an die Zeitschrift und im Weiteren an den Querido Verlag gebunden werden sollten. Das Preisrichter-Kollegium, bestehend aus Heinrich Mann, Bruno Frank und der Redaktion der Zeitschrift (Klaus Mann und Fritz Landshoff), konnte aufgrund der regen Teilnahme die Gewinner erst mit monatelanger Verspätung bekanntgeben; es verlieh den ersten Preis dem aus München stammenden, nach Österreich und später in die Schweiz emigrierten Schriftsteller Alexander Moritz Frey, der sich in den 1920er Jahren als Vertreter des phantastischen Romans einen Namen gemacht hatte.297 Seine Novelle Ein Mädchen mordet wurde ebenso in der Sammlung abgedruckt wie das Werk des zweiten Preisträgers Gustav Regler und vier weitere Novellen von Fritz Walter, Günther Anders, Friedrich Oberländer und Hans Sochaczewer (die ersten beiden hatten außerdem noch Geldpreise erhalten). Das Preisausschreiben trug in jedem Falle dazu bei, dass man die Seiten der Zeitschrift eine Zeit lang mit Erzähltexten füllen konnte, denen von vornherein erhöhte Aufmerksamkeit gesichert war, denn natürlich wurde die Preisträgerschaft stets eigens vermerkt. Hinsichtlich Verlagsbeziehungen der Autoren wurden ja die Karten im Exil neu gemischt: Die alten Bindungen in Deutschland waren weitgehend aufgehoben, es gab im Exil zwar einen Autorenmarkt, letztlich sogar ein Überangebot an Schriftstellern, doch musste man zuse-
296 Prag – Moskau. Brief, S. 45 f., Fn. 16. 297 Vgl. Die Sammlung 1934, S. 521.
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Abb. 4: Aus einem Werbeblatt für die Zeitschrift Die Sammlung. Am 14. Mai 1934 wird ihr Herausgeber Klaus Mann in seinem Tagebuch vermerken: »Erschreckender Berg von Einsendungen fürs Preisausschreiben. Wer alles dran will! Über was für Themen!«.
hen, die bekanntesten, die absatz- und zukunftsträchtigsten von ihnen an Land zu ziehen. Auch die attraktive Ausgestaltung einer Zeitschrift hing davon ab, zumal es sich um die Hauszeitschrift des Querido-Verlags handelte, die nicht für sich allein agierte, sondern auch Aufgaben der Autorenpflege wahrnahm. Da viele Autoren nicht allein vom Bücherschreiben leben konnten – so umfangreiche Werkpläne konnten ohne Zwischeneinkommen oft gar nicht verfolgt werden –, waren sie genötigt, auch kleinere Beiträge unterzubringen.
Der Wettbewerb der American Guild – ein Desaster Im Juni 1936 wurde von dem Emigranten Hubertus Prinz zu Löwenstein in den USA die »American Guild for German Cultural Freedom« gegründet, eine Einrichtung, die
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deutschen exilierten Schriftstellern und Künstlern Arbeitsstipendien in Amerika verschaffen sollte.298 Nach Beginn der Eroberungskriege Hitlers gewann die Guild für viele Exilanten eine lebensrettende Funktion, indem sie für die Bezahlung von Schiffskarten und Besorgung der notwendigen Papiere sorgte. Es handelte sich um eine Art Doppelinstitution, insofern sie neben ihrer Rolle als Hilfsorganisation auch kulturelle Aktivitäten setzte: In New York wurde eine Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil ins Leben gerufen,299 und 1937 beschloss die Guild die Veranstaltung eines literarischen Preisausschreibens für Schriftsteller, die aus politischen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben worden waren.300 Über den Literaturagenten Barthold Fles wurde Kontakt mit dem amerikanischen Verlag Little, Brown & Company aufgenommen. Der Verlag wollte das Preisgeld von 2.500 Dollar für die amerikanischen und kanadischen Rechte zahlen, und zwar als Vorschuss, der mit den Einnahmen verrechnet werden sollte; er behielt sich aber vor, nur dann zu drucken, wenn es Chancen auf nennenswerten Absatz gab. Diese Bedingung sollte sich als verhängnisvoll erweisen. In den folgenden Monaten schlossen sich übrigens einige europäische Verlage an,301 dadurch stieg die Preissumme nach und nach auf 5.365 Dollar. Zunächst aber wurden im April 1937 2.500 Dollar für das beste von einem Deutschen im Exil geschriebene und noch unveröffentlichte literarische Werk ausgelobt. In der Presseerklärung wurde der Preis als eine Antwort an Hitler dargestellt, der in einer Erklärung das deutsche Geistesleben für den Nationalsozialismus reklamiert hatte. Die formalen Bedingungen waren: die Werke mussten unter Pseudonym eingereicht werden und in deutscher Sprache abgefasst sowie bislang unveröffentlicht sein; ihr Umfang sollte 50.000 Wörter nicht unterschreiten und 200.000 Wörter nicht überschreiten; sie sollten – bei freier Wahl des Themas und auch des Genres (Roman, Biographie, Autobiographie, Geschichtsdarstellung oder Reise- und Abenteuerbuch) ‒ an das »große Publikum« gerichtet sein.302 In erster Linie waren die Verlage aber an einem Roman interessiert. Den Teilnahmebedingungen war ein Fragebogen beigefügt, mit dem die Guild die Teilnehmer um Selbstauskünfte zur Lebens- und speziell zur ökonomischen und künstlerischen Situation bat. Auch über die weiteren Pläne sollte Auskunft gegeben werden.
298 Vgl. Deutsche Intellektuelle im Exil, bes. S. 370‒399; von Zühlsdorff: Deutsche Akademie im Exil; von Zühlsdorff: Die Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil; Amann: Die »American Guild for German Cultural Freedom«. 299 Vgl. von Zühlsdorff: Deutsche Akademie im Exil; Amann: Die »American Guild for German Cultural Freedom«. 300 Zum Folgenden vgl. besonders Stuhlmann: Das literarische Preisausschreiben der American Guild for German Cultural Freedom 1937‒1940; Deutsche Intellektuelle im Exil, Kap.: Das literarische Preisausschreiben, S. 370‒399; Löwenstein / Zadek: Die Geschichte eines literarischen Preisausschreibens. Ferner: Akademie der Künste, Archiv, Sammlung Alfred Neumann, Berlin. 301 Aus Großbritannien William Collins Ltd., aus Frankreich Albin Michel, aus den Niederlanden A. W. Sijthoff, aus Schweden Albert Bonnier, aus Norwegen Gyldendal, aus Dänemark Gyldendalske Boghandel Nordisk Forlag, aus Polen T. W. Roj und als deutschsprachiger Exilverlag Querido in Amsterdam. 302 Prinz Hubertus zu Löwenstein: Rundschreiben an das Preisrichterkollegium für den Literarischen Wettbewerb, 12. Juli 1938. (AdK).
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Als Preisrichter wurden eingesetzt Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Alfred Neumann und Rudolf Olden; sie selbst waren von der Teilnahme ausgeschlossen, und ebenso hatte die Mehrzahl der Akademiemitglieder zugunsten der weniger prominenten Autoren auf eine Teilnahme freiwillig verzichtet. Nach Vorschlag des Generalsekretärs Prinz Löwenstein sollten zunächst die in Europa residierenden Preisrichter über alle untereinander ausgetauschten Manuskripte Gutachten verfassen, mit Rudolf Olden als Letztem in der Reihe. Danach konnten die gesammelten Manuskripte und Gutachten von Oxford – nach den damals gültigen Postbestimmungen ‒ mit Inlandstarif kostengünstig in die USA gesandt werden, um von den dort ansässigen Juroren begutachtet zu werden. Für die Endauswahl sollte jeder Preisrichter drei Manuskripte vorschlagen; das Werk, das aus dieser Liste die meisten Nennungen aufwies (mindestens aber drei), sollte den Preis erhalten. Bei gleicher Stimmenzahl sollte erneut entschieden werden. Von den am Wettbewerb beteiligten Verlagen wurde erwartet, dass ihnen sämtliche eingesandten Manuskripte zur Veröffentlichung angeboten und sie im Falle einer Publikation auch Optionen auf die nächsten zwei Bücher des Autors erhalten würden. Das Preisausschreiben stand somit entschieden im Zeichen verlegerischer Verwertungsmotive. Die Ausschreibung hatte eine ungeheure Resonanz; das gesamte literarische Exil schien auf eine solche Chance gewartet zu haben. Bis zum Einsendeschluss am 1. Oktober 1938 gingen nicht weniger als 171 Manuskripte ein,303 unter ihnen auch das nicht fertiggestellte Manuskript von Bertolt Brechts Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar, dessen Beitrag aber nicht anerkannt worden ist, u. a., weil er im Begleitschreiben die Anonymität nicht gewahrt hatte. Insgesamt wurden 35 Einsendungen aussortiert, die den formalen Kriterien nicht entsprachen. Eine weitere, von Richard A. Bermann lektorierte Vorauswahl ergab immer noch 25 Titel, die den Preisrichtern zur Beurteilung vorgelegt wurden. In diese Vorauswahl waren Autoren wie Oskar Maria Graf, Karl Otten, Robert Neumann, Alexander Moritz Frey, Oskar Baum, Ernst Weiß, Franz Blei oder Johannes R. Becher gelangt; unter den Ausgeschiedenen befanden sich Günther Anders, Hannah Arendt, Paul Zech und noch andere, damals schon prominente oder später prominent gewordene Namen. Im Mai 1939 wurde mit Stimmenmehrheit von Thomas Mann, Bruno Frank und Alfred Neumann304 der Preis dem Einsender »Mark Philippi« zugesprochen ‒ das war das Codewort, hinter dem sich der bis dahin faktisch unbekannte Autor Arnold Bender verbarg. Sein Roman Es ist später denn ihr wisst entwickelte das Thema Emigration aus einer in Schweden spielenden Liebesgeschichte heraus. Bedingt durch den Kriegsausbruch konnte das Ergebnis des Wettbewerbs erst mit Verzögerung ermittelt werden, im Herbst 1939.
303 Nach Angaben von Zühlsdorffs in einem hs. Manuskript sollen es sogar 240 gewesen sein (Archiv AmGuild). Eine in dem Band Deutsche Intellektuelle im Exil im Anhang abgedruckte Liste »Die Teilnehmer am literarischen Preisausschreiben der American Guild (soweit feststellbar)« weist allerdings nur 140 Namen auf (Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 561 f.). 304 Gegen die Stimmen von Rudolf Olden und Lion Feuchtwanger, die sich für Jo MihalySteckel bzw. Gertraute Goetze-Fischer ausgesprochen hatten. Dem Vorschlag, sich dem Votum der Mehrheit anzuschließen, folgte Olden, nicht aber Feuchtwanger.
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Was folgte, war ein Eklat: Little, Brown & Company weigerten sich, der Entscheidung zuzustimmen und das prämiierte Werk herauszubringen; der Verlag beurteilte dessen Marktchancen negativ und stieg aus der Gruppe der Sponsoren aus. Ein Argument war, dass der Misserfolg eines preisgekrönten Manuskripts (»also theoretisch des besten Buches der Emigration«) schlimmer wäre als das Schweigen. Das bedeutete klarerweise das Scheitern des Wettbewerbs, der Preisträger konnte gar nicht erst öffentlich bekanntgegeben werden, alle Beteiligten, auch die Juroren, waren bestürzt und verärgert. Der ganze Riesenaufwand war vergeblich; und nicht nur der Gewinner,305 letztlich alle 171 Autoren, die auch noch monatelang mit der Verkündung der endgültigen Entscheidung hingehalten und an der anderweitigen Verwertung ihrer Arbeiten verhindert worden waren, mussten sich düpiert fühlen. Die Guild hatte etwas in Aussicht gestellt, was sie dann nicht garantieren konnte. Thomas Mann trat von seinen Funktionen in der gesamten Guild und Akademie zurück, ebenso Bruno Frank, der den Ausgang des Wettbewerbs aus Protest öffentlich machte. Das Preisausschreiben wuchs sich zu einem handfesten Skandal aus und die Guild wurde in eine schwere Krise gestürzt, aus der sie sich nur noch für kurze Zeit wieder erholte. Arnold Benders Buch wurde Jahre später, 1943, von dem englischen Verlag Collins, London, unter dem Titel The Farm by the Lake publiziert.306
Weitere literarische Preisausschreiben im europäischen und überseeischen Exil Die 1933 im Schweizer Exil entstandene »Büchergilde Gutenberg«307 schrieb erstmals 1941 einen Romanwettbewerb aus, der 1943 und dann noch einmal – unter veränderten Bedingungen – 1946 wiederholt wurde.308 Genauer informiert sind wir über das Preisausschreiben 1943, das mit SFr. 6.000.− dotiert war und im Grunde nur auf Werke schweizerischer Autoren (Romane, Darstellungen schweizerischen Lebens in literarisch wertvoller Form, z. B. Biographien) oder auf Werke gerichtet war, die »wesentliche Einsichten in Geschichte, Volkstum und Kultur der Schweiz gewähren«.309 Das literarische Preisausschreiben war somit ganz auf die einheimischen Literaten abgestellt und schloss Emigranten explizit aus. Den Hintergrund bildete eine Schweiz, in der sich seit Beginn der 1940er Jahre eine machtvolle Bewegung der »geistigen Landesverteidigung« ausbreitete, die auch von der Büchergilde zu einem zentralen Anliegen gemacht wurde bzw. gemacht werden musste. Ihr Beitrag bestand zum einen (1942) in der Errichtung
305 Arnold Bender wurden nach öffentlichen Auseinandersetzungen, an denen an vorderster Front Bruno Frank beteiligt war, vom Vorstand der Guild im November 1939 500 Dollar ausbezahlt. 306 Transl. from the German by E. W. Dickes. Als Fortsetzungsroman gedruckt u. d. T.: Winter in Schweden. In: Die Zeitung. London 1 (1941/1942), Nr. 28‒197. – Französische Ausgabe u. d. Pseudonym Mark Philippi: Il est plus tard que vous ne pensez. Trad. de lʼallemand par Raymond Henry. Paris: Albin Michel 1948. 307 Vgl. hierzu in diesem Band das Kap. 6.4 Buchgemeinschaften. 308 Vgl. Dambacher: Literatur- und Kulturpreise, S. 112; ferner Messerschmidt: Büchergilde Gutenberg, S. 88‒91. 309 Vgl. zum Folgenden Ahrem: Ein Preisausschreiben der Büchergilde Gutenberg in der Schweiz 1943, Zitat auf S. B41.
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einer »Gildenbibliothek der Schweizer Autoren«310 und auch, bereits seit 1941, in der Veranstaltung eines literarischen Wettbewerbs. Auf beiden Schienen sollten ausschließlich junge Schweizer Autoren und damit generell die Literaturentwicklung und das nationale Geistesleben in der Schweiz gefördert werden. Damit steigerte die Gilde ihre Popularität ganz enorm; 1943 zählte sie rund 72.000 Mitglieder und war damit die weitaus größte Buchgemeinschaft im Lande. Der Wettbewerb sollte nun dazu dienen, dem Mangel an qualitativ hochstehenden Manuskripten, die in der Gildenbibliothek veröffentlicht werden könnten, abzuhelfen; insofern entsprang das Preisausschreiben also verlegerischen Intentionen. Diese Rückbindung an das Programm der Buchreihe und in letzter Instanz an die »geistige Landesverteidigung« der Schweiz erklärt auch die eingeengten Teilnahmebedingungen. Ohnehin war 1939 ein allgemeines Publikationsverbot für exilierte Autoren ausgesprochen worden, wobei sich hinter der offiziellen Begründung, man wolle Hitlerdeutschland keinen Vorwand für eine militärische Intervention geben, auch der »tiefsitzende Konkurrenzneid der Schweizer Schriftstellerkreise, verbunden mit einem generellen Gefühl des Mißtrauens gegen diese größtenteils ›vaterlandslosen‹ Linksintellektuellen« verbarg.311 Dieses Publikationsverbot und die in Einzelfällen erfolgte Bestrafung von Verstößen durch Ausweisung ließen es den Exilanten geraten erscheinen, auf eine Teilnahme unter Pseudonym zu verzichten, sodass also der Wettbewerb eine rein Schweizerische Angelegenheit blieb, selbstverständlich auch die Zusammensetzung der Jury. Die Beteiligung war erwartungsgemäß gut: 1941 wurden 41 Manuskripte eingereicht, 1943 124, und 1946 waren es 100. 1943 wurden sieben Manuskripte ausgezeichnet, den Hauptpreis erhielt Jenö Marton für den Roman Jürg Padrun. Drei der Prämiierten hatten zuvor bereits in der Büchergilde publiziert, und es ist in der Tat nur die Büchergilde Gutenberg selbst, mit der eine Verbindung hergestellt werden kann zum Thema Exil. Auch der 1936 von der englischen Literaturagentur James P. Pinker & Son ins Leben gerufene Internationale Roman-Wettbewerb kann nur eingeschränkt als exilrelevant angesehen werden. Der erste vergebene Preis ging an die ungarische Schriftstellerin Jolanda Földes für ihren Roman Die Straße der fischenden Katze, der 1937, aus dem Ungarischen übertragen von Stefan I. Klein, bei Allert de Lange herauskam.312 Es mag mit dieser Veröffentlichung und deren extrem gutem Absatz (noch im Jahr 1937 wurden 8.433 Exemplare verkauft, es war der mit weitem Abstand erfolgreichste Titel im Verlagsprogramm313) zusammenhängen, dass sich die Exilabteilung des Verlags Allert de Lange an der 1938 erneut erfolgten Ausschreibung des Internationalen Roman-Wettbewerbs direkt beteiligte, indem sie – wie elf weitere europäische und US-amerikanische
310 Bis 1946 erschienen in der Gildenbibliothek 30 Titel. 311 Ahrem: Preisausschreiben, S. B45. – Die Schweizer Autoren hatten allerdings auch weitgehend den deutschen Buchmarkt verloren und befanden sich dementsprechend in materieller Bedrängnis. 312 Bemerkenswerterweise wollte die Autorin ihren Roman über eine aus wirtschaftlichen Gründen von Ungarn nach Paris emigrierte Familie unbedingt in einem Verlag in Deutschland herausbringen; erst als dies nicht gelang, nahm sie bzw. ihr Agent Holroyd-Reece das Angebot des Allert de Lange-Verlags an. Vgl. hierzu Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 157 f. 313 Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 193. Diese Verkaufszahlen sind ein schlagender Beleg für die damalige Öffentlichkeitswirkung von Literaturpreisen.
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Verlage – ein Honorar für den Preisträger zusicherte, in diesem Fall »75 Pfund Sterling à conto einer Tantieme von 8 Prozent«.314 Dies galt natürlich nur für eine deutschsprachige Ausgabe; zum Vergleich: für die Buchrechte im britischen Empire und Kanada boten Nicholson & Watson Ltd. 1.000 Pfund Sterling à conto einer Tantieme von 10 Prozent, für die amerikanischen Buchrechte Farrar & Rinehart, Inc. 5.000 Dollar /10 Prozent, für eine französische Ausgabe Albin Michel 15.000 Frs /10 Prozent usw. Der Wettbewerb gewann seine Bedeutung hauptsächlich durch diese garantierte internationale Verbreitungsmöglichkeit; eine detaillierte Teilnahmeerklärung dokumentiert dieses gemeinsame ökonomische Interesse von Autoren und Verlagen.315 Publikationschancen hatten auch die nicht preisgekrönten Manuskripte, insofern sie den Verlagen zur Veröffentlichung angeboten werden mussten. Für jedes teilnehmende Land bzw. jeden Sprachkreis war ein Schiedsrichter für die Auswahl des jeweils besten Manuskripts vorgesehen, die endgültige Entscheidung war einem Komitee vorbehalten, das aus einem Briten (Frank Swinnerton als Vorsitzendem), einem Amerikaner (John Beacroft) und einem Franzosen (Gaston Rageot) bestand. Verständlicherweise suchte Walter Landauer einen (Haus-)Autor seiner Wahl ins Rennen zu schicken; sein Plan, Hermann Kesten, Lektor des Verlags, mit dem Manuskript von Die Kinder von Gernika zu nominieren, wurde jedoch von diesem selbst abgelehnt; er wollte die Publikation seines Romans aufgrund der Aktualität des Stoffes sofort vornehmen und ihn nicht erst monatelangen Begutachtungsvorgängen unterwerfen, zumal er auf die Einkünfte daraus dringend angewiesen war. Von den bis März 1939 an den Verlag eingesandten Manuskripten – es waren dies mehr als 70! – schien Walter Landauer kein einziges wirklich geeignet, um für den Wettbewerb eingereicht zu werden; dies galt auch für Arthur Koestlers Spartacus-Roman. Jene Autoren, die er gezielt auf die Vorlage eines Manuskripts ansprach, wie Hans Natonek oder Robert Neumann, konnten nicht liefern; letztlich galt das auch für den von Landauer favorisierten Ulrich Becher. Eingereicht wurde von ihm schließlich – auf Empfehlung seines Kollegen Fritz Landshoff vom Konkurrenzverlag Querido – Bernard von Brentanos Roman Die ewigen Gefühle, eine in Berlin und Salzburg spielende Liebes- und Ehegeschichte eines Rechtsanwalts. Ein für die deutsche Exilliteratur repräsentatives Werk war dies sicherlich nicht, die Erfolgschancen waren für deutschsprachige Schriftsteller aber ohnehin äußerst gering. Immerhin gewann Bernard von Brentano einen zusätzlich ausgeschriebenen Länderpreis.316 Zum Hauptpreisträger gekürt wurde dann Robert David Quixano Henriques mit No arms no armour, eine Kritik an den Zuständen in der britischen Armee zwischen den Kriegen, die in deutscher Übersetzung von Franz Fein unter dem Titel Ohne Waffen ohne Wehr vereinbarungsgemäß im Verlag Allert de Lange herauskam, und zwar im Mai 1940 als der letzte Titel der Exilabteilung des Allert de Lange Verlags.
314 Schoor, S. 216 f., vgl. zum Folgenden bei Schoor das Kapitel »Exkurs II: Allert de Lange und der Internationale Romanpreis 1938 / 40«, S. 216‒225. 315 Diese 21 Punkte umfassende Teilnahmeerklärung ist im vollen (deutschen) Wortlaut abgedruckt bei Schoor, S. 218‒220, Fn. 647. Ein wesentlicher Punkt war: Die Manuskripte mussten in englischer Sprache eingereicht werden. 316 Hessler: Bernard von Brentano (1901‒1964). Ein deutscher Schriftsteller ohne Deutschland, S. 218.
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Wissenschaftliche Zwecke verfolgte ein 1939 /1940 von der Widener Library der Harvard University ausgeschriebener Wettbewerb, bei dem die beste unveröffentlichte Lebensbeschreibung zum Thema »Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933« gesucht wurde. Er richtete sich an nicht-professionelle Autoren; die Ergebnisse sollten als Materialsammlung für eine »Untersuchung der gesellschaftlichen und seelischen Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk« dienen.317 Eine Veröffentlichung der eingesandten Biographien war nicht beabsichtigt. 1944 schrieb die jüdische Emigrantenzeitschrift Aufbau in New York einen Preis für die beste Kurzgeschichte aus, in welcher die emigrierten Autoren anlässlich der Feier des »Citizen Days« dokumentieren sollten, wie tief sie »in die amerikanische Lebensauffassung eingedrungen« seien.318 Ebenfalls einen Kurzgeschichtenwettbewerb veranstaltete die in New York gegründete Kulturvereinigung der deutschsprachigen Emigranten »Die Tribüne«, bei dem unter anderen Hans Marchwitza, Fritz Zorn und Günther Anders ausgezeichnet wurden.319 Im Oktober 1945, Monate nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, schrieb die deutschsprachige Kriegsgefangenenzeitschrift Der Ruf, die im Lager Fort Kearney in Rhode Island unter der Redaktion von Gustav René Hocke und Alfred Andersch herauskam, einen literarischen Wettbewerb aus:320 Romane oder Werke vergleichbaren Umfangs sollten bis Anfang Mai 1946 eingereicht werden, dem Gewinner winkte nicht nur ein Geldpreis (RM 3.000321), sondern auch die Publikation des Manuskripts in deutscher und englischer Sprache. Wie es hieß, wurde der Wettbewerb von einem »international bekannten Verlag« durchgeführt – dahinter verbarg sich kein anderer als der BermannFischer Verlag, der ja auch sonst die deutschen Kriegsgefangenen mit Literatur versorgte, insbesondere mit der Bücherreihe »Neue Welt«. Gewinner des Wettbewerbs war Walter Kolbenhoff mit dem während der Gefangenschaft verfassten Roman Von unserem Fleisch und Blut, der 1947 im Stockholmer Bermann-Fischer Verlag im Druck erschien. Die Geschichte der im Exil vergebenen Literaturpreise bleibt so überwiegend eine Geschichte enttäuschter Erwartungen ‒ nichts Ungewöhnliches in diesem Feld, ebenso wenig ungewöhnlich wie die Versuche, die Preise für verdeckte Zielsetzungen zu instrumentalisieren und sie zur Erweiterung von Einflusssphären zu nutzen. Insofern belegen diese Literaturpreise die Tendenz zur »Normalisierung« des Literaturbetriebs im Exil. Dramatischer als sonst waren aber die subjektiven Motive der Teilnehmer an den Wettbewerben: In einer Lebenssituation, die oft genug von materieller Not und unfreiwilligem Verstummen geprägt war, richteten viele von ihnen ihre ganze Hoffnung darauf, durch eine öffentlich akklamierte Buchpublikation festen Grund unter den Füßen zu bekommen.
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Vgl. Garz / Lee: »Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933«. Vgl. Aufbau (New York), vom 7. April 1944, S. 3, und 19. Mai 1944, S. 1 f. Vgl. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 173. Nawrocka: Verlagssitz, S. 166. Nach den Angaben bei Nawrocka war ein zweiter Preis mit RM 1.500 dotiert.
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Buchherstellung und Buchgestaltung
1933: Bruch und Kontinuität Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatte die Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Buches eine außerordentliche Dynamik erfahren. Das Interesse an sorgfältiger Wahl der Schriftart, an künstlerisch anspruchsvoller Ausstattung, an qualitativer Hebung der technischen Herstellungsverfahren war in vielfältigen Zusammenhängen wach geworden, ein vielstimmiger schrift- und buchästhetischer Diskurs hatte eingesetzt und ließ nicht nur Spitzenleistungen im Bereich bibliophiler Drucke entstehen, sondern brachte auch gediegene und geschmackvolle Formen des Gebrauchsbuchs hervor.1 Der gewaltige innovatorische Schwung, der die Entwicklung in allen Bereichen der buchgestalterischen Arbeit kennzeichnete, kristallisierte sich im Begriff der »Buchkunstbewegung«, einer Bewegung, die sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestierte und in unterschiedlichste Einzelphänomene auffächerte. Dreizehn Jahre nach der Bugra 1914 in Leipzig,2 die eine erste machtvolle Demonstration des Aufschwungs im Buch- und Graphikgewerbe werden sollte, aber vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überschattet wurde, gingen von der Internationalen Buchkunst-Ausstellung (IBA) 1927 in Leipzig als einer erneut groß angelegten, vier Monate geöffneten Ausstellung wichtige Impulse aus. 60.000 Besucher kamen zu der Ausstellung, an der sich 21 Länder beteiligt hatten, u. a. die Sowjetunion, die USA und Japan, mit dem Effekt, dass nun auch auf dieser Ebene die außenpolitische Isolation, in welche Deutschland mit dem Weltkrieg geraten war, überwunden werden konnte. Es war die erklärte Absicht der Ausstellung, »eine geschlossene Übersicht des neuzeitlichen buchkünstlerischen Schaffens zu geben«; gezeigt wurden daher seit 1914 entstandene Spitzenleistungen des buchgraphischen Gewerbes, Pressendrucke, Luxus- bzw. Liebhaberdrucke, Vorzugsausgaben, aber auch das sorgfältig gestaltete Gebrauchsbuch. Auf Vorschlag des Organisators Hugo Steiner-Prag wurde nach Schließung der Ausstellung eine Anzahl von Exponaten angekauft und zum Grundstock einer »Deutschen Buchkunst-Stiftung« zusammengestellt. Diese von der Deutschen Bücherei beaufsichtigte Stiftung wiederum wurde zur Keimzelle des Wettbewerbs der 50 schönsten Bücher, der – nach internationalen Vorbildern ‒ erstmals 1930 (für Bücher des Jahrgangs 1929) abgehalten worden ist. Unter den im ersten Wettbewerb ausgezeichneten Werken befanden sich neben einem Band der Rilke-Ausgabe der Cranach-Presse u. a. neun Bücher des Insel Verlags, aber auch Titel des Malik-Verlags und der Büchergilde Gutenberg. Die institutionelle Verankerung der Buchkunstbewegung bezeichnet einen Höhe- und zugleich auch schon Endpunkt der Entwicklung: Die Auswahl der 50 schönsten Bücher des Jahres 1932 wurde im März 1933 zwar noch vorgenommen, die öffentliche Bekanntgabe des Ergebnisses, die wie gewohnt für den Tag des Buches, den 22. März, vorgesehen war, wurde aber »mit Rück-
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Zur Buchkunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vgl. die Überblicksdarstellungen von Schauer: Deutsche Buchkunst 1890 bis 1960 (mit ausführlicher Bibliographie in Bd. II); Internationale Buchkunst im 19. und 20. Jahrhundert; Eyssen: Buchkunst in Deutschland; Vom Jugendstil zum Bauhaus; Buchgestaltung in Deutschland 1900‒1945. Vgl. hierzu: Die Welt in Leipzig.
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sicht auf die politischen Verhältnisse zunächst verschoben und unterblieb schließlich ganz«.3 Die tatsächlichen Gründe dafür lagen in der beabsichtigten Prämiierung von Büchern, an denen jüdische und sozialdemokratische Autoren, Verleger oder Drucker beteiligt waren; öffentlich sollte als Begründung jedoch ein »Rückgang der buchkünstlerischen Leistungen« angegeben werden. Der Wettbewerb wurde im Dritten Reich nicht fortgesetzt. Der behauptete Rückgang der buchkünstlerischen Leistungen fand in der Folge tatsächlich und in eklatanter Weise statt. Ursache dafür war die ideologische »Gleichschaltung« und »Säuberung« aller Einrichtungen zur Pflege der Buchkunst und Typographie; die Entlassung aller, die für die Ausübung einer Kulturtätigkeit im neuen Deutschland nicht die nötige »Zuverlässigkeit« aufwiesen und Opfer rassistischer oder politischer Verfolgung wurden; die Schließung oder »Arisierung« zahlreicher Verlage und Buchgemeinschaften; die Entfernung jüdischer Mitglieder aus den Bibliophilenvereinigungen und in einigen Fällen deren vollständige Auflösung; die öffentliche Brandmarkung »entarteter Kunst« und die daraus folgende Verfemung von Künstlern, unter ihnen auch zahlreiche Buchillustratoren; schließlich die Vertreibung der politisch missliebigen oder als »undeutsch« diffamierten Buchgestalter, Typographen und Illustratoren aus Deutschland und 1938 auch aus Österreich – sicherlich an oder um die 200 Vertreter dieser Metiers, unter ihnen Schlüsselfiguren aus allen Bereichen, wie allein schon die Namen von Jan Tschichold, Herbert Bayer, Georg Salter, John Heartfield oder Hugo SteinerPrag deutlich machen. »Das Dritte Reich bedeutet für die deutsche Buchkunst den fast vollständigen Bruch mit der Entwicklung der ersten dreißig Jahre des Jahrhunderts«.4 Das bündig formulierte Urteil Hans Peter Willbergs vergegenwärtigt die ungeheuren Verluste, die mit der Vertreibung dieser großen Anzahl der begabtesten Vertreter der Buchkunst und Buchgestaltung verbunden gewesen sind. Ein »fast vollständiger Bruch« war es ohne Zweifel, wenn man bedenkt, dass vor allem jene vertrieben worden sind, die mit ihrer Kreativität und Innovationskraft dafür gesorgt hatten, dass Buchkultur und Buchästhetik in diesem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine so außerordentlich dynamische Entwicklung genommen hatten.5 Das Faktum aber, dass eine Vielzahl von
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Protokoll der 4. Sitzung des Vorstandes der Deutschen Buchkunststiftung vom 20. März 1934, zit. n. Kapr: »Kulturskandal in der deutschen Bücherei«, S. 33. Willberg: Zur Situation der Buch- und Schriftkunst in den zwanziger Jahren, S. 59. Gerade die progressiven Künstler wurden als Repräsentanten der sogen. »entarteten Kunst« von den Nationalsozialisten mit besonderem Hass überzogen. Systematisch verfolgt wurde allerdings nicht die künstlerische Avantgarde als solche. Wie Rosamunde Neugebauer nachgewiesen hat, gehörten nur relativ wenige Künstler, die das Dritte Reich verlassen mussten, zu der »heute als Avantgarde bezeichneten Künstlerschaft, welche 1937 auf der Ausstellung ›Entartete Kunst‹ und deren Vorläufern (seit 1933) diffamiert« worden war (Neugebauer zählte 28 von 109, also rund ein Viertel). Zieht man den Kreis etwas weiter, reduziert sich der Anteil der Künstleremigranten, die unter das ästhetische Verdikt des Nationalsozialismus fielen, auf 15 bis 20 Prozent: »Es ging weder der deutsche Expressionismus und Dada, noch Surrealismus und Konstruktivismus oder der Verismus geschlossen ins Exil (oder ins KZ) – im Gegenteil: die meisten bleiben im Lande.« Demnach waren also die allermeisten Künstler (und so auch die Buchkünstler und Buchgestalter) Opfer rassistischer oder politischer Verfolgung und nicht einer Verfolgung aus ästhetischen Gründen. Tatsächlich repräsentieren
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diesen Hochbegabten ihre Tätigkeit im Ausland meist erfolgreich fortsetzte, ließ wiederum – außerhalb des Dritten Reiches – beachtenswerte Kontinuitäten entstehen.6 In der Tat haben so gut wie alle vertriebenen Buchgestalter versucht, in ihren jeweiligen Zufluchtsländern wieder in ihrem angestammten Metier tätig zu werden; den meisten gelang es auch. Ein Teil von ihnen fand eine Anstellung in einem ausländischen Verlag, andere arbeiteten für Exilverlage, indem sie eine schon vor 1933 bestehende Zusammenarbeit fortsetzten oder neue Beziehungen anknüpften. Die Exilverlage versicherten sich der Mitarbeit emigrierter Buchgestalter umso lieber, als sie darin die Chance sahen, mit sorgfältig und funktionell gestalteten Büchern ihrer historischen Verpflichtung zur Rettung und Bewahrung kultureller Werte nachkommen zu können. Was die Exilverlage in dieser Hinsicht leisten konnten, hing allerdings unmittelbar mit ihren Entstehungsumständen zusammen: Von Exilanten in einem Asylland neugegründete Firmen mussten meist ganz von vorne beginnen, hatten vielerlei Schwierigkeiten zu überwinden und waren in ihren Möglichkeiten entsprechend eingeschränkt (wie Malik in Prag oder später El Libro Libre in Mexiko oder Aurora in New York). Wenn dagegen im Ausland bestehende Verlage ihr Programm den emigrierten Autoren öffneten (wie bei Emil Oprecht) oder Abteilungen bzw. Zweigverlage eingerichtet wurden, die sich auf die Publikation deutschsprachiger Exilliteratur spezialisierten (wie dies bei den Amsterdamer Verlagen Allert de Lange und Querido der Fall war), konnte in Herstellung und Vertrieb auf einen eingespielten Apparat und meist auch auf größere finanzielle Ressourcen zurückgegriffen werden. Auch hing vieles davon ab, ob Verlage im Hintergrund Unterstützung durch politische Organisationen erhielten (wie – jedenfalls anfänglich – Willi Münzenberg mit den Éditions du Carrefour und verschiedene andere Parteiverlage des linken Spektrums), im Rahmen sozialistischer Planwirtschaft entstanden (wie die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in Moskau und Leningrad) oder private Geldgeber fanden (etwa Gottfried Bermann Fischer mit Bonnier in Schweden). Mit diesen spezifischen Entstehungsvoraussetzungen der Exilverlage waren auch Vorentscheidungen über das Ausstattungsniveau der Bücher verbunden. Vorentscheidend war in dieser Hinsicht auch der Standort: die Niederlande, England, die Schweiz, teilweise auch Frankreich und die USA boten hier markant andere Voraussetzungen als etwa Palästina oder Mexiko. Wenn unter diesen Umständen für einen beträchtlichen Teil der im Exil erschienenen Bücher Schlichtheit der Ausstattung zu einem Charakteristikum wurde, so hatten einige Exilverlage doch den Ehrgeiz, das aus Deutschland gewohnte Erscheinungsbild des Buches wieder zu erreichen. Die Motivation, die hinter dieser mit demonstrativer Sorgfalt hergestellten Buchproduktion stand, hat Stefan Zweig im September 1938 in einem Brief aus London an Walter Landauer vom Amsterdamer Allert de Lange-Verlag zum Ausdruck gebracht mit der Feststellung oder vielmehr der Forderung: »nie war die Präsentation eines Buches von so entscheidender Bedeutung als
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die exilierten Buchgestalter die gesamte Bandbreite ästhetischer Positionen. Neugebauer: Avantgarde im Exil?, bes. S. 35. Vgl. zum gesamten Kapitel das vom Vf. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Exilarchiv zusammengestellte Ausstellungsbegleitbuch Buchgestaltung im Exil 1933‒1950. Dort auch zusätzliche Abbildungen sowie weiterführende Literaturhinweise zu allen hier genannten exilierten Buchgestaltern, Illustratoren und Typographen.
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4 Bu c h he r st e ll u n g u n d B u ch g e st a lt u ng
jetzt«.7 Zweig bezog sich nicht nur auf die besseren Absatzchancen des gut ausgestatteten Buches, sondern auch darauf, dass sich gerade im Medium Buch das Selbstbewusstsein, die Identität des Exils dokumentiere. Hier war ein Bereich gegeben, wo man dem nationalsozialistischen Deutschland Paroli bieten konnte – nicht mengenmäßig, aber unter Qualitätsaspekten. Wie ein Buch sich physisch präsentierte, vom Umschlag bis zur typographischen Einrichtung, von der Papier- bis zur Druckqualität, konnte daher nicht als ein vernachlässigbarer Nebenaspekt betrachtet werden. Die Bücher des Exils sollten, wo immer es möglich war, schon äußerlich davon Zeugnis ablegen, dass die wahre deutsche Kultur ungebrochen fortlebte, auch wenn in Deutschland selbst die Kulturbarbarei triumphierte. Das Gediegene der Ausstattung gewann damit ein politisches Moment von Selbstbehauptung und Widerstand. Die besten Voraussetzungen für eine solch qualitätvolle Produktion hatten ohne Frage die Amsterdamer Exilverlage Querido und Allert de Lange, zumal sie personell an den Gustav Kiepenheuer Verlag und technisch an die soliden holländischen Traditionen des Buchdrucks und der Buchherstellung anknüpfen konnten. Für den Querido-Verlag hat sein Leiter Fritz H. Landshoff diesen Anspruch auch explizit zum Ausdruck gebracht: »Der Ausstattung der Bücher wurde große Aufmerksamkeit gewidmet. Der holländische Verlag war seit eh und je für sorgfältigste und geschmackvollste Ausstattung berühmt. Der deutsche Verlag – auch in dieser Hinsicht der Tradition des Kiepenheuer Verlages folgend ‒ wollte ihm nicht nachstehen.«8
Technische und logistische Herstellungsprobleme Für die technische Herstellung von Büchern fanden die Exilverlage sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen vor. Der Querido Verlag in Amsterdam ließ fast alle Bücher in den Niederlanden drucken, mit dem Satz deutschsprachiger Bücher gab es dort keine Schwierigkeiten. Fritz Landshoff betonte in seinen Erinnerungen die guten Erfahrungen mit dem Unternehmen, mit dem er hauptsächlich zusammenarbeitete: »Die Setzerei von Thieme war – vielleicht wegen der nur wenige Kilometer entfernten Grenze – im fast fehlerfreien Satz der deutschen Sprache den besten Leipziger Druckereien ebenbürtig. Die Schnelligkeit der Arbeit war erstaunlich und für heutige Begriffe unvorstellbar.«9 Anders war es bereits in Schweden, wo Gottfried Bermann Fischer das Korrekturlesen als eine »Tortur« erlebte, eben weil die Setzer die deutsche Sprache nicht beherrschten; es habe viele Jahre gedauert, »bis diese teuflischen Fehler aus den schwedischen Ausgaben vollständig eliminiert werden konnten.«10
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Brief Stefan Zweigs an Walter Landauer vom 2. September 1938, hier zit. n. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 68. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 90. Zur konkreten Umsetzung dieses Anspruchs und zur Beschäftigung herausragender Buchgestalter siehe in diesem Kapitel weiter unten. Landshoff, S. 91. In der Druckerei Thieme tauchten nach dem Krieg beträchtliche ungebundene Bestände von Querido-Büchern auf, die entgegen den Befehlen der deutschen Besatzer nicht vernichtet worden waren. Bermann Fischer: Bedroht ‒ bewahrt, S. 192. Eine Fehlerquelle war technisch bedingt: »Da nur Linotype-Setzmaschinen zur Verfügung standen, mußte bei jedem Druckfehler[!] immer
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In vielen Fällen wurden die Bücher aus Kostengründen nicht am Verlagsort gedruckt, selbst bei Allert de Lange ließ die Exilabteilung seit 1936 die Bücher in den weitaus preisgünstigeren Druckereien in der Tschechoslowakei und Ungarn herstellen: Schon im September 1935 hatte man sich aber – auf der Suche nach billigeren Herstellungsmöglichkeiten – auch in der ČSR umgesehen und in den folgenden Jahren dem Druck- und Verlagshaus Karl Prochaska (Český Tĕšin), den Firmen Pressa (Schl.-Ostrau), Julius Kittls Nachf. (Mährisch-Ostrau) und Rudolf M. Rohrer (Brünn) Druckaufträge erteilt. 1937 wurde schließlich die Mehrzahl aller deutschen de Lange-Bücher in der ČSR bzw. der Hungária-Druckerei in Ungarn hergestellt. Nach der Annexion der ČSR 1938 / 39 verlagerten sich die Druckorte erneut in die Niederlande, wo Allert de Lange seit 1939 vorwiegend in der Druckerei v. h. G. J. van Amerongen N. V. in Amersfoort drucken ließ.11 In der Tat ist es aufschlussreich, die Druckvermerke in den Exilpublikationen genauer zu studieren; hier begegnen die abenteuerlichsten Varianten. Die Herstellung und auch die Verbreitung der Verlagsprodukte funktionierten vielfach nur, weil die Verleger schwierige Situationen durch besonderen Einfallsreichtum meisterten. Gerade die Auslagerung der Produktion brachte erhebliche Transportprobleme mit sich – Probleme, die oft nur durch ausgefeilte Logistik gelöst werden konnten. So etwa hat Bermann Fischer vom schwedischen Firmensitz aus einen Band von Thomas Manns Josephs-Roman auf spanischem Papier in Ungarn drucken und dann in Holland binden und ausliefern lassen. Auch an der Ausgabe 1943 von Joseph, der Ernährer, die im Impressum als Erscheinungsort Stockholm, als Druckort aber »Printed in the United States« trägt, werden die Probleme offenbar: Der Einband mit beschichtetem Leinen passt nicht zu den anderen Bänden der Serie. Bermann Fischer klagte rückblickend über die Folgen dieser Beschaffungsprobleme: »Zunehmende Schwierigkeiten in der Papierbeschaffung und die Unmöglichkeit, die gewünschten Papierqualitäten und -stärken zu bekommen, zeitigten besonders in den späteren Jahren Buchausgaben, die unseren Ausstattungsvorstellungen nicht entsprachen. Die erste Auflage des ersten Bandes der Hofmannsthalschen Gesamtausgabe mußte auf einem viel zu dicken Papier gedruckt werden und war ein Monstrum an Umfang. Aber das alles mußte hingenommen werden.«12 Bermann Fischer beklagte aber auch die durch lange Postwege entstehenden Verzögerungen; so etwa musste Thomas Manns Manuskript zu Lotte in Weimar im Herbst 1939 von Princeton »per Clipper« zunächst an einen Schweizer Legationsrat nach Lissabon geschickt werden, von dort ‒ zur Vermeidung eventueller Zensurschwierigkeiten in Frankreich ‒ »par avion und eingeschrieben« über Madrid / Barcelona und Italien nach Bern. Ein Gewährsmann sollte es von dort »express und eingeschrieben« über Deutschland an das Schweizer Konsulat
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eine ganze Zeile aus dem Satz genommen werden, um einen falschen Buchstaben zu korrigieren, was immer neue Fehler zur Folge hatte.« (ebd.). Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 69. Bis 1935 arbeitete Allert de Lange mit der Druckerei L. E. Bosch & Zoon in Utrecht zusammen, 1935 auch mit der N. V. van de Garde & Co’s Drukkerij in Zaltbommel und der Fa. J. H. de Bussy in Amsterdam. Schoor, S. 69.
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in Stockholm weiter senden; von dort aus würde es dem Verlage sofort übermittelt werden, damit das Manuskript noch in letzter Stunde in Druck gehen könne: »Es geht um Tage und Stunden.«13 Ebenso riskant wie die Beförderung der Manuskripte, von denen damals häufig nur ein Exemplar existierte, war in vielen Fällen der Transport der fertig ausgedruckten Bücher an den Verlags- oder Lagerort, denn gelegentlich erfolgte dieser Transport in plombierten Waggons quer durch Deutschland. Von den USA berichtete Bermann Fischer dagegen, dass der Umgang mit den Druckereien und Bindereien dort problemlos gewesen sei: Sie hatten erfahrene Fachleute, die kleineren Verlagen, die keine eigene Herstellungsabteilung unterhielten, die Sorge um Papierbeschaffung und Druckgestaltung abnahmen und mit fertigen Entwürfen aufwarteten, so daß dem Verlag nur noch die Arbeit der Kalkulation und der Preisgestaltung verblieb. Diese Produktionsberater waren meistens deutsche Emigranten, die wegen ihrer großen Kenntnisse aus ihrer früheren Tätigkeit in deutschen Druckereien und Verlagen bei den amerikanischen Druckereien sehr beliebt waren.14 Von großen Schwierigkeiten erzählte dagegen Walter Janka, der in Mexico City die Herstellung der Bücher für den Verlag El Libro Libre beaufsichtigte: Fast unlösbar erschienen die technischen, organisatorischen und buchhändlerischen Schwierigkeiten. Buchstäblich alles mußte erst aufgebaut werden. In ganz Mexiko gab es keinen Maschinensetzer, der der deutschen Sprache mächtig war. Alle Manuskripte mußten, bevor sie in den Satz gingen, [durch Bleistiftstriche durchlaufend] silbengeteilt werden, damit der Setzer richtig trennen konnte. Umlaute gab es auch nicht, Korrekturen mußten dreimal gelesen werden. Da unsere finanziellen Mittel nicht ausreichten, wurden die meisten Bücher broschiert oder in Pappeinbänden herausgebracht.15 Das überaus schlichte Gewand der El Libro Libre-Publikationen erklärt sich somit aus den vielfältigen Einschränkungen, denen die Buchproduktion in Mexiko unterworfen war. Bestätigt und veranschaulicht werden diese Verhältnisse von Bodo Uhse, der dem an der Gründung beteiligten Autorenkollektiv angehörte; er berichtet, dass die Druckereien keine eigenen Setzmaschinen hatten und daher in kleinen Setzereien arbeiten ließen, wo alte, klapprige Setzmaschinen standen, reparaturbedürftig, trotzdem ständig in Betrieb. Das Verlagsteam musste den schweren Satz von den Setzereien zum Drucker bringen, der die Fahnenabzüge anfertigte; nach deren Durchsicht mussten die Korrekturbogen wieder zum Setzer, nach Ausführung der Korrekturen wieder zurück zum Drucker transportiert werden. Der Vorgang wiederholte sich beim Umbruch. Danach musste das Typenmaterial des Satzes zurückerstattet werden, damit das Blei gewogen werden konnte; eine etwaige Differenz – »das Gewicht stimmte nie« – musste bezahlt werden. Obwohl die so mühevoll hergestellten Bücher nach Uhses eigenem Urteil »ungeschickt aufgemacht« waren, so waren alle Beteiligten doch stolz auf die Überwindung dieser Hindernisse.16 13 14 15 16
S. Fischer, Verlag., S. 510. Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 232‒234. Janka: Spuren eines Lebens, S. 195. Uhse, Bodo: Schriftsteller als Verleger. Teilabdruck in: Alemania Libre in Mexiko. Bd. 2, S. 256‒260, hier S. 260. – Zu den finanziellen Problemen bei der Gründung von El Libro
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Abb. 1: Die Bücher des Verlags Peter Freund in Jerusalem erschienen – außen wie innen – in denkbar schlichtem Gewand, wie hier Heinz Politzers Gedichte (1941), nach dem der Originalausgabe nachempfundenen Neudruck in den »Pinczower reprint series« (6), Jerusalem 1974.
Generell lässt sich sagen, dass die Bücher der Exilverlage oft unter schwierigsten Bedingungen produziert wurden, häufig genug konnten die gewohnten Qualitätsansprüche nur noch partiell eingelöst werden. In der reduzierten Ausstattung vieler Publikationen spiegelt sich die Not des Exils: Einmal hatten Setzereien nicht die für deutschsprachige Texte benötigten Typensätze vorrätig, ein anderes Mal musste eine Auflage auf unterschiedlichen Papierresten gedruckt werden. Der Kostendruck erzwang nicht nur die Wahl minderer Qualitäten bei Papier und Einbandmaterialien, oft musste auf festen Einband und auf einen Schutzumschlag verzichtet werden. Ein anschauliches Beispiel aus Palästina stellt die Edition Dr. Peter Freund in Jerusalem dar; sie markiert mit der Vervielfältigung von Texten über Wachsmatrizen gleichsam das unterste Ende der Skala. Peter Freund, Sohn des bedeutenden Rabbiners Ismar Freund, war selbst als Rabbiner tätig, bis er 1935 nach Palästina emigrierte und in Jerusalem ein Vervielfältigungsbüro gründete, dem er 1941 einen Verlag angliederte. In diesem Verlag, der als EinmannBetrieb geführt wurde, erschienen in den Kriegsjahren 1941‒1945 immerhin 28 deutschsprachige Publikationen, darunter die Gedichte von Heinz Politzer, außerdem Werke
Libre vgl. etwa die Bemerkung von Anna Seghers gegenüber Berthold Viertel: »We must earn the money peso by peso, having no other money than the collection money and the subscriptions.« (zit. n. Alexander Stephan: »… ce livre a pour moi une importance speciale«. Das siebte Kreuz: Entstehungs- und Manuskriptgeschichte eines Exilromans, S. 18).
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von Ludwig Strauss, Manfred Sturmann, Erich Mühsam und Walter Goldstein. Das Herstellungsverfahren war simpelster Art, wie ein Augenzeuge berichtet: »Dr. Freund selbst tippte die Manuskripte anfaenglich auf einer vorsintflutlichen Schreibmaschine auf Wachsmatrizen, zog diese auf einem Vervielfältigungsapparate, der mit einer Handkurbel betrieben wurde, durch, machte die Einbaende selbst, und sorgte auch fuer den Vertrieb an die Buchhandlungen.«17 Die zwangsläufig geringen Auflagen von hundert oder maximal 200 Stück konnten dabei nur in den selteneren Fällen zur Gänze abgesetzt werden, es war in Palästina kein aufnahmefähiger Markt vorhanden, und der Gedanke an den Export dieser Bücher verbot sich aus mehr als einem Grund. Zu den Druckereibetrieben, in denen die politischen Schriften und literarischen Werke der deutschsprachigen Emigration entstanden sind, ist bislang kaum systematisch geforscht worden. Eine Ausnahme bilden die quellenintensiven und in jeder Hinsicht exemplarischen Recherchen von Michaela Enderle-Ristori, die diesbezüglich interessante Beobachtungen am Pariser Exil machen konnte.18 Die dort ansässigen Exilorganisationen und -verlage beschäftigten für den Druck ihrer Publikationen jeweils ganz bestimmte, ihrem jeweiligen politisch-ideologischen Standort entsprechende Druckereien. Eine Erklärung findet dieses Phänomen zunächst schon darin, »dass parteigebundene Presseorgane und -verlage in der Regel auf die Logistik der französischen Schwesterparteien zurückgriffen und nur parteilich ungebundene Kunden sich auf den privaten Markt der Pariser Drucker verlegen mussten.«19 KP-Organisationen arbeiteten demgemäß mit anderen Herstellungsbetrieben zusammen als Vereinigungen, die der Sozialdemokratie nahestanden. Im Falle eines politischen Standortwechsels musste stets auch die Druckerei gewechselt werden. Bei diesen Betrieben handelte es sich durchgehend um französische Firmen, Gründungen von Emigranten konnten in Paris nicht nachgewiesen werden, nur finanzielle Teilhaberschaften oder Emigranten als Angestellte (hauptsächlich Setzer und Korrektoren).20 Zu bedenken sind für Betriebe dieser Art die außerordentlich hohen Investitionskosten, die ein Vielfaches des Kapitals von Verlagen oder Buchhandlungen erforderten, aber auch die gesetzlichen Vorschriften; das Druckerei- und Verlagswesen
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Bibliographie der Schriften der Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem, S. 3. ‒ Der nach Palästina emigrierte Antiquar Felix Daniel Pinczower hat 1974 neben einer Bibliographie der Schriften der Edition Dr. Peter Freund auch einen Reprint der Gedichte von Heinz Politzer herausgebracht, der das Erscheinungsbild der Originalveröffentlichung recht genau wiedergibt. In einer Vorbemerkung Pinczowers heißt es, in diesem Neudruck habe man bewusst »das provisorische Vervielfaeltigungsverfahren, welches der Edition Dr. Peter Freund in ›jenen‹ Zeiten ihr besonderes Gepraege gab, beibehalten. Soweit dies technisch moeglich war, wurde das Original getreulich kopiert. Natuerlich sind es nicht mehr dieselben Maschinentypen, ist es nicht mehr das minderwertige Kriegs-Papier der 40er Jahre, und ein Erratum ist korrigiert und nicht mehr separat dem Text beigefuegt.« Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil. Vgl. auch Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 98‒101. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 35. Als Beispiele werden bei Enderle-Ristori genannt der deutsch-jüdische Emigrant Walter Lichtwitz (1934‒1940 Teilhaber an der Druckerei Romolo Morelli) und die SAP-Mitglieder Max Diamant, Louis Hacke als Setzer sowie Hermann Ebeling als Korrektor (EnderleRistori, S. 54, Anm. 28).
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unterlag in Frankreich einer strengen staatlichen Kontrolle, u. a. durch zahlenmäßige Beschränkung und Konzessionierung der Betriebe. Dazu kamen arbeitsrechtliche Restriktionen für Ausländer, wie sie in den dreißiger Jahren verschärfend angewandt wurden. Denn viele Druckereien wurden von seit Beginn des 20. Jahrhunderts eingewanderten und inzwischen naturalisierten Polen oder Russen geführt: »Folgerichtig teilten diese Druckereibesitzer 1939 / 40 häufig das Schicksal der Exilorgane und -parteien, für die sie gearbeitet hatten. Einige von ihnen wurden nach dem Hitler-Stalin-Pakt als Kommunisten interniert, andere konnten bis zur Okkupation weiterarbeiten. Dann kam für (fast) alle das Aus. Die meisten Druckereibetriebe – auch die kommunistischen – wurden Opfer der Rassengesetze in Frankreich; ab Oktober 1940 wurden sie ›arisiert‹, ihre Inhaber zum Teil deportiert. In der jüdischen Herkunft der Drucker lag sicherlich das einzige alle Parteischranken überwindende Motiv, sich an der Herstellung deutscher Exilschriften zu beteiligen.«21 Es ging dabei letztlich um eine überschaubare Anzahl an Betrieben; Enderle-Ristori nennt für die kommunistischen Verlage und Presseorgane als wichtigstes das KominternUnternehmen Imprimerie Coopérative Etoile (gegründet 1927, jeweils neu 1931 und 1935), »ein hochmodernes Unternehmen, das alle gängigen Druckarbeiten inklusive der Herstellung von Tageszeitungen in allen europäischen Sprachen ausführen konnte (es druckte u. a. die Exilpublikationen der Editions Prométhée und Editions du Carrefour, die Deutsche Volkszeitung, den Gegen-Angriff, anfangs auch Die Zukunft).«22 Der große Maschinenpark wurde 1937 durch Mietkauf erweitert; im Juni 1939 waren bis zu 90 Arbeiter dort beschäftigt. Ein zweites Großunternehmen im kommunistischen Bereich war die Imprimerie Centrale de la Bourse, die u. a. die deutschsprachigen Publikationen des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus druckte.23 Das mit einem Firmenkapital von einer Million Francs und lt. Briefkopf mit zehn Rotationsmaschinen und 35 Linotype- und Lichtsatzmaschinen ausgestattete Unternehmen wurde im März 1936 umstrukturiert und ging, zusammen mit zwei anderen Druckereien, in einer Société des Grandes Imprimeries de Paris-Centre auf, vermutlich um der Komintern finanzielle Transaktionen größeren Stils zu ermöglichen. Ebenfalls im Dunstkreis der Komintern agierte die Imprimerie Centrale Commerciale (I.C.C.), 1937 hervorgegangen aus der 1926 gegründeten, ursprünglich exilrussischen Imprimerie d’Art Voltaire, die ab 1933 auch kommunistische Tarnschriften und das Organ Antifaschistische Front druckte. Ihr früherer Eigentümer O. Zeluk hatte als Alleinbesitzer der Edition et Imprimerie Rapide de la Presse (E.I.R.P.) u. a. das Neue Tage-Buch, das Pariser Tageblatt (von 1933 bis 1935) und kleinere Exilorgane wie die aktion und Der Monat gedruckt, wandelte aber diese Firma 1937 in eine neue Aktiengesellschaft Société Parisienne d’Imprimerie (S.P.I.) um, in der neben dem Neuen Tage-Buch auch die Österreichische Post und spanische Exilorgane sowie russische Blätter und die jiddische Tageszeitung Pariser Haint hergestellt wurden. Die erwähnte I.C.C. aber, eine Aktiengesellschaft mit einer Million Francs Stammkapital, arbeitete u. a. für den Komintern-Verlag Éditions Prométhée, beschränkte sich aber mit nur zehn Mitarbeitern (Juni 1939) meist auf den Satz und überließ den Druck anderen Betrieben. 21 22 23
Enderle-Ristori, S. 36. Enderle-Ristori, S. 37. Hierzu und zum Folgenden vgl. Enderle-Ristori, S. 37‒42.
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Dem Komintern-Umfeld gehörte schließlich noch die Firma Lantos Frères et Masson an, die ab 1937 /1938 auch für Parteiunternehmen in Prag und Basel kommunistische Buch- und Pressepublikationen druckte, z. B. die Kommunistische Internationale, den Weltjugendkurier, die Internationale Bücherschau und die Zeitschrift für freie deutsche Forschung. Wieder andere Druckereien standen den kommunistischen Splittergruppen zur Verfügung, so etwa die Société Nouvelle d’Impression et d’Edition (S.N.I.E.), ursprünglich ein russisches Emigrantenunternehmen, das antibolschewistische Blätter herstellte. Nach einem Firmenwechsel im Mai wurde die S.N.I.E. zur Druckerei des ISK und druckte die Bücher der Editions Nouvelles Internationales, die Zeitschriften Die Sozialistische Warte, Das Buch und Willi Eichlers Reinhart-Briefe, aber auch trotzkistische Organe (Unser Wort) und den Neuen Weg der SAP. Ebenfalls Exilpublikationen der SAP wie Die Neue Front druckte die Imprimerie Crozatier, während andere Druckereibetriebe wie die Imprimerie Spéciale und die Imprimerie Union, die der französischen sozialistischen Partei (SFIO) mindestens nahestanden, Dienstleistungen für sozialdemokratisch ausgerichtete Organisationen erbrachte. Letztere war von ihrem Personal her in der Lage, Druckarbeiten in französischer, russischer und deutscher Sprache auszuführen. 1938 übernahm die Imprimerie Union sogar Aufträge der Karlsbader Verlagsanstalt Graphia zum Druck des Neuen Vorwärts und der Deutschland-Berichte der Sopade. Es gab in Paris aber auch parteiungebundene Unternehmen, die für das Exil tätig wurden, so die Druckerei Lang et Blanchong, ein Großunternehmen, das Umsätze zwischen sechs und neun Millionen Francs erzielte und – als wirtschaftlich unbedeutende Kleinaufträge – die Neue Weltbühne und Bücher der Éditions du 10 Mai druckte. Von mittlerer Größe war dagegen die Imprimerie pour Journaux, Editions, Périodiques (J.E.P.), eine Gründung des Schweizers Marcel Schwitzguebel gemeinsam mit zwei französischen Teilhabern; seit Oktober 1935 druckte das auf Zeitungsdruck spezialisierte Unternehmen das Pariser Tageblatt bzw. die Pariser Tageszeitung wie auch (getarnte) kommunistische Blätter. Kleine Exilverlage haben tendenziell auch eher kleine Druckereien beschäftigt, so die Éditions du Phénix und Éditions Météore die Imprimerie Haloua (Inhaber war der in Algerien geborene Franzose Emile Haloua, der die Firma mit seinem Sohn betrieb), die sich offenbar mit sehr geringen Gewinnspannen begnügte und z. T. noch mit Handpressendruck arbeitete. Ergänzend zu der Situation in Frankreich ist darauf hinzuweisen, dass auch in Elsass-Lothringen einige kommunistische Druckereien speziell für Exilverlage und -organisationen tätig wurden, in Metz, v. a. aber in Straßburg, wo etwa die Éditions Prométhée drucken ließen, in der Imprimerie Française von Lucien Mink auch Willi Münzenberg Bücher der Éditions du Carrefour (wie auch die KP-Organe Deutsche Volks-Zeitung, Unsere Zeit, zeitweilig den Gegen-Angriff).24 Im Herstellungsbereich war ein dermaßen dicht besetztes und zugleich so politischideologisch determiniertes Feld natürlich nur im Paris der Jahre 1933 bis 1940 gegeben,
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Es war Lucien Mink, von dem Münzenberg nach seinem Bruch mit der Partei 1938 den Verlag Editions Sebastian Brant übernahm (siehe das Kap. 5.2.2 Politische Verlage).
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doch sind gewisse Analogien auch in anderen Asylländern, vor allem der Tschechoslowakei oder Großbritanniens, zu beobachten.25
Buchausstattung Die meisten Exilverlage setzten die aus Deutschland gewohnte Praxis fort, für jeden Titel mehrere Ausstattungs- und Preisvarianten anzubieten, also broschierte, kartonierte und fest gebundene Ausgaben mit einer entsprechenden Staffelung der Verkaufspreise; dem gebundenen Buch galt traditionell die größte Aufmerksamkeit. Erst allmählich bildete sich ein Bewusstsein davon, dass in den Asylländern vielfach eine andersgeartete Buchkultur herrschte, die nicht völlig ignoriert werden konnte. Die Exilverleger mussten sich daher Gedanken machen, wie man auf den unterschiedlichen nationalen Buchmärkten bestehen konnte, u. a. aufgrund der unterschiedlichen Preis- und Ausstattungsvorstellungen. Das deutschsprachige Buch hatte seine speziellen Zielgruppen, aber es war nicht schlechterdings autonom. In Frankreich und Italien und noch anderen Ländern, wo das Publikum dem preisgünstigen broschierten Buch den Vorzug gab, konnte das dreiAbb. 2: Paul L. Urbans Entwurf für bis viermal so teure Hardcover nicht auf Dauer re- Alfred Döblins Babylonische Wandüssieren; eine Anpassung an die Marktgegebenhei- rung (Querido 1934) zeigt in seiner ten war unumgänglich. Es hatte das aber auch sein Schriftbetontheit einen Anklang an Gutes: Man kam jetzt mit anderen Praktiken der den berühmten Umschlag Georg Buchherstellung in Berührung, und wie man in eini- Salters für Döblins Berlin Alexangen Ländern von den Emigranten lernte, in Druck- derplatz (1929). technik oder buchhändlerischem Knowhow, so profitierten auch die emigrierten Verleger vom neuen Umfeld und schufen Synthesen mit den aus Deutschland mitgebrachten Erfahrungen. Anschauungsmaterial hierzu bieten die beiden großen Exilverlage in den Niederlanden. Nachdem sich Fritz Landshoffs Plan zerschlug, Georg Salter an Querido zu binden,26 schien es ihm zu gelingen, aus dem Kreis der emigrierten Buchgestalter guten Ersatz zu finden: 25
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Es wäre sicherlich aufschlussreich, auch die Wege von aus Deutschland geflüchteten Setzern und Druckern systematisch zu verfolgen, zumal der Berufsstand traditionell stark zur Sozialdemokratie oder auch zur KP tendierte und daher durchaus Fluchtgründe gegeben waren. »Meine ursprüngliche Absicht war es, unseren langjährigen künstlerischen Berater bei Kiepenheuer, Georg Salter, wiederzugewinnen. In der Tat hat er auch den Umschlag zu der ›Sammlung‹ entworfen. Er wanderte dann aber auf Einladung von H. Wolf [recte: Wolff], dem Inhaber eines der bedeutendsten Druckerei- und Bindereibetriebe, die in New York für
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4 Bu c h he r st e ll u n g u n d B u ch g e st a lt u ng Wenige Wochen nach meiner Ankunft in Amsterdam besuchte mich ein anderer deutscher Graphiker, der in Berlin speziell für Münzenberg gearbeitet und gelegentlich auch Bücher für den Kiepenheuer Verlag ausgestattet hatte: Paul Urban. Während der kurzen Zeit, die er in Holland verbrachte, gab ich ihm verschiedene Aufträge. Leider verließ er Holland bald und übersiedelte in die Schweiz, wo er auch für Oprecht tätig war. Wahrscheinlich war es seine langjährige Freundschaft mit den Münzenbergs und ihrem Kreis, die ihm den Ruf eines Kommunisten verschafft und seine Aufenthaltserlaubnis erschwert hat. Er ging schließlich in die Sowjetunion, und ich habe seitdem vergeblich versucht, sein weiteres Schicksal zu verfolgen.27
Urbans Tätigkeit für Querido blieb allerdings auf fünf Buchausstattungen beschränkt. Dagegen gewann ein weiterer alter Bekannter Landshoffs eine zentrale Bedeutung für das Erscheinungsbild der Querido-Bücher: »Im Herbst [1933] fand ich einen alten Schulfreund aus Berlin wieder, der bereits vor Hitlers Machtübernahme nach Holland ausgewandert war und als Graphiker in einem renommierten, mit einer Druckerei verbundenen Verlag – Mouton in Den Haag – eine angesehene Position einnahm. Er stattete in den Jahren 1933‒1940 bei weitem den größten Teil unserer Verlagsproduktion vortrefflich aus: Henri Friedländer.«28 Der Typograph, Kalligraph und Buchgestalter Henri Friedlaender, 1904 in Lyon geboren, war als 6jähriger nach Deutschland gekommen, hatte in Berlin und an der Akademie in Leipzig studiert und dann in der Schriftgießerei der Brüder Klingspor gearbeitet, wo er Rudolf Koch schätzen und bewundern lernte; danach war er für die renommierte Druckerei Haag-Drugulin tätig gewesen, wo er Salman Schocken als Kunden traf, der mit ihm die Notwendigkeit neuer hebräischer Lettern diskutierte. Bereits 1932 ging Friedlaender in die Niederlande und hat hier mindestens 54 der Abb. 3: In seinen für Querido gefertig128 Titel des deutschsprachigen Querido-Verlags ten Umschlagentwürfen verzichtete ausgestattet. Er war ein sensibler, perfektionistiHenri Friedlaender auf effektscher Typograph und Buchkünstler, dessen bis ins haschende Motive – wie hier bei Anna Seghers᾿ Der Kopflohn (1933). letzte Detail durchdachte, dabei oft schlicht wir-
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das amerikanische Verlagswesen arbeiteten, nach den USA aus und machte sich dort sehr schnell einen großen Namen.« Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 90. Landshoff, S. 90; vgl. auch die Äußerung Landshoffs in einem Gespräch mit Kerstin Schoor: »Und eines Tages kam zu meiner Freude Paul Urban in mein Office bei Querido, und ich habe Urban natürlich empfohlen, wo ich konnte.« (zit. n. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 46). Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 90.
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kende Entwürfe die ästhetische Linie des Verlags über weite Strecken prägten.29 Im Gegensatz zu dem mehr plakativen, oft unterschwellig politisierenden Urban vertrat Friedländer bei Querido die mehr gediegene Linie der deutschen Tradition. Seine »gemäßigt fortschrittlichen oder mehr klassischen Gestaltungen« sind, besonders im Blick auf die Schutzumschläge, charakterisiert durch »bisweilen auch (deutsch anmutende) expressive oder aber gänzlich überraschende Formaspekte, wobei aber die Schrift fast immer eine vorherrschende Rolle spielt«.30 Die beharrliche, gewissenhafte Weiterführung des in Deutschland erworbenen Könnens und Formbewusstseins ist hier als Ausdruck einer Haltung zu begreifen, die ihre Aufgabe in der Bewahrung kultureller Werte sieht. Dass hier nicht eine beliebige, austauschbare Buchästhetik Asyl gefunden hat, lässt sich daraus ersehen, dass der niederländische Stammverlag eine Zusammenarbeit sowohl mit Friedlaender wie mit Urban ablehnte; offenbar erschienen ihre stilistischen Orientierungen für den holländischen Buchmarkt als unpas- Abb. 4: Die Umschlaggestaltung für send.31 Friedlaender gestaltete später auch Bücher Alfred Neumanns Louis Bonapartedes zweiten Amsterdamer Exilverlags, der von Roman Neuer Cäsar (Allert de Lange Walter Landauer geleiteten deutschsprachigen 1934) kann als repräsentativ gelten für Abteilung des Verlags Allert de Lange. Das war Paul L. Urbans Hang zur »unverblümten visuellen Mitteilung«. bei mindestens 23 Titeln der Fall. Zuvor war die Produktion von Allert de Lange aber von der gestalterischen Handschrift Paul L. Urbans geprägt. Geboren 1901 in München, war Urban nach seinem Studium am Dessauer Bauhaus als Buchgestalter für Verlage vor allem des linken Spektrum tätig gewesen, u. a. für Münzenbergs Neuen Deutschen Verlag, für die Büchergilde Gutenberg, auch für den Kiepenheuer Verlag; für die sozialistische Buchgemeinschaft »Universum ‒ Bücherei für alle« hat er mindestens 38 der insgesamt 131 Titel ausgestattet.32 In Berlin, wo er seit 1927 lebte, gehörte er zum künstlerischen Umkreis von John Heartfield, und hat, von ihm beeinflusst, selbst auch häufig mit Fotomontagen gearbeitet.
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Vgl. Löb: Exil-Gestalten. Deutsche Buchgestalter in den Niederlanden 1932‒1950. Löb hat u. a. die Tätigkeit Friedländers und Urbans für die Amsterdamer Exilverlage in mustergültiger Weise erforscht und dokumentiert. Vgl. auch seine vorgängig erschienenen Aufsätze Löb: Drei deutschsprachige graphische Gestalter als Emigranten in Holland 1925‒1950; ders.: Die Buchgestaltungen Henri Friedlaenders für die Amsterdamer Exil-Verlage Querido und Allert de Lange 1933‒1940; ders.: Die Buchgestaltungen Paul L. Urbans für die Amsterdamer Exil-Verlage Querido und Allert de Lange 1933‒1940. Löb: Exil-Gestalten, S. 227 f. Vgl. Löb, S. 221. Löb: Die Buchgestaltungen Paul L. Urbans.
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1933 musste Urban als Mitglied der KPD aus Deutschland fliehen, ging nach Amsterdam und hat dort neben den erwähnten fünf Ausstattungen für Fritz Landshoffs QueridoVerlag hauptsächlich für Allert de Lange gearbeitet. Urban war an 34 von insgesamt 94 Buchveröffentlichungen der Exilabteilung mit Umschlag- und Einbandentwürfen, vielfach auch an der sonstigen Buchausstattung beteiligt; außerdem hat er sieben Titel der niederländischen Produktion gestaltet und für drei Bücher die Illustrationen geliefert. Sein Formenrepertoire unterschied sich markant von jenem Friedlaenders: So sehen wir dort [bei Allert de Lange] bereits während des Jahres 1934 eine für Holland neue, schlagkräftige äußere Buchform, die primär auch nicht schön oder angenehm sein will. Eine spezifisch moderne Exil-Gestaltung von Schutzumschlägen und Einbänden, wobei die unverblümte und überraschende visuelle Mitteilung an den zukünftigen Käufer zum Hauptanliegen des Graphikers wird. Diese nicht selten etwas kecke Formgebung der Buchausstattung unterscheidet sich dann auch deutlich von der erheblich kultivierteren und »schöneren« Gestaltung bei Querido.33 Allerdings stieß Urbans »keckere« Formgebung beim Publikum damals nicht auf ungeteilte Zustimmung, wie Walter Landauer dem Buchdesigner in einem Brief am 23. März 1936 zu verstehen gab: Ich möchte Ihnen nur ganz im allgemeinen die Ansichten sagen, die ich über Ihre Umschläge höre, die sich übrigens nicht mit meiner Ansicht decken. Ihre einfachen Umschläge, beispielsweise der neue [Schalom] Asch, gefallen im allgemeinen ausgezeichnet. Hingegen erhalten wir, insbesondere vom Buchhandel, der schliesslich nur das weitergibt, was seine Kunden sagen, sehr viel Beanstandungen wegen dieser Umschläge von Ihnen, die zu farbig, vielleicht zu reklamemässig sind. In erster Linie werden hier, soweit ich übersehen kann, beanstandet Bruckner, Plivier und auch die [Adrienne] Thomas. Ich bitte Sie also, möglichst vorsichtig zu sein und alles zu Grelle zu vermeiden. Das entspricht nun einmal nicht dem Geschmack des Publikums, insbesondere in den deutschsprachigen Ländern, auf die wir nun einmal angewiesen sind.34 Dass Urban auch nach diesen Ermahnungen wenig Neigung hatte, alles »Reklamemäßige« zu vermeiden, zeigen Umschlagentwürfe aus dem Jahr 1937 wie jener zu Egon Erwin Kischs Reportagebuch Landung in Australien. In den zitierten kritischen Äußerungen Landauers treten in nachdrücklicher Weise die Einengungen hervor, mit denen sich die Buchgestaltung im Exil konfrontiert sah: Das Publikum hatte sich gewandelt, und keinesfalls durfte man in der deutschsprachigen Emigration selbst eine bedeutende Zielgruppe für die Produktion der Exilverlage sehen. Man musste sich also an den Geschmack der Hauptabsatzgebiete akkommodieren, und die lagen für die beiden Amsterdamer Exilverlage bis 1938 in den Niederlanden selbst,
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Löb: Drei deutschsprachige graphische Gestalter, S. 203 f. Faksimile des Briefes in Löb: Exil-Gestalten, S. 190.
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in der Schweiz, der ČSR und in Österreich, dazu kamen noch einige Länder mit deutschsprachigen Bevölkerungsteilen wie Rumänien oder Polen, in die von Allert de Lange und Querido vielfach mehr Bücher verkauft wurden als z. B. nach Frankreich oder England. In der Hauptsache war also mit einem Lektüreverhalten zu rechnen, das eben nicht von politischem Interesse geprägt oder gar antifaschistisch ausgerichtet war. Vielmehr zeigen die vor allem mit Romanbiographien wie etwa Gina Kaus’ Katharina die Große erzielten Absatzerfolge, dass es für die Exilverlage einen nennenswerten Markt im Grunde nur für Unterhaltungsliteratur gab. Urban musste sich also im Exil aus ökonomischen Notwendigkeiten heraus umstellen und lieferte dann auch Buchausstattungen, die sogar als »kitschig« bemängelt wurden.35 Noch 1937 beendete Urban seine Tätigkeit für Allert de Lange und ging in die Schweiz, von wo Abb. 5: Mit dem formatsprengenden, aus er für Oprecht und noch andere Verlage in auf rotem Grund aufgebrachten SchriftBasel, Paris und Straßburg tätig war, und von dort zug zeigte sich Urban Gestaltungsweiter in die Sowjetunion, wo sich seine Spur in innovationen verhaftet, die beim Publikum der Exilverlage wenig Akzeptanz den stalinistischen Säuberungen verlor. Nach Urbans Weggang sprang Henri Fried- fanden. laender bei Allert de Lange ein, und da dieser seine künstlerische Handschrift weder verleugnen konnte noch wollte, wurde der eben angelaufene Prozess der ästhetischen Profilbildung der beiden Amsterdamer Verlage schon wieder unterbrochen. Ein verbindendes Moment ergab sich in jedem Falle durch die deklarierte Absicht des Verlegers Gerard de Lange, dem deutschen Buch sein deutsches Gepräge zu belassen.36 Im Übrigen waren mit der Ausstattung der Bücher in beiden Verlagen gelegentlich auch noch andere exilierte Buchgraphiker und -graphikerinnen befasst, so je ein- bis zweimal Justinian Frisch, Alice Garnmann, Thomas Theodor Heine, Eva Herrmann, Léon Holman, Lajos von Horvath, Georg Salter und Hugo Steiner-Prag, außerdem auch niederländische Kollegen wie Fré Cohen (drei Titel), Bob Denneboom (fünf Titel) u. a. m.37 Eine Zäsur, die an den Allert de Lange-Büchern auch herstellungsqualitativ sichtbar wurde, hatte noch vor der Übersiedlung Urbans in die Schweiz der Tod Gerard de Langes im Juni 1935 mit sich gebracht: Unter der neuen Verlagsleitung, die entschieden mehr auf wirtschaftliche Aspekte Bedacht nahm, wurden die Bücher der deutschsprachigen Abteilung 1936 bis 1938 /1939 nicht mehr von den leistungsfähigen, aber teuren Druckereien im Lande, sondern weitaus preisgünstiger in der Tschechoslowakei und in Ungarn hergestellt. Als Folge dieser Verlagerung der Herstellung ins Ausland wiesen die Bücher des
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Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 194. Vgl. Schoor, S. 45 f. Vgl. Löb: Exil-Gestalten, S. 218 f.
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Allert de Lange Verlags zeitweise eine merklich schlechtere Satz-, Druck- und Papierqualität auf.38 In der Schweiz öffnete Emil Oprecht 39 den Verlag Helbling & Oprecht und den 1933 gegründeten Europa-Verlag zwar großzügig der exilierten deutschen Schriftstellerschaft – in den beiden Verlagen erschienen jeweils zwischen 60 und 70 Titel, die der Exilliteratur zugerechnet werden können40 –, er öffnete sie aber nur in Maßen den deutschen Buchgestaltern. Abgesehen von Paul L. Urban, Johannes Troyer und Werner D. Feist 41 waren dort vorzugsweise Schweizer Gebrauchsgraphiker tätig. Eine prägende Persönlichkeit hat es im Bereich der Buchausstattung bei Oprecht nicht gegeben, vielmehr fällt – soweit die Gestaltungen nachweisbar sind – eine sehr starke Fluktuation der Namen auf, von Rolf Bangerter bis Wolf Zinn. Dementsprechend entwickelten die Verlage Oprechts auch keine ästhetische Signatur. Völlig andere Voraussetzungen hat die deutschsprachige Exilliteratur in der Sowjetunion vorgefunden: »sowjetische Verlage mit spezialisiertem Produktionsprogramm stellten ihren verlagstechnischen Apparat für eine deutsche Buchproduktion zur Verfügung«.42 Die Tätigkeit der Staats- und Organisationsverlage beruhte auf Planwirtschaft 43 und politischer Steuerung, und so waren es fast ausschließlich kommunistische und mit dem Kommunismus bzw. der Sowjetunion sympathisierende Autoren, die in diesen Planungen berücksichtigt wurden. Analoges galt auch für die aus Deutschland geflüchteten Buchgestalter, wie sie etwa für die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter
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Der Verlag beschäftigte 1934‒1940 einen deutschsprachigen Korrektor, Georg Levy, der u. a. auf die Fehler der Setzer in den ausländischen Druckereien achthaben sollte; vgl. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 45. Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht; Mittenzwei: Exil in der Schweiz. »Zwischen 1933 und 1945 erschienen in Oprechts Verlagen Publikationen von etwa 100 deutschen Emigranten; ihnen stehen rund 200 Autoren gegenüber, die nicht aus Deutschland geflohen waren.« (Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 108). Von Werner D. Feist stammen z. B. Umschlagentwürfe zu Louis Fürnberg: Das Fest des Lebens, 1939. ‒ Beigesteuert hat auch John Heartfield einen Umschlagentwurf zu F. C. Weiskopf: Die Versuchung. Roman eines jungen Deutschen, 1937. Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1/ I, S. 272, sowie S. 285 u. 291. – Obwohl die Druckkapazitäten in der UdSSR zeitweise mehr als ausgelastet waren, gab es auch Koproduktionen mit Oprecht in Zürich und mit Herzfeldes Malik-Verlag, die den sowjetischen Verlagsunternehmen Teilauflagen, die auf besseres Papier gedruckt waren, zur Verbreitung unter ihrem eigenen Impressum abnahmen. Die Druckqualität wurde aber immer wieder bemängelt, vgl. Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938, S. 163. Die planwirtschaftliche Steuerung dokumentiert sich vielfach auch in den Impressa der in der Sowjetunion produzierten Bücher. So z. B. enthält das Impressum des bei der VEGAAR erschienenen Romans von Walter Schönstedt Auf der Flucht erschossen die folgenden Informationen: »Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung und des Nachdrucks, vorbehalten ‒ Copyright 1934 by Editions du Carrefour, Paris VI. ‒ Von Matern gedruckt in der Druckerei ›Iskra Rewoluzii‹, Moskau, Filipponski Pereulok 13 – Zum Druck unterschrieben: 20.VII. 1934 – Druckbogen: 14 ½ − Druckzeichen pro Druckbogen: 31 000 – Papierformat: 78 × 104 1/ 32 – Index: IV – Auflage: 7000 – Glawlit: B.78.381«. Die Umschlaggestaltung des Buches stammt von Alex Keil.
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Abb. 6: Die an die Insel-Bücherei erinnernden Bändchen der VEGAARBücherei erschienen in Auflagen von 11.000 bis 16.000 Exemplaren.
(VEGAAR) tätig waren, den mit Abstand wichtigsten Verlag.44 Zu nennen sind hier Hans Klering, Hans Leistikow, F. Hüffner, Alex Keil (Sándor Ék) oder Griffel (Lászlo Dállos). Die zumeist hohen Auflagen wurden mit Abstrichen in der Material- und Herstellungsqualität erkauft, auch wenn den Büchern der VEGAAR anzusehen ist, dass man versuchte, ein gewisses Niveau nicht zu unterschreiten.45 Von Hüffner stammt der Entwurf zur »VEGAAR-Bücherei«, einer von Ernst Ottwalt (bis 1936) betreuten Erzählungsreihe, in der u. a. Texte von Wolfgang Langhoff, Anna Seghers und Ottwalt selbst herauskamen. Diese Reihe, die ursprünglich alle 14 Tage erscheinen sollte, repräsentierte den Versuch, günstigen Preis mit einem gefälligen Äußeren zu vereinen; der farbig variierte Umschlag, dessen Bildmotiv das Verlagssignet aufnimmt, erinnert (nicht zuletzt durch ein – in diesem Fall drucktechnisch fingiertes – Titelschildchen) an die Buntpapier-Einbände der Insel Bücherei – ein überraschend deutlicher Anklang an eine markant bürgerliche Buchästhetik.
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Zur VEGAAR vgl. Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; sowie Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1/ I, S. 275‒290, und Schick: Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen der »Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR«. Etwas pauschal wirkt die Einschätzung von Schick: »Zur Ausstattung und zur Qualität der Buchproduktion: Die Bücher, ob gebunden oder broschiert, erschienen in guter und sorgfältiger Ausstattung. Das betrifft nicht nur die künstlerische Gestaltung der Einbände, Umschläge, Illustrationen, sondern auch den Druck. Der Druck ist sauber, gut lesbar und es gibt wenige Druckfehler.« (Schick: Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen der »Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR«, S. 4).
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Im Ganzen betrachtet führte die VEGAAR aber Traditionen fort, die in der Weimarer Republik zum Kennzeichen der »Buchgestaltung für die Literatur der Arbeiterklasse«46 geworden waren: Auf den Umschlägen die bildagitatorische Verwendung von Zeichnungen mit oft dramatisch zugespitztem Motiv, die Einbindung von Fotomaterial, entweder als Fotomontage Heartfieldscher Prägung, öfter noch in der Verbindung von Fotografie und konstruktivistisch inspirierter Titeltypographie, deren charakteristische Schwarz-Rot-Kontrasttechnik bis auf El Lissitzky zurückverwies. Gerade diese modernistische Kombination von Fotografie und Schrift hatte man in der politischen Bildagitation der Weimarer Zeit im Plakat, in der Zeitschrift (z. B. der A.I.Z, der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung), aber auch beim Buch zu einem vielfältig einsetzbaren gestalterischen Mittel entwickelt. Von den propagandistischen Wirkungsmomenten des fotografisch gestalteten Umschlags wurde bei der VEGAAR und anderen sowjetischen Verlagen immer wieder Gebrauch gemacht, besonders bei Büchern mit kämpferisch-politischer Aussage. In der Texttypographie hielt man an klassischer, am Aspekt der Lesbarkeit orientierter Typographie fest; soweit es dabei um die Einhaltung anspruchsvollerer Werksatzregeln ging, hatte man im linken Spektrum hierfür bereits vor 1933, u. a. auch im Bereich der Buchgemeinschaften, Erfahrungen sammeln können, so etwa im »Bücherkreis«, für den seit Beginn der dreißiger Jahre Jan Tschichold die typographische Ausstattung in maßstabsetzender Weise besorgt hatte. Was Kurt Wolff in den USA als Wegbereiter europäischer Dichtung und Literatur in Amerika leisten wollte und tatsächlich auch geleistet hat, fand äußerlich seinen adäquaten Ausdruck in dem zurückhaltenden, vornehm-eleganten Stil, in welchem die Bücher des Pantheon Verlags auftraten.47 In den Worten Bernhard Zellers: »Auch in den Vereinigten Staaten, dem Land der riesenhaften Verlagsfirmen, hat Wolff seinen persönlichen Verlagsstil gewahrt, jedes Buch individuell ausgestattet und damit die deutsche und europäische Buchkultur in die amerikanische Welt hineingetragen.«48 Wolff hat immer wieder mit einheimischen Buchgestaltern und Jacket Designern wie George W. Thompson zusammengearbeitet, aber auch mit deutschstämmigen Immigranten. So etwa hat Stefan Salter, der bereits einige Jahre vor 1933 in die USA emigrierte Bruder von Georg Salter, eine Reihe von Aufträgen für Pantheon ausgeführt, u. a. die Gestaltung der so bedeutenden Ausgabe von Hermann Brochs The Death of Virgil (1945).49 Stefan Salter hat auch für andere Exilverlage gearbeitet, am häufigsten für L. B. Fischer, u. a. im Falle von Erika Manns A Gang of Ten (1942),50 zuvor aber schon für die von Helene
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Vgl. Bunke / Stern: Buchgestaltung für die Literatur der Arbeiterklasse 1918‒1933. Vgl. Müller / Schuyler: Kurt Wolff im amerikanischen Exil. Zeller: Der Verleger Kurt Wolff, S. LI. Weitere Arbeiten von Stefan Salter für Pantheon Books: Erich von Kahler: Man, the Measure, 1943; Charles Péguy: Basic Varities. Prose and Poetry, 1943; The Adventures of Baron Munchausen (mit Ill. von G. Doré), 1944; Georges Bernanos: Plea for Liberty, 1944; Denis de Rougemont: The Devil’s Share, 1944; Adalbert Stifter: Rock Crystal (mit Ill. von Josef Scharl), 1945; Heinrich Zimmer: Myths and Symbols in Indian Art, 1947. Auch zu Hertha Pauli: Alfred Nobel, 1942; W. B. Huie: The Fight for Air Power, 1942; H. A. Wallace: The Price of Free World Victory, 1942; H. L. Brooks: Prisoners of Hope, 1942; Klatzkin: In Praise of Wisdom, 1943; Cross Section. A Collection of New American Writing, 1944 (die Ausgabe 1945 wurde von Brigitte B. Fischer gestaltet).
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Scheu-Riesz errichtete Island Press,51 die Alliance Book Corporation (I am an American, 1941) oder auch für den Schocken Verlag (Nahum N. Glatzer: In Time and Eternity. A Jewish Reader, 1946). In all diesen Jahren war Stefan Salter auch für amerikanische Verlage tätig, unter ihnen die Creative Age Press (Klaus Mann: André Gide, 1943; The Story of Jesus, mit Ill. v. Fritz Kredel, 1946), Alfred A. Knopf (Thomas Mann: Joseph the Provider, 1944) sowie Random House, Farrar, Straus and Company, oder Rinehart. Die Bemühungen der Exilverlage um die äußere Erscheinungsform ihrer Bücher waren somit vielfältiger Art, zumal sich aus dem Aufeinandertreffen mit den Designtraditionen der Asylländer immer wieder spannungsvolle Impulse ergaben. Als Zwischenbefund lässt sich festhalten: Eine spezifische Buchästhetik hat das Exil 1933‒1945 nicht ausgeprägt. Ganz klar war das Exil keine Zeit buchkünstlerischer Experimente. Es war nicht nur mit material- und herstellungstechnischen Einschränkungen aller Art konfrontiert, sondern stets auch mit der Abwehr von Entwurzelungsneurosen beschäftigt, was eher ein Festhalten am Vertrauten förderte. Es war daher vor allem handwerkliche Gediegenheit‚ in der sich der Selbstbehauptungswille einer vom Nationalsozialismus vertriebenen Buchkultur manifestierte.
Der Schutzumschlag zwischen Politik und Marketing Der Schutzumschlag war die jüngste Errungenschaft in der künstlerischen Ausstattung des Gebrauchsbuchs.52 Schon sehr bald wurden vielfältigste Gestaltungsmittel – typographische ebenso wie bildgraphische, etwas später auch fotografische – in unendlich vielen Varianten eingesetzt, um dem Umschlag neben der Schutzfunktion auch eine ästhetische Funktion zu sichern. Auf das Umschlagdesign haben aber in gleicher Weise verlegerische Marketingkalküle eingewirkt, denn mit einem attraktiv gestalteten Umschlag war auch die Erwartung einer aufmerksamkeitssteigernden und absatzfördernden Wirkung verbunden. Bedeutende Buchgestalter wie Emil Rudolf Weiß, Fritz Helmuth Ehmcke oder Walter Tiemann haben markante Individualstile ausgebildet und zusammen mit anderen dafür gesorgt, dass das Bücherangebot der Weimarer Republik in seinem Erscheinungsbild von einer bis dahin unvorstellbaren Vielfalt und Buntheit geprägt gewesen ist. Die stärksten Impulse in der Umschlaggestaltung waren vor 1933 von John Heartfield und Georg Salter ausgegangen, zwei recht gegensätzlichen Persönlichkeiten, beide jedoch – wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten – aus Deutschland vertrieben.
John Heartfield John Heartfield, 1891 als Helmut Herzfeld zur Welt gekommen, hat als Klassiker der politischen Bildsatire, speziell aber als (Mit-)Begründer der politischen Fotomontage
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Will you marry me? Proposal Letters of seven Centuries, ed. by Helene Scheu-Riesz. New York: Island Workshop Press 1940. Vgl. Schauer: Kleine Geschichte des deutschen Buchumschlages im 20. Jahrhundert.
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Berühmtheit erlangt.53 An der Entstehung dieser künstlerischen Technik beteiligt war auch George Grosz, der den Zeitpunkt dieser Erfindung in die Mitte des Ersten Weltkriegs datierte: »Als John Heartfield und ich 1916 in meinem Südender-Atelier an einem Maientage frühmorgens um fünf Uhr die Fotomontage erfanden, ahnten wir beide weder die großen Möglichkeiten noch den dornenvollen, aber erfolgreichen Weg, den diese Entdeckung nehmen sollte.«54 Offenbar erwies sich die Montage damals als geeignetes Mittel, die Kriegszensur zu unterlaufen. Helmut Herzfeld war dem Krieg und generell allen nationalistischen Aufwallungen gegenüber strikt oppositionell eingestellt, weshalb er sich denn auch in der Sprache des Kriegsgegners England in John Heartfield umbenannte – eine Provokation, wie sie auch George Grosz gesetzt hatte. Der KPD trat Heartfield 1919 noch am Tag nach ihrer Gründung als Mitglied bei. Anders aber als die Künstler der russischen Oktoberrevolution versprach er sich nichts vom konstruktivistischen Avantgardismus; er suchte Massenwirksamkeit zu erreichen durch das genaue Gegenteil von Abstraktion, durch die Fotografie, die seiner Ansicht nach den Wahrnehmungsgewohnheiten der werktätigen Klasse sehr viel besser entsprach. Auf dieser Grundüberzeugung baute seine Tätigkeit in dem von Willi Münzenberg mit Unterstützung der Kommunistischen Internationale aufgebauten Medienkonzern auf; Heartfield hat hauptsächlich in diesem Umkreis die Verwendung von Fotomaterial zu politischagitatorischen Zwecken an Plakaten, Flugzetteln oder Transparenten, seit 1930 vor allem in der Arbeiter-Illustrierten Zeitung (AIZ) entwickelt und erprobt. Bedeutung gewann Heartfields Verfahrensweise aber auch bei der Gestaltung der Schutzumschläge für die Bücher linksgerichteter Verlage, vor allem für die Bücher des von seinem Bruder Wieland Herzfelde geführten Malik-Verlags. Anfänglich – so etwa bei den ersten Bänden des von Malik so erfolgreich propagierten sozialkritischen Schriftstellers Upton Sinclair – arbeitete Heartfield mehr im Stil der amerikanischen Bildreportage, also noch ohne Montagetechnik, ehe er sich nach 1927 mehr und mehr als Monteur betätigte und sich dabei nicht so sehr vorgefundenen Fotomaterials bediente als eigens angefertigter Fotos. Eine nächste Stufe repräsentierte die »dialektische Montage«, in der Vorder- und Rückentitel aufeinander bezogen waren. Zunehmend wurde auch der Buchrücken mit einbezogen, als eine eigenständige Gestaltungszone. Damit gehörte Heartfield zu den ersten, die den Umschlag in seiner Dreidimensionalität begriffen und genutzt haben. Als das entscheidende Kriterium galt ihm, dass ein Umschlag »funktioniert«, d. h. unter allen denkbaren Blickwinkeln seine Wirkung entfaltet. So entwickelte er einen neuen Buchtypus, »der Sprach- und Bildkunstwerk miteinander vereint« und insofern nicht auf seinen Agitationsaspekt reduziert werden darf.55 Wieland Herzfelde zufolge sollten die – gelegentlich von der Justiz inkriminierten und desto aufsehenerregenderen ‒ Umschläge einen doppelten Zweck erfüllen:
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Zu Heartfield vgl. u. a. Herzfeld: John Heartfield. Leben und Werk; Montage: John Heartfield. Vom Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung; Töteberg: Heartfield; John Heartfield. Der Schnitt entlang der Zeit; John Heartfield – Graphiker, Fotomonteur, Typograph; John Heartfield. [Ausstellungskatalog.] Akademie der Künste zu Berlin. Vgl. John Heartfield: Der Schnitt entlang der Zeit, S. 29. Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs, S. 305.
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Sie sollten nicht nur die wenigen linken, sondern auch die andersgesinnten Buchhändler veranlassen, unsere Neuerscheinungen ins Schaufenster zu stellen, und auch die Nachauflagen. Die Bücher mußten also auf den ersten Blick anziehend sein, zugleich agitatorisch wirksam. Denn wir sagten uns, auch wer nicht kauft, soll allein durch den Anblick im Sinne des Buches beeinflußt werden. Selbst den Buchrücken nutzten wir auf neue Weise. Noch im Regal sollte das Buch zum Nachdenken und Lesen anregen.56 Der »Verpackungskünstler« Heartfield trug so entscheidend zum wirtschaftlichen Erfolg des Verlags bei, ohne die agitatorische Wirksamkeit zu vernachlässigen. Als Heartfield als einer der bestgehassten Gegner des Nationalsozialismus im Februar 1933 aus Deutschland flüchten musste und nach Prag ging, begann für ihn noch einmal eine große Zeit: Im antifaschistischen Kampf des kommunistischen Exils hat er mit seine besten politisch-satirischen und politisch-agitatorischen Leistungen geliefert, auch wenn die künstlerische Akribie, mit der er vor 1933 gearbeitet hatte, unter den Bedingungen des Exils nicht mehr möglich war. Jedenfalls gewann sein in den ausgehenden zwanziger Jahren geprägtes Motto »Benütze Foto als Waffe!« jetzt eine überragende Bedeutung, überhaupt schien im Aufbau einer öffentlichkeitswirksamen AntiHitler-Front buchgestalterischer Arbeit eine geradezu historische Aufgabe zuzuwachsen. Für den von Wieland Herzfelde in Prag weiter geführten Malik-Verlag gestaltete Heartfield wieder zahlreiche Schutzumschläge, so etwa für Rudolf Oldens Hitler der Eroberer oder Willi Bredels KZ-Roman Die Prüfung. Größere Resonanz noch erzielte er aber mit seiner Tätigkeit für Willi Münzenberg, der vom Pariser Exil die Weltöffentlichkeit über Hitler und den Nationalsozialismus aufzuklären suchte und sich dabei der Dienste des genialen Fotosatirikers versicherte. Legendäre Wirkung wurde vor allem dem Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror (1933) zugeschrieben, das alles in allem in sieben deutschsprachigen Ausgaben und zwölf fremdsprachigen Übersetzungen erschien. Die Aufklärungsarbeit wurde fortgesetzt mit dem Braunbuch II. Dimitroff contra Göring und noch zahlreichen weiteren Büchern wie Hitler treibt zum Krieg (1934) oder Das braune Netz (1935) – jeweils mit einprägsamen Umschlaggestaltungen von Heartfield. Auch die Arbeit für die AIZ führte er im Exil mit gewohnter optischer Schlagkraft weiter. Einen besonderen Triumph bedeutete sicherlich der offizielle Protest des »Dritten Reichs« gegen Arbeiten Heartfields, als diese in Prag ausgestellt wurden. Im Dezember 1938, nach dem Zugriff Hitlers auf die Tschechoslowakei, flüchtete Heartfield mit Hilfe des Artist’s Refugee Committee aus Prag und ging nach London, wo er zwar die Unterstützung durch ein Netzwerk von Künstlerfreunden, jedoch Arbeitsmöglichkeiten nur in sehr beschränktem Maße vorfand.57 Wenn die erste Exilphase bis 1939 einen Höhepunkt seines Wirkens darstellte und wenn er auch in der 1939 in London unter dem bezeichnenden Titel »One Man’s War against Hitler« gezeigten Ausstellung seiner Arbeiten eine Anerkennung seines Wirkens sehen konnte, so erwies sich der Aufenthalt in England nachfolgend doch als weitaus weniger erfolgreich. Zwar arbeitete
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Herzfelde: John Heartfield. Leben und Werk, S. 47. Vgl. Copeland Buenger: John Heartfield in London, 1938‒45.
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Abb. 7: Der Schutzumschlag zum Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror zeigt Heartfield auf der Höhe seiner bildagitatorischen Kraft. Die Fotomontage auf der Titelseite (Göring als Henker) entspricht der AIZ-Titelseite 1933, Nr. 36, die Rückseite einer Montage aus der AIZ 1933, Nr. 30.
Heartfield bei der Free German League of Culture mit und lieferte Titelblätter u. a. für die Zeitschrift Inside Nazi Germany. Anfang 1940 als »enemy alien« interniert, erkrankte er im Lager und wurde nach Hause entlassen. Erst 1943 erhielt er eine Arbeitsgenehmigung als freischaffender Karikaturist; im gleichen Jahr erschien auch die von der Free German League of Culture herausgegebene Anthologie Und sie bewegt sich doch. Freie deutsche Dichtung, für die er noch einmal eine klassische politische Montage zur Verfügung stellte. Schon etwas früher hatte er, da ihn die KP nicht mehr finanzierte, sich zur Aufnahme einer freien Erwerbstätigkeit entschließen müssen; er lieferte nun Umschlagentwürfe für den bürgerlich-liberalen Verlag Lindsay Drummond Ltd. Etwas später erhielt er auch Aufträge von Penguin Books und anderen Londoner Verlagen. Im Rahmen dieser Auftragsarbeiten verfolgte er einen realistisch-pragmatischen Stil, in welchem nur noch ganz gelegentlich die Könnerschaft zum Tragen kam, die Heartfield in anderen Zusammenhängen so oft bewiesen hatte. Das häufig Uninspirierte dieser Gestaltungen erklärt sich aus seiner Isolation: »Es fehlte ein informiertes Publikum, dem seine politische Aussage, sein beißender Humor und seine Sprache zugänglich gewesen wären.«58 Rückblickend wird man feststellen müssen, dass eine Zäsur in Heartfields Leben bereits mit jener Selbstzerstörung des politischen Exils eingetreten war, von der in erster
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Copeland Buenger: John Heartfield in London, 1938‒45, S. 78.
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Abb. 8: Im britischen Exil lieferte John Heartfield – wie hier für den Verlag Drummond 1945 – nur noch wenig inspirierte buchgraphische Konfektionsware ab.
Linie das kommunistische Milieu betroffen war. Beginnend von der verunglückten Volksfrontstrategie des linken Lagers über die Moskauer Schauprozesse 1936 /1938 und endgültig dann mit dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 hatte die KP jeden Rest von Glaubwürdigkeit eingebüßt, und im Grunde war bereits mit der 1937 beginnenden Loslösung Willi Münzenbergs von der Partei einer Fortführung der antifaschistischen Propaganda der Boden weitgehend entzogen. Heartfield selbst war aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit Münzenberg und aufgrund seiner Nähe zu der als parteifeindlich abgestempelten »Versöhnler«-Fraktion in der KPD und seiner Beziehungen zu späteren »Renegaten« in eine gefährdete Position geraten.59 Dies zeigte sich dann noch einmal in aller Deutlichkeit, als er sich 1950 entschloss, nach Deutschland zurückzukehren: In der DDR sah er sich als Westremigrant – ungeachtet seiner ungebrochen kommunistischen Überzeugungen – peinlichen Befragungen ausgesetzt und entging nur knapp einer Anklage als Verräter. Eine bereits angekündigte Ausstellung seiner Werke wurde vom ZK der SED verboten; erst 1956 /1957 wurde er – halbherzig – rehabilitiert. Sein Tätigkeitsfeld hatte sich jetzt fast ganz auf die Bühnenbildnerei verlagert, als Buchdesigner sah er sich mehr oder minder kalt gestellt. Heartfield starb 1968, zu einem Zeitpunkt, als er im Westen gerade neue Berühmtheit gewann, indem die Studentenbewegung und die Außerparlamentarische Opposition sich in ihren visuellen Agitationsformen an das Vorbild dieses vielleicht wirkmächtigsten politischen Künstlers des 20. Jahrhunderts an-
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Vgl. die aufschlussreiche Darstellung dieser Problematik bei Krejsa: Schweigen in schwerer Zeit.
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lehnten.60 Den Bruch, den sein Schaffen mitten im Exil erfahren hat, konnte dies nicht ungeschehen machen. Der produktiven ersten Exilphase waren schwerste Enttäuschungen und ein tiefer Fall gefolgt; die unsicher gewordene Existenz und Anpassungsdruck in der Fremde zwangen zu künstlerischen Konzessionen und zu Lohnarbeit. Nachdem der politisch-gesellschaftliche Kontext weggebrochen war, der Heartfields Wirken Sinn und Richtung gab, versiegte auch seine Kreativität.
Georg Salter Im Gegensatz zu Heartfield hielt sich Georg Salter von aller Parteipolitik fern; sein Schaffenskontext war immer schon der Markt.61 Als er im November 1934 in New York ankam, schien er daher für das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« besser gerüstet zu sein als viele seiner Mitemigranten. Denn wenn die existentielle Problematik des Exils grundsätzlich aus der Konfrontation mit unvertrauten Traditionszusammenhängen und unvertrauten gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsteht, so galt dies durchaus auch für die Ankömmlinge in den Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade sensible Künstler mussten sich die Frage stellen, ob es ihnen gelingen würde, sich dort wieder ein Tätigkeitsfeld zu schaffen. Nicht wenige von ihnen waren ja Gefangene der Vorurteile und Klischees, die sich in Deutschland vor 1933 herausgebildet hatten. In der Weimarer Republik lief seit Mitte der zwanziger Jahre eine angeregte »Amerikanismus«-Debatte: Man registrierte und diskutierte in der deutschen Gesellschaft Symptome eines kulturellen Wandels, die man ausgelöst sah von Einflüssen, die nach dem Ersten Weltkrieg aus den USA nach Europa bzw. Deutschland übergeschwappt seien, mit der Filmkultur Hollywoods oder dem Jazz ebenso wie in der Arbeitsorganisation, dem »Taylorismus« oder auch »Fordismus«. Amerikanismus, das sei das Ideal des Praktischen, sei Energie und Tempo. Aber auch Attribute wie »barbarisch« oder »unkultiviert« wurden in diesem Diskurs immer wieder laut.62 Eines der wichtigsten Felder der kulturkonservativen und kulturpessimistischen Amerikakritik war die amerikanische Buchkultur. An ihr wurde vor allem eines wahrgenommen: Die totale Kommerzialisierung, repräsentiert durch das Bestsellerwesen. Als 1927 die Literarische Welt – erstmals in Deutschland ‒ nach amerikanischen und englischen Vorbildern eine Bestsellerliste einführte, protestierte das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels gegen diese »weitere Verengung und Verflachung des geistigen Lebens«. Und nicht nur ein Joseph Roth sah in den Bestsellerlisten den bedauernswerten
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Allerdings hatte man sich bereits unmittelbar nach dem Krieg wieder Heartfields Montagen erinnert; bereits 1945 kam in Zürich eine erste Dokumentation in Buchform heraus, 1946 wurde eine Auswahl seiner Fotomontagen in einer Ausstellung in Amsterdam gezeigt. Zu Salters Tätigkeit vor seiner Emigration siehe die herausragende Publikation von Jürgen Holstein: Georg Salter. Bucheinbände und Schutzumschläge aus Berliner Zeit 1922‒1934. Überaus aufschlussreich für die Weimarer Zeit aber auch Holstein: Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919–1933. Siehe ferner Thomas S. Hansen: Classic Book Jackets. The Design Legacy of George Salter. New York: Princeton Architectural Press 2005; Georg Salter. Buchkünstler, Illustrator, Schriftmann [online]. Vgl. Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918‒1933, S. 265‒286, mit zahlreichen Beiträgen zu diesem Diskurs.
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Ausdruck des zunehmenden »Amerikanismus im Literaturbetrieb«.63 Das war jedenfalls das Bild, das sich die Repräsentanten des »alten Europa« von diesseits des Atlantiks machten. Wer Gelegenheit hatte, sich in den USA näher umzusehen, mochte freilich zu etwas anderen Eindrücken gelangen. So etwa Gottfried Bermann Fischer, dem zwar die Organisation des amerikanischen Buchhandels mit der absoluten Dominanz der salesmen, der Einkäufer der Grossisten, äußerst suspekt und unangenehm war, der aber die Rede vom angeblichen »Tiefstand der amerikanischen Buchkultur« so nicht stehen lassen wollte. Er hob in seinen Erinnerungen die »äußere Qualität« der amerikanischen Bücher lobend hervor; deren Ausstattung habe damals schon jedem Vergleich mit anderen Ländern standgehalten. In der Tat hatte die Buchgestaltung in den Vereinigten Staaten in den zwanziger und dreißiger Jahren, noch vor Ankunft der deutschen Emigranten, einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht, wie im Bereich des Schutzumschlags gezeigt werden kann. Richtig war, dass die andersartigen Strukturen und Funktionsweisen des amerikanischen Buchmarktes und das bereits sehr entwickelte Bestsellerwesen sich auch auf die Praxis der Buchgestaltung auswirkten. Den Büchern mussten ihre guten Absatzchancen gleichsam bereits von außen anzusehen sein, sonst erhielten sie von den Einkäufern der Grossisten erst gar nicht die Chance, sich auf dem Markt zu bewähren. Dazu kam noch ein anderer Umstand: Die Verlage mussten dem Handel fast alles mit Remissionsrecht liefern; schlimmstenfalls kam fast die gesamte unverkaufte Auflage wieder zurück an den Verlag. Die Zeitspanne für die Bewährung auf dem Markt war mithin also eine sehr knappe. Die Neuerscheinungen hatten in den USA damals schon einen vergleichsweise kurzen Lebenszyklus und standen gerade bei den zahlreichen kleineren Buchverkaufsstellen in direkter Konkurrenz zu den Zeitschriften-Titelblättern, die ebenfalls die Aufmerksamkeit der Käufer zu erregen suchten. Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass das Zeitschriftenwesen für die Entwicklung der amerikanischen Buchgestaltungsund Illustrationskultur von besonderer Bedeutung gewesen ist. Harper’s Weekly und Scribner’s Monthly waren um 1900 in Auflagen von hunderttausenden, ja bis zu einer Million verbreitet und übten entsprechend großen Einfluss auf die ästhetischen Anschauungen des Publikums aus. Dabei handelt es sich nur um zwei der prominentesten Beispiele einer Zeitschriftenszene, die damals fast 6.000 Periodika umfasste. Die drei Jahrzehnte von 1890‒1920 werden vielfach als die »goldenen Jahre der amerikanischen Illustration« bezeichnet, aber es waren goldene Jahre der Zeitschriftenillustration – frei-
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»Es gibt einen Zusammenhang zwischen der amerikanischen Literaturmode und den aktuellen Propagandasitten unserer Verleger. Den Prospekten mit den dutzendweis photographierten Dichtern, deren privates Angesicht doch nichts zu tun hat mit ihrem offiziellen, folgen die sogenannten Best-Sellerlisten, die statistischen Lobeshymnen auf den Rekord, die Losung, die ganz Amerika vereint, sowohl die Hundertprozentigen als auch die Oppositionellen. […] Und in der ständigen deutschen Sucht, vom Ausland (das Falsche) zu lernen, die schon eine Art hysterischer Tugend geworden ist, nimmt man jene amerikanischen Sitten an, die drüben wahrscheinlich aus Traditions- und Ratlosigkeit und Unerfahrenheit entstanden sind.« (Joseph Roth: Amerikanismus im Literaturbetrieb. In: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt Nr. 5 v. 29. Januar 1928, hier zit. n. Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918‒1933, S. 292. Allerdings bemerkte Roth auch einen umgekehrten Trend: »Amerika europäisiert sich bewußt, mittels Kunstgewerbe und Eifer.«
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lich mit deutlichen Auswirkungen auf die Gestaltung von Büchern, namentlich auf die Gestaltung der »Book Jackets«. Einzelne Illustrationskünstler errangen damals Berühmtheit, wie etwa Charles Dana Gibson, der mit Federzeichnungen im Stil des Art Nouveau für die Satirezeitschrift Life, für Scribner’s, Century und Harper’s Bazaar am Anfang des 20. Jahrhunderts rasch zu einem der beliebtesten Illustratoren der USA avancierte.64 An dieses vorgeprägte Erfolgsmuster haben sich auch bedeutende amerikanische Buchdesigner wie Paul Wenck angelehnt. Enormen Einfluss hatten nicht zuletzt auch der Film bzw. das Filmplakat. Eine andere publikumswirksame Linie des Umschlagdesigns ergab sich aus den Western-Motiven, wie sie der ebenfalls bedeutende Buchgestalter Edward McKnight Kauffer bis in die fünfziger Jahre hinein verwendet hat; der amerikanische Mythos wurde auch von vielen seiner Kollegen immer wieder beschworen. Neben die auf den Massenmarkt abgestellten, entschieden plakativen Gestaltungskonzepte traten in den dreißiger Jahren verschiedenste Formen modernistischen Buchdesigns, Experimente mit Schrift ebenso wie zeichnerische Lösungen, etwa die an lateinamerikanische Motivik angelehnten, exotistisch-ornamentalen Entwürfe William Addison Dwiggins’, die in der geschmackvollen Reihe der »Borzoi Books« des bedeutenden Verlegers Alfred A. Knopf gefunden werden können. Tatsächlich gewann die Ende der zwanziger Jahre ins Leben gerufene »Borzoi«-Reihe beträchtliche Bedeutung für die Entwicklung des anspruchsvoll gestalteten Gebrauchsbuchs in den USA. Es fehlte also nicht an Beispielen dafür, dass die Indienstnahme der BookjacketGestaltung für Zwecke der Absatzsteigerung künstlerische Wirkungen nicht unbedingt verhinderte. Wie in Deutschland übte von den verschiedenen Kunst-Ismen besonders der Konstruktivismus Einfluss auf die Arbeit der Buchdesigner aus. Charakteristisch waren auch die Bestrebungen, auf Schutzumschlägen das Motiv »Schnelligkeit« zu inszenieren. Der Mythos des modernen Amerika war, auch im Selbstverständnis der Amerikaner, ganz klar mit dem Mythos der Geschwindigkeit verbunden. Solchen vergleichsweise ambitionierten Ansätzen stand als »Normalfall« die buchgestalterische Konfektionsarbeit gegenüber, deren Hauptkennzeichen eine unter Termindruck stehende Fließbandproduktion von Entwürfen und im Ergebnis zumeist die weitgehende Loslösung dieser Entwürfe vom Inhalt des Buches war. Die Buchdesigner arbeiteten in den USA damals überwiegend als »Freelancer« und mussten zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts alle Aufträge annehmen, die ihnen angeboten wurden. Unter diesen Umständen hatten sie nur selten die Möglichkeit, sich gründlicher mit dem Inhalt der von ihnen eingekleideten Bücher auseinanderzusetzen. Diese Rahmenbedingungen gilt es zu bedenken, wenn im Folgenden die Exilkarriere Georg Salters, des bedeutendsten deutschen Buch- und Umschlaggestalters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, näher betrachtet wird. 1897 in Bremen geboren, war Salter anfänglich als Bühnenbildner am Theater tätig gewesen (wie übrigens auch J. Heartfield) und hatte in dieser Eigenschaft rund hundert Inszenierungen ausgestattet.65 Als Buchgestalter wurde er in den zwanziger Jahren in
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Sein bevorzugtes Thema waren die amerikanischen Frauen des Establishments; er kreierte das weibliche Schönheitsideal der legendär gewordenen »Gibson Girls«. Vgl. Schauer: Georg Salter und die jüngste Phase des Schutzumschlags; ders. Der Schriftmann George Salter.
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Fachkreisen rasch bekannt durch einige aufsehenerregende Arbeiten für den Verlag Die Schmiede; außerdem arbeitete er für Gustav Kiepenheuer, für S. Fischer und noch andere Verlage.66 Einige Arbeiten Salters legen den Gedanken nahe, dass er seine Erfahrungen und Methoden als Theatermaler in die Umschlaggestaltung eingebracht haben könnte. So wird immer wieder die Tendenz zur »Inszenierung« von Büchern hervorgehoben: Plakative Wirkungen, starke Farbkontraste, ein Hang zum Sensationalistischen sind für Salters Umschläge durchaus charakteristisch. Allerdings: Salter hat auch konservative Umschläge und Einbände entworfen, die praktisch, sogar bibliotheksgerecht gewesen sind. Er war in dieser Hinsicht ein Funktionalist und hat auf den Verwendungszusammenhang eines Buches Bedacht genommen. Die primäre Funktion des Schutzumschlags war für ihn, die Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken. Das berühmteste Beispiel dafür stellt Salters Umschlag zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz von 1929 dar, auf dem die werbende Bebilderung mit einer werbenden Beschriftung kombiniert ist. Es ist evident, dass sich der Künstler eingehend mit der Konstruktion des Romans befasst hat. Beispiele für solche individualisierenden Lösungen finden sich aber auch unter den Entwürfen, in denen sich Salter mit dem Thema Amerika, mit amerikanischen Autoren und Büchern über Amerika auseinanderzusetzen hatte, wie bei Dos Passos’ Der 42. Breitengrad (erschienen 1930 bei S. Fischer), Heinrich Hausers Feldwege nach Chicago oder bei dem Umschlag zu Egon Erwin Kischs Paradies Amerika, wo durch formatsprengenden Titelschriftzug oder Verwendung von Schablonenschrift tatsächlich die Anmutung einer »amerikanischen« Ästhetik erzeugt wird. In diese Richtung wies auch sein Entwurf zu Bernhard Kellermanns futuristischem Roman Der Tunnel von 1931: Futuristisch (im Sinne Marinettis) ist hier vor allem die Dynamik, das rasende Tempo, mit dem der Zug durch den Tunnel bzw. durch das Bild fährt, das sich integral über U1, Rücken und U4 erstreckt. Salter stand nicht nur ein breites Repertoire von Schriftlösungen zur Verfügung, typographischen, gezeichneten, gemalten, ebenso gehörte es zu seiner Arbeitsweise, dass er von unterschiedlichen Techniken Gebrauch machte: von der Schreibfeder und vom Pinsel ebenso wie vom Reißbrett oder vom Setzkasten. Für jedes Buch suchte er ein eigenes Gestaltungskonzept, und daraus erklärt sich auch, dass in seinem Oeuvre laute und emotionalisierende Entwürfe neben feinfühlig nuancierten stehen. Zuweilen hat Salter aber weniger die Individualität des Buches als die Zielgruppen der Verlage berücksichtigt, für die er tätig gewesen ist – übrigens stets ohne feste Bindung an einen Verlag. Vieles weist also darauf hin, dass Salter bereits in Deutschland ein gewissermaßen »amerikanisches« Verständnis von der Aufgabe des Schutzumschlags entwickelt hat. In der Tat fielen für ihn bereits in den zwanziger Jahren beim Schutzumschlag künstlerische Gestaltungsaufgabe und kommerzielle Funktion zusammen; den wesentlichsten Effekt des Umschlages sah er in der »Herbeiführung des Kaufentschlusses«. Diese »heroische Lebensaufgabe des Schutzumschlags« (so soll Salter sich gegenüber Georg Kurt Schauer geäußert haben) sah er als eine zeitlich begrenzte, denn üblicherweise wurde damals der Umschlag, dessen Bestimmung schon mit dem Kauf des Buches erfüllt war, spätestens
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Vgl. Haefs: Ästhetische Aspekte des Gebrauchsbuchs in der Weimarer Republik, bes. S. 362‒370.
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nach der ersten Lektüre weggeworfen.67 Dass Salter mit seiner Auffassung vom Umschlag als dem wichtigsten Werbemittel für das Buch und als Verkaufshilfe für den Buchhändler keineswegs die uneingeschränkte Zustimmung seiner Fachkollegen geerntet hat, überrascht nicht; diesen – wie E. R. Weiß – erschienen seine Entwürfe vielfach als zu marktschreierisch. Als Salter nach der »Machtergreifung« aus seiner Tätigkeit als Lehrer an der Abteilung für angewandte Graphik an der Höheren Graphischen Fachschule in Berlin hinausgedrängt wurde und sich zur Emigration in die USA entschloss, soll er bei seiner Ankunft Ende 1934 gerade zehn Worte Englisch gesprochen haben. Trotzdem gelang ihm mit Hilfe seines jüngeren Bruders Stefan, der bereits 1930 in die USA ausgewandert war, eine rasche Etablierung in New York. Stefan las für ihn die englischsprachigen Bücher, die er ausstatten sollte, und gab ihm zum Buchinhalt einen zusammenfassenden Bericht, der ausreichte, um ein titelbezogenes Design zu ermöglichen. Georg Salter (in den USA auch George Salter) war zunächst beim renommierten Buchherstellungsbetrieb H. Wolff angestellt; außerdem gestaltete er 1935 /1936 für die amerikanische Regierung sechs Propagandabücher der Foreign Policy Association – angesichts seiner gering ausgeprägten Neigung zu politischer Betätigung eine ironische Pointe des Exils.68 Seit 1937 war er als Freelancer mit Buchausstattungen, Umschlagentwürfen und Illustrationen für deutsche Exilverlage wie die L. B. Fischer Corporation (für die er auch ein Signet entwarf) oder die Alliance Book Corporation (mit einer bemerkenswerten Gesamtausstattung zu H. G. Wells All Aboard for Ararat) tätig, sehr bald jedoch auch für bekannte US-Verlage wie Random House oder Little, Brown and Company. Die engste Verbindung aber ergab sich mit Alfred A. Knopf, dem Inhaber des führenden Publikumsverlags jener Zeit, für dessen schon erwähntes Label »Borzoi Books« er eine Reihe von Titeln gestaltete, u. a. den Umschlag zu der Ausgabe von Thomas Manns Doctor Faustus. Von 1939 bis 1957 war Salter außerdem als Art Director bei Knopfs Mercury Publications, einem Zeitschriftenverlag, tätig. Salter dürfte in den USA Umschläge für mehr als 300 »mass market trade books« entworfen haben (nach anderen Angaben waren es sogar rund tausend); Aussagen amerikanischer Verleger zufolge hat jedes Buch mit einem Salter-Jacket eine Verkaufsauflage von mehr als 20.000 Exemplaren erreicht.69 Salter wurde nicht nur von den amerikanischen Verlagshäusern mit offenen Armen aufgenommen, sondern auch im Kollegenkreis. Als 1939, wenige Jahre nach seiner Ankunft, das buchgestalterische Werk des Emigranten in einer New Yorker Galerie präsentiert wurde, erschien aus diesem Anlass in Publishers’ Weekly ein Artikel von Sidney R. Jacobs, damals Hersteller beim Verlag Alfred A. Knopf.70 Jacobs hob die Vielseitigkeit Salters hervor; als (bis dahin) wahrscheinlich beste seiner Arbeiten nannte er Ausstattung
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Schauer: Georg Salter und die jüngste Phase des Schutzumschlags. Vgl. Hoertz Badaracco, Claire: George Salter’s Book Jacket Designs, 1925‒1940. In: Design Issues 17 (2001), No. 3, S. 40‒48. (S. 43: »When George Salter arrived in the US, propaganda design was easy to pick up: the language was plain, the purpose simple, and the genre something that pervaded public culture.«) Hoertz Badaracco: George Salter’s Book Jacket Designs, S. 47. Vgl. Jacobs, Sidney R.: George Salter. A profile. In: Publishers’ Weekly v. 3. Juni 1939, S. 2053‒2056. Der Artikel erschien in der Anlage »Bookmaking. News and Views for Those Interested in the Production of Better Books«. Vgl. ferner Heller / Chwast: Jackets required.
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Abb. 9: Viele der von Georg Salter in den USA gefertigten Umschlagentwürfe belegen sein Bestreben, den dort vorgefundenen Gestaltungstendenzen subtilere, »europäische« Formen entgegenzusetzen.
und Illustration zu Franz Kafkas Der Prozeß (1937). Salter hatte hier die Gesamtgestaltung übernommen, neben Umschlag, Einband und Typographie auch die Textillustrationen, die im Stil des Umschlags gehalten waren. Die in der Tat einfühlsame Arbeit lässt sich als Versuch interpretieren, Spezifika und Traditionen der deutschen oder europäischen Buchgestaltung in den USA zur Geltung zu bringen. Zu diesen Spezifika gehörten neben einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem Buchinhalt der Mut zu subtiler Bildwirkung: das Licht, die Lasierungstechnik, die nicht gezeichneten oder gemalten, sondern im Grunde ausgesparten Figuren, die den Angeklagten K. bedrängen – das war nun in der Tat das Gegenteil des »knalligen« Salter-Designs der zwanziger Jahre. Ebenso verrät die von Knopf herausgebrachte und vom Book-of-the-Month Club ausgewählte, daher in hoher Auflage erschienene Ausgabe von Thomas Manns Doktor Faustus (1948) eine intensive Befassung mit dem Text; das den Umschlag beherrschende alchimistische Dingsymbol (das mit klarem Textbezug auf Albrecht Dürers Melencolia I Bezug nimmt) stellt eine intellektuelle Herausforderung für den Betrachter dar, wie sie auf dem amerikanischen Buchmarkt eher selten gewagt worden sein dürfte. Als ein weiterer Beleg für diese Linie kann die tiefe Symbolik und zurückhaltende Optik des aus späterer Zeit stammenden Entwurfs zur amerikanischen Ausgabe des Unauslöschlichen Siegels von Elisabeth Langgässer herangezogen werden. Sicherlich war Salter besonders bei Werken der europäischen Literatur um eine im Gedankengehalt adäquate Präsentationsform bemüht. Doch auch bei amerikanischen Themen und Autoren war er bestrebt, eine Differenziertheit der Darstellung zu realisieren, die über den US-Standard hinausging. So etwa wird auf dem Umschlag zu John Dos Passos’ Manhattan Transfer eine Szenerie in Manhattan nicht einfach abgebildet, sondern aus der Perspektive eines Fensterblicks gezeigt und damit auf subtile Weise subjektiviert. Aus solchen Beispielen geht hervor, dass Salter seinen schon vor 1933 entwickelten Modernismus zwar erfolgreich in seine Arbeit in den USA einbringen und dort auch weiter entwickeln konnte (z. B. im Rahmen der Airbrush-Technik, auf die er sich zeit-
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weise spezialisiert hat), dass er sich aber auch ganz gezielt europäischer Tugenden erinnert hat. In dieses Bild passt auch seine maßgebliche Rolle bei der 1947 erfolgten Gründung der Book Jacket Designers Guild, die sich die Hebung der Design-Standards zur Aufgabe machte und für die er bezeichnenderweise einen »Code of Ethics« formulierte. Als Juror beim Wettbewerb der fünfzig schönsten Bücher hat Salter viele Jahre lang seine ästhetischen Maßstäbe propagiert, nachdem zuvor eine beträchtliche Zahl von ihm gestalteter Bücher prämiiert worden war. Öffentlich gewürdigt wurde auch Salters engagierte Tätigkeit als Lehrer,71 vor allem an der New Yorker Cooper Union Art School, wo er dreißig Jahre lang (1937‒1967) jeweils einen Tag in der Woche Buchillustration, Buchgestaltung, Kalligraphie und Typographie unterrichtet hat. Auf diese Weise habe – so ein Artikel in Publishers’ Weekly 1964 – der »top-flight book designer«, der zugleich »thinking professional« und ein »graphic artist of distinction« sei, die »Salter philosophy of book design and typography« vermitteln und über seine Schüler einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Weiterentwicklung des amerikanischen Buchdesigns gewinnen können.72
Buchgestalter in den Verlagen Gottfried Bermann Fischers In allen Phasen seiner Tätigkeit als Exilverleger war Bermann Fischer bemüht, den ästhetischen Anspruch, den die Bücher des S. Fischer Verlags über Jahrzehnte hinweg repräsentiert hatten, zu wahren. Eine einheitliche Linie im Buchdesign hatte der Verlag vor 1934 unter der Führung Samuel Fischers bewusst nicht entwickelt; mit den anspruchsvolleren Aufgaben wurden jeweils besonders geeignete Ausstatter betraut.73 Eine Zeitlang konnte Walter Tiemann deutlichere Akzente setzen, dann vor allem Emil Rudolf Weiß mit seiner »großen Idee von der Buchpersönlichkeit, deren Charakter von der Echtheit, dem Maß und dem organischen Einklang erfüllt sein sollte.«74 Seit den ausgehenden zwanziger Jahren wurde mit Georg Salter ein Antipode zu Weiß beschäftigt, ein »Meister der marktgerechten Buchdarbietung«.75 Insgesamt hatte der Verlag in der Ausstattung das Prinzip der Vielfalt verfolgt; jedes Werk erhielt seine eigene Physiognomie. Eine abrupte Änderung dieser Linie der individuellen Buchausstattung bot sich für Gottfried Bermann Fischer nach seiner Übersiedlung nach Wien nicht an. Gegen diese Kontinuität sprach auch nicht die Heranziehung neuer, österreichischer Buchgestalter wie Friedrich Neugebauer. Der 1911 geborene Neugebauer kam damals frisch von der Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien, wo er noch den einflussreichen Schriftlehrer Rudolf von Larisch kennengelernt hatte, gleichsam das österreichische Pendant zu Rudolf Koch in Offenbach a. M.76
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Salter hat bereits kurz nach seiner Ankunft 1935‒1936 einen Kurs für Buchdesign und Schriftkunst an der School of Library Service der Columbia University gehalten. Bennett, Paul A.: A visit with George Salter – designer, calligrapher, illustrator and teacher. In: Publishers’ Weekly vom 9. September 1964. Vgl. Schauer: Die Buchgestaltung des S. Fischer Verlages in seinen ersten sechs Jahrzehnten. Schauer, S. 53. Schauer, S. 50. Vgl. Neugebauer: Schrift als Kunst – Calligraphy as an Art.
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Neugebauer hatte in seiner Arbeit ebenfalls stets den Primat der Schrift vor Augen, auch in den meisten Arbeiten, die er seit 1936 für den Bermann-Fischer Verlag lieferte, darunter Einband und Umschlag zu Madame Curie von Eve Curie und Mitternacht von Julien Green. Hinzu trat eine rokokohafte Verspieltheit im Buchschmuck, wie das Jahrbuch des Verlages Bermann-Fischer Die Rappen von 1937 am Umschlag sowie in den Kopfleisten und den Finalien erkennen lässt.77 Die Herstellung der Bücher war völlig unproblematisch, da in Wien z. B. für das Jahrbuch Die Rappen mit Jahoda & Siegel eine ausgezeichnete Druckerei zur Verfügung stand. Die Situation änderte sich mit der von der Annexion Österreichs erzwungenen Übersiedlung nach Schweden, zumal Neugebauer im Lande blieb.78 In Stockholm wurden – was an Exilverlagen generell häufig zu beobachten war – die gestalterischen Aufgaben, die unter normalen Umständen einem externen Typographen oder Umschlaggestalter übertragen worden wären, auf hausinterne Erledigung umgestellt, aus Gründen der organisatorischen Vereinfachung, vor allem aber aus Kostengründen. Der bereits in Wien an den Verlag gebundene Herstellungsleiter Justinian Frisch*, der sich eigentlich als Übersetzer einen Namen gemacht hatte, war mit dem Verlag nach Stockholm emigriert und wurde dort auch als Buchgestalter tätig. Ein nicht unerheblicher Teil der zwischen 1939 und 1945 in Stockholm erschienenen Verlagsproduktion ist von ihm ausgestattet worden – wenn auch ohne allzu großen künstlerischen Anspruch. Vor allem aber wurde immer öfter auch die Frau des Verlegers als Buchgestalterin aktiv: Brigitte Fischer, die Tochter Samuel Fischers, hatte bereits in jungen Jahren in Berlin eine private Ausbildung durch Emil Rudolf Weiß erhalten und sich in der Druckerei Otto von Holtens mit Handsatz und Pressendruck auseinandergesetzt.79 Für den Stockholmer und für den US-amerikanischen Verlagszweig lieferte sie zahlreiche Ausstattungsentwürfe, die teilweise in der Nachfolge von Weiß standen und gelegentlich sehr konservative Züge aufwiesen.80 Das zeigt sich z. B. an Carl Zuckmayers Der Seelenbräu (Stockholm 1945), der auch im Inneren mit zierlich gestalteten Vignetten und Bildinitialen aus der Zeit fällt. Aus der USA-Zeit gibt es dagegen Beispiele dafür, dass Brigitte Bermann Fischer bereit war, das Buchdesign in den Dienst eines flexibel gehandhabten Buchmarketings zu stellen und sich an die Buchästhetik des Gastlandes anzugleichen. Dass es sich dabei tatsächlich um eine Akkommodation an die Gestaltungsusancen auf unterschiedlichen Buchmärkten handelte, zeigt der Vergleich von zeitgleich entstandenen Covers für Joachim Maass’ Roman Das magische Jahr (Stockholm 1945) bzw. The Magic Year (New York 1944).81 Der Umschlag der schwedischen Ausgabe verkörpert mit einem Titel-
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Siehe dazu die Abbildung im Kap. 5.2.1 Belletristischer Verlag. Neugebauer hatte auch Anteil am Design der Forum-Bücherreihe (Gespräch des Verfassers mit Fr. Neugebauer am 4. Januar 1996 in Bad Goisern / OÖ). Nach dem Krieg gestaltete Neugebauer u. a. das Zehnjahrbuch 1938‒1948 des Bermann-Fischer Verlags und für Querido 1949 Leonhard Franks Die Jünger Jesu. Vgl. Pfäfflin: 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886‒1986. Von Brigitte Bermann Fischer* ausgestattete Bücher sind verzeichnet bei Nawrocka, S. 197, Nr. 33, 40, 46, 47, 49, 51, S. 198, Nr. 58. Für L. B. Fischer Publishing als Buchgestalter tätig war auch Herbert Cahn: s. Nawrocka, S. 197, Nr. 54. Vgl. S. Fischer, Verlag, S. 563 f.
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Abb. 10: Ein Hang zum Traditionalismus kennzeichnete die Entwürfe von Brigitte Bermann Fischer, wie hier beim Umschlag zu Carl Zuckmayers Der Seelenbräu.
schildchen und einem handschriftlich ausgeführten Vorstellungstext eine prägnant »europäische« Geschmacksrichtung, während in der amerikanischen Ausgabe ein Romantitel in übergroß gezeichneter Schrift das Cover dominiert, das somit entschiedener auf rasche Werbewirkung angelegt war. Wohl aus diesen Erwägungen der Werbewirksamkeit heraus hat sich Bermann Fischer in den USA auch gerne wieder der Dienste Georg Salters bedient, z. B. bei der Anthologie Heart of Europe (1943), die dieser mit einem Umschlag in dem für ihn charakteristischen Rot / Blau ausgestattet hat. Häufiger noch als Georg Salter wurde von der L. B. Fischer Corporation aber dessen Bruder Stefan Salter mit Gestaltungsaufträgen bedacht.82 Die rund 60, durchwegs englischsprachigen Bücher der L. B. Fischer Corporation zeigen, wie unter dem Druck des Marktes fruchtbare Synthesen und Amalgamierungen zwischen amerikanischer und deutscher Buchkultur und -ästhetik entstanden.
Internationalisierung der Schriftkultur: Die Emigration der Typographen Typographie, verstanden als die Kunst einer Schriftgestaltung, die zwischen Text und Leser optimal zu vermitteln sucht, war in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein intensiv diskutiertes Thema. Die in Leipzig, Offenbach, Stuttgart und München entstandenen Institutionen typographischer Arbeit und Ausbildung standen untereinander in einem produktiven Konkurrenzverhältnis, das durch Diskussionsanstöße des Staatlichen Bauhauses in Dessau noch bereichert wurde. Ein über Jahrzehnte fortlaufender, in Theorie und Praxis geführter Diskurs hatte nicht nur eine Vielzahl von Schriftschöpfungen entstehen lassen, er hatte auch bei seinen Protagonisten ein Formbewusstsein von besonderer ästhetischer Reflektiertheit erzeugt. Doch wie so viele Kulturbereiche wurde auch dieser vom politischen Umbruch des Jahres 1933 zerstört; zahlreiche Angehörige dieser Berufsgruppe waren gezwungen, außer Landes zu gehen und in ihren jeweiligen Zufluchtsländern einen Neuanfang zu versuchen. Die wichtigsten Schauplätze dieser Neuanfänge sind in den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien, den USA und in Palästina / Israel zu suchen. In den Niederlanden nahm Henri Friedlaender mit seinen Ausstattungsentwürfen für rund 80 Bücher für die Verlage Querido und Allert de Lange – wie bereits erwähnt –
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Siehe dazu weiter oben; Stefan Salter war seit seiner Ankunft in den USA u. a. auch für die Verlage Alfred Knopf, Viking Press, Simon and Schuster und Random House tätig. Genaueres dazu in seiner Autobiographie: Salter: From Cover to Cover.
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eine herausragende Stellung ein, wobei er eine auf sensible Schriftästhetik ausgerichtete Linie vertrat.83 Noch bedeutsamer aber war, längerfristig betrachtet, sein Einfluss auf die niederländische Buchtypographie. Zwar konnte die heimische Schriftkultur auf eine großartige Tradition zurückblicken, doch fand Friedlaender seinem persönlichen Eindruck zufolge »dort einen in törichter, mechanischer Form erstarrten Jugendstil, und eine erstarrte Buchtypographie im Sinne der Doves Press« vor; die ursprünglich guten Vorbilder hatten sich totgelaufen.84 In seinem Bemühen, frisches Leben in die holländische Druckpraxis zu bringen, konnte er nicht nur auf seine an der Akademie für graphische Kunst und Buchgewerbe in Leipzig erworbenen Kalligraphiekenntnisse zurückgreifen, sondern auch auf seine an Rudolf Koch geschulte Orientierung am Ausdruckswert der Schrift und der Schriftzeile: »Ich habe probiert, zu einer Typographie zu kommen, die nicht starr ist, die atmet und frei ist; und auch, soweit ich vermochte, das was in der modernen Kunst geschah in die Typographie hinein zu bringen.«85 Viele Jahre lang ‒ unterbrochen nur durch die Jahre der deutschen Besetzung, die er in einem Versteck in einem Vorort von Den Haag überdauerte ‒ war Friedlaender als Lehrer für Schriftgestaltung tätig, er war Verfasser eines Standardlehrbuchs in Typographie86 und hat in Fachblättern publiziert. Auf vielfältige Weise, auch mit seinen vorbildlichen Arbeiten für holländische Verlage, hat er schulbildend gewirkt und zur Qualitätssteigerung im niederländischen Buchgewerbe erkennbar beigetragen. Mehrfach waren es auch junge Emigranten aus Deutschland, die Friedlaenders Anregungen aufnahmen und sein Werk in den Niederlanden auf ihre Weise weiterführten, so etwa Bertram Weihs, der in der Nachfolge Friedlaenders zeitweilig als künstlerischer Leiter bei der Druckerei Mouton und später als Professor an der Akademie in Den Haag tätig war. Ein anderes Zentrum bildete sich an der Nieuwen Kunstschool in Amsterdam, das von den ehemaligen Bauhausschülern Paul Citroen, Hajo Rose und J. Havermans aufgebaut wurde; auch die Modegestalterin und Illustratorin Helen Ernst war dort als Lehrerin tätig. Einer der Kursteilnehmer an der Kunstschool war Otto Treumann, der 1935 als Sechzehnjähriger in die Niederlande kam. Im Untergrund aktiv am niederländischen Widerstand beteiligt, war er nach Kriegsende als Graphikdesigner tätig, gestaltete mit fundiertem drucktechnologischem Wissen u. a. Industrieaufträge, Plakate und gelegentlich auch Bücher. Treumann gilt in den Niederlanden als einer der wichtigsten Repräsentanten des Graphikdesigns mit internationaler Reputation. Im Grenzbereich von Typographie und Gebrauchsgraphik tätig war auch Friedrich Vordemberge-Gildewart, der nach seiner Ankunft 1938 in Amsterdam u. a. für das Druckhaus Duwaer die Typographie und Werbegraphik besorgte; 1952‒1954 war er Lehrer an der Akademie der Schönen Künste in Rotterdam. Durch seine Berufung an die neu gegründete Hochschule für Gestaltung in Ulm, wo er bis 1962 Leiter der Abteilung für Visual Design war, repräsentiert Vordemberge-Gildewart den seltenen Fall eines Remigranten.87
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Vgl. Löb: Exil-Gestalten, bes. S. 78–141. Ovink: Die Gesinnung des Typographen, S. 19. Ovink, S. 19. Typographisch ABC. En beknopt overzicht der grondbeginselen van degelijke typographie. Den Haag: Mouton 1939. Zu Vordemberge-Gildewart vgl. auch den Abschnitt über bibliophile Drucke in diesem Kapitel weiter unten.
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Helmut Salden* (1910 Essen – 1996 Amsterdam), der seine Ausbildung an der Folkwangschule in Essen bei Max Burchartz erhalten und dem »Ring neuer Werbegestalter« angehört hatte, gewann ebenfalls prägenden Einfluss auf die Entwicklung des holländischen Buchdesigns. Nach einer Odyssee durch halb Europa (u. a. hat er in der Schweiz als Buchhändler gearbeitet) fand er 1936 in den Niederlanden Aufnahme und wurde dort zunächst Mitarbeiter von Piet Zwart; nach kurzer Zeit entschied er sich aber für die Selbstständigkeit. Während der deutschen Besatzungszeit in Lagern inhaftiert, überlebte er mit Glück, und ließ sich 1946 dauerhaft in den Niederlanden nieder. Salden arbeitete für zahlreiche Verlagshäuser, darunter Querido, De Arbeiderspers und G. A. Van Oorschot.88
Jan Tschichold Mit Jan Tschichold ging eine Zentralfigur des typographischen Diskurses in Deutschland in die Schweizer Emigration.89 Zu einer solchen hatte sich der Meisterschüler Walter Tiemanns, der studierte Kalligraph und gelernte Setzer, Anhänger El Lissitzkys und Parteigänger konstruktivistischer Strömungen, seit 1925 entwickelt, als er mit einem Sonderheft der Typographischen Mitteilungen hervorgetreten war, das eine »elementare typographie« propagierte.90 Die Reaktionen auf dieses Sonderheft waren durchaus konträr: Wenn ein Teil der Leserschaft die Rationalität des neuen typographischen Formideals begrüßte, so wurde es von anderen als »Zeichenversuche aus einer Kleinkinderbewahranstalt« oder als »neue Moskauer Richtung« abqualifiziert, als »kommunistischer Stil«.91 Schon damals ging es manchem Kritiker darum, die von Tschichold und seinen Mitstreitern verfochtenen Auffassungen als undeutsch zu denunzieren, jedenfalls als »Fremdideen«, welche die bodenständigen Traditionen zu verderben drohten. Die Attacken konnten jedoch nicht verhindern, dass Tschichold in der Folge Anerkennung als führende Persönlichkeit der typographischen Avantgarde fand, wobei ihm seine solide fachliche Bildung zugute kam, die ihn über alle Fortschrittsbegeisterung hinweg stets die Aspekte der Praktikabilität im Auge behalten ließ. Diese zunehmend pragmatische Ausrichtung zeigte sich in seiner Tätigkeit als Dozent an der von Paul Renner geleiteten Meisterschule für Buchdrucker in München ebenso wie in seinen Arbeiten als Buchgestalter, u. a. mit Gestaltungskonzepten für die Büchergilde Gutenberg. Sie zeigte sich aber auch in seiner Publikationstätigkeit,
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Siehe hierzu Salden, Helmut: Tag am Meer. Den Haag: Mikado Pers 1995; Katja Vranken u. a.: Helmut Salden: Letter Ontwerper en Boekverzorger. Rotterdam: Uitg.010 2003; de Jong, u. a.: Buch-Gestalten im Exil: Helmut Salden. Zu Leben und Werk Jan Tschicholds vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 204‒206, mit ausführlichen Literaturhinweisen. Siehe jetzt auch Jacobs / Rössler: Jan Tschichold ‒ ein Jahrhunderttypograf?. Die Typographischen Mitteilungen waren die »zeitschrift des bildungsverbandes der deutschen buchdrucker leipzig«. Vgl. den Beitrag von Friedrich Friedl im Reprint des Sonderhefts »elementare typographie«. Hrsg. auf Initiative des Deutschen Komitees des Type Directors Club of New York. Mainz: Schmidt 1986.
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angefangen von dem 1928 unter dem Titel Die neue Typographie. Ein Handbuch für zeitgemäß Schaffende erschienenen, mit vielen Beispielen versehenen Unterrichtswerk, bis zu seinem 1932 veröffentlichten Aufsatz Wo stehen wir heute?, in welchem er auf die Typographie-Entwicklung der Jahre seit 1925 zurückblickte und dafür eintrat, einige radikale Forderungen jener Zeit zugunsten des Handwerklichen zu revidieren, z. B. die Fixierung auf Grotesk-Schriften. Im März 1933 wurde Tschichold als Lehrer an der Münchener Meisterschule entlassen und im Anschluss an eine Hausdurchsuchung in »Schutzhaft« genommen, nachdem er zuvor im Völkischen Beobachter als »Kulturbolschewist« und seine neue Typographie als »undeutsch« gebrandmarkt worden war. Nach seiner Freilassung entkam er, als Tourist getarnt, im Juli 1933 in die Schweiz, nach Basel. Dort betätigte er sich zunächst, unter anfänglich schwierigen materiellen Bedingungen, als typographischer Berater der Druckerei und des Verlags von Benno Schwabe, für den er als erstes Hausregeln für den Satz festlegte. Seit 1941 wurde er für den Birkhäuser Verlag tätig, daneben auch für den Basler Holbein-Verlag. Weil er als Spezialist anerkannt wurde, erhielt Tschichold als einer der ganz wenigen Emigranten in der Schweiz eine (Teil-)Arbeitsgenehmigung, 1942 dann sogar das Basler Bürgerrecht. Tschichold veröffentlichte in der Schweiz zahlreiche Fachartikel und Bücher lehrhaften Charakters, über Typographische Gestaltung und Schriftkunde, Schreibübungen und Skizzieren sowie eine mehrfach aufgelegte Geschichte der Schrift in Bildern. Er veranlasste auch, dass seit 1943 jährlich in der Schweiz die zehn schönsten Bücher des Jahres prämiiert wurden. In welchem Maße Tschicholds vielfältige Tätigkeit zu einer Hebung des typographischen Standards in der Schweiz geführt hat, geht aus einer 1970 formulierten Einschätzung eines Beobachters hervor; danach habe Tschichold mit seinem eigenen Schaffen, aber auch als Publizist, als Lehrer und vielfältiger Anreger einen gewaltigen Einfluß auf die Hebung der Typographie in der Schweiz ausgeübt. Ohne Übertreibung darf man sagen, dass der direkte wie der indirekte Einfluß Tschicholds im Schweizer Buchdruckgewerbe auf breiter Basis die Einsicht in das wahre Wesen der Typographie eröffnet hat. Mit seinen Arbeiten demonstrierte Tschichold, was er unter der Wahl vorzüglicher Typenschnitte für die verschiedenen Aufgaben verstand, worin er einen bis in die Nuancen einwandfreien Satz sah und welche Möglichkeiten harmonischer Typographie sich ihm zu bieten schienen. Bot der Aufschwung des Buchgewerbes die materielle Möglichkeit, so bot die erzieherische Tätigkeit Tschicholds den zwingenden Anlaß zur Erneuerung und Verbesserung des Schriftmaterials in zahlreichen Druckereien. Wenn heute die meisten Betriebe über eine vorzügliche Auslese von Setzmaschinen-Schriften verfügen und das Sortiment auch weiterhin ausbauen, so geht diese Entwicklung letzten Endes auf den Stein zurück, den Tschichold 1933 ins Wasser geworfen hat.92 Tschichold war somit zum »typographischen Gewissen der Schweiz« geworden.93 Dabei blieb sein Aktionsradius keineswegs auf die Schweiz beschränkt: 1935 hielt er Vorträge
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Rotzler: Buchkunst in der Schweiz. Leben und Werk des Typographen Jan Tschichold, S. 25.
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in Dänemark, im gleichen Jahr konnte er auch eine Ausstellung zu seinem bisherigen Werk in London zeigen ‒ mit großem Erfolg, der sich u. a. darin zeigte, dass er für das Jahr 1938 mit der Gestaltung des Penrose Annual betraut wurde und noch 1937 vom Double Crown Club, der renommierten Vereinigung englischer Typographen, nach London zu einem Vortrag über das Thema A New Approach to Typography eingeladen wurde. Die Situation der Emigration lenkte den Prozess der ästhetischen Umorientierung bei Tschichold. So etwa wandte er das in den zwanziger Jahren favorisierte Gestaltungsprinzip der Asymmetrie allenfalls noch in der Werbetypographie an, nicht aber in der Buchtypographie, der er sich damals hauptsächlich widmete. Der Wandel seiner Anschauungen führte ihn von der »neuen Typographie« immer näher an die klassische, allerdings von alten Irrtümern gereinigte Typographie heran. Eine großartige Möglichkeit zur Anwendung seines Könnens bot sich ihm nach dem Zweiten Weltkrieg in England bei der umfassenden typographischen Reform der Penguin Books; diese soll nachfolgend im Unterabschnitt Großbritannien ausführlicher vorgestellt werden. Jedenfalls erwarb sich Tschichold durch diese 1947 bis 1949 durchgeführte Reform eine solche Autorität, dass er in den exklusiven Londoner Double Crown Club zugewählt wurde. Nachdem sich Verhandlungen zur Rückkehr als Direktor an die Münchner Meisterschule an unzumutbaren Bedingungen zerschlagen hatten, kehrte Tschichold 1949 in die Schweiz zurück; er nahm in Basel eine Anstellung beim pharmazeutischen Konzern Hoffmann La Roche an, für den er dann zwischen 1955 und 1967 eine immense Zahl von Broschüren und Drucksachen gestaltete, Werbematerialien für Ärzte, die »selbst einem Museum der Typographie gut anständen«.94 Die internationale Wirkung Tschicholds nach 1945 war in jedem Fall enorm, wie die zahlreichen Ehrungen beweisen, die er u. a. in den USA, Frankreich, England und in Deutschland erfahren hat. Den Radius seiner Rezeption belegen auch seine Publikationen: Sein Lehrbuch Willkürfreie Maßverhältnisse der Buchseite und des Satzspiegels, 1962 zuerst erschienen, hat 18 Neudrucke und Übersetzungen erlebt, ins Englische, Französische, Holländische, Italienische, Dänische, Norwegische, Finnische, Polnische und Ungarische. Ein Denkmal hat er sich 1967 selbst gesetzt durch eine Schriftschöpfung, die Sabon-Antiqua, die als sein opus magnum bezeichnet wird.95 Tschichold sollte mit seinem typographischen Können auch in Großbritannien bedeutsame Wirkung erzielen, allerdings erst in der Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Generell attestiert die beste Kennerein der Szene, Pauline Paucker, der deutschen Typographenemigration einen bemerkenswert großen Einfluss auf das britische Druckwesen, nicht zuletzt durch ihre zum Teil sehr individuell geprägten Positionierungen: Während Tschichold und Hans Schmoller die Eleganz des Privatpressendrucks in die
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Hans Schmoller bedauerte, dass Tschichold jahrelang für den Papierkorb der Ärzte gearbeitet habe, die seine edlen Drucksachen wohl kaum zu schätzen gewusst hätten (Buchhandelsgeschichte 1992 / 4, S. B156). Die Schrift hat unverändert große Bedeutung; nicht zufällig ist der von Hans Peter Willberg gestaltete Katalog 40 Jahre Buchkunst. Die Entwicklung der Buchgestaltung im Spiegel des Wettbewerbs ›Die schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland‹ 1951‒1990 aus der Sabon gesetzt.
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Massenbuchproduktion und sogar in den Bereich des Taschenbuchs einzubringen wussten, repräsentierten andere wie Berthold Wolpe, Elizabeth Friedlaender und Imre Reiner die Solidität der fachlichen Ausbildung in Deutschland, aber auch die dort erworbene Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Anforderungen.96 Zusätzlich zu den Genannten waren noch andere hervorragende Vertreter der deutschen Typographie-Tradition ins englische Exil gelangt, so etwa Jakob Hegner* (1882 Wien – 1962 Lugano), der 1936 nach Wien und nach dem »Anschluss« 1938 weiter nach London geflüchtet war, wo er für verschiedene Verlage als Berater tätig wurde, auch in typographischen Angelegenheiten. Hegner stand in London offenbar mit Mitexilanten in Verbindung, u. a. mit Grete Ring, für die er 1939 einen achtseitigen rein typographischen Ausstellungskatalog gestaltete – »ein fulminanter Auftakt« für die Paul Cassirer Ltd.97 Erst in jüngster Zeit erfährt das Lebenswerk der vielseitigen Graphikerin und Typographin Elizabeth Friedlander (fr. Elisabeth Friedländer, 1903 Berlin – 1984 Kinsale, Cork) gebührende Aufmerksamkeit, v. a. durch die Arbeiten von Pauline Paucker.98 Nach einem Studium der Kalligraphie und Typographie an der Berliner Akademie war die Schülerin von Emil Rudolf Weiß zunächst für den Ullstein Verlag tätig, u. a. mit (vornehmlich handgeschriebenen) Titelschriftentwürfen für das damals führende Frauenmagazin Die Dame; außerdem gestaltete sie für mehrere Verlage Bücher. Noch kurz vor ihrer Emigration hatte sie 1933 /1934 für die Bauersche Gießerei in Frankfurt am Main eine Schrift (Elisabeth-Antiqua) entworfen; 1936 ging sie nach Italien und betreute bei Mondadori in der Editoriale Domus das Luxusjournal Domus.99 Nachdem sich der Plan, in die USA zu gehen, zerschlug, erreichte sie im Februar mit einer von einem Hilfskomitee vermittelten Dienstmädchen-Arbeitserlaubnis (Domestic Service Permit)100 London und arbeitete zunächst in einer Werbeagentur, in den Kriegsjahren aber, im Sinne eines aktiven Widerstands gegen das Hitler-Regime, in der »Black Propaganda Unit« mit, in der deutsche Drucksachen gefälscht wurden.101 Nach dem Krieg war sie als freischaffende Graphikerin tätig, entwarf Buchausstattungen und Umschlagdesigns, auch trat sie mit Buntpapier-Entwürfen hervor und lieferte Schmuckbordüren für die Linotype Corporation und Monotype Corporation.
96 Vgl. hierzu und zum Folgenden Paucker: Typographers in Exile. 97 Siehe Feilchenfeldt: Grete Ring als Kunsthistorikerin im Exil, S. 141. – Zu Hegner als Exilverleger siehe im Kap. 5.2.1 Belletristikverlage. 98 Paucker: New Borders. The Working Life of Elizabeth Friedlander; Howes / Paucker: German Jews and the Graphic Arts; Paucker: Die Bauersche Giesserei und die Elisabeth-Schrift; Paucker: The Art of Understatement; Paucker: Crossing Borders, bes. S. 41‒51. 99 Paucker: Crossing Borders, S. 41 f. – Der italienische Staat hatte bekanntgegeben, dass nichts gegen eine Einreise von Hitlerflüchtlingen spreche, solange diese sich nicht politisch betätigten; gerade Künstler und auch Schriftsteller machten damals von dieser Möglichkeit Gebrauch. Vgl. zu dieser Künstleremigration Voigt: Refugio Precario. 100 Siehe hierzu Kushner: An Alien Occupation – Jewish Refugees and Domestic Service in Britain. 101 »›Several refugee graphic artist found work with the Ministry of Information; she [Elizabeth Friedlaender] was one of the few women to do so on a salaried basis.‹ – in a government propaganda unit.« Paucker: Crossing Borders, S. 37.
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Eine bemerkenswerte Karriere war in England auch Berthold Wolpe beschieden. Wolpe war ein »Offenbacher«, nicht nur weil er 1905 dort geboren wurde, sondern weil er Schüler von Rudolf Koch und nach Abschluss des Studiums 1928 dessen Assistent war; 1929 bis 1933 lehrte er selbst an der Frankfurter und Offenbacher Kunstschule.102 Aus dieser Zeit stammte auch seine erste Schriftschöpfung, die Hyperion. Schon damals trat er in Kontakt mit englischen Kollegen, vor allem mit Stanley Morison; aus diesem Kontakt entstand Wolpes Albertus-Schrift. Als er im Februar 1935 mit Berufsverbot belegt wurde, war die Entscheidung, nach England zu gehen, mehr als naheliegend. Seit 1941 war er dort als Buchdesigner für den Verlag Faber & Faber (zeitweise auch für den Verlag Gollancz) tätig und hat in dieser Eigenschaft im Lauf der Jahre mehr als 1.500 Umschläge und Einbände entworfen. Wolpe hat auch Fachbücher zur Typographie publiziert und erhielt das Ehrendoktorat des Royal College of Art; außerdem wurde er in den illustren Kreis der Royal Designer for Industry (RDI) gewählt. Die Ehrenmitgliedschaft der Maximilian-Gesellschaft erhielt er 1985 für sein Werk als Schrift- und Buchgestalter, Lehrer und Schrifthistoriker – ein Werk, »das im besonderen Maße das europäische Buchwesen beeinflußt hat«.103 An dieser Stelle gilt es nun, zu Tschichold und zur Geschichte des Penguin-Verlags zurückzukehren.104 »Es gibt kaum etwas, was in einem Taschenbuch-Verlag so intensiv diskutiert wird wie die Umschlaggestaltung«, stellte Hans Schmoller dazu fest, einer der besten Kenner dieser Materie.105 In der Tat: Anders als beim individuell gestalteten Hardcover-Buch kommt es beim Taschenbuch aufgrund seines Seriencharakters auf ein langfristig wirkungsvolles und zugleich auf Wiedererkennbarkeit gerichtetes Basisdesign an. Die Penguins hatten es – mit Hilfe des Albatross-Vorbilds (Genaueres hierzu am Ende dieses Kapitels) – geschafft, von Anfang an als Markenartikel aufzutreten; allerdings waren Erscheinungsbild und Typographie nicht bis ins Detail ausgearbeitet. In der Verlagsgeschichtsschreibung heißt es dazu kritisch: »The earliest Penguins were, so to speak, a home-made job.«106 Nach dem Weltkrieg musste Allen Lane, bei allgemein wieder steigenden Ansprüchen an die Produktgestaltung, an eine Überarbeitung des Designs denken, »and had the genius to realise that he needed not just any designer, but the best in the world that he could buy.«107 Im August 1946 entschied er sich für den in der Schweiz tätigen Jan Tschichold.108 Er sollte eine durchgreifende typographische Reform des Inneren und Äußeren der Penguin-Bücher vornehmen. 102 Zu Berthold Wolpe vgl. Paucker: Two typographer-calligraphers: Berthold Wolpe and Elizabeth Friedlander; ferner: Buchgestaltung im Exil, S. 214 f., mit weiterführenden Literaturhinweisen. 103 Ehrenurkunde der Maximilian-Gesellschaft 1985. 104 Zur Penguin-Geschichte vgl. den Abschnitt zur Frühgeschichte des modernen Taschenbuchs in diesem Kapitel weiter unten. 105 Schmoller: Die Taschenbuch-Revolution, S. B139. 106 Williams: The Penguin Story 1935‒1956, S. 24. Dort heißt es auch: »There was not much subtlety about Penguin books in those days […].« 107 McLean: Jan Tschichold. A Life in Typography, S. 11. 108 McLean, S. 11; vgl. dazu auch die Darstellung bei Hare: Penguin Portrait, S. 74: »Jan Tschichold had been identified, on Lane’s enquiring in 1947, as the world’s leading typographer. He was tracked down to Switzerland and appointed immediately and at a high salary to overhaul and standardize Penguin design and layout […].«
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Tschichold nahm im Mai 1947 seine Arbeit in London auf. Noch vor seiner Ankunft langte in der Penguin-Zentrale eine Zusammenstellung aller bis dahin erschienenen Verlagstitel (mehr als 500) ein: Tschichold hatte noch in der Schweiz Titel für Titel durchgesehen und mit seinen kritischen Anmerkungen versehen – für die zuständige PenguinAbteilung bereits ein erster Intensivkurs in Typographie.109 Aber dies war – wie aus Tschicholds 1950 publiziertem Bericht »Meine Reform der Penguin Books«110 hervorgeht ‒ erst der Anfang. Zunächst konstatierte er, dass das durchschnittliche Niveau der Satzgestaltung in England – im schroffen Gegensatz zu den sehr beachtlichen Spitzenleistungen ‒ wesentlich niedriger war als in der Schweiz; man arbeitete nach Regeln, die aus dem 19. Jahrhundert stammten, der Verkehr mit den verschiedenen, oft weit entfernten Setzereien und Druckereien erfolgte brieflich, oft dauerte es Wochen und Monate, bis die Abzüge vorlagen. Als dringlichste Aufgabe erkannte er daher die Formulierung von bindenden Satzregeln; seine »Penguin Composition Rules«,111 in denen er auf vier Seiten Anweisungen für den glatten Satz bis in Einzelheiten niederlegte, sind nachmals berühmt geworden. Während die Maschinensetzer Tschicholds Vorstellungen sehr rasch umsetzten, stieß er bei den Handsetzern, die v. a. mit Titelblattgestaltungen befasst waren, auf größeren Widerstand. Für verschiedene unausrottbar scheinende Fehlgriffe, die sich laufend wiederholten, ließ er sogar Stempel anfertigen. Da Tschichold als »verantwortlicher Architekt der Bücher« nicht nur Gestaltungen für Neuerscheinungen, sondern auch für Neuauflagen schon früher erschienener Werke, und zwar sowohl für Text wie Umschläge, vorzunehmen bzw. zu kontrollieren hatte, erwies sich seine Aufgabe – die umfangreichste und bedeutungsvollste seiner bisherigen Tätigkeit – als eine geradezu gigantische. In allen Bereichen schienen Änderungen notwendig, beginnend bei Schriften: Anstelle der Times New Roman, die sich nach Tschicholds Ansicht vor allem für den Zeitungsdruck eignet, wurde jetzt immer öfter aus der Baskerville, Bembo, Garamond oder Caslon gesetzt. Für einzelne Serien wie die »King Penguins« wurden auch noch andere Schriftschnitte gewählt wie Lutetia oder Walbaum, allesamt jedoch Schriften klassischen Ursprungs. In Verbindung mit den neuen generellen Satzanordnungen und neuen Auszeichnungsformen wurde »das frühere Aussehen der Penguin-Bücher völlig verändert«.112 Tschicholds Reform machte auch vor dem Verlagssignet nicht halt; der Pinguin hatte zuvor verschiedene Veränderungen zum Schlechteren hin durchlaufen und wurde nun von ihm in Anlehnung an die ursprüngliche Grundform neu gestaltet, wobei die Fassung in einem Oval besonders für die Schmutztitel Standard wurde. Auch im Bereich der Umschlaggestaltung sorgte er für neue Formen oder wenigstens für Revisionen und die Einführung neuer Elemente. Nicht zuletzt führte er auch eine neue Papiersorte (Werkdruckpapier, chamois getönt) ein und setzte – gegen die bisherige Achtlosigkeit in diesem Punkt ‒ dessen Verwendung in der richtigen Laufrichtung durch.
109 McLean: Jan Tschichold, S. 12. 110 Tschichold: Meine Reform der Penguin Books (ursprünglich erschienen in den Schweizer Graphischen Mitteilungen 69 (1950), S. 264‒270). 111 Tschichold: Penguin Composition Rules (ursprünglich erschienen als Privatdruck Harmondsworth: Penguin Books 1947). 112 Tschichold: Meine Reform der Penguin Books, S. 43.
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Tschichold war sich seiner einzigartigen Leistung durchaus bewusst – »ich habe in 29 Monaten nicht weniger als etwa 500 Bücher, fast jedes Seite für Seite, betreut oder für den künftigen Druck vorbereitet, was wohl einen Weltrekord bedeutet« ‒; dennoch hatte er vor allem anfänglich nicht geringe Mühe, seine Vorstellungen durchzusetzen. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz im Herbst 1949 konstatierte er durchaus zufrieden: »Ein Verlagsunternehmen, das Bücher in Millionen für die Millionen herstellt, hat jedenfalls beweisen können, daß diese billigsten Bücher genauso schön gesetzt und ausgestattet werden können wie teurere, ja besser als die meisten andern!«113 Als Tschichold Penguin verließ, trat auf seinen Vorschlag hin der deutsche Emigrant Hans Schmoller* (1916 Berlin – 1985 Berkshire)114 die Nachfolge auf der Stelle an, die in buchgestalterischer Hinsicht als die wohl wichtigste im gesamten englischen Verlagswesen angesehen werden konnte. Schmoller, der seit 1933 in Berlin in der hebräischen Abteilung der Druckerei von Siegfried Scholem eine Setzerlehre absolviert und nebenbei ein Teilzeitstudium in Kalligraphie und Schriftsatz an der Höheren Graphischen Fachschule in Berlin sowie Geschichte der Kalligraphie und Typographie an der Staatlichen Kunstbibliothek betrieben hatte, war 1937 nach London gegangen, um an der Monotype Technical School das Studium fortzusetzen; kurz darauf wurde ihm angeboten, für ein Jahr eine Missionsdruckerei in Basutoland (Lesotho) in Südafrika zu übernehmen, die gerade Monotype-Maschinen installiert hatte. Schon damals zeigte sich das Ergebnis der soliden handwerklichen Ausbildung, die er bei Scholem erhalten hatte. In den Morija Druckbetrieben war Schmoller bis 1947 als Vorarbeiter bzw. Aufseher der Setzerei tätig (unterbrochen durch eine zweijährige Internierung) und stieg später zum stellvertretenden Geschäftsführer auf. Anfang 1947 kehrte er nach Großbritannien zurück und arbeitete zunächst als Buchdesigner und typographischer Assistent des Vorsitzenden Oliver Simon bei der für ihre hervorragenden Druckerzeugnisse bekannten Curwen Press in London;115 ab 1949 war er Vorstandsmitglied, ehrenamtlicher Geschäftsführer und Präsident des renommierten Londoner Double Crown Club.116 Als Tschicholds Nachfolger stieg Schmoller bei Penguin Books 1956 zum Produktionsleiter auf und war 1960 bis 1973 Direktor des Unternehmens; bis 1976 hatte er die Oberaufsicht über das Erscheinungsbild der Penguin Books. Er hat somit fast 25 Jahre lang wesentlich zu der Erfolgsgeschichte dieses Verlagsunternehmens beigetragen. Seine Tätigkeit bei Penguin wurde von branchenkundigen Beobachtern aber weniger unter dem Aspekt einer Berufskarriere als vielmehr als eine kontinuierliche Suche nach typographischer Perfektion wahrgenommen. Überhaupt bildete Penguin einen Knotenpunkt für emigrierte deutsche Typographen, denn als Jan Tschichold daranging, das Design der Penguin Books zu überarbeiten, schrieb er an die von ihm bewunderte Elizabeth Friedlander und lud sie zur Mitarbeit ein. Damit begann ihre lange anhaltende Verbindung mit Penguin: Friedlander entwarf Buntpapiere, zu denen es eine lange Buchbinder-Tradition in Deutschland gab, erstellte
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Tschichold, S. 47. Vgl. zum Folgenden Howes / Paucker: German Jews and the Graphic Arts, S. 467‒469. Simon war es auch gewesen, der Allen Lane zum Engagement von Tschichold geraten hatte. Vgl. Hans Schmoller, typographer; Buchgestaltung im Exil 1933‒1950, S. 197.
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Umschlagentwürfe, zeichnete ein neues kalligraphisches Penguin-Logo und steuerte fast alle handgeschriebenen Titel für die Pelican History of Art-Serie bei. Gerade diese Reihe repräsentierte eine echte Refugee-Produktion, insofern daran der Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner als Herausgeber und Hans Schmoller (als Nachfolger Tschicholds) als Typograph und Designer sowie auch Berthold Wolpe als Zeichner des Pelican-Motivs beteiligt waren.117 Die Penguin-Erfolgsgeschichte war somit seit ihren Ursprüngen eng mit der deutschen Emigration verbunden, und blieb es über viele Jahrzehnte hinweg.
Die Bauhaus-Typographie im Exil Im Exilland USA stellte die Bauhausrezeption in Art und Umfang ein bemerkenswertes Phänomen dar. Die seit 1919 am Staatlichen Bauhaus in Weimar bzw. seit 1926 in Dessau entwickelte Ästhetik hatte in Produktdesign und Architektur zu markanten Positionierungen geführt, aber auch zu einer spezifischen Typographie, für die vor allem die Namen von Lászlo Moholy-Nagy und Herbert Bayer standen.118 Moholy-Nagy gilt als der eigentliche Schöpfer der Bauhaus-Typographie, vor allem durch seine Gestaltungskonzepte für die Serie der Bauhaus-Bücher, die zum Kennzeichen des funktionalistischen Stils der Buchausstattung geworden sind.119 Moholy-Nagy hat auch theoretische Überlegungen zu einer »zeitgemässen Typographie« publiziert, deren Kennzeichen er in der Konzentration auf die ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten und in einer dauernden Resonanz gegenüber dem sie umgebenden Leben, auch gegenüber konkurrierenden Medien sah.120 Er selbst experimentierte mit verschiedensten Medienkombinationen, so etwa mit dem Einsatz fotografischer Mittel in der Typographie (»Typofoto«). 1934 emigrierte in die Niederlande und war dort zeitweise als Berater für eine Druckerei tätig, 1935 ging er nach London, 1937 schließlich in die USA. In Chicago erhielt er die Möglichkeit zur Errichtung eines »New Bauhaus«, das aber nach einem Jahr wieder geschlossen werden musste. Moholy-Nagy gründete daraufhin 1939 auf privater Basis eine School of Design (seit 1944 Institute of Design des Illinois Institute of Technology), die von ihm bis zu seinem frühen Tod 1946 geleitet wurde. Damit war ein wichtiger Stützpunkt ‒ keineswegs aber der einzige ‒ für die Bauhausnachfolge in den USA geschaffen.121 Herbert Bayer hatte 1921 ein Studium am Bauhaus aufgenommen; 1925 übernahm er als Jungmeister die Werkstatt für Druck und Reklame, die später in Werkstatt für Typographie und Werbesachengestaltung umbenannt wurde.122 In den Jahren bis 1928
117 Paucker: Crossing Borders, S. 47. 118 Dazu Rössler: Neue Typografien – Bauhaus & mehr; sowie bauhaus.typography. 100 works from the collection of the Bauhaus-Archiv Berlin. 119 Vorausgegangen ist dieser bei Albert Langen erschienenen Serie das 1923 im BauhausVerlag erschienene Buch: Staatliches Bauhaus Weimar 1919‒1923, das Moholy-Nagy typographisch gestaltet hat, während von Herbert Bayer der Einband stammt. 120 Vgl. Moholy-Nagy: Zeitgemässe Typographie. 121 Vgl. 50 Jahre New Bauhaus: Bauhausnachfolge in Chicago. 122 Vgl. zum Folgenden Wingler: Herbert Bayer. Das druckgraphische Werk bis 1971; Cohen: Herbert Bayer. The complete work; Dorner: The way beyond »art«. The work of Herbert Bayer.
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Abb. 11: Die im Dezember 1938 im New Yorker Museum of Modern Art gezeigte Ausstellung markierte den Beginn der Bauhaus-Rezeption in Nordamerika. Die Typographie des Katalogs stammte (wie auch der Umschlagentwurf ) von Herbert Bayer, der im gleichen Jahr in die USA emigriert war.
trat er mit Aufsätzen zur Schrifttheorie hervor, aber auch mit Schriftentwürfen, die auf streng geometrischer Konstruktion und konsequenter Kleinschreibung beruhten, namentlich mit der Groteskschrift Universal, deren Formen sich aus Kreisbogen und senkrechten Strichen zusammensetzte – ein Entwurf von provokanter Modernität, der als ein Meilenstein in der Geschichte der modernen Typographie betrachtet wird. Als zukunftsweisend sollte sich die Weiterentwicklung der typographischen Ansätze zu einem Konzept des Corporate Graphic Design erweisen, das sich auf Anwendungsmöglichkeiten in der Werbung bezog. Noch in Deutschland, wo er seit 1928 als Direktor der Werbeagentur Dorland in Berlin tätig war, wandte Bayer sich von der bauhaustypischen Verwendung elementarer Gestaltungsmittel ab und ging in der Auseinandersetzung mit Gestaltungsaufgaben weniger von vorgefassten ästhetischen Dogmen als von den jeweiligen inhaltlichen Zwecken und Erfordernissen aus. 1936 wurde von der Schriftgießerei Berthold die Bayer-Type geschnitten, eine immer noch streng konstruierte, aber klassizistisch anmutende Antiqua. Da für seine Anschauungen im nationalsozialistischen Deutschland kein Platz war, emigrierte er 1938 in die USA und war dort vor allem auf dem Gebiet der konzeptionell betriebenen Werbegraphik erfolgreich.123 1940‒1942 war Bayer als »instructor in design« für die American Advertising Guild tätig. Von Industrieunternehmen (besonders als langjähriger Designberater der Container
123 Zu diesen ersten Jahren in New York vgl. Neumann: Kunst als universelle Verantwortung. Der Weg Herbert Bayers in Amerika.
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Corporation of America und der Arco) und Verlagen erhielt er z. T. umfangreiche Aufträge, darunter auch solche zur Gestaltung von Büchern und Informationsbroschüren; besondere Anerkennung fand er mit Konzepten zur Visuellen Kommunikation, aber auch als Ausstellungsdesigner, Architekt und Innenausstatter. Viele seiner Entwürfe aus den vierziger und fünfziger Jahren wirken noch heute progressiv, so das Layout zu dem 1953 erschienenen World Geographic Atlas. 1958‒1960 entwarf Bayer noch einmal ein »basic alphabet«, mit dem er an seine typographischen Arbeiten der zwanziger Jahre anknüpfte. Bayer hat sich den Gegebenheiten in den USA, vor allem der engen Verquickung von Kultur und Kommerz, hervorragend angepasst und dabei »das stilistische und geistige Potential der Avantgarde für eine sozialromantische Versöhnung von Industrie und Gesellschaft zur Verfügung gestellt«; mit Recht wird in jüngster Zeit aber auch die innere Einheit seiner persönlichen Entwicklung hervorgehoben: »Bayer selbst legitimierte bis an sein Lebensende seine Arbeit mit dem Verweis auf seine künstlerische Herkunft aus dem Bauhaus und formulierte damit, dem Beispiel von Gropius folgend, einen dynamisch-flexiblen Bauhaus-Begriff, der alle Brüche und Unterschiede (auch zu Europa) zugunsten einer Kontinuität einebnete.«124
Typographie in Palästina / Israel Ein eindrucksvolles Beispiel für die Auswirkungen der Typographen-Emigration stellt schließlich Palästina bzw. das 1949 gegründete Israel dar, ein Land, das vom größten Teil der Eingewanderten nicht als Exil betrachtet wurde, sondern als Land ihrer Väter, in das man heimgekehrt war. Hier begegnen wir wieder Henri Friedlaender, der sein in Leipzig und Offenbach erworbenes, in den Niederlanden perfektioniertes schriftgestalterisches Knowhow in den Dienst der Aufbauarbeit des neuen Staatswesens stellte. Friedlaender war eingeladen worden, nach Jerusalem zu kommen, um dort die Ausbildung von Druckereifacharbeitern zu organisieren. Er übernahm 1950 die Leitung der neugegründeten Hadassah-Druckereifachschule und schuf unter schwierigsten Umständen – »um nur eine Büchse schlechter Farbe oder ein Ries schlechten Papiers erobern zu können, musste er persönlich eine ungeheure Menge Zeit und Mühe aufbringen«125 – durch Aufstellung eines Lehrprogramms die Voraussetzungen für die Entwicklung eines leistungsfähigen Druckgewerbes in Israel; viele der von ihm herangebildeten Setzer- und Druckergesellen sind später in verantwortliche Positionen aufgestiegen. 1958 brachte Friedlaender einen neuen Schriftschnitt für das Hebräische heraus, die Hadassah, an der er bereits in Deutschland zu arbeiten begonnen hatte und der er sich in den Niederlanden, vor allem auch in den Jahren seiner Untergrundexistenz 1942‒1945, intensiv gewidmet hatte.126 Diese Schrift, die »erste moderne hebräische Druckletter«, völlig originär und dazu »von ausgezeichneter Lesbarkeit«, setzte neue Maßstäbe in der hebräischen Typographie und fand vielfältige Verwendung bis hin zur Schreibmaschine.127 124 Droste, Magdalena: Vom Bauhaus zu »Commerce and Culture«. Herbert Bayer als Partner der Industrie in Amerika. In: Herbert Bayer. Kunst und Design in Amerika 1938‒1985, S. 119‒124; hier S. 123 f. 125 Ovink: Die Gesinnung des Typographen, S. 12. 126 Vgl. Friedlaender: Die Entstehung meiner Hadassah-Hebräisch. 127 Tamari: Nachruf auf Henri Friedlaender, S. 95.
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Neben Friedlaender machte sich noch ein zweiter aus Deutschland Vertriebener um die Etablierung des israelischen Druckwesens verdient, Moritz Spitzer* (1900 Boskowitz / Mähren – 1982 Jerusalem).128 Spitzer hatte 1932‒1934 als wissenschaftlicher Sekretär Martin Bubers gearbeitet und ab 1933 das Lektorat des SchockenVerlags Berlin übernommen, dessen über zweihundert Titel umfassende Produktion er wesentlich mitbestimmte. So betreute er von 1934 an als Herausgeber die Schocken-Bücherei, eine bedeutende Buchserie deutschjüdischer Autoren. In den Monaten August 1938 bis zur erzwungenen Schließung des Unternehmens Ende Dezember 1938 war er Leiter des Schocken-Verlages; vor seiner Flucht nach Palästina im März 1939 gelang es ihm noch, mit dem Argument der Deviseneinkünfte für das Dritte Reich einen Großteil des Schocken-Lagers an Salman Schocken selbst zu verkaufen und den Transfer nach Palästina zu organisieren. Spitzer ließ sich in Jerusalem nieder und gründete bald nach seiner Ankunft Abb. 12: In seinem Verlag 1941 seinen eigenen Verlag Tarshish Books Jerusalem, Tarshish Books brachte Moritz in welchem er bis zu seinem Tod anspruchsvoll gestalteSpitzer typographisch vorbildte und literarisch wertvolle Bücher herausbrachte. 1943 lich gestaltete Bücher heraus, wie 1940 einen Erzählungsgab er in der Jerusalem Press Else Lasker-Schülers letzte band von Itzhak Shenberg. Gedichtsammlung Mein blaues Klavier heraus. 1945‒1960 war Spitzer außerdem Direktor der Publikationsabteilung der Jewish Agency Jerusalem und an bedeutenden Editionen des Bialik-Instituts beteiligt, so als beratender Herausgeber der mehrbändigen Encyclopaedia Biblica, zudem 1951 Mitgründer und bis 1963 Direktor einer Schriftgießerei in Jerusalem. In dieser Funktion hat sich Spitzer um die Entwicklung neuer hebräischer Schriften große Verdienste erworben, zumal es in Israel damals wenig brauchbares Typenmaterial gab – ein empfindlicher Mangel angesichts der von der Regierung betriebenen Hebräisierungsbestrebungen, mit deren Hilfe die von großen ethnischen Differenzen und Bildungsgegensätzen gekennzeichnete Gesellschaft des neugegründeten Staates stärker integriert werden sollte.129 Später trat Spitzer auch als Buchgestalter für andere Verlage und Gesellschaften hervor, u. a. für die Israelische Akademie
128 Vgl. Poppel: Salman Schocken und der Schocken Verlag; Lowenthal, Ernst G.: Zum Tode von Dr. Moritz Spitzer. In: Aufbau, 14. Januar 1983, S. 20; Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 305‒461, bes, S. 305‒308, 317‒320, 421 f.; Der Schocken Verlag / Berlin. Jüdische Selbstbehauptung in Deutschland 1931‒1938; Buchgestaltung im Exil, S. 199 f.; Brita Eckert: Art. Moritz Spitzer. In: LGB2 Bd. 7 (2005), S. 176; New Types. Three Pioneers of Hebrew Graphic Design. Hrsg. von Ada Wardi (Ausstellungskatalog). Jerusalem: Israel Museum 2016; www.germandesigners.net/designers/moritz_spitzer. 129 Moritz Spitzer: The Development of Hebrew Lettering. In: Ariel, No. 37, 1974, S. 4‒28 (auch als Sonderdruck des Ministry of Foreign Affairs, Jerusalem 1974).
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der Wissenschaften: »Sein Sinn für Ordnung, sein Erfindungsreichtum im Gebrauch vorhandener Materialien, sein fundiertes Wissen und seine Hartnäckigkeit waren die Voraussetzung für das Erscheinen zahlreicher hervorragender Bücher.«130 Spitzer war lange Jahre Juryvorsitzender bei buchkünstlerischen Wettbewerben und Berater staatlicher Stellen, z. B. der Bank of Israel oder der Israelischen Akademie für Natur- und Geisteswissenschaften: »Behörden und andere Institutionen in Israel wenden sich ständig an ihn, um Rat zu finden auf einem Gebiet, auf dem er eine Kapazität des Landes ist.«131
Buchillustratoren im Exil Buchillustration umfasst ein weites Spektrum an Betätigungsfeldern; sie schließt die ganz persönliche Auseinandersetzung des Künstlers mit einem Text (vielfach im Rahmen einer exklusiven Publikationsweise in Kleinstauflagen) ebenso mit ein wie die Auftragsarbeit, die dem Gebrauchsbuch auf dem Massenmarkt einen Absatzvorteil sichern soll. Zwischen diesen Polen bewegten sich auch die Wirkungskreise der emigrierten Buchillustratoren, wobei es exilbedingt nicht selten zu Schwerpunktverschiebungen kam. Die introvertierte Arbeit des in der Fremde auf sich selbst zurückgeworfenen, gesellschaftlich isolierten Graphikers, für den die Vertreibung das Ende einer bis dahin erfolgreichen Laufbahn bedeutete, ist für die Exilsituation nicht weniger charakteristisch als die weitgefächerte Tätigkeit des hochaktiven Künstlers, der sich an sein neues Umfeld und dessen ökonomische Rahmenbedingungen perfekt assimilieren konnte. Welchen Weg die Schicksale nahmen, war nicht zuletzt von den Gegebenheiten in den einzelnen Zufluchtsländern abhängig. In Großbritannien begegneten die deutschen Emigranten einer großen Tradition der Buchillustration, wie sie sich vor allem im 19. Jahrhundert, von William Blake bis Aubrey Beardsley, von Cruikshank bis Walter Crane, herausgebildet hatte.132 Andererseits hatten die Neuankömmlinge neue Facetten anzubieten, wie das Beispiel von Rolf A. Brandt zeigt, der – nach internationaler Kunstausbildung – 1933 nach England kam, jahrzehntelang als Lehrer am London College of Printing tätig war und durch seinen eigenwilligen Illustrationsstil einige Bekanntheit erlangte. Diese Eigenwilligkeit resultierte aus speziellen graphischen Techniken wie der Frottage (Durchreibungen), vor allem aber aus Brandts Neigung zu einer perspektivischen Verzerrung und einer makabren oder auch sarkastischen Beleuchtung der Bildmotive. Der bedeutendste Repräsentant eines deutschen Illustrationsstils in England war aber doch Hellmuth Weissenborn. Nachdem er 1939 seine Professur an der Leipziger Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe aufgeben musste, war er nach London gegangen, wo es ihm gelang, von 1941 bis 1970 am Ravensbourne College of Art seine Lehrtätigkeit fortzusetzen, wo er aber vor allem für eine Vielzahl von Verlagen 130 Soifer: Moritz Spitzer, ein Pionier hebräischer Schrift- und Buchgestaltung, S. 221. 131 Soifer: Moritz Spitzer, S. 222. – Zum Verleger Moritz Spitzer siehe auch im Kap. 5.2.1 Belletristischer Verlag den Abschnitt Palästina. 132 Vgl. Neugebauer: Zeichnen im Exil – Zeichen des Exils?; Kinross: Emigré Graphic Designers in Britain. – Zum gesamten Abschnitt Buchillustratoren im Exil vgl. Buchgestaltung im Exil 1933–1950, bes. S. 113–135.
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Illustrationsaufträge ausführte. Sein Exilschicksal meisterte er »mit viel Initiative, Anpassungsfähigkeit und Selbstbescheidung«.133 Der Illustration und Druckgrafik hat sich Weissenborn erst in den Kriegsjahren in London in größerem Stil zugewandt, als dies fast die einzigen künstlerischen Betätigungsmöglichkeiten waren, mit denen ein Einkommen zu erzielen war. Weissenborn erwies sich jetzt als ein Meister des Holzstichs, arbeitete aber auch mit Kunststoffplatten und Linolschnitt, ebenso beherrschte er Feder und Tusche sowie alle denkbaren Techniken der Landschaftsmalerei. Gemeinsam mit seiner Frau Lesley McDonald betrieb Weissenborn seit 1945 einen eigenen Verlag, die Acorn Press, in der zahlreiche von ihm illustrierte Bücher erschienen, als »limited editions«, die im Handsatz und auf der Handpresse hergestellt wurden. Ein auffälliges Phänomen ist die vergleichsweise große Zahl von weiblichen Vertreterinnen des Genres Buchillustration gerade in Großbritannien. Eine besondere Spielart der Buchillustration verkörperte Erna Pinner, die vor ihrer Emigration 1935 als Gefährtin von Kasimir Edschmid zahlreiche Reisebücher illustriert hatte und damals schon mit einer besonderen Begabung für Tiermotivik aufgefallen war. Auf dieser Linie war sie dann auch in England tätig, u. a. als Illustratorin der englischsprachigen Ausgaben von Felix Saltens Tiererzählungen. Im Grunde begann für sie im Exil eine zweite Karriere, und zwar im Bereich der wissenschaftlichen Tierbuchillustration, die auf zoologisch exakter Beobachtung beruhte: »Sie entwickelte einen neuen Stil der naturwissenschaftlichen Illustration, in dem sie mit fast photographischer Detailtreue Volumen, Proportionen und Texturen wiedergeben konnte.«134 Entscheidend war ihre Begegnung mit dem Zoologen Julian Huxley: »He was able to get her some work illustrating books on natural history which gave her a basic living and later she was commissioned to illustrate her own well-researched writings such as Curious Creatures and Born Alive. Here she developed the economical linear style which she had used for illustrating her travel books and for journals like Der Querschnitt, into more naturalistic, worked-up studies.«135 Auf dieser Grundlage illustrierte und schrieb Pinner im Laufe ihres Lebens mehr als 60 Bücher.136 Trotz dieser erfolgreichen Neuorientierung forderte ihr die Situation einiges ab: »Dank ihrer ungeheuren Selbstdisziplin, Zähigkeit und Lernfähigkeit wurde sie ein Sonderfall unter den oftmals zur Erfolglosigkeit verdammten Exilanten […]; bis zu ihrem Tod 1987 lebte die frühere Weltreisende ›in stiller Anonymität‹ in einer kleinen Wohnung in Hampstead«.137 Aus Österreich kamen 1937 Margarete Berger-Ham(m)erschlag (1902 Wien – 1958 London)138 sowie 1938 Bettina Ehrlich (1903 Wien – 1985 London), spezialisiert auf Kinderbuchillustration.139 Im März 1939 traf, wie Elizabeth Friedlander aus dem fa-
133 Wendland: Der Illustrator und Pressendrucker Hellmuth Weissenborn, S. 75. 134 Becker: Von der Kunst zur Wissenschaft: Der erstaunliche Lebensweg der Erna Pinner, S. 11. 135 Paucker: Crossing Borders, S. 39. 136 Ausführliche Angaben dazu in Buchgestaltung im Exil 1933‒1950, S. 191‒193. 137 Becker: Von der Kunst zur Wissenschaft, S. 11. – Pinner erhielt 1960 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland. 138 Sie schuf die Illustrationen zu Stefan Zweig: The buried candelabrum. London: Cassell 1937. Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 145. 139 Vgl. Buchgestaltung im Exil 1933‒1950, S. 153.
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schistischen Italien kommend, Katerina Wilczynski (1894 Posen – 1978 London) in Großbritannien ein. Wilczynski, die in Deutschland in Leipzig bei Hugo Steiner-Prag und in Berlin bei Emil Orlik und Hans Meid studiert hatte, wurde in London als »unofficial war artist« u. a. mit der Aufgabe betraut, die von den Bombenangriffen zerstörten oder beschädigten Kirchen der Stadt zu zeichnen. Außerdem hatte sie Verbindungen zu dem nach Oxford transferierten Cassirer Verlag, wie überhaupt in vielen der Verlage, für die sie später als Illustratorin und Buchgestalterin tätig wurde, Emigranten eine leitende Stellung einnahmen, wie etwa André Deutsch bei Nicholson & Watson.140 Nach 1945 unternahm sie zahlreiche Reisen innerhalb Europas, besonders nach Griechenland, und spezialisierte sich als Buchillustratorin und Graphikerin auf antike Motive, wobei sie von unterschiedlichen druckgraphischen Techniken wie Holzschnitt, Radierung oder Lithografie Gebrauch machte. Zwei weitere Buchillustratorinnen, Milein Cosman (geb. 1922 Düsseldorf) und Susan Einzig (geb. 1922 Berlin), kamen als Jugendliche nach England und haben dort erst ihre Ausbildung erhalten; sie begannen ihre Berufslaufbahn erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1936 hielt sich Walter Trier (1890 Prag – 1951 Craigleth b. Collingwood, Ontario, Kanada) in London auf, wo er mit Titelblattgestaltungen und Karikaturen für Zeitschriften, aber auch in Zusammenarbeit mit dem britischen Informationsministerium an der Gestaltung antinazistischer Broschüren befasst war.141 Nach seiner 1947 erfolgten Übersiedlung nach Kanada trat er wieder als Illustrator der Werke Erich Kästners auf, als der er seit den zwanziger Jahren berühmt geworden war. Erwähnung verdienen auch jene bildenden Abb. 13: Zu dem Werk De pen is machKünstler, die vorzugsweise als Maler oder in an- tiger. De geschiedenis van den oorlog deren Kunstsparten hervorgetreten sind, aber als in caricatuur, erschienen in Amsterdam Illustratoren doch auch bemerkenswerte Leistun- 1947, hat Walter Trier die Umschlaggen vollbracht haben. Zu ihnen gehören Hans gestaltung beigetragen – und hat auch Feibusch (1898 Frankfurt a. M. – 1998 London), sonst immer wieder seinen spitzen Stift der das Genre der Wandmalerei in England neu in den Dienst des Kampfes gegen belebt hat, und die seit dem Expressionismus den Nationalsozialismus gestellt. profilierten, 1933 in Deutschland als »entartete Künstler« diffamierten Maler Oskar Kokoschka und Ludwig Meidner, ebenso Richard Ziegler (1891 Pforzheim − 1992 Pforzheim), der seit 1932 auf der dalmatinischen Insel
140 Paucker: Crossing Borders, S. 39 f.; nähere Angaben zu Biographie und Werk in Buchgestaltung im Exil 1933‒1950, S. 213. 141 Zum Thema Karikaturen im Exil siehe auch Neugebauer: Anti-Nazi-Cartoons deutschsprachiger Emigranten in Großbritannien.
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Korcula gelebt hatte, 1937 nach England kam und neben einem umfangreichen malerischen Oeuvre auch beachtliche buchillustratorische Arbeiten schuf. Eine Besonderheit stellt das Isotype Institute dar, das 1942 in Großbritannien von Otto Neurath (1882 Wien – 1945 Oxford) und seiner Frau Marie Neurath (1898 Braunschweig − 1986 London) in Oxford errichtet worden ist. Das Ehepaar hatte in den 1920er Jahren am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien die Wiener Methode der Bildstatistik und Isotype (International System of Typographic Picture Education) entwickelt und diese Arbeit zunächst im niederländischen Exil bis 1940 fortgeführt. Nach der Flucht nach England wurden sie bis 1941 inhaftiert. Das Isotype Institute, das Marie Neurath nach dem Tod ihres Mannes 1945 alleine weitergeführt hat, brachte Bücher, auch Lehrbücher für Kinder und Jugendliche sowie Filme heraus. Die Methode der bildstatistischen Buchillustration gewann international Einfluss auf Gestaltungsweisen im Sachbuchbereich.142 Eine politische Dimension erhielt der Exilaufenthalt für einige emigrierte Illustratoren in Frankreich, so für Heinz Kiwitz, der – nachdem er in Deutschland als kommunistischer Künstler verfolgt und inhaftiert worden war – in Paris unter dem Pseudonym N. Marceau an mehreren antifaschistischen Publikationen beteiligt war, ehe er 1938 als Angehöriger der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg fiel. Ein anderes biographisches Paradigma repräsentiert Alfred Otto Wolfgang Schulze, der im Pariser Exil das Pseudonym Wols annahm, nach vergeblichen Fluchtversuchen im Süden Frankreichs die Kriegsjahre im Untergrund überdauerte und anschließend nach Paris zurückkehrte; er dürfte in den ihm verbleibenden Jahren seines Wirkens, als Illustrator von Werken Jean Paul Sartres, Antonin Artauds und französischsprachiger Ausgaben Franz Kafkas, kaum noch als deutscher Emigrant wahrgenommen worden sein. In Belgien verhaftet und in ein französisches Lager verbracht wurde Carl Rabus; er hatte sich seit 1934 in Österreich aufgehalten und war 1938 nach Brüssel gegangen, wohin er nach seiner Flucht aus dem Lager 1941 zurückkehrte; der 1944 erneut verhaftete und wegen »Rassenschande« zu Gefängnis verurteilte Maler und Illustrator hat seine Erlebnisse 1945 in der Holzschnittfolge Passion. Bilder der Gefangenschaft festgehalten. In den ersten Exiljahren war die Tschechoslowakei ein wichtiger Zufluchtsort für deutsche Buchgestalter und -illustratoren, allen voran für Hugo Steiner-Prag* (1880 Prag – 1945 New York), der als Illustrator für zahlreiche Verlage wie Staackmann, Seemann, S. Fischer oder Ullstein tätig gewesen war sowie 1917‒1933 auch als künstlerischer Leiter beim Propyläen-Verlag fungiert hatte. Als er 1933 aus dem Professorenamt an der Staatlichen Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig, das er seit 1907 innehatte, entlassen wurde, kehrte er in seine Heimatstadt Prag zurück und schuf sich dort mit der Gründung der Officina Pragensis, einer privaten »Lehrwerkstätte für Graphik, Buch- und Werbekunst«, ein neues Wirkungsfeld. Darüber hinaus errichtete er eine »Internationale Sammlung neuzeitlicher Buchkunst«, organisierte eine Internationale Kinderbuchausstellung, und blieb auch als Illustrator tätig, u. a. für die nach Zürich emigrierte Büchergilde Gutenberg. Zwei Monate vor der Annexion der ČSR durch Hitlerdeutschland folgte Steiner-Prag im Januar 1939 einer Berufung nach Stockholm, wo
142 Für weiterführende Literatur siehe den Abschnitt über die Isotype-Verlagstätigkeit im Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage.
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er die Skolen för Bok- och Reklamkonst in Stockholm gründete und u. a. für die Thomas-Mann-Ausgabe des Exil-Verlags Bermann Fischer die Einbandgestaltung übernahm. Der Bedrohung in Schweden entging er durch Flucht in die USA. Eine Durchgangsstation blieb die Tschechoslowakei auch für Thomas Theodor Heine, der neben seiner Tätigkeit für das Prager Tagblatt einige Buchillustrationen für den Amsterdamer Querido-Verlag oder Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau anfertigte, bevor er 1938 nach Oslo ging. Prag war als Operationsbasis für den politischen Widerstand bis 1938 Sitz zahlreicher Exilzeitschriften, auch satirischer Blätter wie Der Simplicus, für dessen Bebilderung neben einer Reihe von Karikaturisten wie Erich Godal und Ludwig Wronkow auch Johannes Wüsten (als »Nikl«) tätig war.143 Nach Frankreich geflüchtet, wurde das KPDMitglied Wüsten nach dem Einmarsch der Wehrmacht dort verhaftet und nach Deutschland gebracht; er starb 1943 im Zuchthaus Brandenburg. In den Niederlanden bietet die Emigration der Buchillustratoren ein uneinheitliches Bild. Zum einen endeten hier künstlerische Laufbahnen, wie jene Uriel Birnbaums, der zwar noch mit Ausstellungen 1939 und 1940 in Den Haag als Maler auf sich aufmerksam machen konnte, als Illustrator aber keine Aufträge mehr erhielt; Birnbaum überlebte, zeitweise versteckt, die deutsche Besetzung, im Gegensatz zu seinem Bruder Menachem, der zwar noch bis 1942 eine Druckerei betreiben konnte, 1943 aber mit seiner Familie deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Zum anderen nahmen Illustratorenkarrieren hier ihren Anfang, so von Theo Ortmann, der vor 1933 in Hagen hauptsächlich als Goldschmied tätig gewesen war, während er nach seiner Emigration nach Amsterdam sein Tätigkeitsfeld in der Buch- und Zeitschriftenillustration fand. Den Typus des politisch motivierten Künstlers verkörperte in den Niederlanden Leo Meter,144 der in der Weimarer Republik in der sozialistischen Jugendbewegung aktiv gewesen war, 1933 festgenommen wurde und im Frühjahr 1934 nach monatelanger KZ-Haft nach Amsterdam flüchtete. Dort arbeitete er als Buchillustrator145 und Buchgestalter146 für niederländische Verlage (Boucher u. a.), zugleich künstlerischer Mitarbeiter des Kindertheaters von Ida Last. 1940 schloss er sich dem holländischen Widerstand an; 1942 wurde er verhaftet, der deutschen Wehrmacht übergeben und an die Ostfront geschickt. Dort entstanden acht illustrierte Feldpostbriefe an seine vierjährige Tochter Barbara, die posthum
143 Hall: Böhmische Verlagsgeschichte [Online], zu Nikl-Wüsten. 144 Vgl. Löb: Leo Meter. Ein deutscher Illustrator im niederländischen Exil. 145 Illustrationen u. a. zu: Jean Giono: Wer een lente. Den Haag: Boucher 1937; Martin Luis Guzman: In de schaduw van den leider. Den Haag: Boucher o. J. (1937); Het Nederlandsche Boek (Ill. gem. mit Wim Brusse). Amsterdam: Nederlandsche Uitgeversbond 1938; Leo Meter u. P(aul) Guermonprez: Eva’s jongste dochter. Amsterdam: Bigot en van Rossum o. J. (1940). Weitere Angaben in: Buchgestaltung im Exil, S. 187. 146 Buchgestaltungen u. a. zu: Richard Plaut [Plant]: De kist me de grote S. Een roman voor kinderen. Rotterdam: Brusse 1937. – Spiegelt u zacht. Een humoristisch en satyrisch handboek. Tot spiegeling en vermaak van het zwakke en het sterke geslacht… Amsterdam: Contact 1938. – Benjamin Cooper (d. i. Hans Keilson): Een reis met de Diligence. Amsterdam o. J. (1939). – T(rude) Guermonprez (Hrsg.): Neerlands Zonen Neerlands Helden. Zeist: Dijkstra 1942.
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in Buchform erschienen und in Text und den zeichnerisch sensiblen Illustrationen, in denen die Schrecken der Zeit und des Erlebten allenfalls angedeutet werden, ein Kinderbuch besonderer Art repräsentieren.147 Meter fiel im Juli 1944 an der Front bei Grodno / Polen. Dass das niederländische Exil zur Todesfalle werden konnte, offenbarte sich auch im Schicksal Léon Holmans, der Illustrationsarbeiten und Umschlagentwürfe für den Querido-Verlag (darunter Robert Neumanns Struensee-Roman, 1935, und Irmgard Keuns D-Zug dritter Klasse, 1938) und verschiedene Zeitschriften lieferte, dann im Zuge der deutschen Besetzung verhaftet und 1943 in Sobibor ermordet wurde.148 Eine exemplarisch zu nennende Exilexistenz führte in den Niederlanden Max Beckmann: »Ein bemerkenswertes Paradox: Max Beckmanns Amsterdamer Jahre, mit all ihren Entbehrungen, Bedrohungen und Einschränkungen, gehörten dennoch zu des Künstlers fruchtbarster Zeit«, stellte dessen mäzenatischer Freund Stephan Lackner fest, für dessen Drama Der Mensch ist kein Haustier Beckmann sieben Lithographien geschaffen hat.149 Wie auch seine Tagebuchaufzeichnungen dokumentieren,150 wurde Einsamkeit zu einem Grundthema seiner Arbeiten, erst recht in den Jahren der Okkupation, in denen der im Dritten Reich als »entarteter Künstler« Verfemte unter prekärer Duldung der deutschen Behörden in Amsterdam verbleiben konnte. In dieser Situation entstanden die grandiosen Illustrationen zur Apokalypse, die – ein Auftrag Georg Hartmanns von der Bauer’schen Gießerei – 1943 in Frankfurt am Main in einer Auflage von nur 24 Stück im Druck erschienen. Ebenfalls im Rahmen dieser »fast unterirdischen Verbindung« nach Deutschland, also im Auftrag Hartmanns, fertigte Beckmann 1943 und 1944 die Federzeichnungen zu Goethes Faust II an, »visionäre Ausdeutungen«, die »dem Begriff ›Illustration‹ eine ganz neue Tiefendimension« verliehen.151 Erst 1947 konnte er in die USA übersiedeln. Auch die Schweiz gewährte einigen bedeutenden Buchillustratoren Zuflucht, so Gunter Böhmer, der nach Studien in Berlin bei Emil Orlik und Hans Meid 1933 auf Einladung Hermann Hesses nach Montagnola kam und sich als Illustrator internationale Reputation erwarb. Hervorzuheben sind seine Arbeiten für Hans Mardersteigs Officina Bodoni in Verona, etwa zu Gabriele D’Annunzios L’Oleandro (1936), aber auch seine zahlreichen feinfühligen Buchillustrationen für Schweizer Verlage, darunter zu Manfred Sturmanns Erzählungen Die Kreatur (1953). Richard Seewald, als bedeutender Buchillustrator mit Radierungen, Holzschnitten und Lithographien seit dem expressionistischen Jahrzehnt anerkannt, war bereits 1931 nach Ronco bei Ascona übersiedelt, doch kann die Annahme der Schweizer Staatsbürgerschaft 1939 als Entschluss bewertet werden, vom »Dritten Reich« Abstand zu halten; jedenfalls lieferte er gelegentlich Arbeiten für
147 Meter: Briefe an Barbara. Die Tochter Barbara überlebte die Besatzungszeit mit ihrer jüdischen Mutter in Amsterdam. 148 Holman (d. i. Leon Elias Katzenstein, geb. 1906 in Hameln) hatte an der Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig studiert, war dann an die Akademie in Berlin gewechselt und hatte als Illustrator gearbeitet. 1933 in die Niederlande emigriert, nahm er den Namen Holman an. Siehe Buchgestaltung im Exil, S. 173. 149 Lackner: Exil in Amsterdam und Paris, S. 147. 150 Vgl. Beckmann: Tagebücher 1940‒1950. 151 Lackner: Exil in Amsterdam und Paris, S. 155.
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die ins Züricher Exil gegangene Büchergilde Gutenberg. Seit 1939 war der aus Österreich geflüchtete Maler und Buchillustrator Carry Hauser in der Schweiz; er erhielt allerdings – ein für dieses Exilland typisches Problem – keine Arbeitserlaubnis und konnte so nur in eingeschränktester Weise als Illustrator tätig werden. Bei den nach Südamerika gelangten Buchgraphikern und -künstlern zeichnet sich ein deutlicher Schwerpunkt im Bereich der Kinder- und Jugendbuchillustration ab. Dies gilt für Werner Basch, der für den Verlag Editorial Cosmopolita die Märchen Andersens, Grimms und Hauffs illustrierte (der von dem aus Berlin emigrierten James Friedmann gegründete »Freie deutsche Buchverlag« Editorial Cosmopolita war der größte Exilverlag Argentiniens), ebenso wie für Susi Hochstimm, die – vielfach in Zusammenarbeit mit der ebenfalls von Wien nach Argentinien gelangten Agi Lamm – erfolgreich in diesem Genre tätig war. Ein Kinder- und Jugendbuchillustrator war Heinz (Enrique) Wallenberg, der in der Weimarer Zeit und von 1933 an für die im Dritten Reich geduldeten jüdischen Verlage tätig war. 1938 ging Wallenberg nach Kolumbien und arbeitete in Bogotá als Werbegraphiker, knüpfte aber auch an seine buchillustratorischen Aktivitäten an. Nur gelegentlich im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur betätigte sich dagegen Carl Meffert, der sich seit 1933 /1934, als er in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis erhielt, Clément Moreau nannte. Nach einigen Arbeiten für die Verlage Emil Oprechts musste er 1935 die Schweiz verlassen, ging nach Argentinien und war dort als Zeichenlehrer sowie als politischer Karikaturist für deutschsprachige und argentinische Zeitungen tätig. Daneben illustrierte er Bücher, in einigen Fällen auch für deutsche Exilverlage; Moreau war an der Gründung der Bewegung »Das Andere Deutschland« beteiligt und Mitarbeiter ihrer gleichnamigen Zeitschrift. In Brasilien fand Axl Leskoschek eine Zuflucht, mit einer Anstellung an der Staatlichen Kunstakademie in Rio de Janeiro; auch konnte er eine Anzahl von Buchillustrationen für einheimische Verlage liefern. Der Blick auf die nach Palästina gelangten Buchkünstler ruft in Erinnerung, dass sich als Teil der deutschen Buchkunstbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch eine »jüdische und jiddische Buchkunst« herausgebildet hatte.152 Die Begriffe zielen auf eine von jüdischen Künstlern ausgeübte, auf jüdische Themen bezogene Buchund Schriftgestaltung, im besonderen auch auf die Buchillustration im Berlin der zwanziger Jahre, die – unterstützt u. a. durch die Verlage von Paul und Bruno Cassirer oder Wolfgang Gurlitt, zugleich durch eine jüdische Bibliophilenbewegung153 – einen Höhepunkt dieser Entwicklung bezeichnete, bis das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus einsetzte. Obwohl es im Rahmen des »jüdischen Ghettobuchhandels« (V. Dahm) noch bis Ende 1938 eine jüdische Verlagstätigkeit bedeutenden Ausmaßes gab, stellte das Jahr 1933 bereits die entscheidende Zäsur dar, denn in diesem Jahr gingen mit Jakob
152 »Jüdische und jiddische Buchkunst« war auch der Titel einer 1994 /1995 an verschiedenen Orten, u. a. an der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main gezeigten Ausstellung einer von dem bedeutenden Sammler Ulrich von Kritter aufgebauten Kollektion, die inzwischen zum Bestand des Jüdischen Museums in Berlin gehört. 153 Die 1924 in Berlin gegründete »Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches« zählte bis zu 800 Mitglieder. Durch ihre Publikationstätigkeit förderte sie die jüdische Buchkultur in außerordentlicher Weise. Siehe Soncino Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches; Jensen: Ein Kanon der jüdischen Renaissance.
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Steinhardt, Joseph Budko und Franziska Baruch drei wesentliche Vertreter der neuen jüdischen Buchkunst nach Palästina. Joseph Budko, der nach dem Ersten Weltkrieg als Illustrator in verschiedenen druckgraphischen Techniken hervorgetreten war (Radierung hatte er bei Hermann Struck erlernt, einem Inaugurator der jüdischen Buchkunstrenaissance), übernahm bis zu seinem Tod 1940 die Leitung der Bezalel-Kunstgewerbeschule in Jerusalem.154 Jakob Steinhardt, der bei Lovis Corinth und ebenfalls bei Struck studiert hatte, war in der Weimarer Zeit mit zahlreichen Illustrationen zu Werken der ostjüdischen bzw. jiddischen Literatur hervorgetreten, hatte aber auch bedeutende Illustrationen zu religiösen Werken wie der Haggadah (1923 /1924) geliefert und dabei mit der Schriftkünstlerin Franziska Baruch zusammengearbeitet. Diese Zusammenarbeit wurde in Palästina erneuert, wo Steinhardt zunächst eine private Kunstschule gründete und dann seit 1949 Leiter der Graphikklasse an der Bezalel-Schule und 1953‒1957 Direktor dieser Schule war. Obwohl sich in Israel aufgrund der schwierigen Aufbausituation des Landes nur eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten ergaben, konnte Steinhardt – inzwischen nicht mehr auf die Radierung, sondern den Holzschnitt spezialisiert – auch an seine Tätigkeit als Buchillustrator anschließen.155 Ebenfalls nach Palästina gelangt war Lea Grundig, die allerdings nicht der Idee einer »jüdischen Kunst« verpflichtet war, sondern einem entschieden politischen Engagement.156 Als KPD-Mitglied 1936‒1938 in NS-Deutschland mehrfach inhaftiert, lebte sie – nach illegaler Einwanderung – in einem Flüchtlingslager, dann in Haifa und Tel Aviv und wurde hier erneut in politischem Zusammenhang aktiv, u. a. mit antifaschistischen Graphikzyklen, Zeichnungen für kommunistische Presseorgane und Buchillustrationen. Den weitaus bedeutendsten Wirkungsort für die emigrierten Buchillustratoren stellten die USA dar.157 Entscheidend dafür war nicht allein die Anzahl der in den Vereinigten Staaten Zuflucht suchenden Exilanten, sondern auch die glückliche Konstellation auf ihrem Berufsfeld, die ihnen vielfältige Gelegenheit zur Entfaltung ihres Talents bot. In die ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre fiel eine Phase der Neuorientierung der amerikanischen Buchgestaltung: Der Illustrationsstil hatte sich bis dahin vornehmlich an den Erfordernissen des Zeitschriftenwesens orientiert; in den sich bis 1900 explosionsartig vermehrenden Blättern erschienen auch Romane in Fortsetzungen, die dann in den Buchausgaben zumeist mit den gleichen, von Pressezeichnern angefertigten Illustrationen herauskamen.158 Teils schon unter Einfluss der europäischen und auch deutschen Buchkultur, zu der sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg Beziehungen angesponnen hatten, bildete sich ein neues, bibliophiles Verständnis von der Funktion der Buchillustration aus. Entscheidende Impulse kamen von Elmar Adler und seinen
154 Die Bezalel-Kunstschule war 1906, unter Mitwirkung von Hermann Struck, gegründet, 1929 aber aus finanziellen Gründen wieder geschlossen worden; 1935 wurde sie wieder eröffnet. Struck lebte bereits seit 1922 in Palästina. 155 Neugebauer: Kunst im Exil oder im »Land der Väter«?; Heiner: Lea Grundig im Exil. 156 Neugebauer: Kunst im Exil oder im »Land der Väter«?. 157 Vgl. die Überblicksdarstellung von Ronald Salter: Deutsche Emigranten in der amerikanischen Buchkunst; Neugebauer: Deutschsprachige Buchillustratoren im US-amerikanischen Exil; sowie Fischer: »Kunst an sich ›geht‹ hier nicht«. 158 Vgl. Salter: Deutsche Emigranten in der amerikanischen Buchkunst, S. 7 f.
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Abb. 14: Die meisterhafte Beherrschung des Holzstichs sicherte Fritz Eichenberg Illustrationsaufträge auch seitens des Limited Editions Clubs oder, wie im vorliegenden Falle, der Heritage Press.
1922 gegründeten Pynson Printers,159 durch die 1928 erfolgte Gründung der Peter Pauper Press von Edna und Peter Beilenson, am stärksten jedoch durch den 1929 von George Macy errichteten Limited Editions Club, der »sicherlich als folgenreichster Katalysator einer anspruchsvollen amerikanischen Buchkunst zu werten ist«.160 Ebenfalls 1929 wurde die Zeitschrift Colophon ins Leben gerufen, die nicht minder als Ausdruck dieser Aufbruchsstimmung aufgefasst werden kann und mit der ein wichtiges Organ zur Kommunikation über Fragen einer künstlerischen Buchgestaltung zur Verfügung stand. Für die vertriebenen Buchkünstler aus Deutschland kam hinzu, dass ihnen einige bereits früher in die USA emigrierte Landsleute bei der Integration in das neue Umfeld behilflich waren, so der 1928 aus Wien eingewanderte Typograph und Drucker Ernst Reichl oder der Buchwissenschaftler Hellmut Lehmann-Haupt, der bis 1929 am GutenbergMuseum in Mainz tätig gewesen war und danach an der Columbia University in New York lehrte. Als einer der ersten langte Fritz Eichenberg im Oktober 1933 in den USA ein und nahm dort seine Tätigkeit mit einer Holzstichfolge New York Impressions wieder auf. Der Meisterschüler Steiner-Prags sollte nachfolgend rasch einer der produktivsten exilierten Illustrationskünstler werden, zu einem der meistbeachteten Graphiker und Buchkünstler in den USA überhaupt. Probleme der Anfangszeit konnte er spätestens seit
159 Die 1927 erschienene Candide-Ausgabe von Rockwell Kent gilt als »erster großer Markstein der neueren amerikanischen Illustrationsgeschichte« (Salter, S. 8). 160 Salter, S. 9.
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1936, vor allem durch seine Bekanntschaft mit Beilenson und Macy, überwinden und Illustrationsaufträge für den Limited Editions Club und dessen Ableger, die Heritage Press,161 aber auch für zahlreiche andere Verlage wie Random House, Grosset & Dunlap oder Putnam erfüllen. Seine Meisterschaft vor allem im Holzstich, aber auch in der Lithographie hat, in Verbindung mit einem stupenden Gespür für Ausdruckswerte von Texten, gerade bei Werken der Weltliteratur immer wieder zu atmosphärisch dichten Gestaltungen geführt, von Dostojewskis Crime and Punishment (1938) und Tolstois War and Peace über Jonathan Swifts Gulliver’s Travels und Emily Brontes Wuthering Heights bis hin zu Grimmelshausens Simplicissimus und Goethes Reineke Fuchs. Darüber hinaus war Eichenberg über Jahrzehnte hinweg lehrend tätig, an insgesamt fünf Schulen und Universitäten; 1973 wurde er als »Outstanding Educator in America« ausgezeichnet.162 1959 gründete er das Jahrbuch Artist’s Proof, das er bis 1972 selbst herausgab, außerdem war er Verfasser zahlreicher Beiträge in verschiedenen Fachorganen sowie des 1976 erschienenen Standardwerks The Art of the Print. Jahrzehntelang betätigte er sich als inoffizieller Berater des Limited Editions Club, ja sogar als Berater der amerikanischen Regierung in Kulturangelegenheiten. So konnte in der Rückschau auf die Fülle dieses ertragreichen Lebens mit Recht das harmonische Zusammentreffen von schöpferischen Leistungen mit pädagogischem Engagement und humanistischer Leidenschaft hervorgehoben werden. Fritz Kredel, der erst 1938 als bereits etablierter Künstler in die USA kam, ist in seiner Bedeutung für das deutsch-amerikanische Illustrationswesen kaum geringer einzuschätzen. Er entstammte der Offenbacher Schule um Rudolf Koch, mit dem er viele Jahre lang zusammengearbeitet hatte. Anders als Eichenberg suchte Kredel den Kontakt mit Deutschland nicht abreißen zu lassen, widmete sich aber doch mit voller Kraft den in den USA gestellten Herausforderungen. Er konnte dabei auf die bereits seit 1930 angesponnenen Beziehungen etwa zum Limited Editions Club aufbauen, und so entstanden für diesen bibliophilen Buchklub sowie für die Heritage Press und die Pauper Press zahlreiche Illustrationsarbeiten, von denen jene zu Boccaccios Dekamerone, Voltaires Candide, Werken Charles Dickensʼ oder zu den Märchen Hans Christian Andersens Hervorhebung verdienen. Kredel war aber auch für zahlreiche andere Verlage tätig, für die Viking Press, Random House (Alice’s Adventures in Wonderland, Buchausstattung: George Salter, 1946), Doubleday (Robinson Crusoe, 1945), Grosset & Dunlap (The Adventures of Pinocchio, 1946; Aesop’s Fables, 1947), Alfred A. Knopf oder auch für Kurt Wolffs Pantheon Books (Riddles Around the World, collected by Otto Zoff, 1945), für die er sowohl Belletristik wie auch Sachbücher illustrierte. Zu den Eigenheiten des vor allem im Holzschnitt und der freien Zeichnung brillierenden Kredel gehörte die Neigung zur Akkommodation an die Formensprache der Epochen, die mit den illus-
161 Die Luxusausgaben des Limited Editions Club (meist 1.500 Exemplare) waren erhältlich nur für Klubmitglieder, die den relativ hohen Jahresbeitrag zahlten, während die Heritage Press weniger aufwändige, preisgünstige Ausgaben für die zeitweise mehr als 10.000 Mitglieder des Heritage Club bzw. Buchhandelsausgaben (meist ohne Originalgraphiken) herausbrachte. Zum amerikanischen Buchwesen vgl. die Darstellungen von Salter: Amerikanische Buchillustration im 20. Jahrhundert; Salter: Amerikanische Buchillustration. 162 Vgl. hierzu und zum Folgenden Salter: Fritz Eichenberg, S. 87.
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Abb. 15: Fritz Kredel war in den USA ein gefragter Illustrator, auch im Jugendbuch-Bereich. Die von ihm mit Zeichnungen ausgestattete Ausgabe der Fabeln Äsops ist 1947 in der »Illustrated Junior Library« erschienen.
trierten Texten jeweils angesprochen waren, ‒ eine Tendenz, die in den USA von einer Hinwendung zu darstellerischem Realismus nur maßvoll überlagert wurde. Gemeinsam mit Eichenberg gehörte Kredel auch zu den beliebtesten Kinderbuchkünstlern Amerikas, u. a. illustrierte er 1940 Eleanor Roosevelts Christmas für Alfred A. Knopf.163 Sein Gesamtoeuvre wird auf annähernd 400 illustrierte oder (mit)gestaltete Bücher geschätzt, wobei drei Viertel davon in den USA erschienen sind.164 Wenn mit Kredel die Offenbacher Schule in hervorragender Weise vertreten war, so überwog in der US-Illustratorenemigration ansonsten doch sehr deutlich die Leipziger Tradition. Denn neben Eichenberg wurde sie repräsentiert von dem 1888 in Nordhausen geborenen Holzschneider Hans Alexander Müller, der an der Leipziger Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe als Schüler Walter Tiemanns studiert hatte und dort seit 1923 als Leiter der Meisterklasse für Holzschnitt, seit 1924 als Professor tätig war. Müller hat sich mit unterschiedlichen graphischen Techniken (auch Linolschnitt, Radierung, Lithographie) auseinandergesetzt, die größte Meisterschaft hat er aber doch
163 1961 wurde Kredel beauftragt, anlässlich der Amtseinführung von John F. Kennedy mit einem Holzschnitt die Vorlage für das Präsidentensiegel zu gestalten. 164 Siehe Fritz Kredel 1900‒1973; Fritz Kredel. Das buchkünstlerische Werk in Deutschland und Amerika; Salter: Der Illustrator Fritz Kredel, S. 5. Vgl. ferner Buchgestaltung im Exil, S. 127 f. und 179 f. Zum Kinderbuchillustrator Kredel siehe Fuss Philipps: German Children’s and Youth Literature in Exile 1933‒1950, S. 126‒136. – Im Stadtmuseum Michelstadt befindet sich eine reichhaltige Kredel-Sammlung.
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in Holzschnitt und Holzstich erreicht, auf die er sich, unter unbedingter Verfolgung des Prinzips der Materialgerechtigkeit, seit Mitte der zwanziger Jahre konzentriert hatte. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau, aber auch seiner oppositionellen Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber wurde Müllers Stellung an der Akademie nach 1933 immer prekärer; 1937 wurde ihm schließlich die Verlängerung seines Dienstvertrags verweigert. Ein inzwischen nach New York emigrierter Freund gewann den bereits 1929 in die USA ausgewanderten deutschen Buchwissenschaftler Hellmut LehmannHaupt dafür, eine Ausstellung mit Arbeiten Müllers zu veranstalten und den Künstler zur Eröffnung einzuladen. Die Ausstellung kam zustande, im März 1937 erreichte Müller mit einem Touristenvisum die USA und erhielt später ein Dauervisum. Seine Lehraktivitäten konnte er in den USA seit Mai 1938 an der Columbia University fortsetzen; er war dort bis 1958 tätig. Müllers erste Publikation in den USA war ein schmales Bändchen Woodcuts of New York. Pages from a Diary, in dem er seine ersten Eindrücke von der Neuen Welt künstlerisch aufarbeitete; ein expressiver Realismus kennzeichnet seinen gemäßigt modernen Stil. 1939 trat Müller mit einem eindrucksvollen Lehrwerk Woodcuts & Wood Engravings. How I make them hervor, in welchem er sein handwerkliches Können demonstrierte. Indem das Mappenwerk vor allem Beispielblätter aus seinem früheren Schaffen enthielt, repräsentierte es eine Summe seines bisherigen Schaffens bzw. seiner künstlerischen und technischen Grundsätze. Besonders eindrucksvoll dargestellt ist die Technik des Farbholzschnitts, dem Müller immer schon besonders plastische Wirkungen abzugewinnen wusste und den er in den USA zu noch größerer Perfektion trieb. In den folgenden Jahren erhielt Müller gelegentlich Aufträge von führenden amerikanischen Verlagen, ebenso von der Pauper Press (etwa zu Ralph Waldo Emersons Essays) und von der Heritage Press. Eine vergleichbar hohe Resonanz wie etwa Eichenberg hat Müller allerdings nicht gefunden; dass er mit seinen stilsicheren Arbeiten den gängigen Publikumsgeschmack nicht bedienen konnte, war ihm selbst bewusst. 1950 schrieb er an einen Freund: »Ich habe hier in 13 Jahren 25 Bücher illustriert, teilweise nicht veröffentlicht wegen schlechter Geschäftslage. Ich kann nicht sagen dass ich in irgendeiner Weise Fuss gefasst hätte, dazu habe ich zu lange als Europäer gelebt. Amerika trifft also kein Vorwurf. Kunst an sich ›geht‹ hier nicht. Der Begriff ›gut‹ ist eng verbunden mit Conjunktur und Geschäft. Bibliophilie ist selten. Für meine eigene künstlerische Arbeit ist ganz wenig Bedarf.«165 Müller ist 1962 auf seinem kleinen Landsitz in Connecticut gestorben. Das Spektrum an unterschiedlichen Erfahrungen komplettiert das Exempel George Grosz’, dessen Schicksal häufig als Beispiel für das Scheitern im Exil beschrieben wird.166 In der Tat scheint für Grosz, der in Person und Werk die Epoche der Weimarer Republik künstlerisch wie kaum ein anderer repräsentierte, nach seiner zunächst freiwilligen, sich aber schnell als irreversibel erweisenden Übersiedlung in die USA 1933 das frühere Niveau nicht mehr erreichbar gewesen zu sein. Offensichtlich wurde er – im Unterschied zu Hans Alexander Müller, der unbeirrt seinen Weg ging und Erfolglosigkeit dafür in Kauf nahm – das Opfer einer allzu weit gehenden künstlerischen Anpas165 Zit. n. Hans Alexander Müller. Das buchkünstlerische Werk, S. 70. 166 Vgl. Neugebauer: Deutschsprachige Buchillustratoren im US-amerikanischen Exil; sowie Möckel: George Grosz in Amerika, und Kluy: George Grosz. König ohne Land.
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sungsbereitschaft. Jedenfalls hat er dies in seinen Lebenserinnerungen Ein kleines Ja und ein großes Nein 1955 rückblickend selbst eingestanden, im Kapitel »Wie ich ein amerikanischer Buchillustrator werden wollte«: Da ich mich ganz und gar assimilieren wollte, drängte ich alles, was mir an mir selbst zu groszig war [und] zu teutonisch schien, geziemend zurück. Das heißt [:] bewußte Abkehr von Anarchie, Nihilismus und jenem Anders sein-als-die anderen […]. Niemand zu Leide, allen zur Freude – das wurde nun mein Wahlspruch […]. Die zweite Regel: […] alles schön finden […]. Daraus folgte zwangsläufig meine Bewunderung der großen pragmatischen Normalität. Ja, ein Illustrator im typisch oberflächlich amerikanischen Sinn wäre ich gern geworden […].167
Abb. 16: Wie sehr George Grosz im USamerikanischen Exil an Gestaltungskraft eingebüßt hat, zeigt auch sein Umschlagentwurf zu Ben Hechts 1001 Afternoons in New York (1941).
Tatsächlich wirken fast alle Arbeiten, die unter diesem Vorsatz entstanden waren, wenig inspiriert; mit dem Verlust seiner satirischen Schärfe hatte Grosz auch seine individuelle künstlerische Handschrift verloren. Grosz war demgemäß mit wenig Erfolg für Esquire und andere Zeitschriften tätig; auch seine Buchillustrationen wie jene zu Ben Hechts 1001 Afternoons in New York (New York: Viking Press 1941) oder Sidney S. Barons One Whirl (New York: Lovell 1944) fanden nur bedingt Anklang. Für Exilverlage hat er in den USA nicht gearbeitet. Vergleiche mit Grosz’ Berliner Arbeiten lassen auf eine tiefgreifende Verunsicherung schließen, die zur Flucht ins Detail führte. Die Bilder erscheinen nunmehr überfüllt, nur noch in Bruchstücken blitzt jene satirische Charakterisierungsbegabung auf, die Grosz in den zwanziger Jahren zur Verfügung gestanden hat, um das Gesicht der herrschenden und auch der unterdrückten Klasse zu zeichnen. Grosz hat, wie es in der Literatur über ihn heißt, »keinen Platz im amerikanischen Kunstleben finden« können; dass er nach seiner Emigration bis zu seinem Tod, also 26 Jahre lang, »nichts Erwähnenswertes mehr« geschaffen habe, ist allerdings ein hartes Urteil. Wenn es wirklich seine »erstaunlich unkritische Anpassung an die amerikanische Massenkultur« war, die seine Kunst belanglos werden ließ,168 so wirft dieser gescheiterte Neuanfang noch einmal ein bezeichnendes Licht auf die Gefährdungen, denen die vertriebenen Künstler in ihrem neuen Lebensumfeld ausgesetzt waren.
167 Zit. n. von Kritter: Deutsche Illustratoren in der Emigration, S. 299. 168 Salter: Deutsche Emigranten in der amerikanischen Buchkunst, S. 15.
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Ein weiteres prominentes Beispiel aus der Reihe der in die Vereinigten Staaten emigrierten Buchillustratoren ist Hugo Steiner-Prag*, der nach ersten Exiljahren in der ČSR 1941 aus Schweden kommend über Finnland, die Sowjetunion und Japan mit einem US-Einreisevisum nach New York gelangt war, seinen Wohnsitz in New Haven in Connecticut nahm und als international bekannter Buchgestalter sofort eine Lehrtätigkeit an der Division of Graphic Arts der New York University aufnehmen konnte.169 Zu seinen neuen Auftraggebern zählten Verlage wie Random House und Roy Publishers, außerdem war Steiner-Prag Beirat der großen Buchgemeinschaft Book of the Month Club; mit The Tales of Hoffmann vollbrachte er 1943 für den Limited Editions Club noch einmal eine herausragende Illustrationsleistung. Im Herbst 1943 wurde in der New York Public Library eine Ausstellung von seinen Arbeiten gezeigt. Ihm waren aber in den USA nur wenige Jahre des Wirkens beschieden; Steiner-Prag starb 1945 in New York. Anfang 1947 fand in Otto Kallirs* Galerie St. Etienne in New York eine erste, von seiner Frau Eleanor Steiner-Prag* kuratierte Gedenkausstellung statt. Hervorhebung verdient auch der 1933 nach Paris emigrierte, 1941 aus Südfrankreich über Lissabon nach New York gelangte Maler und Graphiker Richard Lindner, der in den USA eine beachtliche Karriere als Zeitschriftenillustrator u. a. bei Vogue, Harper’s Bazaar und Fortune startete, aber auch als Buchillustrator, u. a. für die Peter Pauper Press, hervorragende Arbeit leistete und so »erst im Exil zur vollen Entfaltung seiner schöpferischen Potenz« fand.170 Einen Schutzumschlagentwurf lieferte er für die L. B. Fischer Corp. (Hermann Kesten: The Twins of Nuremberg. A Novel, 1946).171 Für den vielseitig begabten Lindner blieb die Buchgraphik aber ein Durchgangsstadium; er wandte sich nach 1950 der Malerei zu und wurde auf diesem Feld ein bedeutender Protagonist der amerikanischen Pop-Art. Einen Einzelerfolg erzielte Josef Scharl, der sich als Maler vor 1933 in Deutschland einiges Renommee verschafft hatte, dann als »entartet« verfemt wurde und nach seiner Ankunft 1938 in New York neben freier Landschaftsmalerei auch einige Buchillustrationen ablieferte: Die bei Pantheon Books 1944 u. ö. erschienenen Märchen der Brüder Grimm erreichten vier Auflagen mit zusammen 30.000 verkauften Exemplaren. Damit trug Scharl maßgeblich dazu bei, dass Kurt Wolff seinen Verlag auf eine wirtschaftlich solide Grundlage stellen konnte.172 Für den Verlag illustrierte er auch Adalbert Stifters Erzählung Bergkristall (Rock crystal. A Christmas Tale, 1945). 169 Ein Teil des Nachlasses von Steiner-Prag befindet sich in der Bibliothek der Fairleigh Dickinson University, Madison N. J., anderes in der Hugo and Eleanor Steiner-Prag Collection 1899‒1993, Center for Jewish History, Leo Baeck-Institute, New York. Zu seiner Biographie vgl. Steiner-Prag / Geiger: Vorläufiger Plan und Notizen für eine Autobiographie; Klitzke: Hugo Steiner-Prag 1880‒1945; Emigrant im eigenen Land. Hugo Steiner-Prag. In: Drehscheibe Prag, S. 139‒146, 233‒239, hier S. 115 f.; Schlegel: Hugo Steiner-Prag. Sein Leben für das schöne Buch. 170 Salter: Deutsche Emigranten in der amerikanischen Buchkunst, S. 15. – Vgl. zu Lindner auch Neugebauer: Avantgarde im Exil?, bes. S. 37‒48. 171 Im Pariser Exil hatte er bereits den Umschlag für Alfred Neumanns Erzählungen Kleine Helden gestaltet, erschienen 1934 im Verlag Europäischer Merkur. 172 Josef Scharl. [Ausstellungskatalog]. Galerie Nierendorff. New York 1945; Greither, Aloys / Zweite, Armin: Josef Scharl. 1896‒1954. München: Prestel 1982; Josef Scharl. Monographie und Werkverzeichnis. Hrsg. v. Andrea Firmenich. Köln: Wienand 1999.
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Abb. 17: Die Aufgabe, E. T. A. Hoffmanns Erzählungen zu illustrieren, wurde von den beiden exilierten Künstlern Hugo Steiner Prag und Richard Lindner stilistisch ganz unterschiedlich gelöst; die beiden Werke erschienen beim Limited Editions Club 1941 bzw. im New Yorker Verlag Wyn 1946.
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Abb. 18: Der aus München stammende Josef Scharl fand für die Grimm’schen Märchen Bildideen, die auch das US-amerikanische Publikum beeindruckten.
Wenn in den Vereinigten Staaten die Leistungen der exilierten Illustratoren und Buchkünstler inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten sind, so lässt sich für die ausgehenden dreißiger und für die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Behauptung rechtfertigen, dass die deutschen Emigranten in der künstlerischen Buchillustration eine führende Rolle gespielt haben: Während die reale Buchkunst in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme praktisch zum Stillstand kam, brach in den USA zur gleichen Zeit eine mächtige Schaffenswelle aus, die weitgehend von den geflüchteten Deutschen getragen wurde.173 Dass die deutschsprachige Buchkünstler-Emigration in den USA Eindruck gemacht hat, bestätigt retrospektiv auch der US-Buchhandelshistoriker John Tebbel, wenn er in seiner History of Book Publishing in the United States feststellt, diese Emigration habe für die USA eine bemerkenswerte »infusion of new talent in [book] design and production« mit sich gebracht.174
173 Salter: Deutsche Emigranten in der amerikanischen Buchkunst, S. 20 f. 174 Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Bd. IV: The great change, 1940‒ 1980, S. 453.
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»Bücherluxus« im Exil: Bibliophile Bücher und Pressendrucke Exil und bibliophiles Buch – im Zusammentreffen dieser Begriffe scheint eine gewisse Unvereinbarkeit zu liegen: Die Situation der Vertreibung mit allen ihren existentiellen Bedrohungen und Einschränkungen war wenig dazu angetan, das Augenmerk auf das Buchkunstwerk zu richten, und doch haben emigrierte Verleger, Buchgestalter und Typographen auch Druckwerke geschaffen, die hohen und höchsten ästhetischen Ansprüchen genügten. Eine Auseinandersetzung mit diesem Aspekt des Exils hat bisher kaum stattgefunden; jedenfalls aber können zwei Zentren solcher bibliophiler Bestrebungen benannt werden, die Niederlande und die Vereinigten Staaten. In den Niederlanden, vor allem in den Jahren der deutschen Besetzung, entstanden aus sehr unterschiedlichen Konstellationen heraus Reihen und Einzeldrucke, die als eine symbolische Form ästhetischen Widerstands gedeutet werden können.175 So knüpfte ein Freundeskreis von Stefan-George-Verehrern, in dessen Mittelpunkt der Schriftsteller Wolfgang Frommel* (1902 Karlsruhe – 1986 Amsterdam) stand, in seinen Veröffentlichungen an die Buchästhetik an, die den Lyrikbänden des priesterlichen Dichters seit den ersten, noch von Melchior Lechter gestalteten Ausgaben (u. a. Das Jahr der Seele, 1897) eigen war. Noch in Berlin, 1930, hatte Frommel gemeinsam mit Edwin Landau den Verlag Die Runde gegründet, der den George-Verehrern die Möglichkeit bot, in sorgfältig gesetzten und ebenso sorgfältig gedruckten Bändchen Beiträge zur Literatur, aber auch zu Kunstgeschichte, Pädagogik und zur Zeitdebatte zu publizieren.176 1937 emigrierte Frommel zunächst nach Florenz, 1938 nach Paris und 1939 in die Niederlande, wo sich in Amsterdam wieder ein Kreis von Gleichgesinnten bildete.177 Die Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen zwang die Gruppe zu einer Katakombenexistenz und auch die Publikationstätigkeit in den Untergrund zu verlagern. Unterstützt von niederländischen Freunden, lebten Frommel und seine zumeist jüdischen178 Freunde in einem Versteck an der Heerengracht,179 das von ihnen nach der nie eroberten Burg der Tempelritter in Haifa »Castrum Peregrini« benannt wurde.180 Die Möglichkeit zu publizieren ergab sich zunächst aus der heimlich ausgeführten Tätigkeit Frommels als Lektor für die Akademische Verlagsanstalt Pantheon des aus Ungarn stammenden Verlegers Karl Kollár* (1898 Baja / Österreich-Ungarn – 1950 Brüssel); es erschienen dort
175 Vgl. zum gesamten Abschnitt die grundlegende Arbeit von Schmidt: Bücher für den Widerstand. 176 Vgl. zum Folgenden: 25 Jahre Castrum Peregrini Amsterdam. Vgl. auch Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht, S. 209‒218; sowie Schmidt: »Over typografie en vriendschap«. 177 Vgl. Philipp: Wolfgang Frommel und das Castrum Peregrini – eine deutsch-niederländische Kulturgemeinschaft. 178 1973 wurde Frommel für die Rettung zahlreicher jüdischer Jugendlicher vom Staat Israel in Yad Vashem als »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet. 179 Das Grachtenhaus wurde von der mit Frommel befreundeten Künstlerin Gisèle van Waterschoot van der Gracht zur Verfügung gestellt. 180 Vgl. Schmidt: »Over typografie en vriendschap«, S. 49‒53 und 57‒59; Philipp: Wolfgang Frommel und das Castrum Peregrini – eine deutsch-niederländische Kulturgemeinschaft, S. 192‒195.
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Abb. 19: Die exquisit ausgestatteten »Kentaur-Drucke« (1941–1943) waren nicht allein Ausdruck einer Stefan George-Nachfolge, sondern in den besetzten Niederlanden auch ein Akt des Beharrens auf der Kraft des Schönen.
u. a. eine Seume-Auswahl (Apokryphen. Geschrieben 1806 und 1807, 1940), Percy Gotheins Tyrannis (1944),181 eine fiktive Übersetzung aus dem Griechischen, oder Wolfgang Frommels Traktat zum Werk Stefan Georges Templer und Rosenkreuz, 1944 in nur zehn Korrekturexemplaren gedruckt und später legendär geworden. Durchgehend handelte es sich um typographisch sorgfältig gestaltete Bändchen; sie alle waren Ausdruck einer Selbstverpflichtung auf das Schöne, aus der gerade in finsteren Zeiten die Kraft zum Überdauern fließen sollte. Zusammen mit dem Dichter und Schriftsteller Wolfgang Cordan (d. i. Heinz Horn), der ebenfalls über Paris nach Amsterdam geflüchtet war, gründete Frommel 1941 die bibliophile Reihe der »Kentaur-Drucke«, als deren erster Band Gedichte Cordans erschienen (Das Muschelhorn182), danach eine Auswahl aus Hölderlin (Brot und Wein), Rudolf Pannwitzʼ Aphorismen sowie Cordans Orion Lieder (1943) und Paul Valérys Dasein des Symbolismus (1943). Insgesamt sechs Titel umfasste diese Reihe, die ebenfalls im Pantheon Verlag Kollárs erschien. Darüber hinaus druckte der holländische Graphiker und Maler Martin Engelman für den Castrum Peregrini-Kreis private Hand-
181 Tyrannis. Scene aus altgriechischer Stadt. Aus dem Griechischen übertragen von Peter von Uri (d. i. Percy Gothein). O. O., Pegasos Verlag 1939 [tatsächlich: Amsterdam: Akademische Verlagsanstalt Pantheon 1944]. Gedruckt wurden 100 Exemplare im Zweifarbendruck in der Lutetia-Letter auf Hellas-Papier. 182 60 nummerierte Exemplare, auf handgeschöpftem Papier. Vgl. Castrum Peregrini. Een uitgeverij in het teken van Stefan George. Catalogus door Karlhans Kluncker. Brussel 1979, S. 48.
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pressendrucke in seinem Versteck im Kloster Bemelen, wo er eine kleine Setzerei und Druckerei gefunden hatte. Unter diesen Drucken befanden sich Übertragungen von Dichtungen Stefan Georges oder der Beginn des Johannes-Evangeliums: »All diese Arbeiten, in strenger Verborgenheit entstanden, waren als Huldigung, Widmung und Geschenk Ausdruck eines gemeinsamen Lebens. […] Es entstand ein Fundus künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Arbeiten in der Überzeugung, die Stunde werde kommen, wo man nicht mehr durch falsche Erscheinungsdaten, fingierte Verlagsorte und andere Maskeraden eine politische Zensur zu täuschen brauchte.«183 Im Anschluss an einen Vortrag Cordans im März 1944 »vor einem geladenen Kreis« entstand noch eine weitere Reihe, die »Argonautendrucke«, deren erster Band Besinnung auf Mallarmé in einer Auflage von 150 Exemplaren gedruckt wurde. In den Jahren 1942‒ 1945 erschienen insgesamt 23 Veröffentlichungen des Freundeskreises. Nach Kriegsende wurde unter dem Verlagsnamen Die Argonauten Ernst Jüngers Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas publiziert. Ebenfalls nach dem Krieg erschienen unter dem Namen und Signet »Castrum Peregrini« einige Privatdrucke, die mit Typen der Lettergieterij Amsterdam auf der Handtiegelpresse hergestellt wurden, einem Geschenk eines der holländischen Freunde. Anfang der fünfziger Jahren entstand schließlich eine Zeitschrift Castrum Peregrini (»Zeitschrift für Literatur, Kunst und Geistesgeschichte«), die – in Ausstattung und Typographie auf bemerkenswert hohem Niveau stehend 184 ‒ bis ins Jahr 2007 erschien und die Erinnerung an den Kreis der George-Verehrer wach hielt.185 Im deutschsprachigen Exil in den Niederlanden erschienen aber noch andere buchkünstlerisch bemerkenswerte Veröffentlichungen, etwa jene von Friedrich VordembergeGildewart, der 1940 im Selbstverlag und klandestin millimeter und geraden herausbrachte, einen in 75 Exemplaren erschienenen Gedichtband mit nur vier Seiten Text sowie Illustrationen, die sich aus abstrakten Zeichnungen und Fotoreproduktionen zusammensetzten. Die kleine Auflage ist in den Kriegsjahren offenbar zum größeren Teil im Freundeskreis verschenkt worden.186 Der in Deutschland als »entartet« diffamierte Graphikkünstler und Typograph war 1938 über die Schweiz nach Amsterdam gelangt und wurde dort für den Verlag Duwaer tätig, für den er nach der Besetzung der Niederlande die Editions Duwaer buchgestalterisch betreute. Neben den eigenen avantgardistisch anmutenden Arbeiten ließ Vordemberge-Gildewart für einen Kreis von holländischen Buchliebhabern 1944 in kleiner Auflage (100 Exemplare) unter dem Titel Rire de coquille ein Bändchen mit fünf unveröffentlichten Gedichten des Dada-Künstlers Hans
183 Castrum Peregrini. Een uitgeverij in het teken van Stefan George, S. 10 f. 184 Die Castrum Peregrini-Veröffentlichungen wurden seit 1951 von einem Schüler Henri Friedlaenders betreut, von Piet C. Cossee. Er setzte als Buchgestalter die zurückhaltende Linie Friedlaenders fort und erzielte »durch Unauffälligkeit seine erstaunliche Wirkung«. Buchausgaben von Castrum Peregrini haben zwischen 1957 und 1965 achtmal Platzierungen in der niederländischen Liste der 50 schönsten Bücher errungen (Castrum Peregrini. Een uitgeverij in het teken van Stefan George, S. 15‒23). 185 Über die problematischen Aspekte des Freundschaftskultes um Wolfgang Frommel sind inzwischen einige kritische Veröffentlichungen erschienen, vgl. etwa Joke Haverkorn van Rijswijk: Entfernte Erinnerungen an W. Würzburg: Daniel Osthoff Verlag 2013. 186 Nach Friedrich Vordemberge-Gildewart. Typographie und Werbegestaltung, S. 263.
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Arp drucken,187 kombiniert mit vier Zeichnungen von Sophie Taeuber-Arp.188 Aufgrund der subtilen Korrespondenzen zwischen Bild und Text und der engen Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten lässt sich dieses Bändchen als eine Form des Künstlerbuches verstehen, ebenso wie zuvor schon die von Jan Tschichold typographisch betreute Publikation von Arps und Taeubers muscheln und schirme,189 eine Publikation, die in der Grundidee – der Synästhesie von Text und Bild – an den von Arp verehrten Gedichtband Klänge (1912) von Wassily Kandinsky anknüpfte. Ein weiterer Beitrag Arps zum Thema »das Gedicht im Malerbuch«190 ist 1944 in Bern unter dem Titel 1924, 1925, 1926, 1943 in 150 Exemplaren erschienen; wieder stammten die Zeichnungen von Sophie Taeuber und die Satzanordnung von Jan Tschichold. Die besetzten Niederlande waren auch der Ort, an dem sich ein verzweigtes Netz spontan entstandener, unabhängig voneinander agierender Untergrundverlage und -druckereien herausbildete, in denen niederländische Buchkünstler bibliophile Werke mit eindeutig oppositioneller Intention herstellten.191 Einige von ihnen standen mit den deutschen Exilanten, die als »Untertaucher« die gefahrvolle Zeit zu überdauern suchten, in Verbindung. Mehr in der Einsamkeit seiner Werkstatt agierte der avantgardistische Druckgraphiker Hendrik Nicolaas Werkman,192 dessen in typographischer und illustrativer Hinsicht experimentell gestaltete Drucke hauptsächlich im Verlag De Blauwe Schuit (dort auch in der Reihe mit dem sprechenden Namen »In Agris Occupatis«) erschienen. Werkman wurde drei Tage vor der endgültigen Befreiung der Niederlande verhaftet und hingerichtet. Ein zweiter Schauplatz bibliophiler Bestrebungen im Exil bildete sich in den USA heraus. Hier ist an erster Stelle die von Felix Guggenheim und Ernst Gottlieb 1942 in Los Angeles gegründete Pazifische Presse193 zu nennen, deren exilliterarische Program-
187 Der Maler und Lyriker Hans Arp war, nach seiner dadaistischen Phase in Zürich, in den zwanziger Jahren nach Paris gegangen und hatte sich dort dem Konstruktivismus und Surrealismus zugewandt; 1940 war er nach Südfrankreich, 1942 in die Schweiz geflohen, nach Basel und Zürich. 188 Friedrich Vordemberge-Gildewart. Typographie und Werbegestaltung, S. 264. – Sophie Taeuber war am 13. Januar 1943 in Zürich verstorben. 189 muscheln und schirme. [Gedichte], meudon-val-fleury: [Selbstverlag] 1939. 190 Vgl. Lyrik und Graphik. Das Gedicht im Malerbuch. (Ausstellungskatalog). Wolfenbüttel: Herzog-August-Bibliothek 1976. 191 Siehe Schmidt: Bücher für den Widerstand; Dewulf: Spirit of resistance. Dutch clandestine literature during the Nazi occupation; Lewin: Het clandestiene boek 1940‒1945. Vgl. ferner Simoni: Dutch Clandestine Printing, 1940‒1945; Pohl Perry: The secret voice: Clandestine fine printing in the Netherlands, 1940‒1945; Dooijes: Untergrunddrucke in den besetzten Niederlanden 1940 bis 1945. Zur bibliographischen Erfassung vgl. de Jong: Het vrije boek in onvrije tijd. 192 Vgl. u. a. Ein freier Mensch. H. N. Werkman 1882‒1945. (Ausstellungskatalog). Düsseldorf: Winterscheidt 1990. 193 Die Tätigkeit der Pazifischen Presse ist ausgezeichnet dokumentiert: Vgl. Jaeger: Pazifische Presse; dazu auch die ausführlichere englischsprachige Fassung Jaeger: New Weimar on the Pacific, sowie die gekürzte deutschsprachige Fassung Jaeger: Luxus-Baendchen des Exils: Die Pazifische Presse (1942‒48).
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matik sich als eine Antwort auf die Forderungen der Zeit verstand: Die Verleger sahen es als ihre Aufgabe an, Brücken zu schlagen und neben unserem heißen Bemühen um die englische Sprache und die amerikanische Kultur auch unsere geistige Tradition aufrechtzuerhalten. Wir glauben sogar, eine frohe Dankespflicht gegenüber den Autoren zu erfüllen, die ja das Beste und Wertvollste sind, womit wir uns vor unserer neuen Heimat ausweisen können.194 Die Werke bedeutender exilierter Schriftsteller in exquisit ausgestatteten Ausgaben zu bringen, war integraler Bestandteil dieser Programmatik: Die Editionen sollten ihren Eigentümern noch Freude bereiten, wenn Hitler ein fast vergessenes Kapitel im Buch der Geschichte sein würde. Ein solches Vorhaben setzte einigen Idealismus voraus: Felix Guggenheim* (1904 Konstanz – 1976 Beverly Hills),195 der vor seiner 1938 erfolgten Emigration in leitender Stellung in der Druckerei Seydel AG und der Deutschen Buchgemeinschaft tätig gewesen war, hatte nach seiner Ankunft 1940 in Kalifornien verschiedene Firmen errichtet, u. a. einen Betrieb für Anbau und Verarbeitung von Zitrusfrüchten, und finanzierte aus den Erlösen nun die Privatdrucke der Pazifischen Presse. Guggenheim und Ern(e)st Gottlieb (1903 München – 1961 Los Angeles)196 brachten in ihrem Verlag bis 1948 elf Titel heraus,197 Werke von Thomas Mann, Franz Werfel, Bruno Frank, Leonhard Frank, Alfred Neumann, Friedrich Torberg, Alfred Döblin und Lion Feuchtwanger. Die ersten sieben Ausgaben sollten in rascher Folge erscheinen und nur für Subskribenten im Paket erhältlich sein; allerdings kam es aufgrund der sorgfältigen und daher zeitaufwändigen Herstellung zu Verzögerungen, so dass dieses Angebot zur Seriensubskription zugunsten einer Einzelabgabe zurückgenommen werden musste. Die Standardauflage betrug zunächst 250 Exemplare, wobei – ermuntert durch ein gutes Echo auf die ersten Verlagsanzeigen – von jedem Titel eine vom Autor signierte Halblederausgabe für Subskribenten in 150 Exemplaren und eine Halbleinen-»trade edition« in 100 Exemplaren herausgebracht wurden.198 Einzig von Friedrich Torbergs KZ-Roman Mein ist die Rache wurde auch noch eine »Volksausgabe« in 2.000 Exemplaren angefertigt. Von den Bänden 8 und 9, Thomas Manns Erzählung Das Gesetz (1944) und seinen »Tagebuchblättern aus
194 Aufforderung an die Bücherfreunde. In: Aufbau, Ende Oktober 1942, hier zit. nach Jaeger: Pazifische Presse, S. 311. 195 Zu Guggenheim siehe auch das Kap. 5.4 Literarische Agenturen in diesem Band. 196 Ernst Gottlieb hatte in Deutschland Politikwissenschaften studiert und war 1938 in die USA gelangt; er arbeitete dort zunächst als Porträtfotograf, ehe er mit Felix Guggenheim die Pazifische Presse gründete und betrieb; seit Ende der vierziger Jahre war er im Antiquariatsbuchhandel tätig. Zur weiteren Biographie siehe Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 197 1952 erschien als Nachzügler noch ein zwölfter Band, der sich aber auch im Herstellungsverfahren deutlich von allen früheren Bänden unterschied, eine Faksimile-Ausgabe von zwei Kapiteln aus der Handschrift von Lion Feuchtwangers Roman Rousseau. 198 Die Bände wurden meist unaufgeschnitten ausgeliefert. Bereits im Mai 1944 dürften die Subskriptionsausgaben der ersten sieben Bände vollständig verkauft gewesen sein. Für den Vertrieb sorgte seit dem achten Titel Mary S. Rosenberg (Näheres zu Rosenberg und ihrer Rolle bei der Verbreitung deutschsprachiger Bücher in den USA im Kap. 6.1 Distributionsstrukturen).
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den Jahren 1933 und 1934« Leiden an Deutschland (1946), wurden jeweils 250 Exemplare in der Subskribenten- und der Handelsausgabe aufgelegt, von den Bänden 10 und 11, Franz Werfels Gedichte aus den Jahren 1908‒1945 (1946) und Lion Feuchtwangers Drama Wahn oder der Teufel in Boston (1948), wurden zu der Subskribentenausgabe in gleicher Höhe noch jeweils rund 750 Exemplare für den Handel hergestellt. Gedruckt wurden die Ausgaben auf der seit 1931 von Saul Marks und seiner Frau Lilian betriebenen Plantin Press in Los Angeles. Die Arbeit der nach dem berühmten Antwerpener Drucker Christophe Plantin benannten und an dessen klassischem Vorbild orientierten Presse fand durchaus Anerkennung: Beim Wettbewerb der 50 schönsten Bücher in den USA wurde ihre Produktion in den vierziger und fünfziger Jahren mehrfach ausgezeichnet, darunter auch zwei Bücher der Pazifischen Presse, Franz WerAbb. 20: Lion Feuchtwangers als fels Gedichte und Feuchtwangers Wahn. Als nach Nachzügler 1948 erscheinendes dem Krieg allmählich wieder die deutschsprachi»Stück in drei Akten« Wahn oder ge Buchproduktion in Europa in Gang kam, sahen Der Teufel in Boston wurde in Guggenheim und Gottlieb ihre Aufgabe als beenZusammenarbeit mit Mary S. Rosenberg, New York, produziert. det an; die in Satz, Druck, Papier und Einband geschmackvoll gestalteten Ausgaben der Pazifischen Presse, die mit Recht als eine kulturelle Tat gewürdigt wurden,199 hatten ihre Mission erfüllt. Ausgaben mit bibliophilem Anspruch erschienen auch an der Ostküste, so etwa in New York im Verlag des Kunstgaleristen Otto Kallir. Kallir* (bis 1934: Nirenstein-Kallir, 1894 Wien – 1978 New York) war zwischen 1920 und 1922 Leiter der Kunstbuchabteilung im Wiener Rikola Verlag, eröffnete dann aber die Neue Galerie, in der u. a. erstmals eine größere Ausstellung mit Werken Egon Schieles stattfand. 1923 /1924 hatte er den Verlag der Johannespresse gegründet, in welchem er bis 1928 z. T. illustrierte Ausgaben von Werken Thomas Manns, Hugo von Hofmannsthals, Richard Beer-Hofmanns und Max Rodens in guter Ausstattung herausbrachte; zum druckgraphischen Werk von Alfred Kubin oder Otto Rudolf Schatz waren bibliophile Editionen und Mappenwerke erschienen.200 Das Haupttätigkeitsfeld Kallirs blieb aber doch der Kunsthandel, wobei er international renommierte Künstler wie van Gogh, Munch und Signac ebenso ausstellte wie
199 »With its limited editions, the Pazifische Presse has accomplished a cultural feat …« (ein Subskribent, Dr. Henry H. Hausner, in einem Brief an Felix Guggenheim, zit. n. Jaeger: New Weimar on the Pacific, S. 75). 200 Vgl. Kallir: Austrias Expressionism, mit Bibliographie der von Otto Kallir als Verleger herausgebrachten Werke 1919‒1968, S. 92‒94. – Zum Folgenden vgl. Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1423, 1430 f.; Domanova / Hupfer: »Arisierung« am Beispiel der Firmen Halm & Goldmann und Verlag Neuer Graphik.
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führende österreichische und deutsche (z. B. Oskar Kokoschka oder Max Beckmann). Nach dem »Anschluss« 1938 wurde die Galerie von einer langjährigen Mitarbeiterin, Vita Maria Kunstler, »arisiert«; Kallir emigrierte zunächst in die Schweiz, wo er aber keine Arbeitserlaubnis erhielt, und von dort weiter nach Frankreich. In Paris versuchte er, eine Galerie St. Etienne – benannt nach dem Stephansdom, dem Wahrzeichen Wiens – aufzubauen, mit einem Ableger in New York, der nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sein einziger Stützpunkt bleiben sollte. In der Galerie St. Etienne betrieb er wieder Kunsthandel, vorzugsweise mit Bildern österreichischer und deutscher Expressionisten sowie mit amerikanischer primitiver Kunst; Kallir war der Entdecker von Grandma Moses. 1944 knüpfte er an seine Verlegertätigkeit in den zwanziger Jahren an und eröffnete – in mancher Hinsicht am Vorbild der Pazifischen Presse orientiert und durch ihr Beispiel ermutigt 201 – die Johannes Press in New York neu, mit Büchern u. a. wieder von BeerHofmann (Aus dem Fragment Paula: Herbstmorgen in Österreich, mit einer von der Elm Tree Press in Woodstock, Vermont, gedruckten Deluxe edition in 75 nummerierten Exemplaren und 250 Exemplaren einer Trade edition, sowie Schlaflied für Mirjam, eine handschriftliche Faksimile-Produktion im Folioformat, in Kleinstauflage von 25 handsignierten Exemplaren), von Rainer Maria Rilke und Max Roden.202 Als Verleger hatte Kallir lange Zeit mit Qualitätsproblemen bei der Buchherstellung zu kämpfen und konnte so an die aufwändige Ausstattung und den bibliophilen Charakter der Veröffentlichungen der Wiener Johannespresse nur in begrenztem Maße anknüpfen; erst 1967 (A Sketchbook by Egon Schiele) waren die ästhetischen Standards wieder erreicht.203 Als Pressendrucker im engeren Sinne des Begriffs können zwei ebenfalls aus Wien stammende Exilanten bezeichnet werden: Robert Haas und Victor Hammer. Robert Haas* (1898 Wien ‒ Dezember 1997 Valhalla, N.Y.) hatte seit 1925 die Officina Vindobonensis betrieben und dort bis 1938 neun Verlagswerke und 21 Pressendrucke hergestellt.204 Darüber hinaus war Haas mit einigen Schriftschöpfungen erfolgreich, ebenso als Gebrauchsgraphiker, u. a. mit Entwürfen für den österreichischen Banknotendruck. Nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland flüchtete er zunächst nach England, weil ihm das Geld zur
201 Vgl. Jaeger: New Weimar on the Pacific, S. 34: »How much he [sc. Otto Kallir] liked the work of the Pazifische Presse may be seen in the format and design of the books of his own private press, the Johannespresse, which they resemble.« 202 Sowohl Beer-Hofmann (gestorben 1945 in New York) wie auch der im Hauptberuf als Zeitungsredakteur tätige Max Roden (1881 Wien‒1968 New York) lebten als Emigranten in den USA. 203 Kallir, als zeitweiliger Präsident der Austrian American League eine bedeutende Persönlichkeit in der Gruppe der österreichischen Emigranten in den USA, führte die Galerie wie auch den Verlag bis zu seinem Tod 1978; danach stand die Galerie unter der Leitung seiner Tochter Jane Kallir, gemeinsam mit Hildegard Bachert, die Otto Kallir seit den vierziger Jahren in der Führung der Galerie unterstützt hat. Gespräch des Verf. mit Hildegard Bachert am 13. März 2001 in der Galerie St-Etienne in New York. 204 Robert Haas. [Katalog], mit Verzeichnis der Arbeiten der Officina Vindobonensis, von Büchern der Ram Press u. a. – Siehe ferner Robert Haas – printing, calligraphy, photography; sowie Buchgestaltung im Exil (2003), S. 61, 164 f.
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Schiffspassage in die USA fehlte; erst im Frühjahr 1939 gelangte er nach New York. Paul Standard, ein New Yorker Typograph, vermittelte Haas einen langfristigen Auftrag des »Book of the Month Club«, der ihm die finanziellen Mittel für die Gründung einer Privatpresse verschaffte. Auf der 1941 errichteten Ram Press, die bis 1986 bestand, druckte Haas in Downtown Manhattan für Museen (so etwa acht Jahre lang für das Solomon R. Guggenheim-Museum), für Kunstgalerien, für Verlage wie Kurt Wolffs Pantheon Books, nicht zuletzt aber für Liebhaber künstlerischen Druckschaffens. Eine Anzahl seiner Drucke wurde durch Aufnahme in die »Fifty Books of the Year« ausgezeichnet. Haas übte als Lehrer eine enorme Wirkung aus: 1954‒1967 lehrte er Kalligraphie und Typographie an der Cooper Union Art School in New York, 1970‒1972 Handpressendruck und Kalligraphie an der Yale University und von 1979 an der State University of New York at Purchase; daneben baute Haas eine zweite Karriere als Fotojournalist des »American Way of Life« auf, als der er heute hauptsächlich wahrgenommen wird.205 Victor Hammer* (1882 Wien – 1967 Lexington / Kentucky) hatte schon 1921 für die Gießerei Klingspor in Offenbach eine Schrift (Hammer-Unziale) entworfen und war Ende der 1920er Jahre von Wien nach Florenz gegangen, wo er die Offizin Stamperia del Santuccio betrieb. Danach hielt er sich zwei Jahre in London auf, seit 1934 übte er eine Professur an der Wiener Akademie für Angewandte Kunst aus. 1938 aus »rassischen« Gründen entlassen, emigrierte er in die USA und nahm seinen Wohnsitz zunächst in Aurora, New York, wo er am Wells College eine Malklasse leitete. In Aurora nahm er auch seine Tätigkeit als Pressendrucker wieder auf und brachte dort 1941‒1949, unterstützt von seinem Sohn Jacob Hammer, auf der Wells College Press (teilweise mit dem Imprint »Hammer Press«) 18 Drucke bibliophilen Charakters heraus, davon zehn in deutscher Sprache, u. a. Werke von Rainer Maria Rilke, Gerhart Hauptmann oder Friedrich Hölderlin sowie die Erinnerungen des mit ihm befreundeten Buchillustrators Fritz Kredel aus dem Ersten Weltkrieg.206 1948 übersiedelte Hammer nach Lexington in Kentucky und lebte dort am Transylvania College bis zu seiner Pensionierung 1953 als artist-in-residence, gab privaten Unterricht und betrieb dort weiterhin seine Hammer Press, zusammen mit seiner Frau Carolyn Reading (Heirat 1955), die – ursprünglich Bibliothekarin – sich ebenfalls dem Handpressendruck zuwandte. Von seiner Tätigkeit ging beträchtliche Wirkung aus: »His work inspired the creation of several other private presses.«207 Ihre besondere Eigenart beziehen Hammers Drucke hauptsächlich aus der Großzügigkeit bei der Randgestaltung und dem Zeilendurchschuss, aus einer mehrfach angewandten terracottafarbigen Hinterlegung des Schwarzdrucks zur Erhöhung des Kontrasts und aus der Verwendung handgeschöpften Papiers. In der amerikanischen Buch-
205 Robert Haas. Framing two Worlds. Der Blick auf zwei Welten. Hrsg. von Anton Holzer und Frauke Kreutler. [Katalog zur Ausstellung im Wien-Museum 2016 / 2017]. Berlin: Hatje Cantz 2016. Im Wien-Museum befindet sich auch Haasʼ fotografischer Nachlass. 206 Reading Hammer: A Victor Hammer Bibliography (1930‒1955); Cazden: German Exile Literature, S. 110‒112. Vgl. auch Buchgestaltung im Exil, S. 165 f. (dort weiterführende Literaturhinweise). 207 Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Vol. IV: The Great Change, 1940‒1980, S. 454.
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geschichtsschreibung wird Victor Hammer auf dem Feld des »fine printing« als »the most individualistic and influential of the émigrés« beschrieben: »Hammer was considered an upholder of the highest traditions of the handpress.«208 Auch seine Ehefrau Carolyn Reading Hammer (1911–2001) hatte als Mitbegründerin mehrerer gemeinschaftlicher Privatpressen (Bur Press 1943, Anvil Press 1953, King Library Press 1956) Anteil daran, dass sich das Interesse an Pressendrucken und Künstlerbüchern in den USA, insbesondere an amerikanischen Universitäten, weiter ausgebreitet hat. Es war eine zufällige Konstellation, die eine Reihe von Wien-Emigranten zu wichtigen Vertretern europäischer Buchkunst und besonders des Pressendrucks in den USA werden ließ. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch Friedrich Siegel* (1900 Wien – 1982 New York), der in Wien zusammen mit Martin Jahoda* (1903 Wien – 1990 New York)209 Inhaber der Qualitätsdruckerei Jahoda & Siegel gewesen war, jahrzehntelang die Druckerei der Zeitschrift Die Fackel – eine maximal anspruchsvolle Aufgabe, angesichts der exzessiven Setzfehlerphobie ihres Alleinverfassers Karl Kraus.210 Beide emigrierten nach der Annexion Österreichs in die USA; Jahoda eröffnete wieder eine eigene Druckerei, während Siegel, der sich nun Fred R. Siegle nannte, zunächst Entwürfe für Drucksorten anfertigte, ehe sich die beiden wieder zusammenschlossen und in New York ein gemeinsames Druckereiunternehmen Profile Press eröffneten. Anfänglich auf gehobenen Akzidenzdruck spezialisiert, produzierte die Profile Press nach einiger Zeit auch Bücher mit bibliophilem Anspruch und war immer wieder auch für Exilverlage (Pantheon Books, Storm Publishers) tätig. Nur ausnahmsweise betätigte sich die Profile Press verlegerisch, so 1946 mit einer Neuausgabe von Albert Ehrensteins Erzählung Tubutsch in der Übersetzung von Eric Posselt und Era Zistel, mit elf ganzseitigen Illustrationen von Oskar Kokoschka (die erste Ausgabe war bei Jahoda & Siegel 1911 erschienen). Besondere Beachtung verdient die bibliophile Edition der von Mozart vertonten Goethe-Ballade Das Veilchen, in der ein Lichtdruck-Faksimile des Mozartschen Notenautographs mit einem Faksimile des Notenerstdrucks von 1789 vereint war. Jenes stammte aus dem Besitz von Friderike Zweig, dieser von dem emigrierten Musikwissenschaftler Paul Nettl, der auch einen Aufsatz zu der Publikation beisteuerte. Der exquisit gebundene Quer-Folio-Band wurde vom American Institute of Graphical Arts zu einem der »Fifty Books of the Year 1949« gewählt. Die Profile Press erwarb sich so hohe Anerkennung und konnte u. a. Museen und Galerien zu Kunden gewinnen. 1954 erschien anlässlich des 60. Geburtstags von Oskar Maria Graf als Privatdruck bei der Profile Press, herausgegeben von seinen Freunden, dessen Gedichtzyklus Der ewige Kalender. Ein Jahresspiegel, mit Zeichnungen von Anne Maria Jauss in einer einmaligen, nummerierten Ausgabe von 500 Exemplaren. Siegle stand, wie schon in Wien, auch in New York wieder in Verbindung mit Robert Haas (s. o.) und erarbeitete einige Buchprojekte gemeinsam mit Haas auf dessen neugegründeter Ram Press. Die Geschichte des bibliophil gestalteten Exilbuches ist mit den bisher vorgestellten Beispielen keineswegs vollständig ausgeleuchtet, denn einerseits haben zahlreiche litera-
208 Ebd. 209 Martin Jahoda war der Sohn von Georg Jahoda, der von 1901 bis zu seinem Tod 1926 den Fackel-Druck akribisch überwacht hatte. 210 Durstmüller 500 Jahre Druck in Österreich, Bd. III, S. 177 f.
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rische Verlage des Exils mit einzelnen Publikationen an Traditionen des »Bücherluxus« aus der Zeit vor 1933 angeknüpft (so etwa mit Vorzugsausgaben, die z. T. auf Wunsch von Autoren, zur Verteilung an Freunde und Kollegen, angefertigt wurden), und andererseits haben exilierte Buchgestalter, Typographen und Buchillustratoren immer wieder an einzelnen Buchprojekten mitgewirkt (so etwa im Rahmen des New Yorker Limited Editions Club), die es ebenfalls verdienten, als druck- und buchkünstlerische Spitzenleistungen hervorgehoben zu werden. Beispielhaft wäre an dieser Stelle noch einmal auf die verlegerischen Leistungen Kurt Wolffs zu verweisen, der nicht nur in der Gestaltung des Gebrauchsbuchs europäisches Geschmacksempfinden propagierte. An sein bibliophiles Engagement in nachexpressionistischer Zeit anknüpfend, eröffnete er mit Pantheon Books zahlreichen emigrierten und amerikanischen Buchkünstlern und -illustratoren ein Betätigungsfeld, neben Josef Scharl noch Fritz Kredel, Frans Masereel, Richard Seewald, Rafael Busoni, Anne Marie Jauss u. v. a. m.211 1949 erschien The Creation, ein mit 24 Holzschnitten Masereels illustriertes Werk, das Wolff auf der Handpresse der Officina Bodoni Hans Mardersteigs in Verona in 100 Exemplaren drucken ließ, um so wieder Verbindungen in die Alte Welt anzuspinnen. Auch an amerikanische Pressen wie Joseph Blumenthals Spiral Press vergab Wolff Aufträge; das dort gedruckte Buchkunstwerk Alphabet of Creation wurde 1954 als eines der »Fifty Books of the Year« prämiiert – nur eine von vielen Auszeichnungen, die Bücher der Pantheon Press erringen konnten. Wolffs Mittlerrolle gewann so auch auf dem Feld der Buchkunst und der Bibliophilie im Exil exemplarische Bedeutung.
Innovative Buchkonzepte im Exil – das moderne Taschenbuch Das Exilverlagswesen hat ‒ allen Einschränkungen zum Trotz oder sogar aufgrund von Einschränkungen, die Improvisations- und Erfindungsreichtum erforderten – auch Neuentwicklungen in der Ausgestaltung des Mediums Buch hervorgebracht. So sind sowohl die Anfänge wie auch die Erfolgsgeschichte des »modernen Taschenbuchs« in vielfältiger Weise mit dem Wirken deutscher Emigranten verbunden, wobei in der Definition des »modernen« Taschenbuchs das maßgebliche Kriterium in seiner spezifischen Produktions- und Erscheinungsweise zu suchen ist, vor allem in den Standardisierungen im Bereich Layout und Herstellung sowie in der genauen, meist längerfristigen Planung, auf deren Basis – unter optimaler Ausnützung von Produktionskapazitäten – in einem vorgegebenen Zeitraum eine bestimmte Zahl von Titeln herausgebracht werden kann. Einen Auftakt in der Geschichte des modernen Taschenbuchs bezeichnet das Jahr 1837, als Christian Bernhard Tauchnitz in Leipzig seine »Collection of British (später: British and American) Authors« begründete, englischsprachige Ausgaben, die in erster Linie für eine Verbreitung auf dem europäischen Kontinent gedacht waren.212 In den folgenden hundert Jahren erschien jede Woche mindestens ein Bändchen; bis 1937 lagen mehr als 5.000 Titel vor, mit einer Gesamtauflage von 50 bis 60 Millionen Exemplaren. Von ihrem unveränderlich festgelegten Layout und ihrem kontinuierlichen Produktions-
211 Vgl. hierzu Salzmann: Kurt Wolff, der Verleger, bes. S. 399 f. 212 Vgl. hierzu und zum folgenden Schmoller: Die Taschenbuch-Revolution, S. B130; vgl. ferner Pressler: Tauchnitz und Albatross. Zur Geschichte des Taschenbuchs.
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rhythmus her wies die »Tauchnitz Edition« bereits wesentliche Merkmale des modernen Taschenbuchs auf. Überarbeitet wurden Format und Typographie erst am Beginn der 1930er Jahre, als unvermutet ein direkter Konkurrent auftrat, die ebenfalls englischsprachige, internationale »Albatross Modern Continental Library«.213 Hinter dieser Gründung standen ein geheimnisumwitterter internationaler Verleger, John Holroyd-Reece,214 sowie ein Verleger aus Hamburg, Kurt Enoch. Enoch* (1895 Hamburg – 1982 Puerto Rico) hatte nach Abschluss seines Studiums der politischen Wissenschaften 1922 die Leitung des Verlagsunternehmens seines Vaters übernommen und, zusammen mit einem Grossobuchhandel, erfolgreich weitergeführt; Ernst Glaeser und Klaus Mann zählten vor 1933 zum Autorenstamm des Verlags.215 1931 verband er sich als Teilhaber mit einer von Sir Edmund Davis finanzierten und von Arnoldo Mondadori präsidierten »Publishing Holding Company«, deren Manager und Sprecher Holroyd-Reece war, zur Gründung der »Albatross«-Reihe, die 1932 offiziell in Hamburg zu erscheinen begann. Werbung, Vertrieb und Verkauf lagen in den Händen Enochs und seiner Firma Oscar Enoch; die editorischen Funktionen und die Produktionsüberwachung wurden jedoch von Paris aus wahrgenommen, von (Max) Christian Wegner, der zuvor im Insel-Verlag und zuletzt bei Tauchnitz tätig gewesen und von dem britischen Agenten Curtis Brown mit Holroyd-Reece bekanntgemacht worden war. Die Ausarbeitung des Gestaltungskonzepts war dem hoch angesehenen Pressendrucker der Officina Bodoni Hans Mardersteig übertragen worden, damals typographischer Leiter bei Mondadori in Mailand. Verglichen mit der Tauchnitz Edition erschien Albatross nun in einem schlankeren, eleganteren Format, hatte in der Umschlaggestaltung ein klug ausgedachtes Farbleitsystem für die verschiedenen Sachgebiete und überzeugte insgesamt durch eine modernere Anmutung – zumindest mittelbar sollte sich Albatross als ein weiterer Meilen-
213 Vgl. Troy: Books, Swords and Readers. The Albatross Press and the Third Reich; sowie Troy: Strange Bird. The Albatross Press and the Third Reich; Troy: Albatross [online]; McCleery: The Paperback Evolution: Tauchnitz, Albatross, Penguin. 214 Vgl. Brief Kurt Enochs an Karl H. Pressler vom 25. März 1980 ((Public Library New York, Manuscripts and Archives Division, Kurt Enoch Papers, Box 1): »I do not know whether John Holroy-Reece[!] was or was not of German origin or born in Germany and whether his name had been Riess. I believe that this and other questions about this interesting and controversial personality has never been clearly answered.« Tatsächlich war Holroyd-Reece am 30. April 1897 in München als Johann Hermann Rieß zur Welt gekommen, als Sohn eines deutschen Privatgelehrten und einer englischen Mutter, die in den Niederlanden aufgewachsen war. Er besuchte englische Schulen und Colleges, anglisierte seinen Namen, wurde auch britischer Staatsbürger und war im Ersten Weltkrieg als britischer Soldat in Ägypten stationiert. Im Verlagsgewerbe tauchte er 1924 auf, als er an der Gründung von Kurt Wolffs kunstwissenschaftlichem Verlag Pantheon Casa Editrice in Florenz beteiligt war. In Paris gründete er 1927 die Pegasus Press (Les Editions du Pégase), die auf das hochpreisige illustrierte Kunstbuch spezialisiert war und mit der er sich dann an der Albatross Modern Continental Library beteiligte. Holroyd-Reece führte nach dem Zweiten Weltkrieg seine verlegerische Tätigkeit weiter fort; als Geschäftsmann wurde er von dem bedeutenden britischen Verleger Victor Gollancz als »one of the outstanding geniuses of our time« charakterisiert (Victor Gollancz: Reminiscences of Affection. New York: Atheneum 1968, S. 53). 215 Ausführlicher vorgestellt wird Kurt Enoch im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; dort auch die entsprechenden Literaturhinweise.
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stein in der Geschichte des Taschenbuchs erweisen. Nicht zuletzt durch schwungvoll betriebene Werbung war die neue Reihe bald so erfolgreich, dass Enoch und sein Konsortium nach kurzer Zeit auch die Kontrolle über die Tauchnitz Edition an sich ziehen konnten, in dem Sinne, dass sie für den neuen Eigentümer, die Druckerei Brandstetter in Leipzig, auf Vertragsbasis – unbemerkt von der Öffentlichkeit – für die Tauchnitz-Reihe das editorische Management, die Buchgestaltung sowie die Leitung von Produktion und Distribution übernahmen.216 Kurt Enoch selbst war bereits am 8. August 1936 nach Paris emigriert, wo er die Firma Continenta gründete, mit der er die Auslandsauslieferung der Albatross- und TauchnitzEditionen übernahm. Wenig später hielten die beiden Serien mehrere tausend lieferbare Titel bereit, bei einem kontinuierlichen Ausstoß von monatlich zehn bis zwanzig Titeln. Zwischen 1932 und 1939 brachte Albatross rund 450 Titel heraus, die an 6.000 VerkaufsAbb. 21: The Albatross Almanac stellen vertrieben wurden. for 1936 (Hamburg, Paris, Bologna Dass die Albatross Modern Continental Library 1935) wurde noch in Leipzig bei einen neuen internationalen Standard in TaschenOscar Brandstetter gedruckt und gebunden. Die von Hans Marderbuch-Produktion und -Gestaltung eingeführt hatte, steig gestalterisch betreute Reihe zeigte sich bereits im Jahr 1935 in aller Deutlichkeit. gab dem modernen Taschenbuch In dieses Jahr fällt die Gründung von Penguin Books entscheidende Impulse. durch Allen Lane, ein verlegerischer Geistesblitz, der zur Entstehung eines einzigartigen, weit über Großbritannien hinaus wirkenden (Taschen-)Buchimperiums führen sollte. Es kann nun als gesichert gelten, dass das entscheidende Vorbild für Lanes Einstieg in dieses Segment die Bändchen der Albatross-Reihe abgegeben haben: Format, Umschlaggestaltung, die Farbsystematik (orange für Romane, grün für Kriminalromane etc.), ja sogar das aus verwandter Vogelwelt gewählte Markenzeichen des Pinguins erinnern nicht bloß entfernt an die von Holroyd-Reece und Enoch kreierte und von Mardersteig gestaltete Serie. Einen eindeutigen Beleg dafür liefert der Augenzeugenbericht von Edward Young, der an den Gründungsberatungen teilgenommen hatte: I remember well the final conference on this, the most difficult of all. It was held in a dark little office in Vigo Street, and there were about five of us sitting round a table, with Allen’s secretary typing away in her cubby-hole on the other side of the partition. We all fired off suggestions. We had before our minds the successful example of the great Continental series of paperbacks, the Albatross Books, and it was agreed that we too must find a bird or an animal for our mascot. We spent
216 Siehe den Brief Kurt Enochs an Karl H. Pressler vom 31. Oktober 1979 (Public Library New York, Manuscripts and Archives Division, Kurt Enoch Papers, Box 1).
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nearly two hours searching the bird and animal kingdoms, until we had narrowed the possibilities down to a short list of about half a dozen. Yet somehow none of these seemed right. We were in despair. Then suddenly the secretary’s voice piped up from behind the partition (her name, it should be recorded for posterity, was Joan Coles). She said, ‚What about Penguins?‘ It was the obvious answer, a stroke of genius. The meeting broke up immediately. I went straight off the Zoo to spend the rest of the day drawing Penguins in every pose from the dignified to the ridiculous, and the following morning produced, at first shot, the absurdly simple cover design which was soon to become such a familiar sight on the bookstalls.217 Die Sixpence-Bücher mit dem Pinguin – und kurz darauf die Sachbücher mit dem »Pelican«, die »Specials«, etwas später weitere Formate wie die »King Penguins« ‒ machten ihren Weg; sehr schnell setzten sie sich in der Kombination verschiedener Vertriebswege (neben dem zunächst zurückhaltenden traditionellen Buchhandel spielte in der Anfangszeit die Kooperation mit Kaufhäusern wie Woolworth eine entscheidende Rolle, im Krieg erlebten die Penguins als Soldatenlektüre eine gewaltige Konjunktur) auf dem englischen Buchmarkt durch. Auf dem Kontinent spielten sie ihren durch den beträchtlich größeren Gesamtmarkt gegebenen Kostenvorteil gegenüber den Tauchnitz- und Albatross-Reihen aus, die dann mit dem Beginn des Weltkriegs zwangsläufig eingestellt werden mussten.218 In dieser Situation lag der Gedanke nahe, auch den amerikanischen
217 Edward Young: The Early Days of Penguins. In: The Book Collector, Winter 1952. Zit. n. Hare: Penguin Portrait, S. 5. – Hare bestätigt in seiner Darstellung auch die Übernahme der Farbcodierung: »Penguin were by no means the first paperback publishers to number their books; but they were certainly the first, and possibly the only, publisher ever to evelate the simple task of assigning a number to an art. At first all Penguin books simply had numbers, printed at the base of the spine. Within this single series books were colour coded to signify their content. Again, this was not original. From 1932 Albatross Books from their base in Germany had been publishing English language books for sale primarely within Europe, and they had pioneered this approach.« (Hare, S. 73). ‒ Vgl. dazu auch Hans Schmoller, den späteren Herstellungsleiter und Direktor von Penguins Book in England: »Allen Lane hat nie verhehlt, daß er, als er 1935 mit den Penguin Books begann, der Albatross-Sammlung nacheifern wollte. Er übernahm nicht nur das Format, sondern auch die Idee einer Farbordnung nach Sachkategorien: orange für Romane, grün für Kriminalromane, purpurrot für Reisen und Abenteuer usw. Was den Namen der Reihe betrifft, wer weiß, ob der Pinguin nicht vielleicht, ohne sich dessen bewußt zu werden, aus einem Albatross-Ei schlüpfte?« (Schmoller: Die Taschenbuch-Revolution, S. B132). – Den Angaben McCleerys zufolge hatten Lane und Holroyd-Reece 1934 erwogen, ein gemeinsames Unternehmen (ein »British Albatross«) aufzubauen; dieser Plan erwies sich aber aus verschiedenen Gründen als undurchführbar und Lane entschloss sich zu einem verlegerischen Alleingang. McCleery: The Paperback Evolution, S. 11 f.; ähnlich auch bei Troy: Albatross [online]. 218 Vgl. hierzu Schmoller: Die Taschenbuch-Revolution, S. 132: »Nach dem Zweiten Weltkrieg geschah sozusagen ein Elternmord, denn durch die Verbreitung – und bald unbeschränkte Einfuhr – britischer und amerikanischer Taschenbücher auf dem europäischen Kontinent waren mehrfache Versuche, die Tauchnitz- und Albatross-Edition wieder aufleben zu lassen, zum Scheitern verurteilt. Die beiden Verlage wurden 1936 unter Holroyd-Reece zusammen-
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Buchmarkt zu erschließen. Bemerkenswerterweise war in den USA nach frühen Versuchen in den 1840er und 1870er Jahren um 1900 der temporäre Taschenbuch-Boom wieder zum Erliegen gekommen. Erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Taschenbuch wieder einen Aufschwung – genau zu dem Zeitpunkt, als sich Penguin Books auf diesem Markt festzusetzen suchte. Robert de Graff gründete Pocket Books, Inc. im Jahr 1939, mit Simon & Schuster als 49 %-Teilhaber. Ebenfalls 1939, im Juli, eröffnete Penguin Books ein von einem jungen Amerikaner, Ian Ballantine, geleitetes Büro in New York, das allerdings sofort mit Problemen zu kämpfen hatte: Verschiedenste »wartime restrictions« und Transportprobleme machten es schwierig bis unmöglich, die angestrebte Menge von Penguin-Büchern in die USA zu schaffen. An diesem Punkt der Taschenbuch-Historie kam nun erneut der deutsche Verlegeremigrant Kurt Enoch ins Spiel. Er war nach Kriegsbeginn in Frankreich interniert worden und musste nach seiner Entlassung feststellen, dass alle Geschäfte fast völlig brachlagen. Nach Überwindung vieler Hindernisse gelang es ihm, im Oktober 1940 mit seiner Familie in die USA zu flüchten, wo er zu einem Teil der Penguin-Story werden sollte.219 Den Hintergrund dafür bildete die Bekanntschaft zwischen Allen Lane und Enoch, die bereits auf die ausgehenden dreißiger Jahre zurückging, als Enoch – der damals in London u. a. eine Buchimport- / Exportfirma Imperia Ltd. gegründet hatte – mit großem Erfolg französischsprachige Bücher in England platziert hatte. Lane war davon beeindruckt und hatte Enoch zu einem Treffen eingeladen, auf welchem er ihm die Ausarbeitung eines gemeinsamen Projekts »Penguin International« vorschlug, in dessen Rahmen Penguin-Titel in verschiedenen Sprachen herausgebracht werden sollten. Das Projekt wurde jedoch ein Opfer des Krieges. Anfang 1941 lud Lane Enoch erneut zu einem Gespräch ein, diesmal in New York, wo er ihm von der drohenden Schließung der Penguin-Importfiliale erzählte. Enoch empfahl ihm, die Belieferungsschwierigkeiten durch die Produktion von Penguin- und Pelican-Büchern in den USA zu beheben. Als Lane darauf verwies, dass Ballantine keine Verlagserfahrung hatte und unter den gegebenen Kriegsbedingungen auch kein Kapital zur Finanzierung eines solchen Unternehmens transferiert werden durfte, schlug Enoch vor, die nötige Summe in den USA aufzutreiben. Da auch Ballantine bereit war, sich dieser Idee anzuschließen, setzte Lane Enoch als Vice President der US-Filiale ein; in der Folge konnte Enoch auf der Basis eines persönlichen Kredits die notwendige Summe tatsächlich beschaffen.220 Die New Yorker Filiale wandelte sich nun in einen eigenständigen Verlag um; die ersten amerikanischen Penguins erschienen noch Anfang 1942. Die Absatzmethoden wurden jetzt den in den USA gegebenen Verhältnissen angepasst; der Vertrieb lief zu einem hohen Anteil über Zeitschriften-Grossisten, die ihrerseits Zeitungskioske und den Bahnhofsbuchhandel belieferten. Nach erfolgreichen Jahren entstanden jedoch nach Kriegsende ernsthafte Differenzen, zunächst zwischen Ballantine und Enoch; sie endeten mit dem Weggang Ballantines,
gelegt, waren aber seit 1945 in einem Knäuel internationaler Rechts- und Nachfolgestreitigkeiten verwickelt, aus denen kein Ausweg zu finden war.« 219 Siehe hierzu den Abschnitt über K. Enoch im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 220 Zu diesen Vorgängen vgl. Memo regarding Kurt Enoch / Allen Lane Relationship 1937‒ 1947. (June 16, 1971 I. (Public Library New York, Manuscripts and Archives Division, Kurt Enoch Papers, Box 1).
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der nachfolgend Bantam Books gründete und mit diesem Unternehmen seine Vorstellung von einem auf das Massenpublikum gerichteten Taschenbuch-Business umsetzte. Enoch wurde am 12. Mai 1945 50 %-Teilhaber und Präsident von Penguin USA und setzte sowohl im Fiction- wie auch im Non-Fiction-Bereich weiter auf gehobene Qualität; er blieb so auch der europäischen verlegerischen Tradition treu. Dieser Tradition suchte er nun in vorsichtigen Annäherungen an den amerikanischen Publikumsgeschmack einen Markt zu erschließen. An die Stelle Ballantines trat im August 1945 ein persönlicher Freund Lanes, Victor Weybright, der mit Enoch gut harmonierte.221 Konflikte ergaben sich aber nunmehr mit Allen Lane: Wenn der Penguin-Gründer zwar mit Enochs Programmstrategie völlig übereinstimmte, so hatte er doch große Schwierigkeiten, sich mit dem amerikanischen Buchhandelssystem zu arrangieren, das schon damals darauf abgestellt war, dass von den (rund 100.000!) Verkaufsstellen alle unverkauften Bücher in beliebiger Menge remittiert werden durften – schließlich waren sie nicht auf Bestellung geliefert, sondern in vom Verleger festgesetzten Mengen verschickt worden: »In den vierziger Jahren kam es vor, daß bis zu vierzig Prozent der gesamten amerikanischen Jahresproduktion von Taschenbüchern letzten Endes unverkäuflich blieb und daß fünfzig Millionen oder mehr makuliert wurden.«222 Die Ursachen der schweren Verstimmung vor allem zwischen Weybright und Lane lagen aber noch auf anderen Ebenen: Lane war enttäuscht, dass US-Penguin aus dem britischen Programm einen nicht noch höheren Titelanteil übernahm; er unterschätzte die Notwendigkeit einer Akkommodation an die Erwartungen der amerikanischen Leserschaft. Ein konkretes Ärgernis waren ihm die von Enoch und Weybright eingeführten graphisch-illustrativen Covergestaltungen, die von der streng typographisch geprägten Linie des Stammhauses abwichen223 – in den USA aufgrund der Verkaufssituation in den »magazin outlets« jedoch ein unverzichtbares Element der Absatzförderung. Diese Auffassungsunterschiede führten, zusammen mit persönlichen Unstimmigkeiten, denn auch bald zu einem Bruch mit Penguin. Enoch und Weybright übernahmen im Januar 1948 die restlichen Anteile am Verlag und entwickelten in der Folge eigene Reihen von »quality paperbacks«, die sie in einer höchst erfolgreichen New American Library of World Literature Inc. (NAL) herausbrachten.224 In Deutschland trat das moderne Taschenbuch seinen Siegeszug kriegsbedingt erst mit Verzögerung an. Doch sind sowohl beim Rowohlt Taschenbuch wie auch bei dem kurze Zeit später hervorgetretenen Fischer Taschenbuch die Entstehungsvoraussetzungen in genau diesem Entwicklungsstrang zu sehen, der von Tauchnitz / Albatross über Penguin und dem aufkommenden, von Enoch entscheidend mitgeprägten amerikanischen Taschenbuchmarkt zurück in die Bundesrepublik geführt hat. Allerdings fehlen hier zwei wichtige Kapitel dieser Entwicklungsgeschichte, weil sie in diesem Band an anderem
221 Weybright war Editor-in Chief, Chairman of the Board; Enoch blieb President, Chief Executive Officer und Treasurer of the Company. 222 Schmoller: Die Taschenbuch-Revolution, S. B136. 223 Vgl. Williams: The Penguin Story, S. 226: »The most familiar feature of the Penguin look is, of course, the avoidance of pictorial covers. In America the lurid cover is considered essential for securing mass sales of paper backed books; and in this country also, most of the cheap reprints are represented in picture covers.« 224 Siehe dazu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage den Abschnitt zu den USA.
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Ort, in der Geschichte der belletristischen Exilverlage, eingeordnet sind: Die ForumBücher,225 die am Vorabend des Weltkriegs von den Verlagen Allert de Lange, Querido und Bermann Fischer als Gemeinschaftsunternehmen kreiert worden sind, und die Bücherreihe Neue Welt,226 die Bermann Fischer in den USA 1944–1946 für die deutschen Kriegsgefangenen produziert hat. Gerade Bermann Fischer wäre aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen prädestiniert gewesen, das Taschenbuch in Deutschland einzuführen, und er hätte es auch getan, wäre er nicht durch Bestimmungen des alliierten Besatzungsrechts zu lange an einer Berufsausübung in Europa gehindert gewesen.
225 Näheres dazu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 226 Eine ausführliche Darstellung zu der Bücherreihe Neue Welt findet sich im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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Verlagsbuchhandel
5.1
Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation
Zur Typologie der Exilverlage Der Begriff »Exilverlag« ist keineswegs so eindeutig, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag; er verdient eine sorgfältige Reflexion. Ein zahlenmäßiger Vergleich kann das zugrunde liegende Problem verdeutlichen: Als Sternfeld / Tiedemann 1970 die 2., neubearbeitete Auflage ihrer Bio-Bibliographie herausbrachten, enthielt diese ein Verzeichnis von 160 »Verlagen, die sich der Exil-Literatur angenommen haben«. Abgesehen davon, dass der Blick anfänglich noch stark eingeschränkt war auf den Bereich der Literaturverlage im engeren Sinn, so war in dieser Umschreibung der Begriff Exilverlag nicht zufällig strikt vermieden. Horst Halfmann hat 1969 in seiner Darstellung Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur bereits eine weit umfangreichere, nach Ländern gegliederte Liste vorgelegt, die zunächst 657 Verlage umfasste;1 diese Liste ist nachfolgend von Klaus Hermsdorf auf 812 Verlage in 36 Ländern erweitert worden.2 Und als 1989 der erste Band des Katalogs zu den Buch- und Broschürenbeständen des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt am Main erschien, so führte er im Verlagsregister rund 1.700, aus der Autopsie der eigenen Buchbestände heraus gewonnene Verlagsnamen auf! In diesen Zahlen spiegeln sich nicht nur Forschungsfortschritte, sondern es liegen jeweils auch unterschiedliche Erfassungsaspekte zugrunde. Im Katalog des Deutschen Exilarchivs handelt es sich um eine Maximalvariante, denn genannt werden alle Verlage, die über mindestens einen Akteur des Exils (Autor, Herausgeber, Verleger, Buchgestalter, Illustrator, Übersetzer) mit dem literarischen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Exilgeschehen verbunden waren. Die ganz überwiegende Zahl dieser 1.700 Verlage ergibt sich aus der Berücksichtigung ausländischer Verlage, die – vielfach nur ein einziges Mal – das Buch eines emigrierten Autors publiziert oder sich bei einer Buchveröffentlichung der Dienste eines Exilanten bedient haben. Sie alle als »Exilverlag« anzusprechen, ist sicherlich nicht sinnvoll. Aber war nicht z. B. auch der Züricher Oprecht Verlag, der üblicherweise unter die Exilverlage eingereiht wird, ein solcher ausländischer Verlag, der »sich der Exil-Literatur angenommen« hat? Tatsächlich umfasst schon die Liste von Sternfeld / Tiedemann nicht bloß im Exil gegründete oder von Emigranten geleitete Verlage, sondern auch solche, in denen Exilliteratur – von deutschen und österreichischen Exilschriftstellern verfasste Werke – erschienen sind. Um gegenüber einer diffusen Verwendung des Begriffs Exilverlag Klarheit zu schaffen, wird im Folgenden der Versuch unternommen, eine differenzierende Typologie der Verlage im Exil zu erstellen. Hiernach wären in einer Gliederung, die von der Kernzone des Gegenstandsfeldes zu den Rändern hinführt, voneinander zu unterscheiden:
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Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur 1933 bis 1945, S. 189‒294. Hermsdorf: Verlag und Verleger im Exil, S. 27‒37.
https://doi.org/10.1515/9783110303353-006
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a) Verlage, die im Exil in Weiterführung einer vor 1933 in Deutschland bestehenden Firma vom emigrierten Verlagsinhaber errichtet worden sind, entweder mit gleichem oder ähnlichem Namen (eines der seltenen Beispiele: Wieland Herzfeldes Malik Verlag Berlin / Prag); b) Verlage, die im Exil von einem oder mehreren Exilanten neu gegründet worden sind. Hier wäre wieder zu unterteilen in: ba) Gründungen von Einzelpersonen (Beispiel: Editorial Cosmopolita von James Friedmann in Argentinien), bb) Gründungen von Organisationen, besonders Parteien (Ed. Prométhée), oder mit maßgeblicher Unterstützung von Parteiorganisationen (wie Willi Münzenbergs Éditions du Carrefour in Paris), bc) genossenschaftliche Gründungen, meist von Schriftstellern (z. B. der Aurora Verlag, New York), bd) Initiativen, die den Spezialfall Selbstverlag repräsentieren (Beispiele: Paul Zech, O. M. Graf u. v. a. m.). Die produktionsstärksten Gruppen bilden allerdings die c) im Ausland schon vor 1933 bestehenden Verlage, die nach 1933 die Funktion eines Exilverlages übernommen haben, indem sie Werke von exilierten Autoren in nennenswerter Menge publizierten. Auch diese Gruppe lässt sich weiter unterteilen in: ca) ausländische Verlage, die einen handelsrechtlich eigenständigen Zweigverlag errichtet haben, der sich ausschließlich der Exilliteratur widmen sollte (wie Querido in Amsterdam), cb) ausländische Verlage, die sich eine deutsche Abteilung angegliedert haben, die – meist ebenfalls unter der Leitung von Emigranten stehend – in relativer Autonomie gegenüber der Stammfirma den Charakter eines eigenständigen Verlages gewinnen konnte (Beispiele: Allert de Lange in Amsterdam; Max Taus Neuer Verlag als Abteilung des Ljus-Verlags), cd) deutschsprachige Verlage (v. a. in Österreich und der Schweiz), die ihre gewohnte Tätigkeit fortführten, sich aber der emigrierten Autoren in besonderem Maße annahmen (wie Oprecht in Zürich), ce) Staatsverlage in der Sowjetunion, die sich nicht explizit als Exilverlag verstanden, aber – oft mit Emigranten in leitenden Positionen – auf weite Strecken als ein solcher fungierten (Beispiel: VEGAAR). Während man, gewisse begriffliche Unschärfen in Kauf nehmend, alle unter a‒c beschriebenen Verlagstypen als »Exilverlage« ansprechen kann, so wären nun davon abzuheben d) die zahlreichen ausländischen Verlage, die nur gelegentlich oder auch nur einmalig Werke eines Emigranten veröffentlicht haben, und dies zumeist in Übersetzung (wie Gollancz und Hutchinson in Großbritannien, oder Knopf und Doubleday in den USA), ganz selten in deutscher Sprache (wie einige holländische Wissenschaftsverlage). Ebenso davon abzuheben wären alle Verlage, die sich bloß der Mitarbeit eines emigrierten Übersetzers, Buchgestalters und Typographen oder Illustrators bedient
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haben – was nicht bedeutet, dass diese Aspekte im Folgenden ausgeblendet bleiben sollen, nur werden diese Verlage dadurch nicht zu echten »Exilverlagen«. Die hier voneinander abgehobenen Verlagstypen unterschieden sich – abhängig auch von den spezifischen Entstehungsvoraussetzungen – z. T. markant in ihrer Leistungsfähigkeit: Verlage, die wie Querido und Allert de Lange nicht nur auf einem eingespielten Geschäftsbetrieb, sondern auch auf vorhandene Vertriebsnetze aufbauen konnten, hatten im Vergleich zu Neugründungen ungleich günstigere Startbedingungen. Die planwirtschaftlich geführten Verlage in der Sowjetunion agierten unter vollkommen anderen Bedingungen als die Verlage in anderen Ländern. In allen anderen Fällen war typischerweise nur eine schmale Finanzierungsbasis gegeben, was naturgemäß die Produktivität und Lebensdauer dieser neugegründeten Exilverlage massiv einschränkte. Schon Halfmann hatte berechnet, dass von den 657 von ihm ermittelten Verlagen nur 54, also etwa 8 %, zwischen 10 bis 19 Titel produziert haben; bei nur 25 Verlagen (4 %) waren es 20 bis 29; 14 Verlage (2,6 %) brachten es auf 30 oder mehr. Das bedeutet umgekehrt, dass der ganz überwiegende Teil der bei ihm aufgeführten Verlage nur je ein bis drei Titel publiziert hat.3
Frühe Versuche der bibliographischen Erfassung der Buchproduktion des Exils Die gesamte deutschsprachige Emigration hatte von sich aus ein vitales Interesse daran, über das Erscheinen neuer Literatur aus ihren eigenen Reihen informiert zu sein. Zunächst waren es Zeitschriften wie das Neue Tage-Buch oder Das Wort, die eine exilbibliographische Funktion übernahmen, indem sie Rubriken einrichteten, in denen fortlaufend über die Neuerscheinungen eines Monats oder die »literarische Ausbeute« eines Jahres berichtet wurde.4 Da der verlegerischen und buchhändlerischen Emigration ein zentrales Organ wie das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel fehlte und gleichzeitig aufgrund der örtlichen Zersplitterung und Kleinteiligkeit der Buchproduktion die Lage außerordentlich unübersichtlich war, gewannen solche Nachrichten über das aktuelle Bücherangebot besondere Bedeutung. So etwa schrieb Wieland Herzfelde in seiner Eigenschaft als Mitherausgeber von Das Wort an Franz Carl Weiskopf: Noch eins erbittet die Redaktion: Titel, Umfang, Erscheinungsort und Zeit der Publikationen, die das Buchhändler-Börsenblatt nicht anzeigt, hierherzusenden. Man will meinen alten Plan einer gesamten Bibliographie der nicht im Börsenblatt angezeig-
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Die von Halfmann ermittelten Zahlen zur Titelproduktion der einzelnen Verlage sind inzwischen fast durchwegs überholt und können nur für eine erste Orientierung herangezogen werden. Das Bild bleibt aber im Großen und Ganzen das gleiche, da bei genauerer Erfassung sowohl die Titelzahl der größeren Verlage ansteigt wie auch die Zahl der Verlage, die nur einen bis drei Titel produziert haben. Seit Ende 1936 erschien in Das Wort stattdessen eine Rubrik »Antifaschistische Publizistik«, in der auf politisch einschlägige Zeitschriftenbeiträge hingewiesen wurde. Im April / Mai 1937 brachte Das Wort zum vierten Jahrestag der Bücherverbrennung das Sonderheft Vier Jahre freie deutsche Literatur mit bio-bibliographischen Notizen zu 103 deutschen Schriftstellern heraus.
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Abb. 1: Der mit der Zeitschrift Das Buch unternommene Versuch einer regelmäßigen periodischen Erfassung der Exilverlagsproduktion ging 1938 von den Éditions Nouvelles Internationales in Paris aus, dem Verlag des »Internationalen Sozialistischen Kampfbunds« (ISK).
ten Literatur in dieser Rubrik verwirklichen. Was Querido, Oprecht, Malik etc. herausbringen, ist ja leicht festzustellen, aber es gibt noch eine Menge kleinerer Verlage und Selbstverlage, die einem leicht entgehen. Die Bibliographie soll mit 1. Januar 1936 beginnen.5 Dass Redaktionen solche Zusammenstellungen nicht nur als eine Leistungsschau des literarischen Exils propagandistisch verwerten, sondern auch für Zwecke politisch-ideologischer Einflussnahme nutzen wollten, lässt ein weiterer Brief Herzfeldes an Weiskopf erkennen: »Die Frage Bibliographie ist auch noch nicht geklärt. Ich weiß nicht, ob man so tolerant sein kann, auch die Bücher irgendwelcher Sektierer und dergleichen anzuzeigen«.6 Zu Neujahr 1935 kamen mit dem Almanach für das freie deutsche Buch des Michael Kácha-Verlags in Prag Bestrebungen in Gang, die Exilproduktion systematisch zu erfassen und anzuzeigen; der Almanach beruhte auf der Zusammenarbeit von 16 Verlagen, die mit Werbeanzeigen die Publikation finanzierten. Später, vom Frühjahr 1938 bis Frühjahr 1940 kamen sieben Hefte der Zeitschrift Das Buch (»Zeitschrift für die unabhängige deutsche Literatur«) im Pariser Verlag Éditions Nouvelles Internationales heraus, die sich ebenfalls als eine Bibliographie der seit 1933 außerhalb Deutschlands erschienenen deutschsprachigen Literatur verstanden.7 Die erste Nummer beruhte auf der Ende 1937 in der Buchhandlung Ernest Strauss, Agence de librairie française et étrangère, in Broschürenform erschienenen bibliographischen Zusammenstellung: Fünf Jahre freies deutsches Buch. Gesamtverzeichnis der freien deutschen Literatur 1933‒1938.
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Brief Wieland Herzfelde an Franz Carl Weiskopf, Moskau, 3. April 1936. In: Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933–38, S. 35 f. Brief Herzfelde an Weiskopf, Moskau, 16. April 1936. In: Prag – Moskau, S. 52. Siehe hierzu auch im Kap. 5.2.2 Politische Verlage den Abschnitt zum Kácha-Verlag.
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Der Buchhändler Ernest Strauss war im Hintergrund bereits an dem erwähnten, im Michal Kácha-Verlag in Prag erschienenen Almanach für das freie deutsche Buch beteiligt. Ein Indiz dafür liefert die Tatsache, dass er Exklusivvertreter oder Kommissionär für acht dieser Verlage war, umgekehrt war der Kácha-Verlag für die Tschechoslowakei Auslieferer der Éditions du Carrefour, während Strauss Repräsentant beider Verlage in Frankreich war.8 Auch war es Strauss, der im Oktober 1936 die Exilverlage um eine Liste ihrer Veröffentlichungen bat; sein Plan, daraus eine Bibliographie für die Zeitschrift Das Wort zu erstellen, zerschlug sich jedoch. Im Mai 1937 kündigte er in einem an Exilverlage gerichteten Rundschreiben an, dass er die Absicht habe, einen dreiteiligen Überblick über fünf Jahre Exilliteratur in Buchform herauszubringen. In einem ersten Abschnitt sollten Rezensionen ein breites Publikum ansprechen, für einen zweiten waren (auto)biographische Notizen zu einzelnen Autoren unter Einschluss von Werkverzeichnissen und für den dritten ein bibliographischer Titelnachweis inklusive Preisangaben vorgesehen.9 Dass die Aufnahme der Titel für die Verlage kostenpflichtig war, lässt darauf schließen, dass Strauss daraus eine Art Geschäftsmodell machen wollte. Tatsächlich erschienen ist allerdings nur dieser von den Verlagen vorfinanzierte dritte Teil mit den bibliographischen Angaben; er kam (mit dem Druckvermerk 1938) Ende 1937 unter dem Titel Fünf Jahre freies deutsches Buch – Gesamtverzeichnis der freien deutschen Literatur 1933‒1938 heraus und war so schnell vergriffen, dass eine zweite Auflage gedruckt werden musste. Diese war dann die Grundlage für das periodische Erscheinen dieser Publikation mit dem Titel Das Buch zwischen April 1938 und März 1940, ab Heft 2 sogar mit Rezensionsteil. Strauss gehörte zum Herausgeberkreis dieses »Forums für den gesamten unabhängigen Buchhandel« und war wohl auch derjenige, der die meiste Sachkenntnis einbrachte. Bemerkenswert war, dass Das Buch im Verlag der Éditions Nouvelles Internationales erschien, dem Parteiverlag der von Willi Eichler geleiteten Pariser Gruppe des ISK. Strauss vermied hier sichtlich die Zusammenarbeit mit kommunistischen Partnern und ignorierte auch die Produktion der KP-Verlage.10 Die Antwort der Kommunisten blieb nicht lange aus: noch im Sommer 1938 erschien im Pariser Komintern-Verlag Bureau d’Éditions die Internationale Bücherschau, eine deutschsprachige Literaturzeitschrift, die ausschließlich Bücher kommunistischer Verlage anzeigte, es aber nur auf drei Nummern brachte und Ende des Jahres wieder einging. Mit all diesen Initiativen wurde allerdings nur ein kleiner Teil der im Exilzusammenhang tatsächlich erschienenen Literatur erfasst. Wie bereits erwähnt,11 gab es auch im Dritten Reich Bemühungen, die Produktion der Exilverlage zu verzeichnen: Der Direktor der Deutschen Bücherei in Leipzig Uhlendahl war als professionell agierender Bibliothekar ganz vom Gedanken der Vollständigkeit beseelt, und der Sammelauftrag der Bibliothek erstreckte sich nun einmal auch auf das außerhalb Deutschlands erschei-
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So Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 59, Fn. 120. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 50 f. Das Werk sollte in einer Auflage von 13.000 (3.000 für den freien Verkauf, 10.000 für den Fachhandel) gedruckt werden. Enderle-Ristori hält es für erwiesen, dass Ernest Strauss mit sozialistischen Splittergruppen sympathisierte; möglicherweise hatte er mit der KP schlechte Erfahrungen gemacht. Siehe das Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich.
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nende deutschsprachige Schrifttum. Er bedauerte nur, dass ihm die Exilverlage nicht regelmäßig ihre Erzeugnisse zuschickten, weil sie unzutreffenderweise annahmen, man werde ihre Bücher gar nicht erst annehmen und noch weniger in die Deutsche Nationalbibliographie aufnehmen. Tatsächlich aber gingen Uhlendahl und seine Mitarbeiter erst auf massiven Druck von dieser Praxis ab, denn nicht zuletzt wollte jetzt auch der Börsenvereinsvorsteher Wilhelm Baur verhindern, dass das 5-Jahresverzeichnis »als Sammelsurium deutscher und antideutscher Werke erscheint«.12 Mit Befehl vom 12. Oktober 1936 wurde die Deutsche Bücherei schließlich angewiesen, weiterhin das deutschsprachige Schrifttum zu sammeln, aber nur mehr das deutsche Schrifttum bibliographisch anzuzeigen. Welche Veröffentlichungen dazu zu rechnen waren, entschied ein Beauftragter der Gestapo, der SS-Hauptscharführer Lämmel.13 Nach dem Verbot dieser Anzeigepraxis wurde eine interne Liste angelegt, die dann 1949 als Verzeichnis der Schriften, die 1933‒1945 nicht angezeigt werden durften erschienen ist, als »Ergänzung I der deutschen Nationalbibliographie«; eine Ergänzung II bezog sich auf »Schriften, die kriegsbedingt nicht angezeigt werden konnten«.14 Die Ergänzung I enthält insgesamt 5.485 Nummern mit mehr als 6.000 Titeln, von denen jedoch nur einige hundert dem engeren Bereich der Exilliteratur zugehören.
Sammlung und Verzeichnung der Buchproduktion im Exil nach 1945 Eine Produktionsstatistik des Exils liegt nicht vor; bisher sind es vor allem die Kataloge der einschlägigen Sammlungen, die Anhaltspunkte dafür liefern, um welche Größenordnungen es sich handelt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die veröffentlichten Zahlen jeweils nur einen Zwischenstand repräsentieren und dass sich auch hier mancherlei Definitions- und Abgrenzungsprobleme zeigen. Den Anfang in der Erfassung und auch in der Zählung machte die Exil-Sondersammlung der Deutschen Bücherei in Leipzig, deren Sammeltätigkeit bereits mit dem Jahr 1933 eingesetzt hatte; sie erreichte 1969 einen Stand von 13.262 Büchern, Broschüren und Zeitschriftenheften.15 Der 1989 erschienene erste Band des gedruckten Katalogs zu den Beständen des Deutschen Exilarchivs und der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main verzeichnete 6.900 selbständige Veröffentlichungen deutschsprachiger Emigranten aus der Zeit 1933 bis 1950, konkret: a. b. c. d. e. f.
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von Emigranten verfaßte Bücher in allen Ausgaben und Auflagen Übersetzungen von Büchern deutschsprachiger Emigranten Sammelbände, an denen Emigranten mitgewirkt haben von Emigranten herausgegebene und / oder eingeleitete Veröffentlichungen von Emigranten illustrierte und / oder gestaltete Bücher von Emigranten übersetzte Bücher
Zit. n. Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur 1933 bis 1945, S. 200. Halfmann, S. 202 f. Das Verzeichnis der Schriften, die 1933–1945 nicht angezeigt werden durften erschien 1980 in Leipzig als Reprint des Zentralantiquariats der DDR. Siehe Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur 1933 bis 1945, S. 189‒294.
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g. die Produktion von Exilverlagen oder -organisationen […] h. Veröffentlichungen jüdischer Verlage und Organisationen in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei nach 1933 i. Veröffentlichungen nicht bzw. noch nicht emigrierter im Reich lebender Autoren zwischen 1933 und 1945 im Ausland k. Veröffentlichungen nicht oder noch nicht emigrierter deutschsprachiger Autoren in Österreich, in der Tschechoslowakei u. a. Ländern ab 1933, von denen mit Gewißheit oder hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß ihnen reichsdeutsche Publikationsmöglichkeiten versperrt waren (z. B.: Max Brod: Franz Kafka. – Prag 1937). Als Kriterium für die Gruppen i. und k. gilt das Verbot oder die Behinderung freier Publikationsmöglichkeiten im Reich.16 Das Sammelgebiet und also auch die bibliographische Erfassung sind somit außerordentlich weit gespannt; die Produktion von Exilverlagen macht mit Punkt g. nur ein Teilgebiet aus, wobei es natürlich zu starken Überlappungen v. a. mit den Rubriken a. bis f. kommt. Schon damals hieß es im Vorwort, es handele sich um die wohl umfangreichste Sammlung ihrer Art, und etwas übertrieben selbstbewusst wurde auch behauptet: »Bei der Belletristik und der politischen Publizistik dürfte heute, was die einzelnen Werke in der Originalsprache betrifft, Vollständigkeit nahezu erreicht sein«.17 Für einige Bereiche wurden aber Lücken eingestanden, so bei den Übersetzungen, im Bereich der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Technik. Im Laufe der Jahre sollte sich – besonders auch im Abgleich mit den Leipziger Beständen – zeigen, dass die Lücken doch noch etwas größer und weiter gestreut waren. Denn vierzehn Jahre später erschien ein zweiter Band dieses Katalogs,18 der – nach der auch bibliothekarischen Wiedervereinigung Deutschlands nunmehr unter Einbeziehung der Bestände der Deutschen Bücherei Leipzig – im Hauptteil weitere ca. 5.550 Eintragungen aufwies, die im Anschluss an Band 1 mit den Nummern 6.908 bis 12.419 fortnummeriert wurden.19 Die Deutsche Nationalbibliothek konnte nun mit noch größerem Recht
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Deutsches Exilarchiv 1933‒1945. Katalog der Bücher und Broschüren, Benutzungshinweise, S. X. Deutsches Exilarchiv 1933‒1945, S. VIII. Brita Eckert lieferte drei Jahre später einen Literaturüberblick über Nachschlagewerke zur deutschsprachigen Emigration 1933‒1945 (In: AdA 1992/1, S. A1‒A10), der von dem Antiquar Frank Albrecht als lückenhaft und einseitig westlich ausgerichtet kritisiert wurde (F. A.: Deutsch-deutsche Teilung auch in der Exilwissenschaft? In: AdA 1992/4, S. A173‒A175). Vgl. hierzu die Repliken von Brita Eckert (Kein Angriff auf die Leipziger. In: AdA 1992/6, S. A259‒A261) und Hans-Albert Walter (Ritterliche Attacke oder räuberischer Anschlag? In: AdA 1992/7, S. A281‒A289) sowie den Leserbrief von Herbert Meinke (Auch Bibliographen und Archive arbeiten politisch. In: AdA 1992/9, S. A412 f.). Auf diese Kontroverse wird hier aufmerksam gemacht, weil sich aus ihr der relativ vollständigste Überblick über den Gang der bibliographischen Erfassung der Exilliteratur ergibt. Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945. »Zusätzlich wurden einige Titel aus Band 1 wiederholt, weil sich vor allem Änderungen in der physischen Form ergaben (Originale statt der dort angezeigten Mikrofilme). Unveränderte Nachauflagen erhalten keinen eigenen Eintrag, sondern werden nur als Fußnote unter
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für sich in Anspruch nehmen, den »weltweit umfangreichsten Bestand von Büchern und Broschüren des deutschsprachigen Exils der Jahre 1933 bis 1945 bibliografisch verzeichnet« zu haben. Die Angabe: »Das Deutsche Exilarchiv 1933–1945 besaß Ende des Jahres 2002 17.270 Bücher und Broschüren, außerdem 9.621 Zeitschriftenbände (bzw. -hefte) von rund 1.000 Periodika; die Sammlung Exil-Literatur 1933–1945 10.016 Bände und 16.835 Zeitschriftenstücke (Hefte)« ist allerdings so zu verstehen, dass in diesen beiden Einrichtungen auch Zweitexemplare vorhanden sind, vor allem aber »darüber hinaus ergänzendes, für die Forschung unentbehrliches Material, wie zeitgenössische Veröffentlichungen des Auslandes zum deutschsprachigen Exil, Publikationen deutschsprachiger Emigranten, die nach 1950 erschienen sind, oder nationalsozialistische Schriften, woraus sich auch die Differenz zu den 12.419 Katalognummern ergibt«.20 Das bedeutet: Unter Berücksichtigung der oben ausführlich zitierten Aufnahmekriterien sind es rund 12.500 selbständig erschienene Bücher und Broschüren, die im weitesten Sinne der deutschen Exilliteratur zugerechnet werden können (»Literatur« hier im umfassendsten Sinne des Begriffs genommen). Dabei gilt es zu bedenken, dass sich diese Zahl deutlich reduzierte, wenn man nur Originalausgaben heranzöge und nicht auch Nachauflagen und Übersetzungen, oder wenn man von Emigranten illustrierte und gestaltete Bücher aus diesen Berechnungen herausnähme. Und noch stärker reduziert sich diese Zahl, wenn man wirklich nur jene Titel herausfiltern wollte, die in von Emigranten gegründeten oder geleiteten Verlagen erschienen sind; es wären dann wohl nur noch zwischen zwei- und dreitausend. Ergänzend müsste aber immer auch die in diesen Katalogen nicht verzeichnete Zeitschriftenliteratur des Exils mit bedacht werden, deren Bedeutung allein wegen ihres beachtlichen Umfangs (mehr als 600 Periodica) gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.21 Eine Art Gegenprobe lässt sich anstellen, wenn man jene Einträge in den beiden Katalogbänden zusammenrechnet, die Publikationen ausschließlich von genuinen Exilverlagen gelten, wobei nur jene berücksichtigt werden sollen, die eine nennenswerte Produktion (mehr als drei Titel) entfaltet haben. Dabei sind Grenz- und Zweifelsfälle nicht auszuschließen, doch lässt sich daraus eine weitere Orientierungszahl generieren. In der nachstehenden Liste summieren sich die Einträge in Bd. 1 bzw. 2 auf 2.642 Titel: Akademische Verlagsanstalt Pantheon, Amsterdam: 13/5; Allert de Lange 121/13; Alliance Book Corporation, New York: 24/16; Atrium-Verlag, Basel / Mährisch-Ostrau/ Zürich / London: 8/7; Aurora-Verlag, New York: 12/0; Bermann-Fischer, Wien: 46/6; Bermann-Fischer Stockholm: 144/20; Bermann-Fischer, New York: 14/2; BermannFischer, Amsterdam: 18/11; Büchergilde Gutenberg, Zürich: 201/161, Carrefour: 40/3; Bruno Cassirer, Oxford / London: 3/6; Deutscher Staatsverlag, Engels: 19/11; Edition Olympia, Tel Aviv: 16/0; Éditions du Phénix, Paris: 12/1; Éditions Prométhée: 62/31; Editorial Cosmopolita: 25/3; Editorial El Libro Libre, Mexico City: 21/0;
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dem Ersteintrag angegeben«. (Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945, Vorwort, S. VIII). Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945, Vorwort, S. VIII. Siehe dazu das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils.
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Editorial Estrellas, Buenos Aires: 9/0; Europa-Verlag, Zürich, New York: 83/23; L. B. Fischer, New York: 16/10; Europäischer Merkur, Paris: 14/0; Free Austrian Books, London: 18/2; Freier Dt. Kulturbund, London: 30/6; Peter Freund, Jerusalem: 35/3; Humanitas, Zürich: 23/6; Imago Publishing, London: 12/10; Jean Christophe Verlag, Zürich: 6/1; Kittls Nachf. 16/9; Fr. Krause, New York: 10/0; Lincolns-Prager, London: 10/6; Malik, Prag: 35/3; Meshdunarodnaja Kniga, Moskau: 52/10; Mopr-Verlag, Zürich: 10/7; Neuer Verlag, Stockholm: 16/7; Oprecht, Zürich: 77/11; Oprecht und Helbling, Zürich: 14/0; Orbis, Prag: 7/4; Pantheon Books, New York: 22/44; Pazifische Presse, Los Angeles: 11/0; Phaidon Press, Oxford / London: 6/20; Philosophical Library, New York: 14/17; Eugen Prager, Bratislava: 12/3; Querido, Amsterdam 172/16; Reichner, Wien, Zürich: 24/9; Ring-Verlag, Zürich: 8/2; Romema, Jerusalem: 6/1; Schocken Books, New York: 11/29; Sebastian Brant, Strassburg: 14/1; Staatsverlag der Nationalen Minderheiten, Kiew: 27/13; Steinberg-Verlag, Zürich: 18/13; Storm Publishers, New York: 3/0; Frederick Ungar, New York: 18/32; UniversumBücherei, Basel / Prag: 22/14; Verlag der Johannes-Presse, New York: 4/0; Verlag für Fremdsprachige Literatur, Moskau: 49/14; Verlag Jugend Voran, London: 21/8; Matara, Jerusalem: 4/1; Verlagsanstalt Graphia, Karlsbad: 23/4; VEGAAR, Moskau: 106/54; Vita Nova-Verlag, Luzern: 15/4; Willard Publishing, New York: 9/0; Wittenborn, Schultz, Inc., New York: 4/3; Young Austria, London: 8/5. Rechnet man nun noch überschlagsmäßig die Produktion jener Kleinstverlage hinzu, die nicht mehr als ein bis drei Titel hervorgebracht haben, und bringt man noch die kaum vermeidbare Unvollständigkeit der Sammlungen in Anschlag, so erhöht sich diese Zahl noch weiter, bleibt aber wohl unterhalb der Grenze von 3.000 Titeln. Damit wäre das Volumen der Titelproduktion der Exilverlage im Sinne eines Richtwerts bestimmt. Zur näheren Orientierung: Die großen Verlage mit mehr als 100 Einträgen in den beiden gedruckten Katalogen waren: Allert de Lange (134 Einträge), Bermann-Fischer Wien / Stockholm / New York / Amsterdam (52/164/16/29), Büchergilde Gutenberg, Zürich (362), Oprecht / Oprecht & Helbling / Europa Verlag (88/14/106), Querido (188 Einträge), VEGAAR, Moskau (160). Weniger als 100 Einträge hatten u. a.: Aurora (12), Carrefour (43), Éditions du Phénix (13), Éditions Prométhée (92, haupts. Broschüren), Editorial Cosmopolita (28), El Libro Libre (21), Malik (38), Europäischer Merkur (14), Humanitas (29), Vita Nova (19), Graphia (29), Kittls Nf. (25), Frederick Ungar (50), Sebastian Brant (15), Free Austria Books (20). Als eine weitere Gegenprobe lassen sich die aufschlussreichen und als exemplarisch zu betrachtenden Berechnungen heranziehen, die Judith Joos in ihrer Untersuchung zur Rolle der britischen Verlage im Zweiten Weltkrieg vorgenommen hat.22 Auf der Grundlage der beiden gedruckten Kataloge des Deutschen Exilarchivs, Frankfurt am Main, hat sie für die 12.419 in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt und Leipzig gesammelten Exilveröffentlichungen des Zeitraums 1933 bis 1950 zunächst eine Länderverteilung ermittelt, mit überraschenden Befunden:
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Joos: Trustees for the Public?, S. 142 f.
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Land USA Großbritannien Schweiz Niederlande Frankreich
Dieses Ranking korrespondiert weder mit der jeweiligen Anzahl der Flüchtlinge in den genannten Ländern noch mit der Verlagslandschaft des Exils; es spiegelt sich darin vielmehr die Bereitschaft ausländischer und hier eben vor allem US-amerikanischer und britischer Verlage, Werke exilierter deutscher und österreichischer Autoren zu publizieren – denn diese bilden ja, ob im deutschsprachigen Original oder in Übersetzung, ob in einem »echten« Exilverlag oder einem anderen Verlag erschienen – den Ausgangspunkt für die Sammlung Exilliteratur des Deutschen Exilarchivs. Die Produktion der Exilverlage im engeren Sinn des Begriffs ist jeweils deutlich geringer; eine Berechnung, wie sie Joos für das gemeinhin als exilliterarisch wenig fruchtbar angesehene Großbritannien vorgenommen hat, ergibt, dass dort von den zwischen 1933 und 1945 publizierten 1.379 Werken exilierter Autoren 1.151 Titel in britischen Verlagen, nur 228 Titel aber in eigentlichen Exilverlagen herausgekommen waren.23 Dieses Verhältnis von 5:1 ist sicher nicht repräsentativ für alle anderen Länder, gibt aber doch einen weiteren Hinweis darauf, dass die Produktion der Exilverlage nur einen kleineren Teil jener Büchermenge ausmacht, an deren Entstehung Exilanten als Schriftsteller, Übersetzer, Buchgestalter und Illustratoren beteiligt gewesen sind. Die Resultate der zahlenmäßigen Erfassung der Exilpublikationen hängen klarerweise auch davon ab, mit welcher Genauigkeit das Feld untersucht wird. Die Exilforschung hat in dieser Hinsicht große Fortschritte gemacht: So hat Hélène Roussel für Frankreich24 inzwischen fast doppelt so viele Exilveröffentlichungen nachweisen können als seinerzeit Halfmann, und besonders krass ist die Differenz bei Ungarn, wo René Geoffrey 1995 nach genaueren Recherchen 180 Titel von 85 Autoren nachweisen konnte, im Unterschied zu bloß drei Titeln, die Halfmann bekannt gewesen sind.25 Und es waren nicht nur drei Verlage, die in diesem Feld tätig gewesen sind, sondern zusammen 51 Verlage, wovon allerdings 40 Verlage zusammen nur 59 Titel herausbrachten, d. h. jeweils nur einen oder zwei. Dagegen hat der Athenäum Verlag allein 30 Titel, der Nova-Verlag 22 und der Pantheon-Verlag immerhin noch 17 Titel produziert. Keiner dieser drei Verlage ist bei Halfmann auch nur erwähnt. Der Grund dafür: Bisherige Recherchen waren in der Regel auf deutschsprachige Erstveröffentlichungen fixiert; im Hinblick auf die Umstände des Exils bedeutet das aber eine unzulässige Verengung
23
24 25
Joos hat die Ausgangszahl von 2.207 Titeln um doppelte Einträge oder mehrere Auflagen sowie um die vor 1933 und nach 1945 erschienenen Titel bereinigt und ist dabei auf die Zahl von insgesamt 1.379 Titeln gekommen. Roussel: Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933‒1940, bes. S. 269. Geoffrey: Veröffentlichungen deutschsprachiger Emigranten in ungarischen Verlagen (1933‒ 1944), S. 252‒262.
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des Blicks. Tatsächlich sind von den von Geoffroy eruierten 180 Titeln 166 in ungarischer Übersetzung erschienen, sieben in Hebräisch und ebenfalls nur sieben in deutscher Sprache. Sicher verdienen die deutschsprachigen Werke besonderes Interesse, aber es ist doch auch aufschlussreich, dass in Deutschland verbotene Autoren – und nur solche wurden ja in dieser Zählung berücksichtigt – in beachtlichem Umfang in Ungarn in ungarischer Sprache gedruckt und verbreitet worden sind, nämlich in Horthy-Ungarn, das mit Deutschland verbündet gewesen ist und selbst faschistischen Charakter gehabt hat. Geoffroy hebt mit Recht hervor, dass unter diesen politischen Rahmenbedingungen der Druck solcher Werke ein besonderes Risiko bedeutet hat. Die Überschrift Geoffroys lautet denn auch: »Veröffentlichungen deutschsprachiger Emigranten in ungarischen Verlagen«, und konsequenterweise lässt er Verlage, die von Emigranten gegründet wurden, in seiner Zählung unberücksichtigt. Umgekehrt erwähnt er sieben Bücher der Verlage Querido, Allert de Lange und Humanitas (Zürich), die – wegen der niedrigeren Druckkosten – in Ungarn gedruckt worden sind; diese wird man nicht den in Ungarn erschienenen Büchern zurechnen dürfen.
Produktgruppenstatistik – charakteristische Schwerpunktbildungen In den Katalogen des Deutschen Exilarchivs wurde im Registerteil eine inhaltliche Aufschlüsselung der Bestände vorgenommen. Eine solche Zuordnung nach Sachgruppen und thematischen Gruppen kann erfahrungsgemäß nicht in jedem Einzelfall mit absoluter Treffsicherheit vorgenommen werden, zudem ist jeder Versuch der Systematisierung anfechtbar; in rein statistischer Betrachtung sind die Zahlenverhältnisse aber zweifellos von einiger Aussagekraft. Daher soll hier eine Auswertung dieses Sachregisters vorgenommen werden, um einen Einblick in die Struktur der Exilverlagsproduktion zu vermitteln. Die »Veröffentlichungen des Exils« wurden dort nach den folgenden (Unter-)Kategorien und mit folgenden Ergebnissen erfasst:
26 27
%26
Gesamt
Bd. 1/Bd. 227
20,6 2,55
2.561 316
1.712/849 246/70
3,89
483
360/123
7,92
983
604/379
Literatur, Politik (Texte) Belletristik Belletristik: Historische Romane und Erzählungen Autobiographisches (Autobiographien, Erinnerungen, Reise-Impress., Briefe) Biographisches (Biographien, biographische Romane, Gedenkbücher)
Prozentanteil bezogen auf die Gesamtzahl der in den beiden Bänden des Katalogs verzeichneten 12.419 Bücher und Broschüren. Im Verhältnis der beiden Angaben zeigt sich u. a., wie die 1989 noch vorhandenen Defizite einerseits durch Einbeziehung der Leipziger Exilbestände, andererseits durch gezielte Sammeltätigkeit mindestens teilweise behoben werden konnten, besonders krass etwa bei Mathematik, aber auch in anderen Bereichen der Natur-, Formal- und Sozialwissenschaften.
290
5 Ve r l ag s bu c hh a n de l
%
Gesamt
Bd. 1/Bd. 2
16,28 2,97
2.022 369
1.414/608 271/98
1,45
180
99/81
Literatur, Politik (Texte) Politische Publizistik Politische Publizistik: Veröff. v. Parteien sowie polit. u. kult. Grupp.) Politische Publizistik: Tarnschriften
1,14
141
59/82
Kinder- und Jugendbücher
0,29 0,05 2,35 0,18 0,24 0,18 0,48 0,19 0,59 0,47 3,15
36 6 292 23 30 22 59 24 73 58 391
5/31 4/2 113/179 12/11 9/21 9/13 21/38 – /24 44/29 30/28 219/172
2,53 0,09 1,43 3,34 1,14 1,67 2,29
314 11 178 415 141 208 284
179/135 – /11 116/62 9/406 53/88 83/125 163/121
0,93 1,91 4,21
116 237 523
43/73 140/97 198/325
1,22 1,72 0,43 0,14 0,43 0,22 1,92
151 214 54 18 54 27 239
69/82 97/117 13/41 7/11 25/29 11/16 106/133
Einzelne Sachgebiete und Wissenschaften Allgemeine Wissenschaftskunde Anthropologie Bildende Kunst, Kunstwissenschaft Bildende Kunst: Architektur Bildende Kunst: Buchkunst, Typographie Bildende Kunst: Fotografie Biologie, Biochemie, Biophysik Chemie Erziehung, Bildung Geowissenschaften (auch Länderkunde) Geschichte (auch Kulturgeschichte, Archäologie) Gesellschaft, Sozialwissenschaften Landwirtschaft, Ernährung Literatur, Literaturwissenschaft Mathematik, Statistik Medizin Musik, Musikwissenschaft Philosophie (auch philosophische Betrachtungen und Kulturkritik) Physik Politik, Politikwissenschaft, Militär Psychologie (auch Astrologie), Psychoanalyse, Psychiatrie Recht, Rechtswissenschaft Religion, Theologie Sprache, Sprachwissenschaft Technik Theater, Tanz, Film, Rundfunk Volkskunde, Völkerkunde Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaften
5 .1 E x il v er l ag e : Ty p ol o gi e , Pr o du k ti o n , K a lk u la t i on % 0,33
Gesamt 41
0,24 0,27
3 34
3,12 2,82 0,23
387 350 29
250/137 154/196 15/14
Von Emigranten gestaltete Bücher Von Emigranten illustrierte Bücher Von Emigranten illustrierte Bücher: Fotografien
2,98
370
212/158
Von Emigranten übersetzte Bücher
291
Bd. 1/Bd. 2 33/8
Jüdische Emigration28
3/ – 17/17
Formalgruppen Biographische Lexika und Verzeichnisse Praktische Ratgeber
Eine Differenzierung der Buchproduktion nach Buchgattungen und Genres zeigt, dass die Schwerpunkte deutlich auf der belletristischen Literatur (im weitesten Sinne) und der politischen Literatur lagen; fasst man jeweils noch einige verwandte Kategorien zusammen, dann ergibt sich für Belletristik ein Anteil von rund 35 %29 und für Politische Literatur fast 21 %. Umgekehrt lässt sich aber daraus ersehen, dass die Autoren und Verlage im Exil sich keineswegs so ausschließlich auf antifaschistische Kampfliteratur und politisch getönte Belletristik konzentriert hatten, wie dies angesichts der Zeitsituation zu erwarten gewesen wäre. Wie die Aufstellung zeigt, ist Wissenschafts-, Sach- und Fachliteratur nahezu zum gesamten bekannten Themenspektrum erschienen. Einzelne Produktgruppen sind in dieser Aufstellung eindeutig unterrepräsentiert; so ist im Bereich Kinder- und Jugendliteratur im Exil wohl einiges mehr erschienen als in den Frankfurter und Leipziger Sammlungen bis 2003 vorhanden und erfasst war.30 Gegenüber dem »regulären« Buchmarkt der Zeit vor 1933 faktisch ganz weggefallen ist der Schulbuchsektor. Die Erwartung, dass die Exilliteratur in gattungstypologischer Hinsicht tatsächlich den gesamten Facettenreichtum der Literatur vor 1933 repräsentiert, wäre freilich unangebracht. Die Zeitverhältnisse, die Produktionsverhältnisse und nicht zuletzt die Marktbedingungen blieben nicht ohne Wirkung: Lyrik und Dramatik traten, da kaum verkäuflich, in den Hintergrund – die Lyrik aufgrund radikal eingeschränkter Publikationsmöglichkeiten, Theatertexte aus Mangel an Aufführungsgelegenheiten. Auch innerhalb der Erzählprosa kommt es zu einer Verengung der Genres: Die Belletristik wird dominiert vom historischen Roman und der Romanbiographie, dazu kommen allenfalls noch der zeitgeschichtliche Roman und autobiographisches Schrifttum. Nicht alle Literatur des Exils trägt freilich den Stempel der Ausnahmesituation: So gibt es ein beachtliches Segment reiner Unterhaltungsliteratur, die sich kaum von jener der 1920er Jahre unterscheidet. 28
29 30
Den Beschluss des Sachregisters bildet eine Rubrik »Jüdische Bücher in Deutschland, Österreich und in der Tschechoslowakei«, die hier als eine Inlandsproduktion keine Berücksichtigung findet. Eine zahlenmäßig verstärkende Funktion entwickeln in diesem Bereich die miterfassten Übersetzungen einzelner belletristischer Titel in mehrere Sprachen. Zur Kinder- und Jugendliteratur des Exils siehe Kap. 5.2.7 in diesem Band.
292
5 Ve r l ag s bu c hh a n de l
Die auffälligste Gattung war in jeden Fall der historische Roman; die auch schon in der Weimarer Republik erfolgreich gepflegte Gattung erlebte im Exil einen förmlichen Boom. Dieses Phänomen ist umso bemerkenswerter, als schon damals von verschiedenen Seiten auf das Missverhältnis zwischen dem Rückgriff auf die Historie und den aktuellen Gestaltungsaufgaben des Exils hingewiesen worden ist. Man diskutierte in Zeitschriften und auf Veranstaltungen über die Berechtigung dieses Genres und verwies mit guten Argumenten darauf, dass auch der historische Roman vielfältige Möglichkeiten einer Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart eröffne.31 Fakt ist, dass der historische Roman gerade unter den Bedingungen des Exils besonders große Publikationschancen hatte. Auffällig nur, dass kaum jemals Stoffe aus der vertrauten deutschen Geschichte aufgegriffen worden sind, sondern dass als Helden historisch-biographischer Romane fast durchgehend weltberühmte, d. h. auch in den Asylländern bestens bekannte Gestalten begegnen, und dass sich viele Autoren ihre Themen aus dem Bereich der Geschichte ihres Asyllandes wählten. In diesen Tendenzen spiegelt sich durchaus die selektive Kraft des literarischen Marktes. An dieser Stelle ist an den Angriff des holländischen Literaturkritikers Menno ter Braak zu erinnern, der Ende 1934 eine große Debatte auslöste, als er gegenüber der deutschen Exilliteratur den Vorwurf erhob, sie sei zu sehr von Liebesgeschichten und historischen Romane geprägt, statt sich politisch zu engagieren und ein kritisch-realistisches Bild der Gegenwart zu entwerfen; man habe vielmehr den Eindruck, dass der »Betrieb« einfach fortgesetzt werde.32 So ungerecht der Vorwurf, aufs Ganze betrachtet, auch gewesen sein mag, so kommt in dieser Sicht eines außenstehenden Beobachters doch auch ein bemerkenswertes Moment von Kontinuität zum Ausdruck: dass sich nämlich im Exil von Anfang an und gleichsam bruchlos die Strukturen eines Buchmarktes herausbildeten, der nicht bloß eine Schwundform, sondern eine voll entwickelte Form des gewohnten Marktes darstellte.
Auflagenhöhen Mit welchen Auflagenhöhen haben die Exilverleger kalkuliert, wie schätzten sie die Absatzchancen ein? Soviel steht fest: Die Emigration selbst stellte, obschon sie mehr als eine halbe Million Menschen umfasste, aufgrund ihrer geringen Kaufkraft nicht die entscheidende Zielgruppe dar. In der Tat hatten vor allem die größeren Exilverlage die Hoffnung, deutschsprechende oder deutschlesende Bevölkerungsgruppen außerhalb Deutschlands ansprechen zu können – eine Hoffnung, die allerdings nur sehr begrenzt eingelöst werden konnte. Der Verleger Wieland Herzfelde war es, der sich 1937 mit der Problematik auseinandersetzte, dass einem theoretisch riesigen Markt in der Realität
31
32
Solche Diskussionen fanden in besonderer Weise im Schutzverband Deutscher Schriftsteller im Exil statt (siehe dazu das Kap. 3 Autoren), aber auch in Exilzeitschriften wie Das Wort oder Die Sammlung. Siehe dazu Léon Hanssen: Menno ter Braak (1902–1940). Leben und Werk eines Querdenkers. Münster: Waxmann 2011.
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293
sehr bescheidene Absatzziffern gegenüberstanden.33 Den gesamten potentiellen Abnehmerkreis, nämlich alle deutschsprechenden Menschen außerhalb des Dritten Reiches, hat Herzfelde mit 30 bis 40 Millionen angesetzt, die durchschnittlich verkaufte Auflage schätzte er auf 2.250 Exemplare, wobei auch diese nur von den größeren Exilverlagen erreicht worden ist. Immerhin war Fritz H. Landshoff positiv überrascht, dass er bereits aus dem ersten Herbstprogramm 1933 des Querido-Exilverlags von Heinrich Manns Der Haß in zwei Auflagen zusammen 7.000 Exemplare, von Ernst Tollers Jugend in Deutschland 6.000 und von Lion Feuchtwangers Geschwister Oppenheim sogar 25.000 Exemplare verkaufen konnte.34 Abgesehen davon, dass es schon damals auch sehr schwach gehende Titel wie Döblins Babylonische Wandrung gab: Bei diesen guten Zahlen blieb es nicht. Die Exilverleger hatten bereits in der Anfangszeit des Exils mit dem Problem zu kämpfen, dass vom Dritten Reich aus große Mengen von verbotenen Büchern ins Ausland verbracht und dort zu Schleuderpreisen auf den Markt geworfen wurden. Diese merkwürdige Situation, dass die in Exilverlagen erschienenen neuen Werke vertriebener Autoren durch deren ältere, von den deutschen Verlagen verramschten Titel konkurrenziert wurden, wiederholte sich dann noch einmal nach dem »Anschluss« 1938: Nach der Annexion Österreichs war der Markt mit verlagsfrischen alten Büchern überschwemmt, die alten Titel fast aller namhaften Exilschriftsteller draußen lieferbar, in großen Mengen und zu einem Bruchteil der früheren Preise. Die Ramschverkäufe verstopften den ohnehin kleinen Markt für die Exilverlage, so daß dort die Zahl der Neuerscheinungen kontinuierlich zurückging und daß sie auf Neuauflagen sogar dann verzichten mußten, wenn diese Titel früher gut verkäuflich waren.35 Dazu kamen schon seit Herbst 1935 die Auswirkungen des nationalsozialistischen »Bücherdumpings«, der staatlichen Buchexportstützung, die das reichsdeutsche Buch im Ausland um 25 % verbilligte. Auch diese preisliche Billigkonkurrenz drückte auf Auflage und Verkauf des Exilbuchs. Seit 1938 änderte sich die Marktlage auf dramatische Weise weiter zum Negativen: Österreich und die Tschechoslowakei, die beide neben den Niederlanden und der Schweiz die wichtigsten Absatzmärkte darstellten, fielen weg, soweit es nicht zuvor schon zu Einfuhrbeschränkungen gekommen war. Und mit Kriegsbeginn brach der europäische Absatzmarkt zur Gänze zusammen, ohne dass dafür in Übersee Ersatz geschaffen werden konnte, zumal in den USA und wohl auch in Südamerika große Teile der deutschstämmigen und deutschsprechenden Volksgruppen eher mit Hitler-Deutschland als mit der Emigration sympathisierten. Angesichts der diffusen Verhältnisse auf dem Absatzmarkt sind die Zahlen aufschlussreich, die zu Arnold Zweigs Roman Erziehung vor Verdun vorliegen; der Schriftsteller hatte sie aus »aufrichtigem Interesse am bücherkaufenden Publikum und an der
33 34 35
Vgl. Herzfelde: David gegen Goliath, S. 55 f. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 82. Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 317, Fn. 3478.
294
5 Ve r l ag s bu c hh a n de l
Kaufkraft der verschiedenen Emigrationen« vom Verlag angefordert.36 Danach waren von dem bei Querido in Amsterdam 1935 erschienenen Roman nach einem Jahr immerhin 3.289 Exemplare verkauft, wobei in den Niederlanden 630 Exemplare ausgeliefert worden waren, in Österreich 535, in der Tschechoslowakei 534, in der Schweiz 520, in Skandinavien 150, in Polen 105, in Frankreich 103, in den USA und in Palästina jeweils 100, in Rumänien 85, in Ungarn 57 und in England 40; in sonstigen Ländern zusammen 300. Daraus ergibt sich der bemerkenswerte Befund, dass in Polen, Rumänien und Ungarn wegen der dort lebenden deutschstämmigen Bevölkerungsteile zusammengenommen um einige Exemplare mehr verkauft worden sind als in den klassischen Asylländern Frankreich, USA und England. Die im ersten Jahr nach Erscheinen verkauften mehr als 3.000 Exemplare waren jedenfalls ein gutes Ergebnis. Denn im Allgemeinen waren die Auflagenhöhen wesentlich niedriger als in der Zeit vor 1933 und betrugen bei den Amsterdamer Verlagen Querido und Allert de Lange 3.000 bis 4.000,37 in anderen Exilverlagen durchschnittlich aber nur 2.000 (so z. B. im New Yorker Aurora Verlag), wobei man davon ausgehen muss, dass jeweils nur zwei Drittel der Auflage verkauft worden sind, das wären im Falle von Allert de Lange und Querido die von Herzfelde angenommenen 2.250 Exemplare. Eine Ausnahme bildet die in den nichtkommerziell geführten sowjetischen Staatsverlagen erschienene deutschsprachige Literatur, die vielfach in sehr viel höherer Auflage gedruckt wurde.38 Unter den Bedingungen des Exils war schon aufgrund politischer Unwägbarkeiten ein erhöhtes verlegerisches Risiko gegeben; im Grunde sind nur die Auflagenzahlen der Jahre 1933 bis 1938 wirklich aussagekräftig. Von Emil Oprechts Europa Verlag ist ein Prospekt Unsere Bücher 1937 erhalten mit handschriftlichen Annotationen zu den Auflagenhöhen einiger Bücher.39 Die Angaben stammen von unbekannter, aber sichtlich gut informierter Hand und können als glaubwürdig gelten. Es dürfte sich, wenn nicht anders angegeben, um Startauflagen handeln; somit spiegeln sich darin nicht nur das durchschnittliche Auflagenniveau, sondern auch die unterschiedlichen, an den jeweiligen Autoren und Themen orientierten Absatzerwartungen: Lothar Frey: Deutschland wohin? 3.000 Hellmut von Gerlach: Von Rechts nach Links 1.600 Helmuth Groth: Kamerad Peter (Vertriebenenroman) 1.600 Martin Haller: Ein Mann sucht seine Heimat 2.200
36 37
38 39
Siehe hierzu und zu den nachfolgend genannten Zahlen Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag, S. 92. Vgl. hierzu die Aufstellungen bei Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 124‒126 und 190‒194 zu den Verkaufszahlen der Exiltitel. Dort bestätigen sich auch die Schätzungen, denen zufolge bei Allert de Lange 1933/34 die durchschnittliche Erstauflage mit 3.000 bis 4.000 Exemplaren angesetzt wurde, während wenige Jahre später von 1.500 bis maximal 3.000 auszugehen war. Siehe dazu auch den Überblick bei Halfmann: Bibliographien und Verlage der deutschsprachigen Exil-Literatur 1933 bis 1945, der auch Angaben zu Auflagenhöhen enthält. Deutsches Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main, Sammlung Verlagsprospekte.
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Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Leben eines Diktators. Neubearb. Juni 1936; 10. Aufl., 26.‒27. Tsd. Konrad Heiden: Die Geburt des Dritten Reiches 3.000 Walter Hornung: Dachau. Eine Chronik 2.200 Hans Kilian: Der politische Mord. Zu seiner Soziologie 1.500 Heinz Liepmann: …wird mit dem Tode bestraft 2.200 Heinrich Mann: Es kommt der Tag. Ein deutsches Lesebuch 3.000 Bernhard Menne: Krupp. Deutschlands Kanonenkönige 3.300 Walther Rode: Deutschland ist Caliban. Streitschriften und Pamphlete 2.000 Cassie und Heinz Michaelis / W. O. Somin: Die Braune Kultur. Ein Dokumentenspiegel 2.200 Paul Schmid-Amann: Das Rätsel Deutschland – wie es ein Schweizer sieht 1.200 Ich kann nicht schweigen. Ein Nationalsozialist enthüllt! 5. Aufl., 16.‒18. Tsd. Gerhart Seger: Reisetagebuch eines deutschen Emigranten 2.200 Ignazio Silone: Der Fascismus. Seine Entstehung und Entwicklung 2.000 Kurt Singer, Felix Burger: Carl von Ossietzky – der Friedenskämpfer im Gefängnis 2.200 Hermann Wendel: Die Marseillaise. Biographie einer Hymne 1.600 Nach den ersten Fluchtwellen gab es einen Wettlauf um die prominentesten Exilautoren, besonders zwischen Querido bzw. Fritz Landshoff einerseits und Allert de Lange bzw. Walter Landauer und Hermann Kesten andererseits. Denn die Amsterdamer Exilverlage tendierten von Anfang an dazu, ausschließlich prominente und zugkräftige Autoren unter Vertrag zu nehmen – unter normalen Umständen ein probates Mittel der Risikominimierung. Besonders begehrt waren Autoren, von denen schon vor 1933 Übersetzungen im Ausland erschienen waren (Emil Ludwig, Erich Maria Remarque oder Vicki Baum), denn andere konnten auf den ausländischen Märkten kaum durchgesetzt werden. Werke von Stefan Zweig waren in dieser Hinsicht hochbegehrte Verlagsobjekte, und nach Zweigs Lösung vom Herbert Reichner Verlag entstand denn auch eine Situation, in der Allert de Lange und Bermann Fischer um die Rechte konkurrierten, allerdings auch zusammenarbeiteten. Ungeduld des Herzens erschien im November 1938 bei Allert de Lange und Bermann Fischer; bei Bermann Fischer landeten dann auch die Rechte am Gesamtwerk Zweigs.40 Doch gab der Bekanntheitsgrad, den manche Autoren in der Weimarer Republik erworben hatten, keine Garantie für Erfolg: Von Siegfried Kracauers Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit konnte Allert de Lange im ersten Halbjahr 1937 zwar noch 1.111 Exemplare absetzen, trotz eines ausgesprochen positiven Echos in der literarischen Öffentlichkeit sank der Absatz im folgenden Halbjahr auf 61 und im gesamten darauffolgenden Jahr 1938 auf 75 Exemplare ab.41 Wie es weniger prominenten Autoren erging, lässt sich aus diesen Zahlen ermessen.
40 41
Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 321. Vgl. die Abrechnungen des Verlags Allert de Lange im Deutschen Exilarchiv, NL Kracauer.
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Wenn die Exilverleger jede Gelegenheit nützten, um zugkräftige Namen anzuwerben, so unterschied sich diese Vorgangsweise kaum von jener aus der Zeit vor 1933. Da aber die Honoraransprüche der Autoren mit hohem Marktwert ähnlich hoch waren wie in der Weimarer Zeit, wurde auch mancher von ihnen zu einer finanziellen Last. Das bekannteste Beispiel dafür war, wie bereits erwähnt, Joseph Roth, dessen Geldbedarf, hauptsächlich durch das Leben im Hotel und seinen Alkoholismus, erstaunlich groß war und der sich seine Marktprominenz von den Verlagen mit hohen Vorschüssen abgelten ließ.42 Nicht wenige Autoren wechselten – teils auf Betreiben literarischer Agenten – öfter den Verlag, um sich möglichst günstige Konditionen zu sichern. Auch die Autoren aus dem kommunistischen Umkreis wollten nicht immer nur in parteinahen Verlagen publizieren; so etwa zog es Anna Seghers 1933 vor, ihren Roman Der Kopflohn bei Querido herauszubringen (von wo aus die Lizenz für die Universum-Bücherei vergeben wurde), ebenso 1937 Die Rettung, während etwa im Carrefour Verlag nur 1935 Der Weg durch den Februar publiziert wurde. Egon Erwin Kisch brachte seine Geschichten aus sieben Ghettos 1934 und die Landung in Australien sogar bei Allert de Lange heraus – keine Selbstverständlichkeit in Anbetracht der Kommunistenphobie des niederländischen Verlegers bzw. des ihm nachfolgenden Verlagsleiters. Auch hier dürfte der Bekanntheitsgrad des Autors den Ausschlag gegeben haben.
Bestseller des Exils Bei gestiegener Unsicherheit in den Absatzerwartungen kannte der Buchmarkt im Exil doch auch das sichere Geschäft, und letztlich auch den Bestsellererfolg: von Werken Lion Feuchtwangers, Thomas Manns oder Franz Werfels wurden mit einiger Regelmäßigkeit 10.000 bis 20.000 Exemplare abgesetzt; sie minderten damit das Gesamtrisiko ihrer Verleger und schufen so wenigstens für einzelne Unternehmen die Voraussetzungen für eine einigermaßen reguläre Verlagsarbeit. Noch höhere Auflagen waren mit deutschsprachigen Originalausgaben kaum erreichbar, wohl aber mit Übersetzungen, wie die spektakulären Markterfolge von Franz Werfels Lied von Bernadette und Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz belegen. Von Werfels Roman brachte der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm eine deutsche Erstauflage von 4.000 Stück heraus, musste aber im folgenden Jahr zwei weitere Auflagen herstellen, so daß Das Lied von Bernadette 1942 in der deutschen Ausgabe eine Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren erreichte. In Amerika wählte der Book-of-the Month-Club The Song of Bernadette [erschienen im Mai 1942 in der Viking Press] im Juni 1942 zur wichtigsten Neuerscheinung. Werfels amerikanischer Verleger Benjamin Huebsch druckte den Roman in einer Auflage von 300.000 Exemplaren. Innerhalb
42
Vgl. Joseph Roth: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit; sowie Rietra: »Muss man dann immer postwendend Geld senden, um überhaupt mit ihnen verkehren zu können?« Joseph Roth und Barthold Fles in Briefen, S. 199‒224. Siehe dazu auch im Kap. 3 Autoren den Abschnitt über Vorschuss- und Rentenzahlungen.
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weniger Wochen wurde der Roman zum »National Bestseller Number One« und zu einem der größten Bucherfolge in der amerikanischen Verlagsgeschichte.43 Nachfolgend konnten von dem Titel noch weitere rund 130.000 Exemplare verkauft werden. Der Book-of-the Month-Club bildete überhaupt den Schlüssel zu exorbitanten Verkaufserfolgen auf dem US-Markt; Werfel erzielte auch mit Der veruntreute Himmel und seinem Musa Dagh-Roman nach der Club-Nominierung jeweils eine Absatzmenge von mehr als 150.000 Exemplaren. Praktisch gleichzeitig kam in den USA auch Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz groß heraus. Der Roman war in deutscher Sprache 1942 bei El Libro Libre in Mexiko erschienen44 und im gleichen Jahr in der Übersetzung von James A. Galston in Boston bei Little, Brown & Comp. Nach Angaben von Publishersʼ Weekly sind in den USA von der englischsprachigen Erstausgabe des Romans innerhalb von zwölf Tagen 319.000 Exemplare abgesetzt worden, »[d]rei Wochen später stand The Seventh Cross hinter Franz Werfels Lourdes-Roman The Song of Bernadette (1942), der 432.000 mal gekauft worden war, mit 339.200 Exemplaren bereits an zweiter Stelle auf der Bestsellerliste«.45 Damit war aber die Erfolgsgeschichte keineswegs zu Ende: Ebenfalls noch 1942 wurde in den USA eine Comic-Fassung, eine »complete pictorial version« herausgebracht, die durch Abdruck in zahlreichen amerikanischen Zeitungen viele Millionen Leser erreichte. Und: »Neue und sicherlich noch weiterreichende Aufmerksamkeit zog die Geschichte von Georg Heisler auf sich, als Hollywood 1943/44 den Stoff von Pedro S. Berman und Fred Zinnemann mit Spencer Tracy in der Hauptrolle verfilmen ließ«46 – wobei im Februar 1943, als sich MGM für die Verfilmung entschied, bereits 421.000 Exemplare verkauft waren. Dazu kam 1944/1945 noch eine ebenfalls in hoher Auflage produzierte bearbeitete Ausgabe im Rahmen der »Editions for the Armed Services«, für die in Europa kämpfenden US-Truppen. Vor diesem Hintergrund kommt Alexander Stephan mit Recht zu dem Gesamturteil: »Die Zahl der Lizenzausgaben und Nachdrucke, die Auflagenhöhe und die Aufmerksamkeit, die Presse und Zeitschriften der US-Ausgabe des Romans schenkten, hatten The Seventh Cross zu einem der bedeutendsten Bucherfolge der Exilliteratur gemacht«.47 In jedem Fall gehörten die finanziellen Sorgen Anna Seghersʼ und ihrer Familie nun der Vergangenheit an; als Problem erwiesen sich allenfalls die amerikanischen Devisenausfuhrbeschränkungen, die nur die Überweisung relativ kleiner Summen erlaubten.48 Eine Reihe weiterer Autoren erzielte mit einzelnen Titeln überraschend gute Verkaufsergebnisse, so schon am Beginn der Exilepoche Heinz Liepman(n) mit Das Vaterland. Ein Tatsachenroman aus Deutschland (erschienen 1933 im Amsterdamer Verlag van Kampen & Zoon) mit 22.000 oder gegen Ende des Exilzeitraums Ernst Lothar mit
43 44 45 46 47 48
Nawrocka: Verlagssitz, S. 148. Pohle: Das mexikanische Exil 1986, S. 63. Stephan, A.: Ein Exilroman als Bestseller. Anna Seghersʼ The Seventh Cross in den USA, S. 244. Stephan: Ein Exilroman als Bestseller, S. 246. Stephan, S. 244. Vgl. Stephan, S. 244‒246.
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Heldenplatz (Cambridge, Mass.: Schoenhof’s 1945) 10.000. Generell gilt, dass in den Jahren bis 1936 die Chance, dass ein Titel eine zweite Auflage (oder noch mehr) erlebte, sehr viel höher war als danach.49 Bemerkenswert war auch der Markterfolg von Richard Krebs’/Jan Valtins Out of the Night, eine 1941 bei der Alliance Book Corporation in New York erschienene Abrechnung mit dem Stalinismus.50
Verkaufspreise der Bücher Das Absatzgebiet der Exilverlagsproduktion erstreckte sich grundsätzlich über eine Vielzahl von Ländern. Daraus ergaben sich nicht zu unterschätzende Probleme,51 zumal die deutschen und österreichischen Exilverleger gewohnt waren, ihre Verkaufspreise im Rahmen des Systems der festen Ladenpreise festzusetzen. In ähnlicher Weise gingen sie nun im Exil dazu über, für die Hauptabsatzländer die Verkaufspreise in unterschiedlichen Währungen anzugeben.52 Allerdings war dabei von recht unterschiedlichen Preisniveaus auszugehen, vor allem in Osteuropa; ein Buch, das für die Schweiz sehr günstig war, konnte für Rumänien nahezu unerschwinglich sein. Darauf musste bei der Festsetzung der Preise soweit Rücksicht genommen werden, wie dies unter Kostengesichtspunkten möglich war. Auch gab es in den einzelnen Ländern unterschiedliche Erwartungen an Ausstattung, Druck- und Papierqualität. Das konnte dazu führen, dass der Verkaufspreis in Relation zum Gebotenen in einem Land preiswert und in einem anderen Land als echtes Verkaufshindernis erschien. Die Probleme der Preisfestsetzung wurden dadurch noch verstärkt, dass die Bücher der Exilverlage in direkter Konkurrenz zum reichsdeutschen Buch standen und dieses durch das an anderer Stelle bereits vorgestellte »nationalsozialistische Bücherdumping« im Ausland um 25 % verbilligt verkauft werden konnte. Dabei waren die Verkaufspreise der Bücher der Exilverlage aufgrund vergleichsweise ungünstiger Kalkulationsbedingungen ohnehin schon bis zu 50 % höher als jene der reichsdeutschen Verlage, die im Normalfall auch von höheren Startauflagen ausgehen konnten; durch die NS-staatliche Buchexportförderung verschlechterte sich die preisliche Konkurrenzfähigkeit noch weiter. Neben diesen Problemen erwähnt Fritz H. Landshoff noch ein weiteres, das allerdings nicht unbedingt als exiltypisch gelten kann – dass
49
50
51
52
Vgl. die Angabe bei Cazden, wonach die Hälfte aller Exilpublikationen bis 1936 zwei oder mehr Auflagen erlebt und ein Viertel mehr als 3.000 Exemplare verkauft hätten. (Cazden: Free German Book Trade, S. 356). Vgl. hierzu Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 324, Anm. 3. Valtins Buch wurde in viele Sprachen übersetzt. Auf Deutsch als Tagebuch der Hölle. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Krauss. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1957, Nördlingen: Greno 1986. Tangiert wurde das Thema Bücherpreis auch von Schwierigkeiten bei der Währungsumrechnung, von Behinderungen des internationalen Waren- und Devisenverkehrs, von der komplizierten Handhabung der zwischenstaatlichen Clearing-Abkommen und allgemein von (buch-)handelsrechtlichen Sonderbestimmungen in den einzelnen Asylländern. Vgl. zu diesen Problembereichen das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. Ein Beispiel: Die Bände der bei Bermann-Fischer in Stockholm erscheinenden Reihe »Ausblicke« wurden mit 2,25 Schwedischen Kronen oder 2,50 Schweizer Franken oder 1,10 holländischen Gulden ausgepreist.
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nämlich die Autoren auf niedrige Verkaufspreise drängten: »Sie machten die ihrer Ansicht nach zu hohen Preise für den sie enttäuschenden Verkaufserfolg verantwortlich, andererseits zeigten sie keinerlei Neigung, die Höchsthonorare, die erfolgreiche Autoren in den Vorhitlerjahren in Deutschland erreicht hatten, zu unterschreiten«.53 Landshoff reagierte auf diese Situation mit dem Angebot monatlicher à conto-Zahlungen an die Autoren, um diesen ein Lebensminimum zu garantieren, nicht aber mit einer generellen Senkung der Verkaufspreise und Erhöhung der Auflage. Mit vergleichbaren Problemen hatten auch andere Exilverlage zu kämpfen. Bezeichnend eine vom März 1936 stammende Klage der Pariser Exilbuchhandlung Au pont de l’Europe, welche die Bücher des Allert de Lange-Verlags als total überteuert ansah: Leider wird es immer unmöglicher, Ihre Bücher hier zu verkaufen. Die für hiesige Begriffe geradezu horrenden Preise und die trotz allem vorhandene Konkurrenz der reichsdeutschen Bücher ist für Bücher von Frs. 40.− absolut prohibitiv. Es sind wohl die vergleichsweise teuersten Bücher der Welt, die Sie produzieren und das für ein Publikum, das Tag für Tag ärmer und infolgedessen kaufunfähiger wird. […] Wir können nicht oft genug darauf hinweisen, dass die Emigrantenliteratur mit ziemlicher Sicherheit eine sehr schwere Krise erleben wird, wenn die Bücher nicht durch grössere Auflagen im Einzelstück wesentlich billiger werden.54 In diesem Fall reagierte Walter Landauer im Verlag Allert de Lange tatsächlich mit der Herausgabe billiger Volksausgaben; noch 1936 erschien eine ganze Reihe von Titeln55 zum Preis von Hfl. 1,75 für die Leinenausgabe und Hfl. 1,25 für die broschierte Ausgabe. Der Erfolg blieb aber aus: »Die Bücher wurden nach Berichten der Verlagsmitarbeiter überall katastrophal schlecht verkauft«; das Preisexperiment scheiterte vor allem am Widerstand der Sortimentsbuchhändler, die teils noch die hochpreisigen Originalausgaben am Lager hatten, teils eine Verunsicherung des Publikums befürchteten.56 So blieb es dabei, dass die Bücher von Allert de Lange durchschnittlich doppelt so teuer waren wie die Ausgaben deutscher Verlage.57 Eine gewisse Preisdifferenzierung war ohnehin schon dadurch gegeben, dass die größeren Exilverlage ihre Titel, wie aus Deutschland gewohnt, in mehreren Ausstattungsvarianten anboten, als broschierte bzw. kartonierte oder als fest gebundene Ausgaben mit einer entsprechenden Staffelung der Verkaufspreise.58 Sie mussten aber zur 53 54 55
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Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 85. Au Pont de l’Europe an den Verlag Allert de Lange vom 23. März 1936 [IISG 21/280]; hier zit. nach Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 196. Schalom Aschs Kinder in der Fremde, Max Brods Frau, die nicht enttäuscht, Georg Hermanns Ruths schwere Stunde, Gina Kausʼ Schwestern Kleh, Egon Erwin Kischs Geschichten aus sieben Ghettos, Theodor Pliviers Großes Abenteuer, Joseph Roths Hiob, Adrienne Thomasʼ Dreiviertel Neugier und Christa Winsloes Mädchen Manuela sowie die von Hermann Kesten herausgegebenen Novellen deutscher Dichter der Gegenwart. Schoor, S. 196. Vor allem der Verlagsvertreter Joseph Lang bat Landauer dringend, von dieser Billigschiene Abstand zu nehmen. Schoor, S. 197. Siehe in diesem Band im Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung den Abschnitt über Buchausstattung.
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Kenntnis nehmen, dass in den Asylländern vielfach eine andersgeartete Buchkultur herrschte – eine Buchkultur, in der z. B. das in Deutschland bevorzugte gebundene Buch keine vergleichbare Bedeutung hatte. In Frankreich und Italien und noch anderen Ländern, wo das Publikum dem preisgünstigen broschierten Buch den Vorzug gab, stieß das drei- bis viermal so teure Hardcover nicht unbedingt auf Gegenliebe. Im Zuge einer Anpassung an die Marktgegebenheiten kam es in den Hauptabsatzgebieten wie Frankreich daher zu einer Spreizung der Bücherpreise, sodass etwa die Broschüren des Prométhée-Verlags für 0,50 FF und die billige Phénix-Reihe immerhin noch für 3 FF zu haben waren, während eine Prachtausgabe in Purpurleinen auch schon mal 80 FF kosten durfte.59 Bei Exilzeitschriften wurden 4 bis 6 FF für ein Einzelheft verlangt, ein Abonnement der Pariser Tageszeitung kostete 1939 18 FF im Monat, für drei Monate 50 FF.60
Verlagskooperationen, Gemeinschaftsausgaben Eine Möglichkeit, die Produktions- und Gemeinkosten zu senken und damit auch die Verkaufspreise günstiger zu gestalten, bestand in der Veranstaltung von Gemeinschaftsausgaben oder anderen Formen der Verlagskooperation. Solche Möglichkeiten ergaben sich zum einen unter den Exilverlagen selbst,61 zum anderen in der Kooperation von Exilverlagen mit Verlagen des jeweiligen Gastlandes oder mit ausländischen Verlagen. Alle diese Möglichkeiten wurden in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen genutzt, auf programmtechnischer (z. B. durch Gemeinschaftsausgaben), organisatorischer (z. B. durch gemeinsame Vertriebsstrukturen), finanzieller (z. B. über Beteiligungen) oder auch sonstiger wirtschaftlicher und juristischer Ebene. Im Folgenden werden einige Beispiele für diese unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit vorgestellt, soweit diese nicht in den Abschnitten zu den einzelnen Verlagen genauer erörtert oder unter anderen Stichworten behandelt werden, wie etwa die gemeinsame Vertriebsfirma »Zentralauslieferung« der Verlage Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer oder die Forum-Bücher ebendieser drei Verlage.62 Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer kooperierten noch in anderen Zusammenhängen: Seit 1938/1939 brachten Querido und Allert de Lange Gemeinschaftsproduktionen heraus, so Bernard von Brentanos Roman Die ewigen Gefühle, der auch für den Internationalen Romanwettbewerb63 nominiert gewesen war. Ebenfalls 1939 erschien als eine Gemeinschaftsausgabe von Querido und Bermann-Fischer Alfred Döblins Bürger und Soldaten 1918. So war es nur folgerichtig, dass nach der Besetzung der Niederlande und der Schließung der Amsterdamer Exilverlage Gottfried Bermann Fischer im April 1941 Landshoff vorschlug, Werke von Querido-Autoren im BermannFischer Verlag herauszubringen. Tatsächlich kamen bis 1945 acht solcher Bücher in
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Siehe u. a. Roussel / Kühn-Ludewig: Deutschsprachige Bücher, S. 268. Ebd. Eine Zusammenschau zum Thema bei Nawrocka: Kooperationen im deutschsprachigen Exilverlagswesen. Siehe das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen bzw. das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Siehe dazu den Abschnitt Literarische Preisausschreiben am Ende von Kap. 3 Autoren.
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Stockholm heraus, darunter Bruno Franks Die Tochter, Erich Maria Remarques Liebe deinen Nächsten, F. C. Weiskopfs Himmelfahrtskommando und mehrere Titel von Vicki Baum.64 Fritz Landshoff und Gottfried Bermann Fischer haben, einander auch verwandtschaftlich verbunden, im und auch nach dem Exil immer wieder eng zusammengearbeitet, am engsten in der L. B. Fischer Corporation. Bermann Fischer kooperierte aber auch mit ausländischen Verlagen wie Hamish Hamilton in London, mit dem zusammen er 1943 eine Ausgabe von Franz Werfels Lied von Bernadette herausgab (die Erstausgabe war bei Bermann-Fischer 1941 in Stockholm erschienen); 1945 kam im Rahmen dieser Kooperation mit Hamish Hamilton Stefan Zweigs Die Welt von Gestern heraus (Erstausgabe: Bermann-Fischer, Stockholm 1942). Kooperationen besonderer Art waren jene, mit denen Exilverlage die Einfuhrverbote nach Deutschland zu umgehen suchten, mit denen ihre Produktion pauschal belegt war, während einzelne, auch jüdische Autoren noch nicht mit ihrem Gesamtwerk verboten waren. Naheliegend war hier die Zusammenarbeit mit österreichischen Verlagen: Die Exilabteilung des Allert de Lange-Verlags arbeitete in dieser Absicht mit dem E. P. TalVerlag zusammen (siehe dazu in diesem Band im Kapitel Belletristische Verlage den Abschnitt zu Allert de Lange), und auch der andere große Amsterdamer Exilverlag, Querido, erprobte zwecks Vergrößerung des Absatzgebietes solche Camouflagen, indem er ein Arrangement mit dem Wiener Buchhändler und Verleger Josef Kende traf.65 Mit der Angabe »Verlag Josef Kende, Wien« auf Umschlag und Titelblatt erschienen so 1934 und 1935 Titelauflagen mit identischem Satzspiegel und gleicher Seitenzahl von Werken Jakob Wassermanns, Bruno Franks und Vicki Baums.66 »Es sollte getestet werden, ob politisch unverfängliche oder wenigstens auf den ersten Blick so wirkende Querido-Bücher (denn Franks ›Cervantes‹ war ein eminent politischer Roman) unter einem unverdächtigen Signet quasi legal nach Deutschland eingeschmuggelt werden konnten.«67 Der aufgrund seiner gegen das »Reich« gerichteten Tätigkeit den Nationalsozialisten verhasste Josef Kende (geb. 1868) wurde 1938 mit dem ersten sogen. »Prominenten-Transport« aus Österreich in das KZ Dachau gebracht und hat am 24. Oktober 1938 im KZ Buchenwald, vermutlich als erster österreichischer Häftling, den Tod gefunden; sein jüngerer Bruder Albert, dessen Wiener Kunstauktionshaus »arisiert« wurde, starb im Dezember 1942, ebenfalls 70jährig, im KZ Theresienstadt.68 Innerhalb des kommunistischen Verlagswesens kam es auf vielfältige Weise zu Kooperationen; dabei ging es hauptsächlich um die Veranstaltung von Gemeinschaftsausgaben, die den beteiligten Verlagen eine Senkung und Verteilung des verlegerischen
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Vgl. Nawrocka: Kooperationen, S. 74. Die Buchhandlung Josef Kende fungierte auch als Auslieferung des Querido Verlags (und noch anderer Exilverlage); Genaueres dazu im Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. Jakob Wassermann: Joseph Kerkhovens dritte Existenz. Amsterdam: Querido 1934/Wien: Kende 1934 (auch: Berlin: Jüdische Buchvereinigung 1934, in zwei Bänden, aber ebenfalls seitengleichem Druck in etwas kleinerem Format); Bruno Frank: Cervantes. Ein Roman. Amsterdam: Querido 1934/Wien: Kende 1934; sowie Vicki Baum: Das große Einmaleins. Amsterdam: Querido 1935/Wien: Kende 1935. Walter [Bearb]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933–1950, S. 93 f. Vgl. Anderl: »Euer armer, unglücklicher, vollständig gebrochener alter Albert Kende«. Dort auch Angaben zu Josef Kende.
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Risikos durch höhere Auflagen und günstigere Stückkosten sichern sollten, verbunden mit der Möglichkeit, den Verkaufspreis günstiger zu gestalten. Soweit in der Sowjetunion gedruckt wurde, waren die Produktionskosten ungleich günstiger als in Westeuropa. So haben die Éditions du Carrefour mit mehreren Verlagen kooperiert, etwa mit dem MalikVerlag, allen voran aber mit der (von 1931 bis 1938 bestehenden) Moskauer Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR): »Zwischen der Moskauer Verlagsgenossenschaft VEGAAR und Editions du Carrefour entwickelte sich ein regelrechtes Zusammenspiel, indem dieselben Titel für den Vertrieb in den westlichen Ländern unter dem Firmennamen Editions du Carrefour und für den Vertrieb innerhalb der UdSSR unter dem Firmennamen VEGAAR herausgebracht wurden«.69 Für diese Art des Zusammenspiels genügte meist der Austausch des Titelblatts; beispielsweise kam die 1934 offiziell von Dorothy Woodman, tatsächlich aber von Albert Schreiner herausgegebene Dokumentation Hitler treibt zum Krieg ein Jahr später unter dem Titel Der Faschismus treibt zum Krieg bei der VEGAAR heraus, Gustav Reglers Im Kreuzfeuer erschien 1934 ebenso in beiden Verlagen wie 1935 Johannes R. Bechers Der Mann, der alles glaubte und Bodo Uhses Söldner und Soldat, 1936 Louis Aragons Die Glocken von Basel (übersetzt von Alfred Kurella) oder Egon Erwin Kischs Abenteuer in fünf Kontinenten, schließlich auch das aus dem Russischen übersetzte Buch von O. Tanin und E. Yohann Japan rüstet zum großen Krieg.70 Carrefour kooperierte auch mit der Universum-Bücherei in Basel, der man nicht nur die deutschsprachige Erstausgabe des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror überließ, sondern noch andere Titel, bis hin zu Willi Münzenbergs 1937 erschienenem Werk Propaganda als Waffe. Solche Lizenzausgaben waren aber nun im Falle der Universum-Bücherei für Alle nur selbstverständlich; eine Buchgemeinschaft bezieht ja ihre Titel in der Regel von anderen Verlagen. Die Bücher der Universum-Bücherei stammten in der Tat nicht nur von Carrefour, sondern auch von den Verlagen Querido, Malik, Oprecht & Helbling und der VEGAAR.71 Meist wurden nicht aufgebundene Teilauflagen übernommen und mit neuen, manchmal auch nur eingeklebten Titelblättern versehen. Im Falle des in Zürich angesiedelten Ring-Verlags von »Kooperation« zu sprechen, wäre eine Untertreibung: Bei sämtlichen 1933 bis 1939 mit diesem Impressum erschienenen Büchern handelt es sich um Übernahmen aus der Produktion der Moskauer VEGAAR, bei denen nur ein anderes Titelblatt vorgesetzt wurde.72 Auch der MalikVerlag unterhielt eine Kooperation mit der VEGAAR, die allerdings nicht spannungsfrei verlief, zumal der Plan, Kosteneinsparungen durch Druck in der Sowjetunion zu erzielen, offensichtlich mit ärgerlichen zeitlichen Verzögerungen verbunden war. So schrieb Wieland Herzfelde am 1. Juli 1936 an Willi Bredel nach Prag:
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Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 174. Roussel, S. 174 und 194. Vgl. hierzu das Kap. 6.4 Buchgemeinschaften. Zum Ring-Verlag siehe die Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage, sowie 5.2.2 Politische Verlage.
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[Es] kommt mir wirklich Galle ins Blut, ähnlich wie bei Dir bei dem Gedanken, daß Dein neues Buch [Bredels Roman Dein unbekannter Bruder] wieder von der VEGAAR gedruckt werden könnte. Natürlich denke ich gar nicht daran, Dein oder irgend ein anderes Manuskript, das ich erwerbe und das nicht jahrelang Zeit hat, wieder dort drucken zu lassen. […] Wenn Du politische Kontrolle für notwendig hältst, versuche sie dort während der Abfassung, unabhängig von der VEGAAR, herbeizuführen; hier würde es mir nämlich sehr schwer fallen, sie ohne erheblichen Zeitverlust zu bewirken. Und weiter: »Die Freunde drüben in der VEGAAR haben mir durchweg den Eindruck gemacht, als ob sie die Karre eben laufen ließen, überzeugt, es doch nicht ändern zu können. Hoffentlich irre ich mich, denn irgendwelche Quertreibereien sind lang nicht so schlimm und so schwer abstellbar wie ein solcher Zustand«.73 Zehn Tage später wurde Herzfelde noch deutlicher: Die ganze Idee, dort fürs Ausland zu drucken, ist eben problematisch. Inzwischen habe ich hier einen Drucker gefunden, der fast billiger arbeitet als die VEGAAR, und er wird jetzt meine Aufträge erhalten, obwohl ich fast alles bar bezahlen muß. Das ist immerhin noch erträglicher als über ein Jahr ohne irgendein Buch zu sitzen und den Buchhändlern, wie im Fall Graf, keine Antwort geben zu können.74 Im Oktober des Jahres schlug dann Herzfelde sogar vor, den Modus umzudrehen; nicht die VEGAAR sollte die Gesamtauflage drucken, sondern er wollte dies in der Tschechoslowakei in Auftrag geben: Ich will, daß die VEGAAR ihre Auflage von mir mitdrucken lässt und Dir einen Teil des Honorars in Valuta bezahlt. Das ist derselbe Vorschlag, wie ich ihn für Uhse und Klaus gemacht habe. Daß sie es kann, wenn sie will, steht außerhalb jeder Diskussion. Bitte versuche, diesen Willen zu aktivieren. Du hättest davon u. a. auch den Vorteil, daß in der SU Dein Buch schnell und in schöner Ausstattung herauskommt. Ich muß den Druck hier in bar bezahlen und das ist schon schwer genug. Anders aber würde ich aber zu hohe Preise bezahlen müssen, und das bedeutet bei kleinen Auflagen einen unerschwinglichen Ladenpreis.75 Und im Mai 1937 fand Herzfelde noch ein Argument mehr gegen den Druck seiner Bücher in der Sowjetunion: »Ein Druck dort für mich wäre ein Attentat auf das Buch
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Brief Herzfeldes an Bredel, Prag, 1. Juli 1936, in: Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde, S. 62 f. Kurz darauf heißt es: »Du darfst nicht vergessen, dass auch das Arbeiten mit tschechischen Firmen keineswegs ganz einfach ist«. Herzfelde an Bredel, Prag, 11. Juli 1936. In: Prag – Moskau. Briefe, S. 67‒74; hier S. 70. Brief Herzfeldes an Bredel, Prag, 19. Oktober 1936, in: Prag – Moskau. Briefe, S. 103‒105; hier S. 104 f. – Vgl. auch den Brief Herzfeldes an Bredel vom 13. Januar 1937: »Der VEGAAR schrieb ich bereits, daß ich Deinen Roman [Dein unbekannter Bruder] voraussichtlich hier drucken will, ich möchte nur für sie mittdrucken[!], weil bei den kläglichen Absatzverhältnissen anders ja kein Auskommen ist«. (Prag – Moskau. Briefe, S. 128).
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[Bredels Roman Dein unbekannter Bruder]. Ganz zu schweigen von dem langsameren Tempo und der schlechteren Qualität ist der Druckvermerk Moskau ein Plakat für die Zensurbeamten«.76 In einigen der Länder, in denen die Bücher des Malik-Verlags Verbreitung fanden, musste die Angabe eines sowjetrussischen Druckortes offensichtlich inopportun erscheinen. Bemerkenswert, dass auch Oprecht in Zürich mit der VEGAAR kooperierte und ihr Teilauflagen, die auf besseres Papier gedruckt waren, zur Verbreitung unter seinem eigenen Impressum abnahm, so etwa Friedrich Wolfs Die Matrosen von Cattaro in einer Ausgabe von 1935. Oprecht arbeitete in den Kriegsjahren auch eng mit schwedischen Verlagen zusammen, hauptsächlich mit Bonnier und mit Natur och Kultur, von denen er die Übersetzungsrechte für einige Titel erwarb, in der (nur teilweise richtigen) Annahme, dass Bücher, die im neutralen Schweden erschienen waren, in der neutralen Schweiz nicht verboten werden könnten.77 Die vielfältigen »joint ventures« von Exilverlegern mit ausländischen Verlagshäusern können allerdings hier nicht in vollem Umfang dargelegt werden; als weitere Beispiele unter vielen seien noch zwei aus Großbritannien erwähnt, jenes zwischen Bruno Cassirer in Oxford und dem Londoner Verlagshaus Faber and Faber sowie die Safari-Kunstbuchreihe, die der überaus kooperationsfreudige Kurt L. Maschler (Lincolns-Prager / Atrium / Williams-Verlag) unter dem Signet »Fama« gemeinsam mit Geoffrey Faber ins Leben rief und die es, in zehn Ländern verbreitet, auf rund 100 Bände brachte.78 Das umfassendste Kooperationsprojekt wurde indessen nicht in die Tat umgesetzt. Es stammte nicht von einem Verleger, sondern einem Autor, von Stefan Zweig, der bereits 1933 zielstrebig den Plan verfolgte, einen internationalen Verlag mit Sitz in Großbritannien zu gründen, der gleichsam der zentrale Emigrationsverlag werden und allen exilierten Schriftstellern offenstehen sollte. Zu diesem Zweck führte er Gespräche mit dem Verlagsleiter von Albatross John Holroyd-Reece und Viktor Gollancz in London sowie mit den Pariser Verlagen Gallimard und Albatross, mit Viking Press in New York und auch mit dem Insel Verlag und dem Verlag S. Fischer in Deutschland: Da sich die deutschen Verlage und ihre Autoren der Idee eines reinen Exilverlags gegenüber aber zunächst reserviert verhielten, kam es nicht zum Abschluss: Nicht nur der Insel-Verlag und der Verlag S. Fischer hatten gegen die Abtretung ihrer Autorenrechte an den neuen Verlag Bedenken, auch viele prominente Autoren waren wegen der bestehenden Verträge mit deutschen Verlagen und aus Furcht vor finanziellen Verlusten und verminderter Öffentlichkeitswirkung skeptisch […].79
5.2
Verlagssparten und Programme
Eine Gliederung nach Verlagssparten steht im Falle des Exilverlagswesens vor besonderen Schwierigkeiten, da die Ausdifferenzierung der Programmbereiche in dieser Epoche 76 77 78 79
Brief Herzfeldes an Bredel, Prag, 5. Mai 1937, in: Prag – Moskau. Briefe, S. 163. Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 281. Siehe Joos: Trustees for the Public?, S. 181 f. Joos, S. 181 f. – Näheres dazu bei Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 207‒212.
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nicht so ausgeprägt war wie in Deutschland vor 1933; viele Verlage traten mit einem gemischten Programm hervor. Aufgrund dieses geringeren Spezialisierungsgrades kann die Einteilung nach Programmbereichen, wie sie in den bisher erschienenen Bänden dieser Buchhandelsgeschichte praktiziert wurde, nur in modifizierter Form fortgeschrieben werden. Insbesondere Belletristik und Sachbuch lassen sich nicht trennen, will man Verdoppelungen vermeiden und eine in sich geschlossene Darstellung der einzelnen Verlage, ihrer Tätigkeit und ihrer Besonderheiten geben. Nicht unproblematisch erscheint ja schon die Verwendung des Belletristik-Begriffs, weil er einer Zeit nur bedingt gerecht wird, in der situationsbedingt der »Primat der Politik« weite Teile des Publikationsgeschehens beherrschte.80 Dieser Primat brachte es mit sich, dass nicht nur das Sachbuch großenteils im Dienste politischer Aufklärung und Zeitanalyse stand, sondern dass meist auch der fiktionalen Literatur eine politische Dimension zu eigen war, entweder schon im Stofflichen oder in der Botschaft der Texte. Als Beispiele für diese politische Überwölbung der Exilliteratur können die zahlreichen historischen Romane dienen, oder auch fast alle Theaterstücke, sogar Komödien, und erst recht die Lyrik dieser Zeit. Hier entstehen daher auch fließende Übergänge zum Kapitel Politische Verlage. Für eine Gliederung innerhalb der einzelnen Programmbereichskapitel bietet sich ein chronologisch-topographischer Blickpunkt an, unter Berücksichtigung der beiden Phasen des Exils, des europäischen und des überseeischen Exils, in denen sich die Zentren des Verlagsgeschehens von Paris, Amsterdam, Zürich, Prag, Moskau und Stockholm hauptsächlich in die USA und nach Lateinamerika verlagert haben. Überblickt man die Verlagsszene unter einem geographischen Aspekt, so lässt sich zusammenfassend feststellen: In der ersten, kontinentalen Phase sind in fast allen Ländern, in denen größere Gruppen der deutschsprachigen Emigration Zuflucht gefunden haben, Exilverlage entstanden. Die Voraussetzungen dafür waren jedoch recht unterschiedlich; als am meisten förderlich erwiesen sich – neben der leichten Erreichbarkeit aufgrund geographischer Nähe zu Deutschland – eine entwickelte Buchkultur im Lande selbst und die daraus folgenden Anbindungsmöglichkeiten an bestehende Unternehmen. Negativ wirkten sich geographische Randlagen und eine ungünstige politische oder geopolitische Situation des Landes aus. Entscheidend wichtig waren auch die konkreten asyl- und gewerberechtlichen sowie die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Die Verlagerung eines Geschäftsbetriebs ins Ausland stieß ja auf mancherlei Hindernisse, nicht nur von den Ausreise-, Devisen- und Warenausfuhrbestimmungen des Dritten Reiches her,81 sondern auch aufgrund restriktiver Asylgewährung und Niederlassungsverboten bzw. -einschränkungen seitens der Einreiseländer.82 Jedenfalls aber korrelieren Zahl und Größe der Exilverlage nicht zwingend mit Stärke und Bedeutung der jeweiligen Exilantengruppe im Land; der Aktionsradius von Ver-
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Dies unabhängig von der Tatsache, dass im Exil durchaus auch Unterhaltungsliteratur produziert worden ist. Der legale Transfer von Vermögen oder Warenlagern ins Ausland unterlag im Dritten Reich großen Einschränkungen, so dass es nur im Ausnahmefall gelingen konnte, wenigstens Teile eines Unternehmens in ein Asylland zu transferieren. Am wenigsten traf dies auf politisch verfolgte Verleger zu, die sich durch rasche Flucht der Verhaftung entziehen mussten. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (1972).
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lagen musste in der Diaspora des Exils grundsätzlich länderüberschreitend angelegt sein. So konnte sich in den Niederlanden ein erstrangiger Verlagsplatz des Exils herausbilden, obwohl sie als Zufluchtsort für Schriftsteller keine herausragende Rolle spielten, während umgekehrt in einem wichtigen Asylland wie England kein Exilverlag von Bedeutung entstanden ist. Frankreich bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme, insofern der zahlenmäßig starken Emigrationsgruppe eine umfangreiche Publikationstätigkeit entsprach – dies gilt aber in erster Linie für politische Literatur, weniger im Bereich des Literaturverlags. Ob und unter welchen Umständen die Werke deutscher exilierter Schriftsteller in das Programm von im Ausland bestehenden Verlagen aufgenommen wurden, beruhte – wie vor allem das Beispiel Oprechts in Zürich zeigt – in letzter Instanz auf der Einstellung und dem Engagement der betreffenden Verlegerpersönlichkeit. Ausnahmetatbestände lagen bei den Verlagen im kommunistischen Einflussbereich vor, im Besonderen in der Sowjetunion; die Verlagsproduktion unterlag dort weniger wirtschaftlichen Zwängen als (literatur)politischem Dirigismus.
5.2.1
Belletristische Verlage
Über die Voraussetzungen für die Errichtung von Literaturverlagen im Exil ist schon an anderer Stelle das Notwendigste gesagt worden, auch darüber, dass neben der in Umfang und Qualität einzigartigen Schriftstelleremigration und der Vertreibung bedeutender Verlegerpersönlichkeiten aus Deutschland eine wichtige Rolle nicht zuletzt auch die Bereitschaft ausländischer Verlage gespielt hat, beim Aufbau von Exilverlagen oder -abteilungen tatkräftigst Hilfestellung zu geben. Naheliegenderweise war dies vorzugsweise im Bereich der belletristischen Literatur der Fall, als dem absatzträchtigsten Marktsegment; die Belletristik im engeren Sinn erreichte im Exil immerhin einen Anteil von 35 % der gesamten Titelproduktion.83
Niederlande: Verlagszentrum Amsterdam Ein Exilverlagszentrum erster Ordnung formierte sich in Amsterdam mit den Verlagen Querido und Allert de Lange. In beiden Fällen haben bestehende Verlage die unternehmerische Basis bereitgestellt: Emanuel Querido nahm gemeinsam mit Fritz H. Landshoff unter dem Dach seines Verlages eine Neugründung vor, bei Allert de Lange kam es zur Angliederung einer Abteilung für deutschsprachige Literatur, die von Walter Landauer geleitet wurde, mit Hermann Kesten in einer überwiegend von Paris aus wahrgenommenen Lektorenfunktion. Da alle drei Exilanten zuvor im Gustav Kiepenheuer Verlag in Berlin zusammengearbeitet hatten, ergab sich auf diese Weise eine singuläre Konstellation: die Freunde fanden einander in Amsterdam als Kontrahenten wieder – eine Aufgabe, die sie als Freunde lösten.84 Im Übrigen hatten die beiden Stammverleger unter-
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Siehe dazu die Berechnungen im Kap. 5.1 Verlage: Typologie, Produktion, Kalkulation. Klaus Mann beschrieb die Zusammenarbeit der beiden Verlage als »eine Art von freundschaftlicher Rivalität, wobei das Beiwort stärker zu akzentuieren ist als das Substantiv«. (Klaus Mann: Der Wendepunkt (1963), S. 310).
5 .2 . 1 Be l le t ri s t is c he Ver l a ge
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schiedliche Grundeinstellungen und unterschiedliche Motive für ihr Engagement: Während Emanuel Querido aus sozialistischer Orientierung heraus in der Unterstützung des antifaschistischen Exils eine klare Aufgabe sah, handelte es sich beim konservativ eingestellten Gerard de Lange um eine Mischung von Solidarität mit den vertriebenen Schriftstellern und geschäftlicher Spekulation. In den Verlagsprogrammen findet dies seinen Niederschlag: bei Allert de Lange in der entschiedenen Ablehnung aller zu weit links stehenden Autoren und in der Forcierung von Autoren wie Joseph Roth; de Lange wollte auch jedem Zusammenstoß mit Hitlerdeutschland aus dem Wege gehen. Bei Querido konnten dagegen auch zeitanalytische Bücher politisch offensiveren Charakters erscheinen, Essays mit kompromisslosen Stellungnahmen zu Hitler-Deutschland, etwa von Heinrich Mann. Die Tendenz zu einer unterschiedlichen Profilierung ließ es Landshoff und Landauer gelegentlich sinnvoll erschienen, einander Autoren zu überlassen, die in das weltanschauliche Spektrum des jeweils anderen Verlages besser hineinpassten.
Der Querido Verlag Als der für die deutsche Exilliteratur insgesamt bedeutendste Verlag kann der Querido Verlag gelten, und Fritz H. Landshoff* (1901 Berlin – 1988 Haarlem / NL) als die eindrucksvollste Verlegerfigur des Exils.85 Landshoff hatte Lehrzeiten bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main und als Hersteller bei Gustav Kirstein im Leipziger E. A. Seemann Verlag absolviert. Am 1. Januar 1926 war er mit einer namhaften Geldeinlage als Partner und Mitdirektor in den Gustav Kiepenheuer Verlag (damals Potsdam, seit Januar 1929 Berlin) eingetreten; im September 1928 hatte er Hermann Kesten als Lektor und ab 1. Januar 1929 seinen Studienfreund Walter Landauer vom Verlag Die Schmiede als Kaufmännischen Geschäftsführer in das Unternehmen geholt. Als literarischer Leiter förderte Landshoff in dieser Zeit mit Autoren wie Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Ernst Glaeser, Ernst Toller und Anna Seghers die junge linksorientierte Literatur der Weimarer Republik. Als 1933 die Bücher des Kiepenheuer Verlags zum größeren Teil verboten wurden, flüchteten Landshoff, Kesten und Landauer ins Ausland, während Gustav Kiepenheuer selbst in Deutschland blieb und sich mit einem kleinen Verlag nach Weimar zurückzog. Schon im April 1933 hatte Landshoff, damals noch in Berlin, Besuch von Nico Rost erhalten, einem niederländischen Schriftsteller und Übersetzer, der ihm im Auftrag des Verlegers Emanuel Querido (1871 Amsterdam – 1943 Vernichtungslager Sobibor)86 das Angebot unterbreitete, eine deutschsprachige Abteilung im Amsterdamer E. Querido Verlag als Forum für die in Deutschland verbotenen Autoren aufzubauen und zu leiten. Noch am selben Abend reiste Landshoff mit dem Nachtzug nach Amsterdam und wurde mit Emanuel Querido, einem leidenschaftlichen Antifaschis-
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Zu Landshoff und seiner verlegerischen Arbeit bei Kiepenheuer und Querido liegt umfangreiche Literatur vor; diese ist in breiter Auswahl verzeichnet im Art. Landshoff in Fischer: Handbuch. Emanuel Querido hatte nach einer Tätigkeit als Buchhändler 1915 den Verlag Em. Querido’s Uitgeversmaatschappij N.V. in der Keizersgracht 333 in Amsterdam gegründet und war damit nachhaltig erfolgreich. Zu E. Querido siehe: van Toorn: Emanuel Querido 1871–1943; Sötemann: Querido van 1915 tot 1990; Fortuin / van Doornum / van Toorn: Verborgen boeken.
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ten, handelseinig: Die Anteile des neu gegründeten Verlagszweigs gehörten zur Hälfte Querido, zur Hälfte Landshoff, der das einzubringende Kapital teilweise von Freunden lieh, teilweise sich als Vorschuss auf sein Gehalt auszahlen ließ und in das Verlagsprojekt ja auch seine Autorenbeziehungen einbrachte. Der niederländische Verlag – Verlagsdirektorin des niederländischen Stammhauses war Alice van Nahuys, die auch Co-Directrice des Exil-Querido-Zweigs wurde – war zuständig für alle Ausgaben, die Herstellung, die Buchhaltung und den Verkauf, d. h. der deutschsprachige Verlag konnte sofort auf die Logistik eines bestehenden Unternehmens zurückgreifen, während Landshoff die Autoren anwerben und an das Amsterdamer Unternehmen binden sollte. Auch inhaltlich herrschte ein Konsens: Kein Buch sollte produziert werden, das im nationalsozialistischen Deutschland eine Chance hätte, Literatur war gleichzeitig politisches Statement. Seit diesem Zeitpunkt betrieb Landshoff zunächst durch Anfragen, seit Mai auf Reisen gezielt Autorenakquisition. Von einer einwöchigen Rundreise durch Frankreich und die Schweiz kehrte Landshoff mit zahlreichen Verträgen in der Tasche in die niederländische Hauptstadt zurück; mit Heinrich Mann, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und Ernst Toller hatte er auch einstige Kiepenheuer-Autoren gewonnen, Joseph Roth, Bruno Frank, Klaus Mann, Alfred Döblin und Emil Ludwig sollten folgen. Den ersten Vertrag hatte Landshoff im Juli 193387 mit Heinrich Mann zu bemerkenswerten Bedingungen abgeschlossen: Während Mann den Essayband Der Hass bis zum 1. September des Jahres abliefern sollte, verpflichtete sich der Verlag, das Buch innerhalb von fünfzehn bis achtzehn Tagen fertig auf den Markt zu bringen! Auf der Grundlage dieser raschen Erfolge bei der Gewinnung von prominenten Verlagsautoren entwickelte Landshoff nachfolgend den Verlag neben Allert de Lange zum aktivsten und produktivsten Verlag der deutschsprachigen Exilliteratur.88 Unterstützt von Werner Cahn89 und seiner Sekretärin Jetty Weintraub (Jetty Cahn-Wein-
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Ebenfalls im Juli 1933 erfolgte die Eintragung des deutschen Querido Verlags in das Amsterdamer Handelsregister. In seinem Erinnerungswerk Amsterdam, Keizersgracht 333 hat Landshoff aus Zeitzeugenperspektive Einblick in die Arbeit des Verlags und damit exemplarisch in die Situation des Exilverlagswesens gegeben; seine Darstellung wird im Anhang durch 143 aus unterschiedlichen Archivbeständen zusammengestellte kommentierte Briefe vertieft. Da das Verlagsarchiv von Querido am Tag des Einmarsches der deutschen Truppen in den Niederlanden vernichtet worden ist, stellt dieses Werk die authentischeste Quelle zur Geschichte des Verlags dar. Als bestrecherchierte wissenschaftliche Darstellung ist zu verweisen auf: Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950. H.-A. Walter hat sich bereits früh um dieses Thema verdient gemacht, vgl. Walter: Helfer im Hintergrund. Ergänzend sei genannt: Landshoff: Querido-Verlag 1933‒1940; Trapp: Die Bedeutung der Verlage Allert de Lange und Querido für die Entwicklung der deutschen Exilliteratur. Werner Cahn(-Biecker) (1903 Ohligs b. Solingen – 1983), zuvor Sekretär von Lion Feuchtwanger, war auf dessen Empfehlung im Mai 1934 von Fritz H. Landshoff als Mitarbeiter engagiert worden. Ursprünglich nur als Korrektor vorgesehen, übernahm er bald wichtige Aufgaben und vertrat Landshoff in der Leitung des Verlags, als dieser ein halbes Jahr durch Krankheit daran verhindert war. Vgl. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, bes. S. 52, 339‒341; Schroeder: »Dienstreise nach Holland 1940«.
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traub*)90 und zeitweilig (1936/1937) auch von Rudolf Hirsch* als freiem Lektor91 verlegte Landshoff im Querido-Exilverlag zwischen November 1933 und der deutschen Invasion im Mai 1940 von seinem kleinen Geschäftszimmer in der Keizersgracht 333 aus92 rund 130 Titel von etwa fünfzig Autoren, darunter viele hochbedeutende Werke wie Heinrich Manns Henri Quatre, Lion Feuchtwangers Erfolg und Klaus Manns Mephisto, aber auch zahlreiche Werke weniger bekannter Autoren, die durch die erfolgreicheren Titel querfinanziert werden konnten. Eine von Friedrich Pfäfflin präzise erarbeitete Verlagsbibliographie weist für den deutschsprachigen Querido Verlag bis 1940 insgesamt 137 Titel, davon 20 Titel in verschiedenen Gemeinschaftsproduktionen aus.93 Die Titel verteilten sich auf die Erscheinungsjahre wie folgt: 1933: 10; 1934: 13; 1935: 26; 1936: 26; 1937: 18; 1938: 14; 1939: 5 (+ 2 Koproduktionen mit Allert de Lange bzw. Bermann-Fischer + 18 Forum-Bücher); 1940: 5. Im weiteren sind 1941 bis 1945 acht Bücher von Querido-Autoren, die Landshoff unter Vertrag hatte, durch ein entsprechendes Arrangement im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm erschienen, und 1946 bis 1950 sind 25 Titel im wiederbelebten Querido-Verlag Amsterdam herausgekommen, wobei 1948 bis 1950 eine Reihe von Veröffentlichungen unter dem Titelimprint »Bermann-Fischer« ohne Ortsangabe und mit dem Impressum »Bermann-Fischer / Querido Verlag N. V., Amsterdam« erschienen ist.94 Alles in allem sind daher zwischen 1933 und 1950 170 Bücher erschienen, die den Exil-Querido-Verlag im Impressum tragen. Da auf diese umfassende Bibliographie verwiesen werden kann, soll hier auf eine vollständige Auflistung der Verlagsproduktion verzichtet werden. Das Verlagsprofil entspricht dem eines klassischen Literaturverlags, weist aber durchaus einige Besonderheiten auf.95 Auffällig zunächst schon das enge Gattungsspektrum: 90
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Jetty Weintraub (geb. 1909) wurde nach ihrer Flucht aus Deutschland auf Empfehlung des Buchimporteurs Hermann Igersheimer* 1933 von Fritz Landshoff als Sekretärin angestellt und lernte dort Werner Cahn(-Biecker) kennen, den sie Ende der 1930er Jahre heiratete. Die beiden überlebten die Besatzungszeit als »Untertaucher« und nahmen nach Kriegsende ihre Tätigkeit im Querido-Verlag wieder auf. Rudolf Hirsch (1905 Berlin – 1996 Frankfurt a. M.), vor 1933 Kunsthistoriker, war nach Amsterdam ins Exil gegangen, wo er 1936/1937 als Lektor sowohl für Querido wie auch für Allert de Lange tätig wurde. Seine verwitwete Mutter führte dort in der Jan Willem Brouwer Straat 21 die Pension Hirsch, in der u. a. Klaus Mann, Fritz H. Landshoff, Hermann Kesten und Walter Landauer wohnten. Vgl. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. bes. 75 f., 460. Bruno Frank hat in seinem Roman Die Tochter (1943) eine »authentische Beschreibung der beiden Zimmerchen des deutschen Querido-Verlags in der Amsterdamer Keizersgracht 333 und seines Chefs« gegeben (nach Hermsdorf u. a.: Exil in den Niederlanden und in Spanien, S. 129). Der Roman stellt eine Buchhändlerin vor, die in der Verbreitung von Exilliteratur eine wichtige (antifaschistische) Aufgabe sieht. Vgl. »Bibliographie Querido Verlag Amsterdam 1933‒1950«. Bearbeitet von Friedrich Pfäfflin unter Mitarbeit von Franziska Sörgel. In: Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 237‒275. Ebd., S. 271. Dazu der erläuternde Hinweis: »Der Querido Verlag N. V., Amsterdam, verwaltet nach der Auflösung des Stockholmer Verlags dessen Rechte im Sinne einer Agentur, ohne selbst verlegerisch tätig zu sein«. Vgl. hierzu auch Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 194‒204.
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Abb. 2: Schon sehr früh kam das erste Verlagsverzeichnis des von Fritz H. Landshoff gelenkten Exil-Querido-Verlags heraus.
Bei Querido erschienen hauptsächlich Romane, daneben auch einige Essaybände. Schon kürzere Formen der Erzählprosa waren relativ schwach vertreten, Lyrik nur mit einem einzigen Band (der von Alfred Wolfenstein hrsg. Sammlung Stimmen der Völker. Die schönsten Gedichte aller Zeiten und Länder, 1938), auch Dramenliteratur findet sich nur ganz vereinzelt, mit Georg Kaisers Der Gärtner von Toulouse (1938) und, mehr aus Vollständigkeitszwang, im Rahmen der Gesammelten Werke Lion Feuchtwangers (Bd. 11, 1936). Ebenso auffällig die Konzentration auf bekannte Namen: Landshoff bevorzugte die Zusammenarbeit mit Autoren von Rang, vielfach auch solchen, mit denen er schon zu Kiepenheuer-Zeiten in Verbindung gestanden hatte. Das war zum einen seinen Qualitätsansprüchen geschuldet, von denen er auch unter den Bedingungen des Exils keine Abstriche machen wollte, zum anderen wollte er auf diese Weise den wirtschaftlichen Erfolg des Verlags sicherstellen. Landshoff verstand den Querido Verlag nicht als literarisches Karrieresprungbrett; nur ein einziger Romanerstling ist dort erschienen, Konrad Merzʼ Ein Mensch fällt aus Deutschland (1936).96 Hierzu muss man
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Allenfalls könnte auch der Roman von Anna Reiner (d. i. Anna Gmeyner) Manja (1938) dazu gerechnet werden. Gmeyner hatte zuvor bereits publiziert, im Wesentlichen aber Schauspiele.
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wissen, dass im Verlag im Laufe der Jahre wohl hunderte Manuskripte zur Prüfung eingereicht worden sind (Landshoff wurde bei der Prüfung dieser Einsendungen von Klaus Mann unterstützt), die allesamt keine Berücksichtigung gefunden haben.97 Da Landshoff also auf Bewährtes setzte, brachte er von vielen seinen Stammautoren innerhalb der doch eher kurzen Zeit des Bestehens des Verlags, zwischen 1933 und 194098 gleich mehrere Bücher heraus: Allein von Alfred Döblin waren es sieben (Jüdische Erneuerung, 1933; Babylonische Wandrung, 1934; Flucht und Sammlung des Judenvolks, 1935; Pardon wird nicht gegeben, 1935; Die Fahrt ins Land ohne Tod, 1937; Der blaue Tiger, 1938; Bürger und Soldaten 1918, 1939), neun sogar von Emil Ludwig (Führer Europas. Nach der Natur gezeichnet, 1934; Gespräche mit Masaryk, 1935; Hindenburg und Die Sage von der deutschen Republik, 1935; Der Nil. Lebenslauf eines Stromes, Bd. 1, 1935; Der Mord in Davos, 1936; Cleopatra, 1937; Der Nil, Bd. 2, 1937; Quartett. Ein unzeitgemässer Roman, 1938; Roosevelt. Studie über Glück und Macht, 1938). Dass Landshoff keine Berührungsängste mit (gehobener und absatzträchtiger) Unterhaltungsliteratur hatte, zeigt sich daran, dass er von Vicki Baum gleich sechs Bücher in das Programm aufnahm (Das große Einmaleins, 1935; Die Karriere der Doris Hart, 1936; Der Eingang zur Bühne, 1936; Der grosse Ausverkauf, 1937; Liebe und Tod auf Bali, 1937; Hotel Shanghai, 1938). Klaus Mann, informeller Mitarbeiter des Verlags, hat seine gesamte, fünf Bücher umfassende Exilproduktion bei Querido veröffentlicht (Flucht in den Norden, 1934; Symphonie Pathétique, 1935; Mephisto, 1936; Vergittertes Fenster. Novelle um den Tod des Königs Ludwig II. von Bayern, 1937; Der Vulkan. Roman unter Emigranten, 1938), wobei Der Vulkan bis heute als eine der anschaulichsten Schilderungen der Emigrantenszene jener Jahre gelten kann. Ebenfalls fünf Titel waren es von Arnold Zweig (Spielzeug der Zeit, 1933; Bilanz der deutschen Judenheit 1933, 1934; Erziehung vor Verdun, 1935; Einsetzung eines Königs, 1937; Versunkene Tage. Roman aus dem Jahre 1908, 1938), immerhin vier von Bruno Frank (Cervantes, 1934; Aus vielen Jahren, 1937; Der Reisepass, 1937; Sechzehntausend Francs, 1940). In der Bereitschaft, von einigen Schriftstellern beinahe jährlich ein Buch herauszubringen, ist natürlich auch ein Instrument der Autorenbindung zu sehen; sie erweckte bei diesen den Eindruck einer auf Dauer angelegten Pflege des Oeuvres und vermittelte so ein Stück Sicherheit in einer von Ungewissheit gekennzeichneten Welt. Einen Sonderfall stellt in dieser Hinsicht Lion Feuchtwanger dar, von dem der Verlag Gesammelte Werke herausbrachte, in die sowohl Titel, die in der Weimarer Republik erschienen waren, wie auch die im Exil entstandenen Romane eingereiht wurden (Der jüdische Krieg (GW 3), 1933; Die Geschwister Oppenheim (später: Oppermann GW 5,
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Siehe Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 194‒198; Walter verweist hier auf die Ablehnung von Manuskripten auch prominenter Autoren wie Paul Zech, Robert Musil, Alfred Kerr, Ernst Bloch, Bernard von Brentano (betreffend den später bei Oprecht erfolgreichen Theodor Chindler-Roman), Günther Anders (d. i. Günther Stern), Ludwig Marcuse (Richard Wagner-Biographie), Soma Morgenstern (Der Sohn des verlorenen Sohnes), Ernst Weiß, Andreas Latzko, Alexander Moritz Frey, Hans Siemsen, Bodo Uhse, und sogar ein Manuskript von Klaus Mann über Horst Wessel wurde nicht angenommen, vermutlich aus politischen Erwägungen heraus. Ohne Forum Bücher und ohne die nach 1940 von Bermann Fischer übernommenen und in Stockholm publizierten Titel, auch ohne die nach 1945 erschienene Querido-Produktion.
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eig. 7), 1933; Erfolg, Bd. 1: Der Wartesaal (GW 6), 1934; Die hässliche Herzogin Margarete Maultasch (GW 1), 1935; Josephus, Bd. 2: Die Söhne (GW 4), 1935; Stücke in Prosa (GW 11), 1936; Jud Süss (GW 2), 1938; Der falsche Nero (GW 9), 1936; Exil (GW 8), 1940). Zusammen mit dem umstrittenen Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde (1937) kamen so insgesamt zehn Feuchtwanger-Titel zustande. Gesammelte Werke in Einzelausgaben brachte Querido auch im Jahr 1936 von Leonhard Frank heraus, insgesamt fünf Bände aus der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg (Die Räuberbande (GW / E 1); Das Ochsenfurter Männerquartett (GW / E 2); Der Bürger (GW / E 3); Karl und Anna (GW / E 4); Der Mensch ist gut. Novellen (GW / E 5), denen im gleichen Jahr noch als Einzelausgabe der Roman Traumgefährten folgte. Aussagekräftig ist natürlich nicht nur die Anzahl der Veröffentlichungen eines Autors, sondern deren literarisches Gewicht. Als Beispiele können dienen Heinrich Mann, von dem neben dem politischen Essayband Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte (1933) nur zwei Romanbände herauskamen – aber mit Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938) eben Hauptwerke des Exils! Von Joseph Roth, der hauptsächlich bei Allert de Lange unter Vertrag war (soweit dieser den exorbitanten Vorschuss- und Honorarforderungen des Autors entsprechen konnte) erschienen immerhin drei Bücher (Tarabas, 1934; Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters, 1937; Der Leviathan, 1940), und von Anna Seghers (Der Kopflohn, 1933; Die Rettung, 1937) und Ernst Toller (Eine Jugend in Deutschland, 1933; Briefe aus dem Gefängnis, 1935) je zwei. An Autoren mit zwei bis drei Querido-Büchern wären noch einige zu nennen, so Irmgard Keun (Nach Mitternacht, 1937; D-Zug Dritter Klasse, 1938; Kind aller Länder, 1938), Gustav Regler (Der verlorene Sohn, 1933; Die Saat, 1936 (Lizenzausgabe als Mitdruck mit der Ausgabe der Universum-Bücherei Basel)), Jakob Wassermann, Wilhelm Speyer, Bernard von Brentano, Heinrich Eduard Jacob, Annette Kolb und andere mehr. Mit ihnen und den Ein-Buch-Autoren rundet sich die Liste zu einem Who’s who der deutschen Exilliteratur, denn es waren u. a. auch Alexander Moritz Frey (Der Mensch, 1940), Oskar Maria Graf (Der harte Handel, 1935), Alfred Kerr, Kurt Kersten, Valeriu Marcu, Ludwig Marcuse (Ignatius von Loyola, 1935), Robert Neumann (Struensee, 1935), Rudolf Olden (Hitler, 1935), Erich Maria Remarque, Carl Sternheim, Ernst Weiß (Der arme Verschwender, 1936) vertreten. Von Thomas Mann brachte Querido 1937 eine neue Ausgabe der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull heraus, von der auch 100 Exemplare als nummerierter und signierter, z. T. in Pergament, Maroquin oder Leinen gebundener Luxusdruck zugunsten des Thomas Mann-Fonds für emigrierte Schriftsteller herausgebracht wurden. Im Bereich der Romanliteratur konkurrierte Querido hauptsächlich mit Allert de Lange, daneben auch mit Bermann-Fischer und Oprecht. Wie Oprecht brachte Querido auch eine Reihe zeitanalytischer Bücher heraus, politische Essays mit klaren Stellungnahmen zu Hitler-Deutschland oder zu daran angelagerten Fragen. Die einschlägigen Beiträge hierzu von Heinrich Mann und Emil Ludwig und die auf das Judentum bezogenen Bestandsaufnahmen von Alfred Döblin und Arnold Zweig wurden bereits genannt, aber auch Leopold Schwarzschilds Das Ende der Illusionen (1934), Konrad Heidens Europäisches Schicksal (1937) und auf andere Weise auch Albert Einsteins Kommentar zum Weltgeschehen (Mein Weltbild, 1934) gehören in diese Abteilung. Politische Aufklärung war auch das Motiv für Erika Mann, die 1938 bei Querido Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich herausbrachte, begleitet von einem
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Vorwort ihres Vaters Thomas Mann. Anders als bei Allert de Lange gab es bei Querido eine Bereitschaft, dem politischen Buch einigen Raum zu geben, wenn auch nicht im parteipolitischen Sinne. Was Landshoff mit Querido gelungen ist, fasst Hans-Albert Walter bündig zusammen: »die repräsentative Sammlung der deutschen Exilliteratur, quer durch alle ideologischen Lager, literarischen Schulen und ästhetischen Richtungen«.99 »Exilpolitischer Ehrgeiz« habe ihm ferngelegen; es dürfte ihm klar gewesen sein, dass ein »Gesinnungsverlag« ohne Parteisubventionen zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Selbst mehr ein Liberaler mit linkem Einschlag, richtete sich sein Bestreben hauptsächlich darauf, den Querido Verlag zum »wichtigsten Zentrum des literarischen Exils« zu machen, was ihm auch durch die Sammlung von 50 bedeutenden Autoren gelungen sei. In diesem Zusammenhang erscheint bemerkenswert, dass Querido im Vergleich zu Allert de Lange, Malik oder zur Züricher Büchergilde Gutenberg nur ganz wenige Übersetzungen im Programm hatte, obschon diese doch – bei entsprechend kluger Wahl international bekannter Namen – als marktgängige Ware betrachtet wurden. Im Grunde beschränkte sich der Erwerb von Übersetzungslizenzen auf drei Werke, auf Sinclair Lewisʼ Das ist bei uns nicht möglich (dt. von Hans Meisel, 1936), James M. Cains Serenade in Mexiko (dt. von Ernst Weiß, 1938) und Stephen H. Robertsʼ Das Haus, das Hitler baute (dt. von Fritz Heymann, 1938). Möglicherweise scheute Landshoff die Ausgaben für Lizenzen und Übersetzung, zumal ihm genügend deutsche Originalwerke zur Verfügung standen. Der Kostendruck war enorm hoch, und das nationalsozialistische Bücherdumping erzeugte besonders 1936 einen zusätzlichen Druck auf die Verkaufspreise, sodass Landshoff sich entschloss in diesem Jahr eine Buchreihe »Das gute billige Buch« auf den Markt zu bringen, mit Ausgaben von Vicki Baums Der Eingang zur Bühne, Feuchtwangers Geschwister Oppenheim, Bruno Franks Cervantes, Leonhard Franks Ochsenfurter Männerquartett, Joseph Roths Tarabas und Ernst Tollers Jugend in Deutschland. Die Auflagenhöhe der Exilausgaben war durch das beschränkte Absatzgebiet außerhalb Deutschlands (ein Markt, der vor 1933 nur etwa 10 % des deutschen Verlagsumsatzes ausmachte) entsprechend niedrig und betrug im Durchschnitt 3.000 Exemplare, wobei mehr als die Hälfte der Titel unter dieser Marke blieb, vor allem in den späteren Jahren; dagegen konnte aber in Einzelfällen wie beispielsweise Feuchtwangers Roman Geschwister Oppenheim auch eine Auflage von 25.000 Exemplaren erreicht werden. Der Versuch des NS-Regimes, den in manchen Gebieten besonders großen Erfolg der Exilverlage einzudämmen, blieb im Allgemeinen ohne Resultat. Dennoch musste von Zeit zu Zeit Rücksicht auf die politische Situation der Niederlande genommen werden, um den Verlag nicht zu gefährden.100 Von Landshoffs Büro in der Keizersgracht aus wurde auch der Aufbau eines internationalen Verteilersystems betrieben, Kontakte zum ausländischen Buchhandel geknüpft
99 Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 199. Walter verweist hier auch darauf, dass Landshoff den Autorenkreis gerne noch erweitert hätte, um Thomas Mann, Stefan Zweig oder Franz Werfel; seine diesbezüglichen Bemühungen seien aber an deren anderweitigen Verlagsbindungen gescheitert. 100 So etwa wurde Heinrich Manns zweiter Essayband Es kommt der Tag mit Einverständnis des Autors dem Züricher Oprecht Verlag übergeben.
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sowie die Gewinnung zuverlässiger Buchvertreter verfolgt, um für die Verbreitung der »freien deutschen Literatur« zu sorgen. Mit Rentenverträgen, in welchen das Honorar in Form eines monatlichen Fixums garantiert wurde, sicherte Landshoff die materielle Existenz seiner meist mittellos geflüchteten Autoren und schuf dadurch für viele die Grundlage für eine Fortsetzung des literarischen Schaffens. Ein typisches Instrument der Autorenbindung sind Verlagszeitschriften, und so kam bei Querido neben den Buchpublikationen 1933 bis 1935 die von Klaus Mann initiierte und herausgegebene literarisch-kulturpolitische Monatsschrift Die Sammlung heraus, in der Exilautoren unterschiedlicher politischer Couleur zu Worte kamen.101 Aus der Zusammenarbeit entwickelte sich eine enge Freundschaft beider Männer und ein Beraterstatus Klaus Manns in Verlagsangelegenheiten. Bei Querido arbeitete Landshoff zunehmend mit seinem entfernten Verwandten Gottfried Bermann Fischer zusammen,102 der die seit 1938 in seinem Stockholmer Exilverlag erscheinenden Werke u. a. von Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Franz Werfel und Stefan Zweig häufig in den Niederlanden drucken ließ, wo dann die Herstellung von Landshoff betreut wurde. Mit Bermann Fischer und Walter Landauer von Allert de Lange hat Landshoff zur Erzielung von Synergieeffekten auch eine Zentralauslieferung der drei Exilverlage aufgebaut.103 Gemeinsam mit Henry G. Koppell gründete er 1938 die Alliance Book Corporation in New York, die den Vertrieb der europäischen Exilwerke in den USA bewerkstelligen sollte.104 Während des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande im Mai 1940 befand sich Landshoff zufällig wegen Verhandlungen mit Macmillan und anderen Verlagen in London und entging so der Verhaftung. Die Korrespondenzen und Archive des Querido Verlages wurden zur Vernichtung jeglicher »Beweismittel« verbrannt, alle Aktivitäten gestoppt, noch bevor im Juni 1940 die Durchsuchungen durch ein Kommando des Sicherheitsdienstes (SD) erfolgten.105 Emanuel Querido und seine Frau fielen 1943 in die Hände der Gestapo;106 Queridos Assistentin Alice van Nahuys führte die E. Querido Verlagsgesellschaft nach dem Krieg bis zu ihrem Tod weiter. Landshoff war in Großbritannien sieben Monate interniert und suchte in dieser Zeit nach Möglichkeiten, seine verlegerische Tätigkeit fortzusetzen. Als er von einem von der niederländischen Exilregierung erlassenen Gesetz hörte, wonach holländische Firmen, deren Leitung sich außerhalb der Niederlande befand, ihren Firmensitz nach Niederländisch-Indien verlegen könnten, machte er mit Hilfe der niederländischen Botschaft in London davon Gebrauch und verlegte formell den Sitz des Querido Verlags nach Batavia, das heutige Jakarta. Dies versetzte ihn in die Lage, in seiner Eigenschaft als
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Vgl. hierzu das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils. Hedwig Fischer, eine geborene Landshoff, und der Vater Landshoffs waren Cousin / Cousine. Zur »Zentralauslieferung« siehe das Kap. 6.1 Distribution. Zur Alliance Book Corporation siehe in diesem Kapitel weiter unten sowie die Kap. 5.4 Buchgemeinschaften und 6.1 Distributionsstrukturen. 105 Zu dieser Aktion vgl. Schroeder: »Dienstreise nach Holland 1940« (1999). 106 Nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 und der Schließung des Verlags zogen sich Emanuel Querido und seine Frau Jane Querido-Kozijn in ihre private Wohnung in Laren, 1943 dann in ein Versteck im benachbarten Blaricum zurück, wo sie durch Verrat entdeckt, anschließend deportiert und im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurden.
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Verlagsdirektor Gottfried Bermann Fischer einige Manuskripte zu übergeben, die dieser in Stockholm unter dem Imprint »Querido Verlag Batavia« drucken und verbreiten sollte. Mit diesem Impressum sind aber vermutlich nur sehr wenige Titel erschienen, nachweisbar ist dies vorläufig nur bei Erich Maria Remarque (Liebe deinen Nächsten, 1941) und Vicki Baum (Hotel Shanghai, 1944). Der Bermann-Fischer Verlag nahm in Schweden aber, unter seinem eigenen Namen, noch weitere Werke von Querido-Autoren, u. a. Vicki Baum (Die grosse Pause, 1941; Marion lebt, 1942; Kautschuk, 1945), Lion Feuchtwanger (Der Tag wird kommen, 1945), Bruno Frank (Die Tochter, 1945) und F. C. Weiskopf (Himmelfahrtskommando, 1945) in treuhänderische Obhut. Insgesamt sind auf Basis dieser Vereinbarung acht Titel in Stockholm erschienen. 1941 gelangte Landshoff über Mexiko in die USA, wo er gemeinsam mit Gottfried Bermann-Fischer, der kurz zuvor dort eingetroffen war, in New York die L.[andshoff]B.[ermann]-Fischer Publishing Corp. ins Leben rief (siehe dazu in diesem Kapitel weiter unten). Landshoff arbeitete mit dem Schwerpunkt Finanzen und Vertrieb, BermannFischer mit dem Schwerpunkt Herstellung; für die Verwaltungsaufgaben wurde der Holländer Marinus Warendorf engagiert. Zahlreiche ehemalige S. Fischer- und QueridoAutoren waren allerdings mit ihren englischsprachigen Rechten schon fest bei anderen amerikanischen Verlagen verpflichtet und konnten nicht bei L. B. Fischer erscheinen, wo ausschließlich in englischer Sprache publiziert wurde. 1946 kehrte Landshoff zurück nach Amsterdam und war dort zunächst Mitbegründer und Co-Manager des medizinischen Referateorgans Excerpta Medica (Amsterdam und New York), bemühte sich aber auch um die Reaktivierung des Querido Verlags,107 die 1948 durch Fusion mit dem Bermann-Fischer Verlag gelang. Hilfreich war auch die Erkenntnis, dass die von den NS-Behörden in Amsterdam angeordnete Vernichtung aller Bücherbestände doch nicht lückenlos befolgt worden war. Landshoff berichtete dazu in seinen Erinnerungen: Es war eine große Überraschung, als uns nach dem Kriege die Druckerei Thieme mitteilte, daß noch zahlreiche ungebundene Exemplare unserer Produktion in ihrem Magazin lägen. Selbstverständlich waren alle Bestände – sowohl aus dem QueridoLager wie aus dem der Herstellungsfirmen – beim Einmarsch der Nazis auf Befehl der deutschen Behörden beschlagnahmt worden und sollten vernichtet werden. Sei es aus Nachlässigkeit, sei es aus guter Absicht: Thieme hatte diesem Befehl nicht Folge geleistet.108 Die so geretteten Bücher gehörten hauptsächlich der Reihe der Forum-Bücher an. Die Versuche, die Bücher in den Westzonen Deutschlands unterzubringen, erwiesen sich aber aufgrund des vorherrschenden Desinteresses an Exilliteratur als schwierig. 1950 beschloss Landshoff, den Gedanken an eine Verlegertätigkeit in Deutschland aufzugeben. 1951, nach Übernahme des Bermann-Fischer / Querido Verlages durch den S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, schied Landshoff aus dem Verlag aus und übernahm die Leitung
107 Dass Landshoff 1940 den Verlagssitz handelsrechtlich nach Batavia verlegt hatte, sollte zur Folge haben, dass nach dem Krieg dieser Exilzweig von Querido wieder aktiviert werden konnte, während der niederländische Stammverlag vorerst als aufgelöst gelten musste. 108 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht, S. 91.
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des Kiepenheuer & Witsch Verlages in Köln. 1953 trat er in den Kunstbuchverlag Harry N. Abrams in New York ein, für den er bis 1985 tätig war. Er gründete eine europäische Niederlassung in Amsterdam und wurde später in die Geschäftsleitung des amerikanischen Stammunternehmens berufen, zuletzt als Senior Vice President. Er lebte abwechselnd in New York und den Niederlanden. Landshoff wurde wegen seiner Verdienste um die deutsche Exilliteratur 1982 mit der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin ausgezeichnet; 1987 erhielt er den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig.
Der Verlag Allert de Lange Der Allert de Lange-Verlag gehört aufgrund der Quellenlage und der von Kerstin Schoor vorgelegten Monographie Verlagsarbeit im Exil, der Druckfassung einer 1989 in OstBerlin approbierten Dissertation, zu den besterforschten Verlagen der Exilszene.109 Voraussetzung dafür waren glückliche Umstände: Das Archiv des AdL-Verlags war verloren geglaubt, denn im Zuge der Besetzung der Niederlande waren auch die Amsterdamer Exilverlage, die ohnehin schon lange im Visier der deutschen Behörden standen, vom Sicherheitsdienst (SD) durchsucht worden.110 Die Buchlager sollten zerstört werden – was aber nur zum Teil der Fall war, weil man die Vernichtung der holländischen Polizei überließ, die Bücher in Geheimlagern verschwinden ließ, von wo aus sie nach dem Krieg wieder hervorgeholt und verbreitet wurden. Die Geschäftskorrespondenz des Allert de Lange-Verlags aber wurde beschlagnahmt, kam zunächst in das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nach Berlin und wurde dort einer ersten Sichtung unterzogen, um die Verhaftungslisten (»Sonderfahndungsliste West«) zu vervollständigen. Aufgrund der Luftangriffe mussten die »wissenschaftlichen Referate« und das gesamte Archiv des RSHA ausgelagert werden und gelangten unter den Decknamen »Brabant I« und »Brabant II« nach Schlesiersee bzw. Schloss Wölfelsdorf, wo der Bestand 1945 russischen Truppen in die Hände fiel und in die Sowjetunion verbracht wurde. Das AdL-Verlagsarchiv, das sich unter diesen Beständen befunden haben dürfte, tauchte 1957 wieder auf, als es zusammen mit anderen, aus dem Dritten Reich stammenden Akten von der UdSSR der DDR übergeben wurde. In Ost-Berlin verschwanden diese Geschäftsunterlagen von AdL aber erneut, diesmal im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam, bis sie zwei Jahrzehnte später wiederentdeckt wurden – offenbar zuerst von Klaus Hermsdorf, Professor an der Humboldt-Universität, der sich in seinem Aufsatz 1981111 darauf bezog, ohne jedoch seine Quelle zu nennen, und dann wieder von Kerstin Schoor, die bei Hermsdorf ihre Doktorarbeit schrieb. Nach der »Wiedervereinigung« fielen die Bestände des Zentralen Staatsarchivs in Potsdam dem Bundesarchiv Koblenz zu, das allerdings das AdL-Archiv ‒ als ehedem von der Gestapo geraubtes Gut – dem noch existierenden Verlag Allert de Lange in Amsterdam zurückerstattete. Dieser gab sie an das Internationale Institut für
109 Schoor: Verlagsarbeit im Exil. 110 Siehe hierzu und zum Folgenden die präzise dokumentierende Darstellung des Einsatzes zweier Spezialkräfte des SD-Hauptamtes in den Niederlanden von Schroeder: »Dienstreise nach Holland 1940« (1999). 111 Hermsdorf: Verlag und Verleger im Exil.
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Sozialgeschichte in Amsterdam zur Aufbewahrung weiter, wo die Akten heute zur Benutzung zur Verfügung stehen.112 Die solcherart der Forschung geretteten Materialien umfassen immerhin 149, noch von den Mitarbeitern des Unternehmens angelegte Leitzordner und stellen damit eine unvergleichliche Arbeitsgrundlage für die Geschichte eines Exilverlags dar, vor allem weil praktisch alle Bereiche der Verlagstätigkeit dokumentiert sind: Vorhanden sind mehr als 70 Verträge mit deutschsprachigen Autoren, Abrechnungen, Briefwechsel mit fast 700 deutschsprachigen Autoren, mit anderen Verlagen, Vertriebsfirmen, Buchhandlungen etc., ebenso Auskünfte über Verkaufsziffern, über Vertriebsprobleme, auch Korrespondenzen über die Ablehnung von Manuskripten u. a. m. Den Anstoß zur Gründung des Exilverlags Allert de Lange gab ein im holländischen Exil lebender deutscher Schriftsteller, der vor dem Ersten Weltkrieg mit Gesellschaftsromanen bekannt gewordene Georg Hermann, indem er das ihm befreundete Ehepaar Hilda und Siegfried van Praag darauf aufmerksam machte, dass die jetzt in großer Zahl geflüchteten deutschen Autoren darauf angewiesen seien, wieder eine Zufluchtsstätte für ihre Bücher zu finden.113 Hilda van Praag-Sanders wandte sich daraufhin an Gerard de Lange ‒ er war Verleger der Werke ihres Mannes ‒ mit dem Vorschlag, er möge einen Verlag für die emigrierten Schriftsteller gründen. Gerard de Lange hat diese Anregung aufgegriffen. Sein Verlag bestand bereits seit 1880, sein Vater, der Gründer, war 1932 verstorben und er hatte – ohne große Begeisterung – dessen Erbe angetreten.114 Der Verlag war finanziell solide, und das Risiko, jetzt auch deutschsprachige Bücher herauszubringen, schien nicht zu groß; schließlich gab es eine weitverbreitete Kenntnis der deutschen Sprache in den Niederlanden, und die aus Deutschland geflüchteten Autoren hatten zum großen Teil einen guten oder sehr guten Namen. Für seinen Entschluss, eine deutsche Abteilung anzugliedern, waren also durchaus kommerzielle Überlegungen maßgebend, nicht eigentlich eine politische Motivation. Tatsächlich war Gerard de Lange weltanschaulich konservativ eingestellt, daraus resultierte auch eine entschiedene Reserviertheit kommunistischen Autoren gegenüber. An einer Konfrontation mit dem offiziellen Deutschland war er nicht interessiert, deswegen findet sich im Verlagsprogramm von AdL auch keine politische Kampfliteratur gegen das Hitlerregime; Gerard de Lange missbilligte aber die Verfolgung von Autoren und wollte ihnen die Möglichkeit geben, ihre Bücher herauszubringen, soweit dies mit seinen ökonomischen Interessen in Einklang zu bringen war. Die ersten Verträge, die de Lange im April 1933 mit Georg Hermann abschloss, hatten noch einen Sondercharakter; die deutsche Abteilung existierte noch nicht. Die Monate zwischen April und Juni 1933 – dem eigentlichen Gründungsdatum dieser deutschen Abteilung – sollten dem Ehepaar van Praag dazu dienen, Autoren zu rekrutieren; damit waren sie von Gerard de Lange beauftragt worden. Allerdings brachten beide 112 Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte / Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (www.iisg.nl/collections/allertdelange/index.html). Vgl. hierzu die Ausführungen bei Spring: Verlagstätigkeit im niederländischen Exil 1933–1940. 113 Das Folgende hauptsächlich nach Schoor: Verlagsarbeit im Exil. Vgl. aber auch Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch-deutschen Beziehungsgeflecht (Andringas Studie beruht in der Hauptsache auf der Erschließung archivalischer Quellen; die Bezugnahmen auf Allert de Lange, Querido und andere Verlage sind jedoch über den gesamten Band verteilt). 114 Siehe Van Helmond: 100jaar Allert de Lange.
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nicht die dazu nötigen Voraussetzungen mit; viele Autoren wollten mit ihnen nicht abschließen, weil sie sie nicht kannten, außerdem stand damals das Gerücht im Raum, es solle ein großer Emigrantenverlag gegründet werden, und das wollte man abwarten. Hilda van Praag folgte daraufhin einer Empfehlung Stefan Zweigs, wandte sich an Hermann Kesten*, den ehemaligen Lektor bei Gustav Kiepenheuer, der gute Verbindungen zu wichtigen Repräsentanten der deutschen Literatur hatte,115 und machte ihm im Namen Gerard de Langes das Angebot, die Leitung der deutschen Abteilung zu übernehmen. Kesten lehnte aber ab, weil er in Paris bleiben und allenfalls als Lektor oder literarischer Berater fungieren wollte. Er schlug stattdessen für die geschäftliche Leitung seinen Freund und ehemaligen Mitarbeiter bei Kiepenheuer, Walter Landauer vor, der dann auch tatsächlich in diese Position eintrat. Walter Landauer* (1902 Berlin – 1944 KZ Bergen-Belsen) hatte nach einem JuraStudium 1923 als Volontär im ambitionierten Verlag Die Schmiede erste Einblicke in das Verlagsgeschäft gewonnen; seit 1924 unterstützte er Rudolf Leonhard im Lektorat des Verlages.116 1927 bot ihm sein Schul- und Studienfreund Fritz H. Landshoff die Stelle eines kaufmännischen Leiters beim Gustav Kiepenheuer Verlag an, in den er selbst 1926 eingetreten war. Landauer akzeptierte, und gemeinsam mit Landshoff und Hermann Kesten, der 1928 als Cheflektor eingestellt worden war, machte er den Potsdamer (ab 1929 Berliner) Verlag zu einem Zentrum der fortschrittlichen Literatur. Im März 1933, wenige Wochen nach der »Machtergreifung« Hitlers, schied Landauer aus dem Kiepenheuer Verlag aus und emigrierte nach Paris. Von dort aus übernahm er ab 1. September formell die geschäftsführende Leitung der Deutschen Abteilung des Amsterdamer Allert de Lange Verlags. Den Aufbau des Verlagsteils leitete Landauer zunächst von Paris aus in die Wege; nach Amsterdam übersiedelte er erst im Mai 1934. Als Außenlektor wurde also Hermann Kesten engagiert, der diese Funktion von der Abteilungsgründung im Mai 1933 bis Mai 1940 ausübte und dafür bis 30. April 1937 ein monatliches Honorar von 200 Gulden, danach 75 Gulden erhielt.117 Da Landauer nach außen hin kaum in Erscheinung trat, lag es an Kesten, die deutschsprachige Abteilung zu repräsentieren. Als im Herbst 1934 das Jahrbuch 1934/35 des Allert de Lange
115 Hermann Kesten* (1900 Nürnberg – 1996 Riehen b. Basel), seit 1926 als freier Schriftsteller tätig, wurde kurz nach Erscheinen seines vielbeachteten ersten Romans Josef sucht die Freiheit (1928) Lektor im Gustav Kiepenheuer Verlag. Aufgrund seiner liberalen Haltung von der völkischen Presse scharf attackiert, flüchtete er am 2. März 1933 nach Paris, wo er sich überwiegend auch in den Folgejahren aufhielt; im Zuge seiner Tätigkeit bei Allert de Lange reiste er aber gelegentlich nach Amsterdam. Kesten stand mit zahlreichen Autoren in freundschaftlicher Verbindung und konnte so eine Reihe von Buchprojekten in Gang bringen. (Vgl. hierzu insbesondere die Briefe, die bei Winkler: Hermann Kesten im Exil (1933‒1940), im Anhang abgedruckt sind.) Seine Mitarbeit bei Allert de Lange endete erst, als er Anfang September 1939 in Frankreich festgenommen und fünf Wochen lang als »feindlicher Ausländer« in den Lagern von Colombes und Nevers interniert wurde. Im Mai 1940 gelang Kesten die Immigration nach New York. 116 Vgl. Schoor: Ein Verleger im niederländischen Exil – Walter Landauer und der Verlag Allert de Lange; Schoeller: Ein Verschollener – Walter Landauer bei Allert de Lange. 117 Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 58. Bei Schroeder (»Dienstreise nach Holland 1940«, S. 47, Fn. 34) wird das Honorar mit 150 Gulden, ab Mai 1936 75 Gulden angegeben.
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Verlages erschien, war es denn auch Kesten, der in einem einigermaßen pathetischen Vorwort zum Ausdruck brachte, dass die Freiheit des Worts nun in Amsterdam Asyl gefunden habe, dank des »alten holländischen Verlages Allert de Lange«, der nun »einem Teil des freien deutschen Schrifttums eine Freistätte« sichere.118 Kesten hat ohne Frage das Profil der deutschsprachigen Allert de Lange-Abteilung in hohem Maße mitbestimmt. Wenn Landauer und Kesten die deutsche Abteilung relativ selbständig führen konnten, so hatten sie doch klare ökonomische und politische Richtlinien einzuhalten und waren in vielen Fragen der niederländischen Verlagsleitung gegenüber berichtspflichtig. Immerhin bewies Gerard de Lange einige Standfestigkeit, als im Januar 1935 das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda Druck auf ihn auszuüben und ihn von der Veröffentlichung von Exilwerken abzubringen suchte; man werde ihm aus früherer Zeit nichts nachtragen, wenn er sich zur Herausgabe linientreuer NSAutoren verstehen könnte. Gerard de Lange lehnte entschieden ab und ließ sich auf einen solchen Handel nicht ein.119 Noch im gleichen Jahr schied Gerard de Lange durch Freitod aus dem Leben. Danach ging die Verlagsleitung an den Kompagnon Philip van Alfen über, der weniger literarisches Interesse aufbrachte und auch mit den Vorschusszahlungen nicht mehr so generös umging. Van Alfen Abb. 3: Das Amsterdamer Verlagslegte größten Nachdruck darauf, dass auch die deut- haus von Allert de Lange. sche Abteilung unter stärker wirtschaftlichen Gesichtspunkten geführt werde, zumal nach Aussage eines anderen leitenden Verlagsmitarbeiters, A. P. J. Kroonenburg, Gerard de Lange ein Vermögen in diese Abteilung investiert hatte.120 Allerdings: Eine profitable Führung der Abteilung war, angesichts des kleinen und fortlaufend schrumpfenden Marktes, kaum möglich, jedenfalls nicht auf Basis der deutschsprachigen Erstausgaben, für die bei AdL, mindestens in den Anfangsjahren, relativ hohe Honorare gezahlt wurden.121 Auch van Alfen war an einem Konfrontationskurs mit dem Dritten Reich nicht interessiert. So z. B. wurde Irmgard Keuns Roman Nach Mitternacht aus politischen
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Jahrbuch 1934/35. Amsterdam: Allert de Lange [1934], S. VII. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 143. Nach Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 42. Allert de Lange konnte immerhin 92 Übersetzungslizenzen von 20 Autoren verkaufen und damit die mit den Originalausgaben gemachten Verluste teilweise wieder ausgleichen (siehe Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 261 f.).
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Gründen abgelehnt. Kroonenburg bestätigte eine solche Ablehnung einzelner Manuskripte, weil sie »dem Inseratengeschäft des Verlages geschadet hätten«.122 In der Tat war der Verlag auch im Bereich der Werbung tätig und brachte Zeitschriften heraus. All diesen Einflussnahmen zum Trotz wurde das literarische Programm doch weitgehend von Landauer und Kesten geprägt, wobei Kesten die Ablehnung gegenüber kommunistischen Autoren ohnehin teilte und daher in politischer Hinsicht keine Differenzen mit der holländischen Verlagsleitung hatte. Dass in dieser Hinsicht heikle Gratwanderungen zu unternehmen waren, zeigte sich bereits beim ersten Titel des neuen Verlagszweigs: Nach Vorschlag Kestens sollte zunächst eine Novellenanthologie erscheinen – ein kluger Schachzug, denn eine Anthologie eröffnete die Möglichkeit, gleich zu Beginn möglichst viele Autoren an den Verlag zu binden. Dazu kam es auch in einigen Fällen. Allerdings war die Erstellung dieser Anthologie mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden, schon hinsichtlich ihrer Betitelung: Kesten wollte sie »Der Scheiterhaufen« nennen, mit deutlichem Bezug auf die Bücherverbrennung. Einigen Beiträgern erschien dies damals zu politisch, ebenso wie das von Kesten verfasste Vorwort; fünf Autoren verweigerten ihre Zustimmung dazu (Stefan Zweig, Robert Neumann, Jakob Wassermann, Franz Werfel und Felix Salten), weil sie ihre damals noch bestehenden Verbindungen zu deutschen und österreichischen Verlagen nicht gefährden wollten. Bezeichnend etwa, wie sich Robert Neumann in der für ihn charakteristischen ironischen Art unter Bezugnahme auf seine »ängstlichen Verleger« am 24. Juni 1933 bei Kesten über den Charakter der geplanten Anthologie erkundigte: »Wird in ihr jede Aggression gegen das von uns so heiß geliebte Nazi-Regime vermieden werden? Und wer von den Kollegen hat Ihnen nun fest zugesagt? Sie verstehen, Lieber ‒ ich persönlich trete keineswegs so leise, aber so lang meine Verleger ihre Verträge halten, bin ich in meinen persönlichen Emanationen eingeengt, wie ein Star in Hollywood«.123 Hier wird ein spezifisches Problem dieser ersten Exiljahre sichtbar, das auch den Aufbau von Exilverlagen beeinträchtigte. Unter den Autoren herrschte damals noch große Unsicherheit: Sollte man versuchen, sich eine Tür nach Deutschland offenzuhalten? Die Novellensammlung erschien jedenfalls unter dem unverfänglichen Titel Novellen deutscher Dichter der Gegenwart. Allert de Lange errang gemeinsam mit dem Querido-Verlag rasch eine führende Stellung unter den deutschen Exilverlagen. Das Verzeichnis der deutschsprachigen Publikationen 1933 bis 1944 umfasst insgesamt 93 Titel, also in Normaljahren 12 bis 14 Titel.124 Insgesamt wurden Werke von 49 Exilautoren verlegt, wobei von 20 Autoren mehr als ein Titel herausgebracht wurde. Ähnlich wie Querido verfolgte AdL, wenn auch gemäßigter, eine »Hausautoren-Politik«, insofern sechs Autoren – Max Brod, Gina Kaus, Hermann Kesten, Alfred Neumann, Joseph Roth und Adrienne Thomas – mit jeweils fünf Werken in der Verlagsbibliographie aufscheinen, dazu Schalom Asch mit vier, Jolanda Földes sowie René Schickele mit jeweils drei und elf weitere Autoren mit
122 Schoor, S. 42. 123 Brief Robert Neumanns an Hermann Kesten vom 24. Juni 1933, zitiert nach Winkler: Hermann Kesten im Exil, S. 175. 124 Siehe Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 250‒258.
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je zwei Titeln.125 Mit Alfred Neumann, Gina Kaus und Adrienne Thomas dürften auch die »Bestsellerautoren« des Verlags benannt sein. Entsprechend der Ausrichtung des Verlagsprogramms gab es keine Parteiliteratur; AdL war in dieser Hinsicht kein typisch »antifaschistischer« Verlag. Trotz des vom Verlagseigentümer über kommunistische Autoren ausgesprochenen Verdikts gelang es aber Bertolt Brecht mit dem Dreigroschenroman (1934) sowie Egon Erwin Kisch (Geschichten aus sieben Ghettos, 1934; Landung in Australien, 1936) im Programm unterzukommen, auch der zumindest KP-nahe Theodor Plivier konnte mit Das große Abenteuer (1935) einen durchaus marxistisch inspirierten zeitgeschichtlichen Roman platzieren. Walter Landauer und Hermann Kesten sorgten dafür, dass es im Bereich der erzählenden Literatur auch sonst noch eine Reihe von Büchern mit expliziter politischer Botschaft gab, wie beispielsweise von Kesten selbst Die Kinder von Gernika (1938). Deutlichen kritischen Zeitbezug hatten z. B. auch die Romane von Irmgard Keun (Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, 1936), Adrienne Abb. 4: Walter Landauer und Hermann Kesten unterstrichen mit Thomas mit Katrin! Die Welt brennt! (1936) und Von der Herausgabe eines AdL-VerlagsJohanna zu Jane (1939), sowie die Werke Ödön von almanachs die Kontinuitätslinien zu Horvaths Jugend ohne Gott (1937) und Ein Kind un- der verlegerischen Praxis, wie man serer Zeit (1938). Auf ihre Weise auch eine Zeit- und sie von Deutschland her kannte. Generationenspiegelung lieferten die Romane der Heine-Preisträger Henry William Katz (Die Fischmanns, 1937) und Jolanda Földes (Die Straße der fischenden Katze, 1937). In die Rubrik zeitgeschichtliche Romane gehört auch, als kritische Beleuchtung der britischen Armee zwischen den Weltkriegen, das Werk des Gewinners des Internationalen Literaturpreises 1938/1939 Robert David Quixano Henriques’ Ohne Waffen, ohne Wehr (dt. von Franz Fein, 1940).126 Selbstverständlich gab es eine Reihe von Publikationen, die indirekte politische Botschaften enthielten, wie das vor allem auf historische Romane zutraf, so auf Alfred Neumanns Romane um Napoleon III (z. B. Neuer Cäsar, 1934) oder Hermann Kestens Ferdinand und Isabella (1935) und König Philipp der Zweite (1937). Zudem erschienen Sachbücher oder Essaybände zu politischen oder politisch-historischen Themen, wie Theodor Wolffs Der Marsch durch zwei Jahrzehnte. Essays (1935), Georg Bernhards Meister und Dilettanten am Kapitalismus. Im Reich der Hohenzollern (1936), Arthur Rosenbergs Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre (1938) sowie Veit Valentins Weltgeschichte. Völker, Männer, Ideen in
125 Siehe hierzu das »Verzeichnis der von Allert de Lange verlegten deutschsprachigen Autoren« in Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 259 f. 126 Siehe hierzu den Abschnitt über Literarische Preisausschreiben in Kap. 3 Autoren.
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zwei Bänden (Bd. 1: Bis zu den Revolutionskriegen, 1938, Bd. 2: Bis zur Gegenwart, 1939). Auch der Erlebnisbericht Franz Theodor Csokors Als Zivilist im polnischen Krieg (1940) ließe sich hier einordnen. Im Bereich der übersetzten Literatur, der in den letzten drei Bestandsjahren generell ständig zunahm, dominierten die teilweise journalistisch, teils wissenschaftlich, teils aus Zeitzeugenperspektive geschriebenen politischen Sachbücher, etwa mit John Gunthers So sehe ich Europa! (1937), So sehe ich Asien (1939), Giuseppe Antonio Borgeses127 Der Marsch des Faschismus (dt. von Hans Meisel, 1938), Winston Churchills Große Zeitgenossen (dt. von Fritz Heymann, 1938), Schritt für Schritt. Aufsätze 1936‒1939 (dt. von Franz Fein, 1939), Ferdinand Lundbergs Amerikas 60 Familien. Essays (dt. von Norbert Mühlen, 1938) und Walter G. Krivitskys Ich war in Stalins Dienst (dt. von Fritz Heymann, 1940). Das Programm war somit keineswegs politikabstinent, dessen ungeachtet prägten aber andere Segmente den Gesamteindruck. Da war zum einen die Serie der auf ein breites Publikum berechneten illustrativ ausgestatteten Romanbiographien, wie Max Brods Heinrich Heine (Biographie mit 10 Bildtafeln, 1934), Karl Tschuppiks Maria Theresia (mit 16 Bildtafeln, 1934), Gina KausʼKatharina die Große (ebenfalls mit 16 Bildtafeln, 1935), Valeriu Marcus Machiavelli oder die Schule der Macht (mit 12 Bildtafeln, 1936) oder Alfred Neumanns Königin Christine von Schweden (1935). Dazu kamen im Bereich der Unterhaltungsliteratur angesiedelte Gesellschaftsromane wie jene von Gina Kaus (wie Die Schwestern Kleh, 1933), René Schickele mit dem luftig geschriebenen Roman Die Flaschenpost (1937), Christa Winsloe (Passeggiera, 1937) oder Annemarie Selinko (Heut heiratet mein Mann, 1940). Veranstaltet wurden auch Neudrucke (insgesamt waren es sechs) vor 1933 erschienener Romane wie Alfred Neumanns Der Teufel (1935), Irmgard Keuns Luxusdampfer. Roman einer Überfahrt (1937) oder René Schickeles Maria Capponi (1936); vor allem diese Neuausgaben wurden zu besonders günstigen Verkaufspreisen angeboten. Als eher »leichtgewichtige« Titel können exemplarisch die Essays von Alfred Polgar In der Zwischenzeit (1935) oder Annette Kolbs Festspieltage in Salzburg und Abschied von Österreich (1938) genannt werden. Einen starken literarischen Akzent im Programm setzten die Werke Joseph Roths, vor allem Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1933), Die hundert Tage (1935), Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht (1936) sowie seine letzte Erzählung Die Legende vom heiligen Trinker (1939). Einiges Unverständnis erntete Roth mit seinem Essay Der Antichrist (1934), in welchem er u. a. die Filmwelt Hollywoods (»Hölle-Wut«) attackierte. Joseph Roth ist ein besonderer Fall, insofern er sich glänzend mit Gerard de Lange verstand. Er genoss daher anfänglich eine (finanzielle) Vorzugsbehandlung; nach dem Freitod de Langes konnte er, unter dem strengeren Regime van Alfens, seine weit überdurchschnittlichen Honorarforderungen nicht mehr im gewohnten Maße durchsetzen.128 Er wurde damals, zur Entspannung der AdL-Finanzen, von Landauer an Landshoff und den Querido-Verlag »weitergereicht«.129 Aber auch dieser konnte hier nicht mithalten, worauf Roth beim holländischen Verlag De Gemeenschap landete, der dann auch nicht geringe Schwierigkeiten mit dem ungeheuer produktiven Autor hatte, dessen Vorschuss127 Der italienische Historiker war seit November 1939 Schwiegersohn Thomas Manns. 128 Vgl. hierzu Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 184‒190. 129 Siehe Rietra: »Geschäft ist Geschäft«. Joseph Roth und die Amsterdamer Exilverlage Allert de Lange und Querido.
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konto das Unternehmen zu ruinieren drohte.130 Bei De Gemeenschap erschienen Die Geschichte von der 1002. Nacht (1937/1939) und mit Die Kapuzinergruft (1938) eines seiner späten Hauptwerke. Dass Walter Landauer nicht übermäßig auf eine Schärfung des Verlagsprofils aus war, dokumentiert sich in der Aufnahme unterschiedlichster, meist prominenter Autoren in das Publikationsprogramm. Beispiele wären Siegfried Kracauer mit seiner kulturhistorisch bedeutenden Studie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937), die deutlich mehr bietet als bloß eine Biographie, oder Sigmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen (1939). Die Patientin und Schülerin Sigmund Freuds, die ihm dann auch zur Flucht aus Österreich verhalf, die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte, Prinzessin von Griechenland und Dänemark, veröffentlichte im Verlag Allert de Lange 1939 ein von Anna und Sigmund Freud übersetztes Hundebuch Topsy. Der goldhaarige Chow,131 während Alma Mahler-Werfel im Jahr 1940 Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe publizierte. Auch die zuletzt genannten Namen können als Beleg dafür dienen, dass Allert de Lange in ähnlicher Weise wie Querido sich auf literarische, publizistische und wissenschaftliche Prominenz mit entsprechend hohen Absatzerwartungen konzentrierte, sich aber kaum berufen sah, unbekannten Autoren des Exils eine Marktchance zu verschaffen. Allenfalls lassen sich – neben den Heinepreisträgern H. W. Katz und J. Földes – die Bücher von Hans Natonek (Der Schlemihl. Ein Roman vom Leben des Adelbert von Chamisso, 1935), Friedrich Walter (Kassandra, 1938) oder Otto Brod 132 (Die Berauschten. Roman, 1934) als Newcomer-Werke verstehen. Allein 1934 wurden von Landauer und Kesten mehr als 100 Manuskripte abgewiesen, auch für die Jahre 1936/1937 wurden über 200 Ablehnungen registriert.133 Ausschlaggebend dafür war oft nicht die mangelnde literarische Qualität, sondern die Angst vor politischen Komplikationen (etwa im Falle von Oskar Maria Grafs Der Abgrund 134 ); manche Zusammenarbeit scheiterte auch an den Bedingungen, die v. a. prominente Autoren glaubten stellen zu können, etwa Heinrich Mann für seinen Henri Quatre, der dann bei Querido landete.135
Die Kooperation von Allert de Lange mit E. P. Tal (Wien) Bemerkenswert war der von Allert de Lange unternommene Versuch, die Bücher exilierter Autoren in das nationalsozialistische Deutschland zu liefern. Tatsächlich ist dies dem Verlag bis ins Jahr 1936 hinein gelungen, in Stückzahlen, die kalkulatorisch durchaus eine Rolle spielten. In den Geschäftsunterlagen ist dokumentiert, dass insgesamt dreizehn Titel in Deutschland verbreitet werden konnten, obwohl die Einfuhr von aus Emi-
130 Joseph Roth: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. 131 Allerdings musste in diesem – dem einzigen bekannten – Fall Marie Bonaparte die Herstellungskosten des Bandes in der Höhe von 1000 holl. Gulden und sämtliche Illustrationskosten übernehmen, siehe Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 92, Fn. 40. 132 Anders als seinem Bruder Max gelang es Otto Brod nicht, ins Ausland zu flüchten; er wurde 1944 in Auschwitz ermordet. 133 Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 116 bzw. S. 175, Fn. 449. 134 Siehe Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 116 f. 135 Genaueres dazu bei Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 115.
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grantenverlagen stammenden Büchern nach Deutschland verboten war.136 Durchgeführt wurde dies auf der Grundlage eines am 10. Oktober 1933 geschlossenen Gentlemen’s Agreement mit einem österreichischen Verlag, mit E. P. Tal in Wien,137 demzufolge AdL der Firma E. P. Tal den kommissionsweisen Vertrieb seiner Publikationen für das Gebiet des Deutschen Reiches auf drei Jahre überließ, und zwar mit 58 % Rabatt. Für diese Vertriebsschiene ließ AdL in seinen niederländischen Druckereien (meist L. E. Bosch in Utrecht) von ausgewählten Titeln »zweite Fassungen« herstellen, mit (meist) identischem Textdruck, aber mit dem Impressum »E. P. Tal, Wien-Leipzig«.138 Diese getarnten Titelauflagen wurden nach Deutschland gebracht und über die Auslieferungsfirmen Volckmar (Leipzig) bzw. Varia (Berlin) an das deutsche Sortiment gebracht bzw. über drei Reisende im norddeutschen, süddeutschen und Berliner Raum beworben. Tal hatte als österreichischer Verleger einen Zweigsitz in Leipzig und damit die Möglichkeit, die Bücher seines Verlages, soweit sie nicht verbotene Autoren betrafen, in Deutschland zu verbreiten. Auch waren die Autoren, die Tal auswählte – dem Agreement entsprechend fiel ihm das Recht zur Auswahl zu –, nicht mit ihrem Gesamtwerk oder vorerst gar nicht verboten: Max Brod mit drei Büchern (Die Frau, die nicht enttäuscht, 1933; Heinrich Heine, 1934; Novellen aus Böhmen, 1935), Christa Winsloe (Mädchen Manuela. Der Roman von Mädchen in Uniform, 1933), Otto Brod (Die Berauschten, 1934), Gina Kaus (Die Schwestern Kleh, 1933; Katharina die Große, 1935), Alfred Neumann (Neuer Cäsar, 1934; Königin Christine von Schweden, 1935), Adrienne Thomas (Dreiviertel Neugier, 1934), Ferdinand Bruckner (Mussia. Erzählung eines frühen Lebens, 1935), Joseph Roth (Die Hundert Tage, 1935) und Vincenz Brun (d. i. Hans Flesch-Brunningen, Alkibiades, 1936). Zwar befanden sich bestimmte Werke von Max Brod, Adrienne Thomas und Gina Kaus bereits auf der am 16. Mai 1933 im Börsenblatt
136 Eine detaillierte Darstellung dieser Kooperation bei Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 131‒ 147; und bei Nawrocka: Kooperationen, S. 62‒66 (mit Ergänzungen zu Schoor, die nur zehn in Deutschland verbreitete Titel kannte). Zusätzliche Informationen bei Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938, Bd. II, S. 421 f. 137 Der in Wien ansässige E. P. Tal Verlag brachte unter der Leitung seines Gründers Ernst Peter Tal (1888–1936) seit 1919 Werke zu zeitgeschichtlichen Themen heraus, später zunehmend Belletristik. Tal hatte zunächst bei S. Fischer in Berlin als Leiter der Theaterabteilung gearbeitet; seinen eigenen Verlag baute er mit Hilfe des Schweizer Literaten und Mäzens Carl Seelig auf, der bis 1923 als stiller Teilhaber fungierte. Nach Tals Tod wurde das Unternehmen von der Witwe Lucy Tal* (geb. Traub, 1896 Wien – 1995 New York) weitergeführt, bis zu ihrer Flucht nach Paris im März 1938. Seit Beginn 1937 hatte der Saarbrücker Dr. Alfred Ibach ein Beteiligungsverhältnis mit Optionskaufrecht. Im Zuge von L. Tals Weiteremigration über London in die USA erfolgte die »Arisierung« des Verlages; seit dem 19. März 1938 leitete Ibach den Verlag, den er zum Kaufpreis von 0,- Reichsmark übernehmen konnte. Am 10. Juni 1939 wurde der Name des E. P. Tal Verlags im Handelsregister gelöscht und durch Alfred Ibach Verlag ersetzt. Lucy Tal bemühte sich 1939 noch aus London um eine Zusammenarbeit mit Gottfried Bermann Fischer; ihr Plan, deutschsprachige Bücher in den USA zu vertreiben, zerschlug sich aber. Vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938, Bd. I, S. 409‒414, Bd. II, S. 415‒437; Schmiedt: Der E. P. Tal-Verlag; Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich 2002/1, S. 25‒27; Nawrocka: Kooperationen, S. 62 f. 138 Die im Grunde verräterische Nennung der holländischen Druckereien wurde beibehalten.
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abgedruckten ersten amtlichen Verbotsliste für schöne Literatur des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Im Prinzip handelte es sich aber um politisch unverfängliche Werke, zu einem beträchtlichen Teil um Romanbiographien berühmter Persönlichkeiten, wie sie bereits vor 1933 in Deutschland beliebt gewesen sind und auch nach 1933 gerne gelesen wurden. Nur ein Teil des AdL-Programms erfüllte beide Bedingungen, politische Unverfänglichkeit und gute Absatzerwartung, jedenfalls aus Tals Sicht. Von ihm abgelehnt wurden mindestens drei Titel, Karl Tschuppiks Maria Theresia (1934), René Schickeles Liebe und Ärgernis des D. H. Lawrence (1934) und Adrienne Thomasʼ Katrin! Die Welt brennt!. Der Maria Theresia-Roman Tschuppiks betonte aus der Sicht Tals zu sehr den Gegensatz Preußen ‒ Österreich, was bei der »Anschlusspolitik des Deutschen Reiches […] unbedingt Aerger hervorrufen« muss;139 prononciert linksgerichtete Autoren wie Bertolt Brecht oder Egon Erwin Kisch kamen grundsätzlich nicht in Betracht. Indessen hat Tal nicht nur Ablehnungsrechte, sondern auch Korrekturrechte, im Grunde also Zensurrechte, in Anspruch genommen. Er bekam die Titel schon als Korrekturfahnen zugesandt und schickte diese mit Streichungen und Änderungsvorschlägen zurück, somit in einer Fassung, die er für Abb. 5: Einer der Titel des Allert de geeignet hielt, ohne Beanstandung in Deutschland Lange-Verlags, die für eine Verbreitung in Deutschland mit der Verlagsvertrieben zu werden. Wo das nicht möglich war, angabe E. P. Tal & Co. am Titelblatt wo ganze Nebenhandlungen hätten gestrichen wer- erschienen sind. Dass das Buch in den müssen wie z. B. bei Georg Hermanns Ruths den Niederlanden, in Utrecht bei schwere Stunde, wo es ‒ so Tal ‒ dem Autor »leider L. E. Bosch & Zoon, gedruckt gefallen habe, an allen möglichen Stellen Bemer- wurde, wird im Impressum nicht kungen pazifistischen Inhalts oder Äußerungen über verschwiegen. allgemeine deutsche Zustände anzubringen«, dort verzichtete Tal schließlich auf eine Ausgabe.140 Umgekehrt lehnte etwa Hermann Kesten solche Änderungen an seinen eigenen Werken ab, mit dem Argument: Von einem für Deutschland sauber gemachten Text könnten wiederum die auswärtigen Verleger »einen schlechteren Eindruck erhalten als von einem ungestrichenen Buch«; dies hätte dann die für den Verlag und ihn selbst so wichtigen Übersetzungen in andere Sprachen gefährdet.141 139 Tal an Walter Landauer am 9. Oktober 1934 (IISG 70/113), hier zit. n. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 136. 140 Brief E. P. Tal an AdL vom 21. Februar 1934 (IISG 69/40), hier zit. n. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 133 f. 141 Schoor setzt hier hinzu: »‒ ein Geschäft, an dem Kesten mehr gelegen schien als an einem auf die Dauer wenig erfolgversprechend anmutenden Verkauf seiner Bücher in Deutschland.« (Schoor, S. 134).
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Tal hatte noch öfter Einwände, wie erwähnt auch gegenüber Adrienne Thomasʼ Katrin! Die Welt brennt!, ein Roman, in dem ein Nationalsozialist geschildert wird. Dazu E. P. Tal: »Der an sich ausgezeichnete Titel ist Hindernis genug; der junge Nationalsozialist macht aber die Sache gänzlich unmöglich. Herr Goebbels muß mit Recht der Meinung sein: unsere Hitlerjungen schildern wir uns alleene«.142 Wenn Tal hier als verlängerter Arm der Nazi-Zensur erscheint, so ist doch zu bedenken, dass er bei der Verbreitung der AdL-Bücher ein beachtlich hohes Risiko einging. Ohnehin hatte er ständig Angst vor Pannen; so durften die Büchersendungen, die bis 1934 direkt aus Holland nach Leipzig gingen, keinen Hinweis auf den Absender enthalten, wie Tal anmahnte, auch nicht in gekürzter Form. Im Februar 1934 wurde denn auch eine Bücherwagensendung an die Fa. Volckmar mit 190 Exemplaren vom Leipziger Zoll beschlagnahmt; die Kriminalpolizei entnahm ein Exemplar zur Prüfung und schickte sie an die zuständige Zentralstelle in Berlin weiter. Da Tal sich vertraglich ausbedungen hatte, in einem solchen Fall nicht für die entstandenen Verluste einstehen zu müssen und somit solche Verluste allein von AdL zu tragen waren, unternahm er auch keine Protestschritte. Dies tat in diesem Fall der betroffene Autor, Max Brod, der als tschechoslowakischer Staatsbürger die Freigabe seines Romans erreichte (bis auf 19 Exemplare).143 Solange das System funktionierte, war es für die Beteiligten finanziell durchaus lukrativ. Von den ersten solcherart vertriebenen Titeln dürften jeweils rund 2.000 Exemplare verkauft worden sein; selbst ein Absatz von 500 bis 1.000 Exemplaren, wie er für die späteren Titel typisch gewesen sein dürfte, trug noch wesentlich zum Gesamtabsatz der Bücher bei, die ja oft nur in 2.000‒3.000 Exemplaren aufgelegt worden sind.144 In den überlieferten Kalkulationen des Verlags wird deutlich, dass der Deutschlandabsatz immer wieder in die Berechnungen miteinbezogen worden ist. Auch von Autorenseite war man mit dieser zusätzlichen Absatzchance hochzufrieden, wie etwa Alfred Neumann in einem Brief an den mit ihm befreundeten Alexander Moritz Frey in Bezug auf seinen Neuen Cäsar bekundete; ihm gefiel es, dass für das Reich das Buch unter E. P. TAL WIEN segelt (ein […] reizender und ein wenig tolldreister Versuch, ganz im Stillen und dennoch ›legal‹ ein paar tausend Exemplare ›einzuführen‹, mittels wohlwollender und im Herzen treuer Sortimenter, von denen es in jeder Stadt ein paar geben soll, München, Berlin, Hamburg, Köln und anderen Oppositionsburgen sogar ganz heroische, die es – nicht ganz vorne – in die Auslagen legen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es nach etlicher Zeit verboten wird).145 Neumann selbst übermittelte an Allert de Lange Adressen von Münchener Buchinteressenten, die E. P. Tal für seine Prospektwerbung nutzen sollte. Tatsächlich konnte er ein halbes Jahr später an Frey berichten: 142 Tal an Walter Landauer am 21./22.Januar 1936 (IISG 67/330), hier zit. n. Schoor, S. 134. 143 Schoor, S. 139. 144 Siehe dazu auch die Verkaufsübersichten Januar bis August 1934 und Januar bis Juni 1936 bei Schoor, S. 137 bzw. 145‒147. 145 Alfred Neumann aus Florenz an Alexander Moritz Frey, 20. September 1934, Leo Baeck Institute, Alfred Neumann Collection AR 4983, Autographs 2 [online; http://www.archive. org/stream/alfredneumannf004#mode/1up].
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Der NC steht etwa im 10. Tsd. Er wird voraussichtlich das 12. Tsd. nicht überschreiten, aber diese Zahl ist nicht nur für ein Emigrantenbuch, sondern sogar auch für ein drittreichliches stattlich. In Deutschland wurde es still, aber zäh gekauft, in der E. P. Tal-Ausgabe, und manche ganz mutige Städte wie Berlin, Frankfurt, Köln – nicht München – stellten das Buch sogar ins Fenster. Bisher ist es nicht verboten …146 Neumann mag hier die Werbemöglichkeiten für solche Bücher überschätzt haben, denn in Wahrheit waren diese in höchstem Maße eingeschränkt. Im Übrigen hatte man seitens der beteiligten Verlage nicht nur die Behörden, sondern auch den Neid der deutschen Verlegerkollegen zu fürchten, von denen zu erwarten stand, dass sie solche Tricks ausländischer Verleger nicht hinnehmen würden. Das de Lange / Tal-System litt seit 1934 auch unter Devisenbehinderungen: Bedingt durch das deutsch-österreichische ClearingAbkommen vom August 1934 war die Direktlieferung von Amsterdam aus nicht möglich, denn es musste für jede Lieferung nach Deutschland eine Bewilligung der Österreichischen Nationalbank eingeholt und den Büchern für die Verzollung beigelegt werden; dies setzte natürlich voraus, dass die Bücher von Wien nach Leipzig geschickt wurden.147 Aufgrund der daraus resultierenden Transportschwierigkeiten, vor allem aber wegen der verschärften Überwachung des Buchimports verlor diese riskante Vertriebsschiene fortschreitend an Bedeutung. Spätestens seit Ende 1935 war klar, dass die deutschen Behörden Kenntnis von dem Verfahren hatten und es nicht mehr lange tolerieren würden. Es kam zunehmend zu Verlusten durch örtliche Beschlagnahmungen; so im März 1936 bei Tals Berliner Auslieferung Varia. Betroffen waren Max Brods Novellen aus Böhmen, ein in Deutschland nicht explizit verbotenes Buch, doch galt Brods Gesamtwerk als »unerwünscht«. So musste der Auslieferer seinem Wiener Kunden mitteilen: »Wir wurden darüber belehrt, dass man zur Zeit hier auf dem Standpunkt steht, dass unerwünscht und verboten das Gleiche wäre«.148 Da diese Beschlagnahmungen auch im Börsenblatt bekanntgegeben wurden und dadurch für alle Buchhändler verpflichtenden Charakter bekamen, sich also jeder Auslieferer und Buchhändler mit einem Bezug dieser Titel strafbar machte, wurde die Vertriebskooperation im Frühsommer 1936 eingestellt.149 Der Einmarsch deutscher Truppen in die Niederlande im Mai 1940 und die Einsetzung eines Reichskommissars, Arthur Seyß-Inquart, bedeutete das Ende der Exilverlagsabteilung von Allert de Lange. Im selben Monat stürzte sich Landauer aus dem Fenster seiner Pension, als er einen SA-Mann an der Türe klingeln sah und dies irrtümlich auf sich bezog. Nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt gelang es ihm nicht mehr, das Land zu verlassen. Er tauchte bis zum Sommer 1943 bei Freunden eines Bekannten unter, die ihn und seine Mutter mit zehn weiteren Juden mitten in Amsterdam in einer Villa versteckt hielten. Im Frühherbst 1943 versuchte er, über Belgien und Frankreich in die Schweiz zu entkommen, wurde auf der Flucht aber von der Gestapo verhaftet, in das Straflager von Westerbork gebracht und im Januar 1944 ins Konzentra-
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Alfred Neumann an A. M. Frey am 3. März 1935, ebd. Nawrocka: Kooperationen, S. 64. E. P. Tal an Walter Landauer am 20. März 1936 (IISG 67/368); hier zit. n. Nawrocka, S. 65. Wenige Monate später, im November 1936, verstarb Ernst Peter Tal.
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tionslager Bergen-Belsen deportiert, wo er am 20. Dezember 1944 in den Armen eines Mithäftlings, seines Freundes Friedrich Sussmann*, den Hungertod erlitt. Das Einsatzkommando des SD, das am 12. Juni 1940 in Den Haag Quartier nahm, hatte zur »Ausmerzung des reichsfeindlichen Schrifttums« in Zusammenarbeit mit der Gestapo Beschlagnahmungen bei Querido und Allert de Lange vorgenommen; von sämtlichen konfiszierten Büchern sollten jeweils zehn Exemplare an das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin abgesendet werden; die übrigen Bücher sollten eingestampft werden.150 A. P. J. Kroonenburg, nach dem Untertauchen Landauers Leiter der deutschen Abteilung des Allert de Lange-Verlags, wurde hierfür in die Verantwortung genommen, auch was die Vernichtung der Drucksätze in den Druckereien betraf.
Schweiz Die Verlage Emil Oprechts In der Schweiz verliefen die Versuche von Emigranten, Verlage zu errichten, vielfach problematisch. Die Erlaubnis zur Niederlassung als Verleger musste dort von den städtischen, kantonalen und eidgenössischen Behörden erteilt werden; die Schweizerischen Buchhändler und Verleger (mit Ausnahme von Emil Oprecht) unternahmen jedoch alles, um solche Fälle zu verhindern, aus Sorge, von ins Land strömenden Konkurrenten erdrückt zu werden.151 Daher gelang eine Ansiedlung nur Firmen von beschränkter Bedeutung, nicht aber größeren Unternehmen. Umso eindrucksvoller wirkt das vorbehaltlose Engagement eines einheimischen Verlages für die Exilliteratur, jenes von Emil Oprecht (1895–1952),152 der in seinen beiden Verlagen Helbling & Oprecht und dem Europa-
150 Siehe Schroeder: »Dienstreise nach Holland 1940«, S. 41. An den Durchsuchungs- und Beschlagnahmungsaktionen in niederländischen Verlagen waren noch andere Instanzen beteiligt, u. a. der »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg« mit einer »Arbeitsgruppe Niederlande«, der berichtete, es seien »die Werke in deutscher Sprache der Emigrantenverlage Allert de Lange, Querido, Fischer-Beermann(!), Forum-Zeek, die Kultura-Buchhandlung und die Bücher des Pegasus-Verlages, alles Amsterdam, insgesamt 17 Kisten« verpackt worden. (Zit. n. Schroeder, S. 43). 151 Über die Schweiz als Exilland siehe das Kap. 1 Geschichtliche Grundlagen. 152 Emil Oprecht und seine Verlage waren vergleichsweise früh Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung, allerdings nicht aus spezifisch buchwissenschaftlicher Sicht: Peter Stahlberger (Der Zürcher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration 1933‒1945. Zürich: Europa 1970) hat auf Innenansichten des Verlagsbetriebs verzichtet, wie sie etwa K. Schoor zu Allert de Lange vorgestellt hat. Seit 1992 befinden sich Teile des Oprechtund Europa-Verlagsarchivs aus dem Nachlass von Emmie und Emil Oprecht in der Zentralbibliothek Zürich. Anfang 2020 ist eine weitere Biographie erschienen (Christoph Emanuel Dejung: Emil Oprecht. Verleger der Exilautoren. Zürich: rüffer & rub 2020), die streckenweise bislang nicht genutztes Archivmaterial verarbeitet, insgesamt aber das bekannte Bild des Verlegers nicht verändert und mehr den Charakter eines Sachbuchs als den einer wissenschaftlichen Studie hat.
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Verlag zahlreichen aus Deutschland und Österreich geflüchteten Schriftstellern eine neue verlegerische Heimat gab.153 Emil Oprecht hatte nach einem Volkswirtschaftsstudium und einer Buchhändlerlehre in Zürich seit 1921 in der sozialistischen Unionsbuchhandlung gearbeitet, zuletzt als deren literarischer und geschäftlicher Leiter.154 Wie sein Bruder Hans schon als Jugendlicher politisch engagiert, war er der (damals von Willi Münzenberg geleiteten) »Sozialdemokratischen Jugendorganisation« beigetreten; 1921‒1924 war er Mitglied der Kommunistischen Partei, 1926 schloss er sich wieder der Sozialdemokratischen Partei an. 1925 gründete er zusammen mit Conrad Erhard Helbling die Firma Dr. Oprecht & Helbling, die sich im Reise-, Versand- und Kommissionsbuchhandel betätigte, der aber auch ein Verlag angegliedert war. Helbling trug entscheidend zur Finanzierung der Gründung bei, blieb aber nur etwa ein Jahr lang daran aktiv beteiligt; die Geschäftsführung lag von Anfang an bei Emil Oprecht und seiner Frau Emmie, die seine Überzeugungen teilte. 1929 kam in dem Haus in der Rämistraße 5 auch ein Ladenlokal dazu; außerdem wurde die Firma – jetzt als Bücherstube und Versandbuchhandlung Dr. Oprecht & Helbling AG in eine Aktiengesellschaft mit Oprecht als einzigem Verwaltungsrat umgewandelt. Der Schweizerische Buchhändlerverein (SBV) machte Oprecht wegen dessen früherer Tätigkeit in der Unionsbuchhandlung und Nichteinhaltung des festen Ladenpreises Schwierigkeiten durch Belieferung mit geringerem Rabatt, nahm ihn aber 1926 doch in seine Organisation auf. Neben dem Sortiments- und Versandbuchhandel gewann der Verlag zunehmend an Bedeutung; gleichgesinnten, humanistisch-marxistisch und auf gesellschaftliche Veränderung ausgerichteten Autoren sollte eine Publikationsplattform geboten werden. Beispiele dafür sind der Bekenntnisroman Alfred Trabers Unser Weg (1925), Emil J. Walters Auseinandersetzung mit der marxistischen Wirtschaftstheorie Kapitalismus (1930) oder Elisabeth Thommens Reisebericht Blitzfahrt durch Sowjetrussland (1933). Oprecht brachte auch eine Zeitschrift Information heraus, zu deren führenden Mitarbeitern der 1930 vor dem italienischen Faschismus in die Schweiz geflohene, aus der KP ausgeschlossene Ignazio Silone gehörte. Silone war es dann, der 1933 mit seinem Roman Fontamara dem Oprechtschen Verlag den ersten großen Absatzerfolg bescherte und durch mehrere Auflagen sowie Verkauf von Übersetzungsrechten die Grundlage für den weiteren Ausbau des Verlags legte. Als 1933 die ersten Hitlerflüchtlinge in der Schweiz eintrafen, bekannte sich Oprecht in der Information zu der Schweizerischen Asyltradition, derzufolge mit Flüchtlingen sowohl materielle wie geistige Solidarität zu üben sei. Anders als das Land hielt er persönlich sich in den folgenden Jahren vollkommen an diese Auffassung, indem er seinen gesamten Verlag den vor dem Nationalsozialismus geflohenen Schriftstellern öffnete.155 Zu dem Verlag Oprecht & Helbling kam dann
153 Angemerkt sei, dass deutschsprachige Exilliteratur auch noch in anderen Schweizer Verlagen herausgebracht worden ist, so bei Rascher, Eugen Rentsch u. a. m.; doch gewann dies nicht annähernd eine solche Bedeutung wie bei Oprecht, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden soll. 154 Dieses und das Folgende nach Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 81‒102. 155 Oprecht stellte den emigrierten Autoren auch die Information als Publikationsplattform zur Verfügung, doch bestand die Zeitschrift aufgrund andauernden Abonnentenschwunds nur bis Februar 1934.
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noch im Jahr 1933 ein weiterer hinzu, dessen Entstehung mit der Gründung der ExilBüchergilde Gutenberg in Zürich zusammenhängt: Zur Umgehung eines vom Schweizerischen Buchhändlerverein verhängten Boykotts war von Hans Oprecht als dem Präsidenten der Genossenschaft Büchergilde Gutenberg zusammen mit seinem Bruder Emil eine Europa Verlags-Aktiengesellschaft gegründet worden, deren Zweck eigentlich darin bestehen sollte, neben der Publikation von Büchern auch die Werke der Büchergilde über den Sortimentsbuchhandel zu verbreiten.156 Da sich diese Hoffnung nicht erfüllte und sich daraus sowohl persönliche wie finanzielle und sachliche Konflikte ergaben, zog sich die Gilde Ende 1934 daraus zurück; seit Januar 1935 gehörte der Europa Verlag alleine dem Ehepaar Oprecht. Damit standen nun zwei Verlage zur Verfügung, die der »Wachhaltung des demokratischen Gedankens nach besten Kräften« dienen und dem »wertvollen deutschsprachigen Buch eine Tribüne« bieten wollten.157 Darüberhinaus entwickelten sich die Buchhandlung und die Verlagsräume, aber auch die nahegelegene herrschaftliche Wohnung von Emmie und Emil Oprecht zum bedeutendsten Exilantentreff Zürichs und zu einem Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Denn die Oprechts organisierten nicht nur – gegen den Widerstand rechtskonservativer Kreise – regelmäßige öffentliche Lesungen und Vortragsabende für geflohene Schriftsteller, sondern leisteten »erste Hilfe« mit Kleidung und Möbeln und waren ihnen vor allem auch in jeder Weise bei der Beschaffung von Aufenthaltserlaubnissen oder Visa behilflich; für dieses Engagement in der Fluchthilfe erhielten sie später Dankesbriefe von Präsident Roosevelt und Premier Winston Churchill.158 Häufig wird hierzu Curt Riess zitiert: »Jeder Hitlergegner, der in Zürich Station machte, tauchte früher oder später bei Oprecht auf«.159 Im Zusammenhang mit diesem Engagement wurden auch Publikationen mit karitativem Zweck herausgebracht, so etwa die Anthologie Dichter helfen von 1936; in diesem Fall überließen 16 Autoren, unter ihnen Schalom Asch, Bernard von Brentano, Selma Lagerlöf, Emil Ludwig, André Malraux, Heinrich und Thomas Mann, Alfred Polgar und Upton Sinclair, dem Oprecht Verlag honorarlos ihre Texte, um Geld für vertriebene Intellektuelle zu sammeln; der Erlös aus dem Sammelband kam dem Genfer Comité International pour le Placement des Intellectuels Réfugiés zugute. Die beiden Verlage hatten unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und daher unterschiedliche Profile, auch wenn es im Programm doch gewisse Berührungspunkte gab. Der Verlag Oprecht & Helbling brachte hauptsächlich Belletristik, in erster Linie zeitgenössische Romane und sonstige Erzählliteratur, aber auch dramatische Werke und Lyrik; dazu kamen Kunstbücher, literaturgeschichtliche und wirtschaftsgeschichtliche Werke. Der Europa Verlag hatte ein politischeres Programm, insofern er bestrebt war, »Stimmen aus allen Lagern Gehör zu verschaffen, die zur Lösung der wesentlichen Probleme unserer Zeit beitragen können«.160 Dazu gehörten vor allem das politische Sachbuch und die
156 Siehe hierzu Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 106 f. 157 Emil Oprecht, Vorwort zum Verlagsverzeichnis 1939; hier zit. n. Stahlberger, S. 107. 158 Genaueres auch zu den diesbezüglichen Selbstauskünften Emmie Oprechts bei Stahlberger, S. 104. 159 Curt Riess: Sein oder Nichtsein. Zürcher Schauspielhaus – Der Roman eines Theaters. Zürich 1963, S. 159. 160 Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 107.
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Abb. 6: Dieses verlegerische Hilfsprojekt kennzeichnet einmal mehr die von Emil und Emmie Oprecht vielfach bewiesene Bereitschaft, den verfolgten Schriftstellern jede Form von Unterstützung zu gewähren.
politische Biographie, auf aktuelle Entwicklungen Bezug nehmende Broschüren, aber auch eindringlichere fachhistorische, geistesgeschichtliche oder philosophische Werke. Dem Europa Verlag wurden 1937 zwei Imprints angegliedert, der Verlag Der Aufbruch, in welchem Socialistica erschienen, und der Verlag Die Gestaltung, der Judaica herausbrachte. Emil Oprecht zeigte sich sehr offen, was die Auswahl der in seinen Verlagen publizierenden Autoren betrifft; es waren darin unterschiedlichste weltanschauliche und literarische Richtungen vertreten; nur ausgesprochen parteikommunistische Literatur blieb außen vor. Von den ca. 300 Schriftstellern, die 1933 bis 1945 in den beiden Verlagen zu Wort kamen, waren rund 100, also etwa ein Drittel, aus Deutschland und Österreich geflüchtet, auf 200 aber traf dieses Merkmal nicht zu. Rund 50 % der Europa-Verlagsautoren und nur 25 % der Oprecht & Helbling-Autoren waren deutscher Nationalität; trotzdem schützte dieses Verhältnis Oprecht nicht vor dem öffentlich erhobenen Vorwurf, die Verlagsprogramme seien zuwenig schweizerisch ausgerichtet.161 Oprecht verwies demgegenüber darauf, dass die Pflege des einheimischen Schrifttums keine Spezialaufgabe darstelle, sondern in der allgemeinen Verpflichtung zur Herausgabe von Büchern freiheitlicher Gesinnung bereits enthalten sei. Im Grunde signalisierte ja bereits der Name Europa Verlag, dass Oprecht sich nicht auf eine rein schweizerische Perspektive einschränken, sondern in größeren Zusammenhängen agieren wollte. Oprechts vorbehaltlos
161 Zu diesen Zahlen, den erhobenen Vorwürfen und Oprechts Rechtfertigung siehe Stahlberger, S. 108 f.
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positive Einstellung zur deutschsprachigen Emigration blieb in der Schweiz weiterhin angefeindet; nicht nur der einflussreiche Literaturkritiker der Neuen Zürcher Zeitung Eduard Korrodi stand der Exilliteratur ablehnend gegenüber, auch der Schweizerische Schriftstellerverein (SSV) – ein hochproblematisches Faktum, da die Behörden die Gesuche der Emigranten und ihrer Verleger um Publikationserlaubnis diesem Verein zur Stellungnahme vorlegten. Der SSV wollte zwar prominente Autoren oder sich schriftstellerisch betätigende politische Flüchtlinge tolerieren, wandte sich aber vehement »gegen die kleinen Zeilenschreiber, gegen die verantwortungs- und charakterlosen Skribenten, die weder zu den Prominenten noch zu den politisch Verfolgten zu zählen sind, und die in die Schweiz kommen, weil sie glauben, hier ein bequemeres Leben führen zu können«.162 Abgelehnt wurden u. a. die Gesuche von Alfred Polgar, Bruno Schönlank oder auch Golo Mann. Oprecht fand aufgrund guter Beziehungen zu diversen Behörden oft noch ein Schlupfloch; Tatsache war aber auch, dass der überwiegende Teil der von ihm herausgebrachten Exilwerke von Autoren stammte, die außerhalb der Schweiz Zuflucht gefunden hatten und daher nicht den arbeits- und fremdenrechtlichen Bestimmungen des Landes unterlagen. Oprechts Engagement für die deutsche Exilliteratur ist in seiner Bedeutung auch vor dem Hintergrund zu beurteilen, dass der SSV und der Schweizerische Buchhändlerverein alles unternahmen, um die Ansiedlung emigrierter deutscher Verleger zu verhindern. Der Fall Bermann Fischer163 ist hier nur der auffälligste unter vielen; so etwa wurde auch Edwin Maria Landaus* Ansuchen, den von ihm geleiteten, dem GeorgeKreis nahestehenden Verlag Die Runde in die Schweiz transferieren zu dürfen, abgelehnt. In diesem emigrationsfeindlichen Ambiente also stellte Emil Oprecht unbeirrt seine Verlage in den Dienst der unbehausten Exilliteratur, und dies, obwohl aufgrund des eingeschränkten Absatzgebietes damit keine großen Gewinne zu erwarten waren. Auch war der ganz individuell zu organisierende Vertrieb in unterschiedliche Länder Europas und der Welt teurer als zuvor über den Leipziger Platz, und nicht zuletzt litten auch die Schweizer Verlage unter der Buchexportförderung des Dritten Reiches. Und wie in Österreich wurden auch in der Schweiz in großem Stil in Deutschland beschlagnahmte Bücher verramscht, was zu Lasten des Absatzes der regulären Produktion ging. Positiv zu Buche schlug, dass Oprecht von einer Reihe von Titeln Übersetzungslizenzen ins Ausland verkaufen konnte. Der Verleger nahm aber im Sinne einer »Mischkalkulation« oder besser Quersubventionierung der Titel immer wieder riskante oder verlustbringende Geschäfte in Kauf; nur in vereinzelten Fällen suchte er auch finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, etwa durch die American Guild for Cultural Freedom. Emil Oprecht blieb als Verleger standhaft, obwohl er immer stärker unter Druck gesetzt wurde: Im Sommer 1937 suchte das Dritte Reich die schweizerische Regierung zu einem Einschreiten gegen die Veröffentlichung von Emigrantenliteratur zu veranlassen, und Oprecht erhielt denn auch am 16. Juli eine Verwarnung des Bundesrates aufgrund der Herausgabe von »Tendenz- und politischer Kampfliteratur«, die geeignet sei,
162 Der SSV in einem Schreiben an die Eidgenössische Fremdenpolizei vom 25. Mai 1933; hier zit. n. Stahlberger, S. 110. 163 Siehe in diesem Kapitel weiter unten den Abschnitt zum Weggang Gottfried Bermann Fischers aus Berlin.
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staatliche Einrichtungen Deutschlands und besonders dessen Staatsoberhaupt in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Oprecht habe damit gegen die vom Bundesrat ausgegebenen Empfehlungen verstoßen, sich neutral zu verhalten, »das Erfordernis freundschaftlicher Beziehungen mit den Nachbarstaaten« im Auge zu behalten und die Gefahren zu beachten, »die mit dem Überhandnehmen einer unschweizerischen und unneutralen politischen Emigrantenliteratur verbunden sind«; stattdessen »stellen Sie seit einiger Zeit Ihre Verlagsunternehmen denjenigen Ausländern zur Verfügung, die es auf die Bekämpfung des politischen Regimes in Deutschland abgesehen haben«.164 Obwohl der Bundesrat bei Fortsetzung dieser Praxis mit weiteren Maßnahmen drohte, tat Oprecht genau dies: Er publizierte weiterhin NS-kritische Literatur von Emigranten und war davon auch nicht abzubringen, als er Anfang August 1937 aus dem Börsenverein der deutschen Buchhändler ausgeschlossen wurde. Monatelang hatte er, hier auch die Unterstützung des Schweizerischen Buchhändlervereins in Anspruch nehmend, dagegen angekämpft, mehr aus Prinzip, denn er hatte nur einzelne seiner Exiltitel nach Deutschland zu liefern gesucht und nur solche, die nach den dortigen Gesetzen und Regelungen nicht definitiv verboten waren. Allerdings galt es ja auch, das zahlenmäßig überwiegende nichtemigrantische Bücherprogramm im deutschsprachigen Raum abzusetzen. Als aufschlussreiches Dokument darf seine 15-seitige Verteidigungsschrift gelten, die er kurz vor der entscheidenden Verhandlung nach Deutschland sandte und in der er das – früher auch vom Börsenverein vertretene – historische Gewohnheitsrecht verteidigte, in politisch bewegten Zeiten auch Emigranten zu Wort kommen zu lassen.165 Bezeichnend aber auch die Begründung des Ausschlussurteils des BV, derzufolge nicht die politische Haltung des Verlegers ausschlaggebend sei, sondern die unwahrheitsgemäße Darstellung, die Verunglimpfung, Verächtlichmachung und Beschimpfung des deutschen Volkes, seines Reichskanzlers, der Reichsregierung und der nationalsozialistischen Bewegung. Dabei sei es unbeachtlich, dass Oprecht solche Schriften nicht selbst verfasst habe, »denn jeder Buchhändler, ob Verleger, ob Sortimenter, ist für die von ihm verlegten und vertriebenen Bücher voll verantwortlich«.166 Eine Berufung Oprechts blieb ebenso erfolglos wie eine Eingabe des SBV. Für Oprecht & Helbling und den Europa Verlag änderte sich dadurch nicht allzuviel, denn schon auf der ersten Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums von 1935/1936 standen mit 17 Titeln fast alle bis dahin erschienenen Emigrantenbücher, und in der überarbeiteten Liste vom Dezember 1938 waren die Oprechtʼschen Verlage dann mit ihrer Gesamtproduktion verboten; auch wurden die in Leipzig lagernden Bücher konfisziert. Letztlich noch schwerer getroffen wurde Oprecht von der schon Ende 1937 erfolgten Streichung seiner Buchhandlung aus dem Adressbuch des deutschen Buchhandels, die somit nicht mehr mit normalem Buchhändlerrabatt beliefert werden durfte. Da die Buchhandlung mit ihren stetigen Gewinnen die Verlage mitfinanziert hatte, bedeutete dies eine Schwächung des gesamten Unternehmens. Dabei hatte die Produktion der beiden Verlage gerade in den Jahren 1937 und 1938 ihren Höhepunkt erreicht.
164 Hier zit. n. Stahlberger, S. 121. Vgl. dazu auch S. 332 die Ausschnitte aus den exilrelevanten Bundesratsbeschlüssen. 165 Genaueres bei Stahlberger, S. 132 f. 166 Zit. n. Stahlberger, S. 134.
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Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bewirkte dann eine deutliche Zäsur, mit einem Rückgang der Exilliteratur im Gesamtprogramm, mit dem Ausfall der in die USA emigrierten Autoren aufgrund der Kommunikationsprobleme und mit einer grundsätzlichen geistigen Umorientierung, vor allem einer Weitung der Perspektive von Deutschland hin auf Europa und die Weltpolitik.167
Das Verlagsprogramm von Oprecht & Helbling Die Programme des Oprecht & Helbling sowie des Europa Verlags umfassten zwischen 1933 und 1945 alleine im Bereich Exilliteratur mehr als 140 Titel, wobei auf jeden der beiden Verlage rund die Hälfte entfiel.168 Im prononciert literarischen Programm des Verlags Oprecht & Helbling, der ab Mitte der 1930er Jahre nur noch als Oprecht Verlag firmierte, herrschte gattungsmäßig eine erstaunliche und im Exilverlagswesen in dieser Form einmalig zu nennende Vielfalt, insofern hier neben der Erzählliteratur auch Drama und Gedicht in beachtlichem Ausmaß zum Zuge kamen. Die Publikation von Theatertexten erklärt sich hauptsächlich aus der engen Beziehung Emil Oprechts zum Züricher Schauspielhaus: Auf seine Initiative hin war 1938 die bis dahin privatwirtschaftlich geführte Bühne vor dem Zusperren gerettet worden, indem er gemeinsam mit dem Dramaturgen Kurt Hirschfeld und mit Unterstützung durch einen sozialdemokratischen Abgeordneten sowie der Stadt Zürich die Neue Schauspiel AG gründete, der er bis 1952 als Verwaltungsratspräsident, seit 1940 auch als kaufmännischer Direktor vorstand. Damit war der Verbleib des aus zahlreichen Emigranten bestehenden Ensembles gesichert und der – später legendär gewordene – intensive Spielbetrieb konnte unter Mitwirkung u. a. von Therese Giehse, Albert Bassermann, Wolfgang Langhoff, Kurt Horwitz, Leonard Steckel und ganz besonders von Regisseur Leopold Lindtberg fortgesetzt werden. Nicht nur einige der bedeutendsten Stücke Bertolt Brechts erlebten hier ihre Uraufführung (Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan, Leben des Galilei, Herr Puntila und sein Knecht Matti), sondern auch Dramen wie Ferdinand Bruckners Die Rassen (UA 1933; Buchausgabe1934) oder Georg Kaisers Der Soldat Tanaka (1940). Die letzteren beiden Stücke erschienen in Buchform im Oprecht-Verlag, von Kaiser kamen 1940 auch Alain und Elise und Rosamunde Floris heraus. Aber nicht alle bei Oprecht verlegten Dramen wurden in Zürich aufgeführt; exemplarisch zu nennen wäre hier Bernard von Brentanos Phädra (1939).169 Schon vor seinem Engagement für das Schauspielhaus Zürich hatte Oprecht Friedrich Wolfs 1934 in Zürich u. d. T. Professor Mannheim uraufgeführtes Drama Doktor Mamlocks Ausweg. Tragödie der westlichen Demokratie (auf dem Umschlag: Professor Mamlock, 1935) und dessen Schauspiele Floridsdorf und Die Matrosen von Cattaro (wie
167 Vgl. Stahlberger, S. 289 f. 168 Stahlberger charakterisiert in seiner Verlagsgeschichte die Produktion teilweise ausführlich, aber eingeschränkt auf das Thema »Deutschland«. Vgl. dort auch das Verzeichnis »Emigrantenpublikationen aus Emil Oprechts Verlagen, 1933‒1945«, S. 385‒390. Vgl. ferner den Verlagsalmanach: 1945. Europa Verlag, Verlag Oprecht, Zürich, New York (1945) »Für die Bücherfreunde«; mit mehreren Beiträgen und einem Verlagsverzeichnis S. 81‒104. 169 Phädra wurde erst 1947 in Darmstadt uraufgeführt.
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Professor Mamlock in seitenidentischer Ausgabe bei der VEGAAR in Moskau erschienen), im gleichen Jahr auch Julius Hays Gott, Kaiser und Bauer im Druck herausgebracht. Seit 1944 erschien bei ihm auch die »Schriftenreihe des Schauspielhauses Zürich«. Der Verleger Oprecht gab in beachtlichem Maße auch der Lyrik Raum, wobei ein Schwerpunkt auf der Thematisierung des Exils lag. Das galt etwa für Max HerrmannNeißes Um uns die Fremde (1936 erschienen mit einem Vorwort von Thomas Mann; posthum kamen 1946 noch Herrmann-Neißes Gedichte Erinnerung und Exil heraus, mit einem Nachwort von Stefan Zweig). Auch Else Lasker-Schülers Prosadichtung Das Hebräerland (mit 8 Zeichnungen von E. L.-S.; 1937) zählt dazu, in jedem Fall aber auch die Gedichtbände von Hermann Adler (Gesänge aus der Stadt des Todes, 1945; Balladen der Gekreuzigten, der Auferstandenen, Verachteten, 1946), Bruno Schönlank (Lass mich Brot sein. Ausgewählte Gedichte, 1940) und Hugo Wolfgang Philipp (Melodie der Fremde. Lieder aus dem Exil, 1945). Später kam noch hinzu Martha Hofmann mit Die Sternenspur. Neue Gedichte (1948); bereits in den 1930er Jahren hatte Oprecht Gedichtbände von Stephan Lackner (Die weite Reise. Gedichte, 1937), Fritz Brügel (Gedichte aus Europa; 1. Aufl. im Verlag Der Aufbruch 1937; 2. Aufl. Oprecht 1945) und Oskar Seidlin (Mein Bilderbuch, 1938) publiziert. Ebenfalls hier einzuordnen wäre Hans Sahl mit Jemand. Ein Chorwerk, erschienen 1938 mit Holzschnitten »Die Passion des Menschen« von Frans Masereel. Der Schwerpunkt des Oprecht-Programms lag aber ganz eindeutig auf Romanen und Erzählungen. Von der besonderen Bedeutung Ignazio Silonesʼ Fontamara-Roman für das Ingangkommen der Verlagsproduktion ist bereits die Rede gewesen, von Silone kamen 1934 auch fünf Novellen in dem Band Die Reise nach Paris heraus. Auch ist hier wieder Bernard von Brentano zu nennen, der nach den literarisch beachtlichen Berliner Novellen (1934) im Jahr 1936 mit Theodor Chindler. Roman einer deutschen Familie sein erzählerisches Hauptwerk vorlegte. Einen eindringlichen Zeitroman veröffentlichte später seine jüngere Schwester Marie Louise von Brentano mit Aber für uns ging die Sonne unter (1945). Im Übrigen repräsentiert die Publikationsliste des Verlags gleichsam einen Querschnitt durch die gesamte literarische Emigration, beginnend bei Ulrich Becher (Die Eroberer. Geschichten aus Europa. Geleitwort von Ernst Glaeser, 1936), Louis Fürnberg (Das Fest des Lebens, 1939), Hans Habe (Wohin wir gehören, 1948), Emil Ludwig (Über das Glück und die Liebe, 1940), über Walter Mehring (Die Nacht des Tyrannen, 1937), Peter de Mendelssohn (Das Haus Cosinsky, 1934), Ludwig Renn (Vor großen Wandlungen, 1936; im gleichen Jahr auch in der Universum-Bücherei in Basel erschienen), Walter Schönstedt (Das Lob des Lebens; in Kooperation mit dem New Yorker Verlag Farrar & Rinehart, 1938), Adrien Turel (Weltleidenschaft, 1940, und Die Greiselwerke. Kriminalroman, 1942), bis zu Franz Carl Weiskopf (Die Versuchung. Roman eines jungen Deutschen; mit Schutzumschlag von John Heartfield, 1937), Friedrich Wolf (Zwei an der Grenze,1938) und Theodor Wolff (Der Krieg des Pontius Pilatus, 1934; Die Schwimmerin. Roman aus der Gegenwart, 1937). An die Romanliteratur lagerten sich noch essayistische Bücher von Alfred Polgar an (Handbuch des Kritikers, 1938; auch Geschichten ohne Moral, 1943), Philosophisches von Max Horkheimer (Dämmerung. Notizen in Deutschland, 1934 erschienen unter dem Pseudonym Heinrich Regius) und Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit, 1935), Publikationen zur Kunst wie Max Oppenheimers Menschen finden ihren Maler (Text, Bilder und Graphiken von Mopp, 1938; erschienen in 1.080 Exemplaren, davon 80 nummeriert und mit einer sig-
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nierten Kaltnadelradierung) oder Fritz Wotruba (Überlegungen. Gedanken zur Kunst, 1945) und ein autobiographisches Werk von Wilhelm Uhde (Von Bismarck bis Picasso. Erinnerungen und Bekenntnisse, 1938).170 Allein von Jean Gebser (fr. Hans Gebser) erschienen bei Oprecht an die zehn Titel, wissenschaftliche Werke ebenso wie Gedichte. Von Maria Gleit (d. i. Hert[h]a Gleitsmann) brachte der Verlag 1938 Du hast kein Bett, mein Kind heraus, eine vom Titel her unerwartet scharfe Anklage des Nationalsozialismus. Eine herausgehobene Position nahm im Verlagsprogramm Thomas Mann ein.171 Hier waren die Beziehungen auch persönlicher, ja freundschaftlicher Natur, was sich schon durch die örtliche Nähe – Thomas und Katia Mann hatten sich 1934 in Küsnacht bei Zürich angesiedelt – ergab.172 Seit 1937 kam es zu regelmäßigen Treffen der Oprechts mit den Manns, und als diese im Sommer 1938 in die USA gingen, wohnte Sohn Golo Mann bis 1940 in der großen Wohnung der Oprechts am Hirschengraben in Zürich. Thomas Mann war als Hausautor an seinen Verleger Gottfried Bermann Fischer gebunden; dessen ungeachtet überließ er aber doch Oprecht ein Schriftstück zur Veröffentlichung, dem eine ganz besondere Bedeutung zukam: seinen (einseitigen) Briefwechsel mit der Universität Bonn, mit dem er auf die infolge seiner Ausbürgerung verfügte Aberkennung des Ehrendoktorates reagierte und mit dem er sich endgültig und entschieden auf die Seite der Emigration stellte (Thomas Mann: Ein Briefwechsel, 1937). Hellsichtig brandmarkte er dort auch die Absicht des Regimes, »das deutsche Volk unter unerbittlicher Ausschaltung, Niederhaltung, Austilgung jeder störenden Gegenregung für den ›kommenden Krieg‹ in Form zu bringen, ein grenzenlos willfähriges, von keinem kritischen Gedanken angekränkeltes, in blinde und fanatische Unwissenheit gebanntes Kriegsinstrument aus ihm zu machen«.173 Oprecht publizierte den Brief, nachdem er ihn von Thomas Mann selbst am Silvesterabend 1936 vorgelesen bekommen und sofort den Rang dieses Dokuments erkannt hatte. Der Briefwechsel, »eines der bemerkenswertesten Zeugnisse der deutschen Emigration«, erreichte eine Gesamtauflage von 2.000 Exemplaren, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mehrfach als Tarnschrift in Deutschland verbreitet.174 Bemerkenswert auch, dass es Oprecht gelang, Thomas Mann (gem. mit Konrad Falke) als Herausgeber der Zeitschrift Maß und Wert (1937‒1940) zu gewinnen, mit der sich der Verleger ein Sprachrohr für die freiheitliche Literatur schaffen wollte.175 Von anderen Exilzeitschriften unterschied sich Maß und Wert durch die entschieden bürgerliche Ausrichtung und ihren anspruchsvollen Gehalt.176 Als Sonderheft von Maß und Wert erschien 1938 auch der Vortrag Vom zukünfti-
170 Eine exilinterne Verlagskooperation entstand unmittelbar nach dem Krieg im Falle von Max J. Friedländer: Von Kunst und Kennerschaft. Oxford: Cassirer, Zürich: Oprecht 1946. 171 Papst: Zwei Europäer in schwieriger Zeit: Thomas Mann und sein Zürcher Verleger Emil Oprecht (1895–1952). 172 Siehe dazu Thomas Mann: Abschied von Emil Oprecht. In: T. M.: Werke, Bd. 19, 1968, S. 395. 173 Zit. n. Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 242. 174 Stahlberger, S. 241. 175 Vgl. Baltensweiler: »Mass und Wert« ‒ die Exilzeitschrift von Thomas Mann und Konrad Falke. 176 Siehe auch das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils.
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gen Sieg der Demokratie, den Thomas Mann im Frühjahr 1938 in 15 Städten der USA gehalten hat. Nach dem Krieg, 1949, brachte der Oprecht Verlag Thomas Manns »Taylorian lecture« Goethe und die Demokratie heraus. Auch verfasste Thomas Mann eine Reihe von Vorworten für Oprecht-Publikationen, beispielhaft genannt sei die Einführung, die er für Frans Masereels Jeunesse beisteuerte (1948). Im Oprecht Verlag erschienen auch mehrfach Werke über Thomas Mann, so bereits 1935 drei Aufsätze von Will Schaber in dem Band Thomas Mann zu seinem sechzigsten Geburtstag und 1947 von Ferdinand Lion Thomas Mann. Leben und Werk. Als die Manns sich 1952 entschlossen, nach Europa zurückzukehren, nahmen sie ihren Wohnsitz wieder in der Schweiz, in Kilchberg bei Zürich. Am Flughafen wurden sie von Emil Oprecht in Empfang genommen, der zu diesem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt war und noch im gleichen Jahre starb.
Das Programm des Europa-Verlags, Zürich, New York Vom Oprecht & Helbling bzw. dem Oprecht Verlag unterschied sich der Europa Verlag durch sein entschieden politisch ausgerichtetes Programm, bei weitestgehendem Verzicht auf fiktionale Literatur, bis auf einige wenige Romanpublikationen, die allerdings auch eminent politischen Charakter hatten. In diesem Bereich waren Schwierigkeiten mit den Schweizer Behörden zu erwarten, die ja seit dem Bundesratsbeschluss vom 26. März 1934 darauf drangen, dass die Interessen des neutralen Landes gewahrt blieben. Zur Umgehung dieser Probleme hatte Emil Oprecht im November 1938 einen zusätzlichen Verlagssitz in New York gegründet, dessen Leitung der bis dahin in Zürich tätige Mitarbeiter Friedrich Krause übernahm.177 Alle Bücher, die in (neutralitäts)politischer Hinsicht bedenklich erscheinen konnten, sollten offiziell mit New Yorker Impressum herausgebracht, dennoch aber in der Schweiz gedruckt und ausgeliefert werden. Diese Konstruktion bewährte sich durchaus. Allerdings, mit Kriegsbeginn kam es auch in der Schweiz zu einer Verschärfung der Literaturkontrolle: Der Bundesrat, der kurz sogar eine generelle Vorzensur erwog, führte mit 8. September 1939 eine Presseüberwachung ein, mit der er die Abteilung Presse und Funkspruch im Armeestab (APF) betraute. Noch am gleich Tag gab die APF einen »Grunderlass« heraus, der eine Nachkontrolle aller Arten von Veröffentlichungen vorsah; mit der Leitung der in der APF errichteten Sektion Buchhandel wurde der (im Prinzip liberal gesonnene, aber in diesem Fall doch strikt patriotisch agierende) Verleger Herbert Lang betraut. Die Sektion empfahl allen Verlegern, alle Manuskripte bereits vor der Drucklegung zur Kontrolle einzureichen, um so den durch nachträgliches Verbot und Konfiskation eintretenden materiellen Schaden zu vermeiden. Das Verfahren setzte bereits eine Art Selbstkontrolle durch die Verleger voraus.178 Oprecht machte von dieser Möglichkeit immer wieder Gebrauch, zumal er permanent in engem Kontakt zu Herbert Lang stand, um hier jeden Konflikt zu vermeiden. Tatsächlich wurden in einigen Büchern Sätze oder ganze Kapitel oder Gedichte wegge-
177 Zu Friedrich Krause, der auch Anteile am Europa Verlag erworben hatte, und dem New Yorker Verlagssitz siehe in diesem Kapitel den Abschnitt über die USA. 178 Siehe hierzu Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 277‒280.
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lassen, die hätten Anstoß erregen können. Manche Bücher ließ er von prominenten Fachleuten, etwa dem Basler Literaturwissenschaftler Walter Muschg oder dem Zürcher Historiker Karl Meyer, informell vorbegutachten, um das Manuskript mit besseren Erfolgsaussichten bei der APF einreichen zu können. Im Blick auf diese Erschwernisse ventilierte Oprecht Ende 1939 sogar den Plan, den Sitz seiner Unternehmen komplett nach London oder Paris zu verlegen, verwarf diese Idee aber aufgrund der Kriegsereignisse.179 Den »Trick« mit dem New Yorker Erscheinungsort wandte Oprecht nur in Absprache mit der APF an und nur bei den bereits vor Kriegsbeginn verfassten Büchern. Dass Emil Oprecht in nicht wenigen Fällen gute Kompromisse mit der APF und anderen Schweizerischen Behörden erreichte – bis hin zum geduldeten Verkauf unter dem Ladentisch offiziell verbotener Bücher –, war insofern nicht selbstverständlich, als es immer wieder zu Demarchen der Deutschen Botschaft beim Eidgenössischen Politischen Departement (EPD) kam, in denen Protest gegen das Erscheinen von Büchern gerade auch der Oprechtʼschen Verlage erhoben wurde.180 So wurde am 18. Dezember 1939 eine Note überreicht, in der insbesondere ein sofortiges Verbot von Otto Brauns Memoiren Von Weimar zu Hitler (1939) und der Revolution des Nihilismus (1938) des als »Hochverräter« bezeichneten Hermann Rauschning gefordert wurde,181 die aber auch ganz grundsätzlich die Mitwirkung politischer Emigranten am Verlagsprogramm skandalisierte. Aus deutscher Sicht könne eine Duldung solcher Druckerzeugnisse nicht ohne empfindliche Rückwirkungen bleiben; man erwarte ein Einschreiten des Bundesrates gegen die Schriftstelleremigranten und ihren Verleger Oprecht, zumal ja die fremdenpolizeilichen Bestimmungen den Flüchtlingen jede politische Betätigung untersagten.182 Die Schweizer Behörden entsprachen diesen mit Drohungen garnierten Forderungen jedoch nicht, auch nicht, als weitere deutsche Beschwerden – im Januar schon fast täglich – speziell gegen Rauschning einlangten. Inzwischen hatte das Werk in ganz Europa große Verbreitung erreicht, sodass Goebbels eine Propagandaaktion gegen dieses Buch startete, an der mehrere Institutionen beteiligt waren. Ein vorläufiger Beschlagnahmebescheid wurde aber vom Bundesrat im Februar 1940 zu Rauschnings eben ausgedruckten Gesprächen mit Hitler erlassen. Damit wollte man gegenüber dem Dritten Reich bekunden, dass man durchaus bereit war, das deutsche Staatsoberhaupt vor Beleidigungen zu schützen. Allerdings dürfte der Verkauf der ersten beiden Auflagen in der Praxis nicht wirklich behindert worden sein, wenn auch für die 2. Auflage verfügt wurde, dass sie nur im Ausland verkauft werden durfte; eine 3. Auflage konnte erst nach 1945 erscheinen.183 So kam es, dass Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler (1940) trotz aller Querschüsse mit einer Auflage von 33.000 Exemplaren zum größten Ver-
179 Stahlberger, S. 281. 180 Vgl. Stahlberger, S. 282‒287. 181 Gegen Rauschnings Revolution des Nihilismus hatte die Deutsche Gesandtschaft bereits im Dezember 1938 protestiert; dass das Buch 1939 in neuer Ausgabe im Europa Verlag New York erschien, wurde als »Tarnmanöver« qualifiziert (Stahlberger, S. 283). 182 Stahlberger, S. 282 f. 183 Oprecht ließ allerdings unter dem Titel Hitler, Gespräche und Enthüllungen eine 64seitige gekürzte Ausgabe in kleinerem Format drucken, die zum illegalen Vertrieb in Deutschland bestimmt war. Außerdem brachte er den Fall Rauschning im Nationalrat zur Sprache (Stahlberger, S. 285 f.).
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Abb. 7: Mit der »Waffe der Wahrheit«, mit Dokumentationen und Analysen, wollte Emil Oprecht im Europa Verlag seinen Beitrag zum Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus leisten.
kaufserfolg des Europa Verlags wurden, ein Bestseller des Exils, dem das schwierig zu lesende Buch Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich desselben Autors mit 27.000 Käufern kaum nachstand. Es gab noch andere Konflikte zwischen NS-Deutschland und Oprecht, so etwa um das von dem emigrierten niederländischen Außenminister E. N. Kleffens verfasste Buch Der Einfall in die Niederlande (1941), bis es dann spätestens im Februar 1942 zu einer Verschärfung der schweizerischen Buchzensurpraxis kam, nachdem die APF direkt dem Bundesrat unterstellt worden war.184 Vor diesem Hintergrund also ging Emil Oprecht seiner verlegerischen Tätigkeit nach, die gerade im Bereich des Europa Verlags nicht erst seit Einführung der Kriegszensur mit mancherlei Hindernissen und Wagnissen verbunden war. Die prononciert »politische« Linie des Europa Verlags dokumentierte sich nicht nur in den eben genannten, besonderes Aufsehen erregenden Publikationen Rauschnings, sondern auch noch in zahlreichen anderen Zeit- und Faschismusanalysen, die in unterschiedlichsten Formen auftraten. So etwa wurde Aufklärung über die Vorgänge im Dritten Reich mittels Dokumentensammlungen geleistet, mit Die braune Kultur. Ein Dokumentenspiegel (1934) und Der braune Hass, beide herausgegeben von Cassie Michaelis, Heinz Michaelis und W. O. Somin, oder mittels Augenzeugenberichten wie dem 1936 anonym erschienenen Buch Ich kann nicht schweigen über Reichstagsbrand und Röhm-Putsch, dessen Verfasser Walter Korrodi bis zu seiner Emigration Leiter der »Nationalen Abwehrstelle gegen kommunistische Umtriebe« gewesen war. Dokumentarischen Charakter hatten auch die Bücher von Bernhard Menne (Krupp. Deutschlands Kanonenkönige, 1937) und Julius Zerfass, der 1936 unter dem Pseudonym
184 Stahlberger, S. 286 f.
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Walter Hornung Dachau. Eine Chronik vorlegte, ebenso Wilhelm Herzogs nicht direkt auf Deutschland bezogene, aber als exemplarisch zu verstehende Schrift Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus. Dokumente und Tatsachen (1933). Auch Italien und Österreich lieferten Stoff für politische Analysen: von Ignazio Silone erschien 1934 Der Fascismus. Seine Entstehung und Entwicklung, übersetzt von dem Schweizer Rudolf Jakob Humm; vom österreichischen Sozialdemokraten Otto Leichter kam 1935 unter dem Pseudonym Pertinax Österreich 1934. Die Geschichte einer Konterrevolution heraus, und noch 1938 lieferte Robert Ingrim mit Der Griff nach Österreich eine Darstellung des »Anschlusses«. Einen anderen Typus verkörperten die personenbezogenen Darstellungen, an ihrer Spitze Konrad Heiden mit Hitler. Eine Biographie in zwei Teilen, erschienen 1936/1937, von deren erstem Teil 31.000 und dem zweiten 15.500 Exemplare verkauft wurden. Schon zuvor war im Europa Verlag erschienen Konrad Heidens Geburt des Dritten Reiches. Die Geschichte des Nationalsozialismus bis Herbst 1933 (1934). Von Rauschnings Gesprächen mit Hitler ist bereits die Rede gewesen, interessante Thesen zum Nationalsozialismus und dessen Führer entwickelte aber auch Edgar Alexander in Der Mythus Hitler (1935); als Beiträge aus konservativer Sicht hoben sich Alexanders wie auch Rauschnings Auseinandersetzungen mit der NS-Diktatur von den Faschismusanalysen linker Provenienz deutlich ab.185 Nach dem Krieg erschien Curt Riessʼ Joseph Goebbels. Eine Biographie (1949). Eine weiter ausgreifende Analyse legte Erich von Kahler vor mit Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (1937), während Hellmut von Gerlach, der vor 1933 zum Kreis der radikaldemokratischen und pazifistischen Opposition rund um die Weltbühne gehört hatte, diese Zeitanalyse in eine Autobiographie verpackte: Von rechts nach links. Hrsg. von Emil Ludwig (1937). Wie bereits angemerkt, wurden gelegentlich auch fiktionale Genres berücksichtigt; Beispiele dafür sind der dokumentarische Roman Heinz Liepmanns … wird mit dem Tode bestraft (1935), der in die Szene der kommunistischen Illegalen in Deutschland führt und deren im Grunde aussichtslosen Kampf zeigt, oder der erst nach dem Krieg erschienene Roman Franz Hoellerings Die Verteidiger (1947), der sich mit den Bürgerkriegskämpfen in Österreich im Februar 1934 auseinandersetzt. Bemerkenswert, dass der ansonsten unpolitische Literat Iwan Heilbut 1937 mit einem Buch Die öffentlichen Verleumder: Die »Protokolle der Weisen von Zion« und ihre Anwendung in der heutigen Weltpolitik hervortrat. Emigrationsliteratur im engeren Sinn kam heraus mit Gerhart Segers Reisetagebuch eines deutschen Emigranten (1936) oder Arthur Koestlers Bericht aus einem Gefängnis, in das er als Kriegsberichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg geraten war, Ein spanisches Testament (1938). Dass sich in den Kriegsjahren trotz einer betont auf den Schweizer Patriotismus abgestellten Linie, an der aber die emigrierten Autoren nicht teilhatten, auch neue, stärker international orientierte Schwerpunktsetzungen herausgebildet haben, zeigte sich in der Gründung neuer Reihen. So rief Oprecht für den Europa Verlag die Serie »Stimmen
185 Edgar Alexander fungierte 1938 auch als Herausgeber von: Deutsches Brevier. Politisches Lesebuch. Als ein »Deutsches Lesebuch« war zuvor bereits die Sammlung von Essays Heinrich Manns deklariert worden, die im Europa Verlag 1936 unter dem Titel Es kommt der Tag erschienen war.
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bedrängter Völker« ins Leben, die über jedes von der deutschen Wehrmacht okkupierte Land einen Band brachte, darunter von Willy Brandt Krieg in Norwegen, 9. April ‒ 9. Juni 1940 (1942). Schon zu Kriegsende entstand die Reihe »Neue Internationale Bibliothek«, in der 1945 als 1. Band Gunnar Myrdals Warnung vor dem Friedensoptimismus und im gleichen Jahr als 3. Band von Fritz Bauer Die Kriegsverbrecher vor Gericht erschienen – Fritz Bauer hat dann v. a. als Generalstaatsanwalt in Hessen eine wichtige Rolle bei der Ermittlung (Adolf Eichmann) und Anklage von NS-Kriegsverbrechern gespielt. Überhaupt wird von 1945 an im Europa Verlag das Spektrum wieder deutlich breiter, mit einem satirischen Buch wie Robert Lucasʼ (d. i. Robert Ehrenzweig) Teure Amalia, vielgeliebtes Weib! Die Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine Frau in Zwiefelsdorf (1945), Curt Riessʼ »George 9-4-3-3«. Ein Spionageroman aus dem zweiten Weltkrieg (1946), Golo Manns Friedrich von Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes (1947) oder Georg Lukácsʼ Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie (1948). Einen Initialpunkt der zukünftigen Exilforschung setzte Oprecht mit der Publikation von Walter A. Berendsohns Die humanistische Front. Einführung in die Emigrantenliteratur, Teil 1: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939 (1946). Im Jahr 1946 gründete Oprecht einen eigenständigen Europa Verlag in Wien, der die freiheitlich-humanistische Tradition des Zürcher Verlags aufnehmen und fortführen sollte. Nach Oprechts Tod wurde der Verlag an den Österreichischen Gewerkschaftsbund verkauft und von diesem bis 1993 betrieben. Nach mehrfachem Besitzerwechsel existiert der Europa Verlag seit 2012 in München als zentrales Element der Verlagsgruppe von Christian Strasser, wurde 2015 mit dem Zürcher Stammverlag vereinigt und hat noch Autoren wie z. B. Arthur Koestler im Programm, die auf die große Geschichte des Verlags in der Epoche des Exils zurückverweisen. In der Tat können in einer Gesamtbetrachtung Emil und Emmie Oprechts Leistungen für Entstehung und Fortbestand einer deutschsprachigen Exilliteratur, auch ihre Leistungen für die exilierten Autoren selbst, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.186
Humanitas Verlag, Zürich In Deutschland – zunächst in Hamburg und seit 1931 in Berlin – war Simon Menzel* (1899 Storojinet / Bukowina ‒ 1978 Schweiz) Buchhändler gewesen, ehe er 1933 in die Schweiz ging und sich im März 1935 (offiziell am 1. Dezember 1934) in Zürich zur Gründung des Humanitas Verlags entschloss.187 Die von ihm beantragte Aufnahme ins Adressbuch des Deutschen Buchhandels wurde immer wieder zurückgestellt; der Verlag galt den NS-Schrifttumsbehörden als energisch zu bekämpfender Emigrantenverlag.188 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Schreiben der F. Volckmar Kommissionsgesellschaft vom 19. März 1935 an den Humanitas-Verlag von Dr. Simon Menzel in Zürich, in dem es heißt:
186 Vgl. hierzu auch das Schlusskapitel bei Stahlberger, S. 311‒316: »Emil Oprecht – Persönlichkeit und Werk«. 187 Sehr wahrscheinlich war Menzel damals auch an dem Züricher Verlag Die Liga beteiligt. 188 Vgl. hierzu die Schriftstücke in SStAL, BV, F 12503.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l Erst jetzt erhalte ich Kenntnis von Ihrer vollständigen Anzeige im Anzeiger für den Schweizerischen Buchhandel Nr. 4/1935. Sie hatten mir seinerzeit mit Ihrem Brief vom 2. März einen Abdruck dieses Inserates geschickt, aber den unteren Teil des Inserats weggeschnitten. In diesem heisst es, dass Sie namentlich solche »schöne Literatur pflegen wollen, soweit sie bei der heutigen Situation in Deutschland aus bekannten Gründen keine Verleger mehr findet«. Ich bin nun nicht in der Lage, als Importeur für eine Literatur aufzutreten, die aus bekannten Gründen in Deutschland nicht verlegt werden kann und sehe mich daher genötigt, das vereinbarte Kommissionsverhältnis auf den nächsten zulässigen Termin, das ist Sonnabend, 30. März wieder aufzusagen.189
Tatsächlich brachte Menzel in den ersten Jahren ganz überwiegend Werke von Exilautoren heraus, darunter keine Geringeren als Robert Musil (Nachlaß zu Lebzeiten), Ernst Weiß, Robert Neumann, Alfred Polgar und Friedrich Torberg. In dieser Phase bis 1938/ 1939 zählte Humanitas zweifelsfrei zu den wichtigeren literarischen Exilverlagen. Der 1940 erschienene Band zu Constantin Brunner (Menzel war Anhänger der an Spinoza orientierten Philosophie Brunners) markiert eine gewisse Zäsur: Danach erschienen faktisch nur noch Romane aus dem Bereich der englischen und amerikanischen Literatur, wobei aber für die Übersetzungen Exilanten wie Herberth E. Herlitschka oder Klaus Lambrecht herangezogen wurden. Publikationen des Humanitas-Verlags, Zürich, 1935–1943 (Auswahl): 1935: Ernst Glaeser: Der letzte Zivilist. Roman (seitenident. Aufl. Europäischer Merkur, 1935); Hermynia Zur Mühlen: Ein Jahr im Schatten. Roman; 1936: Erich von Kahler: Israel unter den Völkern; Karin Michaelis: Nielsine, die Mutter (Ins Dt. übertragen von Marie Lazar); Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten (3. Aufl.); Johanna Sanzara [Rahel Sanzara, Ps. für Johanna Bleschke]: Die glückliche Hand. Roman; Will Schaber: Kolonialware macht Weltgeschichte; 1937: Georg Fink [d. i. Kurt Münzer]: Schmerzenskinder. Roman; Alfred Polgar: Sekundenzeiger; Romain Rolland: Gefährten meines Weges (A. d. Frz. übertr. v. Erwin von Bendemann);
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Friedrich Torberg: Abschied. Roman einer ersten Liebe; Victoria Wolf [auch: Wolff]: Drei Tage. Roman; 1938: Alice Berend: »Spießbürger«; Georg Fink [d. i. Kurt Münzer]: Mutter und Sohn. Aus dem Leben eines deutschen Franzosen. Roman; Sinclair Lewis: »… König sein dagegen sehr!«. Roman (Dt. Übertragung von Klaus Lambrecht); Robert Neumann: Eine Frau hat geschrien … Roman; Ernst Weiss: Der Verführer. Roman; Ludwig Winder: Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman; Otto Zarek: Die Geschichte Ungarns; 1939: Kurt Hertenstein: Das ewige Florenz; Sinclair Lewis: Die verlorenen Eltern. Roman (Dt. Übertragung von Klaus Lambrecht); Oskar Seidlin, Richard Plaut: SOS Genf. Mit 40 Zeichnungen von Susel Bischoff; C. F. Ramuz: Wenn die Sonne nicht mehr wiederkäme (Dt. v. Werner Johannes Guggenheim); 1940: Constantin Brunner: Kunst, Philosophie, Mystik. Gesammelte Aufsätze [A. d. Nachl. hrsg.]; John Steinbeck: Die Früchte des Zornes (Dt. Übertragung von Klaus Lambrecht); 1941‒1943: Richard Wright: Sohn dieses Landes. Roman (Dt. Übertragung von Klaus Lambrecht), 1941; Kenneth Roberts: Oliver Wiswell (Aus d. Amerikan. v. Elisabeth Rotten), 1941; Richard Llewellyn: So grün war mein Tal. Roman (Dt. Übertr. v. Albert Gysin), 10. Aufl., 1941; Ann Bridge: Gesang in Peking. Roman (Dt. Übertr. von Herberth E. Herlitschka), 1942; Daphne Du Maurier: Ich möchte nicht noch einmal jung sein. Roman (Übertr. v. Ernst Moser) 1942; Charles Morgan: Die Lebensreise (Dt. Übertr. von Herberth E. Herlitschka), 1943; John Steinbeck: Der Mond ging unter (Dt. Übertragung von Anna Katharina Rehmann-Salten), 6. Aufl., 1943. u. a. m. Diese programmatische Neuausrichtung mag auch durch eine Veränderung in den Eigentumsverhältnissen bedingt gewesen sein: Im Februar 1939 wurde der Humanitas Verlag in eine GmbH umgewandelt; einer der Gesellschafter war Oscar Porges* (1891 St. Gal-
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len – 1959 Zürich), der auch zum Geschäftsführer bestellt wurde. Porges hatte bis 1938 die Spezialbuchhandlung für jüdische Literatur M. W. Kaufmann in Leipzig geführt.190 Der Verlag scheint es bis dahin geschafft zu haben, mindestens einen Teil seiner Produktion über den Leipziger Kommissionsbuchhandel zu verbreiten. Denn am 15. April erhielt die Fa. Otto Klemm in Leipzig ein Schreiben Dr. Max Freyers von der Geschäftsstelle des Börsenvereins mit folgenden Verbotshinweisen: Der Inhaber des 1935 gegründeten [Humanitas-]Verlags, Dr. phil. Simon Menzel, ist Oesterreicher und jüdischer Abstammung. […] In einer Anzeige im »Anzeiger für den Schweizerischen Buchhandel« Nr. 4/1935 gibt Dr. Menzel u. a. bekannt, daß er namentlich solche »schöne Literatur pflegen wolle, soweit sie bei der heutigen Situation in Deutschland aus bekannten Gründen keine Verleger mehr finde«.191 Zu den einzelnen Autoren können wir bemerken: Robert Musil: unerwünscht (sämtliche Werke) Sinclair Lewis: unerwünscht (sämtliche Werke) Alice Berend: Jüdin, emigriert? Ludwig Winder: unerwünscht (sämtliche Werke) Von C. F. Rannuz [!; hs. verbessert: Ramuz]: wird nicht in die Deutsche Nationalbibliographie aufgenommen. Die Anzeige »Wenn die Sonne« [von Ramuz] hat auch im Börsenblatt keine Aufnahme gefunden.192 Noch im gleichen Jahr wurde die Firma endgültig aus dem Adressbuch gestrichen, in das sie bemerkenswerter Weise im Jahrgang 1938 Aufnahme gefunden hatte; auch wurde nunmehr die Gesamtproduktion in Deutschland verboten.193 1942 wurde Menzel firmenseitig offiziell die Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis entzogen. Nach Kriegsende, 1948, trat Menzel zusammen mit seiner Frau Sophie als Gründer des Diana Verlags in Zürich hervor, der einerseits die Tradition des Humanitas Verlags fortsetzen sollte, nun aber den Akzent erneut auf englischsprachige Literatur legte – Bücher u. a. von Sinclair Lewis, Somerset Maugham, Pearl S. Buck und John Steinbeck, die man dem deutschen Markt zugänglich machen wollte und damit in diesen Jahren tatsächlich Pionierarbeit leistete. Im Fachbuchbereich wurden die Schwerpunkte auf Archäologie, neuere Geschichte und Religion gelegt. Nach dem Tod Menzels ruhte der Verlag einige Jahre, bis er 1983 an Hestia, später an Pabel Moewig und an Rolf Heyne verkauft wurde; heute gehört der Verlag zum Verlagskonglomerat Random House.194
190 Siehe auch SStAL, BV, F 12.244 sowie F 12.503 (Anzeiger f. d. Schweizerischen Buchhandel Nr. 5 vom 10. März 1939); Lorz: Die Verlagsbuchhandlung M. W. Kaufmann in Leipzig; bes. S. 116‒120; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 385. – Porges ist auch als Inhaber des Züricher Pan-Verlages dokumentiert; dieses Unternehmen ging nach seinem Tod in Liquidation und wurde 1960 als erloschen gemeldet. 191 Dieser Absatz war bereits in einem Schreiben vom 13. Juli 1938 gleichlautend an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda geschickt worden. 192 SStAL, BV, F 12503: Schreiben (gez. »Dr. Freyer«) vom 15. April 1939 an die Fa. Otto Klemm in Leipzig. 193 Den Akten zufolge wurde dies 1944 wieder zurückgenommen! 194 Siehe Diana Verlag / Random House – Homepage [online].
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Steinberg Verlag, Zürich Der Steinberg-Verlag wurde 1942 von den Geschwistern Selma (1901–1979) und Luise (Lili, 1900–1979) Steinberg gegründet; auch die dritte Schwester, Sophie Menzel (gest. 1957), und deren Mann Simon Menzel* waren (zeitweilig) in das Verlagsgeschäft involviert (Kollektivgesellschaft Steinberg-Verlag und Diana-Verlag von Simon Menzel 1947/ 1948).195 Die in Altona / Preussen geborenen und zeitlebens in Zollikon wohnhaften Schwestern mit jüdisch-rumänischen Wurzeln gaben von Anfang an (Jo Mihaly), verstärkt aber in den Jahren 1945 und 1946 emigrierten Autoren Gelegenheit zur Publikation ihrer Werke, von Ferdinand Bruckner, Eduard Claudius und Alexander Moritz Frey über Erich Fromm, Margarete Susman und Max Brod bis Klaus Mann und Ludwig Winder. Daneben und in zunehmendem Maße kamen bei Steinberg aber auch Schweizer und vor allem englische und amerikanische Autoren heraus (Huxley, Hemingway, Maugham, Steinbeck u. a.), wobei aber wieder hauptsächlich Exilanten (H. Zur Mühlen, E. Rotten, Fega Frisch, A. Horschitz-Horst, H. E. Herlitschka, Hans Flesch) als Übersetzer Beschäftigung fanden. Als Mitarbeiter des Verlags fungierten u. a. zeitweise Carl Seelig, die Autoren Kurt Kläber und Kurt Münzer sowie der Journalist, Philosoph und Politologe Arnold Künzli.196 Publikationen des Steinberg Verlags, Zürich, 1942‒1950 1942: Jo Mihaly: Hüter des Bruders. Roman; 1943: Edward Hallett Carr: Grundlagen eines dauernden Friedens (Übersetzung von Elisabeth Rotten); Joseph E. Davies: Als USA-Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjetunion bis Oktober 1941 (Übersetzung von Elisabeth Rotten), 2. Aufl.; Charles Morgan: Das leere Zimmer. (Autoris. Übertragung von Herberth E. Herlitschka); 1944: John Steinbeck: Die wunderlichen Schelme von Tortilla Flat. Roman (Autoris. Übersetzung von Elisabeth Rotten); Evgenij Tarlé: Napoleon in Rußland 1812 (Dt. Übertragung von W. Schen);
195 Archiv des Steinberg-Verlags im Schweizerischen Literaturarchiv [Online-Information: »Notiz zum Verlagsarchiv«]. 196 Ein Teilnachlass von Kurt Münzer – ein populärer Autor der Weimarer Republik, der seit Ende der 1920er Jahre unter dem Pseudonym Georg Fink bekannt geworden war – befindet sich ebenfalls im Archiv des Steinberg-Verlags.
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1945: Ferdinand Bruckner (d. i. Theodor Tagger): Dramen unserer Zeit, 2 Teile; Eduard Claudius: Grüne Oliven und nackte Berge. Roman; Alexander Moritz Frey: Hölle und Himmel. Roman; Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit; Aldous Huxley: Nach vielen Sommern. Roman (Übersetzung von Herberth E. Herlitschka); Die Zeit der Entscheidung [Geschichten aus dem Krieg im Osten], von Ilja Ehrenburg, Boris Lawrenjow […], Erich Weinert, Friedrich Wolf, Theodor Plivier; 1946: Anton Cechov: »Kleiner Nutzen«. Roman (Dt. Übertragung von Fega Frisch); Alexander Moritz Frey: Hotel Aquarium (Holzschnitte von Susel Bischoff); Maurice Meier: Briefe an meinen Sohn; Nevil Shute: Streng geheim. Roman (Übertragung aus dem Engl. von Hermynia Zur Mühlen); Margarete Susman [d. i. Margarete von Bendemann]: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes; 1947: Max Brod: Unambo. Roman aus d. jüdisch-arabischen Krieg; Edna Ferber: Saratoga. Roman (Übertragung aus dem Engl. von Hermynia Zur Mühlen); Aldous Huxley: Wissenschaft, Freiheit und Frieden (Übersetzung von Herberth E. Herlitschka); William Somerset Maugham: Macchiavelli in Imola, oder Damals und heute. Roman (Übertragung aus dem Engl. von Hans Flesch); 1948: Nigel Balchin: Mein eigener Henker (Übersetzung von Herberth E. Herlitschka); Aldous Huxley: Die graue Eminenz. Eine Studie über Religion und Politik (Übersetzung von Herberth E. Herlitschka); Hildegard Johanna Kaeser: Mathias Langeland. Roman; Klaus Mann: André Gide. Die Geschichte eines Europäers [Vom Autor selbst besorgte Übersetzung]; 1949: Ernest Hemingway: Schnee am Kilimandscharo (Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst); Horst Schade: Ein Engel war mit mir. Ein Tatsachenroman. Mit einem »Bericht über Horst Schade« von Carl Seelig; Ludwig Winder: Die Pflicht. Roman;
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1950: Edna Ferber: Die großen Söhne. Roman (Übertragung aus dem Engl. von Hermynia Zur Mühlen); Charles Ferdinand Ramuz: Tagebuch 1896‒1942 (Übertragung von Elisabeth Ihle und Ferdinand Hardekopf); Aldous Huxley: Zeit muß enden (Übersetzung von Herberth E. Herlitschka). Lili und Selma Steinberg trafen in ihren Testamenten Verfügungen über die Gründung einer Stiftung mit dem Zweck, ihre Liegenschaften in Zollikon (Schwendenhausstr. 19) und im Tessin (Casa Sotto, Minusio / Locarno) erholungsbedürftigen Schriftstellern für eine bestimmte Zeit zur Verfügung zu stellen. Die 1982 errichtete »Sophie Menzel und Schwestern Lili und Selma Steinberg-Stiftung« ging 1996 in die Forberg-Stiftung über, die ebenfalls im Sinne der Steinberg-Schwestern Atelier- und Arbeitsräume an Künstler und Schriftsteller vermittelt.
Verbano Verlag, Locarno Walther Victor* (1895 Bad Oynhausen – 1971 Bad Berka), der seit 1932 Feuilletonchef des Berliner 8 Uhr-Abendblattes gewesen war, hatte sich zunächst unter dem Namen Werner Voigt illegal in Berlin und auf der Insel Reichenau aufgehalten, bis er 1935 in die Schweiz flüchtete, wo er hauptsächlich unter dem Pseudonym C. Redo journalistisch tätig wurde, u. a. als Redakteur der Zeitschrift Die Naturfreunde.197 1935 stieg er in Locarno in einen seit 1927 bestehenden Verbano-Verlag ein und führte diesen bis 1938 hauptverantwortlich.198 Im Verbano Verlag erschienen, teils mit der Verlagsortangabe »Locarno und Leipzig«,199 zwei Bücher von ihm selbst: Marchesa Spinola und Puzzi; aber auch von den Exilautoren Manfred George und Maria Elisabeth Kähnert. Ein echter Exilverlag ist Verbano (benannt nach dem Café Verbano, einem berühmten Künstler- und Literatentreff in Ascona, frequentiert u. a. von Else Lasker-Schüler
Abb. 8: Der Verlagsprospekt versprach schlicht »Gute Bücher«, brachte aber nicht den erhofften Erfolg.
197 Germaine Goetzinger: Art. Walther Victor, in: Luxemburger Autorenlexikon [online]. Vgl. ferner Mittenzwei: Exil in der Schweiz, S. 86‒89. 198 Der Verbano-Verlag war mit dem Gründungsdatum »Sept. 1927« im Adressbuch des Deutschen Buchhandels 1938 eingetragen; als Inhaber war genannt Adolf Lieglein, Buchbinder und Besitzer einer Papier- und Buchhandlung in Locarno. 199 Offenbar sollten die Bücher des Verbano Verlags auch in Deutschland vertrieben werden.
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und Erich Maria Remarque) aber von seinen weiteren Veröffentlichungen her nicht geworden; vielmehr scheint Victor darin mehr eine Selbstverlagsgelegenheit und mögliche Einkommensquelle gesehen zu haben, wie das heterogene Programm und auch seine Erinnerungen an den Verlag nahelegen: Das Unternehmen bestand fast drei Jahre ohne jeden finanziellen Erfolg. Dann machten persönliches Mißgeschick meines Partners und meine Aufenthaltsschwierigkeiten eine Fortsetzung unmöglich. Der Verbano-Verlag gab mir immerhin für einige Zeit eine Berufsplattform wie sie ein aktiver Mensch braucht, der nicht in menschlichen und politischen Ressentiments versinken will, und trotz manchen Ärgers und mancher Enttäuschung […] denke ich daher gern an dieses erste verlegerische Abenteuer zurück.200 Publikationen des Verbano-Verlags, Locarno, 1935‒1938 1935: Marianne Philips: Hochzeit in Europa [Aus dem Holländ. übertr. von Hanna Waldeck]; Edŭard Wilhelm Brandenberg: Der Kreisel, das Erd-Mond-System, 2 Bde., gem. m. Locarno: Büchi 1935/1936; 1936: Hermann Aellen: Briefe an eine Tessinerin; Christian Holzer: Gottesreich. Predigten; Walther Victor: Marchesa Spinola. Ein romantisches Gemälde um Anton van Dyck; Walther Victor: Puzzi [Hermann Cohen]. Geschichte eines Wunderknaben (mit Buchschmuck von Christiane Baum); 1937: Ellinor Colling: Glück ist eine Eigenschaft; Ofelia Mazzoni: Eine Schauspielerin. Der Lebensabend der Eleonora Duse [Übersetzung v. Gretchen Mariani-Walter]; 1938: Eduard Goetze: Die moderne Ehe; Eugen Wolbe: Ferdinand I., der Begründer Großrumäniens. Ein Lebensbild; Paula Stuck von Reznicek: Frauen sind komisch; Edŭard Wilhelm Brandenberg: Die Urgestalt des Atoms und die Atomkräfte; Hans Stuck: 4 Mordskerle.
200 Walther Victor: Kehre wieder über die Berge. New York: Willard Publishing 1945, S. 304; hier zit. n. Mittenzwei, S. 88 (siehe auch die kommentierte Neuausgabe von Victors Kehre wieder über die Berge im Aufbau Verlag 1982). – Mit dem erwähnten Partner ist wohl Adolf Lieglein gemeint.
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Mit Unterstützung des Verbano Verlags, nach außen hin aber als Privatdruck (mit der Angabe »Orselina: Leon Hirsch«), hat 1936 der deutsche Verlegeremigrant Léon Hirsch*201 Handzeichnungen und Gedichte von Erich Mühsam in 25 Exemplaren herausgebracht. Es handelt sich um neun Lithographien, deren Vorlagen Erich Mühsam während seiner Festungshaft 1924/1925 für Leon Hirsch angefertigt hatte.202 Da in der Schweiz 1938 seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde, ging Victor mit seiner zweiten Frau, der mit ihm mitemigrierten Schriftstellerin Maria Gleit (Herta Gleitsmann),203 nach Luxemburg. Von dort aus schrieb er an Walter Berendsohn Anfang Juni 1939: »Wir leben (leider) von den unwürdigeren Dingen. Von den schamhaft unter Pseudonymen laufenden Kitschromanen, die Maria schreiben muss und die eine ganz gute Reputation und Absatz haben als Fortsetzungsfeuilletons in stumpfsinnigen Illustrierten aller Art und von meinem kleinen Fixum als Redakteur der (Vierteljahrs=)Zeitschrift des Touristenvereins ›Die Naturfreunde‹. […].«204 Von Luxemburg zog das Paar weiter nach Paris. Nach Internierung gelang die Flucht über den Atlantik; in New York war Victor zunächst als Hausdiener und Packer, dann als Produktionsleiter im Alfred A. Knopf Verlag tätig.
Ring-Verlag, Zürich Dem kommunistischen Bereich gehörte die seit Ende 1933 aktive, jedoch erst am 19. November 1937 ins Handelsregister Zürich eingetragene Ring-Verlag A. G. an; die Gründung vorgenommen hat der Ende Februar 1934 nach Zürich emigrierte Johannes Wertheim* (1888 Wien – 26. September 1942 KZ Auschwitz), der in Österreich zeitweise Propagandabeauftragter der KPÖ war und in den 1920er Jahren im Parteiauftrag (möglicherweise auch der KPD) eine Reihe von Verlagen errichtet hat, unter ihnen den Verlag für Literatur und Politik und den Agis-Verlag.205 Der Züricher Ring-Verlag kann
201 Vgl. u. a. Schütte: Von Berlin nach Brissago. Auf den Spuren von Leon Hirsch in der Schweiz; Michael Faber: Verlags- und Verlegergeschichte oder 1 plus 1 gleich 10? In: Bbl. (Lpz) 19 vom 10. Mai 1988, S. 361‒363 [krit. Rezension des Schütte-Buchs]; Martin Dreyfus: Abgewiesen und aufgenommen. Deutsch-jüdische Exilverleger in der Schweiz. In: Aufbau 9, Oktober 2005, S. 12 f. 202 1984 erschien ein Faksimile der Erich Mühsam-Mappe, kommentiert von Gerd W. Jungblut und Wolfgang U. Schütte. 203 Heimberg: »Schreiben kann man überall. Das ist das Gute an meinem Beruf.« Die Schriftstellerin Maria Gleit (1909‒1981) im Exil. 204 Brief Walther Victor an Walter Berendsohn aus Luxembourg-Merl vom 1. 6. 1939, DEA, TLN Berendsohn EB 54b/7, 1541. 205 Vgl. Schütte: Der Agis-Verlag, Berlin und Wien; Georges Wertheim: Die Odyssee eines Verlegers (mit Verlagsbibliographien); Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 42, Anm. 73. – Wertheim selbst verließ anschließend die Schweiz und ging nach Paris, wo er als Beauftragter der Komintern für Verlagswesen in allen nichtfaschistischen Ländern Europas (Deckname »Bertrand«) u. a. mit der Reorganisation der in Paris entstandenen kommunistischen Verlage und Buchhandlungen befasst war. Nach Kriegsbeginn mehrfach interniert, wurde er im September 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
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aber nun kaum als selbstständiger Verlag betrachtet werden, denn er hat faktisch nichts Eigenes produziert: so gut wie alle unter diesem Impressum erschienenen Publikationen waren Parallelausgaben zu in Moskau im Verlag Ausländischer Arbeiter in der Sowjetunion (VEGAAR) erstellten und gedruckten Titeln, oder anders formuliert: Der RingVerlag war nichts anderes als eine in der Schweiz angesiedelte Vertriebsagentur für die Bücher der VEGAAR, eine getarnte VEGAAR-Filiale.206 Das Verlagsprogramm, wenn man von einem solchen sprechen kann, stellt eine Mischung aus drei Linien dar: Büchern von deutschen kommunistischen Exilschriftstellern (Th. Balk, J. R. Becher, H. Huppert, A. Scharrer), solchen von Schriftstellern der Sowjetunion und schließlich, zunehmend dominant, klassische Parteiliteratur, teils in wissenschaftlichen, teils in Volksausgaben, von Marx und Engels über Lenin bis Stalins Der Sozialismus siegt.207 Dass die Produktion sämtlicher Titel in der Sowjetunion vorgenommen wurde, ergibt sich auch daraus, dass sich alle beteiligten Übersetzer, Redakteure, Buchgestalter und Illustratoren in Moskau bzw. im Moskauer Exil (Herwarth Walden, Alex Keil, Griffel u. a.) befanden. Das Signet des Ring-Verlags, eine im Wind flatternde rote Fahne in einem Kreis, stammt von John Heartfield; es wurde allerdings bereits 1926/1927 für den Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin, entworfen und 1933 vom Ring-Verlag übernommen (1959 dann auch vom Dietz Verlag / DDR). Liste der belletristischen Publikationen des Ring-Verlags, Zürich, 1933‒1939 1933: Wassilij Ilenkov: Die Triebachse. Roman; Nadeschda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin; Michail Scholochov: Neuland unterm Pflug. Roman, 1. Bd.; 1934: Alexander Avdeenko: Ich liebe. Roman (Autoris. Übersetzung von Olga Halpern; auch: Universum Bücherei, Bd. 281, 1938, mit Schutzumschlag von John Heartfield); Theodor Balk: Hier spricht die Saar. Ein Land wird interviewt; Johannes R. Becher: Deutschland. Ein Lied vom Köpferollen und von den »nützlichen Gliedern«. [Gedichte] (Schutzumschlag Alex Keil); Johannes R. Becher: Der verwandelte Platz. Erzählungen und Gedichte; Alexander Fadeev: Der letzte Udehe. Roman (Berechtigte Übertragung aus dem Russischen von Thea Schnittke, unter Redaktion von Herwarth Walden. Umschlagentwurf von Alex Keil), Bd. 2; Hugo Huppert: Sibirische Mannschaft. Ein Skizzenbuch aus dem Kusbass. (Ill. von Alex Keil);
206 Von der mehr als 30 Titel umfassenden Liste der Publikationen haben sich nur in drei Fällen keine VEGAAR-Ausgaben nachweisen lassen: vom Moskauer Theater für Kinder (1934), Paustovskijs Kara-Bugas (1934) und Marietta Saginjans Das Wasserkraftwerk (1934). Hier kommen Übernahmen aus anderen Verlagen in Frage. 207 Siehe dazu das Kap. 5.2.2 Politische Verlage.
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Pjotr Pavlenko: Barrikaden. Roman (Übertragung aus dem Russischen von A. Tschornaja); Das Moskauer Theater für Kinder; Fedor Panferow: Mit festem Schritt. Roman (Autoris. Übertragung aus dem Russischen von A. Tschornaja, Entwurf des Schutzumschlags von Alex Keil); Konstantin Paustovskij: Kara-Bugas [Erzählung]; Konstantin Paustovskij: Das Schicksal des Charles Lonceville. Novelle; Lev Rubinstein: Der Pfad der Samurai. Roman; Marietta Saginjan: Das Wasserkraftwerk. Roman; 1935: Fedor Gladkow: Energie. Roman (Autor. Übersetzung von Olga Halpern); Boris Lapin: Die Heldentat. Erzählung (Ill. von Shitomirski); Adam Scharrer: Abenteuer eines Hirtenjungen und andere Dorfgeschichten (Umschlag und Ill. von Griffel); Sergej Tretjakow: Tausendundein Arbeitstag; 1936: Anton de Kom: Wir Sklaven von Surinam.
Luxemburg Ein kleiner Verlag in Luxemburg, der sich aus Deutschland geflüchteten Schriftstellern geöffnet hat, war der Malpaartes Verlag, in den 1930er Jahren gegründet von Evy Friedrich, Sohn eines wohlhabenden Stadtluxemburger Zahnarztes.208 Friedrich, der ein Leben in Naturverbundenheit und die Beschäftigung mit Filmkunst einer bürgerlichen Karriere vorzog, solidarisierte sich mit der in Luxemburg rund 3.000 Flüchtlinge umfassenden deutschsprachigen Emigration, in der sich auch zahlreiche Kunstschaffende befanden, auch Theaterleute und sogar ein veritables Exiltheater »Die Komödie«, die mit P. Walter Jacob als Regisseur gleich in ihrer ersten Exil-Theatersaison 85 Aufführungen auf die Bühne brachte. Friedrich setzte sich für diese Truppe ein und veröffentlichte in seinem Verlag das Kindertheaterstück Prinz Übermut’s Fahrt ins Märchenland von Edith Roeder, der Ehefrau Jacobs. In weiterer Folge brachte der Malpaartes Verlag zwei Bücher des Kabarettisten und politischen Emigranten Karl Schnog heraus, der 1927 in Berlin die Gruppe revolutionärer Pazifisten gegründet hatte und sich nach schweren Misshandlungen nach Luxemburg in Sicherheit gebracht hatte. Schnog, der sich mit unterschiedlichsten Aktivitäten als Publizist und Conferencier den Lebensunterhalt verdiente, arbeitete zunächst unter dem Pseudonym Ernst Huth in der von Evy Friedrich herausgegebenen Filmzeitschrift Le film luxembourgois mit, ehe er 1934 bei Malpaartes den Gedichtband Kinnhaken. Kampfgedichte 1933/34 mit sechs mal fünf politisch angriffigen Gedichten herausbrachte, in denen er die Spitzen des NS-Regimes und generell die Machenschaften
208 Vgl. zum Folgenden Goetzinger: Malpaartes – ein unbekannter Exilverlag aus Luxemburg.
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der Nationalsozialisten aufs Korn nahm. Ein zweites, recht ungewöhnliches Werk Schnogs erschien unter dem Pseudonym Tom Palmer 1937 mit dem Titel La Grande Compagnie de Colonisation – Dokumente eines grossen Planes. An dessen Entstehung hatte wohl auch der Industrielle Henry J. Leir (eig. Heinrich Hans Leipziger) großen Anteil, indem er Idee, Dokumentation und Aufbau beisteuerte und jedenfalls auch die Vorlage für die Hauptfigur lieferte, während der (damals im gleichen Hause lebende) Schnog ein Buch daraus machte. Es handelte sich dabei um einen in Montagetechnik gefertigten Text, der eine zukünftig-fiktive, bis in das Jahr 1971 projizierte Entwicklung Luxemburgs und Europas entlang der Geschichte einer multinationalen Kolonisierungsgesellschaft beschreibt, die – wiewohl auf Gewinn gerichtet – wirkungsvoll dem Weltfrieden dient. Das in mancher Hinsicht visionäre (oder jedenfalls humorvoll-utopistische) Werk war zugleich auch das letzte eines Exilautors in dem Verlag, der nur noch ein weiteres Buch herausbrachte, 1937 Der Spiegel, verfasst vom Verleger Evy Friedrich selbst.
Frankreich Frankreich war neben den Niederlanden, der Schweiz und der Tschechoslowakei eines der wichtigsten verlegerischen Zentren des deutschsprachigen Exils. Es dominierte hier allerdings ganz eindeutig die politische Verlagsszene,209 während es kaum Verlage gab, die sich der belletristischen Literatur wirkungsvoll annehmen konnten. Gleichzeitig aber war es so, dass sich in Paris nach 1933 ein beträchtlicher Teil der Exilliteraten versammelt hatte – eine Situation, die letztendlich dazu führte, dass die großen Exilromane zwar in Pariser Hotelzimmern geschrieben, aber nur selten in Paris verlegt werden konnten. Döblin, Feuchtwanger, Heinrich Mann und Joseph Roth veröffentlichten in Amsterdam oder in Zürich, ja selbst die kommunistischen Autoren Bredel, Kisch, Koestler, Regler und Anna Seghers konnten ihre Romane nur begrenzt bei den ortsansässigen Verlagen Carrefour oder Prométhée unterbringen und mussten mitunter auf Oprecht oder Querido ausweichen.210
Verlag Europäischer Merkur Immerhin kam es schon sehr früh zu mehreren Versuchen, auch aus den Reihen der Autoren selbst, Veröffentlichungsmöglichkeiten zu schaffen, wobei es sich nicht selten um ein gemischtes Programm handelte. Das gilt auch für den Verlag Europäischer Merkur (Les Editions du Mercure de L’Europe), der 1933 in Paris von Paul Roubiczek* (1898 Prag – 1972 Gmund, Bayern) ins Leben gerufen und gemeinsam mit Peter de
209 Siehe das Kap. 5.2.2 Politische Verlage. 210 Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 35. – Zur Exilverlagsszene in Frankreich grundlegend sind die Arbeiten von Hélène Roussel: Editeurs et publications des émigrés allemands (1933‒1939); dies. u. Maria Kühn-Ludewig (Bearb.): Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933‒1940.
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Mendelssohn* (1908 München – 1982 München) geleitet worden ist.211 Roubiczek war Sohn eines deutsch-jüdischen Unternehmers, hatte seit 1927 als Lektor und Werbeleiter im Berliner Universitas Verlag gearbeitet und im August 1933 seine Stellung verloren. Nach Paris emigriert, brachte er seine gesamten finanziellen Mittel in die Verlagsgründung ein. Dabei mag einiges schiefgegangen sein; Hans-Albert Walter berichtet, dass das für die Finanzierung des Verlags gedachte Geld nicht aus Deutschland herausgeschmuggelt werden konnte, weil es von einem »falschen Freund« unterschlagen worden war.212 Vermutlich aus diesem Grund war der Verlag von Anfang an in einer finanziellen Schieflage. Daran änderte auch das Hinzutreten des Schriftstellers Peter de Mendelssohn als Teilhaber nichts Entscheidendes. Mendelssohn war als Journalist, Übersetzer (beim Wiener Psychoanalytischen Verlag) und freier Schriftsteller tätig gewesen; mit Berufsund Publikationsverbot belegt, emigrierte er zunächst nach Wien und kurz darauf nach Frankreich.213 Der Verlag des Europäischen Merkur erwies sich als nicht sonderlich lebensfähig; bereits 1935 musste er Konkurs anmelden; Roubiczek ging noch in diesem Jahr nach Österreich.214 In der kurzen Spanne seines Bestehens brachte der Verlag aber doch 15 Titel heraus: neun Bücher und, in seiner Reihe »Streitschriften des Europäischen Merkur«, sechs Broschüren. Von Anfang an konnten dafür namhafte Autoren gewonnen werden: In den – unnummerierten – »Streitschriften«, die nach einem (nicht durchgehaltenen) Plan alle vier Wochen mit einem Bändchen fortgesetzt werden sollten, machten 1933 Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig den Anfang mit einem Doppelessay, zusammengefasst unter dem gemeinsamen Titel Die Aufgabe des Judentums. Feuchtwanger formulierte in seinem Beitrag Nationalismus und Judentum den bemerkenswerten, weil exilprogrammatisch deutbaren Satz: »Langsam beginnt überall auf dem Planeten die Erkenntnis zu dämmern, dass die gruppenbildende Kraft eines Buches manchmal stärker sein kann als die gemeinsame Scholle« (S. 36). Im gleichen Jahr erschien noch von Ludwig Bauer Und Oesterreich? Ein Staat sucht ein Volk; 1934 kamen dann Joseph Amiel (d. i. Grete
211 Nach Roussel: Editeurs et publications, S. 384 f., ist der Verlag erst am 3. Januar 1934 unter dem Namen Paul Roubiczek in das Handelsregister eingetragen worden, hatte seine Tätigkeit aber bereits 1933 begonnen. 212 Vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 2: Asylpraxis (1972), S. 170, 184. 213 Mendelssohn heiratete 1936 die österreichische Schriftstellerin Hilde Spiel (1911‒1990) und ging mit ihr im Herbst des gleichen Jahres nach London, wo beide zunächst journalistisch arbeiteten. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg war er für britische Regierungsstellen tätig und wirkte nach 1945 als Pressechef bei der Britischen Kontrollkommission in Düsseldorf und Berlin maßgeblich am Aufbau eines demokratischen Pressewesens in der britischen Besatzungszone mit. 214 Roubiczek fand in Wien eine Anstellung im Zeitbild Verlag von Rolf Passer (siehe Kap. 5.2.2 Politische Verlage). Er war vermutlich daran beteiligt, dass Passer 1936/1937 vom Universitas Verlag die Lizenzen an einträglichen Frauenromanen übernehmen konnte. Vier Tage nach der Annexion Österreichs flüchtete Roubiczek zunächst nach Prag und bemühte sich erfolglos um ein Einreisevisum in die USA. Nach dem am 15. März 1939 erfolgten Einmarsch der deutschen Truppen gelang ihm die Flucht nach London. Zu seiner Biographie vgl. Roubiczek: Über den Abgrund. Aufzeichnungen 1939‒1940; und Drehscheibe Prag, S. 69‒76, 190‒195.
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Fischer*215): Palestina. Das erlaubte Land; Albert Grimm (nicht aufgelöstes Pseudonym) Gibt es Arier?, Rudolf Olden Warum versagten die Marxisten? sowie von Heinrich Mann »und einem jungen Deutschen« Der Sinn dieser Emigration heraus. Hinter dem »jungen Deutschen«, der im Anschluss an Heinrich Manns Beitrag »Schule der Emigration« unter dem Titel »Arbeit für Übermorgen« zahlreiche Ideen für die Zukunft unterbreitete, verbarg sich niemand anderes als Paul Roubiczek selbst. Insgesamt handelte es sich also um eine Reihe, in der ausschließlich politische Themen aufgegriffen worden sind. Stärker belletristisch ausgerichtet war dagegen das Buchprogramm216 des Verlags, in welchem zunächst nicht nur deutsche Exilautoren Berücksichtigung fanden. So etwa erschien dort in den Jahren 1933/1934 von André Maurois Amerika. Neubau oder Chaos? (in einer Übersetzung von Peter de Mendelssohn) und von Louis Golding Die Magnolienstraße, ein Roman über ostjüdische Immigranten in Manchester (EA bei Gollancz, London 1932, in einer Übersetzung von Elsie McCalman). Möglicherweise sollte der Verlag durch diese Titel richtig in Schwung gebracht werden – Die Magnolienstraße war in England ein Bestseller; fortan aber kamen nur noch Werke exilierter deutscher Schriftsteller heraus: von Lion Feuchtwanger Marianne in Indien und sieben andere Erzählungen, von Alfred Neumann Kleine Helden. Erzählungen, und von dem Co-Verlagsleiter Peter de Mendelssohn217 der Roman Das Haus Cosinsky, eine Ausgabe, die noch im gleichen Jahr 1934 von Oprecht in Zürich übernommen worden ist (und zwei Jahre später in englischer Übersetzung bei Hutchinson in London erschien). Mendelssohn hatte den Roman bereits in den 1930er Jahren in Berlin zu schreiben begonnen; der Verlag des Europäischen Merkur hatte mithin auch den Zweck, den eigenen Werken zur Veröffentlichung zu verhelfen. Denn ebenso kam dort unter dem Pseudonym Paul A. Robert auch Paul Roubizeks sozialphilosophische Abhandlung Der mißbrauchte Mensch heraus, die der Verlagsgründer schon 1932 fertiggestellt hatte und die Anfang 1933 vom Insel Verlag zum Druck angenommen worden war. Nach der NS-»Machtergreifung« hatte der Verlag es aus »Rassegründen« abgelehnt, das Buch tatsächlich herauszubringen. Unter den Verlagserzeugnissen verdient eine besondere Hervorhebung Walter Mehrings berühmte Sammlung … und euch zum Trotz. Chansons, Balladen, Legenden (1934, mit 9 Zeichnungen und einem farbigen Umschlag von Mehring selbst), die zu zwei Dritteln aus Gedichten besteht, die in Berlin am 10. Mai 1933 verbrannt worden waren. Es war dies Mehrings erste Buchveröffentlichung im Exil. 1935 brachte der Verlag Ernst Glaesers Roman Der letzte Zivilist in einer Auflage von 10.000 Exemplaren heraus, möglicherweise zu viele, um sie in der damaligen Situation verkaufen zu können. Glae-
215 Das Buch war im Zusammenhang mit einer Reise nach Palästina entstanden. Grete Fischer war vor 1933 als Lektorin bei Paul Cassirer und bei Ullstein (als Mitarbeiterin von Vicki Baum) tätig, nach Aufenthalten u. a. in Paris emigrierte sie 1935 nach London und trat dort auch als Autorin von Kinderbüchern hervor. 216 Die Umschlagentwürfe stammten von verschiedenen Buchgestaltern, u. a. von Walter Jonas, R. Lindner und Lepiné. 217 Zu Mendelssohn im Exil vgl. auch Payk: Der Geist der Demokratie, Kap. 3; sowie Peter de Mendelssohn: Das zweite Leben. Roman aus unserer Zeit. Hamburg: Krüger 1948, S. 56‒ 76.
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ser war 1933 emigriert und hatte während seiner Aufenthalte in der Tschechoslowakei, dann in Locarno diesen literarisch beachtenswerten Roman geschrieben, der die Machtübernahme des Nationalsozialismus in einer deutschen Kleinstadt aus der Perspektive eines Deutschamerikaners schildert. Glaeser, vor 1933 der KPD nahestehend, stieß mit seinen Werken zunehmend auf (deren) Kritik, ging in den Folgejahren auf Distanz zur Emigration und kehrte, hierin ein absoluter Sonderfall, im April 1939 nach Deutschland zurück, wo er wieder Publikationserlaubnis erhielt. Das im Europäischen Merkur zuletzt, 1935, erschienene Buch war Rudolf Olden Hindenburg, oder der Geist der preussischen Armee.
Les Éditions Bergis Eine undurchsichtige Konstruktion und auch eine zwielichtige Person stand hinter den Éditions Bergis, die wohl als Bergis Verlag ursprünglich in Berlin gegründet, später aber nach Wien verlegt worden war. In dem Verlag kam seit 1921/1922 (gleichsam in Konkurrenz zur Weltbühne) 14tägig eine liberale Zeitschrift für »Theaterkunst, Kunst, Politik, Wirtschaft« mit dem Titel Das blaue Heft heraus, in der in den 1930er Jahren auch Theaterkritiken und politische Artikel eines Walter Maria Ullmann erschienen, darunter 1932 ein Appell Gedenkt Ossietzkys. Walter Ullmann oder vielmehr »Joe Lherman«, wie er sich seit 1923 nannte, machte sich im Laufe seines Lebens vielfacher Eigentumsdelikte schuldig.218 Nach einer skandalumwitterten Karriere als Regisseur an deutschen und österreichischen Bühnen, die 1932 in seiner Geburtsstadt Wien mit einer Verurteilung wegen Betrugs ein Ende gefunden hatte, nahm er dort im Bergis Verlag eine Anstellung an. Im Januar 1933 ging er nach Paris, offensichtlich mit dem Auftrag, den Bergis Verlag dorthin zu transferieren. Tatsächlich erschienen dort unter dem Label Les Éditions Bergis nicht nur mehrere Nummern des Blauen Hefts mit einer zusätzlichen französischen Ausgabe Le cahier bleu (im 2. Jahrgang 1934 u. d. T. Le nouveau cahier bleu), sondern 1933 auch fünf Buchtitel: der Roman Arsenik von Claire Goll, Fritz von Unruhs »Essays und Dichtungen« unter dem Titel Politeia. Im Dienst deutscher Sendung219 und Paul Raynals Die Marne, außerdem in französischer Sprache Rudolf Leonhards Essay De l’Allemagne sowie eine Schrift von Marcel Ollivier (d. i. Aron Goldenberg) Marx et Engels, poètes. Damit kam aber die Publikationstätigkeit von Les Éditions Bergis bereits wieder zum Erliegen; auch das Blaue Heft / Cahier bleu wurde 1934 eingestellt. Ullmann / Lherman aber war erneut in einen Skandal verwickelt.220 Man warf ihm vor, im Zuge einer Scheckbetrugsaffäre Ersparnisse deutscher Mitemigranten unterschlagen zu haben, und er zog es daher vor, nach Brünn zu gehen. Dort trat er in Kontakt mit seinem ehemaligen Journalistenkollegen Will Schaber, mit dem zusammen er einen deutschsprachigen Pressedienst gründen wollte. Dieser kam auch zustande, aber ohne
218 Über die Biographie informiert am umfassendsten der Ullmann-Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia. 219 Vgl. Roussel / Kühn-Ludewig, S. 271. 220 Schaber: Der Fall Ullmann – Lherman – Oulmán; Roussel: Editeurs et publications, S. 385‒ 387.
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Mitwirkung Ullmanns / Lhermans, der sich absetzte, als weiter nach ihm gefahndet wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass die Betrugsaffäre durch den vermögenden kommunistischen Schriftsteller und natürlichen Sohn eines französischen Ministers Renaud de Jouvenel bereinigt wurde, der nicht nur als Chefredakteur der Blauen Hefte/Cahiers bleues fungiert hatte, sondern auch als deren Financier.221 Ullmann / Lherman setzte sein in jeder Hinsicht schillernd zu nennendes Leben (das auch mehrfach als Stoff für Fernsehfilme gedient hat) weiter fort, seit 1945 unter dem Namen »Dr. Gaston Oulmàn«, u. a. als viel beachteter Radiokommentator beim ersten Nürnberger Prozess. Eine verlegerische Tätigkeit hat er bis zu seinem Tod 1949 nicht mehr ausgeübt.
Éditions du Phénix Im Exil waren es vielfach die Schriftsteller selbst, die sich aufgerufen fühlten, einen Verlag zu gründen. David Luschnat, Sekretär des Pariser SDS im Exil, schrieb im Frühjahr 1935 an seinen Kollegen Anselm Ruest: »ich bin allen Ernstes der Meinung, dass wir versuchen sollten, unsere Werke selbst zu drucken«. Und noch konkreter: »Denken Sie: ein deutscher Verlag in Nizza und wir selbst als Verfasser, Verleger, Drucker, könnte das nicht gehen?«222 Der Vorschlag scheint auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein: Ruest,223 der gemeinsam mit dem Musikkritiker Paul Bekker und dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld im Herbst 1934 in Frankreich die »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft und Kunst im Ausland« ins Leben gerufen hatte224 und für diese nach Publikationsmöglichkeiten suchte, war die treibende Kraft hinter jener Initiative, die im Herbst 1935 zur Gründung der Éditions du Phénix führte.225 Ins Handelsregister
221 Maximilian Scheer liefert in seinem Erinnerungsbuch So war es in Paris eine kurze Schilderung zur Rolle Lhermans / Ullmanns als Herausgeber der Blauen Hefte und zu seinen anfechtbaren Finanzierungsmethoden (S. 57 f.). 222 David Luschnat an Anselm Ruest, 16. März 1935, BAP, TNL A. Ruest, Bl. 99, hier zit. n. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 94. 223 Vor 1933: Ernst Samuel; Samuel / Ruest war mit Franz Pfemfert und Kurt Hiller 1911 an der Gründung der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion beteiligt gewesen und später, gemeinsam mit Salomo Friedlaender / Mynona als Herausgeber der Zeitschrift Der Einzige (1919 ff.) sowie als Autor von Werken u. a. zu Max Stirner hervorgetreten. 224 Ruest fungierte als Generalsekretär der kurzlebigen Vereinigung, die nicht identisch war mit der länderübergreifend agierenden »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«. 225 Die nachfolgende Skizze zur Geschichte der Éditions du Phénix beruht auf Informationen in Roussel: Editeurs et publications, S. 385‒387, sowie Enderle-Ristori: Markt, S. 93‒98. Wichtige Erkenntnisse ergaben sich dabei aus einem Zufallsfund Hartmut Geerkens: Der experimentelle Autor und Literaturforscher hatte in den 1960er Jahren auf der Suche nach dem Nachlass des Prager neuromantischen Autors Victor Hadwiger in einem nicht mehr bewohnten Haus in einem Ort an der französischen Riviera Papiere von Anselm Ruest gefunden, dessen Witwe zuvor dort gelebt hatte. Unter den Papieren, die – teils offen herumliegend, teils in Koffern, Kartons und Plastiktüten verpackt – vom Schimmelpilz befallen und zum Teil bereits zersetzt waren, befanden sich auch Überreste der Geschäftspapiere der Éditions du Phénix, auch Briefwechsel, aus denen sich bruchstückhaft eine Geschichte des Verlags rekonstruieren lässt. Geerken hat diesen Fund im Rahmen seiner Edition der ExilBriefe Salomon Friedlaenders dokumentiert (Salomo Friedlaender: Briefe aus dem Exil,
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eingetragen wurde der Verlag jedoch auf den Namen des Geldgebers, des Franzosen Raymond Furst,226 denn Ruest selbst war im Grunde mittellos. Bereits sechs Tage zuvor war der erste Band der »Phoenix-Bücher«227 erschienen, einer Reihe, in der ausweislich eines frühen Verlagsprospektes »Werke nichtgleichgeschalteter Autoren aus allen Gebieten der Literatur, Kunst und Wissenschaft« veröffentlicht werden sollten. Dieses erste Bändchen war eine von Anselm Ruest selbst zusammengestellte Anthologie Deutsche und Arier; bis Januar 1936 kamen fünf weitere Titel heraus, dann allerdings geriet die Reihe ins Stocken, der angekündigte Zwei-Monats-Rhythmus konnte nicht eingehalten werden, die weiteren Titel erschienen unregelmäßig. Das Programm wurde von Ruest bestimmt, der seinen Freund und Schriftstellerkollegen Salomo Friedlaender in die verlegerische Arbeit miteinbezog, auch dieser ein avantgardistischer Autor, der in den 1920er Jahren unter dem Pseudonym Mynona bekannt geworden war. Die beiden gingen überaus ambitioniert zu Werke; nicht weniger als 48 (nach anderen Zählungen 49) Titel waren geplant, tatsächlich erschienen sind aber nur 14 – die Nummerierung der überlieferten Bände reicht von 1 bis 42 und ist insofern irreführend. Die »Phoenix-Bücher« 1935‒1937228 1935: Deutsche und Arier. Eine zeitgenössische Anthologie. Hrsg. von Anselm Ruest. (Nr. 1); Mynona (d. i. Salomo Friedlaender): Der lachende Hiob und andere Grotesken. (Nr. 2); Rudolf Leonhard: Führer und Co. Politische Komödie. (Nr. 3); Wolf Franck: Führer durch die deutsche Emigration. (Nr. 4); Paul Westheim: Rassenschande. Eine Novelle. (Nr. 5); Hans-Arno Joachim: Die Stimme Victor Hugos. Hörspiel. (Nr. 27 a / b);
S. 217. Siehe darin auch den Brief Friedlaenders an Jacques Friedland vom 2. Juni 1935 (S. 49 f., Brief 11), mit einer Entschuldigung, dass er zu einem vereinbarten Termin nicht erscheinen konnte: »Sie haben die Güte, der Veröffentlichung [eines Novellenbands] geneigt zu sein. […] In ihrer wissenschaftlichen, aber populären Reihe möchte ich gern einen Vortrag ›Der geistige Kompaß‹ bringen, den ich hier in Paris gehalten habe, und der im Pariser Tageblatt damals sehr günstig besprochen worden ist«). 226 Die Eintragung im Handelsregister des Seine-Departments erfolgte am 21. Oktober 1935 unter einer Pariser Vorortadresse (Roussel: Editeurs et publications, S. 385‒387). 227 Der Name hatte programmatischen Charakter; bei Enderle-Ristori findet sich der Hinweis, wonach Ruest damit auf eine Äußerung von Joseph Goebbels auf der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 Bezug nehmen wollte: »[…] hier sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden; aber aus diesen Trümmern wird sich siegreich erheben der Phönix eines neuen Geistes« (Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 94). Analog dazu sollte sich die deutsche (Exil-)Kultur aus dem Vernichtungskrieg, den die nationalsozialistische Barbarei gegen sie führte, wie Phönix aus der Asche erheben. 228 Nach Roussel: Editeurs et publications, S. 386 f.
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1936: Antoine Duclos: Signaux. Signale. Gedichte (Nr. 6 a / b) (DEA 7962: Signaux = (Signale): textes francais et allemands illustrés); Jack Iwo: (d. i. Jacques F. Ferrand): Goebbels erobert die Welt. (Nr. 8 a / b); Alfred Kantorowicz: In unserem Lager ist Deutschland. (Nr. 10); Robert Breuer (d. i. Lucien Friedländer): Kleine Geschichte Frankreichs. (Nr. 23); Berthold Jacob: Warum schweigt die Welt? Mit Beiträgen von Georg Bernhard, Wolf Franck, Jack Iwo, Alfred Kantorowicz, Rudolf Leonhard, Carl von Ossietzky und Paul Westheim. (Nr. 25); Emil Ludwig: Die Kunst der Biographie. (Nr. 32 a / b); Mela Hartwig: Das Wunder von Ulm. (Nr. 42); 1937: Felix Frey: Heinrich Heine. Spiel in 11 Bildern. (Nr. 7). Ein Programmprofil ist kaum zu erkennen; ein gemeinsamer Fokus ergab sich allenfalls aus dem – im Grunde selbstverständlichen – engagierten Antinazismus. Unter den Autoren finden sich Vertreter der literarischen nachexpressionistischen Moderne, neben Mynona etwa Rudolf Leonhard (Die Heimkehr aus dem Exil), ebenso wie der Erfolgsschriftsteller Emil Ludwig oder engagierte Publizisten wie Georg Bernhard, Robert Breuer, Berthold Jacob, Alfred Kantorowicz (In unserem Lager ist Deutschland) und weitere bedeutende Repräsentanten der deutschen Exilszene wie Walter Mehring, Paul Westheim (Rassenschande). Wolf Francks Führer durch die deutsche Emigration war wohl der erste Titel seiner Art. Die »Phönix-Bücher« waren als Heftreihe konzipiert, zu einem sehr niedrigen Preis (3 Francs); die Auflagenhöhe betrug durchschnittlich 1.500 bis 2.000 Exemplare. Die Reihe konnte im Abonnement bezogen werden und repräsentierte insofern ein bemerkenswertes Marktkonzept. Der Umfang bewegte sich zwischen 38 und 112 Seiten, Format, Layout und Preis waren einheitlich (d. h. die umfangreicheren Bändchen wurden als Doppelnummern verkauft), sie waren nur verschiedenfarbig kartoniert und im Prinzip einer heutigen Taschenbuchreihe vergleichbar. In der Bescheidenheit ihrer Ausstattung repräsentierte die Reihe ein Konzept, das auf die beschränkten Möglichkeiten solcher Kleinverlagsgründungen zugeschnitten war; auch weisen die Bändchen viele Setzfehler auf. Die Werbemaßnahmen waren unter den obwaltenden Umständen im Ganzen eher bescheiden und beschränkten sich auf Anzeigen im Pariser Tageblatt (PTB) oder französischen Blättern. Allerdings: Gerade die Anzeigen im PTB erfolgten mit einer Häufigkeit, welche die bescheidene Finanzkraft des Verlags deutlich überstiegen hätte und daher auf Sonderkonditionen schließen lässt. In der Tat haben zwischen den Éditions du Phénix und dem Pariser Tageblatt »privilegierte Geschäftsbeziehungen« bestanden, und zwar so weitgehend, dass diese »auf die Autorenauswahl des Verlages zurückwirkten«.229 Ein Blick auf das Programm lässt rasch erkennen, dass dort auffällig viele Titel
229 Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 95.
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von PTB-Mitarbeitern aufscheinen: Angefangen von Chefredakteur Georg Bernhard über die Redakteure Kurt Caro und Erich Kaiser bis zu den festen oder doch regelmäßigen Mitarbeitern Paul Bekker, Robert Breuer, Wolf Franck, Olga Grave, Ferdinand Hardekopf und Gertrud Isolani war das PTB-Team unter den tatsächlich erschienenen oder angekündigten Titeln prominent vertreten. Wohl auch aus diesem Grund wurden die Neuerscheinungen der Phoenix-Bücher regelmäßig angezeigt; vier Titel wurden rezensiert.230 Darüber hinaus wurden die Bücher der Éditions du Phénix im zeitungseigenen Buchvertrieb angeboten; die PTB-Leser konnten direkt über die Zeitung bestellen, was für den Verlag sicherlich einen großen Vorteil bedeutete.231 Kennzeichnend für das Naheverhältnis war dann auch jene Meldung im Nachfolgeorgan Pariser Tageszeitung (PTZ) vom Juni 1936: »Die Direktion des ›Phönix‹-Verlages, die durch die Herausgabe ihrer Bücherreihe ein besonderes Verdienst für das geistige Schaffen in der Emigration erworben hat, bittet uns, mitzuteilen, dass sie dem Poliakow-Blatt seit Gründung der ›Pariser Tageszeitung‹ keinen Inseratenauftrag mehr erteilt hatte«.232 Der hier so lobend hervorgehobene Buchverlag legte seinerseits Wert darauf, seine Solidarität mit der zur PTZ übergewechselten ehemaligen PTB-Redaktion zu bekunden. Die Entwicklung der Éditions du Phénix verlief freilich höchst problematisch: Schon bald nach dem Start der Buchproduktion waren interne Streitigkeiten entstanden, den Dokumenten zufolge mit einem Jack / Jacques Friedland, der ursprünglich als Vermittler zu Furst aufgetreten war, sich jetzt aber (möglicherweise als Bevollmächtigter Fursts) als Leiter des Verlags gerierte und offenbar die regelmäßigen Abrechnungen mit Ruest verweigerte.233 Es handelte sich hier um eine reichlich obskure Persönlichkeit: Jack / Jacques Friedland (d. i. Isaac Friedland) war ein deutscher Exilant, der in Paris auch als Jacques F. Ferrand auftrat und bei Phénix unter dem Pseudonym Jack Iwo publizierte (Goebbels erobert die Welt), in Verlagsprospekten aber auch als Jacques P. Terre auftauchte.234 Schon damals, am Jahresende 1935, fühlte sich Anselm Ruest »aufs schlimmste hereingelegt« und aus seiner Herausgeberrolle im Verlag verdrängt. Furst und Friedland warf er vor, sich an Verlag und Autoren bereichern zu wollen; es seien vielfach Verträge gebrochen worden, weil man nur noch »gängige« Bücher drucken wollte oder überhaupt nur noch Autoren, »die vorher 500 Subskribenten bringen oder
230 Ebd. 231 Zum Buchvertrieb des PTB vgl. das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils. 232 PTZ, 1. Jg., No. 4 vom 16. Juni 1936, S. 3; hier zit. n. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 96. 233 Vgl. hierzu und zum Folgenden Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 96 f., sowie Friedlaender: Briefe aus dem Exil. 234 Friedland hatte 1920‒1922 in Hamburg unter dem Pseudonym Wallenstein die (individual)anarchistische Zeitschrift Ich. Eine Zeitschrift von und für Menschen für und über Dichtung und Wahrheit herausgebracht. 1940 flüchtete er in die USA und war in New York im Auslandsprogramm des öffentlichen Rundfunks (Council’s Foreign Language Radio Division) tätig, außerdem als Sekretär des amerikanischen Nobel-Gedächtnis-Komitees. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Frankreich zurück und war dort Chefredakteur der kommunistischen Wochenzeitschrift Regards. Ende der 1940er Jahre wurde er unter dem Vorwurf der Spionage für die Sowjetunion verhaftet. (Wikipedia).
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ca. 1.000 Frs. Caution hinterlegen«.235 Gegen den Willen Ruests kam es also zu einer kommerziellen Neuausrichtung des Programms; auch die »Notgemeinschaft« wurde aus den Prospekten eliminiert. Die Lage verbesserte sich auch nicht, als im April / Mai 1936 ein junger Autor, Robert Loeb, mit einer Einlage von 10.000 Francs als Teilhaber in den Verlag eintrat; vermutlich wurde er dadurch auch dessen Haupteigentümer. Loeb war nun der Verhandlungspartner Ruests, der sich jedoch sofort wieder in einen Streit mit ihm verwickelte, da Loeb sich offenbar auf die Seite Friedlands schlug. Im Dezember 1936 beschwerte sich Ruest Loeb gegenüber brieflich, dass seine Herausgeberfunktion schon seit längerer Zeit negiert werde, dass einzelne Bändchen ohne sein Einverständnis, auch Verlagsprospekte etc. hinter seinem Rücken herausgebracht worden seien, dass an ihn gerichtete Briefe nicht weitergeleitet worden seien u. a. m. In seinem Antwortbrief verwies Loeb darauf, dass die großen Absatzschwierigkeiten an allem schuld seien: »Leider haben die Schriftsteller zum größten Teil solche Manuskripte geliefert, die, gelinde gesagt, wenig Anklang beim Publikum finden. […] Da die von Ihnen empfohlenen Bücher so schlecht gingen, haben wir versucht, ohne sie andere Wege zu gehen. Denn trotz aller ideellen Absichten ‒ die auch ich verfolge ‒ kommt man nicht umhin eine Comptabilität zu führen. Also aus Selbsterhaltungsgründen haben wir gehandelt im Interesse des Fortbestandes des Phönix«.236 In der Sache ist das durchaus glaubhaft, denn Ruest verstand wohl wirklich wenig vom Verlagsgeschäft. Er führte die Misere auf die unterbliebene Werbung für seine und seiner Freunde Bücher zurück – ein Standardvorwurf von Autoren, die mit dem Absatz ihrer Bücher unzufrieden sind. Es passt ins Bild, dass die Autorenabrechnungen in Ruests Augen unglaubwürdig waren. Er selbst wandte sich damals dem Bühnenverlag Renaissance zu, aber auch den Éditions du Phénix war kein langes Leben beschieden: Zunächst suchte die neue Verlagsleitung durch die Ankündigung von politischen Enthüllungsbüchern Aufmerksamkeitserfolge zu erzielen, mit sensationalistisch aufgemachten Titeln im Stile des Münzenberg’schen Carrefour-Verlags, wie Hitlers Kreuzzug gegen die Sowjetunion oder Die Millionen des Herrn Hitler; aber diese beiden Bücher sind ebensowenig erschienen wie ca. 35 weitere angezeigte, aber bisher nicht nachgewiesene Titel. Angekündigt waren außerdem von Flavius (d. i. Erich Kaiser) Hakenkreuz gegen Christuskreuz237 sowie fünf Nummern (Nr. 36‒40) zum Schriftstellerkongress-Thema »Die Verteidigung der Kultur«. Aufgrund dieser klaren Anlehnung an Stichworte der kommunistisch indoktrinierten Exilpolitik ist eine Annäherung des Verlags an die KPD bzw. Münzenberg wahrscheinlich, kann aber nicht nachgewiesen werden.238 Aber auch dieser neue Kurs scheint nicht das gewünschte Ergebnis gebracht zu haben; jedenfalls ging der Verlag Anfang 1937 in Liquidation und wurde am 7. März aus dem Handelsregister gelöscht.
235 Brief A. Ruest an Paul Zech, 14. April 1936, im DLA, NL Paul Zech, No. 66, 549/1, hier zit. n. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 97. 236 Brief R. Loeb an A. Ruest, 13. Dezember 1936; TNL Ruest, Privatbesitz H. Geerken; hier zit. n. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 98. 237 Das Buch erschien dann 1939 anonym im Verlag des Centre de Documentation in Straßburg. 238 Vgl. Enderle-Ristori, S. 98.
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Verlag Die Zone und der Kultur-Verlag (Prag, Paris) Der Verlag Die Zone (auch: Éditions La Zone) war keine echte Exilgründung, gewann aber doch Exilrelevanz. Betrieben wurde er von dem lange Zeit vagabundierend lebenden Schriftsteller Emil Szittya (geb. 1886 in Budapest als Adolf Schenk), der seit 1927 hauptsächlich in Paris lebte, aber nach wie vor gute Verbindungen nach Wien hatte. In dem Verlag gab er zwischen 1933 und Juli 1934 in acht Nummern zusammen mit Paul Ruhstrat (1907‒1981) die Zeitschrift Die Zone heraus, ein Kulturmagazin, das er auch zu antifaschistischer Attacke nützte.239 1933 erschienen in den Éditions La Zone Szittyas ins Französische übersetztes Büchlein L’art allemand en France sowie von Paul Ruhstrat Banlieue. Pariser Zeitroman. Der Verlag hatte insofern Züge eines Selbstverlags, doch publizierte Szittya 1934 auch Heinz Liepmans Das Leben der Millionäre.240 In einem Kultur-Verlag (Prag, Paris) erschienen 1934 zwei Heftchen mit dem Titel Man flüstert in Deutschland … Die besten Witze über das dritte Reich. Gesammelt und herausgegeben von Ernst Friedrich. Zu dem Verlag ist nichts Näheres zu ermitteln; möglicherweise handelt es sich um eine Tarnung. Ein Kultur-Verlag hat vor 1933 in Berlin bestanden, der radikale Anarchist und Pazifist (1925 Gründer des Anti-Kriegsmuseums in Berlin) Ernst Friedrich hatte dort seine Bücher Festung Bollnow und Menschen im Käfig veröffentlicht. Es spricht für den antinazistischen Gehalt der Heftchen, dass die Verfasser des Leitheftes Emigrantenpresse und Schrifttum in Berlin sie zur Kenntnis nahmen und erwartungsgemäß als »Sammlungen politischer Witze mit eingestreuter Greuelpropaganda« charakterisierten.241
Die Éditions du Carrefour als Belletristikverlag Die Entstehungsgeschichte der Éditions du Carrefour und ihre umfangreiche Tätigkeit im Bereich des politischen Buchs wird in diesem Band im Kapitel Politische Verlage dargestellt; an dieser Stelle sollen nur jene Titel zur Sprache kommen, die belletristischen Charakter hatten. Dies betrifft nahezu ein Viertel der Gesamtproduktion, 15 von 56 Publikationen. Zeitbedingt haben die meisten von ihnen ebenfalls einen Bezug auf die politischen Verhältnisse, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dichterischen bzw. fiktionalen Genres und zur Erzählreportage bilden sie aber doch einen spezifischen Programmbereich. Dazu gehören wichtige literarische Werke des Exils wie Gustav Reglers Saarroman, Schönstedts Auf der Flucht erschossen, Karl Billingers Schutzhäftling Nr. 880,
239 Die Zone. Revue mensuel. Querschnitt durch die deutsche Kunst, Literatur, Musik, Politik, Theater, Wissenschaft. Gesammelt von Emil Szittya und Paul Ruhstrat. Wien, Paris: Die Zone 1933/1934. Die Zeitschrift wurde in Österreich durch Paul Hatvani vertrieben. Die Nummer 7 vom 1. Mai 1934 enthielt u. a. die folgenden Artikel: Emil Szittya: Die Fehler der Republik; Else Goll: Die österreichische Frau; Else Tietze: Ist die deutsche Frau erobert? Walter Kolbenhoff: Berliner Straßen im Dritten Reich. Als ein Sonderheft erschien die letzte Nummer Jaurès: zum 20. Jahrestag seiner Ermordung. Dokumente u. Photos gesammelt u. mit einem Nachwort von Paul Ruhstrat. 240 Roussel: Editeurs et publications, S. 387. 241 Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933‒1939, S. 149. Im Leitheft wurde auch die kommissionsweise Distribution über »F. Schwarz, St. Gallen (Schweiz)« festgehalten.
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Anna Seghersʼ Der Weg durch den Februar oder Bodo Uhses Söldner und Soldat. Besondere Akzente setzten Brechts / Eislers Gedichte Lieder Chöre, oder auf andere, weniger progressive Weise J. R. Bechers aus den Jahren 1932/1933 stammende Reimerzählung Der Mann, der alles glaubte. Kisch festigte seinen Ruf als »rasender Reporter« mit der Reportagensammlung Eintritt verboten, von der auch eine Parallelausgabe in Moskau in der VEGAAR (1935) und 1934 eine Buchgemeinschaftsausgabe in der Universum-Bücherei erschienen, sowie seinem Australien-Buch. Es kamen aber nicht nur deutsche Exilschriftsteller zum Zuge; angereichert wurde das Programm auch mit Übersetzungen von Werken französischer, amerikanischer oder niederländischer Schriftsteller sowie 1934 mit zwei französischsprachigen Büchern, dem Komsomol-Roman Jeunesse von Boris Levine und Les ressuscités von Bernard Lecache. Belletristische Publikationen der Éditions du Carrefour 1934–1936 1934: Bertolt Brecht, Hanns Eisler: Lieder Gedichte Chöre; Bernard Lecache: Les ressuscités; Boris Levine: Jeunesse; Egon Erwin Kisch: Eintritt verboten. Reportagen; Gustav Regler: Im Kreuzfeuer. Ein Saarroman; Walter Schoenstedt: Auf der Flucht erschossen. Ein S. A.-Roman; 1935: Johannes R. Becher: Der Mann, der alles glaubte. Dichtungen; Karl Billinger (d. i. Paul W. Massing): Schutzhäftling Nr. 880. Aus einem deutschen Konzentrationslager. Roman; Seghers, Anna: Der Weg durch den Februar. Ein Roman von den Februarkämpfen 1934 in Österreich; Uhse, Bodo: Söldner und Soldat. Roman; 1936: Aragon, Louis: Die Glocken von Basel. Roman. Übersetzung aus dem Französischen von Alfred Kurella; Wright, Sydney Fowler: Der Untergang von Prag. Roman des Krieges von 1938; Kisch, Egon Erwin: Abenteuer in fünf Kontinenten. Vorwort von Theodor Balk; Last, Jef: Zuiderzee. Roman. Übertragung aus dem Niederländischen von Harry Schulze-Wilde; Malraux, André: Die Zeit der Verachtung. Novelle. Übersetzung aus dem Französischen von Alfred Kurella.
Deutsche Exilverlage in Österreich In den Jahren 1933 bis 1938 konnte Österreich, aufgrund seiner autoritären, gegen die politische Linke militant vorgehenden Regierung trotz seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu Deutschland kein bevorzugtes Exilland sein. Allerdings war das Regime des
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»christlichen Ständestaats« anfänglich strikt anti-nationalsozialistisch ausgerichtet, was mit ein Grund dafür gewesen sein mag, dass Österreich als Asylland für aus Deutschland emigrierte Verleger in diesen Jahren eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Zeitungsmeldungen zufolge überlegten 1935 mehrere deutsche Verlage eine Übersiedlung nach Wien; verwirklicht wurden diese Pläne aber nur in einer geringen Zahl von Fällen.242 Von diesen Neuetablierungen ist jene Gottfried Bermann Fischers weitaus am bekanntesten, Bedeutung erlangte aber auch die Begründung des Bastei-Verlags durch den aus der Geschäftsführung des Piper-Verlags in München ausgeschiedenen Robert Freund und die Errichtung des Thomas-Verlags durch Jakob Hegner.243 Bemerkenswert erscheint – gerade auch im Blick auf die Verhinderung einer Ansiedlung Bermann Fischers in der Schweiz – die Tatsache, dass der österreichische Buchhandel den Zuzug der Kollegen aus Deutschland eher als eine erfreuliche Belebung der Verlagsszene denn als unerwünschte Konkurrenz empfand. Bermann Fischer, bis zu einem gewissen Grad auch Robert Freund, genossen sogar die Unterstützung durch österreichische Behörden, etwa im Zusammenhang mit der Erteilung von Einfuhrbewilligungen bzw. der Zuteilung von Einfuhrkontingenten nach Deutschland.244
Bermann-Fischer Verlag, Wien Die Aufgabe, mit S. Fischer den führenden deutschen Literaturverlag über die finsteren Zeiten zu retten, erwies sich als eine überaus schwierige und als eine, die auf zwei unterschiedlichen Pfaden, einem im Land und einem Wanderpfad über Länder und Kontinente hinweg, geleistet werden musste. Die erstere wurde von Peter Suhrkamp bewältigt, die letztere Aufgabe fiel dem Schwiegersohn des patriarchalischen Verlagsgründers Samuel Fischer zu, Gottfried Bermann Fischer* (1897 Gleiwitz – 1995 Camaiore).245 Dass Bermann Fischer, der nach einem Medizinstudium auf dem Sprung zu einer Arztkarriere stand, Verleger wurde und nicht Chirurg, verdankte er der Beziehung zu Brigitte »Tutti« Fischer* (1905 Berlin – 1991 Camaiore), Tochter Samuel und Hedwig Fi-
242 Der Paul Neff-Verlag ist 1934 von Berlin nach Wien verlegt worden. Offenbar spielte auch Rowohlt mit dem Gedanken einer Übersiedlung. 243 Zu allen diesen Verlagen siehe auch Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, Bd. I, S. 323‒338. 244 Vgl. dazu Hall I, S. 330 f. ‒ Beide Verleger haben sich geschickt in das kulturpolitische Programm des »Ständestaats« einzuordnen gesucht, Bermann Fischer etwa durch Veröffentlichungen von Hans von Hammerstein, des Bundesministers für Justiz und Bundeskommissionärs für Kulturpropaganda, Freund durch die Ankündigung, den Bastei-Verlag als »typischen österreichischen Kulturverlag« führen zu wollen (Hall I, S. 337). 245 Die umfassendste Darstellung der Exilverlage Bermann Fischers stammt von Irene Nawrocka: Verlagssitz. – Siehe ferner: S. Fischer, Verlag; Stach: 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886‒1986; S. Fischer, Verlag, bes. S. 465 f. – Wichtige Quellen sind die Erinnerungswerke und Briefausgaben: G. B. F. Bedroht – bewahrt, bes. ab S. 308; Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert; Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer, 1932‒1955; G. Bermann Fischer gem. mit Brigitte B. Fischer: Briefwechsel mit Autoren. – Vgl. außerdem die ergänzenden Hinweise bei Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), ab S. 133.
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schers.246 Geheiratet wurde erst im Februar 1926,247 aber schon am 1. Oktober 1925 trat Gottfried Bermann in den Verlag ein – und machte sich unter den strengen Augen des Schwiegervaters, der einen Nachfolger für sein Unternehmen suchte (nachdem ein Sohn Gerhart 1913 verstorben war) gar nicht schlecht. Sein größter Coup gelang ihm 1929 mit einer Volksausgabe von Thomas Manns Buddenbrooks, die sich – begünstigt durch den zwischenzeitlich zuerkannten Nobelpreis – in wenigen Wochen fast eine Million Mal verkauft hat. Die Herstellungs- und Vertriebslogistik war nur noch mit Flugzeugen zu bewältigen, die Kolonne von vierzig Lastwagen, die am Erstverkaufstag mit den Büchern in Berlin eintraf, war die Sensation der illustrierten Blätter.248 Gottfried Bermann Fischer brachte also frischen Wind in den Verlag, verinnerlichte aber zugleich das Gewicht der Tradition, das mit dem Namen S. Fischer verbunden war. Folgerichtig war er nach 1933 in jeder Weise bemüht, den Verlag in NS-Deutschland solange weiterzuführen, wie dies nur irgend möglich schien. Dazu gehörte neben entsprechenden Korrekturen im Buchprogramm249 auch die Neuausrichtung der Neuen Rundschau, wo bereits 1932 mit Peter Suhrkamp ein »autoritärer Nationalist«250 mit der Redaktion betraut wurde, um so für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Auch in finanzieller Hinsicht galt es vorzusorgen; da sein betagter Schwiegervater die Zeichen der Zeit nicht wahrhaben wollte und nicht dazu zu überreden war, »wenigstens einen Teil seines großen Privatvermögens ins Ausland zu verlegen«, schritt Bermann selbst zur Tat: »Daß wir bei einem Sieg der Nationalsozialisten Deutschland verlassen mußten, stand außer Zweifel. So baute ich zunächst im Sommer 1929 noch vor einer drohenden Devisensperre eine finanzielle Grundlage im Ausland auf: Ich verlegte das bei der Deutschen Bank in Wertpapieren deponierte Vermögen des Verlages in eine Schweizer Bank und kaufte
246 Brigitte (Eva) Fischer erhielt eine umfassende Ausbildung: von Emil Rudolf Weiß wurde sie in Buchgestaltung unterrichtet, in der Druckerei Otto von Holten lernte sie Handsatz und Pressendruck, und im väterlichen Unternehmen den Herstellungsprozess. Nach dem Tod ihres Vaters 1934 übernahm sie gemeinsam mit ihrem Mann Gottfried Bermann Fischer die Leitung des S. Fischer Verlags und war dann ebenso in den Verlagen in Wien, Stockholm und den USA in die verlegerischen Entscheidungen, die Autorenbetreuung und in die Ausstattung von Büchern eingebunden. Ein Erinnerungsbuch hat sie publiziert unter dem Titel Sie schrieben mir oder was aus meinem Poesiealbum wurde. Zu ihrer Tätigkeit als Buchgestalterin siehe Pfäfflin: Buchumschläge. Über Bücher und ihre äußere Gestalt. 247 Auf Wunsch seines Schwiegervaters nahm Bermann von Amts wegen den Namen BermannFischer an; der Bindestrich zwischen den Namensteilen fiel erst mit Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1947 weg, war aber Bestandteil des Firmennamens des Wiener und des Stockholmer Verlags. Im Kontrast dazu ist es üblich, für den persönlichen Namen des Ehepaars auch rückwirkend die amerikanische Schreibweise »Bermann Fischer« zu verwenden (siehe dazu Nawrocka: Verlagsssitz, S. 5, Fn. 2). 248 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 69‒71. 249 Dazu Nawrocka: Verlagssitz, S. 24 f. 250 So Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen, S. 640 f. Bermann selbst werden von Walter widersprüchliche Aussagen und Fehleinschätzungen der politischen Lage vorgeworfen, vor allem die Bereitschaft, »nach vier Monaten Terror und Konzentrationslagern, nach Judenboykott und Bücherverbrennung, noch immer mit dem Verlag im ›Dritten Reich‹ bleiben« zu wollen (S. 642 f.).
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einige Goldbarren, die ich im Schlafwagen nach Basel brachte. Nur kurze Zeit später trat 1930 die befürchtete Devisensperre in Kraft, nach der Wertpapiere zwar im Ausland bleiben konnten, Goldbesitz jedoch verboten wurde. Nolens volens holte ich unseren kostbaren Goldschatz wieder im Schlafwagen nach Berlin zurück, um mich vor etwaigen Denunziationen zu schützen. Damals ahnte ich nicht, wie bald unsere und Frau Fischers Existenz im Exil von dieser Voraussicht abhängen würde«.251 1933 wurde der »Sieg der Nationalsozialisten« manifest, und die Lage des S. Fischer Verlags eine zunehmend prekäre, allein schon durch die fortlaufende Verfemung von (vielfach bereits vertriebenen) Autoren oder Verboten von Werken, die zum Programm des Verlages gehörten. Indessen war an einen Gang ins Exil vorerst nicht zu denken, da der greise Samuel Fischer sich weigerte, Deutschland zu verlassen – so jedenfalls begründete sein Schwiegersohn den Verbleib der Familie. Im Zuge dieses unbedingten Festhaltens an Deutschland stand Bermann Fischer schon Ende 1933 das erste Mal im Mittelpunkt eines Exilskandals, als er einige seiner längst emigrierten, aber in Hitler-Deutschland immer noch gut verkauften Autoren zwang, sich von Klaus Manns Exilzeitschrift Die Sammlung zu distanzieren – allen voran dessen Vater Thomas, mit René Schickele und Alfred Döblin noch zwei weitere prominente Autoren.252 Zwar taten der Insel-Verleger Anton Kippenberg mit Stefan Zweig und Rowohlt mit Robert Musil dasselbe, während aber die Stellungnahme des letzteren unpubliziert blieb, wurden die telegraphischen Erklärungen der anderen im Börsenblatt öffentlich gemacht; Stefan Zweig nahm dies zum Anlass, um sein seit Jahrzehnten bestehendes Vertragsverhältnis mit Kippenberg abzubrechen, und die übrigen, insbesondere Thomas Mann, haben Bermann Fischer diese Nötigung und Bloßstellung nie verziehen.253 Der taktierende Verleger wußte sich in allen diesen Kalamitäten frei von Schuld: Ihm ging es immer nur um die maximale Verbreitung der Bücher seiner Autoren, und es ging ihm um ein möglichst langes Weiterbestehen des Verlages im nationalsozialistischen Deutschland. Die kompakteste Rechtfertigung, in der er als Unternehmer auch ökonomische Aspekte mit ins Kalkül zog, formulierte Bermann Fischer in einem Brief an René Schickele im Januar 1934: 1) Wir mußten uns nicht beugen, keine Kompromisse machen und keine Konzessionen (und sind fast derselbe S. Fischer Verlag geblieben, der wir waren). Beweis:
251 Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 99. H.-A.Walter (Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen, S. 553 f.) stellt dazu kritisch fest, dass es sich um eine falsche Datierung handeln müsse: die Devisensperre sei erst 1931 verfügt worden, im Sommer 1929 sei die NSDAP als eine Splitterpartei noch keine erkennbare Gefahr gewesen, und auch der »Schwarze Freitag«, der ein nachvollziehbarer Anlass für eine solche Aktion gewesen sein könnte, habe erst am 29. Oktober stattgefunden. 252 Siehe hierzu Walter [Bearb.]: Fritz Landshoff und der Querido Verlag, S. 42‒63, sowie Nawrocka: Verlagssitz, S. 28‒31, und in diesem Band die Kap. 1 Geschichtliche Grundlagen, sowie Kap. 5.3 Zeitschriften. 253 Insbesondere für Erika Mann hatte sich Bermann Fischer moralisch so diskreditiert, dass sie nur noch Wut, Hohn und Spott für ihn übrig hatte, wie die Korrespondenz mit ihrem Vater ausweist.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l unser Programm und sein Erfolg. Es war für uns immer erster Grundsatz, den Verlag zu schließen, wenn man Konzessionen verlangte oder das Programm nicht durchführbar wäre. 2) Der Verlag kann nicht ins Ausland verlegt werden, weil a) die meisten Autoren nicht mitgehen würden und können und b) ein Emigrantenverlag keinen Nachwuchs also keine Weiterentwicklung hat c) ich nicht mitansehen kann, daß Männer wie Hesse Hofmannsthal (Hausmann, Shaw etc.) etc. in die Arme eines nationalistischen Verlages getrieben werden d) und schließlich Millionen von Deutschen nicht zu identifizieren sind mit der Barbarenbesetzung und ihre geistige Nahrung von uns beziehen. e. Schließlich noch ein rein wirtschaftlicher Gesichtspunkt: Der Absatz im deutschsprechenden Ausland beträgt im Durchschnitt 10 % im Höchstfall 35 % (von Thomas Manns neuem Roman wurden 6.000 Ex. im Ausland abgesetzt von 21.000 bis jetzt verkauften).254
Es ist deutlich, wie sich damals rationale Argumente und Momente der illusionären Selbsttäuschung im Bewusstsein des Verlegers mischten. Offensichtlich war ihm auch nicht bewusst, dass er als Jude ein beachtliches persönliches Risiko in Kauf nahm – wenn schon nicht die Gefährdung an Leib und Leben, so doch den Totalverlust von Verlag und Vermögen. Aus seiner subjektiven Sicht erschien der Fortbestand des bedeutendsten deutschen Literaturverlags, der das wilhelminische Kaiserreich, den Weltkrieg, den Umsturz 1918 und eine politisch aufgewühlte Republik überstanden hatte, wichtiger als die Frage, wer jetzt gerade politisch am Ruder war (und morgen vielleicht schon nicht mehr), ‒ eine Haltung, die ex post höchst problematisch erscheint, wenn sie auch als damalige Handlungsmotivation nachzuvollziehen ist. Am 15. Oktober 1934 starb der Patriarch; Gottfried Bermann Fischer war jetzt alleiniger Leiter des Verlags, in allem unterstützt von seiner Frau, und erst jetzt wurden Emigrationsüberlegungen angestellt, wenn auch nicht sofort. Denn noch konnte der S. Fischer Verlag, in dem inzwischen, im Herbst 1933, Peter Suhrkamp auch in den Vorstand berufen worden war, seine Tätigkeit fortsetzen: Daß man uns persönlich und den Verlag drei Jahre lang einigermaßen in Ruhe und mir dadurch die Zeit ließ, die Rettung des Verlages und seine Verbringung ins Ausland vorzubereiten und die notwendigen Verhandlungen mit den ausländischen Behörden und Verlagen zu führen, ist wohl nur dadurch zu erklären, daß das Propagandaministerium damals Wert darauf legte, dem Ausland gegenüber seine ›Liberalität‹ zu beweisen.255 Diese Darstellung in der Autobiographie Bermann Fischers hat wohl deutliche Rechtfertigungsfunktion, doch konnte er immerhin als Beleg darauf verweisen, dass in den Jah-
254 G. B. F. am 10. Januar 1934 in einem Brief (Entwurf) an René Schickele, in: G. Bermann Fischer, B. B. Fischer.: Briefwechsel mit Autoren, S. 221‒223; hier S. 222. 255 Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 103. Vgl. hierzu auch Bermann Fischer: Ein Verlag auf der Flucht 1933‒1947.
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ren 1933, 1934 und 1935 noch jeweils 49, 47 und 45 Neuerscheinungen herausgebracht werden konnten, darunter auch Bücher von Autoren, die eigentlich unerwünscht sein mussten, aber doch »ziemlich ungestört vom Buchhandel verkauft wurden«.256 Diese Liste reichte von Richard Beer-Hofmann, Hermann Broch, Ferdinand Bruckner und Alfred Döblin bis Jakob Wassermann, Carl Zuckmayer und Thomas Mann; auch ein Werk von Leo Trotzki befand sich darunter. Der Verlag scheint sich nur begrenzt um bestehende Verbote gekümmert zu haben; Beer-Hofmann und Jakob Wassermann etwa standen schon seit Mai 1933 mit ihrem Gesamtwerk auf der amtlichen »Schwarzen Liste«.257 In der Realität, die damals weitaus problematischer war als hier erinnert, mehrten sich die Anzeichen dafür, dass sich die Lage sehr bald zuspitzen würde, und so trat Bermann Fischer im März 1935, einem spontanen Impuls folgend,258 an das Berliner Propagandaministerium heran, um die Bedingungen eines Weggangs aus Deutschland zu erkunden.259 Überraschenderweise stieß er bei Dr. Heinz Wismann von der Abteilung VIII (Schrifttum) auf einiges Entgegenkommen. Das Ergebnis der Verhandlungen war: Unter der Bedingung eines Verkaufs des in Deutschland verbleibenden Verlagsteils (und einer 20 %igen Abgabe von dem zuvor ins Ausland transferierten Vermögen) wurde es Bermann Fischer erlaubt, zusammen mit den Rechten und Büchern der unerwünschten Autoren auszuwandern. In der Folge meldeten sich einige Kaufinteressenten wie z. B. Bruckmann, sie kamen aber nicht zum Zug, stattdessen aber Peter Suhrkamp, der schon seit 15. April 1936 als alleiniger Geschäftsführer zeichnete und dann auch, allerdings erst nach Abschluss aller Detailverhandlungen, den definitiven Kaufvertrag am 18. Dezember 1936 unterschreiben konnte.260 Bereits am 30. April lag die schriftliche Genehmigung des Präsidenten der RSK vor, in der auch festgelegt wurde, welche Autorenrechte und Lagerbestände Bermann Fischer als »teilweise Abfindung« für den Verkauf in einen in Wien zu gründenden Verlag einbringen durfte. Genannt wurden die
256 Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 104. Nawrocka: Verlagssitz, S. 25, nennt dagegen für die drei Jahre 47, 38, 45 Titel – auf jeden Fall war der Verlag bemerkenswert produktiv geblieben. 257 Nawrocka: Verlagssitz, S. 22 f. 258 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 112. Zu diesen und im Folgenden referierten Vorgängen rund um die »Arisierung« des S. Fischer Verlages 1935‒1937 vgl. auch die aktengestützte Darstellung von Barbian: Glücksstunde oder nationalsozialistisches Kalkül?. Barbian hält dafür, dass Bermann Fischers autobiographischer Bericht an dieser Stelle als »Selbstinszenierung ex post« zu sehen ist (S. 70). 259 Vgl. zum Folgenden Nawrocka: Verlagssitz, S. 32‒36. 260 Suhrkamp trat als persönlich haftender Gesellschafter (mit einer Einlage von 50.000 RM) einer auf Initiative von Hermann Josef Abs gebildeten Kommanditgesellschaft auf, der auch Philipp Reemtsma und Clemens Abs (mit jeweils 100.000 RM) und Christof Ratjen (75.000 RM) angehörten. Hedwig Fischer erhielt für den Verkauf von 60 % der Aktien der S. Fischer A. G., die nach dem Tod ihres Mannes zur Gänze ihr zugefallen waren, 200.000 RM (nach der Version in Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 119, waren es 250.000 RM). Zum genauen zeitlichen Ablauf siehe auch Barbian: Glücksstunde oder nationalsozialistisches Kalkül?, S. 75 f.
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Namen von 26 Autoren, nämlich: Peter Altenberg, Raoul Auernheimer, Richard BeerHofmann, Alice Berend, Siegmund Bing, Hans Chlumberg, Alfred Döblin, Arthur Eloesser, Martin Gumpert, Moritz Heimann, Friedrich Heydenau, Hugo von Hofmannsthal, Marta Karlweis, Harry Graf Kessler, Annette Kolb, Mechtilde Lichnowsky, Thomas Mann, André Maurois, Carl Rössler, René Schickele, Arthur Schnitzler, Bernard Shaw, Richard Specht, Siegfried Trebitsch, Jakob Wassermann und Carl Zuckmayer.261 Gleichzeitig wurde auch die Zusage gegeben, dass der zukünftige Verlag Bermann Fischers wie jeder andere ausländische Verlag behandelt werden würde, also auch Bücher nach Deutschland liefern dürfe, mit einigen namentlich benannten Ausnahmen: Explizit vom Vertrieb innerhalb Deutschlands ausgeschlossen waren die Wassermann-Biographie von Siegmund Bing und Richard Spechts Schnitzler-Biographie, die Werke von Alfred Döblin, Harry Graf Kessler, René Schickele, Arthur Schnitzler, Siegfried Trebitsch und Jakob Wassermann.262 Das war ein unerwartet gutes Ergebnis und ermöglichte die nahezu unterbrechungslose Fortsetzung einer Verlagstätigkeit in Wien. Die Wahl Wiens als neuer Verlagsort hatte allerdings eine Vorgeschichte. Was nämlich die weiter oben erwähnten »Verhandlungen mit ausländischen Behörden und Verlagen« betrifft, so hatten diese zunächst in der Schweiz und Großbritannien stattgefunden. Bermann Fischer strebte eine Überführung des Verlages nach Zürich an und wollte dort durch ein Joint Venture mit dem britischen Verlag William Heinemann, der im März 1935 mit dem Vorschlag einer Gemeinschaftsgründung an ihn herangetreten war, dem Unternehmen eine finanziell breitere Basis und internationale Verankerung geben. Tatsächlich lag im Januar 1936 ein unterschriftsreifer Vertrag mit dem Verlag Heinemann vor,263 sodass Thomas Mann, von Bermann Fischer benachrichtigt, am 19. Januar 1936 in seinem Tagebuch erleichtert vermerkte: »Die Vereinbarung mit W. Heinemann ist perfekt, die Firma Fischer-W. Heinemann Zürich-London begründet, mit großem Kapital, englisch-amerikanisch-schweizerisch, politisch sehr geschützt. Dies freut mich sehr«.264 Das Vorhaben scheiterte allerdings am Einspruch des Schweizerischen Buchhändlervereins und des Verlegervereins (vor allem wohl am Rascher Verlag), der Ende März 1936 einen entsprechenden ablehnenden Bescheid der Fremdenpolizei zur Folge hatte.265 Thomas Mann trug am 9. April 1936 in sein Tagebuch ein: »Die Soziierung mit Heinemann gescheitert, angeblich aus politischen Gründen«.266
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Nawrocka: Verlagssitz, S. 34. Vgl. S. Fischer, Verlag, S. 471. Vgl. hierzu auch Joos: Trustees for the public?, S. 182. Thomas Mann: Tagebücher 1935‒1936, S. 243 f. Siehe hierzu Nawrocka: Verlagssitz, S. 39 f. Vgl. ferner Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 111‒113. 266 Thomas Mann: Tagebücher 1935‒1936, S. 289. Zuvor vermerkt Mann unter dem gleichen Datum: »Zum ersten Frühstück Besuch von Bermann, der höchst positiv über Wien berichtet und bei dem außerordentlichen Entgegenkommen, das der Kanzler gezeigt, einen Rückzug von dem Übersiedelungsplan kaum noch für angängig hält«. Die weiter unten beschriebene Verlagsverlagerung nach Wien war ganz offensichtlich eine von höchsten Stellen geförderte Aktion.
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Bermann Fischer selbst führte den negativen Bescheid auf eine Kampagne zurück, die am 11. Januar 1936 von Leopold Schwarzschild vom Pariser Exil aus im Neuen Tagebuch ausgelöst worden ist.267 Schwarzschilds Vorwürfe gipfelten in dem Anwurf, Bermann Fischer sei der »Schutzjude des nationalsozialistischen Verlagsbuchhandels« und strebe jetzt die Gründung eines im Interesse des Propagandaministeriums liegenden »getarnten ›Emigrations‹-Verlag« an; die ihm erteilte Devisengenehmigung sei ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr das von ihm vorbereitete »Unternehmen von deutschen Amtsstellen gewünscht und favorisiert wird«.268 Gegen diese »sehr bösartige Kritik«, die Diffamierung ihres Verlegers, protestierten Thomas Mann, Annette Kolb und Hermann Hesse in einer öffentlichen, in der Neuen Zürcher Zeitung (18. Januar) und der Neuen Freien Presse (Wien, 19. Januar) abgedruckten Erklärung, die wiederum einen ebenfalls kritischen Artikel Georg Bernhards Der Fall S. Fischer im Pariser Tageblatt (19. Januar) nach sich zog sowie einen im Neuen Tagebuch (25. Januar) publizierten »zur Veröffentlichung bestimmten Privatbrief« Schwarzschilds an Thomas Mann, als Antwort auf einen privaten Briefs Manns an ihn. Schwarzschild kennzeichnete Bermann Fischers Absichten als eine unerwünschte Störung der Exilliteratur und der drei großen Exilverlage Allert de Lange, Querido und Oprecht und insistierte auf seiner Annahme, es könne sich bei der Neugründung nur um einen vom Reich abhängigen Verlag handeln, der notwendig die »materielle und moralische Zertrümmerung der abgewanderten Autoren und der der abgewanderten Literatur« zur Folge haben müsste – eine Entwicklung, an der sich Thomas Mann mitschuldig mache. Dies wiederum forderte den Schweizer Kritiker Eduard Korrodi zu einer in der Neuen Zürcher Zeitung am 26. Januar abgedruckten Polemik gegen die von Schwarzschild vertretene Sichtweise heraus, die deutsche Literatur werde heute faktisch zur Gänze von den exilierten Autoren repräsentiert. Emigriert sei allenfalls die »Romanindustrie«, nicht aber die wirklichen Dichter. Auf diese sehr grundsätzliche Attacke richtete Thomas Mann seine differenzierende Antwort an Eduard Korrodi (Neue Zürcher Zeitung, 3. Februar 1936), deren Bedeutung vor allem darin lag, dass sich Thomas Mann hier erstmals ohne Vorbehalt zur Emigration bekannte. Die Debatte hatte sich also von den Bermannʼschen Verlagsgründungsabsichten weit entfernt, war aber doch geeignet, die Reputation des Verlegers in der Emigration weiter zu beschädigen. Mit dem von der Schweiz ausgesprochenen Niederlassungsverbot hatte sie allerdings ursächlich nichts zu tun; dafür waren das Konkurrenzdenken der Schweizer Kollegenschaft und auch die Angst vor Überfremdung, die generelle Abwehrhaltung gegenüber der Emigration maßgebend. Bermann Fischer zog sein Niederlassungsgesuch im Kanton Zürich wegen Aussichtslosigkeit zurück; sicherheitshalber brachte er aber die ihm übertragenen Autorenrechte in eine im schweizerischen Chur gegründete »A. G. für Verlagsrechte« ein, was sich nur wenige Jahre später als eine für den Verlag überlebenswichtige Maßnahme erweisen sollte.269
267 Genaueres zu der Schwarzschild-Korrodi-Affäre bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 40‒46. 268 Zit. n. Nawrocka, S. 41. Die Devisengenehmigung war damals noch nicht erteilt. 269 In seiner zweiten Autobiographie behauptet Bermann Fischer, er habe diese »A. G. für Verlagsrechte« aufgrund der »Unfähigkeit der wechselnden Regierungen« bereits im Herbst 1932 eingerichtet (Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 98); unter diesen Umständen wäre aber die 1936 erfolgte Teilung des Berliner Verlags gar nicht erst notwen-
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Den mit Heinemann aufgesetzten Verlagsgründungsplan wollte Bermann Fischer retten, indem er nun die Möglichkeiten sondierte, ihn in Wien zu realisieren – wiewohl ihm selbst bewusst war, dass die Lage in Österreich alles andere als stabil war. Diese Variante wurde aber nun von Heinemann abgelehnt, der das politische Risiko einer Niederlassung in Österreich noch höher einschätzte.270 So entschloss sich Bermann Fischer, in Wien den Alleingang zu wagen. Sein Ansuchen um eine Verlagskonzession wurde dort innerhalb weniger Wochen positiv beschieden. Diese rasche Lösung war möglich, weil er eine bestehende Konzession übernahm, die Konzession einer im Dezember 1930 gegründeten »Zentraleuropäischen Verlags- und Werbe-Gesellschaft«, von der offenbar kein Gebrauch gemacht worden war. Bermann Fischers offiziell am 1. Mai 1936271 errichteter und am 9. Juni 1936 ins Handelsregister eingetragener Verlag firmierte unter »Bermann-Fischer Verlag Ges. m. b. H.«. Die Startvoraussetzungen waren denkbar günstig: Zur Ausfuhr nach Wien freigegeben272 waren aus dem Berliner Bücherlager von S. Fischer 786.000 Bände mit 262 Titeln von 22 »unerwünschten« Autoren mit einem Verkaufswert von 1.570.000 Mark,273 außerdem war Bermann Fischer die Erlaubnis erteilt worden, Bücher nach Deutschland zu (re-) exportieren, soweit dies nicht die ausdrücklich verbotenen Autoren betraf. Auch wurde der Wiener Verlag in das Adressbuch des Deutschen Buchhandels 1937 und 1938 aufgenommen und war Mitglied des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, konnte so Werbeanzeigen im Börsenblatt platzieren zu Neuerscheinungen, die dann (bis Februar 1938) in Deutschland auch rezensiert wurden.274 Es waren genau diese Bedingungen,
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dig gewesen. Vgl. auch Nawrocka: Verlagssitz, S. 53, wo unter Bezugnahme auf das Handelsregister des Kantons Graubünden das Eintragungsdatum der A. G. mit 4. Juni 1936 angegeben wird. Aus anderen Quellen (der RSK) berichtet Volker Dahm, dass die mit Hilfe von Schweizer Freunden errichtete »A. G. für Verlagsrechte« in Chur die Rechte von 31 der bedeutenderen Autoren gehalten habe, während beim Bermann-Fischer Verlag jene von 20 Autoren minderer Bedeutung (ausgenommen Robert Musil) lagen. Ein Vertrag sah vor, dass Bermann-Fischer an die A. G. 5 % Provision vom Ladenpreis je verkauftem Exemplar zu zahlen hatte und verpflichtet war, »die Autorenhonorare bei Fälligkeit an die A. G. abzuführen« (Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 134 f.). Heinemann ging später eine Zusammenarbeit mit einem emigrierten österreichischen Verleger, Paul Zsolnay, ein. Vgl. hierzu weiter unten im Kapitel den Abschnitt Großbritannien. So die Angabe im Adressbuch des deutschen Buchhandels 1937 und 1938. Freigegeben wurde auch das Berliner Mobiliar, die private Bibliothek und die Gemälde des Ehepaars Bermann Fischer, die sich so in Wien ohne große Umstände wieder einrichten konnten. Nawrocka: Verlagssitz, S. 35. Danach waren bei Suhrkamp in Berlin 120 Autoren mit rund 500 lieferbaren Werken in zusammen 1,5 Mio. Bänden und einem Verkaufswert von 3 Mio. Mark verblieben. Auf S. 36 spricht Nawrocka allerdings von 46 Autoren, die »weiterhin dem S. Fischer Verlag in Berlin angehörten«. – Zum Schicksal des S. Fischer Verlags (ab 1. Juli 1942 »Suhrkamp Verlag vormals S. Fischer Verlag«, ab 1. Januar 1943 »Suhrkamp Verlag«) im Dritten Reich siehe Bd. 3/1 dieser Buchhandelsgeschichte, Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Vgl. hierzu Nawrocka: Kooperationen im Exilverlagswesen, S. 66 u. 81, unter Bezugnahme auf Schriftstücke in der Firmenakte SStAL, BV, F 698.
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die nicht nur zeitgenössisch Anstoß erregten: Bis heute ist umstritten, ob dem Wiener Bermann-Fischer Verlag der Status eines Exilverlags zugesprochen werden kann oder ob es sich um einen »Sezessionsverlag« handelt.275 Zwar stammt dieser Begriff aus dem nach dem Krieg erschienenen Zehnjahrbuch 1938‒1948 des Bermann-Fischer Verlags und ist damit hinreichend legitimiert, doch ist er auch geeignet, das Faktum zu verdecken, dass auch für Bermann Fischer eine Weiterarbeit in Deutschland nicht möglich gewesen wäre und dass die friktionsfreie Abwicklung seiner Emigration nichts an deren Zwangscharakter ändert. Bermann Fischer konnte in kurzer Zeit wieder ein Mitarbeiterteam zusammenstellen: Für die Lektoratsarbeit gewann er den Musikkritiker und -wissenschaftler Victor Zuckerkandl* (1896 Wien – 1965 Locarno),276 die Herstellung und Buchgestaltung lag in den Händen von Justinian Frisch* (1879 Kritzendorf b. Wien – 1949 Cambridge / GB),277 die Theaterabteilung wurde wie schon in Berlin von Konrad Maril* (1889 Wien – 1956 Washington DC) geleitet.278 Der Verlag hatte zeitweise 14, ganz überwiegend aus Österreich stammende Angestellte und ständige Mitarbeiter. Für die Buchgestaltung bediente sich der Verlag gelegentlich auch der Dienste des österreichischen Schriftkünstlers und Buchgraphikers Fritz Neugebauer.279 Das Signet des Verlags mit den beiden Rappen wurde noch in Berlin von Emil Rudolf Weiß entworfen; es nahm Bezug auf die Pferde, die einst dem Jagdwagen des Großvaters von Bermann Fischer vorgespannt waren.280 In einer mit 15. Juli 1936 datierten Gründungsanzeige281 wandte sich der neue Verlag an den »geehrten Buchhandel« und listete zu dessen Information die Namen jener 22 Autoren auf, deren bisher im Verlag S. Fischer erschienene Werke mit allen Rechten übernommen wurden. Gegenüber den 26, deren Mitnahme vom Propagandaministerium genehmigt worden waren, fehlten – wohl aus unterschiedlichen Gründen – sechs Namen (Auernheimer, Bing, Chlumberg, Eloesser, Schickele, Specht), dafür waren zwei weitere
275 Vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938. Bd. 2, S. 89. 276 Victor Zuckerkandl war nach musikalischer Ausbildung als Musikkritiker für Blätter des Berliner Ullstein-Konzerns tätig gewesen und hatte 1934‒1938 in Wien Musiktheorie gelehrt; 1936 trat er als Verlagslektor in den Bermann-Fischer Verlag ein. Seine Frau Mimi übersetzte (meist unter dem Namen Maria Giustiniani) in diesem Zeitraum für den Verlag mehrere Bücher, u. a. von Julien Green, Eve Curie und Paul Valéry. Im September 1938 gelangten die beiden nach Schweden, wo Zuckerkandl für den Stockholmer Bermann-Fischer Verlag erneut als Lektor tätig wurde. 277 Zu Justinian Frisch siehe auch den Abschnitt zum Bermann-Fischer Verlag in Stockholm weiter unten. 278 Der Bühnenvertrieb, der auch für Film- und Rundfunkrechte zuständig war, betreute Werke von 16 Autoren. – Maril war promovierter Jurist und hatte 1924 die Leitung der Theaterabteilung des S. Fischer Verlags in Berlin übernommen. Nach dem »Anschluss« gelang Maril die Emigration in die USA; bis 1942 lebte er in New York als freiberuflicher Schriftsteller und verpflichtete sich dann bis Kriegsende im amerikanischen Office of War Information. 279 Genaueres dazu im Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 280 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 126. 281 Faksimiliert abgedruckt in Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 128 f.
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hinzugekommen, Arthur Holitscher und Alfred Kerr. Anders als bei den allermeisten anderen Verlagen der deutschsprachigen Emigration stand damit vom ersten Moment an eine »back list« zur Verfügung. Die in Deutschland hergestellten Bücher wurden in Österreich neu gebunden und mit neuer Titelei in Umlauf gebracht, in Österreich, aber auch in Deutschland und noch anderen Ländern wie Schweiz, Großbritannien, Tschechoslowakei, Ungarn und Polen, wo auch »erstaunliche« Verkaufsziffern erzielt werden konnten. Darüber hinaus begann Bermann Fischer sogleich mit der Produktion weiterer Bücher; schon das Herbstprogramm 1936 umfasste zwölf Titel, neun Erstausgaben und drei Neuauflagen.282 Das Zugpferd war einmal mehr Thomas Mann, mit den Bänden 2 (Der junge Joseph, Neuaufl.) und 3 (Joseph in Ägypten) der kühnerweise in Deutschland begonnenen Joseph und seine Brüder-Romantetralogie sowie einem in Wien am 8. Mai 1936 zur Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag gehaltenen Vortrag Freud und die Zukunft, der als erster Band einer neu ins Leben gerufenen Schriftenreihe »Ausblicke« herauskam. In den »Ausblicken« sollten in zwangloser Folge kleinere Arbeiten erscheinen, in denen herausragende Schriftsteller zu Zeitproblemen Stellung nehmen. Ebenfalls dem Herbstprogramm 1936 gehörten – neben den Neuauflagen von Hofmannsthals »Fragmenten eines Romans« Andreas oder die Vereinigten (Nachwort Jakob Wassermann) und Carl Zuckmayers Roman Salwàre oder die Magdalena von Bozen – auch Romane von Julien Green, Johannes V. Jensen und Mechtilde Lichnowsky an, eine gutverkaufte »Idylle« von Hermann Hesse Stunden im Garten (ein »Abschiedsgeschenk«, alle weiteren Hesse-Bücher erschienen in Berlin bei Suhrkamp) sowie bemerkenswerterweise auch schon das Buch eines wichtigen zeitgenössischen österreichischen Autors, Hans von Hammerstein-Equords Heimkehrer-Roman Die gelbe Mauer. Urkunde einer Leidenschaft. Hammerstein war 1936 Justizminister und seit 30. November 1936 als Sektionschef im Bundeskanzleramt mit einer besonderen Mission beauftragt, nämlich als »Bundeskommissar für Kulturpropaganda«. Damit hatte sich Bermann Fischer sehr rasch Zugang ins Innerste des österreichischen »Ständestaats« und dessen Kulturpolitik gesichert, zumal 1937 zwei weitere Hammerstein-Titel erscheinen sollten, darunter Wald. Roman aus dem alten Österreich. Überhaupt brachte das Jahr 1937 einen weiteren Aufschwung und Höhepunkt der Produktion mit sich; nicht weniger als 29 Titel sind in diesem Jahr erschienen,283 darunter auch ein Verlagsalmanach Die Rappen, in welchem Neuigkeiten und das Gesamtprogramm vorgestellt und in einer Autorenliste jene 16 Autoren durch ein Sternchen kenntlich gemacht wurden, die zu den aus Berlin übernommenen neu hinzugekommen waren, unter ihnen Rudolf Borchardt, Paul Claudel, Jean Giraudoux, Robert Musil oder Paul Valéry. Bermann-Fischer wurde mit dieser sprunghaften Zunahme aus dem Stand zu einem der größten belletristischen Verlage Österreichs. Die Reihe der »Ausblicke« wurde fortgesetzt, u. a. mit Paul Valérys Die Politik des Geistes; Robert Musils Über die Dummheit; Hans von Hammersteins Wiedergeburt der Menschlichkeit, Paul Claudels verdeckter NS-Kritik Vom Wesen der holländischen Malerei sowie Christentum und Abendland des mit Bundeskanzler Schuschnigg befreundeten
282 Eine genaue Auflistung bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 51. 283 Vgl. dazu 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886‒1986.
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Professors für kanonisches Recht Johannes Hollnsteiner. Weiters kamen heraus Briefbände von Vincent van Gogh und von Hugo von Hofmannsthal, zwei Bücher von Jean Giono, Rudolf Borchardts Roman Vereinigung durch den Feind hindurch, Carl Zuckmayers Erzählung Ein Sommer in Österreich, eine Schopenhauer-Biographie von Walther Schneider, Neuauflagen der ersten beiden Bände von Musils Mann ohne Eigenschaften durch Rechteübernahme von Rowohlt (der schon 1936 angekündigte 3. Band ist nicht fertig geworden; er erschien erst nach dem Krieg als Nachlassband in der Schweiz), das gut verkäufliche Mozart-Buch Annette Kolbs und der unerwartete Bestseller Madame Curie von deren Tochter Eve Curie, der nach einem Jahr in der 32. Auflage vorlag und »mit einem Schlag den noch auf schwachen Füßen stehenden Verlag aller finanziellen Sorgen enthob«.284 Über manche andere Titel ist dagegen die Zeit hinweggegangen, wie über Valentin Abb. 9: Zeugnis eines florierenden Richters Ein Leben und ein Augenblick oder Julius Unternehmens: Das Jahrbuch des Vogels Der ewige Wind. Zweifellos trug auch Tho- Wiener Bermann-Fischer Verlags, mas Manns Zauberberg zum guten Betriebsergebnis in der Gestaltung Friedrich bei, er erschien im Herbst 1937 in einer »wohlfeilen, Neugebauers. unverkürzten Ausgabe«. Alles in allem war die Programmausrichtung unverkennbar auf politisch indifferente Literatur abgestellt, ganz im Sinne der in der Vorbemerkung zum Verlagsalmanach Die Rappen bekundeten Absicht, in »der heutigen hochpolitisierten Welt« allein »der Sache der Kunst, der Sache des Geistes zu dienen«. Der schwunghaften Titelproduktion standen hingegen weniger günstige Entwicklungen im Vertrieb gegenüber, besonders was den so wichtigen Export nach Deutschland betraf. Dieser unterlag aus devisentechnischen Gründen schon seit Sommer 1936 und vor allem dann 1937 starken Einschränkungen; die Reichsregierung legte einseitig ein Einfuhrkontingent fest, das den deutschen Behörden die Möglichkeit verschaffte, unerwünschte Werke auszusperren, vor allem aber die Einfuhr generell zu drosseln. Bermann Fischer, der sich in dieser Situation auch an die österreichischen Ministerien bzw. das Bundeskanzleramt wandte,285 musste sich, trotz begünstigender Behandlung seiner Einfuhrwünsche, entschließen, nun auch noch in Deutschland drucken zu lassen, um diesen Devisen-Engpass zu umgehen. Die Lage stellte sich inzwischen, wirtschaftlich wie politisch, nicht mehr ganz so rosig dar. 1938 erschienen in Wien noch Die Briefe der Königin Elisabeth von England 1533‒1603, Hugo von Hofmannsthals Jedermann in der 103.‒105. Auflage (EA 1911)
284 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 133. 285 Hammerstein nahm sich dieses Problems mehrfach an, seine und die Intervention der Österreichischen Botschaft in Berlin waren auch in Maßen erfolgreich.
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und dessen Festspiele in Salzburg, Eric Voegelins Die politischen Religionen und noch einige Neuauflagen, etwa von Richard Beer-Hofmann Schlaflied für Mirjam in der 9. Auflage. Es blieben nicht viel mehr als zwei Monate Zeit bis zu jenem 11. März 1938, an dem sich wieder alles änderte. Wien war nicht der Ort, den Bermann Fischer von Anfang an als neuen Sitz seines Verlages angestrebt hatte, aber er war von den Arbeitsmöglichkeiten, dem Kulturleben und gesellschaftlichen Festivitäten begeistert.286 Umso tiefer war der Fall. Von Freund Hollnsteiner gewarnt, bereitete das Ehepaar Bermann Fischer seine Flucht vor und fuhr am 13. März zusammen mit den drei kleinen Töchtern im Nachtzug nach Rapallo (wo sich Hedwig Fischer aufhielt) und entkam so dem tags darauf erfolgten Besuch der SSMänner. Verloren war damit kostbares privates Besitztum287 (bis auf eine Stradivari und einige Mozart- und Bach-Autographen, die mitgenommen wurden) ebenso wie der Verlag. In dieser Situation – Bermann Fischer war inzwischen in Zürich, einem »Heerlager österreichischer Flüchtlinge« – galt es nun zu überlegen, ob und wo es mit einem neu zu gründenden Verlag weitergehen konnte. Die Schweiz kam dafür nicht in Frage. In diesem Zusammenhang war ein Problem mit Thomas Mann zu klären. In einem Telegramm an den inzwischen in den USA weilenden Autor hatte Bermann Fischer eine Überlegung angedeutet, sich mit einem neuen Verlag in den USA festzusetzen, denn über diese Frage hatte er kurz zuvor mit Benjamin Huebsch vom New Yorker Viking Verlag korrespondiert.288 Die Antwort, die er in einem am 8. April 1938 in Beverly Hills abgefassten Brief erhielt, sollte den Verleger tief erschüttern. Thomas Mann zeigte sich in diesem Punkt strikt ablehnend: »Lassen Sie mich offen sein: nach reiflichem Nachdenken halte ich es für meine Pflicht, Ihnen von einem solchen Entschluss abzuraten«. Bermann Fischer habe sich durch seinen zögerlichen Weggang, die Aufrechterhaltung der Verbindung zu Deutschland und den Charakter seines immer noch auf den deutschen Markt abgestellten Wiener Verlages gerade in dem darin sehr empfindlichen Amerika »auf sehr negative Weise den Boden bereitet«. Und weiter: Es wäre ohnehin ein zu gewagtes Unternehmen, ohne genaue Kenntnis der Verhältnisse in den USA einen deutschen Verlag zu starten, und in Ihrem Fall muß ich mit
286 »Obwohl dem Verlag nur zwei Jahre in Wien vergönnt waren, an deren Ende die neuerliche Flucht stand, habe ich meinen nicht ganz freiwilligen Entschluß, den Exilverlag dort zu eröffnen, niemals bereut. Sie gehören, trotz aller Ängste und Bedrängnisse, zu den schönen und erfolgreichen meines Lebens« (Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 123). 287 Über den Verlust der zuvor aus Berlin überführten Privatbibliothek und die nach 1945 erfolgte (Teil-)Rückstellung der hauptsächlich in die Österreichische Nationalbibliothek gelangten Bestände informiert Köstner-Pemsel: Österreichische Büchersammler und ihre Schicksale, S. 208 f. Siehe dazu auch Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 260. Die Privatbibliothek Bermann Fischers wurde 1997 vom Wiener Antiquariat Georg Fritsch verkauft. 288 Benjamin Huebsch, väterlicherseits deutscher Abstammung, hatte in dem von ihm geleiteten Verlag mehrfach Bücher deutscher Exilautoren in Übersetzung herausgebracht; dem Vorschlag Bermann-Fischers, in den USA gemeinsam einen Verlag mit Buchgemeinschaft zu gründen, lehnte er jedoch in einem Schreiben vom 13. April ab, weil er für deutschsprachige Bücher nur geringe Absatzchancen sah. Vgl. hierzu Nawrocka: Verlagssitz, S. 82 f.
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Bestimmtheit befürchten, daß die Schwierigkeiten sich bis zur Unausführbarkeit steigern würden. Den großen Deutschen Emigrationsverlag hier zu begründen, ist gewiß ein nahe liegender Gedanke, und ich weiß, daß mehrere amerikanische Verlage sich mit diesem Gedanken beschäftigen. Selbstverständlich ist es ja auch, daß ich persönlich im höchsten Grade interessiert daran bin, denn das Schicksal der Original-Form meiner Arbeiten muß mir ja am Herzen liegen und es hat mir schon manche Sorge bereitet, da praktisch genommen schon längst die englischen Übersetzungen weit stärker ins Gewicht fallen und das Original gewissermaßen abhanden zu kommen droht. Ich habe mich aber überzeugen müssen, daß nur ein eingeführter amerikanischer Verlag, der über große Verbreitungsmöglichkeiten und Mittel verfügt, der richtige Unternehmer sein könnte, und selbstverständlich denke ich dabei in erster Linie an meinen Freund Alfred Knopf, der sich in einer außergewöhnlichen, man kann sagen enthusiastischen Weise für meine Bücher einsetzt, und dem, wie ich weiß, solche Erwägungen heute keineswegs mehr fremd sind.289 Thomas Mann gab mithin ein deutliches Signal, sich aus seinem Vertragsverhältnis mit Bermann Fischer lösen zu wollen. Damit nicht genug: Er gab seinem Verleger auch rundheraus den Rat, sich wieder seinem angestammten Beruf zuzuwenden: Ich kann das Maß von Passion schwer abschätzen, das Sie dem verlegerischen Beruf gewidmet haben, aber ich weiß, daß es Ihnen seinerzeit keineswegs leicht geworden ist, den medizinischen aufzugeben und daß man Sie ungern hat aus ihm scheiden lassen. Wenn ich mir unter den heutigen Umständen Ihren Lebensweg vor Augen halte und mir Ihre Zukunft überlege, so kann ich mich nicht dem Gefühl entziehen, daß es für Sie als einem der Tätigkeit bedürftigen, noch jungen Mann weitaus das Richtigste wäre, wenn Sie zu jenem damals mit so viel innerer Notwendigkeit verlassenen Beruf zurückkehrten und sich in diesem Erdteil, das[!] solche Spezialisten dringend braucht, als Arzt niederließen. Es war dies eine der schmerzlichsten Erfahrungen im Leben des Verlegers Gottfried Bermann Fischer,290 dass Thomas Mann – die Hauptstütze seines Verlags – ihm die Rückkehr zur medizinischen Laufbahn nahelegte und dass in diesem entscheidenden Moment der wichtigste Autor des Verlags von der Fahne zu gehen drohte. Doch obwohl Thomas Mann in einem weiteren Brief vom 15. April noch einmal nachlegte und die »sachliche Trennung« für notwendig hielt, meisterte Bermann Fischer die Krise mit bemerkenswertem Geschick und konnte seinen Autor zur Fortsetzung der Zusammenarbeit gewinnen.
289 Zit. n. G. Bermann Fischer, B. B. Fischer: Briefwechsel mit Autoren, S. 65‒67. Diese Briefe sind auch abgedruckt in Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 155‒165. 290 Am 29. April schrieb er an Thomas Mann: »Ihr Brief war für mich niederschmetternd. Alles hätte ich erwartet, nur nicht dies, daß gerade Sie mich in diesem Augenblick der weiß Gott schwer genug ist, im Stich lassen würden« (G. Bermann Fischer, B. Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren, S. 73).
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Im Übrigen hatte in Wien die Tätigkeit des Bermann-Fischer Verlags keineswegs schlagartig mit dem »Anschluss« geendet.291 Vielmehr war er unter kommissarische Leitung (mit wechselnder Besetzung) gestellt worden; als Verlagsmitarbeiter war Justinian Frisch noch weiter tätig; der Verlag lieferte auch noch Bücher z. B. von Hermann Hesse reichsweit aus. Da – bedingt auch durch den Stillstand – eine Überschuldung von zunächst RM 33.670 festgestellt wurde (später RM 42.500), musste am 25. Februar 1939 vom kommissarischen Leiter der Antrag auf Eröffnung eines Ausgleichsverfahrens gestellt werden. Diskutiert wurde nun, auch mit der RSK und dem Propagandaministerium in Berlin, die Frage nach Fortführung, Verkauf oder endgültiger Liquidierung des Verlags. Für eine Überführung in »arische« Hände setzte sich insbesondere (und gegen den Widerstand der Gestapo) der kommissarische Leiter Theodor Hahn ein, der so auch das Lager von 400.000 Bänden »vollkommen unpolitischer« Literatur einer Verwertung zuführen wollte. Hahn wurde aber kaltgestellt, von der Abt. III der RSK reiste Karl Heinrich Bischoff an und schlug vor, durch eine Fusion des Bermann-Fischer Verlags mit dem Herbert Reichner Verlag in Wien einen »schöngeistigen Verlag mit grösserem Radius« zu schaffen (er selbst sollte dieses Vorhaben etwas später durch Übernahme des Paul Zsolnay-Verlags verwirklichen). Dieser Plan zerschlug sich, und so verblieb als einzige Option die Firmenschließung. Die bis dahin aufs Notwendigste beschränkte Verlagstätigkeit wurde im April 1939 endgültig eingestellt; die Liquidierung des Unternehmens übernahm der auch bei vielen anderen Wiener Verlagen als »Ariseur« und Abwickler hervorgetretene Dr. Gottfried Linsmayer. Ein pikantes Problem ergab sich aber daraus, dass der Hauptgläubiger der BermannFischer Ges. m. b. H. die »A. G. für Verlagsrechte« in Chur war292 und dass diese sich, vertreten von Schweizer und Wiener Rechtsanwälten, unter Berufung auf ihre Forderungen von rund RM 52.000 um die Übernahme des Wiener Bücherlagers bemühte – phasenweise auch mit guten Aussichten auf Erfolg. Die Besonderheit dabei war, dass es den deutschen Behörden nicht bekannt war und ihnen auch lange verborgen blieb, dass sich hinter der A. G. niemand anderes verbarg als Gottfried Bermann Fischer selbst. Der mäandrierende Verlauf der Verhandlungen und die davon berührten, außerordentlich verwickelten finanziellen und politischen Zusammenhänge können an dieser Stelle nicht näher vorgestellt werden; festzuhalten bleibt, dass in diesem Ringen die Rechte am Werk des »Vierteljuden« Hugo von Hofmannsthal eine besondere Rolle gespielt haben und dass die NS-Behörden so heillos zwischen ökonomischen Überlegungen und (rassen)ideologischen Setzungen293 schwankten, dass der gordische Knoten nur durch eine rela291 Zum Folgenden vgl. Nawrocka: Verlagssitz, S. 64‒71; auch Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 2, ab S. 96. 292 Siehe zum Folgenden Nawrocka: Verlagssitz, S. 71‒81. 293 Ein Beispiel: Nachdem man durch genauere Nachforschungen festgestellt hatte, dass es sich bei dem 1929 verstorbenen Hofmannsthal nicht etwa um einen »Halbjuden«, sondern nur um einen »Mischling II. Grades« handelte, als welcher er Mitglied der RSK hätte werden können, betrachtete man es als »wenig angängig, dass man auf der einen Seite die Buchveröffentlichungen von Hofmannsthal Bermann-Fischer als jüdischem Verlag in Schweden überlässt, während auf der anderen Seite in Deutschland die Opern von Richard Strauss aufgeführt werden, deren Libretto ja immer Hofmannsthal geschrieben hat«. Auch sei es nicht unbedenklich, »ein im Ganzen mehr deutsches als jüdisches Werk« einem Juden zu überlassen, »der natürlich gerade von Stockholm aus gegründet auf den Namen Hofmanns-
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tiv willkürlich herbeigeführte Entscheidung durchhauen werden konnte: Die Herausgabe des Lagers wurde verweigert, große Teile der Bestände wurden an die Deutsche Vertriebsgesellschaft Dr. Steffens & Co. und ein Teil der verbotenen Bücher in die Schweiz verkauft; der Rest wurde eingestampft. Anschließend beantragte Linsmayer die Löschung der Firma Bermann-Fischer aus dem Handelsregister.294 Inzwischen hatte Bermann Fischer in Zürich die Antwort auf die Frage gefunden, wie und wo es mit seinem Verlag, der zu diesem Zeitpunkt nur virtuell in Gestalt der von ihm gehaltenen Autorenrechte existierte, weitergehen könnte. Bermann Fischer berichtete in seiner Autobiographie, er sei gesprächsweise von Franz Horch, später ein bedeutender Literaturagent, auf das Thema Schweden gebracht worden und habe sich dabei an die seit langem bestehende geschäftliche Verbindung mit dem Verlagshaus Albert Bonnier in Stockholm erinnert. Ein spontanes Anschreiben wurde mit einiger Verzögerung beantwortet: Tor Bonnier befand sich gerade in der Schweiz, und nach Überwindung von dessen anfänglicher Skepsis – nicht nur war der deutsche Markt jetzt endgültig versperrt, sondern mit Österreich war gerade auch das wichtigste deutschsprachige Land als Absatzgebiet weggefallen – kam es zu einem Zusammentreffen und danach schnell zu einer Einigung. Damit war ein weiteres Kapitel des Bermann-Fischer Verlags aufgeschlagen, nunmehr in Schweden (dazu siehe weiter unten).
Thomas Verlag Jakob Hegner, Wien Als Jakob Hegner* (1882 Wien – 1962 Lugano, Schweiz) sich 1936 nach Wien flüchtete und dort den Thomas-Verlag errichtete, blickte er bereits auf eine jahrzehntelange Tätigkeit als Drucker und Verleger zurück. 1912 hatte er in Hellerau bei Dresden einen eigenen Verlag und später eine Druckerei errichtet, die bald zu den qualitativ höchststehenden ihrer Zeit gehörte. 1930 musste er infolge der Weltwirtschaftskrise sein Unternehmen schließen und wurde in der Leipziger Druckerei Oscar Brandstetter als Direktor tätig, auch verlegerisch. Dort vertrat er ein europäisch-christliches Programm; so etwa brachte er Werke von Romano Guardini heraus. 1936 wurde Hegner aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, und noch im selben Jahr übersiedelte er nach Wien, wo er den Thomas-Verlag Jakob Hegner gründete.295 Aktenstücke zeigen, dass der Verein der österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhändler noch Ende 1937 mit beachtlicher Energie durchgesetzt hat, dass Hegner nicht nur in das Adressbuch des Deutschen Buchhandels, sondern auch in den Börsenverein der Deutschen Buchhändler aufgenommen wurde.296 Hegner konnte sich allerdings –
thal und seinen weitreichenden Klang seine Geschäfte machen will.« (Brief der Abt. III der RSK an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom 29. Juni 1938, zit. n. Nawrocka, S. 74). 294 Diese Löschung erfolgte erst am 1. Februar 1944. 295 SStAL, BV, F 12015 (darin auch: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Handel Nr. 7 vom 23. Dezember 1937). 296 1937 kam es zu behördlicher Korrespondenz bezüglich der umstrittenen Aufnahme des Thomas-Verlags, der Mitglied des Vereins der Österreichischen Buch-, Kunst- und Musikalienhändler war, in das Adressbuch des Deutschen Buchhandels. Vgl. AÖB (nicht sign.; Beilage zu Jg. 1937 des Archiv-Exemplars des Anzeigers für den Buch-, Kunst- und Musikalien-
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um nicht als deutscher Emigrant ausgegrenzt zu werden – auf seine tschechische Staatsbürgerschaft berufen. Als Verleger von Kurt Schuschniggs Buch Dreimal Österreich (1937) – sicherlich das bedeutsamste Werk der Verlagsproduktion – stand er immer noch unter kritischer Beobachtung der RSK. In den beiden Bestandsjahren erschienen zehn weitere Titel, sämtlich mit katholischer Ausrichtung, teils aus der Geschichte der scholastischen Theologie wie die beiden Bände zu Thomas von Aquin (Über das Sein und das Wesen, 1936; Die Seele, 1937) oder Anselm von Canterburys Leben, Werk, Lehre (übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Allers, 1936), teils geistlicher Natur wie Adam a Sancto Victores Sämtliche Sequenzen (Lat.-deutsche Ausgabe, Einführung und formgetreue Übertragung von Franz Wellner, 1937) oder die von Paul Wolff und Hans Rosenberg herausgegebenen mystischen Schriften Die Viktoriner (1936) sowie Igor Smolitsch: Leben und Lehre der Starzen (1936), teils auch theoretische Entwürfe wie Ferdinand Frodls Gesellschaftslehre (1936) oder Alois Dempfs Religionsphilosophie (1937). Auch ein Roman erschien 1936, George Bernanosʼ Tagebuch eines Landpfarrers; von diesem konnte 1937 eine zweite Auflage gebracht werden. Nach der Annexion Österreichs 1938 flüchtete Hegner nach London; bis zum Ende des Krieges war er dort in verschiedenen Verlagen als Berater beschäftigt. 1946 gelang es ihm, wieder als selbständiger Verleger Fuß zu fassen: Er ging in die Schweiz, wo ihm der Verlag Otto Walter in Olten die Gründung des Summa-Verlages ermöglichte; 1949 konnte er gemeinsam mit dem Verlag J. P. Bachem den Jakob Hegner Verlag in Köln errichten. Mit diesen beiden Unternehmen konnte Hegner an seine alten verlegerischen und typographischen Erfolge anknüpfen. 1960 gehörte er zu den Gründungsgesellschaftern des Deutschen Taschenbuch Verlages (dtv); nach Hegners Tod wurde der Verlag von Hans Bachem weitergeführt, bis 1974 die Tätigkeit erlosch.
Bastei-Verlag, Wien Robert Freund* (1887 Saaz, Böhmen – 1952 New York) hatte an den Universitäten München und Wien studiert und hier in Künstlerkreisen um Oskar Kokoschka, Karl Kraus und Peter Altenberg verkehrt.297 Am 1. Juli 1926 war er als Teilhaber in den in finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Münchener R. Piper Verlag & Co. eingetreten und hatte in der Folge als Cheflektor für eine Ausweitung des Programms auf internationale
handel). In einem Brief des »Vereins« vom 3. Dezember 1937 an den Börsenverein hieß es u. a.: »Wir können nur schwer annehmen, daß Sie die langjährige Gepflogenheit, auf Grund derer unsere Mitglieder ohne jeden Anstand Börsenvereinsmitglieder werden konnten, aufheben wollen. Dadurch würde das Verhältnis des Börsenvereins zu unserem Verein eine Änderung erfahren, die nicht begrüßenswert ist«. In der Antwort des Börsenvereins vom 17. Januar 1938 wird dann die Aufnahme Hegners bestätigt und weiters festgestellt: »Wir benutzen die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass der Börsenverein in Zukunft die Aufnahmegesuche aller solcher Buchhändler, die aus Deutschland ausgewandert sind, ablehnen wird, sofern nicht besonders wichtige Gründe für eine andere Entscheidung sprechen«. 297 Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 2, S. 74‒77; Binder: Ernst Polak – Literat ohne Werk, S. 411; Ehrenstein, Albert: Werke, Bd. 1: Briefe, S. 251, 411; In den Katakomben, S. 86; 75 Jahre Piper. Bibliographie und Verlagsgeschichte 1904‒1979, S. 44‒51; Ziegler: 100 Jahre Piper.
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Literatur, insbesondere aus dem englischen und französischen Bereich, gesorgt. Nach 1933 gerieten Robert Freund und Reinhard Piper unter Druck: Im November 1935 verlangte die Reichsschrifttumskammer Auskunft über die Besitzverhältnisse im Verlag und über die Beteiligung von »nichtarischem Kapital«. Nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze schied Freund aus dem Unternehmen aus und ging nach Wien; sein Plan, dort einen Piper-Verlagsableger zu gründen, scheiterte jedoch. Im Oktober 1936 errichtete er daher mit seinen Partnern Paul Maric-Mariendol und Rudolf Lichy den Bastei Verlag, die letzte vor dem »Anschluss« vorgenommene belletristische Verlagsneugründung in Österreich. Im Frühjahrsprogramm 1937 finden sich politische Sachbücher (André Maurois: Die Geschichte Englands; Robert Briffault: Europa. Die Tage der Unwissenheit, beide 1937), Bühnenstücke (William Somerset Maugham: Theater, 1937) sowie zunehmend auch Romane: 1937 von Ann Bridge Frühling in Dalmatien und 1938 von Evelyn Waugh Schwarzes Unheil sowie Hilde Holl Kleines Mädchen aus Litauen. Bereits Ende Juli 1937 wurde Freund bei der Generalversammlung über eigenes Ersuchen seiner Funktion als Geschäftsführer wieder enthoben; der Verlag selbst war aus vorgeschobenen devisenrechtlichen Gründen vom deutschen Buchmarkt ausgesperrt worden. Der »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland besiegelte das Ende des Verlags.298 Freund emigrierte zunächst in die Schweiz, wo er einen Großteil des BasteiLagers und die Verlagsrechte an den Rascher Verlag verkaufte; nach wenigen Monaten Aufenthalt in Paris emigrierte er weiter in die USA und gründete dort erneut ein Verlagsunternehmen.299
Tschechoslowakei Malik-Verlag, Prag Die linksgerichteten Verlage gehörten, wie berichtet, zu den ersten Verlagen Deutschlands, die nach der NS-»Machtergreifung« geschlossen wurden. So wurde auch der von Wieland Herzfelde* (urspr. Wieland Herzfeld; 1896 Weggis / CH – 1988 Berlin) geleitete Malik-Verlag, der in der Weimarer Republik einer der bedeutendsten Literaturverlage dieses Spektrums gewesen war,300 am Tag nach dem Reichstagsbrand von der SA besetzt, die Konten gesperrt, das Vermögen eingezogen und ein Lager mit 400.000 Büchern beschlagnahmt.301 Herzfelde hatte schon in den Jahren vor 1933 überlegt, Filialen
298 Der von Robert Freund in Wien errichtete Bastei Verlag steht in keinem Zusammenhang mit dem 1949 von Ilse Tormin in Köln gegründeten Bastei Verlag, der heute ein Imprint der Bastei Lübbe AG-Verlagsgruppe ist. Das gilt auch für einen in den 1930er Jahren in Dresden aktiven Bastei-Verlag mit überwiegend auf Sachsen bezogener Regionalliteratur. 299 Robert Freund: Prints Like Twins. Color collotype reproductions. In: Newsweek, July 27, 1942, S. 62. Edelman: Other Immigrant Publishers of Note in America, S. 200 f.; vgl. dazu auch Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 300 Vgl. dazu Band 2/2 dieser Buchhandelsgeschichte. Siehe auch SStAL, BV, F 13.321. 301 Das Folgende hauptsächlich nach Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs, bes. ab S. 341; Der Malik-Verlag 1916‒1947; Hauberg / de Siati / Ziemke: Der Malik-Verlag. 1916‒1947; Hermann: MALIK. Zur Geschichte eines Verlages 1916‒1947; Hermann: Kulturpolitische Tradition und Funktionen des Malik-Verlages während des Prager Exils 1933‒1938; Her-
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des Malik-Verlags in Frankreich und Madrid zu gründen, um im Falle einer nationalsozialistischen Machtübernahme den Bestand des Unternehmens zu sichern. Mit diesem Plan war er jedoch bei den KPD-Funktionären auf Bedenken gestoßen: »So etwas spreche sich herum und könnte Panik bei den Genossen auslösen. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich ließ den Plan fallen«.302 Herzfelde brachte aber doch mit Hilfe seines siebenjährigen Sohnes George, der im Sommer 1932 zu Verwandten nach Salzburg geschickt wurde, wichtige Geschäftsunterlagen außer Landes.303 Als exponierter Gegner des Nationalsozialismus hatte sich Herzfelde bereits seit der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler verborgen gehalten, nach der Stürmung des Verlags durch die SA musste er sich nun schnellstens in Sicherheit bringen. Dringendste Angelegenheiten durfte er vom Büro Ernst Rowohlts aus telefonisch ordnen, aus seinem eigenen Büro konnte er weitere Geschäftsunterlagen nicht retten, aus seiner privaten Wohnung – mit Hilfe seiner Frau – nur Weniges. Über Umwege (Salzburg, Wien, Paris) gelangte er im März nach Prag; inzwischen waren auch seine Frau Gertrude, sein Bruder John Heartfield und sein Schwager F. C. Weiskopf dorthin gelangt. Die Tschechoslowakei war in dieser ersten Phase für viele die erste Asylstation, weil man für die Einreise kein Visum benötigte, und namentlich aus der Sicht eines Verlegers schien das Land mit rund drei Millionen Deutschsprachigen eine günstige Ausgangsbasis für eine Neuetablierung zu bieten. Allerdings blieben Herzfeldes spontane Bemühungen, neue Geldgeber zu gewinnen, etwa Harry Graf Kessler (der ihm schon in der Weimarer Zeit geholfen hatte) oder den »Hausautor« Upton Sinclair, erfolglos, so dass er zunächst einmal mit dem Geld auskommen musste, das er vorsorglich vor 1933 außer Landes gebracht hatte oder das er sich leihen konnte. Sinclair teilte er am 3. April 1939 mit, dass er daran gehe, zusammen mit zwei Genossen und einem Kapital von 20.000 Mark die Firma Malik-Verlag G.m.b.H. Prag zu gründen.304 In weiterer Folge suchte Herzfelde auf Rundreisen Außenstände ausländischer Buchhändler einzutreiben.305 Eher überraschend sind seine Bemühungen, Geschäftskontakte nach Deutschland aufrecht zu erhalten und seine (verschuldete) Firma in Berlin regulär abzuwickeln.306 Vor allem aber hoffte Herzfelde auf
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mann: Wirkung, Funktion und kulturpolitische Tradition des Malik-Verlages während des Prager Exils 1933‒1938; Prag ‒ Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938; Hermann: Verleger im Exil. [Rezension zu: Prag ‒ Moskau] In: Buchhandelsgeschichte 1991, H. 4, B163 f.; »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«. Upton Sinclair, Wieland Herzfelde, Hermynia zur Mühlen. Briefe 1919‒1950; Winstel: David gegen Goliath. Hier zit. n. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Teilband 1,2: Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen, S. 551. Walter bezieht sich auf eine Stelle bei Wilhelm Girnus: Und zwar gern. Gespräch mit Wieland Herzfelde. In: Sinn und Form, H. 6/1976, S. 1136, sowie auf: »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 348; und Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs, S. 344. – KP-Mitgliedern war es bis zum Reichstagsbrand bei Androhung des Parteiausschlusses verboten, außer Landes zu gehen; obwohl kein Mitglied, zog es Herzfelde doch vor, den Direktiven zu folgen. Dazu: Wyland-Herzfelde: Glück gehabt, S. 25, 33, 63. »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, Nachwort, S. 349. »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 351. »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 351. So sollte, die Zustimmung der Gläubiger vorausgesetzt, Upton Sinclair von seinem ausständigen Honorar (ca. 9.000 Mark) rund ein Drittel erhalten. Zur Auszahlung ist es wohl nicht gekommen.
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Möglichkeiten eines illegalen Transfers von in Deutschland gelagerten Beständen an verbotenen Büchern, um dadurch laufende Einnahmen generieren zu können. Und in der Tat: Als geeigneter Partner erwies sich für Herzfelde der Grossist Kurt Maschler. Der spätere Verleger Erich Kästners hatte wesentlichen Anteil daran, daß viele der in Deutschland beschlagnahmten Malik-Titel in Prag schließlich wieder als lieferbar angezeigt werden konnten. Er hatte die Bücher in Holland, so erinnert sich Herzfelde, zum Preis von 10 Pfennig an den Malik-Verleger expediert.307 Offenbar fand Herzfelde auch noch andere Wege, an Bestände aus Berlin heranzukommen, zumal verbotene Bücher von NS-Stellen offiziell billig ins Ausland verkauft wurden. Zudem sollte sich eine Adressenliste, die er außer Landes gebracht hatte, als nützlich erweisen, um mit dem Wiederaufbau seines Verlags sofort beginnen zu können. Dies gelang ihm mit Rudolf Oldens Hitler der Eroberer, der ersten im Ausland erschienenen Hitler-Biographie,308 die noch im April mit einem von John Heartfield gestalteten Schutzumschlag und dem Impressum »Malik-Verlag, Berlin, Direktion z. Zt. Prag« herauskam. Bis zur nächsten Veröffentlichung vergingen allerdings viele Monate. Herzfeldes Zukunftspläne gingen damals über einfache Fortführung des MalikVerlags im Ausland weit hinaus. Vielmehr dachte er an die Errichtung eines »Internationalen Deutschen Verlages« und stellte, auf der Suche nach (Finanzierungs-)Partnern für dieses ambitionierte Projekt, über F. C. Weiskopf wieder den Kontakt zur (ebenfalls emigrierten) KPD-Führung her.309 Allerdings: Wie schon vor 1933 wollte sich der eigenwillige Verleger nicht völlig an die Partei binden; das Exposé, das er zu seiner Idee eines breit angelegten Exilverlags vorlegte und das die neue Marktsituation für eine freie deutsche Literatur analysierte, lief zu sehr auf einen für alle Gegner des Faschismus offenen und in diesem Sinne »nicht-kommunistischen« Verlag hinaus, als dass es auf die rückhaltlose Begeisterung der KPD-Dogmatiker hoffen durfte.310 Immerhin, wie sich zeigen sollte, konnte er auf eine gewisse Unterstützung und Zusammenarbeit mit KPD und Moskau rechnen, auch auf den Beistand der tschechischen KP, nicht aber mit der großzügigen Finanzierung eines gleichsam die deutsche Exilliteratur monopolisierenden Verlagsunternehmens. 1934 erschien Herzfelde auf der Ausbürgerungsliste; der Malik-Verlag wurde vom Amtsgericht Berlin-Charlottenburg offiziell für aufgelöst erklärt. Aus dieser Situation ergab sich die Notwendigkeit, einen neuen offiziellen Sitz des Verlages anzugeben. Hier wurde nun eines der charakteristischen Exilprobleme akut: Herzfelde hatte in der Tschechoslowakei zwar Asylrecht erhalten, nicht aber die Erlaubnis zur Gründung eines Ver-
307 »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 352. 308 Anon. [Rudolf Olden]: Hitler, der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende. [Umschlagentwurf von John Heartfield]. 1.‒ 6.Tsd., Berlin [eig. Prag]: Malik-Verlag 1933. 309 F. C. Weiskopf wurde in Prag immer wieder in die Arbeit des Malik-Verlags mit einbezogen, weil er Tschechisch konnte. 310 Vgl. hierzu das Nachwort von Walter Grünzweig und Susanne Scholz in »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 348‒357.
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lags.311 Zum Schein verlegte er den offiziellen Sitz des Malik-Verlags nach London, wo die rechtlichen Verhältnisse genau umgekehrt lagen. Seit September 1939 firmierte der Verlag als »Malik-Verlag, Publishing Company, London«, mit Filiale in Prag. In der britischen Hauptstadt gab es nicht mehr als ein Firmenschild am Hause des John LaneVerlags.312 Die Registrierung hatte der Malik-Verlag über die Abteilung für ausländische Bücher des Kaufhauses Selfridges erlangt; eine »politisch erfahrene Antifaschistin«, Margaret Mynatt, übernahm den Zahlungs- und Briefverkehr.313 Mit der von ihm selbst redigierten literarisch-politischen Monatsschrift Neue Deutsche Blätter brachte Herzfelde in gemeinsamer Herausgeberschaft mit Anna Seghers, Oskar Maria Graf und Jan Petersen vom September 1933 an bis August 1935 eine der wichtigsten Zeitschriften der ersten Exiljahre heraus; sie erschien allerdings in einem fingierten »Faust-Verlag«, aus dem gleichen fremdenpolizeilichen Grund, aus dem auch der Firmensitz des Malik-Verlags nach London verlegt wurde. Publikationen des Malik Verlags im Prager Exil 1933–1938314 1933: Ilja Ehrenburg: Der zweite Tag (Übers. v. Rudolf Selke); Rudolf Olden: Hitler der Eroberer. Die Entlarvung einer Legende. Von einem deutschen Politiker; Adam Scharrer: Maulwürfe. Ein deutscher Bauernroman; 1934: Willi Bredel: Die Prüfung. Roman aus einem Konzentrationslager; Upton Sinclair: Auf Vorposten. Erinnerungen [Übersetzung a. d. Englischen von Balder Olden] (Gesammelte Werke, Erg.bd.); F. C. Weiskopf: Die Stärkeren. Episoden aus einem unterirdischen Krieg. Prag: Neue deutsche Blätter [Malik Verlag]; 1935: Alexander Awdejenko: Ich liebe [Autoris. Übers. aus dem Russ. von Olga Halpern]; Peter Jilemnicky: Brachland. Ein slowakischer Roman; Michail Scholochow: Der stille Don, Bd. 1: Zarenzeit [EA 1929]; A. Serafimowitsch: Der eiserne Strom;
311 Zu den Aufenthalts- und Lebensbedingungen in der Tschechoslowakei vgl. auch Schneider, Hansjörg: Exil in der Tschechoslowakei. 312 Ein Neffe des bereits 1925 verstorbenen John Lane, Allen Lane, war der Begründer des Penguin Verlags. Genaueres bei Hermann: MALIK. Zur Geschichte eines Verlages 1916‒ 1947, S. 67. 313 So Joos: Trustees for the Public?, S. 181. 314 Nach Hauberg / de Siati / Ziemke: Der Malik-Verlag. 1916‒1947. Eine Liste der rund dreißig »Malik titles attributed to London«, hat Donal McLaughlin zusammengestellt (McLaughlin: A Bibliography of German-language Publications in Great Britain (1933‒1945), S. 348‒ 351).
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Michail Scholochow: Der stille Don, Bd. 3: Der Aufstand der Kosaken [Autor. Übersetzung aus d. Russischen von Olga Halpern]; Upton Sinclair: Hundert Prozent. Roman [Berechtigte Übertr. von Hermynia Zur Mühlen], 43.‒50. Tsd. (Gesammelte Werke 2); 1936: Willi Bredel: Der Spitzel und andere Erzählungen; Deutsche Frauenschicksale. Hrsg. von der Union für Recht und Freiheit, Prag – 2. Aufl.; Ilja Ehrenburg: Ohne Atempause. Roman (Übers. v. Lotte Schwarz); Oskar Maria Graf Der Abgrund. Ein Zeitroman; Silvius Hermann: Nachlass. Aufsätze, Briefe, Gedichte, in Komm.; Klaus Hinrichs [d. i. Karl August Wittfogel]: Staatliches Konzentrationslager VII ‒ eine »Erziehungsanstalt« im Dritten Reich; Michail Scholochow: Der stille Don, Bd. 2: Krieg und Revolution [EA 1930); Upton Sinclair: William Fox (Übers. v. Paul Baudisch); Max Seydewitz, Kurt Doberer: Todesstrahlen und andere neue Kriegswaffen; Agnes Smedley: China blutet. Vom Sterben des alten China; Agnes Smedley: China kämpft. Vom Werden des neuen China; Alex Wedding: Das Eismeer ruft. Die Abenteuer einer großen und einer kleinen Mannschaft, nach wahren Begebenheiten erzählt; 1937: Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar [erschienen 1938]; Willi Bredel: Dein unbekannter Bruder: Roman aus dem III. Reich; Ilja Ehrenburg: No pasarán! Vom Freiheitskampf der Spanier (Übers. v. Lotte Schwarz); Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Roman; Oskar Maria Graf: Bolwieser. Roman eines Ehemannes [EA 1931]; Das Herz – ein Schild. Lyrik der Tschechen und Slowaken. Übersetzt und hrsg. von F. C. Weiskopf; Upton Sinclair: Drei Freiwillige. Roman; 1938: Johannes R. Becher: Der Glücksucher und die sieben Lasten. Ein Hohes Lied; Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar; Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 1: Die Dreigroschenoper; Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 2: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe; Michail Iljin: Naturgewalten und Menschenmacht. Von Bergen, Wüsten und Menschen; Die Eroberung des Nordpols, Tl. 1: Michail Wodopjanow: Der Traum des Piloten. Roman; Die Eroberung des Nordpols, Tl. 2: Die Verwirklichung des Traums. Beiträge zur Geschichte der Eroberung des Pols; Wera Figner: Nach Schlüsselburg (Nacht über Russland, 3), 12.‒20. Tsd.;
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Th. Mindt [d. i. Artur Apfel]: Und morgen wieder Krise? Einblick ins Triebwerk moderner Wirtschaft (mit 41 Illustrationen); Max Seydewitz: Die große Alternative. Eine zeitgeschichtliche Untersuchung; Max Seydewitz: Stalin oder Trotzki. Die UdSSR und der Trotzkismus. Eine zeitgeschichtliche Untersuchung; Upton Sinclair: Autokönig Ford (Übers. von Peter Bauer); 1939: Bertolt Brecht: Svendborger Gedichte. Hrsg. unter dem Patronat der Diderot-Gesellschaft und der American Guild for German Cultural Freedom. London (eig. Kopenhagen). Unter den ersten Büchern, die im exilierten Malik-Verlag erschienen, haben Rudolf Oldens Hitlerbuch sowie Bredels KZ-Roman Die Prüfung, der nachfolgend in 17 Sprachen übersetzt wurde, gleich einen starken Akzent gesetzt. Auch Scharrers Maulwürfe und Oskar Maria Grafs Der Abgrund gehören zu den Titeln, die große Resonanz erzielt haben. Während Olden sich mit kommunistischer Ideologie nicht so weit identifizieren konnte, um sich bei Malik festzusetzen, kamen sowohl von Bredel wie von Graf in rascher Folge weitere Titel heraus, um die Konjunktur zu nützen: von Willi Bredel Der Spitzel und andere Erzählungen (1936) und Dein unbekannter Bruder: Roman aus dem III. Reich (1937), von O. M. Graf Der Abgrund (1936), Anton Sittinger (1937) sowie eine Neuauflage des Romans Bolwieser (1937). Herzfelde brachte aber nicht nur deutsche Exilautoren heraus, sondern setzte auch die Programmlinie fort, die schon vor 1933 die größten Erfolge erbracht hatte, nämlich die Publikation von Werken internationaler Autoren, besonders von Upton Sinclair, von dem die Erinnerungen Auf Vorposten 1934, Hundert Prozent 1935, die beiden kritischen Biographien von William Fox 1936 und Autokönig Ford 1938 sowie der Roman Drei Freiwillige erschienen. An russischsprachigen Autoren zu nennen sind Michail Scholochow (Der stille Don in drei Bänden, wobei der 3. Band neu war, während die Bände 1 und 2 Neuauflagen waren), Alexander Awdejenko, Serafimowitsch oder Iljin. Auch Die Eroberung des Nordpols war eine Übersetzung aus dem Russischen. Für Bücher Ilja Ehrenburgs war immer Platz im Malik-Programm, und sein Spanienbuch No pasarán! war einer der frühesten und wichtigsten Beiträge zur kämpferischen Spanienliteratur jener Jahre. Eine weitere Programmschiene ergab sich aus politischer Sachliteratur, in der die US-Journalistin Agnes Smedley einen hohen internationalen Bekanntheitsgrad für sich beanspruchen durfte. Ihre beiden Malik-Titel China blutet und China kämpft sind auch in der Universum-Bücherei, Basel, als Sonderbände 20 und 21 in der Jahresreihe 1936 erschienen. Nicht unbedingt naheliegend war, dass drei Bücher des gemäßigten Sozialisten Max Seydewitz bei Malik erschienen, darunter eine Untersuchung Stalin oder Trotzki. Die UdSSR und der Trotzkismus, die im Jahr 1938 schon vom Titel her erhebliches Konflikt- und Gefahrenpotential in sich barg. Die von ihm und Kurt Doberer vorgelegte Warnung vor Todesstrahlen und anderen neuen Kriegswaffen aus dem Jahr 1936 hätte sehr gut ins Programm der Éditions du Carrefour gepasst, wo es eine ganze Reihe von Analysen zur militärischen Aufrüstung Hitlerdeutschlands gab.
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Charakteristisch für die Exilsituation war in jedem Fall das Schicksal der BrechtAusgabe: 1934 begonnen, kamen 1938 zwei Bände heraus; die bereits ausgedruckten Bände 3 und 4 fielen der deutschen Wehrmacht in die Hände. Brecht ließ den Band mit den Svendborger Gedichten, die ihm besonders am Herzen lagen, im Mai 1939 auf eigene Kosten in Kopenhagen als Vordruck aus den »Gesammelten Werken, Band IV« mit der fingierten Angabe »Malik-Verlag, London« erscheinen. Die Höhe der Erstauflagen wurde von Herzfelde ganz unterschiedlich bemessen, je nach Absatzerwartung: Weiskopfs Anthologie slowakischer Lyrik oder die Deutschen Frauenschicksale nur mit 2.000, O. M. Grafs Anton Sittinger mit 4.000; Willi Bredels Unbekannter Bruder mit 5.000, Rudolf Oldens Hitler-Buch mit 6.000, Agnes Smedleys Bücher aber mit jeweils 9.000 Exemplaren. Im Falle von Koproduktionen mit der VEGAAR in Moskau, wie sie bei mehreren Titeln vorgenommen wurde, etwa bei Awdejenkos Ich liebe oder bei Bechers Glücksucher, wies die Moskauer Druckerei »Iskra Rewoluzii« eine Auflage von 6.640 aus. Die Umschlagentwürfe stammten, wie schon in der Zeit vor 1933, in der Mehrzahl der Fälle wieder von Herzfeldes Bruder John Heartfield, bei Bredels Prüfung ebenso wie bei sämtlichen Upton Sinclair-Titeln, den Bücher Ehrenburgs, aber auch bei Awdejenko, Iljin, Die Eroberung des Nordpols u. a. m. Sie fielen aber bei den Malik-Büchern nicht so spektakulär aus wie bei jenen des von Münzenberg angriffiger ausgerichteten Pariser Carrefour-Verlags. Dabei arbeitete Herzfelde von Anfang an mit Willi Münzenberg zusammen; im April 1933 gründeten sie mit Bruno Frei und Franz Carl Weiskopf als Redakteuren die bis März 1936 in Prag, Paris und Basel erscheinende Zeitung Der Gegen-Angriff; Herzfelde selbst schrieb Beiträge für verschiedene politische und literarische Zeitungen und Zeitschriften. Nach der erzwungenen Flucht aus Prag im Oktober 1938 ging er 1939 in die USA und eröffnete dort in New York fünf Jahre später den Seven Seas Bookshop; bei der Gründung des Aurora-Verlags spielte er dann wieder eine zentrale Rolle.315
Julius Kittls Nachf., Mährisch-Ostrau Kein eigentlicher Exilverlag, aber ein Zufluchtsort für die aus NS-Deutschland vertriebene Literatur war der Verlag Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau.316 Und mehr als das: Durch wirtschaftliche Verflechtungen mit dem Rowohlt Verlag sowie mit dem Schocken Verlag in Berlin entstand auch eine Kooperations- und Vertriebsschiene besonderer Art. Den 1880 gegründeten Verlag, der zum Prager Mercy-Konzern gehörte,317 leitete nach dem Tod Julius Kittls 1922 als Geschäftsführer und Mitbesitzer Dr. (jur.) Paul
315 Siehe auch Herzfelde: Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben; Anna Seghers / Wieland Herzfelde: Ein Briefwechsel 1939‒1946. Zum Aurora-Verlag siehe in diesem Kapitel weiter unten. 316 Vgl. zum Folgenden Hall: Böhmische Verlagsgeschichte [online; Abschnitt Verlag Julius Kittls Nachf., mit einer Auswahlbibliographie]. 317 Vgl. hierzu die Hinweise bei Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 182 und 352, wonach der Verlag gleichsam als Buchabteilung des »arischen« Mercy-Konzerns (bzw. der Druck- und Verlagsanstalt Heinrich Mercy Sohn) in Prag fungierte. In dem von
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Fischel* (1886 Prag – 1960 London), der seinerseits seit 1913 Zeitungsherausgeber in Mährisch-Ostrau gewesen war. Die Geschäfte gingen offenbar sehr gut, denn Fischel bzw. das Verlagshaus Julius Kittls Nachf., Keller & Co. war am Rowohlt Verlag, der in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) umgewandelt worden war, um frisches Kapital in das Unternehmen zu holen, angeblich mit einer Einlage von 3 Millionen Mark beteiligt.318 Noch Ende Mai 1934 nahm Paul Fischel an einer Zusammenkunft teil, auf der über die Zukunft des (damals bereits zu Ullstein gehörenden) Rowohlt Verlags beraten wurde.319 Mit der Finanzpartnerschaft verbunden waren auch verschiedene Formen der Kooperation: in Mährisch-Ostrau wurden nicht nur zahlreiche Bücher des Rowohlt Verlags gedruckt, sondern auch vertrieben – erst recht nach 1933, als die Bücher zahlreicher Rowohlt-Autoren in Deutschland verboten waren. Einer von ihnen war Ernst von Salomon, der in seinem dokumentarischen Roman Der Fragebogen über diese Partnerschaft berichtete, dass manche Manuskripte, die er als Rowohlt-Lektor aus Sicherheitsgründen abgelehnt hatte, »plötzlich bei Julius Kittls Nachfolger in Mährisch-Ostrau als Bücher erschienen, einer adretten Druckerei, die manchmal auch für Rowohlt gedruckt hatte«.320 Wie David Oels in seiner Rowohlt-Monographie feststellt, lässt sich die Übernahme von mehreren Büchern nachweisen; so etwa war 1934 Heinrich Eduard Jacobs Sage und Siegeszug des Kaffees. Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes zunächst in Berlin, im gleichen Jahr aber auch in Mährisch-Ostrau erschienen. Auch Ulrich Bechers Niemand. Ein neuzeitliches Mysterienspiel (1934) dürfte Kittl überlassen worden sein (es hätte aber wohl auch nicht ins Rowohlt-Programm gepasst) und ebenso eine Übersetzung von Julien Greens Roman Der Geisterseher (1934), aus dem Französischen von Franz Hessel, dessen Publikation im Reich schon aus diesem Grund nicht opportun erschienen sein mag.321
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Heinrich Mercy gegründeten, nachmals von dessen Sohn Wilhelm Mercy geführten Verlag erschien u. a. seit 1876 das liberal-demokratische Prager Tagblatt, eine der besten deutschsprachigen Tageszeitungen ihrer Zeit. – Über die genauen Besitzverhältnisse informiert Murray G. Hall in seiner Böhmischen Verlagsgeschichte auf der Grundlage der Eintragungen im Kreisgericht Mährisch-Ostrau: »Tatsächlich gehörte die ›Firma Zeitungsverlags- und Druckindustrie-Gesellschaft Julius Kittl Nachfolger Keller & Comp. in Mähr.-Ostrau‹ den ›offenen Gesellschaftern‹ Rudolf Keller [1875–1964], ›Herausgeber des Prager Tagblattes‹, Paula Fischel, Gattin von Dr. Paul Fischel, Chefredakteur der Morgenzeitung in Mährisch-Ostrau, Mathilde Benies, ›Grossindustriellersgattin [sic!] in Klecan bei Prag‹, Kunigunde Elisabeth Morawitz [geb. Mercy], ›Grossindustriellersgattin [sic!] in Prag‹, wobei die beiden letzteren ihre Anteile von Edgar Morawitz, ›Grossindustrieller in Prag‹ erhalten haben, mit Dr. Paul Fischel als Prokuristen«. Füssel: Belletristische Verlage, S. 31. Paul Fischel nahm teil als »Geschäftsführer der Verlagsbuchhandlung Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau, die Anteile an der Rowohlt Verlag Kommanditgesellschaft hielt und ebenso wie zeitweise die Leipziger Verlagsanstalt teilweise dem Prager Mercy-Konzern gehörte« (Oels: Rowohlts Rotationsroutine, S. 54). Zit. n. Oels, S. 54. Vgl. Oels, S. 54 f. Nach diesen Angaben hatte Rowohlt auch Elisabeth Langgässer an den Kittl Verlag verwiesen, nachdem sie 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden war; in diesem Fall allerdings vergeblich.
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Der Blick auf das – überaus bunte322 – Verlagsprogramm jener Jahre zeigt, dass darüber hinaus noch eine ganze Anzahl von mit Publikationsverbot belegten und meistenteils bereits aus Deutschland geflüchteten Autoren bei Kittl untergekommen waren: So etwa konnte Ernst Weiß, der nach dem Reichstagsbrand von Berlin in seine Geburtsstadt Prag zurückgekehrt war und ein Jahr später nach Paris ging, 1934 einen Roman Der Gefängnisarzt oder die Vaterlosen bei Kittl herausbringen. Ein anderes Beispiel dafür ist Thomas Theodor Heine, der 1933, nachdem er sich einige Wochen in Berlin versteckt gehalten hatte, mit gefälschtem Pass nach Prag ausreisen konnte; er lebte seit 1936 in Brünn, ehe er 1938 nach Norwegen und 1942 nach Schweden flüchtete. Kittl brachte von ihm Das spannende Buch (1934, 1936) heraus. Kittl sorgte aber auch für den Vertrieb von Büchern, die zuvor bei Rowohlt in Berlin erschienen waren (siehe unten). Der expressionistische Lyriker und als Pazifist hervorgetretene Alfred Wolfenstein, der sich 1933 von Berlin nach Prag geflüchtet hatte, konnte bei Kittl seine letzte eigenständige Veröffentlichung unterbringen, Die gefährlichen Engel. Dreissig Geschichten (1936). Und von Alice Berend, die 1933 mit Veröffentlichungsverbot belegt worden war, erschien 1935 Ein Hundeleben: Die Lebensgeschichte eines Dobermanns, von ihm selbst erzählt [»mit Illustrationen von Steffie«]; zu diesem Zeitpunkt war sie bereits nach Florenz geflohen. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, dass Julius Kittls Nf. als »Emigrantenverlag« betrachtet worden ist, so auch von Will Vesper, der Anfang 1936 in der Neuen Literatur die deutschen Leser und die deutschen Buchhändler dringend vor diesen Verlagen, »die nun vom Ausland her den deutschen Markt wieder an sich zu reißen suchen«, warnte: Wir machen heute besonders aufmerksam auf den Verlag »Julius Kittls Nachfolger, Leipzig / M. Ostrau«, der ganz fidel im Buchhändler-Börsenblatt vom 14. November 1935 uns Deutschen die Bücher seiner Juden anpreist und dabei die ahnungslosen und charakterlosen Hymnen reichsdeutscher Blätter über seine Judenbücher zitieren kann. Über das Buch des Prager Juden Ludwig Winder, »Steffi«, das bezeichnenderweise 1934 den deutschen Literaturpreis der Tschechoslowakischen Republik erhielt, gerät in alter Gewohnheit ein Teil der deutschen Bürgerpresse in wahre Orgien des Entzückens. […] Im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« aber und in den Büchern selbst müßten Judenbücher und Judenverlage ehrlich und offen als solche gekennzeichnet werden, sonst kann sich nämlich kein deutscher Buchhändler mehr zurechtfinden.323 322 Bücher über die Schachweltmeisterschaft erschienen dort ebenso wie solche über Die Kunst des Einkochens oder den Modernen Skilauf, aber auch eine Koran-Ausgabe und Werke von Henry de Montherlant, P. G. Wodehouse oder Louis-Ferdinand Céline, darunter auch dessen Reise ans Ende der Nacht in einer (Erst-)Übersetzung von Isak Grünberg, die 1958 von Rowohlt übernommen wurde. – Vgl. auch den 47-seitigen Auswahl-Katalog der Buchhandlung Julius Kittls Nachfolger Mähr.-Ostrau (Mähr. Ostrau: Julius Kittls Nachfolger [1938]). – Insgesamt können wohl rund 25 Titel dem Bereich der Exilliteratur zugerechnet werden. 323 Will Vesper: Unsere Meinung. In: Die Neue Literatur, 1936, H. 1, Januar 1936, S. 55 f. Der Verlag Julius Kittls Nf. konnte nicht nur Ende 1935 noch im Börsenblatt Anzeigen schalten, sondern war bis 1938 auch im Adressbuch des Deutschen Buchhandels eingetragen.
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Und im Dezember 1937 brachte Vesper erneut eine Warnung: »Über den Verlag Kittls Nachfolger in Mährisch-Ostrau, der u. a. die ›Schlesischen Lieder‹ von Bezruč verlegt hat, erfahren wir, daß er dem jüdischen ›Prager Tageblatt‹ [sic!] gehört, das durch seine infame Deutschenhetze genügsam bekannt ist. Der Geschäftsführer dieses Unternehmens ist der Jude Paul Fischel. Also, deutscher Buchhändler und deutscher Buchkritiker, Vorsicht!«324 In der Tat hatte der Verlag neben den Werken der aus Deutschland vertriebenen Autoren noch zahlreiche weitere »Judenbücher« im Verlagsprogramm, denn selbstverständlich publizierten bei Kittl auch die deutschsprachigen Autoren der Tschechoslowakei, die der »Prager Literatur« zugerechnet werden können und dann 1938 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus der ČSR flüchten mussten, wie etwa Felix Weltsch (Das Rätsel des Lachens, 1935; Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit, 1936) oder Ludwig Winder (Dr. Muff. Roman, 1934; Steffi oder Familie Dörre überwindet die Krise. Roman, 1935). Von Joseph Wechsberg erschien nicht nur Die große Mauer. Das Buch einer Weltreise (1937), sondern 1939 – bereits aus dem USExil heraus – Visum für Amerika. Ein Buch für Auswanderer nach den Vereinigten Staaten und Kanada. Bei Kittl erschien 1935 Friedrich Torbergs Die Mannschaft. Roman eines Sport-Lebens sowie 1938 das »13.−15.Tsd.« des 1930 bei Zsolnay publizierten Romans Der Schüler Gerber hat absolviert. Vom jungen Heinz Politzer, der 1938 nach Palästina emigrierte, kam 1937 ein Gedichtband Fenster vor dem Firmament heraus.325 Dass der Verlag trotz seiner deutlich wahrgenommenen Funktion als »Auffangbecken« für emigrierte deutsche Schriftsteller und als Plattform für die deutsch-jüdische Prager Literatur nicht mit seiner Gesamtproduktion für den deutschen Buchmarkt gesperrt worden ist, führt Volker Dahm auf »handelspolitische und exportwirtschaftliche Sachzwänge« zurück: Der RSK-Referent Karl Heinrich Bischoff habe noch im August 1937 die Forderung des SD-Hauptamtes nach einer Totalindizierung des Verlags Julius Kittlʼs Nf., Keller & Co. abgelehnt, da dies die tschechische Regierung zu »irgendeiner Gegenmaßnahme« veranlassen und eine Störung der deutschen Buchexporte zur Folge haben könnte; diese seien aber schon unter Propagandaaspekten wichtig.326 Er empfahl aus diesem Grund, weiterhin mit Einzelverboten vorzugehen (bis zu diesem Zeitpunkt standen bereits 18 Titel des Verlags auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«!); damit werde letztlich der gleiche Effekt erzielt wie mit einem Gesamtverbot. Allerdings erwies sich dieser Verbotsautomatismus als nicht praktikabel, weil aus formalrechtlichen Gründen jedes Buchverbot inhaltlich begründet werden musste. So etwa musste wenige Monate später der Referent in der RSK-Geschäftsführung Her-
324 Die Neue Literatur, H. 12, Dezember 1937, S. 658. Hier zit. n. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte [online], Abschnitt zum Löwit Verlag. 325 In diesem Fall ist von einer Kooperation mit dem in London lebenden Paul Zsolnay auszugehen, dessen Verlag in Wien nach dem »Anschluss« im März 1938 von »arischen« Kräften übernommen worden war. Siehe dazu die entsprechenden Kapitel bei Hall: Der Verlag Paul Zsolnay. – Über Vermittlung von E. P. Tal und Max Brod war auch eine Zusammenarbeit Kittls mit dem Amsterdamer Verlag Allert de Lange angedacht; sie ist aber offenbar nicht zustande gekommen. Vgl. hierzu Spring: Verlagstätigkeit im niederländischen Exil 1933‒ 1940, S. 77. 326 Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 182.
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bert Menz Ernst Sommers Botschaft aus Granada dem Reichssicherheitshauptamt »im Zuge der ständigen Überprüfung der Verlagsproduktion des bekannten Hetzverlages Kittl Nachf.« zur Einzelfallprüfung vorlegen.327 Die Kooperation zwischen Berlin und Mährisch-Ostrau beschränkte sich keineswegs bloß auf die verlegerische Ebene: »Das Hauptgeschäft Kittls scheint jedoch weniger im Verlegen eigener und übernommener Titel bestanden zu haben denn im Verkauf von Büchern, die in Deutschland nicht mehr vertrieben werden konnten. Thomas Theodor Heine schrieb 1937 aus dem Exil: ›Der Verlag Jul. Kittls Nachfolger in Mährisch-Ostrau existiert noch, und ich habe noch ganz gute Beziehungen dazu. Es ist aber eine Art Ramschbetrieb, die Buchhändler boykottieren ihn ziemlich, weil er unter Umgehung der Sortimenter seine Bücher billig und direkt vertreibt‹«.328 Diese verdeckte Vertriebsschiene ist allerdings nicht unbemerkt geblieben. Anfang 1938 erschien in The Bookseller ein Artikel von Paul Tabori German Publishers Outside Germany, der die Sache publik machte.329 Kurz darauf attackierte Will Vesper in der Neuen Literatur auch diese diskrete Zusammenarbeit: Andererseits hat sich der Berliner Rowohlt-Verlag mit der Verlagsfirma Julius Kittl in der Tschechoslowakei zusammengetan, um seine unerwünschten deutschen Bücher loszuwerden. […] Auf diese Weise können die Firmen ein kleines Versteckspiel mit den deutschen Autoritäten machen. Es ist aber nicht so, als ob die hohen deutschen Autoritäten nichts von diesen Heimlichkeiten wüßten. Jeder Buchhändler und jeder Verleger in Zentraleuropa ist über diese Dinge informiert.330 Noch in einem anderen Fall betätigte sich die Fa. J. Kittls Nachf. als Distributor von in Deutschland verlegten, dort aber nicht mehr verkäuflichen Büchern, und dieser Fall betraf keinen Geringeren als Franz Kafka. Der Schocken Verlag, der im Rahmen des jüdischen Ghettobuchhandels erlaubterweise seine Tätigkeit im Dritten Reich fortsetzen, allerdings nur Werke jüdischer Autoren ausschließlich für eine jüdische Leserschaft produzieren durfte, hatte ab 1935 die ersten vier Bände einer Kafka-Ausgabe hergestellt, die aber nach wenigen Monaten dann doch verboten, jedoch von der RSK nicht konfisziert, sondern zum Export freigegeben wurden. Über Vermittlung Max Brods, des Herausgebers der Kafka-Werkausgabe, und mithilfe eines Strohmanns, des Rechtsanwalts Josef Schlesinger, kam nun ein Abkommen zustande, das der Prager Druck- und Verlagsanstalt Heinrich Mercy Sohn den Generalvertrieb der Ausgabe übertrug; im Gegenzug erwarb Mercy alle bis dahin in Deutschland gedruckten Bände und verpflichtete sich, die noch fehlenden Bände zu drucken und im eigenen Verlag zu veröffentlichen sowie die Honorarverpflichtungen des Schocken Verlags gegenüber Max Brod zu über-
327 Dahm, S. 182 f. 328 Oels: Rowohlts Rotationsroutine, S. 56. Das Zitat stammt aus Th. Th. Heine: Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich, S. 76. 329 Paul Tabori: German Publishers Outside Germany. In: The Bookseller, 13. Januar 1938, S. 22. 330 Will Vesper: Unsere Meinung. In: Die Neue Literatur 1938, 3, S. 150‒152; hier zit. nach Oels, S. 54.
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nehmen.331 Der Vertrag sah außerdem vor, dass Mercy Buchbestände und Vertriebsrechte auf Verlangen an Schocken zurückgeben sollte (nämlich im Falle von dessen Emigration), gegen finanziellen Ausgleich für noch nicht wieder erwirtschaftete Investitionen. Für Mercy dürfte das Geschäft insofern risikolos gewesen sein, als Schocken den Export der gedruckten Bände selbst bezahlte: Andeutungen Lambert Schneiders lassen vermuten, dass der Schocken Verlag in der Lage war, den Kaufpreis für die exportierten 11.000 Exemplare der Bände 1‒4 aus illegal in die Tschechoslowakei transferierten Mitteln oder aus nicht deklarierten Auslandsguthaben an sich selbst zu bezahlen. Der Export wurde noch im Sommer 1936 durchgeführt, so daß die Firma Julius Kittl Nachf., Keller & Co. in Märisch[!]Ostrau, die Buchabteilung von Heinrich Mercy Sohn, schon im November 1936 mit dem Vertrieb beginnen konnte. Bis 1937 kamen bei Mercy die noch ausstehenden Bände 5 und 6 sowie als Ergänzungsband eine Kafka-Biographie von Max Brod heraus.332 Wie viel Kittl von diesen Bänden absetzen konnte, ist nicht bekannt. Die nach Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren erfolgte Liqudierung des Verlags war jedenfalls mit der Beschlagnahmung der gesamten Lagerbestände verbunden.333 Salman Schocken, inzwischen in Palästina, konnte im September nur noch die Verlagsrechte wieder an sich ziehen; davon sollte er später in den USA einen literaturhistorisch folgenreichen Gebrauch machen.334 Kittl-Geschäftsführer Paul Fischel war noch 1938 nach London geflüchtet;335 dort war er gemeinsam mit Kurt L. Maschler und Eugen Prager an der Gründung eines neuen Verlags beteiligt, der Lincolns-Prager Publishers Ltd.336 Dabei beruhte die Verbindung zwischen Fischel und Maschler nicht auf Zufall, sondern auf jahrelang erprobter Zusammenarbeit. Der von Kurt L. Maschler 1934 (offiziell am 1. Mai 1935) in Basel eigens zur Wahrung der Rechte der in Nazi-Deutschland verbotenen Bücher Erich Kästners gegründete Atrium Verlag hatte neben Basel auch Mährisch-Ostrau als weiteren Verlagsort im Impressum. Der Grund dafür war, dass Maschler die Herstellung und Ausliefe-
331 Der Vorgang wird genauer dargestellt in Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 352. Vgl. dazu außerdem: Der Schocken Verlag, Berlin, S. 94 f. 332 Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 352. 333 Dahm (Das jüdische Buch im Dritten Reich (1979), Sp. 161) berichtet dazu aus den RSKAkten des British Document Center: »So bemühten sich im Sommer 1939 das Gestapa in Berlin und die NSDAP-Reichsleitung bei der RSK um eine Unbedenklichkeitserklärung für den Export von Buchbeständen nach England, die bei der Fa. Kittl in Mährisch-Ostrau ›sichergestellt‹ worden waren. Aus dem Erlös des geplanten Exports sollten angeblich die finanziellen Ansprüche einiger Teilhaber befriedigt werden«. Über eine tatsächliche Durchführung dieses Exports ist nichts Näheres bekannt. 334 Vgl. dazu das Kap. 5.2.3 Judaica-Verlage. 335 Im November 1939 vermerkte der Börsenverein: »Dr. Fischel (Nichtarier) ist nach dem Ausland abgereist. Die Firma hat die Mitgliedschaft Dr. Fischels gekündigt«. (SStAL, BV, Akte Julius Kittls Nachf. F 4782; hier zit. n. Oels: Rowohlts Rotationsroutine, S. 56). 336 Zu Lincolns-Prager Publishers Ltd. siehe das Kap. 5.2.2 Politische Verlage.
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rung der Atrium-Bücher von Julius Kittlʼs Nf. vornehmen ließ, »offenbar toleriert von den NS-Behörden, für die Kästner als Devisenbringer gut genug war«.337 Es waren also viele Fäden, die in Mährisch-Ostrau zusammenliefen.
Michael Kácha, Prag Der Prager Michael Kácha-Verlag trägt den Namen des Mitbegründers der anarchistischen Bewegung in Prag, Michael (oder Michal) Kácha (1874‒1940), wurde aber betrieben von Hans (Joachim) Adler* (1887‒1947 Dresden).338 Es ist davon auszugehen, dass Kácha, der hauptsächlich als Verleger, Herausgeber und Redakteur von Zeitschriften (Cerven, Práce, Zádruha, Klíčení) hervorgetreten ist, Inhaber einer Verlagskonzession war und diese Adler zur Verfügung stellte.339 Tatsächlich sind Aktivitäten des Verlags vor 1933 nicht nachweisbar; sie begannen erst, als Hans Adler in Prag eintraf. Er war in Berlin wegen seiner dezidiert sozialdemokratischen Einstellung unmittelbar nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« 1933 verhaftet worden; da er aber einen tschechoslowakischen Pass hatte, war er, nach einer Intervention des tschechoslowakischen Außenministers Edvard Beneš, entlassen und anschließend ausgewiesen worden. Seine Arbeit als Verleger hat er in Prag bereits im Mai 1933 aufgenommen, der Kácha-
337 Sven Hanuschek: Tapfer, sogar tollkühn [Zur Geschichte des Atrium Verlags]. In: Die Welt, veröff. am 20. November 2015 [auch online]. Zum Atrium Verlag siehe das Kap. 5.2.7 Kinder- und Jugendbuchverlage. 338 Zum Folgenden vgl. auch Hall: Michal Kácha-Verlag, Prag (samt Auslieferung). In: Böhmische Verlagsgeschichte [online], mit zusätzlichen Hinweisen und einer Auflistung der Publikationen des Verlags. 339 Dies legen Hinweise nahe, die in einer Diplomarbeit der Philosophischen Fakultät der KarlsUniversität Prag zu finden sind: Barbora Machková: Michael Kácha a česka literatura. Prag 2015 [online], S. 44. Demnach hat Kácha schon zu früheren Gelegenheiten anderen seine Konzession zur Verfügung gestellt, so etwa dem Buchhändler und Verleger Pavel Prokop, als dessen eigener Verlag in Konkurs gegangen war (Kácha dürfte zeitweise in Prokops Buchhandlung gearbeitet haben, vgl. Machková, S. 46). – Hall (Michal Kácha-Verlag, Prag) bringt zu dieser Frage einen Beleg aus dem Bereich der Emigrantenbeobachtung seitens der deutschen Behörden: »Eine Deckfirma, deren Konzession an eine deutsch-kommunistische Emigrantin verpachtet wurde. Der Konzessionsträger Michal Kacha war gleichfalls Kommunist.« (Originalquelle: SStA Leipzig, 21765, Nr. F Nr. F 12.502, Mars-Verlag, Blatt 26), mit dem Bemerken: »Wer die besagte Emigrantin sein könnte, ist noch ungeklärt.« Es könnte sich um Elisabeth (Liesl) Deutsch (Deutschowa, geb. Schok, 4. 11. 1901‒1944?) gehandelt haben, eine zuvor in Österreich lebende Kommunistin, die nach ihrer Scheidung 1932 in die Tschechoslowakei zurückgegangen war und seit 1935 in der Buchhandlung von Michal Kácha gearbeitet hat. Sie könnte die Konzession für die Buchhandlung übernommen haben, nicht aber für den Verlag (freundliche Mitteilung von Čestmir Pelikán, Hradec Králove, vom Januar 2019). In den Jahren der deutschen Besetzung hat Elisabeth (Lizi) Deutsch in Prag, gemeinsam mit Alzbeta / Elsa und Laura Schimko / va, die Buchhandlung ›Schwarze Rose‹ geführt, in der sich Untergrundgruppen deutscher und österreichischer Antifaschisten trafen. Elisabeth Deutsch ist in das Ghetto Lodz gebracht worden und dort umgekommen. (Siehe Elena Makarova, S. Makarov: 3000 Schicksale. Die Deportation der Juden aus dem Ghetto Theresienstadt nach Riga, 1942. Riga, Lettland: Gesellschaft Shamir 2015, S. 22 f.; sowie: Friedls Leben (Erzählt von Elena Makarova), S. 25 [beide online]).
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Verlag gehört damit zu den ersten deutschsprachigen Exilverlagen überhaupt. Dass er zuvor nicht schon als tschechischer Verlag bestanden hat, sondern damals erst als ein »neuer deutscher Verlag« hervorgetreten ist, belegt ein Artikel in der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny (»Volkszeitung«) von Anfang August 1933, in welchem nicht nur die Verlagsgründung, sondern auch bereits das Erscheinen des ersten Buches angezeigt wird.340 Bereits dieser erste Titel erregte Aufsehen, es war die von Julius Epstein herausgegebene Dokumentation: Weltgericht über den Judenhass. Eine internationale Rundfrage über das Wesen des Antisemitismus (1933). In drei Teilen (»Querschnitt durch die Literatur«, »Das Ergebnis der Umfrage« und »Querschnitt durch die Masse«) kommen sowohl prominente Stimmen aus Geistes- und politischer Geschichte (von O. Spengler bis Nietzsche, von Masaryk bis Napoleon, von der evangelischen Kirche bis Lenin), Vertreter der intellektuellen Elite Europas (länderweise geordnet, unter ihnen Heinrich Mann, Henri Barbusse oder Karin Michaelis) sowie aus Amerika Upton Sinclair und im letzten Abschnitt anonyme Vertreter des Volkes, wie ein Student, ein Geschäftsreisender, ein Musiker oder eine Hausgehilfin, aber auch ein Mitglied der NSDAP und ein nationalsozialistischer Schriftsteller zu Gehör. Insgesamt ein eindrucksvolles »Weltgericht«, und wohl die früheste Anklage gegen den Rassismus des Nationalsozialismus aus dem Bereich der Exilverlage.341 Der 1934 erschienene »Tatsachenroman« Kampf um Polna von Bruno Adler, dem Bruder des Verlagsleiters Hans Adler, schließt thematisch hier an: Er bezieht sich auf den »Fall Hilsner«, eine 1899 nach Ermordung eines jungen Mädchens entstandene Ritualmordlegende, die zu einer Aufwallung antisemitischer Ressentiments und nachfolgend in Polna zum Schuldspruch des an der Tat in Wahrheit nicht beteiligten jüdischen Schusters Leopold Hilsner führte. Julius Epstein hat nach seiner »Rundfrage« noch im gleichen Jahr 1933 ein weiteres Buch bei Kácha herausgebracht, Die gelbe Pranke: Japan an der Schwelle der Weltherrschaft. Dieses trägt, wie auch der 1934 erschienene, den Weg eines Kleinbürgers in die SA beschreibende Roman von Werner Türk Kleiner Mann in Uniform, neben Prag auch Leipzig im Impressum. Denkbar ist, dass diese Angabe, die keinen reellen Hintergrund haben konnte,342 eine Verbreitung in Deutschland ermöglichen sollte.343 Der Vorsitzende der »Internationalen Proletarischen Freidenker«, der Brünner Gymnasialprofessor Theodor Hartwig brachte 1935 einen Band Die Krise der Philosophie.
340 (ma): Nové německé nakladatelství […] In: Lidové noviny XLI, Nr. 436, 31. August 1933, S. 9. 341 1934 erschien die Dokumentation Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933, von Rudolf Olden herausgegeben für das Comité des Délégations Juives; in den Éditions du Carrefour erschien 1936 die bis dahin umfassendste Darstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung Der gelbe Fleck, hrsg. von Lilly Becher, mit einem Vorwort von Lion Feuchtwanger. 342 Der Kácha-Verlag war nicht im Adressbuch des Deutschen Buchhandels eingetragen; offizielle Lieferungen nach Deutschland sind, schon aufgrund seines von Anfang an antinationalsozialistisch ausgerichteten Programms, höchst unwahrscheinlich. Hinweisen in der Literatur zufolge waren die Titel des Kácha-Verlags in Deutschland explizit verboten. 343 Im Katalog der DNB ist die Angabe Leipzig mit dem Namen des Kommissionärs O. Klemm ergänzt.
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Kritische Bemerkungen zum 8. Internationalen Philosophen-Kongreß in Prag, 2.–7. September 1934 heraus, der Notizen und Beobachtungen nicht nur zum Kongressverlauf, sondern auch Überlegungen enthielt, wie in diesen Zeiten Philosophen zur Verteidigung von Demokratie, Frieden und Humanismus beitragen könnten. In eine ähnliche Richtung zielte die Studie von Natalie Moszkowska Zur Kritik moderner Krisentheorien, erschienen 1935. Für gute Verbindungen des Kácha-Verlag zum kommunistischen Sektor des Exilverlagswesens sprechen Einzelfakten wie der Umstand, dass Kleiner Mann in Uniform mit einem von John Heartfield gestalteten Einband erschienen und noch im gleichen Jahr auch in die Universum-Bücherei für Alle in Basel übernommen worden ist. Noch mehr aber spricht für eine solche Vernetzung die Tatsache, dass in mehreren Verlagspublikationen der Pariser Éditions du Carrefour der eingedruckte Hinweis auf Kácha als Auslieferungsstelle zu finden ist. Das betrifft Brecht / Eisler: Lieder, Gedichte, Chöre (1934), Egon Erwin Kisch: Eintritt verboten (1934), Gustav Regler: Im Kreuzfeuer. Ein SaarRoman (1934), Hitler treibt zum Krieg: Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen (1934) und das Weißbuch über die Erschießungen des 30. Juni, die Dokumentation zum Röhm-Putsch. Abgesehen von Carrefour hat Kácha aber noch für andere Exilverlage die Auslieferung übernommen und insofern eine nicht unwichtige Rolle im Distributionsnetz des Exils gespielt. Als Beispiel seien aus der Schweiz die Universum-Bücherei für Alle oder der Schweizer Spiegel Verlag genannt, der zwar kein Exilverlag war, in dem aber 1935 das in zahlreiche Sprachen übersetzte Werk Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten herauskam, sein Aufsehen erregender Bericht über 13 Monate Konzentrationslager. In der Tschechoslowakei, wo auffällig viele Autoren ihre Bücher im Selbstverlag herausgebracht haben, übernahmen Auslieferungen und Kommissionsverlage die Aufgabe, für die Verbreitung dieser Bücher zu sorgen. Kácha hat dies insbesondere für den 1933 aus Berlin emigrierten, als »Don Quichotte der Menschlichkeit« bezeichneten Fritz Walter Nielsen* (d. i. Friedrich Wallensteiner, 1903 Stuttgart – 1996 Freiburg i. Br.) getan, der eine ganze Reihe von Publikationen im Eigenverlag herausgebracht hat.344 Die Zusammenarbeit mit Kácha ist nachgewiesen für Kleiner Zyklus Deutschland (1935) und Peter Bohnenstroh: Aus dem Leben eines Tolpatschs. Verse Fritz Walter Nielsen; Zeichnungen Milada Marešova (1935) sowie für einige Übersetzungen bzw. Nachdichtungen tschechischer Lyrik. Unter dem Titel Emigrationsband sind, den Angaben von Bibliothekskatalogen zufolge, zwischen 1935‒1937 insgesamt sieben Titel erschienen, die überwiegend von Kácha ausgeliefert wurden. Besondere Verdienste erwarb sich der Kácha-Verlag außerdem durch die erste Bibliographie der Exilliteratur; sie erschien am Beginn des Jahres 1935 als Almanach für das freie deutsche Buch und enthält auf 135 Seiten ausführliche Anzeigen von 16 Verlagen, die Exilliteratur herausbrachten,345 und zu fünf Exilzeitschriften sowie Angaben zu
344 Zur Biographie vgl. http://www.fredericwnielsen.de/htm/leben_bio.htm; weiteres in Fischer: Handbuch (2020). 345 Es waren das Éditions du Carrefour, Contact, Europa-Verlag, Europäischer Merkur, Éditions Excelsior, Kácha Verlag, van Kampen & Zoon, Allert de Lange, Malik-Verlag, Oprecht & Helbling, Orbis-Verlag, E. Prager Verlag, Querido, Ring-Verlag, Verlag für Sexualpolitik und die Universum-Bücherei, Zürich.
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den entsprechenden Auslieferungsstellen. Als ein erster Überblick dieser Art erfüllte der Almanach in der damaligen Situation, die von Unübersichtlichkeit und vom Fehlen eines zentralen buchhändlerischen Informationsmittels gekennzeichnet war, eine wichtige Funktion. Offenbar konnten Buchhandlungen den Almanach mit einem personalisierten Eindruck bestellen; es sind Exemplare mit unterschiedlichen solcher Angaben bekannt. Die Tätigkeit des Verlags ist bereits ab 1936 allmählich zum Erliegen gekommen; Buchpublikationen sind ab diesem Jahr nicht mehr nachzuweisen, aber die Auslieferung mag noch fortbestanden haben. Mit der Annexion der tschechischen Gebiete waren dann aber auch Leib und Leben der politisch exponierten Emigranten in Gefahr.346 Hans Adler gelang es, wie seinem Bruder Bruno, nach Großbritannien zu flüchten; eine verlegerische Tätigkeit hat er weder dort noch nach seiner Remigration wieder aufgenommen.
Verlag Martin Feuchtwanger (Fünf Türme Verlag), Prag In der ČSR verlegerisch tätig wurde nach 1933 auch Martin Feuchtwanger* (1886 München – 1952 Tel Aviv), Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwanger und des Rechtsund Staatswissenschaftlers sowie Verlegers Ludwig Feuchtwanger*.347 Für den Betreiber mehrerer Korrespondenzbüros, einer Druckerei, eines Romanvertriebs und schließlich auch eines Buchverlags für Trivialliteratur bedeutete das Jahr 1933 das (vorläufige) Ende einer unternehmerischen Erfolgsgeschichte.348 Feuchtwanger schloss seine Korrespondenzen und benannte seinen Verlag in Fünf-Türme-Verlag um, doch wurde er weiter unter Druck gesetzt: Die Nationalsozialisten unterstellten ihm das Vergehen der »Rassenschande« und drohten mit Enteignung – was in den Folgemonaten unter bürokratischen Schikanen dann auch in die Tat umgesetzt wurde. Inzwischen war Feuchtwanger bereits über die Schweiz nach Prag geflüchtet, unter Verlust seiner beträchtlichen Besitz-
346 Hall (Böhmische Verlagsgeschichte; online) zitiert aus einer vertraulichen Mitteilung der Auslands-Abteilung des Börsenvereins vom 23. August 1939 an den Leipziger Kommissionär Carl Fr. Fleischer, den Kácha kurz davor kontaktiert hatte: »Die Firma Michal Kacha, Prag wurde nach der Befreiung Böhmens und Mährens von der Geheimen Staatspolizei gesperrt. Sie hatte sich als Spezialbuchhandlung für kommunistische und Emigrantenliteratur betätigt. Kacha war und ist nicht Mitglied des Svaz [Verband der Buchhändler und Verleger in der Tschechoslowakei]. Eine Geschäftsverbindung mit der Firma ist abzulehnen«. (Quelle: StAL, BV, F 14.237, Michal Kácha). 347 Vgl. hierzu v. a. Hall: Böhmische Verlagsgeschichte, Abschnitt Gustav Neugebauer Verlag (Verlag Martin Feuchtwanger), Prag [Online]. Bisher nicht im Druck erschienen ist der Vortrag von Martin Dreyfus: »Mit ›Mythos‹, fürchte ich, kommt man der Sache nicht bei«, oder »Schlechte Aussichten für Verleger«. Die Verleger Ludwig und Martin Feuchtwanger. Gehalten auf der Konferenz der International Feuchtwanger Society, Wien 6.‒9. Mai 2009; das Vortragsmanuskript war aber Murray G. Hall zugänglich und wurde von diesem ausgewertet. Inzwischen liegt eine hervorragend recherchierte Überblicksdarstellung zur verlegerischen Lebensleistung M. Feuchtwangers vor: Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag »Edition Olympia« in Tel Aviv. [mit zahlreichen Abbildungen; auch online verfügbar]. 348 Siehe dazu Martin Feuchtwanger: Zukunft ist ein blindes Spiel. Erinnerungen (1999), S. 169 f.
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tümer, und stimmte von dort aus im Frühjahr 1935 dem Zwangsverkauf des Verlages an das NSDAP-Mitglied Maximilian Klieber zu.349 Gleichzeitig ging er daran, im Exil erneut unternehmerisch tätig zu werden, was allerdings mit Problemen verbunden war.350 Denn zunächst scheint Feuchtwanger versucht zu haben, seinen Hallenser Fünf Türme-Verlag nach Prag zu transferieren und die Produktion dort weiterzuführen. Tatsächlich brachte der Verlag Martin Feuchtwanger (Fünf Türme Verlag) in Prag zwölf Romane heraus, allerdings – bedingt durch die gesetzliche Bestimmung, derzufolge eine Firmengründung tschechoslowakischen Staatsbürgern vorbehalten war – unter der Firmenkonstruktion »Verlag M. Feuchtwanger in Auslieferung«. Diese Lösung konnte aber keinen Bestand haben; Feuchtwanger musste danach trachten, mit dem Mantel einer bestehenden Firma auch deren Konzession zu übernehmen. In seinen Erinnerungen erläuterte Feuchtwanger die Sachlage: Seit Gründung der Republik hatte kein Ausländer eine Verlagslizenz erhalten. Aber sie [Handels- und Innenministerium] sorgten dafür, daß brachliegende Verlagsanstalten mit Lizenzen für mich nutzbar gemacht wurden, und so arbeitete ich unter den Verlagsfirmen: Gustav Neugebauer – Taubeles – Olympiaverlag. Ich brachte erst Bücherserien heraus, Glücksromane [!], Blau-Gold-Romane, ich hatte verhältnismäßig guten Absatz, ich lieferte vor allem in die Schweiz, nach Österreich, in die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei, aber auch nach Rumänien, Jugoslawien, Südafrika, USA, Brasilien, Argentinien, Frankreich, doch der Versand war kompliziert und teuer, das Geldeintreiben sehr schwierig, und die Auflagen waren, gemessen an meinen großen deutschen Auflagen, klein.351 Der Firma Gustav Neugebauer in Prag, deren Geschichte bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts zurückreicht, wurde am 1. September 1933, wohl auf Veranlassung Feuchtwangers, eine »Abteilung Romanverlag« angegliedert;352 u. a. kam dort 1936 die einmal wöchentlich erscheinende Romanzeitschrift Geschichten für dich! heraus. Sie stand nun seinen verlegerischen Aktivitäten ebenso offen wie die 1861 in Prag gegründete Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung J. Taubeles, die wie die Fa. Gustav Neugebauer im Besitz von Josef Max Bregha und Arthur Heller353 war. Im Verlag Neugebauer brachte Feuchtwanger ab 1934 vier Bücherserien heraus, die alle sehr erfolgreich waren: In der Serie »Glück-Romane« sind bis 1936 mindestens 88 Bände (mit jeweils nicht mehr als ca. 200 Seiten) erschienen; als Verfasser am häufigsten genannt ist der äußerst produktive Trivialschriftsteller Otfrid von Hanstein mit 13 Titeln; er war auch in den nachfol-
349 Feuchtwanger hat von der formell vereinbarten Kaufsumme nichts erhalten; vgl. zu diesen Vorgängen Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag, S. 79 f. 350 Das Folgende nach Hall: Böhmische Verlagsgeschichte, dort mit genaueren Angaben und Nachweisen. 351 Feuchtwanger: Zukunft ist ein blindes Spiel (1999), S. 178 f. 352 Börsenblatt, Nr. 174, 29. Juli 1933. 353 Heller war auch Inhaber der André’schen Buchhandlung in Prag, die in der ČSR (einem der wichtigsten Absatzgebiete für den Verlag) die Auslieferung für den Exilverlag Allert de Lange besorgte; vgl. dazu Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 72; Hall: Böhmische Verlagsgeschichte, sowie in diesem Band das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen.
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gend genannten Serien mit einigen Büchern vertreten. Seit 1936 kam die Serie »Der Volks-Roman« heraus, hauptsächlich mit Liebesromanen. In der Serie »Der moderne Roman« erschienen 1935 insgesamt zwölf Nummern. In der 1936/1937 aufgelegten »Roman-Serie Blau-Gold« sind 21 Titel nachweisbar. Es versteht sich, dass diese populären, international verbreiteten Romanhefte durchwegs in riesigen Auflagen von bis zu 300.000 Exemplaren erschienen sind. Die von Feuchtwanger in seinen Erinnerungen erwähnten deutschsprachigen Romanzeitschriften Der schöne Roman und Die große Romanzeitung waren bisher nicht nachzuweisen, wohl aber die (im Grunde gleichnamige) tschechische Romanzeitung Krásný Román, die von 1939 an erschien und den Angaben der tschechischen Nationalbibliographie zufolge nach Feuchtwangers Weggang vom Verlag H. Šulák bis 1944 weitergeführt worden ist. Schon von Prag aus hatte Feuchtwanger, gleichsam in Vorahnung des Kommenden, die Gründung des Verlags Edition Olympia in Paris, Rue StHonoré, vorangetrieben; er selbst berichtete dazu: Von Prag aus flog ich alle paar Monate nach Paris, wo ich die Romanzeitschrift Le Beau Roman gründete und eine französische Buchserie. Meine französischen Bücher und Zeitschriften wurden durch die Librairie Hachette vertrieben. Le Beau Roman brachte es zu einer Auflage von 56.000 Exemplaren. Ich hatte in Paris einen handelsgerichtlich eingetragenen Verlag: Edition Olympia, Büroräume in der Rue St-Honoré und einen Redakteur. Ich war gerne und häufig in Paris.354 Feuchtwanger hat innerhalb weniger Jahre seinen in Deutschland verlorenen Reichtum wieder herstellen können und agierte als Verleger im großen Stil. Diese Erfolgsgeschichte nahm aber ein jähes Ende: Nach der Okkupation der ČSR durch Hitlerdeutschland wurde Feuchtwanger auf brutale Weise verhört und musste eine Erklärung unterschreiben, derzufolge er auf jegliche Ansprüche an das Deutsche Reich verzichtete. Zusammen mit seiner Frau gelangte er mit einem illegalen Palästinatransport am 30. April 1939 außer Landes; über seine verlegerische Tätigkeit in Palästina wird an anderer Stelle berichtet.
UdSSR Die in der Sowjetunion gegebenen Voraussetzungen für eine Exilverlagsproduktion unterschieden sich deutlich von denen in allen anderen Ländern, denn grundsätzlich war es so, dass bestehende Staats- und Organisationsverlage »ihren verlagstechnischen Apparat für eine deutsche Buchproduktion zur Verfügung« stellten.355 Die Tätigkeit aller Verlage beruhte auf Planwirtschaft und politischer Steuerung, konsequenterweise waren es fast ausschließlich kommunistische und mit dem Kommunismus bzw. der Sowjetunion sympathisierende Autoren, die in der Programmplanung berücksichtigt wurden. Zwischen 1933 und 1945 sind in sowjetischen Verlagen 281 Werke exilierter deutscher Schriftsteller, Wissenschaftler oder Künstler erschienen, in einer Gesamtauflage von
354 Feuchtwanger: Zukunft ist ein blindes Spiel (1999), S. 180. 355 Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 272.
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mindestens 2.179.675 Exemplaren.356 Diese Büchermengen wurden überwiegend in der Sowjetunion selbst verbreitet, zur Versorgung der im Lande befindlichen, aus Deutschland geholten Werktätigen sowie der deutschsprachigen Minderheiten an Don und Wolga (um 1936: ca. 1,25 Millionen); im Rahmen von Kooperationen mit Partei- oder parteinahen Verlagen in Frankreich, der Tschechoslowakei und der Schweiz (Carrefour, Malik, Universum-Bücherei, Ring-Verlag) wurden aber Teilauflagen nach Westeuropa exportiert. Aufgrund ihrer eher bescheidenen Ausstattung waren die Bücher auf dem westeuropäischen Markt kaum konkurrenzfähig; zudem musste in einigen Ländern mit Verbreitungsbehinderungen gerechnet werden. So etwa hat Wieland Herzfelde, der gelegentlich mit sowjetischen Verlagen kooperierte, es als hochproblematisch empfunden, Bücher mit Moskauer Impressum zu vertreiben, da dies in manchen Ländern die Zensur auf den Plan rufe.357 Einzelne Titel fanden aber doch den Weg in den Westen. Zu regulären Honorarüberweisungen an Autoren im Ausland kam es nur in prominenten Ausnahmefällen, etwa bei Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Arnold Zweig oder Oskar Maria Graf; meist wurde ein Rubelkonto geführt, von dem die Autoren nur in der Sowjetunion selbst Gebrauch machen konnten (was gelegentlich auch Motiv für einen Besuch des Landes sein konnte). Zu einer materiellen Besserstellung der exilierten Autoren haben die sowjetischen Verlage daher nur sehr begrenzt beigetragen. Auch hat es trotz der hohen Produktionsziffern eine literarische Exilöffentlichkeit dort kaum gegeben. Ohnehin hatte in der Sowjetunion – gemessen an der Größe des Landes und seiner weltpolitischen Stellung – nur eine sehr kleine Zahl von Emigranten Zuflucht gefunden. Nicht einmal Parteimitgliedern und -funktionären war die Einreise erlaubt; einige Schriftsteller erhielten spezielle Einladungen zu vorübergehendem Aufenthalt, etwa im Rahmen von Schriftstellerkongressen. Im Blick auf den stalinistischen Terror konnten sich allerdings viele glücklich schätzen, nicht nach Moskau gelangt zu sein.358
Die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter, Moskau und Leningrad In den Jahren bis zu den politischen »Säuberungen« war die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter (VEGAAR) mit verschiedenen Abteilungen in Moskau und Leningrad der mit Abstand wichtigste Verlag.359 Der Leiter des bereits 1931 als Nachfolger des Zentral-Völker-Verlags beim Volkskommissariat für Volksbildung gegründeten und (verdeckt) dem Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) unterstellten Gesamtverlags
356 Vgl. Barck / Jarmatz, S. 275. Die Genauigkeit der Zahlenangaben beruht auf der planwirtschaftlichen Produktionsweise, in deren Rahmen im Impressum jeder Publikation auch die Auflagenhöhe explizit genannt werden musste. 357 Prag‒Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938, S. 163. 358 Vgl. hierzu Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, bes. S. 417–483. 359 Siehe Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 275‒286; Simone Barck: Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR). In: Lexikon sozialistischer Literatur, S. 487 f.; Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, S. 310‒318. – Siehe auch: Schick: Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen der »Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR«, mit 741 nachgewiesenen Titeln.
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war ein Sowjetbürger, Michail E. Krebs, in der Komintern zuständig für den gesamten Verlagssektor, doch waren deutsche Exilanten hier an führender Stelle tätig, vor allem Erich Wendt* (1902 Leipzig – 1965 Berlin-Ost)360 als Krebsʼ Stellvertreter und Leiter des Westlichen Sektors und der Deutschen Abteilung, und als Wendts Nachfolger (nach dessen Verhaftung) seit September 1936 Otto Bork (eig. Otto Unger*; 1893 Böllberg b. Halle / Saale – 1938?).361 Leiter der Vertriebsabteilung war bis 1937 Fritz Schälicke* (1899 Berlin – 1963 Berlin).362 Weitere deutsche Emigranten waren in dem Großunternehmen, das 1937 335 Mitarbeiter hatte,363 als Redakteure, Lektoren und Übersetzer für den Verlag tätig, unter ihnen Georg Lukács, Hugo Huppert, Alfred Kurella, Frida Rubiner, Valentina Adler, Johann Biefang u. a.364 Als Buchgestalter und Illustratoren arbeiteten Sándor Ék (auch Alex Keil), Griffel (d. i. László Dállos), Hans Leistikow, F. Hüffner oder Hans Klering, auch Heinrich Vogeler.365 Die VEGAAR brachte 1931‒1945 alles in allem 1.220 Titel in deutscher Sprache in einer Gesamtauflage von 12.440.000 Exemplaren heraus und war ein Verlag mit mehreren Programmschwerpunkten; es erschien
360 Wendt hatte zwischen 1916 und 1920 eine Lehre als Schriftsetzer absolviert und war danach als Mitglied der KPD im parteinahen Verlagswesen beschäftigt, u. a. im Berliner Verlag Junge Garde und bei einer sowjetischen Buchhandelsgesellschaft. Ab 1924 war Wendt Leiter der Wiener Zweigstelle des Verlages Jugendinternationale, von 1925 bis 1927 auch Redakteur der Zeitschrift Jugendinternationale. 1931 ging er aufgrund eines gerichtlichen Verfahrens wegen »literarischen Hochverrats« in die UdSSR und war in Moskau in führender Position bei der VEGAAR tätig. Seine Ehefrau Lotte, ebenfalls in der VEGAAR, lebte seit 1938 mit Walter Ulbricht zusammen; die Eheschließung erfolgte erst 1953. Siehe Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 279‒282; Biographisches Handbuch der SBZ / DDR 1945‒1990. – Von Hugo Huppert wurde Wendt als neuer Typus des »Editionspolitikers« charakterisiert. 361 Unger war ab Frühjahr 1932 als Prokurist der Verlagszentrale AG tätig, der Dachgesellschaft aller Zeitungsverlage der KP. Nach der NS-»Machtergreifung« wurde er vom ZK der KPD mit der Organisation des illegalen Literatur- und Zeitungsvertriebs der KP beauftragt, jedoch bereits am 12. April 1933 von der SA verhaftet und im Konzentrationslager Brandenburg drei Monate festgehalten. Nach seiner Entlassung vom ZK in die UdSSR beordert, kam Unger im Februar 1934 nach Moskau, wo er als Leiter der deutschen Sektion der VEGAAR fungierte. Siehe Reinhard Müller: Linie und Häresie. Lebensläufe aus den Kaderakten der Komintern (II), S. 46‒50, sowie S. 63‒67: [Lebenslauf] Otto Bork (d. i. Otto Unger). Siehe auch Ervin Sinkó: Roman eines Romans. 362 Schälicke, seit 1920 KPD-Mitglied, war leitender Redakteur des Verlags Jugend-Internationale; 1927 war er als dessen Prokurist wegen »literarischen Hochverrats« zu einem Jahr Festungshaft verurteilt worden, wovon er sechs Monate verbüßte. Danach ging er auf Parteibefehl nach Moskau und übernahm dort die Vertriebsleitung in der VEGAAR, wurde aber 1937 wegen seiner Verbindung zu Erich Wendt abgelöst. Nach Kriegsende kehrte Schälicke nach Berlin(-Ost) zurück und übernahm die Leitung des Verlags JHW Dietz Nachf. Berlin. 363 Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 278. 364 Bei Barck / Jarmatz, S. 290, werden noch weitere Namen genannt: »In den dreißiger Jahren waren bei VEGAAR angestellt: Lotte Wendt (später Ulbricht), Änne Bernfeld, die Frau Karl Schmückles, Ernst Noffke, Hilde Angarowa und Klara Blum als Redakteurin. Else Wolf arbeitete in den vierziger Jahren im Verlag.« 365 Zu Keil/Ék, Griffel / Dállos, Hüffner, Klering und Vogeler siehe Buchgestaltung im Exil 1933‒1945, S. 46 f., 152, 155 f., 174, 176 f., 207 f.
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hier politische Literatur, von der Edition der Werke Karl Marxʼ, Friedrich Engelsʼ, Lenins und Stalins in Originalsprache und Übersetzungen366 bis hin zu breitgestreuten Themen der internationalen Arbeiterbewegung und der Faschismusanalyse; populärwissenschaftliche Bücher und Lehrbücher; Belletristik und auch Kinderliteratur. Wie schon das Gründungsdatum und der Verlagsname367 anzeigen, handelte es sich nicht um einen Exilverlag; zwischen 1933 und 1938 brachte die VEGAAR aber doch deutlich mehr als hundert Titel aus dem Bereich der deutschen Exilliteratur heraus.368 Die Durchschnittsauflage bei Exilveröffentlichungen betrug 6.000‒7.000, bei Lyrikbänden 2.500‒8.000 Exemplare, doch erreichten einzelne Titel weit höhere Auflagen, wie Willi Bredels Roman Die Prüfung, 1935 in zwei Auflagen mit zusammen 22.000 Exemplaren erschienen, Theodor Pliviers Der 10. November 1918 mit 25.100 oder Hermynia zur Mühlens Said der Träumer 1936 mit 20.000 Exemplaren.369 Die hohen Auflagen, die nicht unbedingt realistischer Ausdruck des tatsächlichen Bedarfs waren, wurden allerdings mit schlechter Herstellungsqualität und meist recht primitiver Ausstattung erkauft. Eine Besonderheit des genossenschaftlich organisierten Unternehmens war der angestrebte Austausch mit seinen Zielgruppen; zu diesem Zweck fanden Versammlungen und »Leserkonferenzen« statt, in denen die Arbeit des Verlags und seine Produktion kritisch diskutiert wurden; dies führte u. a. zur Ausweitung der belletristischen Programme und zur Abstellung von Vertriebsproblemen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Produktion (oft bis zu 6.000 Exemplare) wurde von dem ausgedehnten öffentlichen Bibliothekswesen der Sowjetunion aufgenommen. Das belletristische Programm des Gesamtverlags war, wie nicht anders zu erwarten, »internationalistisch«, mit zahlreichen Übersetzungen aus dem Russischen, aber auch aus dem Englischen und anderen Sprachen. Stets handelte es sich um sozialistische oder Sozialismus-affine Literatur. Das gilt auch für die deutschen Exilautoren, die sich hauptsächlich aus dem KP-Bereich rekrutierten;370 es wurden aber auch »Bündnispartner« wie Lion Feuchtwanger oder Oskar Maria Graf miteinbezogen. Geprägt wurde das Programm von politischen Analysen wie Hans Günthers Studie zum Nationalsozialis-
366 Die Herausgabe der »Klassiker« des Marxismus-Leninismus stellte eine Kernaufgabe der VEGAAR dar. 367 Seit den 1920er Jahren waren zahlreiche deutsche Arbeiter, Ingenieure, »Spezialisten« etc. in die Sowjetunion geholt worden, um dort am Aufbau des Landes mitzuwirken; sie sollten mit deutschsprachigem Lese- und Lernstoff versorgt werden. Die Deutsche Abteilung der VEGAAR war die stärkste, aber nur eine von vielen; der Verlag hatte ab 1935 sieben große Sprachredaktionen, eine Lehrbuchredaktion und 30 Sprachsektionen, später 40 nationale Abteilungen (Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 273‒276, 279). 368 1931‒1945 sind in der VEGAAR und dem Nachfolgeunternehmen Verlag für fremdsprachige Literatur rund 160 von emigrierten Schriftstellern, Politikern und Künstlern verfasste Titel erschienen (Barck / Jarmatz, S. 278). Für die VEGAAR gibt David Pike eine Zahl von 118 deutschsprachigen Büchern in den acht Jahren ihres Bestehens an, Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, S. 311. 369 Vgl. Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 285. 370 Von Johannes R. Becher, Friedrich Wolf und Willi Bredel erschienen je sieben Titel, von Egon Erwin Kisch drei, von Erich Weinert, Fritz Erpenbeck, Scharrer und F. C. Weiskopf je zwei, und von Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt, Ludwig Renn, Anna Seghers, Bodo Uhse und Hans Marchwitza je einer. Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 284.
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mus, Büchern über Konzentrationslager und den Widerstand in Deutschland (wie Hans Beimlers Im Mörderlager Dachau. Vier Wochen in den Händen der braunen Banditen, dem Bericht aus den politischen Gefängnissen des Dritten Reichs Mord im Lager Hohenstein, der erwähnten Prüfung Bredels oder den ebenfalls bedeutenden KZ-Büchern Karl Billingers und Walter Schönstedts), von Zeitromanen von Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Gustav Regler oder Adam Scharrer, Reportagebüchern von Egon Erwin Kisch oder Theodor Balk, und nicht zuletzt Gedichtbänden von Johannes R. Becher und Erich Weinert.371 In einer von Ernst Ottwalt (bis 1936) betreuten antifaschistischen Erzählungsreihe, der VEGAAR-Bücherei, erschienen Texte u. a. von Ottwalt selbst (Die letzten Dinge, 1936), Anna Seghers (Der letzte Weg des Koloman Wallisch, 1936), Fritz Erpenbeck (Musketier Peters, 1936), Friedrich Wolf (Die Nacht von Béthineville, 1936) oder Wolfgang Langhoff (Eine Fuhre Holz, 1937); bis Ende 1937 sind in ihr elf Titel in Auflagen von 11.000‒16.000 Exemplaren herausgekommen. Die preisgünstige Reihe, deren äußeres, an die Insel-Bücherei angelehntes Gewand von F. Hüffner entworfen wurde, gehörte zu den gefälliger gestalteten, dabei erstaunlich »bürgerlich« wirkenden Büchern der VEGAAR. Die Deutsche Sektion war keineswegs nur mit Exilliteratur beschäftigt; im Rahmen der Pflege des literarischen Erbes wurde z. B. auch eine Heinrich-Heine-Werkausgabe in drei Bänden erstellt, auch gab es eine Serie Neuer Sowjetroman, in der das deutschlesende Publikum mit dem zeitgenössischen sowjetischen Romanschaffen vertraut gemacht werden sollte, sowie Ausgewählte Werke Maxim Gorkis in sechs Bänden. Die Koproduktionen mit dem Malik-Verlag sind weiter oben schon erwähnt worden; durch eine Vereinbarung mit der VEGAAR war Herzfelde verpflichtet, einen Teil seiner Bücher in der Sowjetunion drucken zu lassen; »ein Teil jeder Auflage wurde dann in der UdSSR gebunden und mit dem VEGAAR-Impressum verkauft, während die restlichen Exemplare – häufig ungebunden – an Herzfelde in Prag geschickt wurden, der sie dann für den Verkauf als Malik-Produkte herrichtete«.372 In diesem Zusammenhang wurde in Moskau auch Zensur bzw. »politische Kontrolle« ausgeübt, etwa gegenüber O. M. Grafs Der Abgrund. Über die enge Zusammenarbeit mit dem Ring-Verlag in der Schweiz (der als getarnter Ableger der VEGAAR betrachtet werden kann) im Bereich der Belletristik und – soweit es Parteischrifttum betraf – mit den Éditions Prométhée in Frankreich wurde bereits weiter oben berichtet bzw. wird noch an anderer Stelle zu berichten sein.373 Mitte des Jahres 1938 brachte die VEGAAR ihre letzten Titel heraus; sie wurde damals zu einem Hauptschauplatz der stalinistischen »Säuberungen« innerhalb der deutschen Emigrantengruppe in Moskau; 1938, nach Verhaftung faktisch des gesamten Führungspersonals, wurde die deutschsprachige Produktion eingestellt.374 Ab Juni 1938
371 Genaueres bei Schick: Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen der »Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR«. 372 Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, S. 312. 373 Siehe dazu im Kap. 5.2.2 Politische Verlage den Abschnitt zum Ring-Verlag, mit einer Auflistung der in der Schweiz in Umlauf gebrachten Titel. In diesem Kapitel auch nähere Informationen zu den Éditions Prométhée. 374 Vgl. zu diesen Vorgängen Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil, S. 417‒483, bes. S. 424 f. und S. 435. – Unger / Bork wurde am 17. November 1937 verhaftet, am
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wurde das VEGAAR-Programm von dem neugegründeten Verlag für fremdsprachige Literatur weitergeführt. Als Chefredakteur war dort 1939‒1943 Wilhelm Zaisser tätig, als Redakteurin 1939‒1941 Frida Rubiner.
Verlag für fremdsprachige Literatur Es war somit der Verlag für fremdsprachige Literatur, der fortan die Ausgaben der marxistisch-leninistischen Klassiker herausbrachte, auch Dokumente der internationalen Arbeiterbewegung oder in hohen Auflagen eine Serie »Schritt für Schritt«, mit auch von deutschen Exilautoren (Heinrich Mann, Brecht, Bredel, Feuchtwanger, Renn, Scharrer, Uhse, Weinert) stammenden Texten, die durch ihre Aufbereitung mit Kommentar und Wörterverzeichnis Sprachlehrzwecken dienen konnten. Der Verlag publizierte aber auch jenseits dieser Reihe wieder deutschsprachige Belletristik. Allerdings: Mit dem Angriff der Hitler-Armee auf die Sowjetunion 1941 kam insbesondere die deutschsprachige Publikationstätigkeit der sowjetischen Verlage kurzfristig zum Erliegen; erst die von Stalin im April 1942 per Dekret vorgenommene Klarstellung, dass zwischen der »HitlerClique« und dem deutschen Volk zu unterscheiden sei, bewahrte die deutsche Literatur davor, als Feindliteratur eingestuft zu werden. Der Verlag für fremdsprachige Literatur konnte nun die – u. a. durch Papiermangel erschwerte375 – Produktion in den Kriegsjahren wieder aufnehmen und brachte in den 1940er Jahren rund 45 Bücher (Neuerscheinungen und Wiederauflagen) in deutscher Sprache heraus, darunter Erzählungen und Gedichte von Willi Bredel (Kurzgeschichten aus Hitlerdeutschland, 1942; Verwandte und Bekannte, 1943, u. a. m.), Erich Weinert (Stalin spricht, 1942; Gegen den wahren Feind, 1944), Johannes R. Becher (u. a. »Deutsche Sendung«. Ein Ruf an die Nation, 1943), Friedrich Wolf (Der Russenpelz, 1942) oder Adam Scharrer (Der Landsknecht. Biographie eines Nazis, 1943). Die durchschnittliche Auflagenhöhe betrug 8.000 Exemplare. Berücksichtigung fanden jetzt ausschließlich in der Sowjetunion lebende Autoren, die sich – wie zum Teil schon die Titel verraten – im Krieg nun verstärkt in der
19. März 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. Erich Wendt überlebte die »Säuberungen«: Von der Geheimpolizei 1936‒1938 inhaftiert, lebte er bis 1941 als Deutschlehrer in Engels / Wolga. 1941/1942 nach Sibirien deportiert, kehrte er anschließend nach Moskau zurück und arbeitete bis 1947 als Übersetzer und Mitarbeiter in der deutschen Redaktion von Radio Moskau. 1947 übernahm Wendt in Berlin-Ost die Leitung des Aufbau Verlages, die er bis 1953 innehatte; danach machte er in der SED eine Funktionärskarriere. Außer Unger und Wendt gerieten noch zahlreiche weitere, in sowjetischen Verlagen tätige deutsche Emigranten in die Terrormaschine Stalins, mit häufig tödlichem Ausgang. Das ungeheure Maß an psychotischer Verblendung, intellektueller Unzurechnungsfähigkeit und moralischer Selbstverstümmelung, das bei den kommunistischen Parteifunktionären und genauso in der kommunistischen Schriftstellerschaft in Moskau damals um sich gegriffen hat, wird ausschnitthaft offenbar in dem von Reinhard Müller herausgegebenen Band: Georg Lukács, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u. a.: Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung. 375 Gravierende Auswirkungen hatte auch die Einberufung der erfahrenen Setzer an die Front; an ihre Stelle traten junge Arbeiterinnen, die den Satz fremdsprachiger Text erst noch schnell erlernen mussten (vgl. Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, Bd. 1, I, S. 289 f.).
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Agitations- und Propagandaarbeit an der Front nützlich machen wollten. Gerade den Gedichtbänden wurde eine besondere Bedeutung in dieser Arbeit beigemessen. Der Verlag für fremdsprachige Literatur war nach 1942 der einzige sowjetische Verlag, der noch deutschsprachige Bücher herausbrachte. In den Jahren zuvor gab es aber noch eine Reihe weiterer, im Segment Exilliteratur z. T. sehr aktive Verlage. Dazu gehörte Meshdunarodnaja Kniga ‒ Das internationale Buch (Moskau), wo zwischen 1938 und 1942 insgesamt 46 deutschsprachige Bücher herauskamen, darunter in jeweils 10.000 Exemplaren Anna Seghers’ Die schönsten Sagen des Räubers Woynok (1940) und Bertolt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches (1941).376 Anders als bei der VEGAAR zeigte man sich in diesem Verlag aber dem deutschen Buch gegenüber nicht grundsätzlich aufgeschlossen; hier mussten erst Widerstände überwunden werden. Auch blieben die Startauflagen relativ niedrig. Erst 1939 wurde diese Programmlinie aufgenommen und dann in beachtlichem Ausmaß mit Werken von nicht in der Sowjetunion lebenden Autoren bestückt, mit Büchern von Lion Feuchtwanger (Zwei Erzählungen, 1938, Aufl. 10.000), Oskar Maria Graf (Der Quasterl, 1938, 5.000), Rudolf Leonhard (Wolf Wolff, 1939, 5.000), Hans Marchwitza (Zwei Erzählungen, 1939, 7.000) oder Peter Kast (Der Birnbaum, 1939, 7.000).
Weitere Staatsverlage Der Staatsverlag der nationalen Minderheiten (Kiew, Charkow) war nicht auf Belletristik spezialisiert, sondern auf Schul- und Lehrbücher, brachte aber ab 1934 eine Reihe von Gedichtbänden von Johannes R. Becher und Erich Weinert, Erzählungsbände von Bredel, Erpenbeck, Günther, Marchwitza, Plivier, Scharrer, Seghers und anderen kommunistischen oder KP-nahen Autoren heraus.377 Hervorhebenswert erscheinen Ausgaben von Heinrich Manns zweiteiligem Henri Quatre-Roman oder Arnold Zweigs Erziehung von Verdun. Die Auflagenhöhe der insgesamt 36 deutschsprachigen Titel beschränkte sich auf 1.000‒4.000 Exemplare – bis auf einen Gedichtband Erich Weinerts (Rot Front, 1936), der für propagandistische Zwecke in 120.000 Exemplaren hergestellt wurde. Auf in der Sowjetunion lebende Autoren konzentriert war (mit einer Ausnahme, Heinrich Mann) das Programm des Deutschen Staatsverlags in Engels, der 1933‒1941 sowjetdeutsche Literatur (Erzählungen wolgadeutscher Schriftsteller, 1933), aber auch deutsche Exilliteratur in zusammen 26 Büchern publizierte.378 Von Albert Hotopp (der selbst auch in sowjetischen Verlagen tätig war) erschienen drei Bücher, darunter Fischkutter H. F. 13 (1933) in 16.400 Exemplaren oder Stander Z (1936, mitgedruckt für die Universum-Bücherei). Dem sowjetdeutschen Leser sollte die beste internationale proletarische antifaschistische Dichtung zugänglich gemacht werden, und in diesem Sinne erschienen Anthologien unter dem Titel Antifaschistischer Kampf und Über Lenin, aber auch eine Schülerbibliothek, als deren Herausgeber (oftmals auch Textbearbeiter und Textkommentator) Herwarth Walden fungierte. Diese Schülerbibliothek hatte die
376 Vgl. Barck / Jarmatz, S. 291 f. 377 Vgl. hierzu Barck / Jarmatz, S. 292 f. 378 Vgl. Barck / Jarmatz, S. 293.
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Aufgabe, das literarische humanistische Erbe zu erschließen, mit kommentierten Bänden zu Lessing, Goethe, Heine, Freiligrath, aber auch Gogol, Turgenjew und sogar Kisch. Deutschsprachige Bücher erschienen vereinzelt noch in anderen sowjetischen Verlagen, etwa im Staatsverlag für Lehrbücher und Pädagogik Ausgaben von Jakob Wassermanns Das Gold von Caxamalca (1935) und Heinrich Manns Der Untertan (1939), oder im Verlag der Deutschen Zentralzeitung die Lieder der spanischen Revolution (1937, in 35.000 Exemplaren). Umgekehrt erschienen zahlreiche Werke deutscher Exilautoren in russischer Übersetzung in sowjetischen Verlagen in meist beachtlich hoher Auflage, besonders im Staatsverlag für schöne Literatur (»Goslitisdat«), der 1933‒1936 zusammen mit dem Jourgaz Verlag (Reihe »Weltbibliothek«) mehr als 50 Titel in durchschnittlich 20.000 Exemplaren herausbrachte.379 Eine Koordinierung der Tätigkeit der sowjetischen Verlage, die Exilliteratur verlegten, wurde angestrebt, kam jedoch zu keinem Zeitpunkt zustande.
Schweden Bermann-Fischer Verlag, Stockholm Gottfried Bermann Fischer hatte in Wien alles verloren und war nach seiner Flucht nach Zürich darauf angewiesen, für eine Weiterführung seiner verlegerischen Arbeit Unterstützung zu finden. Diese fand er in Schweden, wo sich die Familie Bonnier, um 1800 selbst aus Deutschland emigriert,380 spontan bereit erklärte, die Gründung eines deutschsprachigen Verlags in Stockholm zu finanzieren.381 Das schwedische Verlagshaus Bonnier stellte das Startkapital für eine A. G. zur Verfügung und übernahm im Gegenzug 51 % der Geschäftsanteile;382 Bermann Fischer brachte seine Verlagsrechte, die von ihm bereits geleisteten Autorenvorschüsse und bilanztechnisch auch die Wiener Buchbestände in das Unternehmen ein. Der förmliche Vertragsabschluss erfolgte am 6. Mai 1938 in Stockholm zwischen Bonnier und der Churer A. G. für Verlagsrechte. Bonnier verpflichtete sich, neben den eingezahlten 25.000 Kronen auch einen Kredit für Druck und Papier von zehn Büchern zur Verfügung zu stellen; Bermann Fischer wurde als Verlagsleiter mit einem monatlichen Salär von 1.000 Kronen und einer Gewinnbeteiligung eingestellt. Am 26. Juli 1938 wurde ein weiterer Vertrag geschlossen, zwischen dem Albert Bonnier Verlag und Gottfried Bermann Fischer, denn inzwischen hatte man den Mantel einer bestehenden A. G. erworben, die nun zur Bermann-Fischer Verlag Aktiebolag um-
379 Hierzu ausführlicher Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR, S. 295‒302. 380 Eine kurzgefasste Geschichte des Hauses Albert Bonnier bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 84, Fn. 15. Der Verlagsgründer Gerard Bonnier, 1778 geboren als Gutkind Hirschel in Dresden, änderte seinen Namen unter dem Einfluss der Französischen Revolution, ehe er als Französischlehrer nach Kopenhagen kam. 381 Vgl. hierzu und zum Folgenden Nawrocka: Verlagssitz, S. 87‒140. Der Beitrag von Nawrocka: Deutschsprachige Exilautoren und der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm von 2013 basiert auf der zuvor genannten Gesamtdarstellung. 382 Nach der Rechtslage in Schweden konnte Bermann Fischer nur Minderheitsgesellschafter einer Aktiengesellschaft sein.
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benannt wurde, wobei auch das Grundkapital erhöht wurde. Als Unternehmenszweck des Verlags wurde die Herausgabe von Literatur in deutscher Sprache festgeschrieben; Bermann Fischer wurde als geschäftsführender Direktor formell verpflichtet, der Gesellschaft seine ganze Zeit zu widmen. Die damals noch bestehende und im Vertragswerk festgehaltene Erwartung, Bestände aus dem Wiener Buchlager durch Verhandlungen mit den NS-Behörden frei zu bekommen, sollte sich aber als gegenstandslos erweisen.383 Aus dem Umstand, dass er aktuell keine Bücher für den Verkauf zur Verfügung hatte, ergab sich für Bermann Fischer die juristische Notwendigkeit, sehr rasch neue Bücher herauszubringen, weil er sonst die Autorenrechte verloren hätte. Als erstes galt es also, alle Autoren bei der Stange zu halten (manche glaubten sich ja nach der Vertreibung Bermann Fischers aus Wien frei) oder auch neue zu gewinnen, z. B. Franz Werfel, der nach der »Arisierung« des Zsolnay Verlags in Wien auf Verlagssuche war und bereits mit Walter Landauer von Allert de Lange in Verhandlungen eingetreten war.384 Bermann Fischer gelang es, sicherlich auch durch den Rückhalt, den er nun mit Bonnier genoss, nicht nur Werfel an seinen Stockholmer Verlag zu binden, sondern auch Stefan Zweig, der mit Herbert Reichner gebrochen hatte. Zweig musste er sich allerdings mit Allert de Lange teilen,385 Jeremias und Ungeduld des Herzens erschienen daher 1938 als Gemeinschaftsausgaben von Allert de Lange, Amsterdam, und Bermann-Fischer, Stockholm.386 Dass Bermann Fischer so erfolgreiche Autoren hinzugewinnen und mit Thomas Mann, als Nobelpreisträger schon vor 1933 das internationale Aushängeschild des Verlags, den inzwischen unbestrittenen Sprecher der deutschsprachigen Emigration als Hausautor hatte und, trotz dessen Widerstrebens, halten konnte,387 sicherte seinem Verlag nicht nur eine herausgehobene Stellung, sondern auch eine materielle Basis. Darüber hinaus gehörten zu seinem Autorenstamm noch andere Autoren ersten Ranges, wie Annette Kolb oder René Schickele. Rasch konnte Bermann Fischer auch wieder einen Mitarbeiterstab zusammenstellen, teils aus neuen, teils aus bewährten Kräften. Neu war Walter Singer* (1883 Hamburg – 1953 Stockholm),388 der seit 1917 in Schweden lebte; er hatte unter Hinweis auf seine schwedischen Sprachkenntnisse, seine kaufmännische und literarische Kompetenz sowie seine guten örtlichen Beziehungen Bermann Fischer von sich aus angeboten, die Buchhaltung und geschäftliche Leitung des neuen Verlages zu übernehmen. Bermann Fischer akzeptierte; Singer war dann von Juni 1938 bis Juli 1948 Geschäftsführer des Stockhol-
383 In einem weiteren Vertrag vom selben Tag übertrug die A. G. für Verlagsrechte in Chur dem Bermann-Fischer Verlag Aktiebolag die Rechte für 20 Autoren. 384 Nawrocka: Verlagssitz, S. 92 f. 385 Vgl. Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 331–336. 386 Nawrocka: Verlagssitz, S. 92 f. Später, mit der Schließung von Allert de Lange in Amsterdam 1940, fielen die Rechte an den Werken Stefan Zweigs ganz auf Bermann-Fischer. 387 Siehe dazu in diesem Kapitel weiter oben. 388 Singer war noch vor dem Ersten Weltkrieg in Moskau als Korrespondent für das Berliner Tageblatt tätig gewesen; 1917 flüchtete er nach Schweden und erwarb nach einiger Zeit auch die schwedische Staatsbürgerschaft. Von ihm stammt das Manuskript: Der Bermann Fischer Verlag in Stockholm. Ms., im Deutschen Exilarchiv, DNB Frankfurt a. M., Teilnachlass Berendsohn. Vgl. auch Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 171 f.; Nawrocka: Verlagssitz, bes. S. 89.
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mer Verlags, der in diesem Zeitraum, allen Widrigkeiten zum Trotz, zum bedeutendsten deutschen Exilverlag wurde. Ihm zur Seite standen – neben der aus Wien geflüchteten Sekretärin Annie Stern – zwei bereits in Wien für Bermann Fischer tätig gewesene Kollegen: als Lektor Victor Zuckerkandl*, der allerdings nach nur ca. einem Jahr in die USA ging,389 und seit Februar 1939 als Hersteller (und auch als Lektor und mehrfach als Übersetzer) Justinian Frisch* (1879 Kritzendorf b. Wien – 1949 Cambridge / GB),390 dem es unter den schwierigen Bedingungen des Krieges und des Exils, die sich vor allem auf die Papierbeschaffung und die Satzarbeiten mit nicht-deutschsprachigen Setzern und Korrektoren auswirkten, gelang, die Verlagsproduktion in der Ausstattungsqualität auf beachtlicher Höhe zu halten.391 Als Verlagssignet behielt Bermann Fischer die beiden springenden Rappen bei. Allerdings waren Bermann Fischer und seine Helfer nicht ganz frei in ihrem Tun; das Verlagshaus Bonnier beauftragte einen ihrer Anwälte, Ivar Philipson, mit der regelmäßigen Überprüfung der Buchhaltung und Finanzen des deutschsprachigen Verlages; auch sollte er über dessen Programm und Absatz an Bonnier berichten. Bonnier behielt sich weiters die Festsetzung der Gehälter und auch bestimmte Entscheidungen vor, z. B. über die Ausführung riskanter Bestellungen. Die Programmgestaltung selbst konnte Bermann Fischer jedoch weitgehend eigenverantwortlich planen, mindestens bis zum Jahre 1943, als er in die USA ging. Wenige Monate nach Bermann Fischers Flucht aus Österreich konnte nun also die Verlagsarbeit wieder aufgenommen werden, wobei es sich als Vorteil erwies, dass Bonnier seine eigenen Druckereien zur Verfügung stellte (ein Teil der B-F-Bücher wurde tatsächlich dort gedruckt) und der Bermann-Fischer Verlag, mindestens für Skandinavien, auch das Auslieferungssystem des schwedischen Unternehmens nutzen konnte. Um die Produktion möglichst rasch in Schwung zu bringen, ging Bermann Fischer damals und auch in den folgenden Jahren immer wieder Kooperationen mit anderen Verlagen ein. Die Züricher Büchergilde Gutenberg brachte im Sommer 1938 eine Li-
389 Zu Zuckerkandl siehe die Hinweise weiter oben im Abschnitt Österreich. Nachfolger Zuckerkandls als Lektor wurde Immanuel Birnbaum, der in den Ereignissen, die 1940 zur Ausweisung Bermann Fischers aus Schweden führen sollten, eine zentrale Rolle gespielt hat. 390 Justinian Frisch war als Prokurist und Vizedirektor bei der Waldheim-Eberle A. G., einem der größten Druckunternehmen Österreichs, tätig gewesen, ehe er 1936 als Buchhersteller und Buchgestalter in den Bermann-Fischer Verlag eintrat. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde er in ein KZ gebracht; nach seiner (durch Bermann Fischer mithilfe der Familie Bonnier beförderten) Freilassung und Visaerteilung flüchtete er nach Stockholm und übernahm in Bermann Fischers Verlag wieder die Herstellungsleitung. Hervorhebung verdient auch Frischs Arbeit als Übersetzer v. a. von Werken Pearl S. Bucks, William Saroyans oder Schalom Aschs. Nach Auflösung des Bermann-Fischer Verlags 1948 ging Frisch nach England. Fachlich einschlägig ist die Publikation Justinian Frisch: Geist und Zweck der Schrift. Ihre Aufgaben in der Werbekunst. Wien, Berlin, Leipzig: C. Barth 1927. 391 Im Gegensatz zu Berlin und Wien hatte Bermann Fischer in Stockholm keine Theaterabteilung eingerichtet; diese entstand erst gegen Kriegsende auf Anregung des aus Hamburg stammenden Regisseurs und Übersetzers Verner Arpe (1902‒1979), der in einer Stockholmer Theateragentur tätig war und dann auch den neu eingerichteten Bühnenvertrieb im Bermann-Fischer Verlag bis 1948 leitete.
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zenzausgabe der 1937 zuerst bei Bermann-Fischer in Wien erschienenen Biographie von Madame Curie heraus, bei der 4.000 Exemplare für den Stockholmer Verlag mitgedruckt wurden.392 Somit konnten bereits im Juli 1938 die ersten Bücher ausgeliefert werden. Da Madame Curie bereits Ende September so gut wie ausverkauft war, wurde gleich noch eine Neuauflage mit weiteren 5.000 Exemplaren gedruckt, die ebenfalls sehr guten Absatz fand, sodass der neue Verlag finanziell einen guten Start hatte. Daran änderte auch die überraschende Entdeckung nichts, dass im Herbst 1938 auch der kommissarisch verwaltete Wiener Bermann-Fischer Verlag, der die Rechte für sich beanspruchte, und ebenso der Droemer Verlag in Berlin mit einer Neuauflage bzw. Neuausgabe der Madame Curie herauskamen.393 Zu erwehren hatte sich Bermann Fischer auch der Konkurrenz durch Exilkollegen, etwa durch Paul Zsolnay, der von London aus englische, französische oder amerikanische Autoren anzuwerben suchte.394 Die Pfeiler des neuen Programms bildeten im Wesentlichen Werke Thomas Manns, Carl Zuckmayers, Stefan Zweigs, Franz Werfels und immer noch Hugo von Hofmannsthals. Ende 1939 erschien mit Thomas Manns Lotte in Weimar ein herausragendes Buch, das gleich in einer Auflage von 10.000 gedruckt wurde, aber – wie der Autor bemerkte – in Deutschland sicherlich mit 100.000 gestartet wäre. Außerdem wurde für den Hausautor eine »Stockholmer Gesamtausgabe« in Angriff genommen, für die Der Zauberberg in zwei Bänden den Anfang machte. Von Franz Werfel kamen Der veruntreute Himmel und eine Gedichtauswahl heraus, von Alfred Döblin der Roman Bürger und Soldaten. Außerdem erschienen von Jean Giono Bergschlacht, von Martin Gumpert Hölle im Paradies und von Ernst Cassirer Descartes – Lehre, Persönlichkeit, Wirkung. Außerdem setzte Bermann Fischer die in Wien begonnene Reihe der »Ausblicke« fort, u. a. mit politischen Essays von Thomas Mann (Das Problem der Freiheit) und Aldous Huxley (Unser Glaube). Im Frühjahrsprogramm 1940 brachte der Bermann-Fischer Verlag Thomas Manns Die vertauschten Köpfe und seinen Essay Unser Krieg, Schalom Aschs Roman Die Nazarener, Martin Beheim-Schwarzbachs Erzählungen Der magische Kreis, Annette Kolbs Aufzeichnungen von einer Amerika-Fahrt Glückliche Reise und erneut einige Titel in der Reihe »Ausblicke«, wie Ulrich Volkmanns Die preussische Revolution. Der Verlag hatte also rasch wieder Tritt gefasst. Bermann Fischer wollte es allerdings nicht mit der Fortsetzung der gewohnten Linie bewenden lassen. Schon seit Herbst 1938 verfolgte er den Plan, eine Sammlung von Emigrantenbriefen unter dem Protektorat einer Flüchtlingsorganisation herauszubringen, als ein Selbstporträt der deutschsprachigen Emigration, nach dem Muster der seinerzeit höchst erfolgreichen, von Philipp Witkop herausgegebenen Kriegsbriefe gefallener Studenten.395 Bermann Fischer gewann Thomas Mann und andere für die Idee, stellte ein prominentes Auswahlkomitee (Th. Mann, Werfel, Zuckmayer, Döblin) zusammen und
392 Dass auch der Berliner Knaur Verlag eine Ausgabe herstellte, die dem Bermann-Fischer Verlag außerhalb Deutschlands Konkurrenz machte, erzeugte einen Rechtsstreit; siehe dazu Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 178‒184; Nawrocka: Verlagssitz, S. 93‒96. 393 Dieser Fall hatte vielfältige rechtliche Weiterungen; genauer beschrieben bei Nawrocka, S. 93‒96. 394 Siehe Nawrocka, S. 98‒102; hier auch Informationen zu der Loslösung Franz Werfels von Zsolnay und seinem Übertritt zu Bermann-Fischer. 395 Nawrocka, S. 104‒107.
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Abb. 10: Sonderprospekt vom November 1939: Um zu verhindern, dass sein wichtigster Hausautor von der Fahne ging, musste Bermann Fischer neben den Neuerscheinungen auch das Gesamtwerk Thomas Manns verfügbar halten.
ging damit an die Öffentlichkeit, verbunden mit der Aufforderung, entsprechende Briefe einzusenden. 15 % des Verkaufserlöses sollten an das Stockholmer Zentralkomitee für Flüchtlingshilfe gehen. Übersetzungen und Fortsetzungen waren geplant. Die Buchidee erzeugte aber in Schweden auch von NS-Deutschland aus geschürte Aufregung und Ablehnung, sodass Bermann Fischer (dessen Schwiegermutter immer noch in Deutschland lebte) auf die Ausführung des Vorhabens verzichtete; zudem waren nur wenige verwendbare Briefe eingelangt. Der Bermann-Fischer Verlag Stockholm hätte mit einem solchen Projekt auch den letzten Zweifel an der Position des Verlegers und seiner ExilSolidarität beseitigt. Umgekehrt war Bermann-Fischer nun gewarnt: Auf die Neutralität Schwedens war Rücksicht zu nehmen. Dass die schwedische Regierung nach den Novemberpogromen (und in Rücksicht auf die katastrophale Wirkung des am 29. September 1938 getroffenen Münchner Abkommens auf alle kleineren Länder im Umkreis Deutschlands) alle Verlage aufgefordert hatte, jede Aggressivität gegen Deutschland zu unterlassen, passt in dieses Bild – was Bermann Fischer und Tor Bonnier dazu veranlasste, den Aufsatz Thomas Manns Der Bruder wegen der Gefahr der »Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes« nicht zu publizieren.396 Zudem übte auch die Reichsschrifttums-
396 Nawrocka, S. 107‒109.
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Abb. 11: Sonderprospekt zur Reihe »Ausblicke« (S. 1 und 2) vom Frühjahr 1939, mit Auskünften zur Programmlinie und zu den Verkaufspreisen in Schweden, der Schweiz und den Niederlanden.
kammer Druck auf den höchst unerwünschten Stockholmer Verlag aus;397 in der 2. Fassung der Liste des verbotenen und unerwünschten Schrifttums vom Dezember 1938 war der Verlag bereits zusammen mit jenen aufgeführt, deren Gesamtproduktion verboten war. Der Markt wurde ständig enger ‒ es galt, Verbündete zu suchen und Allianzen zu bilden, auch eine Mehrfachverwertung der vorhandenen Verlagssubstanzen anzustreben. Eine Idee dazu stammte von dem seit Jahrzehnten immer wieder in der Funktion eines Verlagsberaters auftretenden Stefan Zweig, der diese Idee am 6. April 1938 seinem amerikanischen Verleger Ben Huebsch unterbreitet hatte: Weil die Bücher im Prinzip zu teuer seien und daher ungenügenden Absatz fänden, habe er »ein Projekt ausgearbeitet, das – um es kurz zu sagen – eine deutsche Albatrosbücherei [!] darstellt. Nur das Beste vom Besten, auch historische und klassische Sachen, damit es nicht den Eindruck einer emigrantisch-jüdischen Gründung macht«.398 Da er den Viking-Verleger nicht für diese
397 Dazu Nawrocka, S. 102‒104. 398 Zit. nach Nawrocka, S. 119. Vgl. dazu auch Buchinger: Stefan Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 349‒351. Der Plan hatte eine in das Jahr 1932/1933 zurückreichende Vorgeschichte, vgl. S. 207‒212.
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Idee gewinnen konnte, zog Zweig eine Kooperation mit seinem britischen Verlag Cassell in Betracht; dieser sollte gemeinsam mit Bermann-Fischer, Querido und Allert de Lange eine »Cassell-Bücherei« realisieren, wobei dieser Name den antideutschen Stimmungen in Europa und namentlich den USA den Boden entziehen sollte. Zweig muss den Vorschlag an die Amsterdamer Exilverlage weiter gegeben haben, denn am 23. April 1938 schrieb ihm Walter Landauer: »Inzwischen haben wir hier die Arbeit betreffend der von Ihnen vorgeschlagenen Serie sofort aufgenommen, d. h. wir versuchen erst einmal möglichst genaue Kalkulationen zu erhalten«.399 Landauer ging nach eigener Auskunft bei diesen Kalkulationen von der Albatross-Reihe und deren Verkaufspreis aus. Tatsächlich dürfte er auch, gemeinsam mit Bermann Fischer, in Gespräche mit dem Verlag Cassell eingetreten sein.400 Er hatte aber die Besorgnis, Cassell könnte sich auf diesem Wege den Zugang zum deutschsprachigen Markt sichern, auf dem ohnehin schon allzu viele Konkurrenten unterwegs waren. Der Plan wurde fallengelassen, stattdessen entschieden sich die Verlage Bermann-Fischer, Querido und Allert de Lange, diese Serie ohne britische Unterstützung auf die Beine zu stellen.
Kooperation der Exilverlage: Die FORUM-Bücher Die »FORUM-Bücher«, das Gemeinschaftsunternehmen der drei großen Exilverlage Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer, haben noch einen anderen Ursprung.401 Zur Vorgeschichte dieses verlegerischen »joint ventures« gehört die energische Forderung Thomas Manns an seinen Verleger Bermann Fischer, eine Kooperation mit dem von Fritz H. Landshoff geleiteten deutschen Zweig des Querido Verlags und dem Verlag Allert de Lange herbeizuführen; nur im Falle des Zustandekommens dieser Konzentration der Kräfte wollte er auf einen Verlagswechsel verzichten. Diese Zusammenarbeit fand denn auch tatsächlich statt;402 ihr erstes Ergebnis war die Errichtung einer gemeinsamen »Zentralauslieferung«. Sie war im Allert de Lange Verlag angesiedelt und sollte für alle drei Verlage den Verkauf leiten, den Vorrat in der Höhe eines Jahresverkaufs lagern, verpacken und versenden, mit getrennten Konten die Verrechnung durchführen, Zoll- und Clearingfragen erledigen, den Prospektversand durchführen und für Bermann Fischer in Stockholm auch die Bindeaufträge in Holland weiterleiten.403 Der Idee einer Kostensenkung durch Effektivierung des Vertriebs folgte die Gründung einer
399 Nawrocka: Verlagssitz, S. 121. 400 So bei Joos: Trustees for the public?, S. 183. 401 Vgl. hierzu Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 160‒ 165. 402 In einem gemeinsamen Brief der drei Verleger wurde Thomas Mann am 8. Juni 1938 von der getroffenen Vereinbarung unterrichtet, siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 110. Ein dritter Punkt der Zusammenarbeit betraf eine mit Longmans Green vereinbarte Auslieferung in Amerika, die zur Gründung der Alliance Book Corporation führte, siehe dazu in diesem Kapitel weiter unten sowie die Kap. 6.1 Distributionsstrukturen und 6.4 Buchgemeinschaften. 403 Die Zentralauslieferung wird an anderer Stelle genauer vorgestellt; siehe dazu das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen, sowie Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 79‒82, und Nawrocka: Verlagssitz, S. 111‒115.
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Buchreihe, der FORUM-Bücher, von Bermann Fischer in seinen Erinnerungen als das »schönste Produkt unserer Gemeinschaftsarbeit« und als »ein Vorläufer der späteren Taschenbuchserien« bezeichnet.404 Die drei Verlage setzten nun die Anregungen Manns und Zweigs in die Tat um und gingen daran, vorhandene Verlagsrechte in einem neuzugründenden Gemeinschaftsverlag zusammenzuführen, um sie – im Stil einer modernen Verwertungskette – in preisgünstigen, herstellungstechnisch standardisierten Ausgaben anzubieten. Die Geschäftsführung wurde bei Querido angesiedelt. Als Name des neuen Verlags schlug Brigitte Bermann Fischer »Forum« vor, doch wurde dieser Vorschlag zunächst verworfen, weil er sich mehr für eine Sammlung politischer Essays eignen würde als für eine literarische Reihe. Nach Diskussion einiger anderer Namen wie »Phoebus-Bibliothek«, »Pallas«, »Orpheus«, »Eleusis-Bibliothek« oder »Pegasus« kam man auf den ursprünglichen Vorschlag Brigitte Bermann Fischers zurück und veröffentlichte das erste Programm unter dem Verlagsnamen FORUM.405 Eine Besonderheit des Projekts bestand darin, dass die Programmlinie von einem beratenden Komitee mitbestimmt werden sollte, das aus Thomas Mann, René Schickele, Franz Werfel und Stefan Zweig bestand.406 Um aus diesen Namen eine entsprechende Werbewirkung zu ziehen, wurde das Komitee jeweils am Fliegenden Vorsatz der einzelnen Bände präsentiert. Das ungewöhnliche Projekt blieb in Deutschland nicht unbeobachtet.407 Es war einmal mehr Will Vesper, der unter der Überschrift Judas »deutsche« Buchpolitik im Ausland gegen das Unternehmen hetzte: Die Juden und Emigranten, die ja leider in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung der Welt einstweilen noch viele Trümpfe in der Hand haben, sind uns leider auch an Fixigkeit meistens um eine Nasenlänge über. So kündet soeben die ›Gemeinschaftsproduktion Berman-Fischer[!]-Verlag, Stockholm, Albert[!] de LangeQuerido-Verlag, Amsterdam‹ eine Sammlung ›Das Forum deutscher Dichter‹ an […]. Die als arische Feigenblätter mißbrauchten Bändchen ›Erzählungen deutscher Romantiker‹ und ›Briefe deutscher Musiker‹ sind wenigstens durch Juden, Zucker und Epstein, zusammengemanscht. Nein, das ist kein ›Forum‹, das ist eine ›Synagoge‹! Dennoch ist die stolze Behauptung der ›Gemeinschaftsproduktion‹, daß diese Bändchen ›sich schnell in der ganzen Welt verbreiten‹ würden, ernst zu nehmen.408
404 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 191. 405 Vgl. Nawrocka: Verlagssitz, S. 120. 406 Bei dem Komitee handelte es sich offenbar ebenfalls um einen Vorschlag Stefan Zweigs, vgl. Nawrocka, S. 122. 407 Das Folgende nach Nawrocka, S. 127 f. 408 Will Vesper: Judas »deutsche« Buchpolitik im Ausland. In: Berliner Börsenzeitung Nr. 2 vom 2. Januar 1939. Die Briefe deutscher Musiker, hrsg. von Alfred Einstein, waren im November 1938 als Forum-Band Nr. 5, Die Erzählungen deutscher Romantiker, hrsg. von Wolf Zucker, als Bd. Nr. 12 im Februar 1939 erschienen.
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Abb. 12: Sonderprospekt vom Sommer / Frühherbst 1938 zur FORUM-Reihe, dem bemerkenswerten Gemeinschaftsunternehmen der drei bedeutendsten Literaturverlage des Exils.
Nach Verzögerungen in der Herstellung erschien noch bis Ende 1938 eine erste Serie mit neun Titeln in zehn Bänden, in Auflagen von jeweils 6.000 Exemplaren, bis zum Frühjahr kamen weitere neun Titel mit einer Auflagenhöhe von nur noch 3.500 heraus.409 Es handelte sich dabei neben Anthologien vorrangig um Ausgaben von Werken, die sich bereits vor 1933 als besonders marktgängig erwiesen hatten und auch unter Exilumständen auf guten Absatz hoffen durften, wie z. B. Annette Kolbs Das Exemplar, Vicki Baums Helene Willfüer-Roman, Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh, Stefan Zweigs Maria Stuart, Emil Ludwigs Napoleon, Lion Feuchtwangers Jud Süß oder Die schönsten Erzählungen Thomas Manns. Im Februar 1939 folgten die Bände 11 und 12; im Frühjahr sechs weitere, im Oktober die Nummern 17 und 18, und im November 1939 machte Stefan Zweigs Marie Antoinette den Beschluss. Weitere Bände waren geplant, wurden aber aufgrund des Kriegsausbruchs nicht realisiert. Auch in den Werbemaßnahmen für die FORUM-Bücher suchte man ganz gezielt an das Vorbild von Tauchnitz und Albatross anzuknüpfen. Landshoff hat dies sehr deutlich
409 Zu den Auflagenhöhen gibt es widersprüchliche Angaben; die verschiedentlich genannten 10.000 Exemplare dürften in keinem Falle erreicht worden sein, siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 126.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l ausgesprochen, als er im August 1938 Klaus Mann bat, einen kurzen Text für einen Prospekt zu machen, »mit dem der FORUM-Verlag sich einführt«: »Der Prospekt soll aussagen, wie herrlich und zweckmäßig eine solche Serie ist, die es in anderen Sprachen längst gibt (›Tauchnitz‹, ›Albatross‹ usw.), die es aber in der deutschen bisher noch gar nicht gegeben hat.«410 Auch die Umschlaggestaltung weist Anklänge an das Albatross-Konzept auf, wenn auch in deutlich simplifizierter Form. Jedenfalls aber repräsentierten die FORUMBücher, wie mit Recht festgestellt wurde, durch ihre spezielle Herstellungsart einen weiteren Entwicklungsschritt in der Geschichte des modernen Taschenbuchs:
Abb. 13: Annette Kolbs amüsanter Roman, 1913 bei S. Fischer zuerst erschienen, repräsentiert ein »leichtes« literarisches Genre, das auch im Exil seine Leser fand.
In einheitlicher Ausstattung und bei gleichem Ladenpreis wurden (bisweilen verkleinerte) Filmreproduktionen nach dem vorhandenen Satzbild hergestellt und im Offsetdruck vervielfältigt. Das Verfahren war neu. Noch in den fünfziger Jahren galt es als ausgeschlossen, eine Offsetreproduktion nach einer gedruckten Vorlage herzustellen und nicht nach eigens gedruckten Abzügen auf einem Spezialpapier (Barytpapier), das ein genaues Satzbild wiedergab. Die fadengehefteten Broschüren, die den englisch-amerikanischen Taschenbüchern ebenso verwandt waren wie den klassischen französischen Broschuren, haben eine für das deutsche Lesepublikum neue Buchform vorausentwickelt.411
In der Tat handelt es sich vom Buchtypus her um eine Übergangsform zum modernen Taschenbuch. Ein großer geschäftlicher Erfolg sind die FORUM-Bücher trotz ihres günstigen Verkaufspreises (1,25 hfl, 3 sfr, 2,75 kr) bis zu ihrem baldigen, von den Zeitumständen erzwungenen Ende offenbar nicht gewesen. Wie Landauer im Dezember 1939 feststellen musste, gingen die Bände »leider nicht gut und verhältnismäßig schlechter als unsere teuren Ausgaben«.412 Ohne Frage jedoch konnte vor allem Gottfried Bermann Fischer Erfahrungen mit dem Typus Taschenbuch sammeln, die ihm später zugutekommen sollten.
410 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 300 (Brief Landshoffs an Klaus Mann vom 26. August 1938). 411 S. Fischer, Verlag, S. 521. – Im einen oder anderen Fall dürften aber bereits vorhandene Rohbogen im FORUM-Umschlag aufgebunden worden sein, so bei Leonhard Franks Räuberbande. Gedruckt wurden die Forum-Bände zumeist von Thieme in Nijmegen. 412 Zit. n. Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 162. Vgl. dagegen Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 192: »Die Serie wurde, als sie 1939 erschien, ein großer Verkaufserfolg«. Diese Feststellung steht in Widerspruch zu allen anderen Quellen, siehe auch Nawrocka: Verlagssitz, S. 127.
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Die FORUM-Bücher Stockholm: Bermann-Fischer; Amsterdam: Allert de Lange; Querido 1938/1939 Beratendes Komitee: Thomas Mann, René Schickele, Franz Werfel, Stefan Zweig. [1.] Thomas Mann: Die schönsten Erzählungen; [2.] Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Bd. 1; [3.] Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Bd. 2; [4.] Stefan Zweig: Maria Stuart; [5.] Briefe deutscher Musiker, hrsg. von Alfred Einstein; [6.] Vicki Baum: Stud. chem. Helene Willfüer; [7.] Annette Kolb: Das Exemplar; [8.] Heinrich Mann: Die kleine Stadt; [9.] Alfred Neumann: Der Patriot; [10.] Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis und andere Erzählungen; [11.] Emil Ludwig: Napoleon; [12.] Die schönsten Erzählungen Deutscher Romantiker, hrsg. von Wolf Zucker; [13.] Lion Feuchtwanger: Jud Süß; 14. Leonhard Frank: Die Räuberbande; 15. Heinrich Heine: Meisterwerke in Vers und Prosa, hrsg. von Hermann Kesten; 16. Jakob Wassermann: Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens; 17. Deutsches Lesebuch, hrsg. von Hugo von Hofmannsthal; 18. Joseph Roth: Radetzkymarsch; 19. Stefan Zweig: Marie Antoinette. Als am 10. Mai 1940 deutsche Truppen die Niederlande besetzten, fand die – ohnehin kurze, nur etwa eineinhalb Jahre währende ‒ Zusammenarbeit der drei Verlage ein Ende; Querido und Allert de Lange wurden geschlossen, die Buchbestände beschlagnahmt. Dies betraf auch rund 140.000 Bände des Stockholmer Bermann-Fischer Verlags, die in der Zentralauslieferung in Amsterdam eingelagert waren.413 Schon ein paar Wochen früher hatte aber auch Gottfried Bermann Fischers Tätigkeit in Stockholm eine jähe Unterbrechung erfahren: Am 19. April 1940 war er aufgrund einer politischen Denunziation von der schwedischen Kriminalpolizei verhaftet und wegen antinationalsozialistischer Betätigung (die Ausländern in Schweden verboten war) zwei Monate in Untersuchungshaft genommen worden;414 am 20. Juni wurde er entlassen und aus Schweden ausgewiesen. Über Moskau, Wladiwostok und Yokohama gelangte er in die Vereinigten
413 Nawrocka, S. 132. 414 Bermann Fischer und sein Lektor Immanuel Birnbaum waren (in unterschiedlichem Grade) in antifaschistische Aktivitäten eines britischen Secret Service-Beauftragten »Alfred Rickmann« in Stockholm verwickelt; über die näheren Umstände informiert Bermann Fischer selbst in Bedroht – bewahrt, S. 277‒280; siehe dazu auch Nawrocka: Verlagssitz, S. 134‒ 139. Die Verlagsarbeit wurde in der Haftzeit von Brigitte B. Fischer beaufsichtigt.
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Staaten, wo er, gemeinsam mit Fritz H. Landshoff, einen weiteren verlegerischen Anlauf unternehmen wollte, ohne dabei aber den Stockholmer Verlag aufzugeben. Diesen führte er aus Entfernung weiter, mithilfe seiner bewährten Mitarbeiter Singer und Frisch, die fortan nach brieflichen und telegrafischen Anweisungen Gottfried Bermann Fischers agierten. Allerdings schaltete sich jetzt Bonnier wieder stärker in das Geschehen ein. Da der Bermann-Fischer Verlag Stockholm bislang Verluste geschrieben hatte und in den Monaten vor der Ausweisung Bermann Fischers mit der Okkupation der Niederlande und Norwegens zwei wichtige Absatzländer weggefallen waren, sah man einen geeigneten Zeitpunkt gekommen, um sich aus dem deutschen Unternehmen zurückzuziehen. Das hätte allerdings den Totalverlust des Investments bedeutet; umgekehrt gab es nun die Hoffnung, dass Bermann Fischer mit den USA ein neues Absatzgebiet erschließen könnte – eine erste Bestellung über 10.000 Bände war schon kurz nach dessen Ankunft in New York eingelaufen. So entschloss sich Bonnier nicht nur zur Weiterführung des Stockholmer Exilverlags, sondern auch zur Unterstützung der Gründung der L. B. Fischer Publishing Corporation. Naheliegenderweise wollte sich das Verlagshaus Bonnier nun aber auch in die Verlagsführung von Bermann-Fischer einbringen und platzierte einen eigenen, schwedischen Mitarbeiter in dem Unternehmen, über den man (ohne Absprache) auch den Anteil skandinavischer Autoren im Verlagsprogramm zu verstärken suchte. Den daraus entstehenden Konflikt mit Walter Singer und Justinian Frisch musste Bermann Fischer von den USA aus zu schlichten suchen; auch musste er jene Exilautoren wie Carl Zuckmayer beruhigen, die über die Bevorzugung der skandinavischen Kollegen empört waren.415 Der nunmehr ferngelenkte Verlag (»verlegerische Seiltänzerei«416) fuhr seine Produktion in den Kriegsjahren deutlich zurück, vor allem 1940, als überwiegend nur einige vom geschlossenen Querido Verlag übernommene Titel herausgegeben wurden,417 konnte aber 1941 mit Ernest Hemingways Wem die Stunde schlägt und Franz Werfels Das Lied von Bernadette zwei herausragende Titel auf den Markt bringen; überdurchschnittlich erfolgreich waren auch Stefan Zweigs Brasilien-Buch und die zwei von Querido übernommenen Werke, Vicki Baums Die große Pause und Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten. 1942418 schlossen Stefan Zweigs »Erinnerungen eines Europäers« Die Welt von Gestern, Thomas Manns »25 Radiosendungen nach Deutschland« Deutsche Hörer (2., auf 55 Ansprachen erweiterte Aufl. 1945) sowie Antoine de SaintExupérys Flug nach Arras daran an. 1943 erschienen der vierte Band von Thomas Manns Josephs-Tetralogie Joseph der Ernährer sowie drei Bücher von Stefan Zweig, darunter die Schachnovelle und die erweiterte Ausgabe der Sternstunden der Menschheit; außerdem William Saroyans Menschliche Komödie und das Buch des damaligen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Wendell Willkie Unteilbare Welt.
415 Carl Zuckmayer – Gottfried Bermann Fischer: Briefwechsel, Bd. 2: Kommentar, S. 441. – Bis 1948 erschienen neun Übersetzungen skandinavischer Autoren (u. a. von Pär Lagerkvist, der 1951 den Nobelpreis erhalten sollte); weitere geplante Titel wurde nicht mehr veröffentlicht. 416 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 245. 417 Siehe dazu in diesem Kapitel weiter unten. 418 1942 erschienen insgesamt sieben Titel; 1941 waren es sechs.
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In den letzten Kriegsjahren wurde die »Stockholmer Gesamtausgabe« von Thomas Mann fortgesetzt mit mehreren Bänden, Adel des Geistes, Ausgewählte Erzählungen und der Novelle Das Gesetz; außerdem begannen die gesammelten Werke Hugo von Hofmannsthals in Einzelausgaben zu erscheinen.419 Dazu kamen 1945 von Joachim Maass Das magische Jahr, von Carl Zuckmayer die Erzählung Der Seelenbräu, zwei Bände von Stefan Zweig sowie mehrere Übersetzungen aus dem Schwedischen und Amerikanischen; 1945 belief sich der Ausstoß wieder auf 22 Titel. Brigitte Bermann Fischer war, von den USA aus, in nicht wenigen Fällen als Buchausstatterin tätig, wie auch noch in der Nachkriegsproduktion, etwa bei Alexander Lernet-Holenias Germanien (1946) und Mars im Widder (1947), Bruno Walters Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken (1947) oder Friedrich Torbergs Roman Hier bin ich, mein Vater (1948). Die weitaus beachtenswertesten Titel waren aber Thomas Manns Doktor Faustus, Carl Zuckmayers Des Teufels General sowie Eugen Kogons Der SS-Staat. Als Fortsetzung der »Ausblicke« wurde 1944 auf Vorschlag Walter Singers die Reihe »Bücher zur Weltpolitik« ins Leben gerufen, die in den beiden letzten Kriegsjahren mit Essays skandinavischer und amerikanischer, aber auch exilierter deutscher Autoren das Zeitgeschehen kommentierte.420 Vor allem aber erschien ab Juni 1945 vierteljährlich nun auch wieder die traditionsreiche, 1886 gegründete Hauszeitschrift des Verlags Neue Rundschau, deren erste Nummer Thomas Mann gewidmet war.
USA L. B. Fischer Publishing Corporation, New York Die Hoffnung, angesichts von fünf Millionen deutschstämmiger bzw. deutschsprechender Amerikaner Bücher in deutscher Sprache erfolgreich auf den Markt bringen zu können, war naheliegend, hat sich aber nur zu oft als illusionär erwiesen. Dies gilt letztlich auch für Gottfried Bermann Fischer, der nach Verlust seines Verlages in Wien und nach Haft und Ausweisung aus Stockholm 1940 in die USA gekommen war. Mit Unterstützung des amerikanischen Verlegers Alfred Harcourt etablierte sich Bermann Fischer in New York und suchte zunächst, 10.000 Bücher des Stockholmer Verlags abzusetzen. Die Anfänge verliefen durchaus ermutigend, es war dies die Phase des Aufbruchs: Damals wurden neue deutschsprachige Buchhandlungen von Emigranten gegründet, ein Zustrom von Emigranten schien ein Kernpublikum abzugeben, auch die Universitäten und Colleges waren ein Hoffnungsfeld. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Bermann Fischer auch bei der geplanten Verlagsneugründung zunächst ganz auf das deutsch-
419 Zu den von Bermann Fischer in den USA aufgrund der im Krieg abgerissenen Verbindungen nach Stockholm durch photomechanische Nachdrucke veranstalteten Sonderausgaben von Thomas Manns Werken siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 148‒152. 420 So erschienen dort 1944 und 1945 in einer Auflage von meist 4.000 Exemplaren insgesamt elf Titel, darunter Alva und Gunnar Myrdal Kontakt mit Amerika, Knut Hagberg Winston Churchill, Stefan Norwid Martyrium eines Volkes; Sumner Welles Jetzt oder nie, Fritz Rück 1919‒1939. Friede ohne Sicherheit und von Kurt Stechert Wie war das möglich; außerdem 1945 Roosevelt spricht und Stalin spricht.
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sprachige Buch setzen wollte: »Ich halte die Herausgabe von Büchern in der Originalsprache ihrer Autoren nicht nur für möglich, sondern geradezu für eine Notwendigkeit«, dekretierte er in einem 1940 in der Zeitschrift Aufbau abgedruckten Gespräch.421 Dabei hatte er in Thomas Mann (der gleich den gesamten Stockholmer Verlag in die USA transferiert sehen wollte) einen Autor, der so etwas wie eine Absatzgarantie zu bieten schien. Allerdings: Als er nach einem Jahr der Marktbeobachtung im Sommer 1941 daran ging, gemeinsam mit Fritz H. Landshoff, mit dem er bereits in Europa eng zusammengearbeitet hatte,422 die L. B. Fischer Publishing Corporation zu errichten, hatte sich das Konzept radikal gewandelt: Der finanziell gut ausgestattete Verlag423 sollte ausschließlich englischsprachige Bücher herausbringen, Werke amerikanischer Autoren sowie deutscher bzw. europäischer Autoren in Übersetzung. Diese letztere Gruppe von Autoren setzte sich hauptsächlich aus Exilschriftstellern zusammen, von denen allerdings nur jene Werke publiziert werden konnten, deren Rechte für die USA nicht schon an Alfred Knopf, Ben Huebsch oder andere Verlage vergeben waren. Abb. 14: Nach monatelangen Vorbereitungen konnte Von März 1942 bis 1946 kamen die L. B. Fischer Publishing Corporation dem US64 Titel heraus,424 die ersten 25 laamerikanischen Publikum und der Buchhändlerschaft gen bereits im Sommer 1943 vor, die Aufnahme des Geschäftsbetriebs anzeigen. danach sank die Produktivität etwas
421 Zit. n. Nawrocka: Verlagssitz, S. 139 (Zs. Aufbau (New York) vom 20. Dezember 1940, S. 7). 422 Der Stockholmer Bermann-Fischer Verlag hatte die Herstellung und den Vertrieb der Querido-Bücher (mindestens acht Titel) übernommen, die nach der Besetzung der Niederlande nicht mehr in Amsterdam erscheinen konnten. 423 Bermann Fischer schreibt dazu am 12. September 1941 an Katia Mann: »Es versteht sich von selbst, daß wir, obwohl recht große Mittel zur Verfügung stehen, sehr vorsichtig anfangen müssen, schon um unseren neuen Freund keinen Schrecken einzujagen«. Bei dem »neuen Freund«, dem Hauptgeldgeber des Verlags, handelte es sich um den aus Polen eingewanderten Marcel Roth (Nawrocka: Verlagssitz, S. 152). In Bedroht ‒ bewahrt (S. 190) spricht Bermann Fischer von $ 80.000, die zusammen mit den von Landshoff und ihm selbst eingebrachten Einlagen zur Verfügung standen. Marcel Roth trat als geschäftlicher Direktor auf, die tatsächliche Geschäftsführung lag aber hauptsächlich bei Landshoff und Marinus Warendorf, der in den Niederlanden Verleger von Holkema & Warendorf und auch schon am Amsterdamer Querido Verlag beteiligt gewesen war. Gottfried Bermann Fischer, der mangelhafte englische Sprachkenntnisse hatte, war als Direktor für die Herstellung verantwortlich, Landshoff als Vizedirektor für Finanzen und Vertrieb. 424 Vgl. dazu die Auflistung bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 195‒201 (chronologisch und alphabetisch). Für mindestens sieben Titel hat Brigitte B. Fischer die Ausstattung besorgt, noch öfter war Stefan Salter als Buchgestalter tätig.
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ab. Das thematisch bemerkenswert aufgefächerte Programm beinhaltete neben Romanen auch Sachbücher (wie Leopold Schwarzschilds World in Trance. From Versailles to Pearl Harbour, 1942), neben Klassikern (z. B. Prosawerken Heinrich Heines, Andersens Märchen) auch literarische Debüts. Einen Schwerpunkt bildeten Autobiographien (herausragend Klaus Manns The Turning Point, auch Erika Manns A Gang of Ten) und Biographien (Hertha Paulis Buch über Alfred Nobel). Die von Klaus Mann und Hermann Kesten zusammengestellte, fast tausend Seiten starke Anthologie Heart of Europe (1943) präsentierte fortschrittliche Literaturpositionen der Jahre 1920‒1940 und stellt sicherlich einen der Höhepunkte des Programms dar.425 Ebenfalls eine bemerkenswerte Veröffentlichung war das schon im Jahr davor erschienene amerikanische Gegenstück dazu, die Novellensammlung American Harvest. Twenty Years of Creative Writing in the United States, mit der gezielt das US-Publikum angesprochen wurde, wie auch 1944 mit Cross Section. A Collection of New American Writing. Aber wie bereits angedeutet: Mit rund einem Viertel aller Veröffentlichungen hatte das Programm immer noch ein gewisses exilliterarisches Gepräge; neben den oben genannten Autoren erschienen auch noch ins Englische übersetzte Bücher von Martin Gumpert, Joachim Maass, F. C. Weiskopf, Franz Werfel und Paul Stefan oder Otto Zoff. Einige Titel erschienen mehr oder minder parallel in deutscher Sprache im Stockholmer Verlag, wie Maassʼ The Magic Year/Das magische Jahr oder Gumperts Hahnemann. Die Absatzerfolge wurden freilich mit den im Programm deutlich überwiegenden amerikanischen Autoren erzielt, so mit William Bradford Huies Mud on the Stars (1942); das Erstlingswerk des Autors über die Rassenfrage in den Südstaaten wurde prompt der Bestseller des Verlags. Ein anderes, mehr als hunderttausendmal verkauftes Buch war The Price of Free World Victory des damaligen amerikanischen Vizepräsidenten Henry A. Wallace. Als schwierig erwies sich indessen die Einstellung auf die Gegebenheiten des USamerikanischen Buchmarktes, die sich in vielen Punkten von den europäischen markant unterschieden. Bezeichnend für eine gewisse Unerfahrenheit war weniger die Ablehnung des Buches Under Cover über amerikanische Untergrundbewegungen, das sich dann in einem Bostoner Verlagshaus über eine Million mal verkaufte, sondern die Ablehnung des Angebots des einflussreichen Buchklubs Literary Guild, die Anthologie American Harvest in hoher Stückzahl als Prämie an ihre Mitglieder auszugeben. Landshoff erinnerte sich später mit großem Bedauern: »Beeinflußt und bestimmt durch unsere europäische, speziell deutsche Verlegererfahrung, glaubten wir – in völliger Verkennung der grundsätzlich anderen Situation in den USA –, die Vergabe eines wichtigen Werkes an einen Buchklub als Prämie mit dem gleichzeitigen Erscheinen der Buchhandelsausgabe nicht verantworten zu können. Die einzigartige Erfolgsmöglichkeit, die unseren Verlag mit einem Schlag gefestigt hätte, ließen wir uns entgehen und verstimmten zudem für lange Zeit einen der größten potentiellen Kunden«.426 Aber nicht nur Fehler dieser Art ließen den Verlag 1944 in finanzielle Schwierigkeiten geraten, aus denen er zunächst durch das Engagement der Brüder Bonnier in Form einer Mehrheitsbeteiligung an der
425 Siehe Schlawin: Die Anthologie »Heart of Europe«: ein Exilprojekt von Hermann Kesten und Klaus Mann. 426 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 156.
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Corporation gerettet wurde.427 Der Einstieg Åke Bonniers stabilisierte das Unternehmen jedoch nur für kurze Zeit; als Anfang 1946 erneut ernste Probleme auftraten, fiel die Analyse, die Åke Bonnier an seine Brüder lieferte, grundsätzlich negativ aus: Ein amerikanischer Verlag müsse zur Deckung seiner Ausgaben durchlaufend mindestens 25 Bücher im Jahr produzieren; dazu sei allerdings ein wesentlich höheres Grundkapital vonnöten. Die L. B. Fischer Publishing Corporation habe auch noch mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen, mit unzureichend ausgebildeten Mitarbeitern oder mit einem Programm ohne eindeutige Linie.428 Ein Plan zur Restrukturierung des Verlags wurde noch entworfen, aber nicht mehr durchgeführt: In einer Blitzaktion wurde die L. B. Fischer Publishing Corporation – in Abwesenheit von Landshoff, der davon gar nichts wusste, und ohne aktive Mitwirkung Bermann Fischers429 – im März 1946 an den amerikanischen Verlag Wyn verkauft, der das Programm mit den zur Publikation vorbereiteten Titeln (Hermann Kesten: Ferdinand und Isabella und The Twins of Nuremberg; Tales of Hoffmann (Illustr. Richard Lindner), Otto Robert Frisch: Meet the Atoms u. a. m.), großenteils sogar unter Beibehaltung des Impressums, bis 1947 fortsetzte. Die Absicht, von den USA aus einen internationalen Verlag aufzubauen, der in der Zukunft Brücken in das befreite Europa schlagen sollte, war gescheitert. Noch war aber der Stockholmer Verlag weitergelaufen, und darüber hinaus war Bermann Fischer in den USA seit 1944 mit einem anderen großangelegten Projekt beschäftigt.
Die Bücherreihe »Neue Welt« Nachdem sich im Winter 1942/1943 die Kriegslage zugunsten der Alliierten entwickelt hatte, waren viele deutsche Kriegsgefangene in die Vereinigten Staaten gebracht worden; bis Herbst 1944 waren dies bereits deutlich mehr als 300.000 Personen, die Zahl sollte aber noch weiter anwachsen. Es war Gottfried Bermann Fischer, dem die Rolle zugedacht war, diese hunderttausende »Prisoners of War« (POWs) mit deutschsprachigem Lesestoff zu versorgen. Der politische und historische Kontext dieser Initiative ist allerdings weitgespannter, als man zunächst vermuten möchte. John B. Hench macht in seiner 2011 erschienenen Studie Books as Weapons. Propaganda, Publishing, and the Battle for Global Markets in the Era of World War II 430 auf Zusammenhänge aufmerksam, die bisher nicht in ihrer tatsächlichen Dimension wahrgenommen worden sind: In der Endphase des 2. Weltkriegs und auch schon mit Blick auf die Zeit danach ist von seiten der Vereinigten
427 Åke Bonnier war mit einer Einlage von $ 35.000 Mehrheitseigentümer, denn Bermann Fischer, Warendorf und Landshoff hielten zusammen nur $ 29.500 an der L. B. Fischer Corporation (Nawocka: Verlagssitz, S. 157, Fn. 74). 428 Brief Åke Bonnier an Tor und Kaj Bonnier vom 18. Januar 1946, zit. n. Nawrocka: Verlagssitz, S. 157. 429 Die beiden waren unabhängig voneinander nach Europa gereist und hatten Generalvollmachten hinterlassen. Brigitte Bermann Fischer hielt ihren in Stockholm weilenden Ehemann über die Verkaufsverhandlungen auf dem Laufenden. Siehe hierzu Nawrocka: Verlagssitz, S. 157‒159. 430 Hench: Books as Weapons.
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Staaten (und in geringerem Maße auch Großbritanniens431) das Medium Buch zu einem Hauptakteur im Kampf gegen jene geistigen Deformationen im Bewusstsein des deutschen Volkes gemacht worden, die man als schlimmste Folge der jahrelangen NaziPropaganda und -Zensur angesehen hat. Das Buch erschien den Regierungsverantwortlichen als die wirkungsvollste Waffe im Krieg der Ideen, zugleich als nachhaltig effektives Werkzeug zur Verankerung eines neuen, demokratischen Denkens.432 Tatsächlich waren schon wenige Wochen nach dem D-Day, der Invasion am 6. Juni 1944, dem militärischen Nachschub Kisten von Büchern beigegeben; viele Millionen weiterer deutschund englischsprachiger Bücher sollten folgen und fanden in Europa und überall dort, wo man totalitäre Gesinnung in den Köpfen verankert sah (z. B. auch in Japan) weite Verbreitung. Insofern hat das in der Nachkriegszeit in Westdeutschland durchgeführte »reeducation program« der Westalliierten eine weiter zurückreichende Vorgeschichte, und auch der kulturelle Einfluss, den die Vereinigten Staaten auf die europäischen Nachkriegsgesellschaften ausgeübt haben, findet in dieser mit Macht vorgetragenen Bücheroffensive mindestens partiell seine Erklärung. Grundlage dafür war die gut organisierte »public / private partnership« zwischen den amerikanischen Verlegern und der US-Regierung, die sich dazu verbanden, sorgfältig ausgesuchte Titel, mit denen amerikanische Werte in den befreiten Ländern propagiert werden konnten, gemeinsam zu produzieren, um mit diesen Büchern die betreffenden Gesellschaften zu »entgiften« und dann auch ihre Freundschaft zu gewinnen. Diese Absichten der Regierung trafen sich bestens mit den Zielen der Verlagsindustrie, die auf diesem Weg auch neue Märkte für die Nachkriegszeit zu erschließen hoffte, Buchmärkte, auf denen vor dem Krieg Großbritannien, Frankreich und Deutschland dominierten. Auch ging man davon aus, dass es nach dem Sprengen aller Fesseln von Zensur und Kontrolle und dem jahrelangen intellektuellen »Blackout« einen ungeheuren Hunger nach Lesestoff geben musste. Die im Rahmen dieses »biblioimperialism« produzierten Bücher erschienen in speziellen Ausgaben, als »Overseas Editions« und »Transatlantic Series«. Beteiligt waren von Regierungsseite zahlreiche Einrichtungen, wie das National Book Council (NBC), die Psychological Warfare Branch (PWB), das Council on Books in Wartime (CBW), die United States International Book Association (USIBA) und vor allem das Office of War Information (OWI). Schon seit 1942 arbeitete das CBW erste Pläne aus, die dann nach Entstehung des von Präsident Roosevelt ins Leben gerufenen OWI konkret umgesetzt wurden. Zunächst waren schon die amerikanischen Truppen selbst eine gigantische Zielgruppe für Lesestoff: 1943‒1947 wurden fast 123 Millionen Exemplare von 1.322 Titeln in einem speziellen Format hergestellt und als »Armed Services Editions« an die in Übersee kämpfenden Soldaten für »recreational reading« verkauft. Dieses Programm wurde rückblickend als »the greatest mass publishing enterprise of all history« bezeichnet.
431 »The British were doing similar work, which was uneasily coordinated with that of the Americans within the Psychological Warfare Division of General Eisenhowerʼs Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force, under General Eisenhowerʼs command«. (Hench, Klappentext). 432 »Seldom have books been charged with greater responsibility or imbued with more significance«. (Hench, Klappentext).
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Eine andere große Zielgruppe aber entstand seit 1944 mit den insgesamt 379.000 deutschen Kriegsgefangenen, die nach den USA verbracht worden waren.433 Während das OWI und CBW an den Overseas Editions und Transatlantic Editions arbeiteten, gab es noch andere Stellen, die das Buch in den Dienst weltanschaulicher Einflussnahme nehmen wollten: »The Players were, on the private site, an eclectic mix of German publishers exiled in the United States, an ambitious professional publication for soldiers called the Infantry Journal, and the U. S. branch of Penguin Books«.434 Ganz offensichtlich war es so, dass die deutschen Emigranten und speziell die Exilbuchhändler und Exilverleger in den USA daran interessiert waren, an der Reeducation der deutschen Kriegsgefangenen mitzuwirken. Die Roosevelt Administration zögerte aber, u. a. aufgrund des Bedenkens, eine planmäßige Indoktrination der Kriegsgefangenen könne gegen die Genfer Konvention verstoßen. Der Soziologe Talcott Parsons befürchtete gar, die Verwendung von Propagandamaterial bei der Umerziehung könne darin resultieren, dass die Kriegsgefangenen sich mehr dem Kommunismus als der Demokratie zuwendeten. Mitte 1944 änderte sich aber die Sichtweise; man hoffte nun von den geläuterten Deutschen, in zukünftigen Weltkonflikten in ihnen Verbündete zu haben. Da man aber die deutsche Bevölkerung erst nach dem gesicherten Sieg einem Reeducationprogramm unterziehen konnte, so boten vorerst die Kriegsgefangenen die Möglichkeit »[to] serve as basic training for the larger task ahead, a strategy that the British had adopted earlier«.435 Diese Aufgabe nahm man in unterschiedlichen Formen in Angriff, »all overseen by the new Special Projects Division of the OPMG [Army Office of the Provost Marshal General]«. Dazu gehörte die Kriegsgefangenenzeitschrift Der Ruf, verschiedene Magazine und auch Bücher, die u. a. von Friedrich Krause oder Wieland Herzfeldes Seven Seas Bookshop bereitgestellt wurden: »Krause and Herzfelde’s firm each week filled large orders for titles printed in German outside Germany for prisoners in the camps«.436 Dazu gilt es zu bedenken, dass Bücher an POWs unbedingt verkauft werden mussten; sie zur Lektüre von unverlangten (Gratis-)Büchern zu zwingen, hätte gegen die Genfer Konvention verstoßen. Folgerichtig entstand damals auch ein Markt für Gebrauchtbücher; second hand dealers sandten ihre Kataloge in die Lager. Da die POWs für ihre Arbeit Geld erhielten (max. 80 Cent am Tag; Offiziere 20‒40 Dollar im Monat, auch ohne Arbeit), waren sie in der Lage, Bücher käuflich zu erwerben: »an unexpected version of war profiteering«.437 Auch entstanden damals Lagerbibliotheken; in Camp Hearne, Texas, z. B. standen mehr als 7.000 Bücher in Deutsch und 500 in Englisch für insgesamt 4.000 Lagerinassen zur Verfügung. Auch aus Deutschland emigrierte Verleger waren sehr geneigt, Bücher für die POWs bereitzustellen, zumal sich für sie später dann auch der Markt im befreiten Deutschland eröffnen würde: »Two refugee firms were particularly attentive. One was the house of Bermann-Fischer, and the other was the Aurora Verlag, which had been founded at least
433 Siehe dazu bei Hench, S. 115‒119, das Unterkapitel »Using Books in the Reeducation of Prisoners of War«. 434 Hench, S. 115. 435 Hench, S. 117. 436 Hench, S. 117. 437 Hench, S. 118.
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in part with the goal of providing prisoners with German books untainted by Nazi ideology«.438 Es gibt aber noch einen anderen, von Hench nicht berücksichtigten Zweig der Vorgeschichte: Einer der deutschen Kriegsgefangenen, Curt Vinz, der vor dem Krieg als Vertreter für den Verlag Eugen Diederichs tätig gewesen war, hatte von sich aus die Idee einer Buchreihe entwickelt, mit der die deutschen Kriegsgefangenen mit Lektüre versorgt werden sollten, wobei er insbesondere an Werke zeitgenössischer deutscher Autoren dachte.439 Wie er 1986 in einem Zeitzeugenbericht darlegte, hatte er im Oktober 1944 der zuständigen Armeedienststelle in Washington ein Memorandum vorgelegt, das auch bereits eine Kalkulation für eine 25-Cent-Taschenbuchserie und eine Autorenliste enthielt, wobei er von sich aus auf die L. B. Fischer Corporation als möglicher Lizenzgeber für Werke Thomas Manns, Franz Werfels oder Carl Zuckmayers verwies. Bermann Fischer wurde denn auch vom Office of Strategic Services der Special Projects Division (SPD) des OPMG als Experte für das deutsche Buch und den deutschen Buchmarkt vorgestellt. Für seine Beauftragung sprach die Tatsache, dass er die Rechte an zahlreichen Büchern von antinazistischen, emigrierten Autoren hielt, was sowohl Geld- wie Zeitersparnis versprach; auch hatte er bereits in Stockholm das Buch eines amerikanischen Autors herausgebracht, das definitiv für das Reeducationprogramm vorgesehen war, John Scotts Jenseits des Ural. Die Verhandlungen zwischen der SPD und Bermann Fischer konnten so rasch zum Abschluss gebracht werden. Bermann Fischer erkannte damals sofort die Möglichkeit, das mit den FORUM-Büchern und anschließend in den USA gesammelte Know-how zu verwerten: Schon lange hatte ich mich mit dem amerikanischen Pocketbook, seiner Herstellungsweise und seiner Kalkulation beschäftigt. Ich schlug der Armeeverwaltung eine Serie von zunächst 24 Bänden in Taschenbuchformat zu dem damals in Amerika üblichen Preis von 25 Cent vor. Aus den mehr als 40 Titeln, die ich zur Verfügung stellte, sollte eine Kommission von Kriegsgefangenen mit literarischen Kenntnissen 24 Titel auswählen.440 Damit war die »Bücherreihe Neue Welt« (BNW) oder »New World Bookshelf«, mit der Gottfried Bermann Fischer den größten Beitrag zur Reeducation deutscher Kriegsgefangener durch Bücher liefern durfte, geboren.441 Produziert wurde die Reihe mit 22 deutsch-
438 Hench, S. 119. Anders als Bermann Fischer, der als weltanschaulich unbedenklicher Partner betrachtet wurde, galt Aurora den zuständigen Militärs letztlich doch als zu weit links angesiedelt, um mit ihm zu kooperieren. Herzfelde selbst wäre durchaus daran interessiert gewesen, die zwölf Aurora-Titel auch den deutschen Kriegsgefangenen zugänglich zu machen; die dafür ins Auge gefasste Anthologie Morgenröte erschien aber ohnehin zu spät, um dieses Publikum noch zu erreichen. Vgl. Hench: Books as Weapons, Kap. »German and French Émigré and Refugee Publishing Houses«, S. 175 f. 439 Vgl. hierzu Vinz: Die Bücherreihe »Neue Welt«. ‒ Nach der Rückkehr nach Deutschland war Vinz Begründer und Mitinhaber der Nymphenburger Verlagshandlung. 440 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 240. 441 Vgl. zum Folgenden bei Hench: Books as Weapons, S. 119‒127, die Unterkapitel »Creation of the Bücherreihe Neue Welt Series« und »Selecting the BNWs«.
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sprachigen Titeln in 24 Bänden in Zusammenarbeit mit dem OPMG in einer Startauflage von jeweils 10.000 Exemplaren,442 bei einem Verkaufspreis von 25 cents, mit dem Vermerk »Verbilligter Sonderdruck für deutsche Kriegsgefangene«. Das Infantry Journal, das auch schon ein großes Buchprogramm für das amerikanische Militär herausgebracht hatte, fungierte bei der »Neuen Welt«-Reihe als stiller Partner, wie vermutlich auch der amerikanische Penguin-Zweig. Mit der L. B. Fischer Publishing Corporation stand das Unternehmen somit nicht in Verbindung. Das Projekt wurde, wie die meisten ReeducationAktivitäten, im Geheimen vorbereitet und sollte zum V-E Day [8. Mai 1945, Victoryin-Europe-Day] öffentlich gemacht werden. Auf den Büchern selbst sollte nur der Name des Verlags (in der Form eines »Copyright Bermann Fischer«) und der Reihentitel aufscheinen, »which served to mask the true governmental, propagandistic origins of the books«.443 Man hielt es für äußerst wichtig, dass die Kriegsgefangenen in keiner Weise Wind davon bekamen, dass das War Department, die OPMG, das Infantry Journal oder eine andere staatliche Einrichtung mit diesen Büchern zu tun hatte. Auch die Belieferung der Camps wurde so vorgenommen, dass das Infantry Journal nirgendwo aufschien, die Bestellungen erfolgten über ein anonymes New Yorker Postfach; Zahlungen waren an den Central Prisoner of War Fund zu richten, um die wahre Herkunft der Bücher weiter zu verschleiern. Nach dem V-E Day wurde allerdings die Geheimhaltung des BNWProjekts überflüssig, zumal schon vorher etwas in die Medien durchgesickert war.444 Zunächst musste aber erst die inhaltliche Füllung der Reihe festgelegt werden. Durch Vermittlung des für die »Ideas Factory« im Lager Fort Kearney auf Rhode Island zuständigen Captain Walter Schoenstedt 445 kam es zu einer Unterredung mit Bermann
442 Bermann Fischer spricht in Bedroht – bewahrt von je 50.000 Exemplaren pro Titel (S. 241); dabei dürfte es sich aber um einen Erinnerungsfehler bzw. allenfalls um eine Kalkulationsgrundlage gehandelt haben. Anlass zu dieser Annahme gibt eine Stelle bei Vinz: »Die Kalkulation erfolgte auf der Basis des damals in Amerika für Taschenbücher üblichen Ladenpreises von 25 Cents und einer Auflage von 50.000 Exemplaren pro Band. Als Lizenzgebühr wurden acht Prozent vom Verkaufspreis (2 Cents pro Exemplar) festgesetzt. Der nach Abdeckung der Herstellungs-, Versand- und sonstiger Nebenkosten verbleibende Erlös sollte dem bei der PW Special Projects Division bestehenden Sonderfonds für die deutschen Kriegsgefangenen zur Förderung besonderer kultureller Einrichtungen zufließen«. Die »50.000 Exemplare« stellen somit eher eine rechnerische Größe denn eine konkrete Auflagenziffer dar. Siehe dazu auch weiter unten. 443 Hench: Books as Weapons, S. 126. 444 Hench, S. 127. Die Geheimhaltung wurde am 12. Juni 1945 mit einem offiziellen Pressestatement aufgehoben. 445 Der aus Berlin stammende Publizist und Schriftsteller Walter Schoenstedt war 1932 mit dem Roman Kämpfende Jugend. Roman der arbeitenden Jugend und im französischen Exil in Münzenbergs Éditions du Carrefour mit dem Buch Auf der Flucht erschossen. Ein SARoman hervorgetreten, hatte sich aber vom Kommunismus abgewandt und war 1935 in die USA gegangen, wo er sich 1941 der US-Army anschloss. Schoenstedt war in den letzten Kriegsjahren und danach mit der Betreuung der deutschen Kriegsgefangenen befasst und wurde militärischerseits zum Hauptverantwortlichen des »Neue Welt«-Projekts gemacht. Außerdem war er an der Gründung der von Hans Werner Richter und Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf beteiligt. Vgl. Koepke: Walter Schönstedt. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Robin: The Barbed-Wire College: Reeducating German
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Fischer und Curt Vinz, über die ersterer in seinen Lebenserinnerungen berichtete: »Die Auswahl der besonders erwünschten Bücher gelang reibungslos […].446 Mit Hilfe eines erfahrenen amerikanischen Verlegers, der mit einer großen Spezialdruckerei und -binderei für Taschenbücher in Chicago arbeitete, ging ich an die Ausführung unseres Programms«.447 Der »erfahrene amerikanische Verleger«, dessen Name von Bermann Fischer hier verschwiegen wird, war niemand anderer als Kurt Enoch*. Enoch hatte am 22. Februar 1945 von seiner amerikanischen Penguin-Zentrale aus Bermann Fischer die Andrucke für den Umschlag des ersten »Neue Welt«-Bandes übersandt: »I am enclosing herewith copy and proofs for the outside pages of the cover for Stephen Vincent Benet’s ›Amerika‹«.448 Die beratende Rolle Enochs wird auch von Fritz H. Landshoff, dem Partner Bermann Fischers in der L. B. Fischer Corporation, bestätigt: »In der Wahl der Herstellungsfirmen für diese Taschenbücher ließ Bermann-Fischer sich beraten von Kurt Enoch, einem anderen deutschen Exulanten und früheren Verleger Klaus Manns, der in der Entwicklung des amerikanischen und englischen Taschenbuches eine entscheidende Rolle spielte«.449 Im Prinzip war es das Infantry Journal, das den Planungen zufolge die Produktion beaufsichtigen sollte; dieses arbeitete aber eng mit Kurt Enoch zusammen, der damals bereits eine leitende Stellung bei dem US-Ableger von Penguin Books einnahm und dort für die Herstellung verantwortlich war.450 Dem Vorhaben kamen die großzügigen Papierzuteilungen zugute, die das Infantry Journal erhielt. Die Betrauung Bermann Fischers mit diesem Projekt durch den Provost Marshall General wirkte sich insofern positiv aus, als die Reihe »Neue Welt« – verglichen etwa mit den Overseas Editions – tatsächlich viel rascher und auch kostengünstiger hergestellt werden konnte. Curt Vinz berichtete darüber: Die Herstellung erfolgte im photochemigraphischen Verfahren nach den originalen Buchausgaben. Lediglich Band 1 (Benét: Amerika) mußte neu gesetzt werden, da
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POWs in the United States During World War II, vor allem das Kap. 6 »Literature: The Battle of the Books«, S. 91‒106, mit ausführlichen Informationen zur Rolle Walter Schoenstedts. Was für die Wahl jeweils den Ausschlag gab, wurde in einem im April 1945 vom OPMG erstellten Memorandum Justification of the Selection for the First Series of the Buecherreihe Neue Welt zusammengefasst. Auszüge davon bei Hench: Books as Weapons, S. 122. Bermann Fischer: Bedroht ‒ bewahrt, S. 241. zit. n. S. Fischer, Verlag, S. 617. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 162. Bei Hench heißt es dazu S. 120 f.: »That man was Kurt Enoch, who himself cast a wide shadow in both European and U. S. publishing circles in the first half of the twentieth century. […] He quickly observed how the U. S. book worlds differed from the European. Bookstores were in short supply, literary agents had great influence, comparatively vast sums were spent on advertising and promotion, and backlists and the classics were neglected. In his long career in paperback publishing, he sought to profit by overcoming those conditions. Soon, Allen Lane, the founder of Penguin books, made him a vice president of Penguin’s new U. S. branch, to take charge of design and production, while the firm’s head, Ian Ballantine, concentrated on sales and distribution«. Siehe auch in diesem Kapitel den Abschnitt weiter unten zu Kurt Enoch.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l eine deutsche Ausgabe noch nicht vorlag.451 Die Übersetzung besorgte der Kriegsgefangene Hans Joachim von Görtzke aus dem Lager Kearney. Als Bindeverfahren entschied man sich für die damals modernste, einfachste und preisgünstigste Lumbeck-Klebebindung. Druck und Bindung zusammen wurden einem entsprechend darauf eingerichteten Großbetrieb in Chicago übertragen, der von dem Leiter der ›New American Library‹ Kurt Enoch empfohlen worden war [es handelte sich offenbar um die W. F. Hall Printing Company]. […] Enoch stellte auch den Großteil der für die Herstellung der Bücherreihe ›Neue Welt‹ benötigten alten deutschen Buchausgaben zur Verfügung und überwachte auch den technischen Ablauf der Herstellung in der Chicagoer Druckerei und Binderei.452
Das Aussehen der Bücher wurde jenem der »standard U. S. paperbacks« angenähert, jedenfalls im Format; zu diesem Zweck wurden die photographischen Platten der Reprints auf das amerikanische Pocket Book-Format (4 ¹⁄4 × 6 ³⁄8 inches) verkleinert.453 Mit dem »Lumbecken« der »Neue Welt«-Bände entschied sich Bermann Fischer für die Bindemethode, die sich in der Folgezeit zu einem Standardelement der Taschenbuchproduktion entwickelt sollte. Was das Reihendesign betrifft, so wurde in der »Neue Welt«Serie die Umschlagfarbe als Orientierungsmoment eingesetzt: ein gelber Kartonumschlag fand Verwendung für belletristische Titel, ein blauer für Sachbuchtitel. Das Umschlagdesign besorgte überwiegend Brigitte Bermann Fischer, die als charakteristisches Gestaltungsmoment meist eine Kombination aus typographischem Titel und symbolhafter Vignette einsetzte, z. B. bei Joseph Roths Radetzkymarsch den k. u. k. Doppeladler. Wie Vinz berichtet, stammten für die Einbandgestaltung verwendete Illustrationen von dem Kriegsgefangenen Franz Wischnewski, »dem Graphiker von Fort Kearney« und Illustrator der Kriegsgefangenenzeitung Der Ruf. Vinz verfasste auch die Waschzetteltexte, soweit sie nicht von den Originalausgaben übernommen wurden, sowie alle Werbetexte in Der Ruf.454 Die 22 Titel (24 Bände) der Reihe »Neue Welt« 1944‒1946 (nach Autoren in alphabetischer Reihenfolge) Vicki Baum: Liebe und Tod auf Bali; Stephen Vincent Benét: Amerika; Briefe deutscher Musiker. Hrsg. von Alfred Einstein; Joseph Conrad: Der Freibeuter; Eve Curie: Madame Curie;
451 Weil zuvor auch noch eine neue Übersetzung angefertigt werden musste, wurde dieser als erster angekündigte Titel als letzter ausgeliefert. Bei Remarques Im Westen nichts Neues waren erst noch rechtliche Probleme zu klären. 452 Vinz: Die Bücherreihe »Neue Welt«, S. A168. 453 Hench: Books as Weapons, S. 219. 454 Vinz: Die Bücherreihe »Neue Welt«, S. A167. – Vinz war einer der Mitherausgeber der Zeitung, für die Gustav René Hocke als Chefredakteur und Alfred Andersch als Feuilletonredakteur tätig waren.
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Leonhard Frank: Die Räuberbande; Die schönsten Erzählungen deutscher Romantiker; Heinrich Heine: Meisterwerke in Vers und Prosa; Ernest Hemingway: Wem die Stunde schlägt; Thomas Mann: Achtung Europa!; Thomas Mann: Der Zauberberg, 2 Bde.; Thomas Mann: Lotte in Weimar; Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues; Joseph Roth: Radetzkymarsch; William Saroyan: Menschliche Komödie; John Scott: Jenseits des Ural; Franz Werfel: Das Lied von Bernadette; Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, 2 Bde.; Wendell Willkie: Unteilbare Welt; Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick; Carl Zuckmayer: Ein Bauer aus dem Taunus; Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Reihe zeigt, dass Bermann Fischer mit der »Neuen Welt«-Reihe teils an die FORUM-Serie, teils an das Buchprogramm des Stockholmer Verlags anknüpfte: Immerhin sechs Titel ‒ Werfels Musa Dagh, Leonhard Franks Räuberbande, Joseph Roths Radetzkymarsch, die Briefe deutscher Musiker, Die schönsten Erzählungen deutscher Romantiker und die Heine-Auswahl – waren bereits vor dem Krieg auch als FORUM-Bücher erschienen. Die Reihe »Neue Welt« umfasste Werke deutscher Exilschriftsteller ebenso wie Übersetzungen von Werken amerikanischer Autoren; auch auf den seit den Wiener Jahren bewährten Dauerbestseller Eve Curies (Madame Curie) wurde wieder zurückgegriffen. Mit der Reihe »Neue Welt« wurden ausschließlich die Camps beliefert, wo die Bücher über die Kantinen an die Kriegsgefangenen verkauft wurden: »Der Versand der fertiggestellten Bücher schließlich erfolgte ab Chicago direkt an die einzelnen, über alle Staaten der USA verteilten Gefangenenlager nach einem entsprechend der Lagerstärke gestaffelten Verteilerschlüssel«.455 Die ersten Titel hatten die Camps in den frühen MaiTagen erreicht, kurz vor und nach dem Tag der bedingungslosen Kapitulation HitlerDeutschlands; bis Mitte September 1945 waren dann alle 24 Titel ausgeliefert. Zunächst wurde die Eingliederung in die Camp-Bibliotheken vom OPMG untersagt; alle interessierten POWs sollten zunächst die Möglichkeit des Kaufes haben. Die Bücher gingen tatsächlich auch sehr gut weg; ein Offizier des Lagers in Tennessee berichtete, er habe die Lieferung von 420 Exemplaren innerhalb eines Tages verkauft; Offiziere in Texas orderten zusätzliche 250 Exemplare; auch in Arkansas wurde ein Run auf die Bücher beobachtet, der alle Erwartungen übertraf. Eine besondere Nachfrage trat nach Willkies Unteilbare Welt und Thomas Manns Achtung, Europa! auf.
455 Vinz, S. A168.
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Über den Verlauf und die tatsächliche Höhe des Absatzes gibt es widersprüchliche Auskünfte; letztlich war es wohl so, wie es Bermann Fischer aus der aktuellen Situation heraus Carl Zuckmayer in einem Brief vom Juli 1945 mitgeteilt hat, dass nämlich die erste Gesamtauflage von je 10.000 Exemplaren je Band, zusammen also 240.000 Exemplare »innerhalb von 24 Stunden«456 restlos ausverkauft war und dass sofort 15.000 Exemplare je Titel, also insgesamt noch einmal 360.000 Bücher nachgedruckt wurden.457 Damit wären also in Summe 600.000 Bände der Reihe »Neue Welt« in den Verkauf gekommen; der Bedarf dürfte so mehr als gedeckt gewesen sein. Als die Lager nach und nach geschlossen und der Rücktransport der Kriegsgefangenen nach Deutschland vorbereitet wurde, gingen die Buchverkäufe zurück. Nicht verkaufte Bücher durften aber, entsprechend den Bedingungen des Vertrags, den Bermann Fischer mit den Regierungsbehörden abgeschlossen hatte, nicht in den regulären oder den antiquarischen Buchmarkt eingeschleust werden. Insgesamt kamen von den bis April 1946 gedruckten Büchern der »Neuen Welt«-Reihe nur wenig mehr als 8.000 zurück und wurden später in Bibliotheken der USA verteilt.458 In einem für die Zeitung Der Ruf verfassten, unter dem Titel »Das Freie Buch« erschienenen Rückblick auf die Bücherreihe konnte Vinz bilanzieren: »Selten sind soviel Bücher gelesen worden wie in der Gefangenschaft. […] Diesem ›wilden‹ Lesebedürfnis einen tieferen Sinn zu geben, war die Aufgabe der Bücherreihe ›Neue Welt‹«.459 Ob und in welchem Umfang die Bücher die beabsichtigte Wirkung hatten, lässt sich nicht nachweisen. Es steht aber fest, dass es in einzelnen Lagern mit besonders hartgesottenen Nazis auch Widerstand gegen diese Literatur gab. Zudem erwiesen sich manche Titel als intellektuell zu anspruchsvoll für den durchschnittlich gebildeten Soldaten. Nach Henchʼ Erkenntnissen handelte es sich bei den Büchern um ein beliebtes Souvenir, das viele Soldaten im Zuge ihrer Repatriierung nach Deutschland mitgenommen hätten;460 anderen Hinweisen zufolge wurden aber Bücher aufgrund der Gewichtsbeschränkung des Gepäcks oft zurückgelassen. Neben der sinnhaften Erfüllung der Lektürebedürfnisse deutscher Kriegsgefangener hatte die Reihe »Neue Welt« noch andere Wirkungen und Folgen: Bei Gottfried Bermann Fischer persönlich festigte sich mit dieser Aktion die Überzeugung, dass Reeducation (auch wenn er sich den Begriff als solchen nicht zu eigen machte) ganz wesentlich »a publishing problem« sei; diese Überzeugung hat ihn auch in seinem Entschluss bestärkt, nach Deutschland zurückzukehren und sich dort in seiner verlegerischen Arbeit an dieser Grundintention zu orientieren. Nicht zuletzt gewann die Reihe Bedeutung auch in der Vorläuferschaft zu den Taschenbuchprogrammen, die Bermann Fischer nach dem Krieg in Deutschland realisieren sollte. Dem Verleger selbst stand der Zusammenhang klar vor Augen: »Diese Reihe […] stellte die direkte Vorläuferin der später von mir ins
456 Indirekt bestätigt von Curt Vinz, demzufolge die Startauflage (er spricht hier ungenau von »250.000« Exemplaren) »schon zu Anfang Juli 1945« vergriffen gewesen sei (S. A168). 457 Brief Bermann Fischer an Carl Zuckmayer vom 22. Juli 1945, in: G. Bermann Fischer, Brigitte B. Fischer: Briefwechsel, S. 347. Vgl. auch Nawrocka: Verlagssitz, S. 165. 458 So Hench: Books as Weapons, S. 128. 459 Der Ruf, April 1946, zit. n. Vinz: Die Bücherreihe »Neue Welt«, S. A169. 460 Hench: Books as Weapons, S. 130.
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Leben gerufenen ›Fischer Bücherei‹ dar«.461 Curt Vinz gestand der Serie sogar eine noch grundsätzlichere Bedeutung zu: »Die Bücherreihe ›Neue Welt‹ stellte nicht nur, wie Dr. Gottfried Bermann bekannte, die direkte Vorläuferin der ›Fischer Bücherei‹ dar, sie war die erste deutschsprachige Taschenbuchreihe überhaupt, noch vor ›rororo‹ und dem Ende des Dritten Reiches«.462 Üblicherweise wird der 17. Juni 1950 als Geburtsstunde des modernen Taschenbuchs in Deutschland angesehen, der Tag, an dem der Rowohlt Verlag die ersten rororoTaschenbücher herausbrachte (zu deren Vorgeschichte wiederum die im Zeitungsformat gedruckten Rowohlt-Rotations-Romane gehörten).463 Die Anregung stammte in diesem Fall wieder direkt aus den Vereinigten Staaten, nachdem Heinrich Maria Ledig, der Sohn Ernst Rowohlts und seit 1945 Teilhaber von dessen Verlag, auf einer USA-Reise deutscher Verleger entsprechende Eindrücke sammeln konnte: »Im Herbst 1949 erschien Ledig in strahlender Laune in New York und studierte hier die pocketbook-Herstellung, so daß von 1950 an die rororos als erste in Deutschland erscheinende TaschenbuchSerie herauskamen, die heute [1962] auf 500 Nummern und auf mehr als 52 Millionen Exemplare angewachsen ist«.464 Kurt Enoch, der den Rowohlt-Verlag auf einer EuropaReise im März 1949 aufgesucht und alte Bekanntschaften erneuert hatte, kommentierte die rororo-Taschenbücher in seinen Erinnerungen als »one of the leading German versions of the modern mass-market paperback editions, or also if you wish, a replica of the Tauchnitz-Albatross format«.465 Bermann Fischer konnte in Deutschland aus verschiedensten Gründen erst 1951 mit der Planung einer Taschenbuchserie beginnen, wobei er sich von rororo längerfristig durch ein anspruchsvolleres Programm absetzen wollte: »Mit dem Taschenbuch konnte eine Aufgabe erfüllt werden, die gerade in dieser Zeit von entscheidender Bedeutung für das wieder erwachende geistige Leben nach dem Zusammenbruch war«.466 Dieser Anspruch wurde dann vor allem mit der Reihe »Bücher des Wissens«, den Lexika oder in den 1960er Jahren mit der »Fischer Weltgeschichte« eingelöst. Eine Taschenbuchreihe
461 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 241. 462 Vinz: Die Bücherreihe »Neue Welt«, S. A169. 463 Vgl. diverse Beiträge in: »Macht unsere Bücher billiger!« Die Anfänge des deutschen Taschenbuchs 1946 bis 1963; sowie Rössler, Patrick: Pro(roro)vokation – die bunten Farben des Massengeschmacks; Klimmt / Rössler: Reihenweise. Die Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter. 464 Pinthus: Ernst Rowohlt und sein Verlag, S. 36. 465 Memoirs of Kurt Enoch, S. 206. – In der Tat bildete die Albatross-Reihe den Ausgangspunkt der weltweiten »paperback revolution« und offenbar auch einen Bezugspunkt für die Rowohlt Taschenbücher. Erich Kästner hatte bereits im Januar 1941 notiert: »Als er [Rowohlt] vor zwei Jahren aus der Kulturkammer ausgeschlossen wurde, ging er nach Paris, um hier die ›Albatross‹-Vertretung zu übernehmen«. Zit. n. Oels: Rowohlts Rotationsroutine, S. 110, wo es heißt: »Auch an Erich Reiß schrieb Rowohlt nach dem Krieg, er habe ›die Leitung einer neugegründeten Unternehmung des Albatross-Verlages Paris […] übernehmen‹ sollen«. Das bedeutet: Ernst Rowohlt war mit diesem Vorläufer des modernen Taschenbuchs bereits vertraut, lange bevor Ledig-Rowohlt die pocketbook-Herstellung in den USA studierte. 466 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 387.
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von hoher Qualität, dies stand Bermann Fischer bereits im Projektstadium vor Augen, »stellt[e] besondere Anforderungen verkaufsorganisatorischer Art. Sowohl für den Buchhandel als auch für das Publikum war sie ein Novum, und ein falscher Schritt konnte eine Katastrophe bedeuten«.467 Aus diesem Grund gewann Bermann Fischer den früheren Verkaufsleiter von Albatross Christian Wegner, damals Leiter des Grossohauses Wegner in Hamburg, als Geschäftspartner für Auslieferung und Lagerhaltung. Von rororo absetzen wollte sich Bermann Fischer auch in der Ausstattung der »Fischer-Bücherei«, und auch hier kamen Erfahrungen des Exils zum Tragen, in diesem Fall durch das schon jahrelang ausgeübte Buchdesign von Brigitte Bermann Fischer: »Hier begann wieder eine Tätigkeit meiner Frau, die mit sicherem Gefühl für künstlerische Buchgestaltung einen Stil für das Taschenbuch entwickelte, der bald im In- und Ausland Schule machte«.468 Der Erfolg der »Fischer Bücherei« spricht auch in diesem Punkt für sich: Bis 1969 waren 1.200 Titel mit einer Gesamtauflage von 67 Millionen Exemplaren erschienen.
Bermann Fischer: Rückkehr nach Deutschland Gottfried Bermann Fischer hatte sich in den USA schon jahrelang auf den Augenblick vorbereitet, an dem die Belieferung des deutschen Buchmarktes wieder möglich war. Die von ihm ausgearbeiteten Buchprojekte zielten zum einen darauf ab, den Deutschen die ihnen unbekannt gebliebene Exilliteratur bekannt zu machen (das sollte von Stockholm aus geleistet werden) und auch politische Sachbücher über das Weltgeschehen der letzten Jahre zugänglich zu machen, zum anderen betrachtete er die in den USA schon lange vor Kriegsende diskutierte Frage nach einer demokratischen Umerziehung des deutschen Volkes und dem »geistigen Wiederaufbau« Deutschlands als eine eminent verlegerische Aufgabe und stellte zu diesem Behufe an der amerikanischen Ostküste ein Team emigrierter deutscher Pädagogen zusammen, das eine Serie von Schulbüchern entwerfen sollte, wie man sie im befreiten Deutschland benötigen würde. Für die konkreten Teilprojekte – eine dreibändige Weltgeschichte für die Oberstufe bzw. Erwachsenenbildung sowie Schulbücher für Kinder ab sieben Jahren – wurden hervorragende exilierte Fachwissenschaftler herangezogen, wodurch die Arbeiten auch einige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit fanden. Obwohl einige Teile fertiggestellt werden konnten, war es nach 1945 aufgrund von Papiermangel und der besatzungszonalen wie auch schulbehördlichen Bürokratie nicht möglich, das Projekt in dem großen Stil umzusetzen, den sich Bermann Fischer vorgestellt hatte. Nur vereinzelt und in relativ kleiner Auflage kam es zur Veröffentlichung von Projektergebnissen, vor allem beim Lehrbuch für Geschichte.469 Was die Umerziehung qua Buch betrifft, so hatten die US-Authorities eigene Vorstellungen und Initiativen (Overseas Editions u. a. m.), wie dies im Zusammenhang mit der Bücherreihe »Neue Welt« schon dargelegt worden ist. Auch in anderen Zusammenhängen musste Bermann Fischer feststellen, dass sich die Hoffnung auf rasche Öffnung des deutschen Marktes nicht erfüllte: ausländische,
467 Bermann Fischer, S. 386. 468 Bermann Fischer, S. 388. 469 Genaueres hierzu bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 161‒163.
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z. B. in Schweden vorhandene Bücher durften u. a. aus Devisengründen nicht nach Deutschland eingeführt werden,470 und allein schon aufgrund der Papierknappheit wäre auch eine Produktion in Deutschland nicht möglich gewesen. Er orientierte sich daher zunächst wieder nach Wien, wo er – nach einer punktuell gebliebenen Kooperation mit dem von dem Remigranten Hans E. Goldschmidt* geleiteten Wiener SchönbrunnVerlag471 – wieder eine Niederlassung errichtete, die der Papierbeschaffung und dem Bücherexport nach Deutschland dienen sollte. Im Wiener Bermann-Fischer Verlag, der 1947 seinen Betrieb aufnahm, erschienen neben einer Wiener Ausgabe von Thomas Manns Doktor Faustus auch Ilse Aichingers Die größere Hoffnung, eine Reihe von Nachdrucken älterer Titel sowie das Zehnjahrbuch des Verlages Bermann-Fischer 1938‒ 1948. Über den Wiener Verlag wurden auch Bestände aus dem Amsterdamer Bücherlager vertrieben. Der Stockholmer Verlag war nach Kriegsende durch Walter Singer und Justinian Frisch weiter am Laufen gehalten worden und hatte, wo immer es möglich war, die Verbindungen ins Ausland wieder aufgebaut und den Export angekurbelt; auch der Bühnenvertrieb wurde mit Bonnier-Hilfe reaktiviert.472 Als neues schwedisches Personal eingestellt werden sollte (auch als eine Reaktion darauf, dass Bermann Fischer erst im Februar 1946 und dann nur zu kurzen Besprechungen nach Stockholm kam), erzeugte dies Spannungen im Verlag. Wie Bermann Fischer feststellen konnte, hatten die Bonniers in freilich nicht immer sinnvoller Weise beträchtliche Summen – insgesamt eine halbe Million Kronen – investiert und waren inzwischen ungeduldig geworden, was den erwarteten Rückfluss der Mittel betraf. Er war deshalb bemüht, etwa durch Zusammenarbeit mit dem von Landshoff flott gemachten Querido Verlag oder dem niederländischen Auslieferer Meulenhoff größere Geschäfte, vor allem den Buchabsatz in den Niederlanden, in Gang zu bringen. Zwei Jahre später waren aber die Brüder Bonnier ihres finanziellen Engagements endgültig überdrüssig und verkauften 1948, nach schwierigen Verhandlungen, ihre Anteile am Stockholmer Bermann-Fischer Verlag an den Amsterdamer Querido Verlag, nachdem Fritz Landshoff am Erwerb dieser Anteile lebhaftes Interesse signalisiert hatte. Das war natürlich auch ganz im Sinne Bermann Fischers, denn dadurch entstand 1948 der Bermann-Fischer / Querido Verlag in Amsterdam, wobei die beiden unternehmensrechtlich fusionierten Verlage die Werke ihrer Autoren immer noch unter dem jeweils eigenen Verlagsnamen herausbrachten.473 Die Zusammenarbeit im gleichen Haus war aber eine sehr enge, und insbesondere Bermann Fischer empfand es als eine Wohltat, wieder in größerer Freiheit verlegerisch agieren zu können. Dies nützte er 1948 u. a. für den Abschluss von »Kompensationsgeschäften« mit den amerikanischen 470 Immerhin konnte durch eine Vereinbarung mit den amerikanischen Besatzungsbehörden eine Deutschland-Lieferung von 3.225 Büchern erreicht werden; ein direkter Verkauf an deutsche Buchhandlungen war aber nicht möglich. 471 Als ersten Titel seines Verlagsprogramms brachte der Schönbrunn-Verlag Carl Zuckmayers Des Teufels General heraus; die Erstausgabe des Dramas war 1946 in Stockholm im Bermann-Fischer Verlag erschienen. 472 Nawrocka: Verlagssitz, S. 170 f. 473 Das neue Unternehmen gehörte Bermann Fischer und Querido je zur Hälfte; Aktionäre von Querido waren Fritz Landshoff, Fred von Eugen und der Druckereibesitzer van Holdert. Bermann Fischer bezog aus seiner Tätigkeit für den Verlag ein monatliches Gehalt von 700 Dollar. Dazu Nawrocka: Verlagssitz, S. 185.
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Behörden, in deren Rahmen er statt in den Niederlanden nun in Deutschland Herstellungsarbeiten vornehmen lassen konnte, die er mit Lizenzerteilungen an Suhrkamp ausglich; ebenso übernahm er im Rahmen dieser diffizilen länderübergreifenden Logistik, die hier gar nicht in allen Verästelungen beschrieben werden kann, Mitdrucke des Wiener Verlags für Bermann-Fischer / Querido. An Brigitte schrieb Bermann Fischer am 25. Juni 1948: Diese Art von Verlag hat es wohl noch nie gegeben. Ein Netz von komplizierten, mit einander verschränkten Produktionswegen, die schliesslich alle in bestimmte Ziele münden müssen. Ich komme mir wie ein Schachspieler vor, bei jedem Zug immer schon die 3 nächsten planend und erwägend was alles vom Gegenspieler – hier in der politischen Situation in 10 verschiedenen Ländern – kommen kann. Dass ich dazu mittlerweile ca. 5000 km im Auto und 3–4000 im Flugzeug zurücklegen musste, hätte sich der alte Cotta oder Papa auch nicht träumen lassen.474 Parallel dazu hatte Gottfried Bermann Fischer die Möglichkeiten sondiert, seine Verlagsunternehmungen mit dem in Deutschland verbliebenen Teil des ehemaligen S. Fischer Verlags, jetzt Suhrkamp Verlags, zusammenzuführen, denn aus seiner Sicht hatte Peter Suhrkamp den ihm übertragenen Verlag nur treuhänderisch geführt. Erst im Mai 1947 hatte er – das erste Mal seit 1936/1937 – die Möglichkeit, nach Deutschland einzureisen, u. a. um sich mit Suhrkamp zu treffen. Allerdings verbot der Trade with the Enemy-Act eine Rückübertragung des Verlags an einen amerikanischen Staatsbürger, der Bermann Fischer inzwischen war. Suhrkamp, der den Verlag durch das Dritte Reich hindurchgesteuert hatte und nach seiner Verhaftung 1944 schwersten, gesundheitlich ruinösen Belastungen ausgesetzt gewesen war, hatte im Oktober 1945 von den Besatzungsmächten die Lizenz für die Suhrkamp Verlags KG Berlin erhalten, hatte im Anschluss an die Begegnung im Mai 1947 – mit Genehmigung der Besatzungsbehörden – einige von Bermann Fischer überlassene Titel zur Befriedigung der enormen Nachfrage als Lizenzausgaben herausgebracht und am 1. Juni 1947 einvernehmlich auch eine Niederlassung in Frankfurt am Main errichtet.475 Noch im Sommer 1948 stimmte er ganz mit der Sichtweise Bermann Fischers überein, was seine Rolle als Treuhänder betraf.476 Durch Autorenzuspruch (v. a. Hermann Hesses) ermutigt, strebte er dann aber doch die eigenständige Weiterführung des von ihm durch die Gefahren der NS-Zeit gesteuerten Verlags an. Der Konflikt, an den sich der tief enttäuschte Remigrant noch in seinen letzten Lebensjahren nur mit großer Bitterkeit zurückerinnerte, wurde erst 1950 durch Vermittlung von Eugen Kogon in einem außergerichtlichen Vergleich beigelegt: Der Suhrkamp Verlag blieb erhalten, der S. Fischer Verlag wurde in Berlin und Frankfurt wiedergegründet, und die
474 Zit. n. Nawrocka, S. 187. 475 Als Lizenzausgaben bei Suhrkamp erschienen auch die Exilliteratur-Titel, über die Bermann Fischer in einem zweiten Deutschland-Besuch im November 1947 mit dem American Military Government eine Übereinkunft erzielen konnte, siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 173. 476 So im Brief an Bermann Fischer vom 28. Juni 1948, abgedruckt in Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 298‒300. Dort (S. 296‒298) auch das zugunsten des Ehepaaars Bermann Fischer abgefasste Testament Suhrkamps vom 15. Juni 1947, das gleichsam ersatzweise entstand, weil die Rückübertragung des Verlags besatzungsrechtlich nicht möglich war.
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1936 bei Suhrkamp verbliebenen Autoren des Verlags durften frei entscheiden, welchem der beiden Verlage sie sich anschließen wollten.477 Die Gründe für die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze liegen klar zutage: Gottfried Bermann Fischers verlegerischer Erfahrungshorizont hatte sich in den Jahren 1936‒ 1948 in Wien, Stockholm, den USA und Amsterdam enorm geweitet und sich auf eine internationale Ebene ausgedehnt; eine Verständigung mit Peter Suhrkamp, dessen Ideal ein auf anspruchsvolle deutsche Literatur ausgerichteter Verlag für eine geistige Elite war, wurde immer schwieriger oder war de facto unmöglich. Hatte sich der »Quereinsteiger« vor 1933 rasch in die deutsche Tradition des Kulturverlegertums eingelebt, so war er aus dem Exil als eine Verlegerpersönlichkeit mit Zügen amerikanischen Unternehmertums zurückgekehrt – ein Zugewinn, den er einerseits erfolgreich in den Wiederaufbau des S. Fischer Verlags einbringen konnte, der ihn andererseits aber in Gegensatz brachte zu dem vergleichsweise engstirnigen Suhrkamp. Dazu kam, dass Bermann Fischer mit fortschreitender Bestürzung feststellen musste, dass in einem Deutschland, in dem immer noch »reaktionäre Strömungen« und demokratiebedrohende »nationalistische Tendenzen« wirksam waren, Emigranten mit Ressentiments, auch antisemitischem Ressentiment begegnet wurde.478 Nach Beendigung der Auseinandersetzungen mit Suhrkamp war Bermann Fischer aber noch voller Enthusiasmus ans Werk gegangen. Als der neue S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main seine Arbeit aufnehmen konnte, waren die ausländischen Verlagsteile überflüssig geworden; daher wurden 1952 sowohl der Amsterdamer wie auch der wiederbelebte Wiener Verlag stillgelegt. Ebenfalls 1952 wurde die Taschenbuchreihe »Fischer Bücherei« eingerichtet, mit der der steile Aufstieg des Verlages weiter beschleunigt wurde. Dieser Erfolg beruhte jetzt in hohem Maße auf einem internationalen Autorenstamm, von John Osborne bis Boris Pasternak, aber auch auf Kafka- und anderen großen Ausgaben, mit denen die Tradition des Hauses – Autoren des 20. Jahrhunderts zu »modernen Klassikern« zu machen – fortgesetzt wurde. Ein Schwerpunkt wurde aber auch gesetzt mit einem überaus aktiven und innovativen Sachbuchbereich, insbesondere mit preiswerten Reihen wie dem legendären »Fischer Lexikon«, in anderer Weise mit einer großen, 17-bändigen Ausgabe der Werke Sigmund Freuds. Gesteigerten Wert legte der Verleger darauf, aufklärende Literatur zum Nationalsozialismus herauszubringen, wie Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933‒1945 (1957) und zahlreiche ähnliche Werke. Schon Anfang 1954 legte Gottfried Bermann Fischer seine Geschäftsführerfunktion zurück; bis 1962 war er aber noch Programm mitbestimmend im Verlag tätig, unterstützt von seiner Ehefrau, die nach 1950 immer mehr auch eine Verlegerinnenrolle übernommen hatte. Danach wurde das Familienunternehmen an die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck verkauft; Gottfried und Brigitte Bermann Fischer zogen sich in die Toscana zurück, nach Camaiore, in ein nach eigenen Vorstellungen gebautes
477 Die Auseinandersetzung hat – mit unterschiedlicher Perspektivierung – vielfältige Darstellung erfahren, u. a. in der biographischen Literatur zu Peter Suhrkamp (Unseld: Peter Suhrkamp) oder in der verlagsgeschichtlichen Literatur (Suhrkamp Verlag: Die Geschichte des Suhrkamp Verlags). 478 Siehe dazu das düster-kritische Bild, das Gottfried Bermann Fischer 1967 in seinen Erinnerungen Bedroht – bewahrt von den Nachkriegsentwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland entworfen hat (S. 405‒407).
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Haus hoch über dem Meer. »Denn dieses Haus sollte alles, was wir an Erfahrung gesammelt, an Liebe und Tragik erlebt hatten, zum Ausdruck bringen«, schrieb Bermann Fischer in seiner Autobiographie, und weiter: »Es war ein langer Weg bis zu diesem Ort des Friedens«.479 Dort starb er am 17. September 1995.
Noch einmal Schweden: Der Neue Verlag, Stockholm Gegen Kriegsende erwuchs dem Bermann-Fischer Verlag in Stockholm für kurze Zeit eine ernstzunehmende Konkurrenz480 in Gestalt des von Max Tau* (1897 Beuthen / Oberschlesien – 1976 Oslo) gegründeten Neuen Verlags. Tau hatte bis Mitte 1936 als Cheflektor des Bruno Cassirer Verlages in Berlin gearbeitet, wo er u. a. auch mit skandinavischen Autoren (u. a. Knut Hamsun und Sigrid Undset) befasst war; daneben war er als Literaturkritiker für verschiedene Zeitungen tätig.481 Nach Erlass der »Nürnberger Gesetze« war ihm eine offizielle Berufsausübung untersagt; im Geheimen arbeitete er jedoch für den Universitas Verlag als Gutachter weiter. Am 22. Dezember 1938 emigrierte Tau nach Norwegen, wo er eine Anstellung als Verlagslektor des Johan Grundt Tanum Verlages in Oslo fand, außerdem war er Berater der norwegischen Verlage Gyldendal und Aschehoug. 1942 flüchtete er nach Schweden und war in Stockholm bis 1945 als Lektor im Ljus-Förlag tätig, der Teil des Verlagskonzerns Esselte war. In dieser Eigenschaft sorgte er dafür, dass dort Übersetzungen von Werken u. a. Lion Feuchtwangers und Alfred Neumanns erschienen. 1944 konnte er dann den auf deutschsprachige Bücher ausgerichteten Neuen Verlag als Abteilung des Ljus Verlages einrichten – neben Heinemann & Zsolnay in London die einzige deutschsprachige Exilverlagsgründung in Europa während des Zweiten Weltkrieges.482 Max Tau leitete diese Abteilung bis 1946; seine Motive waren teils idealistischer Natur (es ging ihm um eine Sammlung der versprengten und unter ihrer Isolation vom Publikum leidenden Exilautoren), er hatte aber auch die Hoffnung, nach Kriegsende den deutschen Buchmarkt beliefern und den zu erwartenden Lesehunger der jahrelang vom internationalen Literaturgeschehen abgeschnittenen deutschen Bevölkerung befriedigen zu können.483 Die Programmgestaltung lag ganz in den Händen Max Taus. Er setzte dabei hauptsächlich auf bewährte Namen und bediente sich auch der Vermittlungsdienste des in
479 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 409, 412. 480 Tatsächlich schlug Gottfried Bermann Fischer im März 1946 Max Tau die Übernahme des Neuen Verlags durch Bonnier vor; diese kam aber nicht zustande. Dazu Nawrocka: Verlagssitz, S. 177. 481 Von Max Tau stammen die Erinnerungswerke: Das Land, das ich verlassen mußte. Ein Flüchtling findet sein Land; Auf dem Wege zur Versöhnung; Trotz allem! Lebenserinnerungen aus siebzig Jahren. Zu seiner Biographie vgl. Leje: Der Lektor und Verleger Max Tau 1942‒46 in der schwedischen Emigration; Hartmann: »Doch wer das Unrecht duldet, bereitet seinen eigenen Untergang vor« – Max Tau im norwegischen und schwedischen Exil; Krüger: Max Tau als literarischer Leiter des Neuen Verlages, S. 239 f.; Oppmann: Max Tau und der Neue Verlag. 482 Vgl. hierzu und zum Folgenden Nawrocka: Verlagssitz, S. 174 f.; Nawrocka: Kooperationen, S. 75 f. 483 Tau: Ein Flüchtling findet sein Land, S. 207.
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Abb. 15: Programmatisches von Max Tau in einem Bücherverzeichnis aus den Nachkriegsjahren; mit den Ortsangaben Stockholm – Zürich – New York machte sich der Verlag allerdings größer als er war.
Kalifornien lebenden, ihm von früher her bekannten Felix Guggenheim*, der als Literaturagent Kontakte zu in den USA lebenden Exilschriftstellern herstellte. Die Verlagsbibliographie484 zum Neuen Verlag umfasst 29 (ohne 1951: 27) Titel: 1944: Becher, Johannes R.: Deutschland ruft. Gedichte; Gorbatov, Boris: Die Unbeugsamen. Die Familie des Taras. Autorisierte Übertragung aus d. Russischen;
484 Hier nach den von Nawrocka ermittelten Titeln (Nawrocka: Kooperationen, S. 82 f.).
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1945: Feuchtwanger, Lion: Simone; Gorki, Maxim: Meine Kindheit. (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. 1. Bd.); Granach, Alexander: Da geht ein Mensch. Autobiographischer Roman; Heine, Thomas Theodor: Ich warte auf Wunder. Roman; Munk, Kaj: Dänische Predigten. Vorwort von Olle Nystedt. 2. Aufl. 1947; Munthe, Axel: Das Buch von San Michele. Dt. nach d. 26. engl. Aufl. v. G. UexküllSchwerin; Neumann, Alfred: Es waren ihrer sechs. Roman; Schaeffer, Albrecht: Rudolf Erzerum oder des Lebens Einfachheit; Steinitz, Wolfgang: Russisches Lehrbuch. 2. Aufl. 1946; 1946: Berggrav, Eivind: Der Staat und der Mensch. Autorisierte Übers. aus d. Norwegischen v. Walter Lindenthal; Čapek, Karl: Das Jahr des Gärtners. Mit Zeichnungen v. Josef Čapek. Berechtigte Übertr. aus d. Tschechischen von Julius Mader; Ilf, Ilja und Petrov, Evgenij: Das Goldene Kalb. Autorisierte Übers. aus d. Russischen von Enrico Italiener; Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt; Neumann, Alfred: Der Teufel; O’Hara, Mary: Mein Freund Flicka. Übertragen von Elsa Carlberg; 1947: Hirschberg, Max: Die Weisheit Russlands. Meisterwerke der russischen Literatur. Die Bedeutung des russischen Geistes in der Kulturkrise der Gegenwart; Zweig, Arnold: Das Beil von Wandsbek; Zweig, Friderike Maria: Stefan Zweig, wie ich ihn erlebte; 1948: Hodin, Josef Paul: Edvard Munch. Der Genius des Nordens; 1949: Neumann, Alfred: Der Pakt. (Gesammelte Werke); 1950: Feuchtwanger, Lion: Jud Süss. Vollständige Neuausgabe (»Stockholm, Frankfurt, Zürich«); Neumann, Alfred: Neuer Caesar (Gesammelte Werke); Neumann, Alfred: Kaiserreich (Gesammelte Werke); Neumann, Alfred: Viele heissen Kain. Erzählung; Stenersen, Rolf: Edvard Munch. Das Nahbild eines Genies. Deutsche Fassung von Elsa Marti;
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1951: Feuchtwanger, Lion: Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis. (Bei einem Teil der Auflage wurde die Verlagsangabe »Frankfurt am Main / Neuer Verlag« überklebt mit »Frankfurt a. M. Frankfurter Verlagsanstalt«. Offenbar ließ die Verlagsanstalt aber im gleichen Jahr auch eine Neuauflage drucken); Speyer, Wilhelm: Das Glück der Andernachs (auch diese Ausgabe wurde teils mit der Angabe »Neuer Verlag«, teils unter »Frankfurter Verlagsanstalt« ausgeliefert).485 Der Schwerpunkt des Programms lag somit recht eindeutig auf der deutschen Exilliteratur, mit einer Dominanz von Lion Feuchtwanger und Alfred Neumann, wobei neben Neuauflagen von Ausgaben, die bereits vor 1933 in Deutschland oder nach 1933 in anderen Exilverlagen (A. Neumanns Der Teufel EA 1926; Neuer Caesar 1934 bei Allert de Lange; J. R. Bechers Deutschland ruft im Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1942 u. a. m.) erschienen waren, auch einige Titel in Stockholm als deutschsprachige Erstausgaben herauskamen (Beispiel: Lion Feuchtwangers Simone, zuvor in engl. Sprache 1944 in London und New York; Arnold Zweigs Beil von Wandsbek, 1943 zuerst auf Hebräisch erschienen; Th. Th. Heines Ich warte auf ein Wunder auf Schwedisch zuerst 1944 bei Ljus, ebenso wie einige Titel A. Neumanns, u. a. m.). Besondere Bedeutung hatten aber die zahlreichen im Neuen Verlag erschienenen originalsprachigen Erstausgaben, etwa Alexander Granachs Da geht ein Mensch, Alfred Neumanns Es waren ihrer sechs oder ganz besonders Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt. Auf dieser Linie hat sich der Verleger Max Tau Verdienste erworben, die umso beachtlicher sind, als der Neue Verlag in Stockholm in direkter Konkurrenz zum Bermann-Fischer Verlag stand, der ein ähnliches Programmfeld besetzte.486 In gattungstypologischer Hinsicht überwog deutlich die Romanliteratur; der Auftakt mit einem Lyrikband Johannes R. Bechers fällt allerdings aus diesem Bild heraus, auch in politischer Hinsicht, denn mit kommunistischer Ideologie hatte Max Tau nichts im Sinn. Einen weiteren Akzent setzten autobiographische Texte, neben Heinrich Mann und Alexander Granach auch Maxim Gorki, Th. Th. Heine und Friderike Zweig. Dass auch einige Sachtitel das Programm ergänzten, mag besonderen Gelegenheiten geschuldet gewesen sein, ebenso wie die Übersetzungen aus dem Russischen und dem Schwedischen.
485 In einem Verlagsprospekt vom März 1947 wurde das Erscheinen von sechs Titeln angekündigt, die dann nicht mehr zustande gekommen sind: Leonhard Frank: Der Mensch ist gut; René Fülöp-Miller: Triumph über den Schmerz; Harry Martinson: Die Nesseln blühen; Edison Marshall: Das große Abenteuer und Benjamin Blake. Vgl. Nawrocka: Kooperationen, S. 77. 486 Dass Gottfried Bermann Fischer ein Abkommen mit Fritz H. Landshoff traf, demzufolge Werke ehemaliger Querido-Autoren im Bermann-Fischer Verlag herauskommen sollten, könnte als eine Reaktion auf das Auftreten des Neuen Verlags und die Autorenakquisition Max Taus interpretiert werden (so bei Nawrocka: Kooperationen, S. 78). So kehrte Lion Feuchtwanger nach dem Abschluss mit Tau über den Simone-Roman mit Der Tag wird kommen 1945 wieder zum Bermann-Fischer Verlag zurück, ehe dann unter Taus Nachfolger erneut Feuchtwanger-Titel im Neuen Verlag erscheinen konnten.
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Auffällig an der chronologischen Liste ist das seit 1947 zu beobachtende Nachlassen und in den Jahren 1948 und 1949 fast vollständige Zum-Erliegen-Kommen der Titelproduktion. Dieser Rückgang findet seine einfache Erklärung darin, dass Max Tau bereits im Frühjahr 1946 aufgrund einer Auseinandersetzung mit dem Verlagsleiter von Ljus das Unternehmen verlassen musste und nach Norwegen zurückgekehrt ist. Es gab aber eine Vorausplanung, auch nahm sein Nachfolger Kurt Korfitzen wieder Kontakt mit Tau auf, sodass noch bis 1950/1951 deutschsprachige Titel erschienen. Als aber die Besatzungsbehörden in Deutschland keine Einfuhrgenehmigung für deutschsprachige Bücher gewähren wollten,487 verkaufte der Esselte Konzern 1950 den Neuen Verlag an den Verlag der Frankfurter Hefte. Daraus entstand dann als eine von Eugen Kogon und Alfred Andersch vorgenommene Wiedergründung 1951488 die Frankfurter Verlagsanstalt, die mit den von ihr umgebundenen Buchbeständen des Neuen Verlags ihr erstes Buchprogramm bestritt. Max Tau, der vor 1942 norwegischer Staatsbürger geworden war, nahm nach seinem Weggang vom Neuen Verlag in Oslo seine Tätigkeit als Lektor des Johan Grundt Tanum Verlages wieder auf.489 Gemeinsam mit H. Aschehoug & Co. rief Tau 1950 die Buchreihe »Friedensbibliothek« ins Leben, die erfolgreich zum literarischen Austausch zwischen Deutschland und Skandinavien ebenso wie zur Verständigung zwischen den Ländern und der christlichen und jüdischen Religion beitrug. 1950 wurde Tau als erster Preisträger mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Dänemark Trobris-Verlag Befremdlich wirkt auf den ersten Blick das Erscheinen eines Romans des späteren Gruppe 47-Mitbegründers Walter Kolbenhoff (eig. Walter Hoffmann) mit dem Titel Untermenschen (1933) in einem Trobris-Verlag in Kopenhagen, wenn man weiß, dass dieser Verlag von dem umstrittenen Tiefenpsychologen Wilhelm Reich gegründet worden ist, der sich 1933 wie Kolbenhoff ins dänische Exil geflüchtet hatte.490 Tatsächlich ist im Trobris Verlag im Jahr darauf auch die 2. Auflage von Reichs berühmter Studie Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik herausgekommen;491 es handelte sich also nicht um einen belletristischen Verlag. Das Rätsel löst sich, wenn man weiß, dass Kolbenhoff und Reich
487 Mit Alfred Döblin waren bereits Verträge über Berlin Alexanderplatz und November 1918 abgeschlossen und Vorschusszahlungen geleistet worden; die Bücher wurden aber nicht mehr ausgedruckt. (So Nawrocka, S. 78). 488 Eine 1920 errichtete Frankfurter Verlags-Anstalt AG war 1938 geschlossen worden. 489 Siehe Krüger: Max Tau als literarischer Leiter des Neuen Verlages, S. 239 f. 490 Zu Wilhelm Reich als Verleger (Sexpol.Verlag) siehe das Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fachund Reprintverlage. 491 Dabei handelte es sich offenbar um eine Titelauflage, denn die 2. Auflage der Massenpsychologie des Faschismus ist zeit- und seitengleich auch in Reichs Kopenhagener Verlag für Sexualpolitik erschienen.
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miteinander befreundet waren und dass Kolbenhoff den Roman auf Drängen seines Freundes in diesem Verlag publizierte, weil er offenbar in dem literarischen Sujet eine Illustration seiner Theorien sah, die er in der erwähnten Studie ausbreitete.492 Der Roman wurde denn auch in der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie in diesem Sinne vorgestellt und in enthusiastischem Ton besprochen.493 Die Publikation hatte noch ein Nachspiel: Da Kolbenhoff in dem Roman auch eine eigene Erklärung für das Versagen der Arbeiterklasse liefern wollte, wurde er aus der KPD ausgeschlossen. Trotz des Ausschlusses folgte er aber der Forderung der Partei und ging nach Deutschland zurück, um dort Widerstandsarbeit zu leisten; 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen.
Großbritannien Publikationsplattformen politischer Vereinigungen Ein großer belletristischer Verlag, vergleichbar mit jenen in Amsterdam, ist im britischen Exil nicht entstanden; überhaupt gab es für die emigrierten Schriftsteller in diesem Land kaum Möglichkeiten, einen Roman in deutscher Sprache zu publizieren. Bezeichnend für diese Situation ist das Faktum, dass Dosio Kofflers Drama Die deutsche Walpurgisnacht bei seinem Erscheinen 1941 als der bis dahin erste und bis zum Kriegsende einzige deutschsprachige literarische Text gelten muss, der in einem Londoner Verlag publiziert wurde.494 Ernst Sommer z. B. konnte seinen Zeitgeschichtsroman Revolte der Heiligen in deutscher Sprache nur außerhalb Großbritanniens veröffentlichen, 1944 in Mexiko bei El Libro Libre. Für einige Autoren ergab sich die Möglichkeit, ihre Werke in der periodischen Presse unterzubringen, aber dies auch nur in eingeschränktestem Maße: Lediglich die ab Januar 1941 zunächst als Tageszeitung, später als »deutsches Wochenblatt« erscheinende Zeitung – ein vom britischen Informationsministerium finanziertes und kontrolliertes Exilorgan mit einer Auflage von immerhin 20.000 Exemplaren – war in der Lage, längere deutschsprachige Erzähltexte in Fortsetzungen abzudrucken. Hier erschienen neben einer Vielzahl kürzerer Erzählungen beispielsweise von Ernst Sommer, Hermynia Zur Mühlen und Fritz Brügel auch Arnold Benders Es ist später denn ihr wißt (unter dem Titel »Winter in Schweden« [8. August – 26. Oktober 1941]), Ludwig Winders Der Kammerdiener [1. September 1944 – 1. Juni 1945] sowie Auszüge aus Hilde Spiels Die Früchte des Wohlstands [21. November – 25. November 1941] und Peter de Mendelssohns The Hours and the Centuries in der »vom Verfasser
492 Vgl. Internationales Biographisches Archiv 16/1993 vom 12. April 1993. – Möglicherweise wollte Reich, dass Kolbenhoffs Roman in einem Verlag mit »neutralem« Namen erscheint und nicht in seinem Verlag für Sexualpolitik. 493 Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, hrsg. von Ernst Parell (d. i. Wilhelm Reich), Band 1 (1934), Heft 1, S. 84 f. (die Rezension ist mit »Observer« unterzeichnet). In Heft 2, S. 142‒145, wurde ein Ausschnitt »Der Traum« aus Kolbenhoffs Roman Untermenschen abgedruckt. 494 So Wiemann: Exilliteratur in Großbritannien 1933‒1945, S. 23 f.
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selbst vorgenommenen deutschen Fassung« unter dem Titel »Festung in den Wolken« [8. Januar – 26. Februar 1943].495 Für Lyrik waren die Voraussetzungen etwas günstiger, denn hier betätigten sich die einzelnen politischen und landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse wie der Freie Deutsche Kulturbund (FDKB) oder das Austrian Centre als Publikationsplattform. So erschien als Gemeinschaftsproduktion der Free German League of Culture, des Austrian Centre und Young Czechoslovakia 1941 eine Anthologie Die Vertriebenen. Dichtung der Emigration mit »37 poems by refugee authors from Austria, Czechoslovakia and Germany« und 1942 im Verlag des Austrian Centre Zwischen gestern und morgen. Neue österreichische Gedichte, u. a. von Erich Fried, Joseph Kalmer, Theodor Kramer, Berthold Viertel, Ernst Waldinger oder Franz Werfel. Gedichtbände von Theodor Kramer (Verbannt aus Österreich. Neue Gedichte, 1943) und dem jungen Erich Fried (Deutschland. Gedichte, 1944) wurden in London vom Austrian PEN veröffentlicht (Frieds lyrisches Pendant Österreich erschien erst 1946 in Kurt Leo Maschlers Atrium Verlag in Zürich), und ebenfalls erst 1946 erschien in London in dem Verlag Free Austrian Books des Free Austrian Movement eine gerade zehn Seiten starke Folge der »Kulturellen Schriftenreihe« mit Kurzessays, Textausschnitten und Gedichten von Raoul Auernheimer, Elisabeth von Janstein, Ernst Lothar oder Hilde Spiel. Unter den gegebenen Umständen mussten die exilierten Schriftsteller, insbesondere die Romanciers, sich bemühen, die britischen Verlagshäuser für Übersetzungen ihrer Werke zu interessieren – nach Kriegsbeginn umso mehr, als die kontinentalen Exilverlage nach und nach wegfielen. Selbstverständlich trafen die britischen Verleger ihre Wahl nach Absatzgesichtspunkten: Nur jene Werke kamen in Frage, die dem britischen Publikum zusagen könnten; die deutschsprachige Emigration, die kaum englischsprachige Bücher las, stellte keine relevante Zielgruppe dar. Infolgedessen erschienen die Romane zuerst in englischer Übersetzung und erst später, meist nach 1945, in einer deutschsprachigen Ausgabe. Besonders erfolgreich war Robert Neumann, von dem seit 1942 gleich sechs Romane in englischer Sprache herauskamen; er war allerdings (wie z. B. auch Peter de Mendelssohn) dazu übergegangen, gleich in englischer Sprache zu schreiben. Sein jüdisches Romanepos By the Waters of Babylon erschien 1939 in London bei Dent, wurde aber im darauffolgenden Jahr von Hutchinson’s International Authors (an dem er Lektor und Teilhaber war496) und in den USA von Simon and Schuster übernommen; die deutsche Erstausgabe erschien in diesem Fall auch in England, in der East and West Library des Phaidon-Verlegers Béla Horovitz. Bezeichnend, dass der nach Kriegsende, 1946, bei Gollancz erschienene Roman Children of Vienna 1948 bei Querido in Amsterdam als Kinder von Wien mit dem Vermerk herausgekommen ist: »aus dem englischen Original übertragen von Franziska Becker« ‒ mit Fortdauer des Exils hatten sich die sprachlichen Prioritätsverhältnisse umgekehrt. Erfolgreich war im Übrigen auch Arthur Koestler, besonders mit Darkness at Noon (London: Cape 1941), von dem bis 1944 fünf Auflagen erschienen waren; die deutschsprachige Erstausgabe Sonnenfinsternis kam in diesem Fall ebenfalls in London heraus, 1946 bei Hamilton, der es nach dem Krieg mit
495 Wiemann, S. 24. 496 In dieser Eigenschaft veranlasste er auch Übersetzungen von Heinrich Mann und Arnold Zweig.
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Abb. 16: Die Booklist 1943 des Verlags Free Austrian Books belegt, dass die österreichische Exilkolonie eine bemerkenswert lebendige Publikationsszene unterhielt.
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einer Reihe »Deutsche Bücher« versuchte, vielleicht in der Hoffnung, diese auch in das befreite, aber buchwirtschaftlich darniederliegende Deutschland liefern zu können. Der Erfolg dieses Buches versetzte Koestler in die Lage, seinem Verleger Jonathan Cape die Bedingungen für den nächsten Roman Arrival and Departure zu diktieren: 500 Pfund Vorabhonorar auf die Tantiemen, die 15 % für die ersten 5.000 Exemplare, 20 % für die weiteren Exemplare betragen sollte; Erscheinen noch in diesem Jahr in einer Auflage von mindestens 10.000 Exemplaren.497
Heinemann & Zsolnay Eine der letzten europäischen Gründungen unter Beteiligung eines exilierten Verlegers war 1940 das vom Londoner Verlag Heinemann gemeinsam mit Paul Zsolnay ins Leben gerufene Imprint Heinemann & Zsolnay. Paul Zsolnay (1895 Budapest – 1961 Wien) hatte seinen 1923 in Wien gegründeten Verlag mit einem breit gefächerten, Franz Werfel ebenso wie John Galsworthy, Pearl S. Buck, H. G. Wells oder A. J. Cronin umfassenden Programm auf beachtliche Höhen geführt und versucht, ihn an die Zeitläufte zu akkomodieren, öffnete damit aber einer Unterwanderung des Unternehmens durch der NSDAP nahestehende Autoren das Tor.498 Nach dem »Anschluss« schaffte er es noch eine Zeit lang, von London aus den Kontakt zu dem von einem Anwalt treuhänderisch geführten Verlag zu halten; vom Januar 1939 an war Zsolnay als Literaturagent in dem für ihn geschaffenen »Continental department« der Literaturagentur A. M. Heath & Co. tätig, mit dem Bestreben, seinen Wiener Verlag mit internationalen Rechten zu versorgen. Dies wurde jedoch bereits im April unterbunden und ein kommissarischer Leiter eingesetzt, bis der Zsolnay Verlag am 1. Oktober 1941 von dem RSK-Funktionär Karl Heinrich Bischoff übernommen und entsprechend umbenannt wurde. Als Teilhaber von Heinemann & Zsolnay, wo er auch für die Gestaltung der Buchumschläge zuständig war, war Zsolnay erneut bestrebt, ein internationales Programm aufzubauen; je nach Zielsprache erschienen unter Edition Heinemann & Zsolnay, Collezione Paul Zsolnay und vor allem unter Éditions Paul Zsolnay (mehr als 40 Titel) deutsche,499 italienische500 und französische501 Übersetzungen von Werken englischer und amerikanischer Autoren, aber auch deutsche Exilliteratur in französischer Übersetzung, etwa Werke von Franz Werfel (Les cieux perdus et regagnés, 1944; Avril en Octobre, 1946), Robert Neumann (L’enquête, 1946) oder Hans Habe (Kathrine, 1945). Die Absicht war, für diese mehrsprachige Produktion zunächst in der Schweiz einen Markt zu finden und nach Kriegsende
497 So bei Wiemann, S. 31 f. Tatsächlich wurden ‒ der Papierrationierung zum Trotz – bis September 1945 drei Auflagen mit 20.000 Exemplaren abgesetzt. 498 Siehe Hall: Der Paul Zsolnay Verlag, bes. S. 547‒550. Siehe außerdem Joos: Trustees for the public?, S. 182 f., sowie St. John: William Heinemann, S. 304 f. 499 Etwa Graham Greene: Die Kraft und die Herrlichkeit; Übersetzung von Veza Magd (d. i. Veza Canetti), 1947. 500 Nevil Shute: La carovana degli innocenti. (Collezione Paul Zsolnay, 5). Londra: Heinemann & Zsolnay 1945; John Steinbeck: Notte senza luna, 1944. 501 Graham Greene: La puissance et la gloire, 1944; Ernest Hemingway: Pour qui sonne le glas, 1944, u. a. m.
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wieder den gesamten deutschen Sprachraum zu beliefern; die Strategie erwies sich aber als verfehlt, weil im Krieg noch nicht einmal in die Schweiz ohne Hindernisse exportiert werden konnte.
Die Vereinigten Staaten von Amerika Der Buchmarkt in den Vereinigten Staaten war in den 1930er Jahren hochentwickelt, wenn auch unter deutlich anderen strukturellen Voraussetzungen als der Buchmarkt im deutschsprachigen Raum.502 Die wesentlichen Unterschiede (die entschiedene Marktund Ertragsorientierung, das Diktat der »salesmen«, das Fehlen der für den deutschen Buchhandel so charakteristischen »idealistischen« Motivationen, Verzicht auf ein langfristiges »Aufbauen« von Autoren etc.), die üblicherweise im Befund einer stärker fortgeschrittenen »Kommerzialisierung« des amerikanischen Marktes zusammengefasst werden, sind sowohl in der Exilforschung wie auch in der amerikanischen Buchhandelshistoriographie herausgearbeitet worden.503 Wenn es in der Forschung als eine Tatsache angesehen wird, dass nicht nur die exilierten deutschen Schriftsteller, sondern auch die vertriebenen Verleger »durchweg mit vagen oder falschen Vorstellungen in die USA«504 gekommen waren, so wirken die Karrieren zahlreicher Emigranten im amerikanischen Verlagsgeschäft umso erstaunlicher. Erfolgreich waren diese nicht allein in den Bereichen, in denen sie das in Deutschland und Österreich erworbene verlegerische Wissen anwenden konnten, sondern auch und gerade auf den Feldern des Verlagsbusiness, die als »typisch amerikanisch« angesehen werden müssen. Im folgenden Abschnitt werden aber neben diesen Erfolgen auch Beispiele von weniger geglückten Unternehmungen zur Sprache kommen, auch von schmerzhaften Lernprozessen, die das gesamte Spektrum von Erfahrungen, aber auch die gesamte Vielfalt der Handlungs- und Verhaltensoptionen der Verlegeremigranten aufzeigen. Vor diesem Hintergrund treten die vielfältigen Impulse, die von ihnen zur Weiterentwicklung der Verlagslandschaft in den USA ausgegangen sind, umso deutlicher hervor.505
502 Wenn die Titelproduktion im deutschen Buchhandel vor 1933 mehr als doppelt so hoch war wie in den Vereinigten Staaten, so beruhte dies auf dem branchen- und kulturpolitisch abgestützten Prinzip des »festen Ladenpreises«, der neben der außerordentlichen Dichte des Distributionssystems eine außerordentliche Vielfalt der Verlagsproduktion begünstigte. Dieses für den deutschen Buchhandel charakteristische Systemmerkmal fehlte in den Vereinigten Staaten. 503 Vgl. Koepke: Die Exilschriftsteller und der amerikanische Buchmarkt; sowie Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Vol. IV: The Great Change, 1940‒1980. – Die Problematik des amerikanischen Buchmarktes wird literarisch reflektiert in dem Roman von Oskar Maria Graf Flucht ins Mittelmäßige. In der Hauptfigur, dem Erzähler Martin Ling, spiegeln sich die Vorbehalte des Europäers gegenüber der typisch amerikanischen Vermarktung von Büchern (O. M. Graf: Flucht ins Mittelmäßige. Ein New Yorker Roman. Frankfurt a. M. 1985, bes. S. 152). 504 Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1411. 505 Vgl. auch die Übersichtsdarstellung bei Fischer: Die deutschsprachige Verlegeremigration in den USA.
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Von Albatross zur NAL: die Karriere Kurt Enochs Die herausragenden Qualitäten, die deutsche Verlegeremigranten in Kernzonen des amerikanischen Verlagsgeschäfts entwickelten, lassen sich am schlagendsten belegen an der Person Kurt Enochs* (1895 Hamburg – 1982 Puerto Rico).506 Zunächst als Leiter der Verlagsbuchhandlung seines Vaters tätig,507 hatte er 1932 zusammen mit John HolroydReece und einem britischen Geldgeber eine internationale Taschenbuchreihe ins Leben gerufen, die der englischsprachigen Paperback-Reihe »Edition Tauchnitz« Konkurrenz machen sollte: In dieser »Albatross Modern Continental Library«, deren Gestaltung Hans Mardersteig übertragen wurde, erschienen britische und amerikanische Titel als Paperback-Ausgaben für den Vertrieb ausschließlich in Kontinentaleuropa. Die niedrigpreisige Reihe führte mit ihrem typischen Format und durchdachten Designmerkmalen einen neuen Standard in der Taschenbuch-Gestaltung ein, den Allen Lane 1937 für seine Penguin Books in nahezu allen Aspekten – bis hin zum Seevogel-Signet – übernahm oder eigentlich plagiierte.508 Im August 1936 musste sich Enoch aufgrund seiner jüdischen Herkunft zur Emigration entschließen: Die Verlags- und Distributionsunternehmen in Hamburg wurden an den bisherigen Geschäftsführer von Albatross, Max Christian Wegner verkauft (der die Firma 1939 als Grossohaus Wegner ins Handelsregister eintragen ließ); mit dem Erlös finanzierte Enoch seine Übersiedlung nach Paris, wo er die Firma Continenta gründete, welche die Auslandsauslieferung der nach wie vor in Deutschland produzierten Albatross- und Tauchnitz-Editionen übernahm. Die Continenta und die später in London gegründeten Firmen Imperia Ltd. und Enoch Ltd. wurden erfolgreiche Export- und Verlagsunternehmen, so dass Enoch wirtschaftlich unabhängig von Albatross / Tauchnitz war.509 Der Beginn des Kriegs im September 1939 unterbrach jedoch diese Entwicklung; Enoch wurde in Frankreich für drei Monate interniert. Nach seiner Entlassung im Dezember lagen die Geschäfte fast völlig brach; mit Obelisk Press als Partner startete er ein neues Verlagsprojekt, Unicorn Press, doch diese Paperback-Reihe scheiterte, kaum dass der erste Band (John Steinbecks The Grapes of Wrath) erschienen war, an der deutschen Offensive im Sommer 1940. Enoch wurde verpflichtet, als »Prestataire« in der französischen Armee zu dienen, schlug sich in den Süden Frankreichs durch und konnte mit Hilfe des Emergency Rescue Commitee ein Visum für die USA erlangen; er verkaufte seine Anteile an der Continenta an den bisherigen Geschäftsführer Jean Louis Bricaire, und im Oktober 1940 gelang es ihm schließlich unter großen Schwierigkeiten,
506 Zur Biographie: Memoirs of Kurt Enoch; Jaeger: Kurt Enoch (1895–1982) und der Gebrüder-Enoch-Verlag (1913–1936; Jaeger: Kurt Enoch; Arbeitsunterlagen von Roland Jaeger in HABV / DNB; Bbl. (Ffm) v. 23. Februar 1982, S. 436; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1435 f.; Graham: Kurt Enoch: Paperback Pioneer. 507 Im Hamburger Gebr. Enoch Verlag erschienen u. a. Werke von Hans Leip oder Ernst Glaeser sowie Klaus Manns gesamte literarische Produktion vor 1933. 508 Genaueres dazu und zur Frühgeschichte des modernen Taschenbuchs in: Buchgestaltung im Exil 1933‒1950, S. 67‒86, sowie in diesem Band im Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 509 Nach: Memoirs of Kurt Enoch. Written for His Family. Privately Printed by His Wife, Margaret M. Enoch. New York 1984 (Privatdruck).
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mit seiner Familie Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal in die USA einzureisen. In den USA suchte Enoch den Kontakt zu emigrierten Verlegerkollegen wie Eric Proskauer und Kurt Wolff und gründete mit Henry Koppell als Teilhaber die Enoch Publishing Company. Noch in Paris geknüpfte Verbindungen zum Gründer und Direktor der Penguin Books Ltd., Allen Lane, verhalfen ihm ein Jahr später zur Position des Vizepräsidenten der 1939 errichteten US-Importfiliale von Penguin. Durch den Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 wurde die Einfuhr der britischen Bücher nach Amerika sehr erschwert, so dass die US-Filiale von Penguin in einen eigenständigen Verlag umgewandelt werden musste; im Mai 1945 wurde Enoch mit dem Erwerb eines 40 %-Anteils Mitinhaber und Präsident dieser Firma. Meinungsverschiedenheiten mit Lane über die Fortführung des Unternehmens führten zu einem Bruch mit Penguin; Enoch, seit 1947 US-amerikanischer Staatsbürger, und sein Partner Victor Weybright erwarben im Januar 1948 die restlichen Anteile an dem Unternehmen und benannten es um in New American Library of World Literature Inc. (NAL), die zu einem der ersten großen Taschenbuchverlage der USA werden sollte. Enoch gewann in der Folge als president und general manager der außerordentlich erfolgreichen NAL beträchtlichen Einfluss auf das amerikanische Paperback publishing. Seit 1948 erschienen unter zwei, später drei Imprints (»Signet« und »Mentor« sowie »Key«) Reihen von »quality paperbacks«, mit denen ein neuer Markt eröffnet wurde. Das Besondere an diesem Taschenbuch-Typus war, dass er auch solchen Autoren ein Massenpublikum eroberte, die bis dahin wesentlich exklusiveren Zielgruppen vorbehalten schienen, sogar James Joyce. Insgesamt waren es sechs Gewinner des Literaturnobelpreises, die bei NAL erschienen: Faulkner, Maeterlinck, Thomas Mann, O’Neill, Bertrand Russell und Bernard Shaw, daneben auch zahlreiche Gewinner des PulitzerPreises für Fiction. Neben führenden oder neu hervortretenden amerikanischen Autoren wie Truman Capote oder Norman Mailer wurden auch zahlreiche erstklassige europäische Autoren einem größeren Publikum vorgestellt, Alberto Moravia oder Carlo Levi, auch Arthur Koestler; ein »little magazine« des Verlags wurde ein wichtiger Publikationsort für neue amerikanische Literatur. Die Taschenbücher kamen in hervorragendem Druck und ebenso sorgfältigem Cover-Design heraus, zu erstaunlich niedrigen Preisen; das Motto des Unternehmens lautete denn auch: »Good reading for the Millions«.510 Ein anderer Wahlspruch Enochs war: »Good literature pays«, und wirklich erreichten nicht wenige Titel geradezu märchenhafte Verkaufszahlen. So wurden von den Romanen und Erzählungen von Erskine Caldwell 18 Millionen Exemplare verkauft (d. h. alle bei NAL erschienenen Titel Caldwells zusammengerechnet, allein von God’s little Acre waren es fünf Millionen). Auch von Titeln, die als reine Intellektuellenlektüre gelten mussten, verkaufte der Verlag bis zu einer Million Exemplare. Die Bücher der NAL spielten aufgrund der Kombination von literarischem Niveau und Preisgünstigkeit auch in Schulunterricht und Erwachsenenbildung in den USA eine bedeutende Rolle; das Unternehmen dehnte sich nach und nach auf andere Länder und Kontinente aus, nach Indien, Pakistan und Ceylon. Enoch wurde als Propagator dieses »quality paperback« persönlich mit diesem Erfolg identifiziert. In den 1950er und 1960er Jahren galt er als 510 Siehe dazu Kurt Enoch: The paper-bound book: Twentieth century publishing phenomenon. In: The Library Quarterly, Vol. XXIV, July 1954, Nr. 3, S. 211‒225.
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einer der »social philosophers of the paperback business«, wobei seine Philosophie darauf hinauslief, aus dem Buch ein echtes Massenmedium zu machen. John Tebbel hat in seiner Geschichte des amerikanischen Buchverlags Kurt Enoch bescheinigt, »a lasting impression on American publishing« ausgeübt zu haben.511 1960 wurde die florierende NAL an die Times-Mirror Company, Los Angeles, verkauft, zu deren »Architekten« Enoch gezählt wird; er blieb denn auch innerhalb dieses Konzerns bis 1968 der New American Library als Geschäftsführer und Mitglied des Aufsichtsrates verbunden.512 Auch noch im Rentenalter war Enoch mit ungebrochener Energie an vielen kulturellen Einrichtungen der USA unterstützend tätig und gehörte seit 1968 dem Rat des National Book Committee an; in seinem Haus in Woodstock in den Catskills waren die Größen des angloamerikanischen Bookbusiness zu Gast, zu seinen Nachbarn im Apartmenthouse in der Upper Eastside zählten Richard Nixon und Nelson Rockefeller. Enochs verlegerische Laufbahn demonstriert eindrucksvoll, wie sich das europäische Konzept der »Tauchnitz-« und »Albatross-Reihen« als grundlegend für das englisch-amerikanische System des Taschenbuchs erwiesen hat, das nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg zurück nach Deutschland gefunden hat.
Henry Koppell und die Alliance Book Corporation Ein weiteres Beispiel für eine beachtenswerte Anpassungsleistung, ein Beispiel auch für den Übergang von (illusionären) Exilverlagspositionen zu realistischer Markteinschätzung, gibt Henry G. Koppell* (1895 Berlin – 1964 New York).513 Koppell war, damals noch als Heinz Günther Koppel, am Beginn der 1920er Jahre in Berlin an der Gründung der Deutschen Buch-Gemeinschaft beteiligt gewesen, einem der erfolgreichsten Buchklubs der Weimarer Zeit. In diesem wie in der zugehörigen Druckerei Seydel (ebenfalls Berlin) war er als Geschäftsführer und Teilhaber tätig, bis er sich 1932 auf eine Weltreise begab. Auf eine Rückkehr in das inzwischen nationalsozialistische Deutschland verzichtete er und ließ sich in Palästina nieder, wo er an einer englischsprachigen Zeitung mitarbeitete. 1936 ging er in die USA und gründete dort 1938 die Alliance Book Corporation (New York & Toronto), mit der er eine mehrfache Absicht verfolgte: Zum einen sollte das Unternehmen für Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer zusätzliche Absatzmöglichkeiten in Amerika schaffen, indem es als Exklusivauslieferung für deren Produktion fungierte und außerdem ausgewählte, für den US-Markt vielversprechende Titel, in Rohbogen geliefert und mit neuem Titelblatt versehen, unter dem Imprint der Alliance Book Corporation zeitgleich mit den europäischen Originalausgaben in den USA auf den Markt brachte; zum andern sollte ein Buchklub angeschlossen werden,514 und drittens war auch an die Publikation von Werken deutschsprachiger Exilautoren in
511 Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Vol. IV, S. 6. 512 Hierzu: Bonn: Uneasy Lie the Heads: New American Library in Transition. 513 Zur Biographie siehe u. a. Henry G. Koppell Is Dead at 69. Publisher of Foreign Writers. In: The New York Times, 6 Dec. 1964; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1409‒1445, S. 1411 f.; Fritz H. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 124‒130 u. 154; Nawrocka: Verlagssitz, S. 115–120. 514 Vgl. hierzu auch die Kap. 6.4 Buchgemeinschaften und 6.1 Distributionsstrukturen.
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amerikanischer Übersetzung gedacht.515 Anfang November 1938 erschien eine Anzeige in der New Yorker Emigrantenzeitschrift Aufbau, in der sich das neugegründete Unternehmen »an alle Kreise [wandte], die sich das Interesse für das deutschsprachige Buch von Rang bewahrt haben«.516 Angekündigt wurde dort ein erstes Programm, das sich mit neuen Titeln von Thomas und Heinrich Mann, Stefan und Arnold Zweig, Emil Ludwig, Ödön von Horvath oder des Historikers Veit Valentin durchaus sehen lassen konnte: »Da einflussreiche amerikanische Persönlichkeiten und Vereinigungen dem Beginnen der ›Alliance Book Corporation‹ rege Unterstützung angedeihen lassen, hegt die Firma die Zuversicht, dass sie auch bei deutschsprachigen Organisationen von fortschrittlicher Gesamthaltung förderndes Verständnis finden werde«. Diese Zuversicht erwies sich als unbegründet: Obwohl der Unternehmensstart im Herbst 1938 gemeinsam mit Fritz Landshoff akribisch vorbereitet worden war und ein enormer Marketing-Aufwand betrieben wurde, mussten zwei dieser drei Linien – der Vertrieb der Produktion der Exilverlage in Originalausgaben oder Imprints sowie der Buchklub – rasch wieder aufgegeben werden; es gab einfach zu wenig Nachfrage nach deutschsprachigen Büchern in den USA – oder vielmehr sogar einen Boykott.517 Zudem wuchs die Unzufriedenheit aller Beteiligten mit der Konstruktion dieser Firma und ihren Leistungen im Laufe des Jahres 1939. Die Bücher der Alliance Book Corporation erschienen überwiegend mit der doppelten Verlagsangabe »New York: Longmans, Green & Co./Alliance Book Corp.«, einzelne (wie Gumpert: Dunant) aber auch nur mit der Angabe »Longmans, Green & Co.«. Daneben gab es auch Koproduktionen mit anderen Verlagen, wie etwa Modern Age Books bei Büchern von Konrad Heiden oder Martin Gumpert (Heil Hunger). In weiterer Folge aber brachte die Alliance Book Corporation Bücher von exilierten Autoren in amerikanischsprachigen Übersetzungen heraus und hatte mit Werken Hermann Rauschnings, Hermann Kestens und Emil Ludwigs deutlich größeren Erfolg,518 den allergrößten Erfolg aber 1941 mit Jan Valtins Out of the Night, mit mehreren hunderttausend verkauften Exemplaren und zahlreichen Übersetzungen ein absoluter Bestseller.519 Jedoch veräußerte Koppell, der sich auch an der Gründung der Enoch Publishing Company von Kurt Enoch beteiligt hatte, bereits 1942 seine Firma an den amerikanischen Verlag Ziff-Davis und gründete 1945 einen neuen Verlag The Readers Press, in welchem er im Jahr darauf erneut ein Buch Valtins (eig. Richard Krebs) herausbrachte, Children of Yesterday, das aber keinen vergleichbaren Erfolg errang. The Readers Press bestand nur etwa vier Jahre; seit 1955 betätigte sich Koppell im Reisebusiness mit einer Alliance Travel Corporation, seit 1960 (bis zu seinem Tod 1964) mit einer auf Studentenreisen nach Europa spezialisierten Universal Travel Corporation.520 515 Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 434‒437. 516 Aufbau, 4. Jg., Nr. 12 vom 1. November 1938, S. 2. 517 Die schwache Resonanz hatte auch einen zeitaktuellen Grund: »Dazu kam, dass deutschsprachige Bücher nach dem Novemberpogrom in Deutschland boykottiert wurden, wovon nicht nur Bücher aus reichsdeutschen Verlagen, sondern auch die der Exilverlage betroffen waren«. Nawrocka: Kooperationen, S. 70. 518 Siehe dazu auch Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 129. 519 Zum Erfolg von Valtins Buch siehe auch Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 187‒189. 520 Henry G. Koppell Is Dead at 69.
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Publikationen der Alliance Book Corporation 1938‒1942 1938: Thomas Mann: Achtung, Europa! Aufsätze zur Zeit; Thomas Mann: Dieser Friede; Ödön von Horvath: Ein Kind unserer Zeit. Roman; Emil Ludwig: Quartett. Ein unzeitgemäßer Roman; Guido Zernatto: Die Wahrheit über Österreich (5. u. 6. Aufl. 1939); Arnold Zweig: Versunkene Tage. Roman aus dem Jahre 1908; Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre (Druck: Thieme, NL); Martin Gumpert: Dunant. Ein Roman des Roten Kreuzes; Franz Körmendi: Der Irrtum; Edgar Alexander: Deutsches Brevier. Politisches Lesebuch (ursprgl. Europa Verlag); Ignazio Silone: Schule der Diktatoren (ursprgl. Europa Verlag); 1939: Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens. Roman (Ausstattung: H. Friedländer), seitenidentisch mit Stockholm: Bermann-Fischer; Amsterdam: Allert de Lange; Veit Valentin: Weltgeschichte. Völker, Männer, Ideen. (Ausstattung H. Friedländer), 2 Bde.; [Ende der deutschsprachigen Ausgaben] Konrad Heiden: The new inquisition; Georg Kaiser: Vera; Hermann Kesten: The children of Guernica; Emil Ludwig: Quartet. 2. print; Norbert Muhlen: Schacht. Hitlers Magician; Hermann Rauschning: The revolution of nihilism. Warning to the West. 3. Aufl./ 7. print (17. print 1940); Anna Maria Selinko: Tomorrow is another day. A novel; Fritz Sternberg: From Nazi sources. Why Hitler can’t win; 1940: Raoul Auernheimer: Prince Metternich, statesman and lover (dt.: Wien 1947); George Franckenstein: Diplomat of Destiny; Gert von Gontard: In defense of love. A protest against »soul surgery«; Hermann Kesten: I the king; Irmgard Litten: Beyond tears; Emil Ludwig: Three portraits: Hitler, Mussolini, Stalin. 2. print; Martin Gumpert: Heil Hunger! Health under Hitler; 1941: Hermann Rauschning: The redemption of democracy. The coming Atlantic empire; Tibor Koeves: Satan in top hat. The biography of Franz von Papen; Karl Robert (Ps.): Hitler’s counterfeit Reich. Behind the scenes of Nazi economy, 2. Aufl.;
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Jan Valtin: Out of the night; I am an American. By famous naturalized Americans (Design: Stefan Salter); Martin Niemöller: »God is my Fuehrer«. Being the last twenty-eight sermons. With a preface by Thomas Mann (gemeinsam mit der Philosophical Library); H. G. Wells: All aboard for Ararat (Design and ill. by George Salter); 1942: Emil Ludwig: Bolivar. The life of an idealist. 1942, 2. Aufl. 1942; Jan Valtin (d. i. Richard Krebs): Bend in the river.
Friedrich Krause als Verleger Eine Episode blieben auch die verlegerischen Bemühungen des ebenfalls im Importbuchhandel tätigen Friedrich Krause. Krause, der aus Leipzig zunächst nach Österreich und dann in die Schweiz emigriert war, wo er für die Verlage Emil Oprechts als Lektor gearbeitet,521 aber auch Anteile am Europa Verlag erworben hatte, fungierte in einer im November 1938 von Oprecht errichteten Tochterfirma in New York als Repräsentant der Verlage Oprecht & Helbling sowie des Europa Verlags, aber auch noch anderer Exilverlage.522 In diesem Jahr 1938 hatte Oprecht & Helbling mit dem New Yorker Verlag Farrar & Rinehart die erste Koproduktion eines modernen deutschsprachigen Romans in Amerika herausgebracht, Walter Schönstedts Das Lob des Lebens. Aber dabei blieb es nicht: Die Existenz dieser Filiale sollte sich für Emil Oprecht schon kurz darauf als sehr vorteilhaft erweisen. Zum einen wurden die USA nach 1939/40 zum Hauptimmigrationsland der Flüchtlinge, zum gleichen Zeitpunkt also, da das freie deutschsprachige Gebiet ausserhalb des Dritten Reiches immer mehr zusammenschrumpfte. Zum andern konnten nach Kriegsausbruch in einigen Fällen die Bedenken der schweizerischen Buchüberwachungsstellen dadurch zerstreut werden, dass Oprecht neutralitätspolitisch »heikle« Bücher im Europa Verlag New York erscheinen ließ.523 Zwischen 1938 und 1945 erschienen so, unter der Aufsicht Krauses, noch eine ganze Anzahl von Oprecht- bzw. Europa-Verlagspublikationen mit dem Verlagsort »New York / Zürich« im Impressum. 521 In einem vor New Yorker Lehrern gehaltenen Vortrag nahm Krause für sich in Anspruch, als Oprecht-Lektor zwischen 1933 und 1938 rund tausend Manuskripte exilierter Autoren geprüft und 150 davon zum Druck gebracht zu haben. Dies geht aus einem Artikel zum 10Jahresjubiläum der »Zentrale freier deutscher Literatur« hervor, in der es auch heißt, dass »deren politische, psychologische und literarische Bedeutung erst voll gewürdigt werden kann, wenn die Hitlerei vernichtet ist«. (10 Jahre Zentrale freier deutscher Literatur. In: Aufbau – Reconstruction, 9. Jg., Nr. 50 vom 10. Dezember 1943, S. 16. Die »10 Jahre« beziehen sich auf das Gründungsdatum des Europa Verlags; in New York bestand die »Zentrale« erst seit fünf Jahren, seit 16. Dezember 1938). 522 Zu Krauses Rolle als Buchimporteur siehe das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. 523 Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 115.
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Krause betätigte sich mit seiner »Zentrale freier deutscher Bücher« weiterhin erfolgreich als Distributor für Exilverlage, gründete aber noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs in New York einen eigenen Verlag: Seit 1944 brachte er im Verlag Friedrich Krause Bücher heraus, an denen als Autor, Herausgeber oder Illustrator deutschsprachige Exilanten beteiligt waren, beginnend bei dem von Kurt Juhn bearbeiteten Hexenhammer. Die mittelalterliche Historie von der Folterung des Medicus Johann Weyer mit Originallithographien von Erich Godal und Oscar Meyers Von Bismarck zu Hitler. Erinnerungen und Betrachtungen, 1945 fortgesetzt mit einem von Alfred Rosenthal von Grotthus zusammengestellten Band Kein dritter Weltkrieg. Die Kunst des Staatsmannes in der bevorstehenden Friedensepoche unter Berücksichtigung der übereinstimmenden Weisheitssprüche von Goethe, Emerson, Nietzsche,524 Walter H. Perls Thomas Mann 1933‒1945. Vom deutschen Humanisten zum Weltbürger und einer Erzählung des aus Prag emigrierten Johannes Urzidil (Der Trauermantel. Eine Erzählung aus Stifters Jugend). Ebenfalls 1945 kam mit den Lebenserinnerungen des 1938 aus Deutschland emigrierten Kunst- und Kulturkritikers Max Osborn Der bunte Spiegel. Erinnerungen aus dem Kunst-, Kultur- und Geistesleben der Jahre 1890 bis 1933 ein heute noch sehr lesenswertes Buch heraus.525 1945/1946 rief Krause eine Reihe mit dem sprechenden Namen »Dokumente des anderen Deutschland« ins Leben, in der von Karl O. Paetel verfasste oder herausgegebene Schriften (Ernst Jünger, die Wandlung eines deutschen Dichters und Patrioten; Deutsche Innere Emigration526), aber auch Carl Goerdelers Politisches Testament sowie Neue deutsche Gedichte von Hellmut Lehmann-Haupt erschienen. Krauses verlegerische Tätigkeit blieb damit auf die Jahre 1944 bis 1946 und auf zehn Titel begrenzt.
Pantheon Books, New York Der amerikanische Buchhandelshistoriker John Tebbel hat einen Wirkungsaspekt der deutschen Verlegeremigration in besonderer Weise hervorgehoben: »publishing [in den USA] was given a cultural infusion as more and more exiled European publishers put down American roots in New York and elsewhere«.527 In der Tat gab es eine Reihe von Exilanten, die ein charakteristisch europäisches Verständnis von der Aufgabe des Verlegers eingebracht haben, kaum jemand aber repräsentierte diese »cultural infusion« besser als Kurt Wolff* (1887 Bonn – 1963 Ludwigsburg).528 Wolff, um 1910 als »der« Verleger des deut-
524 Krause selbst hatte in seinen in der Schweiz verbrachten Jahren zu den Gründern der Europa-Union gehört und sich späterhin auch für die Schaffung einer Weltfriedensorganisation eingesetzt. 525 »mit einem Brief an den Verfasser von Thomas Mann«. Das autobiographische Werk wurde 2013 neu aufgelegt von der Edition Memoria, Hürth bei Köln. 526 Deutsche innere Emigration. Anti-nationalsozialistische Zeugnisse aus Deutschland. Mit Original-Beiträgen von Carl Zuckmayer und Dorothy Thompson. Gesammelt und erläutert von Karl O. Paetel. New York: Krause 1946. 527 Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Vol. IV, S. 43. 528 Zu Kurt Wolff als Verleger siehe u. a. Göbel: Der Kurt Wolff Verlag 1913‒1930; Kurt Wolff / Ernst Rowohlt. Verleger; Müller / Schuyler: Kurt Wolff im amerikanischen Exil; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1423, 1426‒
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schen Expressionismus hervorgetreten, hatte um 1930 seine Verlage, den Kurt WolffVerlag und den 1924 in Florenz gegründeten internationalen Kunstverlag Pantheon Casa Editrice S.A. aufgegeben bzw. an seinen (Ex-)Schwager Peter Reinhold verkauft; er selbst war nach längeren Reisen in Frankreich und England im März 1933 definitiv emigriert. Mit seiner zweiten Frau Helene geb. Mosel (Heirat im März 1933 in London) lebte er seit Herbst 1933 in der Nähe von Nizza, seit 1935 auf einem kleinen Landsitz in Florenz, 1938 wieder in Nizza und seit Mai 1939 schließlich in Paris. Nach Kriegsausbruch in zweimaliger Internierungshaft, gelang Wolff mit seiner Familie im März 1941 die Flucht über Spanien und Portugal in die USA. In New York gründete Wolff im Februar 1942 zusammen mit Helene und dem als Mitfinancier529 beteiligten Freund aus Münchener Zeit Curt von Faber du Faur* (1890 Stuttgart – 1966 New Haven, Mass.)530 sowie dessen Stiefsohn Kyrill Schabert* (1909 Hamburg – 1983 Manhattan, New York)531 den Verlag Pantheon Books Inc.; Wolff agierte als Verlagsleiter (»general manager«) und arbeitete dabei eng mit Wolfgang Sauerländer*532 sowie mit dem aus dem besetzten Frankreich geflüchteten russisch-französischen
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1428; Kurt Wolff. Ein Literat und Gentleman; Edelman: Kurt Wolff and Jacques Schiffrin. – Als weitere Quellen die von Kurt Wolff verfassten Werke: Autoren, Bücher, Abenteuer; Briefwechsel eines Verlegers 1911‒1963. Faber du Faur steuerte die Hälfte des Gründungskapitals von 16.000 Dollar bei. An der Gründung beteiligt waren auch Gerald Neisser und George Merck. Curt von Faber du Faur hatte 1923 in München gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Georg Karl das Kunst- und Literaturantiquariat Karl & Faber gegründet, das sich bald auf Auktionen spezialisierte. 1939 schied er aus der Firma aus und emigrierte in die USA, wobei es ihm gelang, seine umfangreiche bibliophile Sammlung mitzunehmen. Er lehrte an den Universitäten Harvard und Yale, letzterer verkaufte er seine 7.000 Bände umfassende Barocksammlung. 1949 gab er bei Pantheon gemeinsam mit Kurt Wolff Tausend Jahre deutscher Dichtung heraus. Schaberts Mutter Emma war verheiratet mit Curt von Faber du Faur, mit dem sie 1939 in die USA emigriert war. Kyrill Schabert figurierte nominell als Direktor und Verkaufsleiter von Pantheon Books, weil Kurt Wolff selbst, aus einem Feindstaat stammend, handelsrechtlich gewissen Beschränkungen unterworfen war. Ab 1971 war Schabert an der von ihm mitbegründeten literarischen Agentur und Beratungsfirma Moseley Associates beteiligt, außerdem war er Vorstandsmitglied des American Book Publishers Council. Siehe Kyrill S. Schabert, 74, Dead, Ex-Head of Pantheon Books. In: The New York Times, April 10 1983 [online]; Edelman: Kurt Wolff and Jacques Schiffrin, S. 188, 193 f. Wolfgang Sauerländer war 1939 gemeinsam mit dem Maler Josef Scharl zum Besuch der Weltausstellung nach New York gekommen und beschloss – gegen das NS-Regime eingestellt –, in den USA zu bleiben. Zunächst war er ehrenamtlich in der American Guild for German Cultural Freedom tätig, bewarb sich dann aber 1942 bei Kurt Wolff, mit dem er schon aus Deutschland her bekannt war, und wurde der erste Mitarbeiter in dessen New York Neugründung. Seinem Freund Scharl verhalf Sauerländer dann zu seinem wichtigsten Auftrag, den Illustrationen für die Märchen der Brüder Grimm, erschienen 1944 bei Pantheon Books. Sauerländer blieb bei Pantheon bis zur Übernahme durch Random House 1961; danach wechselte er zur Bollingen Foundation, deren Publikationen (die von Pantheon distribuiert wurden) er betreute. Dazu William McGuire: Bollingen: an adventure in collecting the past. Princeton, NJ: Princeton University Press 1982, bes. S. 61, 236; Deutsche Intellektuelle im Exil, bes. S. 404; Edelman: Kurt Wolff and Jacques Schiffrin, S. 188, 193 f.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l Emigranten Jacques Schiffrin* (1892 Baku, Russland – 1950 New York)533 zusammen, der als Partner eine Reihe französischer Bücher in das Pantheon-Programm brachte, die als Imprint »edited by Jacques Schiffrin« hatten; u. a. erschien 1942 eine Gedichtsammlung von Louis Aragon, gefolgt von einem Buch des mit Schiffrin befreundeten André Gide. Darüber hinaus war Schiffrin für die Ausstattung und Herstellung aller Pantheon-Bücher verantwortlich. Nach dessen überraschendem Tod 1950 trat Sauerländer in diese Funktion ein. Über die räumlich bescheidenen Anfänge des Verlags berichtete später Jacques Schiffrins Sohn André:
Abb. 17: Die europäische Ausrichtung des Pantheon-Buchprogramms dokumentiert sich u. a. in der zweisprachigen Ausgabe (1943) von Péguys Versund Prosaarbeiten, in kompetenter Übersetzung und einem Buchdesign von Stefan Salter.
Die Büroräume des Verlags am Washington Square bildeten für die Emigranten in New York eine Oase der Glückseligkeit, stilvoll in einer der prachtvollen Stadtvillen untergebracht, die früher die Südseite des Parks begrenzten. Hier zerbrach sich ein kleiner Zirkel von Emigranten eifrig den Kopf darüber, welche Facetten des Kulturlebens Europas für die neuen Nachbarn in Amerika von Interesse sein könnten.534 Tatsächlich war die Idee zur Verlagsgründung Wolff in den Leseräumen der New Yorker Bibliotheken gekommen, in denen er feststellte, dass viele »Klassiker« der europäischen Literatur in Amerika nicht bekannt waren. Diese Beobachtung und das Bestreben, zeitgenössische
533 Jacques Schiffrin, nach 1918 aus Russland emigriert, hatte nach seinem Studium der Rechte an der Universität Genf 1923 in Paris den Verlag Les Editions de la Pléiade J. Schiffrin & Co. gegründet und hier die Reihe »Auteurs Classiques Russes« und die in den 1930er Jahren berühmte Sammlung »La Pléiade« veröffentlicht, die Werke der Weltliteratur in hervorragender Ausstattung preiswert auf den Markt brachte. Im Verlag Gallimard fand Schiffrin 1936 einen finanzstarken Geschäftspartner. 1939 wurde er in die französische Armee eingezogen und stand nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen auf jener Liste von Personen, die aus dem kulturellen Leben Frankreichs auszugrenzen seien. Am 20. August 1940 von Gallimard fristlos entlassen, flüchtete Schiffrin mit Hilfe Varian Frys nach Casablanca und von dort über Lissabon nach New York. Dort veröffentlichte er mit geborgtem Geld in seinem Verlag Jacques Schiffrin & Cie. eine Reihe von Schriften der französischen Résistance, doch sah er in einer Kooperation größere Möglichkeiten: Kurz nach der Gründung von Pantheon Books schloss er sich dem Verlag von Kurt Wolff an. 534 André Schiffrin: Verlage ohne Verleger, S. 18 f. – Helen Wolff erinnerte sich an diese Anfänge in ähnlicher Weise: »Our office was in the living room, and we did everything there, including the shipping […]«. Zit. n. Blattmann: »Welch eine Verlegerin! Wo hat es das jemals gegeben…«, S. 229.
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Autoren in ihrer Arbeit und Aufgabe zu unterstützen, waren dann die Hauptmotive für ihn, noch einmal eine Verlegerkarriere zu starten. In den hier besonders interessierenden Kriegsjahren erschienen bei Pantheon Books an die 50 Titel, bis 1950 rund 90. Das Verlagsprogramm dieser Jahre weist kaum einen Titel auf, der einen Seitenblick auf Absatzspekulationen verrät; jede einzelne Publikation war getragen vom Bestreben nach Vermittlung von literarischen Positionen, die in den USA noch nicht vertreten waren, oder gedacht als ein Beitrag zur Lösung wesentlicher Fragen der Menschheit oder der geistigen Probleme der Zeit, allerdings unter Ausschluss der Tagespolitik. Ein Verlagsprospekt brachte 1943 die generelle Linie auf die Formel »Classics that are modern, Moderns that are Classics«.535 Publikationen von Pantheon Books 1942‒1950 (93 Titel;536 davon 45 bis 1945) 1942: Frans Masereel: Danse macabre; 1943: Louis Aragon: Le crève-coeur; Jacob Burckhardt: Force and freedom. Reflections on history; Paul Claudel: Coronal (Text engl. u. frz.); Charles de Coster: The glorious adventures of Tyl Ulenspiegl. Illustrations with 100 woodcuts by the authorʼs compatriot Frans Masereel; Gustav Theodor Fechner: Religion of a scientist. Selections; Stefan George: Poems. Rendered into English by Carol North Valhope and Ernst Morwitz; André Gide: Interview imaginaires. La deliverance de Tunis. Pages de journal, Mai 1943; Erich von Kahler: Man, the measure. A new approach to history; Jeff King: Where the two came to their father. A Navaho war ceremonial; Aristide Maillol: The woodcuts, a complete catalogue with 176 illustrations; John Ulric Nef: The universities look for unity. An essay on the responsibilities of the mind to civilization in war and peace; Camille Pissarro: Letters to his son Lucien; Charles Péguy: Basic verities. Prose and poetry. Rendered into English by Anne and Julian Green (zweispr. frz.‒engl.); Vercors: Les silences de la mer; 1944: The adventures of Baron Munchhausen. 160 illustrations by Gustave Doré; Louis Aragon: Les yeux d’Elsa;
535 Zit. n. Müller / Schuyler: Kurt Wolff im amerikanischen Exil, S. 1672. 536 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
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Georges Bernanos: Plea for liberty. Letters to the English, the Americans, the Europeans; Johann Amos Comenius: The angel of peace; Edgar Degas: Works in sculpture. A complete catalogue, with 112 plates; André Gide: Pages de journal 1939‒1942; Joseph Kessel: L’année des ombres. Chronique de la résistance; Charles Péguy: Men and saints. Prose and poetry. Rendered into English by Anne and Julian Green (zweisprachig: Frz.‒Engl.); Honoré Daumier: Law and justice. Twenty-four lithographs; Grimm’s fairy tales, with 212 illustrations by Josef Scharl; Plato: The Timaeus and The Critias or Atlanticus (The Bollingen series, 2a); Denis de Rougement: The devil’s share (The Bollingen series, 2); Lev Tolstoj: What men live by. Russian stories and legends. Illustrations by Alexander Alexeieff; Voltaire: Candide, with twenty-six illustrations by Paul Klee; 1945: Artists on art. From the 14th to the 20th century. Compiled and ed. by Robert Goldwater and Marco Treves; Hermann Broch: Der Tod des Vergil; Hermann Broch: The death of Virgil; Honoré Daumier: Hunting and fishing. Twenty-four lithographs; Jean Honoré Fragonard: Drawings for Ariosto, with essays; Constantin Guys: Femmes Parisiennes (mit Text von Baudelaire); Kuang, Ju-ssu: Chinese wit, wisdom, and written characters, by Rose Quong; Felix Mendelssohn-Bartholdy: Letters. Ed. by G. Selden-Goth; Charles Péguy: God speaks. A religious poetry. Transl. and introd. by Julian Green; Paul Radin: The road of life and death. A ritual drama of the American Indians; (The Bollingen series, 5); Max Raphael: Prehistoric cave paintings; Read, Herbert Edward: Education through art; Riddles around the world. Collected by Otto Zoff, illustrations by Fritz Kredel; Russian fairy tales. Transl. by Norbert Guterman, commentary by Roman Jakobson, illustr. by A. Alexeieff; William Shakespeare: Hamlet. Éd. bilingue. Traduction nouvelle de André Gide; Adalbert Stifter: Rock crystal. A Christmas tale. Illustrations by Josef Scharl; 1946: Ludwig Bachhofer: A short history of Chinese art; Georges Bernanos: Joy; Albert Camus: L’étranger (French Pantheon books, 9); Herbert Friedmann: The symbolic goldfinch. Its history and significance in European devotional art; André Gide: Thésée (French Pantheon books, 7); Lost treasures of Europe. 427 photographs. Ed. by Henry Lafarge;
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Picasso: 15 drawings; Robert Schumann: On music and musicians, ed. by Konrad Wolff; Gustav Schwab: Gods & heroes. Myths and epics of ancient Greece (Transl. from the German text and its Greek sources by Olga Marx and Ernst Morwitz, introd. by Werner Jaeger); Heinrich Zimmer: Myths and symbols in Indian art and civilization (The Bollingen series, 6); 1947: Hermann Broch: The sleepwalkers. A trilogy; Jan-Albert Goris, Julius S. Held: Rubens in America; Mary Esther Harding: Psychic energy, its source and goal (The Bollingen series, 10); Jean-Auguste-Dominique Ingres: 24 drawings (Mappe); Walter Lowrie: Art in the early church. 500 illustrations; Eduard Mörike: Mozart on the way to Prague. Illustrations by Eliane Bonabel; Charles Ferdinand Ramuz: When the mountain fell; Max Raphael: Prehistoric pottery and civilization in Egypt (The Bollingen series, 8); Fred Stein: 5th Avenue. 100 photographs; 1948: Rachel Bespaloff: On the Iliad. Translated from the French by Mary McCarthy, introd. by Hermann Broch (The Bollingen series, 9); James Henry Breasted: Egyptian servant statues (The Bollingen series, 13); The limits of art. Poetry and prose by ancient and modern critics. Collected by Huntington Cairns (The Bollingen series, 12); Zoé Oldenbourg: The world is not enough. A novel; Walter Pach: The art museum in America; Charles Ferdinand Ramuz: What is man; Cyril Edward Robinson: Hellas. A short story of ancient Greece; Kurt Seligmann: The history of magic, with 250 illustrations; Heinrich Zimmer: The king and the corpse. Tales of the soul’s conquest of evil (The Bollingen series, 11); Corpus of ancient Near Eastern seals in North American collections, 1: The collection of the Pierpont Morgan Library / catalogued and ed. by Edith Porada (The Bollingen series, 14); 1949: Richard Palmer Blackmur: Lectures in criticism; Jacob Burckhardt: The age of Constantine the Great; Joseph Campbell: The hero with a thousand faces; Johann Wolfgang Goethe: Wisdom and experience. Selections by Ludwig Curtius. Transl. and ed., with an introd. by Hermann J. Weigand; C. G. Jung, Karl Kerényi: Essays on a science of mythology. The myth of the divine child and the mysteries of Eleusis (The Bollingen series, 22); Longus: Daphnis and Chloe. Woodcuts by Aristide Maillol;
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Emile Mâle: Religious art from the twelfth to the eighteenth century; André Malraux: The Psychology of art, 1: Museum without walls (The Bollingen series, 24,1); André Malraux: The Psychology of art, 2: The creative Act. Transl. by Stuart Gilbert (The Bollingen series, 24,2); Saint-John Perse: Exile and other poems (Bollingen series, 15, zweispr.); Tausend Jahre Deutscher Dichtung, ed. by Curt von Faber du Faur and Kurt Wolff; 1950: Francesco Colonna: The dream of Polifilo. Related and interpr. by Linda Fierz- David (The Bollingen series, 25); Theodor Haecker: Journal in the night; The hieroglyphics of Horapollo (The Bollingen series, 23); André Malraux: The psychology of art 3: The twilight of the absolute (The Bollingen series, 24,3); Gladys Amanda Reichard: Navajo religion. A study of symbolism (The Bollingen series, 18); Franz Wasner: The Trapp-family book of Christmas songs, illustr. by Agathe Trapp; Alan Wilson Watts: The supreme identity. An essay on Oriental metaphysic and the Christian religion; Richard Wilhelm, Cary F. Baynes, C. G. Jung: The I Ching or book of changes. Eine exilliterarische Großtat setzte Kurt Wolff in jedem Fall mit Hermann Brochs Roman Tod des Vergil, dessen Fertigstellung und aufwendige Übersetzung durch Jean Starr Untermeyer er geduldig abwartete,537 – ein sehr europäisches Buch, dem zwei Jahre später Brochs The sleepwalkers folgte. Auch die zweisprachige Ausgabe von Stefan Georges Gedichten, an deren Übersetzung Ernst Morwitz, einst Gefolgsmann Georges, beteiligt war, stellt ein Ausrufezeichen dar. Die deutschsprachige Literatur spielte aber keine dominante Rolle; im Gegenteil zeigt schon ein rascher Blick auf die Titelliste der Jahre 1942‒1950, dass es sich um ein überaus heterogenes oder entschieden multifokales Verlagsprogramm gehandelt hat. So zeichnet sich besonders in den Anfangsjahren ein weiterer Schwerpunkt ab, den man annäherungsweise mit europäischen »Hausbüchern« beschreiben könnte: mit englischsprachigen Übertragungen von Till Eulenspiegel, Münchhausen, Grimms Märchen, Gustav Schwabs Götter- und Heldensagen, Russischen Märchen oder einer Anthologie Tausend Jahre deutscher Dichtung; auch die von Fritz Kredel illustrierten Riddles around the world lassen sich hier einordnen. Ergänzt wird diese Schiene durch einige Titel »Weltliteratur«, darunter Shakespeare, Voltaire oder Tolstoi, und eine weitere zur Antike, mit Platon oder Longus. Der kräftige Akzent auf der modernen bzw. zeitgenössischen französischen Literatur ist, wie bereits angedeutet, vor allem der Mitwirkung von Jaques Schiffrin geschuldet; bemerkenswert aber, dass die Werke Aragons, Bernanosʼ, Camusʼ, Claudels, Gides,
537 Vgl. hierzu den Briefwechsel Kurt Wolffs mit Hermann Broch in den Jahren 1942 bis 1946/ 47 (Kurt Wolff: Briefwechsel eines Verlegers 1911‒1963, S. 444‒468).
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Péguys, von Saint-John Perse oder dem aus der französischen Schweiz stammenden Ramuz zwar überwiegend in Übersetzungen, in einigen Fällen aber doch auch im französischen Original oder in bilinguen Ausgaben herausgebracht wurden; gelegentlich taucht sogar der programmatische Reihentitel »French Pantheon books« auf. Ab und an nahm Wolff die Dienste prominenter Übersetzer in Anspruch, so von Mary McCarthy oder von dem französisch-amerikanischen Schriftsteller Julian Green. Alles zusammengenommen erscheint es durchaus berechtigt, in Kurt Wolff und seinen Mitstreitern Wegbereiter europäischer Dichtung und Literatur in Amerika zu sehen. Pantheon Books war aber nicht bloß ein Literaturverlag; Wolff knüpfte – und dies nicht nur im Namen Pantheon – genauso an seine frühere Tätigkeit als Kunstbuchverleger an, ja seine erste Veröffentlichung war sogar eine auf 500 Exemplare limitierte Auflage eines Masereel-Buches; ihm folgten später noch Publikationen zu Daumier, Degas, Fragonard, Ingres, Maillol, Picasso oder Pissarro, sowie zahlreiche kunstgeschichtliche bzw. kunstwissenschaftliche Werke, u. a. von André Malraux. Auch das Fotobuch (Fred Stein, Lost treasures of Europe) fand Platz in dieser Programmlinie. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Kulturgeschichte mit Klassikern wie Jacob Burckhardt oder dem aus Deutschland emigrierten, erst nach seinem Selbstmord 1952 zu Ruhm und Anerkennung gelangten Max Raphael, wobei hier auch die außereuropäische, z. B. chinesische Kultur (tw. als Blockbuch) Berücksichtigung fand. Wolff machte die Amerikaner auch mit den mythengeschichtlichen Arbeiten eines Karl Kerenyi und der tiefenpsychologischen Deutung der Mythen von C. G. Jung bekannt. Auffällig auch die Publikationen zu den Navajo-Indianern und überhaupt zur indigenen Kultur Nordamerikas. Dass einige Veröffentlichungen einen sehr hohen wissenschaftlichen Spezialisierungsgrad aufwiesen und sichtlich nicht auf ein größeres Publikum abzielten, findet seine Erklärung darin, dass Pantheon Books seit 1943 im Auftrag der Bollingen Foundation die in jeder Hinsicht anspruchsvollen »Bollingen series« produzierte, für die genügend finanzielle Mittel zur Verfügung standen.538 Kurt Wolff selbst brachte nur ab und zu Titel heraus, die für einen besseren »cash flow« sorgen sollten, wie Mörikes Mozarts Reise nach Prag, Stifters Bergkristall oder die Weihnachtslieder der Trapp-Familie. Die meisten Verkaufserfolge kamen eher unverhofft, so 1944 Grimm’s fairy tales, von denen die erste Auflage mit 7.500 Exemplaren innerhalb einer Woche verkauft war und drei weitere Auflagen innerhalb eines halben Jahres abgesetzt werden konnten, oder 1946 mit Lost treasures of Europe, einer Dokumentation der im Bombenkrieg verlorenen Bauten und Kunstschätze, die international nachgefragt war und von der im ersten Jahr 30.000 Exemplare verkauft wurden.539
538 Die zwischen 1943 und 1960 erschienenen »Bollingen series« waren ein hauptsächlich von Kyrill Schabert etabliertes interdisziplinäres Forum der Begegnung von Kunstgeschichte, Psychologie, Anthropologie, Mythologie, Literatur und Philosophie. Vgl. dazu McGuire: Bollingen: an adventure in collecting the past, S. 61, 236, 273, 274. Den Kontakt zu der Herausgeberin der Serie Mary Mellon hatte der exilierte Indologe Heinrich Zimmer hergestellt, der dann selbst Autor bei Pantheon Books wurde. Pantheon Books brachte in den Bollingen series noch zahlreiche weitere Titel heraus, darunter auch eine 15-bändige Werkausgabe zu Paul Valéry und die gesammelten Werke von C. G. Jung. 539 Müller / Schuyler: Kurt Wolff im amerikanischen Exil, S. 1674 f.
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Das Geld war in jenen schwierigen Anfangsjahren dennoch immer knapp; trotzdem wollte Wolff nicht an der Ausstattung der Bücher sparen, sondern legte großen Wert darauf, ihnen ein gediegenes und darin auch wieder europäisch zu nennendes Gewand zu geben. Als Buchgestalter beschäftigte er daher – soweit diese Aufgabe nicht von Schiffrin übernommen wurde – immer wieder Stefan Salter, und auch bei den Illustratoren gab es von Masereel und Paul Klee bis Fritz Kredel und Josef Scharl manche illustre Namen.540 Einige Titel errangen auch Auszeichnungen, wie etwa Costers Tyl Ulenspiegl und Grimm’s fairy tales den Fifty Books Award des American Institute of Graphic Art. Bezeichnend auch, dass Wolff selbst 1947 in die Fifty Books Award-Jury des American Institute of Graphic Arts gewählt wurde.541 Um das Niveau und überhaupt die Verlagstätigkeit aufrecht erhalten zu können, verkaufte Kurt Wolff 1947 seine frühe Korrespondenz mit Künstlern und Autoren an die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Universität Yale; auch handelte er mit Graphik, die er im Nachkriegsdeutschland erwarb und in den USA verkaufte, wobei er eng mit dem ebenfalls emigrierten Antiquar Walter Schatzki* zusammenarbeitete. 1949 übersiedelte der Verlag aus der Privatwohnung der Wolffs in ein bescheidenes Büro an der Sixth Avenue. Wenn sich Kurt Wolff schon bisher nicht eigentlich als Exilverleger verstand – wiewohl Pantheon Books in diesen Jahren allein schon durch die personelle Besetzung und die Vielzahl verlegter Exilautoren durchaus als ein solcher bewertet werden musste –, so vollendete sich jetzt auch seine Wandlung zum amerikanischen Verleger.542 Als solcher erzielte er nach eher mageren Ertragsjahren 1955 mit Anne Morrow Lindberghs Bestseller Gift from the Sea den finanziellen Durchbruch, gefolgt von dem mit aller Behutsamkeit auf den Markt gebrachten, aber durch den Nobelpreis 1958 enorm gepushten Doctor Zhivago Boris Pasternaks, der eine Millionenauflage erzielte;543 höchst erfolgreich war auch Giuseppe Tomasi di Lampedusas The Leopard. Der wirtschaftliche Erfolg führte allerdings zu Streitigkeiten zwischen Wolff und den amerikanischen Gesellschaftern; schon seit 1959 hielt sich Wolff mit seiner Frau in Locarno in der Schweiz auf und entwickelte von dort die Programmplanung weiter. Im Juli 1960 trennten sich die beiden von Pantheon; damals übernahm Kyrill Schabert ihre Anteile und blieb ein Jahr lang Präsident des Verlages, bis dieser 1961 an Random House New York verkauft wurde. Unter diesem Dach wurde er von André Schiffrin* (1935 Paris – 2013 Paris), dem Sohn Jacques Schiffrins, weitergeführt – eine glückliche Konstellation, denn auch unter der Kontrolle eines börsennotierten Großunternehmens beharrte Schiffrin auf europäisch geprägten verlegerischen Wert- und Qualitätsvorstellungen, die oft quer zu den Konzernstrategien lagen.544 Nahezu 30 Jahre lang
540 541 542 543 544
Siehe hierzu die Pantheon Books betreffenden Informationen im Kap. 4 Buchgestaltung. Müller / Schuyler: Kurt Wolff im amerikanischen Exil, S. 1672 und 1674. Seit 1947 war Kurt Wolff amerikanischer Staatsbürger. Hierzu: Boris Pasternak – Kurt Wolff. Im Meer der Hingabe. André Schiffrin wuchs in New York auf, wohin sein Vater aus dem von den Deutschen besetzten Paris geflohen war. Seine Verlagskarriere begann bei dem von Kurt Enoch 1945 gegründeten US-Taschenbuchverlag New American Library, Anfang der 1960er Jahre war er dort »sales manager«. Als 1961 bei der Übernahme von Pantheon Books durch Random House die gesamte Verlagsspitze ausschied, wurde André Schiffrin zum Verlagsleiter jenes Hauses bestellt, dessen Anfänge sein Vater wesentlich mitbestimmt hatte.
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leitete er Pantheon, seit 1980 unter zunehmend ökonomischem Erfolgsdruck seitens der Unternehmensgruppe Newhouse, bis er 1990 wegging und seinen unabhängigen Verlag The New Press gründete. In seinen Erinnerungen hat Schiffrin über seine in Europa wurzelnde kulturelle Identität und seine verlegerisch-politische Programmatik Auskunft gegeben.545 Der Nachfolger Schiffrins in der Leitung von Pantheon, Fred Jordan* (geb. 1925 Wien),546 war ebenfalls Emigrant, verkörperte jedoch eine Synthese von europäischer und amerikanischer Perspektive. Kurt und Helen Wolff wechselten zu Harcourt Brace & World Inc., wo die Eheleute die Helen and Kurt Wolff Books (HKW) als ein eigenes Label etablieren und mit diesem »Co-publishing agreement« eine neue Praxis im Verlagswesen einführen konnten. In dieser Situation bewährte sich das konservative Konzept, intensive Autorenbeziehungen zu unterhalten: Viele ehemalige Pantheon-Autoren hielten ihnen die Treue, wie Hannah Arendt, Günter Grass oder Julien Green. Es ist das bleibende Verdienst des Verlegerpaares, mit HKW einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der deutschen Nachkriegsliteratur in den USA geleistet zu haben. Wolff war Ehrenmitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, 1960 wurde er vom Börsenverein mit der Medaille »Dem Förderer des Deutschen Buches« ausgezeichnet. Nach Abb. 18: Helen Wolff wurde nach dem Tod ihres Wolffs Unfalltod auf der Fahrt von der Mannes Kurt Wolff selbst zu einer bedeutenden, Frankfurter Buchmesse nach Marbach a. von zahlreichen großen Autoren verehrten Verlegerin in New York. Neckar 1963 führte seine Frau Helen das Imprint bis 1981 fort.547
545 André Schiffrin: A Political Education: Coming of Age in Paris and New York; dt.: Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers. Siehe auch seine programmatischen Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden: L’édition sans éditeurs (dt. Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher); The Business of Books: How the International Conglomerates Took Over Publishing and Changed the Way We Read. 546 Zu Fred Jordan (ursprgl. Alfred Rotblatt), der 1990 als Nachfolger André Schiffrins zum Leiter des Pantheon Verlags berufen wurde und 1991‒1993 Chairman des Unternehmens war, finden sich genauere Angaben in Kap. 8: Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive. Siehe auch das Interview mit Fred Jordan in Die Welt vom 8. April 2016 [online]. 547 Der Nachlass Wolffs liegt, soweit es die Verlegerkorrespondenz betrifft, im Kurt-WolffArchiv der Beinecke Rare Book and Manuscript Library at Yale University, New Haven, Connecticut, das Verlagsarchiv von Pantheon Books für die Zeit von 1944 bis 1967 besitzt
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Um die Leistung von Helen M. Wolff* (1906 Üsküb (Skopje) – 1994 Hanover, New Hampshire, USA)548 adäquat zu würdigen, muss ihre und die Pantheon-Geschichte noch einmal von vorne erzählt werden. Helene Mosel hatte bereits früh Berufserfahrung im Verlagswesen gesammelt. Nach dem Abitur hatte sie 1927 ein Praktikum im Kurt Wolff Verlag in München absolviert und anschließend für Pantheon Casa Editrice Kunstbücher übersetzt, bis ihr dort eine feste Anstellung angeboten wurde. Nach dem Verkauf von Pantheon an Pegasus Press ging sie 1929 mit dem Verlag nach Paris mit, wechselte aber nach einiger Zeit an das Institut International de Coopération Intellectuelle. Nach ihrer Heirat mit Kurt Wolff und der Geburt des Sohnes Christian 1934 trug sie alle Lasten mit, die mit den Fluchtetappen Nizza, Florenz, Nizza, Paris, USA verbunden waren. Im März 1941 trafen sie in New York ein, und bezogen ein kleines Apartment in 41 Washington Square, wo in den nächsten sieben Jahren auch der 1942 gegründete Verlag Pantheon Books Inc. firmierte. Helen Wolff arbeitete verantwortlich im Verlag mit, als Herausgeberin und Lektorin, sie war aber auch zuständig für Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Herstellungstätigkeiten. Als die Wolffs nach verlagsinternen Unstimmigkeiten mit den Gesellschaftern und aus gesundheitlichen Gründen 1959 ihren Wohnsitz in die Schweiz nach Locarno verlegten, führten sie von dort aus ihre verlegerische Arbeit gemeinsam fort und nahmen u. a. Die Blechtrommel von Günter Grass in das PantheonProgramm auf (The Tin Drum, 1962). Nach der Trennung von Pantheon und der Gründung des Imprints Helen and Kurt Wolff Books (HKW) bei Harcourt, Brace & World Inc. konnte das Ehepaar sein ambitioniertes zeitgenössisches Literaturprogramm weiter realisieren, mit Büchern u. a. von Karl Jaspers, Peter Weiss, Günter Grass und Max Frisch. Nach dem Tod ihres Mannes vereinbarte Helen Wolff mit Bill Jovanovich, dem Präsidenten von Harcourt, Brace & World, die Fortführung des Imprints. Sie kehrte 1964 nach New York zurück und sorgte mit einem kleinen Mitarbeiterteam weiter für ein HKW-Verlagsprogramm mit jährlich 15 bis 30 neuen Titeln, unter ihnen die Jahrestage von Uwe Johnson, deren Übersetzung Anniversaries sie mitbetreute. Helen Wolff wahrte den international herausragenden Ruf des Imprints, indem sie daran festhielt, dem amerikanischen Publikum neben den besten deutschen auch europäische Autoren näher zu bringen, letztere mit Büchern von Giorgio Bassani, Italo Calvino, Georges Simenon (mit insgesamt 77 Titeln), Stanislaw Lem oder Amos Oz. Hervorhebenswert ist neben dieser kulturellen Vermittlungsleistung auch ihr Festhalten an einer »handwerklichen Art des Büchermachens«.549 Dazu gehörte neben der langfristigen Pflege des Oeuvres von Verlagsautoren und dem geduldigen Aufbau dieser Autoren in der literarischen Öffentlichkeit auch die Gewohnheit, den direkten Kontakt zu pflegen, nicht allein mit den Schriftstellern, sondern auch mit Verlegern, Literaturagenten, Lektoren und Übersetzern in Europa, um so Autoren zu finden, die sie den amerikanischen Lesern
die Columbia University. Weitere Nachlassbestände, u. a. die Bibliothek Wolffs aus seiner letzten Lebenszeit, befinden sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. 548 Vgl. Günter Grass: Nachruf auf Helen Wolff; Blattmann: »Welch eine Verlegerin!«, S. 233‒ 261; Günter Grass, Helen Wolff: Briefe 1959‒1994; Altenhein: Hier und hier. Gedenkblatt für Helen Wolff. In: Marginalien, H. 173 (2004), Nr. 1, S. 3‒7; Helen Wolff: Hintergrund für Liebe. Roman. Mit e. Essay von Marion Detjen. Bonn: Weidle 2020. 549 Blattmann: »Welch eine Verlegerin!«, S. 238.
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vorstellen wollte. Zu dieser Auffassung vom Verlegerhandwerk gehörte auch die intensive Auseinandersetzung mit den Manuskripten bzw. mit Übersetzungen, bei denen es galt, die ästhetische Eigenart des Originals zu wahren. Damit lag sie natürlich quer zum fortlaufenden Strukturwandel des amerikanischen Verlagswesens hin zu einer »publishing industry«, in der austauschbare Manager von Verlagskonzernen den Geldgebern gegenüber Rechenschaft über die erzielte Rendite abzulegen hatten. Gegen diese Entwicklung nahm sie offen Stellung: »We are in for a period of gigantism, combined with exaggerated claims for trash, and I get increasingly allergic to having books referred to as ›product‹, with, believe it or not, ›shelf life‹«, betonte sie 1978 in einem Brief an einen Verlegerkollegen.550 Schon im Jahr davor, 1977, hatte sie den Verlegerpreis des US-amerikanischen PEN erhalten, »for distinctive and continuos service to international letters, the freedom and dignity of writers and the free transmission of the printed word across barriers of repression, poverty, ignorance and censorship«. 1981 zog sich Helen Wolff aus der Verlagsleitung zurück, betreute aber bis zu ihrem Tod Übersetzungen u. a. von Günter Grass, mit dem sie eine enge Freundschaft verband. 1981 erhielt sie für ihre Verdienste im transkontinentalen Kulturaustausch den InterNationes Award, 1985 die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts, 1994 postum den Friedrich-Gundolf-Preis von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für ihre Verdienste um die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland. Der 1996 von der deutschen Bundesregierung in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Chicago eingerichtete Helen-und-Kurt-Wolff-Übersetzerpreis wird jährlich für Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische verliehen.
Frederick Ungar Publishing Comp., New York Einen deutlich anderen Verlagstypus als Kurt Wolffs Pantheon Books verkörperte die Frederick Ungar Publishing Company, insofern im Mittelpunkt ihres Programms der Kanon der deutschen Literatur stand, von Hartmann von Aue über Grimmelshausen, Goethe und Schiller bis Thomas Mann und Günter Grass, aber auch zweisprachige Gedichtanthologien, Literaturgeschichten, deutsch-englische Wörterbücher, Grammatiken und andere Titel, die speziell auf Bedürfnisse der amerikanischen Universitäten und Colleges zugeschnitten waren. Ihr aus Wien stammender Gründer Friedrich / Frederick Ungar* (1898 Wien – 1988 New York)551 kombinierte in seiner verlegerischen Arbeit Traditionsorientiertheit, persönliches Engagement und Zielstrebigkeit; als ihm 1980 vom
550 Brief Helen Wolffs an Robert Lusty vom 27. Februar 1978; zit. n. Blattmann: »Welch eine Verlegerin!«, S. 234. – Unter »shelf life« ist der (immer kürzer werdende) Verkaufszyklus eines Buches gemeint, die Dauer seiner Aufstellung im Regal des Buchhändlers, bis zur Remission an den Verlag. 551 Vgl. hierzu das vom Verf. eingesehene, in wesentlichen Teilen aber von Jessica Roland (in Roland: Zwischen Hudson und Donau) ausgewertete Archiv des Verlags an der State University at Albany: Frederick Ungar Papers, 1940‒1988 (GER-092), German and Jewish Intellectual Émigré Collection, M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, University at Albany / State University of New York (dort in der John M. Spalek Collection (GER-106) auch Interviews zu Ungar, u. a. mit dessen Frau Hansi 1991. – Das Folgende hauptsächlich nach Roland: Frederick (Fritz) Ungar.
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Börsenverein des Deutschen Buchhandels für seine Verdienste um die Verbreitung deutscher Literatur in den Vereinigten Staaten eine Ehrenurkunde überreicht wurde, geschah dies mit dem Bemerken: »Das Verlagsprogramm von Ungar ist von großer Bedeutung für die Germanisten an den amerikanischen Universitäten; jedes Jahr enthalten die Leselisten für die Studenten einen hohen Prozentsatz von Veröffentlichungen des FrederickUngar-Verlages«.552 Fritz Ungar hatte sich schon vor seiner 1923 an der Universität Wien erfolgten Promotion zum Dr. jur. entschieden, eine Karriere als Verleger anzustreben. Das erste von ihm mit Béla Horovitz und Ludwig Goldscheider als stillen Teilhabern gegründete Unternehmen war der Phaidon-Verlag, der aber bald, 1925, von Horovitz und Goldscheider 1925 übernommen wurde, sich auf die Herausgabe von Kunstbüchern spezialisierte und bis 1938 in Wien, seit 1938 in London eine bis in die Gegenwart anhaltende Erfolgsgeschichte erleben sollte.553 Ungar gründete 1926 den Saturn-Verlag, dessen Programm die von ihm selbst so genannten »Bildungsbücher« dominierten. Während der zwölfjährigen Verlagstätigkeit erschienen außerdem Werkausgaben und Bücher zu Zeitfragen. Nach der Annexion Österreichs im März 1938 musste Ungar den Verlag seinem »arischen« Mitarbeiter Theo Goerlitz überlassen (die Gestapo hatte im Gebäude des Verlags Quartier bezogen) und flüchtete im Juni mit einem China-Visum nach Prag, wo er sich durch Verkauf und Nachdruck seiner schon bisher erfolgreichen KindersprachlernbuchSerie Lachen und Lernen fortbringen konnte. Als auch Prag keine Sicherheit mehr bieten konnte, gelangte Ungar im September 1938 mit Hilfe eines von Selma Lagerlöf besorgten Flugtickets nach Zürich, wo er, u. a. durch ein schon früher mit dem Rascher Verlag getroffenes Abkommen, einen Teil seiner Wiener Verlagsproduktion, soweit diese nicht konfisziert worden war, durch Rückkauf und Weiterverkauf in der Schweiz verwerten konnte. Nach Erhalt eines US-Visums ging er Ende Juli 1939 nach London, wo er sich einige Manuskripte sichern konnte und von wo aus er noch seine Prager Buchbestände zu veräußern suchte, was aber durch den Kriegsausbruch verhindert wurde. Am 3. September 1939 bestieg Ungar in Southampton eines der letzten Schiffe in die USA und erreichte zwei Wochen später New York mit einer Barschaft von 300 Dollar und einem Koffer voller Bücher. Auf dieser schmalen materiellen Grundlage und mit ideeller Unterstützung von Verwandten und Freunden (Will Schaber, Wilhelm Börner, Robert Lohan*) gründete Fritz Ungar, nunmehr Frederick Ungar, 1940 in New York die Frederick Ungar Publishing Company. Eine erste, aber sehr rasch wieder aufgegebene Idee zielte auf die Errichtung einer deutsch-amerikanischen Buchgemeinschaft.554 Um nun Kapital für den Verlagsbetrieb aufzubringen, suchte Ungar nach Sponsoren, betrieb jedoch, um alle Ertragsmöglichkeiten auszuschöpfen, einige Jahre lang auch einen Handel mit antiquarischen Büchern. Doch war nach dem Kriegseintritt der USA dieser Handel wegen fehlender Einfuhrmöglichkeiten kaum entwicklungsfähig. Umso aussichtsreicher erschien es aber, die Kriegssituation zum Verlag kriegswichtiger Titel zu nützen, zu denen auch Lehrund Lernmittel zählten. Als ersten Titel brachte Ungar Rire et Apprendre heraus, eine
552 Börsenblatt Nr. 79 vom 23. September 1980, S. 2363. 553 Siehe dazu das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 554 Siehe dazu das Kap. 6.4: Buchgemeinschaften.
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Adaption seines schon in Europa bewährten Konzepts eines dreisprachigen, illustrierten Kindersprachlehrbuchs, das auf amerikanischen Schulen gute Resonanz fand. Es folgten weitere Sprachlehr- und Wörterbücher für Erwachsene, wie sie auch für das amerikanische Militär von Interesse waren und daher bei der Papierzuteilung bevorzugte Behandlung erfuhren. Ein Beispiel dafür war Lothar Ahrensʼ Dictionary of Aeronautics in five languages (1944). Dieses Segment der Sprach- und Wörterbücher sollte über Jahrzehnte, auch durch viele Neuauflagen von gut ausgestatteten Lehrbuch-Klassikern, eine tragende Säule im Verlagsprogramm von Frederick Ungar Publishing Co. bleiben. Damals erarbeitete der in der Anfangszeit wichtigste Mitarbeiter im New Yorker Unternehmen Robert Lohan* (1884 Bielitz/Österr.-Schlesien – 1953 New York), den Ungar schon aus Wiener Tagen kannte,555 neben diversen Amerika-Büchern auch eine Reihe von Anthologien zum Schul- bzw. Hochschulgebrauch (Living German Literature I/The Golden Age of German Literature. Living German Literature II, 1945). Auch diese Linie sollte später noch stark ausgebaut werden. 1947 nahm Lohan gemeinsam mit Ungar ein ambitioniertes Wörterbuch-Projekt in Angriff; das geplante German-English Dictionary musste aber nach jahrelanger Vorbereitungszeit fallen gelassen werden. Parallel dazu brachte Ungar Projekte im Bereich des zeitbezogenen politischen Buchs auf den Weg, wie schon 1941 die Reihe »Forum of the Nations«, eine gemeinsam mit Will Schaber entwickelte Reihe von Anthologien mit Texten über die demokratische Tradition in Europa; einer der ersten Titel war die von Schaber zusammengestellte, eine Vielzahl von Statements von Lessing bis Walter Rathenau und einen Epilog von Thomas Mann umfassende Textanthologie Thinker versus Junker (1941). Weitere Titel folgten zum »Spirit« in der Tschechoslowakei (1941, eingeleitet vom Exilpräsidenten Eduard Beneš), in Polen (1945) und in Ungarn (1946). Neben dem »Forum of the Nations« entstanden damals auch Bücher, die das amerikanische Publikum über NS-Deutschland aufklären sollten, wie Heinz Paechters Nazi Deutsch: A glossary of contemporary German usage (1944), oder hilfreich für Immigranten sein konnten, wie Hannah Moriartas Life in the U. S. A.: Information for the foreign born, with a colloquial vocabulary (2 Bde., 1945/1946). Eine andere kriegsbedingte Chance erkannte der Verleger zwischen 1942 und 1946 in der Versorgung der 3,8 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in den US-amerikanischen Lagern. Vor allem im Rahmen des im Herbst 1944 angelaufenen »Prisoner of War Re-education Program« wurde Lehrmaterial benötigt, gerade auch zum Thema Demokratie, zu dem Ungar u. a. eine deutschsprachige erweiterte Version von Thinkers versus Junkers unter dem Titel Weinberg der Freiheit. Der Kampf um ein demokratisches Deutschland von Thomas Münzer bis Thomas Mann (1945) und das ebenfalls von Will
555 Lohan war seit 1922 Oberregisseur und stellvertretender Direktor der Wiener Kammerspiele, seit 1926 Professor am Wiener Konservatorium und 1927 Gründer und Geschäftsführer des Wiener Spiegel-Verlags, anschließend literarischer Leiter des Münchner Kulturverlags. 1934 war er Mitherausgeber eines im Wiener Saturn Verlag erschienenen Sammelbandes Das Herz Europas. Ein österreichisches Vortragsbuch; nach dem »Anschluss« Österreichs emigrierte Lohan zunächst nach Großbritannien, 1940 weiter in die USA. – Ein anderer Mitarbeiter in der Frederick Ungar Publishing Co., der ebenfalls bereits im Wiener Saturn Verlag tätig gewesen war, war Robert Grossbard* (1898 Wien – 1975 New York).
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Schaber erstellte Buch Die vier Freiheiten. Der politische Glaube Amerikas (1946) beisteuern konnte. Außerdem produzierte Ungar für die Kriegsgefangenen zahlreiche broschierte, für 50 ct angebotene Hefte mit Auszügen aus Werken berühmter deutscher Dichter, Goethe-, Schiller-, Heine- und Kant-Breviere, Rilkes Cornet und seine Duineser Elegien; die Palette reichte letztlich von Wilhelm Busch bis Stefan George, von Gottfried Keller bis Nietzsche, von Christian Morgenstern bis Ernst Waldinger. Für die Jahre 1945 und 1946 erstellte Ungar zusammen mit Schaber Kalender, in denen auf jedem Monatsblatt das Bild einer besonderen historischen Stätte in Deutschland (Dresdener Zwinger, Heidelberger Schloss u. a. m.) zu sehen war, begleitet von Zitaten, etwa von Theodor Storm, C. F. Meyer oder Wilhelm Busch. Insgesamt soll Ungar innerhalb weniger Jahre an die 200 Titel für diese Zielgruppe bereitgestellt haben. Wie manche andere (Exil-)Verleger beteiligte sich Ungar damals am Programm des von der US-Regierung ins Leben gerufenen Amtes United States Office of the Alien Property Custodian (APC), das unter Aufhebung urheber- und verlagsrechtlicher Beschränkungen die Möglichkeit eröffnete, Bücher der kriegsgegnerischen Länder, besonders Deutschlands, lizenzfrei für den US-amerikanischen Markt nachzudrucken.556 Damit sollten die Folgen der durch den Krieg unterbrochenen Versorgung mit europäischer Wissenschaftsliteratur kompensiert werden. Zum Nachdruck freigegeben hatte der APC zunächst 116 Zeitschriftentitel und 700 Buchtitel, und auch Ungar erwarb eine Reihe von Lizenzen (mindestens zehn, wahrscheinlich aber deutlich mehr), um technische sowie – gut in sein Programm passende – sprachwissenschaftliche Arbeiten aufzulegen. Er brachte aber auch Bücher von Rilke, Erich Kästner u. a., möglicherweise auch ohne entsprechende Lizenz. Das Programm wurde im Oktober 1946 beendet; bis dahin hatte der Verleger aber die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf Papierknappheit und faktisch ohne Absatzrisiko von diesen Lizenzen Gebrauch zu machen. Die aus diesen Aktivitäten erzielten Gewinne versetzten Ungar bereits 1945 in die Lage, im Rahmen einer Auktion einen kleinen, in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Verlag zu kaufen, die Stephen Day Press, Inc., und so sein bislang stark europäisch geprägtes Verlagsprogramm mit einem Schlag durch rund 70 »typisch amerikanische« Titel zu erweitern. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Verbindungen mit Europa wieder hergestellt waren, befasste er sich auch mit dem Gedanken, in Wien eine Filiale von Frederick Ungar Publishing zu errichten; im November 1947 suchte er einen längeren Aufenthalt in Wien für die Wiederverleihung einer Verlagskonzession und die Erlangung einer finanziellen Entschädigung für seinen »arisierten« Saturn-Verlag zu nützen. Da wenig Aussicht bestand, dass alles dies in kurzer Frist geklärt werden könnte, konzentrierte er sich auf Kontakte zu Antiquaren sowie auf die Frage von Buchimportgenehmigungen, zumal er auch noch Bücher in Prag auf Lager hatte. Die mit der Währungsreform einhergehende Geldverknappung ließ ihn aber davon Abstand nehmen; er verschiffte das Prager Lager lieber in die USA. Auch stellte sich heraus, dass namentlich die mit APC-Lizenz nachgedruckten Bücher in Europa nicht vertrieben werden durften. Der rührige Verleger brachte nun, da die deutschsprachige Emigration als Käuferpublikum kaum noch in Frage kam, nur noch original englischsprachige Titel (darunter
556 Vgl. hierzu Niemeyer: Scholarly Reprint Publishing in the United States, S. 34‒50.
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auch wissenschaftliche Werke aus dem Bereich der Fachhistorik, Philosophie und Literaturwissenschaft) heraus oder aber Übersetzungen von Weltliteratur und vorzugsweise deutscher und österreichischer Literatur ins Englische. Bei vielen dieser Titel hat Ungar selbst an der Übersetzung mitgewirkt bzw. sie überprüft,557 sie als Herausgeber betreut oder auch bevorwortet. So gab er 1960 Friedrich Schiller: An anthology for our time. With an account of his life and work by Frederick Ungar oder 1963 Goethe’s world view. Presented in his reflections and Maxims heraus, zweisprachig, übersetzt von Heinz Norden, mit einer 18-seitigen Einführung, in der er seine persönliche Verbundenheit mit Goethes Weltsicht zum Ausdruck brachte. Gemeinsam mit Alexander Gode (dem Verleger von Storm Publishers), stellte Ungar 1964 einen Reader Anthology of German Poetry through the 19th century zusammen. Eine der in den 1950er Jahren entstandenen Reihen waren die »College Translations«, »a new series of popular-priced editions of significant titles in literature and the general humanities, presented in entirely new or in revised standard translations. Works from several languages will be included as the series progresses«.558 In die abendländische Ideengeschichte wollte die ebenfalls sehr preisgünstige Reihe »Milestones of Thought« einführen (Generalherausgeber war F. W. Strothmann), »compactly made, expertly edited titles in the humanities, many newly translated, with shorter documents reproduced in full or longer works abridged so as to bring the author’s basic ideas into relief«,559 mit Textauswahlen aus Augustinus, Darwin, Feuerbach, Kant, Rousseau u. a. m. Eine weitere, vielbändige Serie lief unter dem Namen »American Classics«. Einen Coup landete Ungar ab 1957 mit Neuauflagen von Werken Hermann Hesses, mit denen 1960 auch seine Reihe »Ungar Paperbacks« startete.560 Mit Steppenwolf und Magister Ludi (Das Glasperlenspiel), von denen je 200.000 Exemplare abgesetzt wurden, hatte Ungar an dem nachfolgend auch von anderen Verlagen getragenen Hesse-Boom in den USA entscheidenden Anteil. Weiterhin zeichnete sich die Programmgestaltung aber durch eine erstaunliche Bandbreite aus: Nach wie vor erschienen Wörterbücher und
557 Vgl. Roland: Frederick (Fritz) Ungar, S. 462: »Er bemühte sich meist selbst um die Auswahl geeigneter Übersetzer, kümmerte sich um die Korrektur der Arbeiten, prüfte Original und Übersetzung auf Fehler und Mängel in der Übertragung und war in seiner Funktion als der das Risiko tragende Verleger und aufgrund [s]einer Sprachkompetenz bei allen Übersetzungen letzte Instanz, was nicht selten zu Auseinandersetzungen mit den Übersetzern führte«. Ungar hat sich auch zu den spezifischen Problemen des Übersetzens aus verlegerischer Sicht geäußert, siehe Frederick Ungar: Die Transatlantischen Übersetzungsklippen. In: Börsenblatt (FfM) Nr. 6 vom 21. Januar 1975, S. 103 f. 558 Werbetext auf dem Umschlag von Gottfried Kellers A Village Rome and Juliet; weitere angekündigte Titel betrafen Lessings Nathan the Wise, Eichendorffs Memoirs of a good-fornothing, Kleists The broken pitcher und Storms Viola Tricolor / Carsten Curator. Gekürzte Versionen waren verfügbar von Schleiermachers On religion. Speeches to its cultured despisers und Calvins Institutes of the Christian religion. 559 Werbetext auf dem Umschlag von Boethius: The consolation of philosophy, 1957. 560 Offenbar hatte Ungar im April 1960 damit begonnen, die Taschenbuchreihe unter dem Namen »Atlantic Paperbacks« herauszubringen (und bis Juli 1961 bereits 25 Titel publiziert), was ihm aber nach einer Klage der Atlantic Monthly Company aufgrund von »trade-mark infringement« gerichtlich untersagt wurde (https://law.justia.com/cases/federal/district-courts/ FSupp/197/524/1419612/)
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Grammatiken, auch zu entlegenen Sprachen, wie Samuel A. B. Mercers Ethiopic Grammar with chrestomathy and vocabulary (1961) oder John D. Andersons A manual of the Bengali language (1962), genauso aber naturwissenschaftliche Fachliteratur, so überraschenderweise bereits im Jahr 1964 von Ivan Istvan Mueller eine Introduction to Satellite Geodesy; auf literarischem Gebiet u. a. umfangreiche Sammlungen zum »Literary Criticism« und immer wieder unterschiedliche englischsprachige Ausgaben deutscher Schulklassiker, von Lessings Emilia Galotti (1962) bis Novalisʼ Henry of Ofterdingen (1964), ja er brachte 1966 sogar den Plowman from Bohemia des Johannes von Saaz heraus; in dieser Ausgabe wurde dem originalen frühneuhochdeutschen Text eine englische Übersetzung gegenübergestellt (mit einer Einführung von Reinhold Schneider). Als Kenner und Liebhaber der österreichischen Literatur setzte sich Ungar besonders für deren Bekanntwerden in seiner neuen Heimat ein. 1974 wagte er sogar die Herausgabe einer Übersetzung von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit, die allerdings auf erhebliche Kritik stieß, nicht so sehr wegen der Übersetzung von Alexander Gode und Sue Ellen Wright, sondern wegen der drastischen Kürzungen und Eingriffe in das umfangreiche Werk.561 Von Ungars ungebrochener Zuneigung zu seiner österreichischen Heimat zeugen u. a. auch das Handbook of Austrian Literature (1973) und eine zweisprachige Anthologie Austria in Poetry and History (1984). Als Frederick Ungar 1985 seinen Verlag an die Crossroad / Continuum Gruppe verkaufte, blickte er auf 63 Berufsjahre als Verleger zurück; dabei blieb er aber noch bis zu seinem Tod im November 1988 als Lektor und Berater für das Unternehmen tätig. Er kann wohl als der produktivste unter den in die USA emigrierten Belletristik-Verlegern betrachtet werden: In der Frederick Ungar Publishing Company waren bis 1985 mehr als 2.000 Titel erschienen, mit mehr als 200 literarischen Übersetzungen, davon über 100 Übersetzungen aus dem Deutschen. Er selbst hat die glückliche Wendung, die sein Leben nach der Vertreibung aus Wien genommen hatte, in einem Brief an den ebenfalls exilierten österreichischen Schriftsteller Fritz Hochwälder in Worte zu fassen gesucht: Ich empfinde ähnliche Gefühle der Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber wie Sie. Wie hätte ich in Wien je daran denken können, Goethe, Schiller, Kraus, Schnitzler und so viel anderes herausbringen zu können? Ist es nicht ein unheimliches Gefühl, dies dem Führer zu verdanken? Ich will gar nicht darüber nachdenken.562 Charles Madison widmete Ungar bereits 1966 einen Abschnitt in seiner Geschichte des amerikanischen Verlagswesens; er bezeichnete ihn als »in a sense unique among American publishers«, als einen Mann »of broad cultivation and with a genuine respect for scholarship and good writing« und hob hervor, dass Ungars Tätigkeit in einer in Amerika seltenen Weise nicht vom Streben nach maximalem Profit bestimmt sei:
561 The last days of mankind. A tragedy in five acts. Abridged and edited by Frederick Ungar. Introd. by the editor. Critical analysis by Franz H. Mautner. New York: Fr. Ungar 1974. 562 Ungar an Fritz Hochwälder am 26. Februar 1984 (Ungar Papers U-W), hier zit. n. Roland: Frederick (Fritz) Ungar, S. 465.
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Ungar holds that it is the publisherʼs duty, within his financial capability, to bring out books of merit and keep them in print as long as possible. He has no best-sellers, yet he manages to adhere closely to his philosophy of publishing and continues to enlarge his list of new books and new editions of important out-of-print books from year to year.563 Madison berichtet in diesem Zusammenhang auch von der Wertschätzung, die Ungar seitens der Wissenschaftler genoss; ein bedeutender Historiker habe ihn als einen öffentlichen Wohltäter, »a public benefactor« bezeichnet. Späterhin hat der Verleger noch mehrfach Ehrungen erfahren, hervorgehoben werden sollen hier nur die 1980 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels erhaltene Auszeichnung aufgrund seiner »großen Verdienste um die Verbreitung deutscher Literatur in den Verei- Abb. 19: Frederick Ungar wurde für seine nigten Staaten von Amerika«564 und die 1982 Rolle als transkontinentaler Kulturvermitterfolgte Verleihung des Ehrendoktorats durch ler mehrfach ausgezeichnet. die Universität Suffolk mit der Begründung, Ungar sei ein »outstanding mediator between the rich culture of his native continent and his adopted country as well as a man who in his professional activities and personal interests typified Goethe’s idea of world literature«.565 In der Tat hat Frederick Ungar mit seinem über Jahrzehnte hindurch außerordentlich produktiven Verlag als beharrlicher Vermittler europäischer geistiger Kultur in den USA Bemerkenswertes geleistet, und dies nicht nur, indem er für Generationen amerikanischer Germanistikstudenten Lesestoff bereit gestellt hat, sondern auch einem breiteren Publikum den Kanon deutschsprachiger Literatur in Übersetzungen zugänglich gemacht hat.
Storm Publishers, New York Den Versuch, Exilautoren in englischsprachigen Ausgaben in das amerikanische Literaturleben einzuführen, unternahm auch Alexander Gode von Aesch* (1906 Bremen – 563 Madison: Book publishing in America, S. 526 f. 564 Ungar wurde die Ehrenurkunde überreicht mit dem Bemerken: »Das Verlagsprogramm von Ungar ist von großer Bedeutung für die Germanisten an den amerikanischen Universitäten; jedes Jahr enthalten die Leselisten für die Studenten einen hohen Prozentsatz von Veröffentlichungen des Frederick-Ungar-Verlages.« (Börsenblatt Nr. 79 vom 23. 9. 1980, S. 2363). 565 Zit. n. Roland: Frederick (Fritz) Ungar, S. 464.
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1970 Mount Kisco, New York) mit dem von ihm gegründeten und geleiteten Verlag Storm Publishers.566 Gode von Aesch hatte an den Universitäten von Wien, ParisSorbonne und an der Columbia University studiert, an letzterer erwarb er 1930 den MA und 1941 den PhD. Zwischen 1931 und 1938 war er an der Columbia-University, am Albright College, Reading, Pa., und an der University of Chicago als Germanist tätig. Gode war somit nicht eigentlich Hitleremigrant, er stand aber in enger Verbindung mit der deutschsprachigen Emigration, solidarisierte sich mit ihr und schöpfte aus der schwierigen Situation der exilierten Schriftsteller die Motivation, selbst verlegerisch tätig zu werden. 1939‒1942 arbeitete er als Lektor beim Verlag Thomas Y. Crowell in New York und versuchte dort – mit wenig Erfolg – die deutsche Exilliteratur zu lancieren. Pläne von 1946, unter dem Sammelnamen Gateway Books Werke europäischer und südamerikanischer Autoren in den USA in englischer Übersetzung zu vertreiben, konnten nicht realisiert werden. Fritz von Unruhs Romanmanuskript »Der nie verlor« bewog Gode, gemeinsam mit seinem Freund Rudolf Schick* (geb. 1882 Karlsbad / Böhmen)567 1947 auf einer knappen Finanzbasis einen Verlag zu gründen; unter dem Titel The end is not yet erschien noch im gleichen Jahr der Roman des Pazifisten Unruh als englischsprachige Originalausgabe, die deutsche Fassung kam erst ein Jahr später in Bern heraus. Das Buch mit dem Untertitel »a novel of hatred and love, of darkness and light, of despair and hope, of death and life, of war and a new courage«, dessen Publikation Gode ein persönliches Anliegen war,568 fand bei der Literaturkritik eine bemerkenswert gute Resonanz, die der Verleger auch nach Kräften für die Absatzwerbung zu nützen suchte.569 Beim Publikum aber blieb das Interesse verhalten, sehr zur Enttäuschung des Verlegers. Gode blieb jedoch mit Storm Publishers, auch nach dem 1948 erfolgten Ausscheiden Rudolf Schicks, bis ca. 1960 aktiv und brachte Werke teils lebensphiloso-
566 Archivalische Quellen: Alexander Gode von Aesch-Collection, Papers 1924–1976 (GER-107) sowie die Storm Publishers Records, 1940‒1968 (GER-090) im M. E. Grenander Department of Special Collections & Archives, German Intellectual Emigré Collection, University at Albany / State University of New York. 567 Schick hatte 1910 den Verlag Rudolf Schick & Co. in Leipzig gegründet, in welchem zuletzt hauptsächlich Lehrmittel im naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich erschienen, seit 1933 Lehrbücher für jüdische Schulen, die im Auftrag des Erziehungsausschusses der Reichsvertretung der Juden in Deutschland erarbeitet wurden. Seit 1937 war die Firma in der Liste der »Jüdischen Buchverlage und Buchvertriebe« verzeichnet. In der Reichspogromnacht 1938 wurde Schick verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht. Nach seiner Freilassung gelang ihm die Flucht über Kanada in die USA. 1946 errichtete er in New York die Rudolf Schick Publishing Company, in der 1946 Alvin Kronachers Fritz von Unruh. A Monograph mit einem Vorwort von Albert Einstein erschien; es blieb aber bei dieser einen Publikation, und auch Schicks Beteiligung an Storm Publishers blieb nur Episode. Schick widmete sich danach erneut der Herstellung und dem Vertrieb von Lehrmitteln und verlegte die Rudolf Schick Publishing Co. nach Massachusetts, wo sie in den 1960er Jahren als Anbieter von anatomischen Karten, Skelettmodellen u. ä. hervortrat. 568 Gode von Aesch sprach in einem Brief an Thomas Mann im Oktober 1946 von dieser Buchveröffentlichung als von einer »heiligen Aufgabe« (Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1429). 569 Dies zeigt das umfangreiche Werbematerial im Bestand Storm Publishers in der German Intellectual Emigré Collection der University at Albany.
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Abb. 20: Der Entwurf zum prägnanten Verlagssignet von Storm Publishers stammt von Georg Salter.
phischer und zeitanalytischer Richtung, teils gemischter Natur heraus, vor allem aber diente ihm der Verlag als Publikationsplattform für Wörterbücher und Textausgaben in der von ihm mitentwickelten und propagierten Plansprache Interlingua – schon seit 1933 ist er bei der International Auxiliary Language Association (IALA) tätig gewesen, 1948‒ 1953 als deren Forschungsdirektor, seit 1953 als Leiter der Abteilung Science Services der Interlingua. Veröffentlichungen wie Gottfried Kellers Sieben Legenden sollten in den USA im Deutschunterricht bzw. Germanistikstudium Verwendung finden. Die speziellste Veröffentlichung war 1949 eine kommentierte Faksimile-Ausgabe zu Mozarts Vertonung von Goethes Das Veilchen; ein bibliophil aufgemachtes, von der Profile Press570 gedrucktes Dokument der Goethe- und Mozartverehrung im deutschsprachigen Exil.571 Publikationen von Storm Publishers 1947‒1963 Fritz von Unruh: The end is not yet, 1947; J. W. Goethe, W. A. Mozart: Das Veilchen / The violet. [Faksimile des Mozart-Autographs und des Erstdrucks der Komposition Wien: Artaria 1789]. Mit einem
570 Zur Profile Press siehe das Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 571 Mozarts Veilchen-Autograph war 1935 von Stefan Zweig erworben worden; er hatte es vor seinem Freitod als eines seiner kostbarsten Besitztümer seiner geschiedenen Frau Friderike Zweig hinterlassen, die es für diese von dem bekannten exilierten Musikwissenschaftler Paul Nettl kommentierte Faksimile-Edition zur Verfügung stellte. Die Edition enthielt auch ein Faksimile des ersten Notendrucks des Veilchens aus dem Besitz Nettls.
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Aufsatz von Paul Nettl: Das Veilchen, history of a song. [Copyright: 1948, Friderike Zweig], 1949; Oscar Benjamin Frankl: Theodor Herzl, the Jew and the Man. A portrait, 1949; Patrick Mahony: You can find a way. A book of factual optimism, 1950; Berthold Weinberg: Deutung des politischen Geschehens unserer Zeit, entwickelt aus einer Wesensbetrachtung der Voelker und der allgemeinen Bewegung der Zeit. Mit einem Geleitwort von Thomas Mann, 1951; Emelin Fate Christian: The dams can break. A novel, 1951; Paul Nettl: National anthems, 1952; Gottfried Keller: Sieben Legenden. Edited with introduction, notes, questions, exercises, and vocabulary by Hugh W. Puckett, o. J. [1952; in gotisierender Schrift! »Printed in Germany«]; William Emerson Ritter: Charles Darwin and the Golden Rule. Compiled and edited by Edna Watson Bailey, 1954 [verlegt gemeinsam mit Science Service, Washington]. Minnie Merochnik: Essence of Life (An Arrowhead Press Book), 1956; Interlingua-Publikationen: Interlingua-English, a dictionary of the international language, prepared by the research staff of the International Auxiliary Language Association under the direction of Alexander Gode, 1951; Alexander Gode: Interlingua. A grammar for the international language, 1951; A brief grammar of Interlingua for readers, 1951; Merrill Moore: Homo Sonetticus Moorensis. A dozen English-speaking specimens / un dozena specimens de lingua anglese. With interlingua translation by Alexander Gode, 1955; Alexander Gode von Aesch: dece contos. Seligite per John Lansbury, 1958; Woodruff W. Bryne: A concise English-Interlingua dictionary, 1958; Jaroslav Podobsky: Johannes Amos Comenius, Magistro de nationes (Biblioteca de textos in Interlingua), 1958; B. C. Sexton: Dece-duo conversations, 1963.
Der Aurora-Verlag, New York Dem Typus des Exilverlags im emphatischen Sinne des Begriffs entsprachen nur wenige der in den USA entstandenen Initiativen. Am eindeutigsten wird er vom offiziell am 3. April 1944 errichteten Aurora-Verlag verkörpert,572 der formal sogar eine Gründung 572 Zum Aurora Verlag siehe v. a. Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940‒1949. Aufschlussreich auch: Anna Seghers / Wieland Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben. Ein Briefwechsel aus der Zeit des Exils 1939‒1946; Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). Vgl. ferner Der Malik-Verlag 1916‒1947; Fraser: German Exile Publishing: The Malik – Aurora Verlag of Wieland Herzfelde; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1423, 1432‒1434; Hermann: Elf exilierte Schriftsteller in Amerika: Versuch über die Entstehung des Aurora Verlages;
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elf exilierter Schriftsteller auf genossenschaftlicher Grundlage war und erklärtermaßen der »freien deutschen Literatur« eine »Tribüne« verschaffen wollte – das war auch der ursprünglich in Aussicht genommene Name des Verlags, nach der zuvor gegründeten Kulturorganisation deutscher Emigranten in New York. In einem Einladungsschreiben hieß es dazu: In Amerika leben viele deutschschreibende Autoren (deutscher, österreichischer und tschechoslovakischer Herkunft), deren Arbeiten seit dem Beginn der Hitler-Herrschaft zum grössten Teil nur in Uebersetzungen erschienen sind. Während das Interesse für die freie deutsche Literatur beständig zunimmt, fehlt es aber in den Vereinigten Staaten immer noch an einem deutschen Verlag.573 Die Idee zur Gründung eines solchen Verlags stammte bereits aus dem Jahr 1941. Damals entstand der Plan, über die Veranstaltungsorganisation der deutschen Schriftsteller »Die Tribüne« eine aus 1.000 Anteilsscheinen bestehende Verlagskooperative aufzubauen. Daraus entwickelte sich mit Wieland Herzfelde als treibender Kraft 574 und mit Beteiligung von Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Ferdinand Bruckner, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Heinrich Mann sowie Berthold Viertel, Ernst Waldinger575 und Franz Carl Weiskopf der Aurora-Verlag in New York, der sich ausschließlich
Hermann: Malik. Zur Geschichte eines Verlages 1916‒1947; Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs. Vgl. außerdem Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 437‒442. 573 Einladung zur finanziellen Unterstützung des Verlages, gezeichnet von Wieland Herzfelde. Faksimile-Abbildung in: Seghers / Herzfelde. Gewöhnliches und gefährliches Leben, S. 154. 574 Herzfelde, damals Inhaber eines kleinen Buch- und Briefmarkenladens, hatte eine schwere Zeit hinter sich. In einem Brief an den mit ihm befreundeten Upton Sinclair schrieb er: »Es war nicht leicht, für mich und meine Familie ein Auskommen zu finden, und ich musste, wie die Amerikaner sagen, den hard way gehen, der uns Europäern aber trotzdem doch noch ziemlich leicht erscheint. Ich habe Forschungsarbeiten gemacht, einige Manuskripte für Dokumentarfilme geschrieben, von denen eines sogar angenommen wurde, und die Dreharbeiten hatten auch schon begonnen, als der Geldgeber, die Loan Foundation, die Zahlungen einstellte. Dann arbeitete ich im Layout des Magazins Friday, das dann aber eingestellt wurde, dann habe ich für die Oxford Press ein Buch über den Maler Klee gemacht, dann musste ich mit scheußlichen Reproduktionen von wunderschönen Gemälden italienischer und anderer Meister hausieren gehen, und schließlich habe ich damit begonnen, Briefmarken aus der Sammlung meines Sohnes zu verkaufen, und die Folge davon ist, dass ich nun ein Briefmarkenhändler bin. Falls Sie keine bessere Verwendung für die Briefmarken Ihrer ausländischen Post, Luftpost- oder Zensurumschläge haben, überlassen Sie sie freundlicherweise mir. […] Seit ein paar Monaten verdient mein Sohn George, der jetzt 17½ Jahre alt ist, mehr Geld als ich, und zwar als professioneller Eisläufer bei einer Eisrevue des Centre Theatre«. (Brief Herzfeldes an Upton Sinclair vom 23. Mai 1943. In: »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen«, S. 264 f. englische Originalversion; die hier zitierte deutsche Übersetzung S. 266 f.). 575 Ernst Waldinger (1896 Wien – 1970 Saratoga Springs, New York) hatte seit 1922 als Angestellter in einem Wiener Fachbuchverlag gearbeitet, der Alexander Freud, dem Bruder Sigmund Freuds, gehörte, und war daneben als Schriftsteller tätig; 1934 und 1937 veröffentlichte er seine ersten Gedichtbände im Saturn-Verlag des mit ihm befreundeten Fritz (Frederick)
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Abb. 20: In seinem dritten, mit einigem Pathos formulierten Prospekt vom März 1946 war der Aurora Verlag bereits ganz auf die Literaturversorgung Nachkriegsdeutschlands orientiert – die per Lizenzvergabe nur ansatzweise realisiert werden konnte.
der Pflege und Erhaltung der Exilliteratur widmete. Die – durch die genossenschaftliche Struktur verzögerte – Gründung erfolgte spät, im Grunde zu spät, um der eigentlichen Funktion nachhaltig entsprechen zu können. Aber die in dieser Endzeit des Exils errungenen Erfolge waren doch auch beachtlich. Die operative Führung von Aurora wurde naheliegenderweise Wieland Herzfelde überlassen, dessen verlegerische Erfahrung und
Ungar. Nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 emigrierte er in die USA und fand dort eine Anstellung u. a. als Bibliothekar. An der Gründung von Aurora war er aktiv beteiligt. Nach dem Krieg arbeitete Waldinger 1947‒1965 als Professor für Deutsche Literatur und Sprache am Skidmore College in Saratoga Springs und war als Übersetzer, Lyriker und Essayist tätig.
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Kontakte zu Autoren gute Voraussetzungen für eine solche Unternehmung boten. Immerhin waren in New York zwölf Titel von allerersten Namen der deutschsprachigen Exilliteratur erschienen: Im Aurora Verlag, New York, 1945‒1947 erschienene Bücher576 1945: Bertolt Brecht: Furcht und Elend des III. Reiches, 24 Szenen; Ferdinand Bruckner: Simon Bolivar. Schauspiel; Oskar Maria Graf: Der Quasterl und andere Erzählungen; Franz Carl Weiskopf: Die Unbesiegbaren. Berichte, Anekdoten, Legenden 1933‒ 1945; 1946: Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozial-Utopien; Alfred Döblin: Sieger und Besiegte. Eine wahre Geschichte;577 Lion Feuchtwanger: Venedig (Texas) und vierzehn andere Erzählungen; Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen; Berthold Viertel: Der Lebenslauf. Gedichte; Ernst Waldinger: Die kühlen Bauernstuben. Gedichte; 1947: Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen. Roman; Morgenröte. Ein Lesebuch. Hrsg. von den Gründern des Aurora-Verlages. Einführung von Heinrich Mann. Insofern fast alle erschienenen Titel von Autoren stammen, die an der genossenschaftlichen Gründung teilgenommen haben (Anna Seghers konnte, in Mexiko lebend, nicht mitmachen, stand aber in lebhaftem Briefwechsel mit Wieland Herzfelde578 ), näherte sich Aurora dem Typus eines Selbstverlags an. Genau diese – schon in Mexiko bei El Libro Libre bewährte – verlegerische Selbsthilfe entsprach auch der Gründungsidee, denn namentlich für Gedichtbände und dramatische Szenen, letztlich auch für kurze Erzählungen gab es damals faktisch keine Publikationsmöglichkeiten. Die US-amerikanischen Verlage verlangten nach Romanen oder Romanbiographien und publizierten aussschließlich Übersetzungen. Die Bücher erschienen in Auflagen von 3.000‒4.000 Exemplaren, nur die beiden Gedichtbände von Viertel und Waldinger sowie Bruckners Bolivar blieben mit 1.500 bzw. 1.600 darunter.
576 Herrmann: Elf exilierte Schriftsteller in Amerika; Matke: Aurora Verlag und Aurora-Bücherei. Eine Ergänzung. 577 Auszug aus der Romantrilogie November 1918. 578 Der Briefwechsel gibt Einblick in die verlegerische Arbeit Herzfeldes; darüberhinaus ist die Edition angereichert mit Faksimiles wichtiger Dokumente, wie der Satzung des Verlags, Autoren- und Lizenzverträgen, Kalkulationen, Werbemittel u. a. m. (Seghers / Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben).
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Die Anthologie mit dem beziehungsreichen Titel Morgenröte geriet zu einem letzten großen gemeinsamen Statement der deutschsprachigen Exilliteratur, indem sie Beiträge von rund 45 exilierten Schriftstellern versammelte, von Hermann Broch bis Erich Weinert, von Erich Fried bis Thomas Mann und Else Lasker-Schüler. Absatzerfolge vor Ort hatte der Verlag aber kaum zu verzeichnen; eine zusätzliche, großzügig bemessene Anschubfinanzierung durch einen »großen hiesigen Buchhändler aus Cambridge«, der ‒ wie Oskar Maria Graf brieflich an Kurt Kersten berichtete579 ‒ »uns Geld gab, und sogar viel fürs Erste«, war bald aufgebraucht. Wenn Graf damals erfreut davon sprach, der Verlag sei »richtig saniert, er zahlt Honorare wie die amerikanischen ›publishers‹«, so war dieser Zustand nicht von langer Dauer. Bei dem erwähnten Buchhändler handelte es sich um Paul Mueller*, den Leiter von Schoenhof’s Foreign Books in Cambridge, Mass., der im Sommer 1945 auch den Generalvertrieb der AuroraBücher übernahm und damit ein zentrales Problem aller solchen Neugründungen zu beheben versprach. Aber Muellers finanzielle Mittel waren nicht unerschöpflich (»Schoenhof hat mich neuerlich mit Geld aufsitzen lassen«, schrieb Herzfelde im Dezember 1947 an Berthold Viertel). Immerhin kam es noch zu Lizenzvergaben: In den von den Alliierten besetzten Zonen Deutschlands und Österreichs waren damals bereits wieder neue Verlage errichtet worden, in Wien u. a. im Sexl Verlag eine Continental Edition, der im Juli 1946 eine (nur partiell genützte) Generallizenz über sämtliche Bücher des AuroraVerlags in Österreich erteilt wurde.580 In der SBZ war der Aufbau-Verlag entstanden, der schließlich die gesamte Produktion in eine »Aurora-Reihe« übernahm und fortsetzte.581 Im Frühjahr 1949 gab Herzfelde das New Yorker Unternehmen endgültig auf und ging in die eben gegründete Deutsche Demokratische Republik. Ihm selbst blieb die Wiederaufnahme seiner verlegerischen Tätigkeit seitens des Staats und der Partei verwehrt, stattdessen wurde er zum Professor u. a. für Soziologie der neueren Literatur an der Universität Leipzig berufen.582
Schoenhof Verlag, Cambridge, Mass. Der aus Wien stammende Buchhändler Paul Mueller* (1899 – 1964) war ‒ nach zeitweiliger Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau – 1939 in die USA gelangt und leitete
579 Oskar Maria Graf in einem Brief an Kurt Kersten vom 12. Juli 1945, hier zit. nach Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1433. 580 Damals bereits hatte Herzfelde in einem englisch diktierten Brief an Berthold Viertel Überlegungen zur gänzlichen Verlagerung der Verlagsproduktion nach Wien und München angestellt: »My intention is to have all future books made in Vienna and possibly also in Munich for the Austrian and German market and to produce photostatic editions in smaller amounts for the rest of the world. This production does not need too much investment and I hope to be able to furnish the capital and to do the production without help from a third side«. (Brief vom 12. Juli 1946, in: Tribüne und Aurora, S. 166). 581 Tatsächlich hatte der Aufbau-Verlag bereits zwei Titel in sein Programm übernommen, ohne das Einverständnis der Autoren einzuholen; eine vertragliche Regelung über Druck und Vertrieb sämtlicher Aurora-Titel kam erst 1948 zustande. 582 Eine Würdigung aus DDR-Perspektive: Herden: Literatur auf Vorrat. Auskünfte über den Aurora-Verlag, S. 555‒569.
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seit 1941 die deutschsprachige Abteilung der alteingesessenen Buch- und Kunsthandlung Schoenhof’s Foreign Books mit Sitz in Boston und Cambridge, Massachusetts.583 Er versuchte dort, eine Verlagsabteilung aufzubauen; im Schoenhof Verlag erschienen – nach Mascha Kalékos Versen für Zeitgenossen (1945) – zwei Romane des österreichischer Exilschriftstellers Ernst Lothar, Der Heldenplatz (1945) und Der Engel mit der Posaune (1946) – Bücher, die zuvor bereits bei Doubleday mit einiger Resonanz erschienen waren (The Prisoner, 1945; The Angel with the trumpet, 1944), als Veröffentlichung in deutscher Sprache jedoch nur wenig Publikum fanden.584 Diese verlegerischen Ansätze blieben daher ein Intermezzo und bestätigten das schwache Absatzpotential originalsprachlicher deutscher Veröffentlichungen. Mueller widmete sich in der Folge wieder dem (Import-)Buchhandel 585 und hatte dort größeren Erfolg; seit 1961 fungierte er als Präsident und Geschäftsführer von Schoenhof’s Foreign Books. Wie in den meisten anderen Ländern gab es auch in den USA neben den eigentlichen Verlagen weitere Einrichtungen oder Personen, die sich gelegentlich verlegerisch betätigten. Als Beispiele seien aus dem Bereich der Literarischen Agenturen Friderike Zweigs Writers Service Center mit vier Titeln oder Barthold Fles genannt, der – sehr wahrscheinlich unter finanzieller Beteiligung der Autoren – insgesamt vier Gedichtbände herausbrachte, zwei von Max Herrmann-Neiße und je einen von Hans Sahl und Berthold Viertel.586
Palästina Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem Dem Aufbau eines Verlagswesens waren die Verhältnisse in Palästina, seit 1948 Israel, nicht günstig. Die deutschsprachige Einwanderung litt unter dem sprachlichen Hebraisierungsdruck, der die Entfaltung eines eigensprachlichen Geisteslebens und einer entsprechenden Verlagstätigkeit unter den »Jeckes« kaum erlaubte.587 Zwar kam es zu zahlreichen Gründungen von Verlagen, die allermeisten blieben aber von begrenzter Bedeutung und Lebensdauer, denn es fehlte nicht nur an Publikum, sondern auch an der Möglichkeit des Exports. Als charakteristisch für die bescheidenen Möglichkeiten kann der Verlag von Dr. Peter Freund* (1906 Berlin – 1982 Jerusalem) gelten. In Deutschland als Rabbiner tätig gewe-
583 Siehe dazu in diesem Band den entsprechenden Abschnitt im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 584 Im Schoenhof Verlag erschienen außerdem: Jacques Maritain: Von Bergson zu Thomas von Aquin. Acht Abhandlungen über Metaphysik und Moral, 1945; sowie Thomas Jefferson: Auswahl aus seinen Schriften. Übersetzt und hrsg. von Walter Grossmann, 1945 (AmerikaBücherei, 1). Die »Amerika-Bücherei« fand nach diesem ersten Band keine Fortsetzung. 585 Zu seiner Rolle im Zwischenbuchhandel siehe das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. 586 Näheres dazu im Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 587 Umfassende Information zum Publikationswesen in Palästina / Israel bietet jetzt der Band: Kilcher / Edelmann-Ohler: Deutsche Sprachkultur in Palästina / Israel, mit Beiträgen von Andreas Kilcher u. a. über Strukturen und Paradigmen der belletristischen Literatur 1933‒1948, und von Eva Edelmann-Ohler über die Publikationsbedingungen in Palästina / Israel (Zeitungen und Periodika, Verlage und Druckereien).
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sen, kam Freund 1935 nach Palästina und eröffnete in Jerusalem ein Vervielfältigungsbüro, dem er 1941 einen Verlag angliederte, in welchem er 1941‒1945 rund 35 deutschsprachige Publikationen herausbrachte.588 Freund verfolgte anfänglich das Projekt einer systematischen Herausgabe deutscher Dichtung in Palästina (so in Nr. 1 der Hausmitteilungen des Verlags): Einen Schwerpunkt bildeten daher Ausgaben von Gedichten, teils von kaum bekannten Autoren und Autorinnen, teils aber auch von namhaften jüdischen Schriftstellern wie Ludwig Strauss, Manfred Sturmann, Gerson Stern oder Arie Goral (früher Walter Sternheim);589 der junge Heinz Politzer erwarb sich später in den USA einen Namen als Germanist. Einen anderen Schwerpunkt bildeten an Martin Buber orientierte Veröffentlichungen zu jüdischem Denken und jüdischer Religion, mit Werken von Walter Goldstein oder Ismar Freund. Einige wenige Bücher erschienen auch in englischer oder hebräischer Sprache. Bei den Büchern des Verlages Peter Freund handelte sich in der Anfangszeit um »stencil-Drucke«: Freund selbst tippte die Manuskripte auf einer alten Schreibmaschine auf Wachsmatrizen und vervielfältigte diese auf einem handkurbelbetriebenen Abziehgerät in einer Auflage von 100, höchstens 200 Exemplaren. Auch die Umschläge wurden von Freund selbst angefertigt.590 Für viele deutschsprachige Autoren in Palästina stellte diese bescheidene Publikationsform die einzige Möglichkeit dar, ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Deutschsprachige Bücher hatten in Palästina nur geringe Akzeptanz, der Kreis der Interessenten war klein, und die so schlicht ausgestatteten Broschüren wirkten auf viele Buchliebhaber wenig attraktiv. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als allgemein der Kontakt zu den europäischen Verlegern wieder hergestellt war, kam die Tätigkeit des Verlags bald zum Erliegen. Publikationen der Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem, 1941‒1950 1941: Ludwig Hoffmann: Gedichte; Benedikt Kurzweil: Die jüdische Nachkriegsgeneration in Agnons »Oreach nata lalun«; Heinz Politzer: Gedichte [als provisorischer Privatdruck in 150 nummerierten Exemplaren erschienen; Blockbuch]; Gershon Sari (d. i. Gerson Poritzer): Schlomo geht zur Stadt. Schauspiel in fünf Akten; Ludwig Strauss: Fünfzig Gedichte aus den Jahren 1934 bis 1940; Manfred Sturmann: Gedichte;
588 Bibliographie der Schriften der Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem. 589 Arie Goral-Sternheim gehörte mit Else Lasker-Schüler, Uriel Meyer oder Sally Großhut zu dem kleinen deutschsprachigen Dichterkreis, der sich, mit Unterstützung des Arztes Willy Heymann, zu Lesungen u. a. in den Räumlichkeiten des Buchhändlers Ulrich Salingré* traf. Aus diesem Dichterkreis heraus sind auch einige Bändchen des Peter Freund-Verlags entstanden. 590 Siehe dazu auch das Beispiel des Gedichtbandes von Heinz Politzer in Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung.
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1942: Walter Goldstein: In Memoriam Hermann Cohen. Seine Bedeutung für die Zukunft Jisraels. Mit einer einleitenden Äußerung von Martin Buber: Cohen und die Gottesliebe; Leopold Marx: Hachscharah. Gedichte; Gedichte des Kavaphis. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Walter Jablonski, Folge 1; Walter A. Sternheim: Gedichte; Willy Verkauf: Der Weg. Gedichte; Gertrud Wertheim: Gedichte; 1943: Elfriede Bergel-Gronemann: Begegnung im Spiegel; Hugo Freund: Beiträge zu einer konstruktiven Psychologie; Ruth Joachimsthal-Freund: Ausgewählte Gedichte; Walter Goldstein: Begegnung mit Martin Buber; (Die Freunde Österreichs. Rundschreiben für unsere Mitglieder, in Komm.); Walter Koshland: Mother-right and biblical Judaism; Ansprache zum Gedächtnis des Malers Ludwig Jonas (1887‒1942), gehalten in Jerusalem am 13. Februar 1943 von Heinz Politzer (auch in hebr. Sprache: Hains Poliser: Le-zeker Ludvig Yonas); Walter A. Sternheim: Der Wanderer. Dichtungen 1942‒1943, 2 Teile (1: Der Storchenzug, 2: Der Jäger, der Tod und die Lerche) [in jeweils 50 Ex. erschienen]; Rahel Straus: Mutter und werdendes Kind. Mutter und Säugling; 1944: Bruno Jurmann: Der Sternenweg [Gedichte]; 1945: Walter Goldstein: Mif ’alo haf-filosofi sel Hermann Kohen (»Das philosophische Werk von Hermann Cohen«); Gerson Stern: Stille Wege. Verse, 2. Aufl.; Gerson Stern: Stille Wege. Verse (Privatdruck, Interimsausgabe); 1946: Swinburne [Gedichte]. Ausgewählt und übertragen von Otto Blumenthal, 1946; 1947: Walter Jablonski: Lebensbilder [Gedichte], 2., verm. Aufl. 1947; Julius [Posener]: In Deutschland 1945‒1946; 1948: Walter Goldstein: Gottes Wittwer und Gottes Boten. Eine vergleichende Betrachtung von Existentialismus und Dialogik, Jean-Paul Sartre und Martin Buber [zum 70. Geburtstag Martin Bubers];
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1949: Elsa Ehricke: Erste Bekundungen. Gedichte bis 1935; Meir Fraenkel: Lason ha-am: be seruf millon (»Die Sprache des Volkes«); Aharon Loga (d. i. Arno Rund): Jerusalemer Kriegstage. Ernste und heitere Erlebnisse eines Mischmar Haam-Mannes und Chim-Soldaten; Paul Mühsam: Sonette an den Tod [Blockbuch]; Paul Riesenfeld: Mozart, der Tondichter [mit Notenbeispielen]; 1950: Ismar Freund: Diaspora und Israel. Das Problem der doppelten Loyalität. Im Auftrag der Jewish Agency dargestellt von I. Fr.
Olamenu Publishing House, Tel Aviv Das von Hugo Gold* (1895 Wien – 1974 Tel Aviv) in Tel Aviv gegründete Olamenu Publishing House kann als eine Fortsetzung des Jüdischen Buch- und Kunstverlags betrachtet werden, den Gold 1924 von seinem Onkel Max Hickl in Brünn übernommen und den er mit der Publikation von Kalendern und populären jüdischen Zeitschriften sowie Standardwerken zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in Böhmen und Mähren bis zu seiner Flucht nach Palästina weitergeführt hatte.591 Nach sechsmonatiger Internierung gelang ihm 1943 die Wiedereröffnung seines Verlages als Olamenu Publishing House in Tel Aviv; unter großen materiellen Schwierigkeiten, fast ohne Mitarbeiter und zum Teil angefeindet von etablierten Historikern, publizierte Gold Bücher über das mitteleuropäische Judentum. Eine eigentliche Verlagstätigkeit ist allerdings erst ab den 1950er Jahren nachweisbar (z. B. mit der Geschichte der Juden in der Bukowina, 2 Bde., 1958/1962, oder den Gedenkbüchern Geschichte der Juden in Wien 1966 und Geschichte der Juden in Österreich 1971). In dem Verlag erschienen Festschriften für Max Brod und den Historiker des Frühzionismus Nathan Michael Gelber sowie die Schriftenreihe des nur auf dem Papier bestehenden »Zwi-Perez-Chajes-Instituts« von Harry Zohn. Von 1964 bis 1975 verlegte Gold die Zeitschrift für die Geschichte der Juden, 1971 veröffentlichte er in seinem Verlag das von ihm verfasste bio-bibliographische Lexikon Österreichische Juden in der Welt. Gold brachte in seinem Olamenu Verlag neben Sachbüchern auch Erzählliteratur heraus, so 1965 von Ernst Joseph Görlich Ruth. Geschichte eines Wiener jüdischen Mädchens oder 1972 die Gedichte von Stella Rotenberg.
Joachim Goldstein, Tel Aviv Nur am Rande auch belletristische Literatur publizierte der von Joachim M. Goldstein* (1904 Berlin – 1969 West-Berlin) in Tel Aviv geführte Verlag. Goldstein war 1928 Gründer und bis 1935 Eigentümer des Theaterverlags Literatur und Bühne; danach führte er mit Zulassung der Behörden bis 1938 den Joachim Goldstein Jüdischen Buchverlag in
591 Vgl. Adunka: Über den israelischen Verleger und Historiker Hugo Gold.
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Berlin-Wilmersdorf mit Veröffentlichungen für den Reichsverband der jüdischen Kulturbünde in Deutschland.592 Im Oktober 1938 ging er nach Palästina und gründete in Tel Aviv einen Verlag, in dem er u. a. Bücher von Max Brod (Das Diesseitswunder oder Die jüdische Idee und ihre Verwirklichung, 1939; Der Hügel ruft. Ein kleiner Roman [gemeinsam m. Norbert Garai], 1942), Hans Tramer (Die Verantwortung des Dichters (Fragen der Zeit, 1), 1939), Schalom Ben-Chorin (Jenseits von Orthodoxie und Liberalismus. Versuch über die jüdische Glaubenslage der Gegenwart, 1939) sowie Hans Simon (Wir Juden, 1942) herausbrachte. Einige Titel erschienen in englisch- und hebräischsprachiger Ausgabe. Daneben versuchte sich Goldstein auch im Ratgeberbereich, mit Titeln wie Krankenkost. Wie ernährt sich der Kranke zweckmäßig und billig (1941) von Sam Horwitz oder Küchenzettel in Krisenzeiten. Zeitgemäße Rezepte und Menuzusammenstellungen (1940) von Erna Mayer. Dem Verlag war auch ein Gebrauchtbuchhandel angeschlossen; 1938 brachte Goldstein hierzu ein Verzeichnis Nr. 1 heraus. 1942 gab er die Verlagsarbeit auf und übte bis 1945 eine Verwaltungstätigkeit in der britischen Armee aus, später erwarb er die Ginzburg Theateragentur in Haifa.593
Verlag Willy Verkauf, Jerusalem Nur kurze Zeit existierte der Verlag, den Willy Verkauf* (1917 Zürich – 1994 Wien) in Jerusalem errichtet hat. 1933 nach Palästina geflüchtet, hatte er dort 1938 in einem Hausflur in Tel Aviv seine erste Buchhandlung einrichten können, die er zeitweise gemeinsam mit dem ebenfalls aus Österreich emigrierten späteren Musikwissenschaftler Kurt Blaukopf geführt hat.594 Daneben war Verkauf auch publizistisch tätig, u. a. Korrespondent der Zeitschrift Das Wort. 1939 wurde er von der britischen Mandatsverwaltung wegen des Verdachts kommunistischer Betätigung zu 12 Monaten Gefängnis verurteilt, 1940 setzte er seine buchhändlerische Tätigkeit in Jerusalem fort, und gründete dort zwei Jahre später den Verlag Willy Verkauf, in welchem er v. a. österreichische Autoren publizierte, darunter Franz Theodor Csokor; hier gab er auch die Schriftenreihe des Free Austrian Movement in Palestine heraus, als dessen Generalsekretär er fungierte. Nach Kriegsende kehrte Verkauf nach Österreich zurück, trat der KPÖ bei und wurde 1946/ 1947 in Wien Mitarbeiter beim Globus-Verlag, dessen Buchhandlung er aufbaute. Noch vor seinem Ausschluss aus der KPÖ gründete Verkauf in Wien seinen eigenen Buchund Zeitschriftenverlag Willy Verkauf, in dem er die Zeitschriften Erbe und Zukunft
592 Siehe auch SStAL, BV, F 15.126 (mit Auskunftsbogen 1926). 593 Goldstein war auch kaufmännischer Direktor des Cameri Theaters in Tel Aviv und der dortigen Volksoper. 1957 kehrte er nach West-Berlin zurück und war hier u. a. als Lektor im Max Hesse Verlag und als Intendant für die Deutsche Oper tätig; außerdem arbeitete er als Journalist für verschiedene Zeitungen. 594 Siehe hierzu das Erinnerungsbuch Verkaufs sowie die Sammlung seiner Gedichte: Mit scharfer Optik. Ein Leben für Kunst und Politik. Wien: Löcker 1989; Tanzend auf einem Bein. Gedichte 1939‒1989. Wien 1990. Siehe ferner Willy Verkauf-Verlon: Heimkehrprobleme in Palästina und Israel. Stationen der Emigration, Immigration und Rückkehr. In: Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1938‒1945. Hrsg. von Johann Holzner, Sigurd Paul Scheichl u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck: Institut für Germanistik 1991, S. 99–110.
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(1946‒1948) und Bücherschau. Zeitschrift für den Bücherfreund und den internationalen Buchhandel (1947‒1954) herausgab. Mit den Schweizer und deutschen Verlegern Arthur Niggli und Gerd Hatje begründete Verkauf die »Janus Bibliothek der Weltliteratur«;595 von 1951 bis 1954 hielt er sich häufig in St. Gallen, 1954 bis 1958 in Haifa auf. In Wien führte er eine Galerie für moderne Kunst und trat unter dem Pseudonym André Verlon hier und 1961‒1971 auch in Paris als freier Schriftsteller, Maler und Graphiker hervor. 1991 stiftete Verkauf gemeinsam mit seiner zweiten Frau Helga einen nach ihnen beiden benannten Preis für österreichische antifaschistische Publizistik.
Edition Olympia, Tel Aviv Über die z. T. auf großes Publikum berechneten verlegerischen Aktivitäten Martin Feuchtwangers* in Deutschland und in der Tschechoslowakei ist bereits berichtet worden;596 in eine ganz andere Richtung entwickelte sich aber die Edition Olympia, die er nach seiner im September 1939 erfolgten Einreise nach Palästina gegründet hat.597 Eine sichere Grundlage sollten zunächst englischsprachige Reiseführer für das Einwandererland bieten (Palestine Guide. For Navy, Army and Air Force, 1940; Guide to Tel Aviv, Jaffa [darin: Martin Feuchtwanger: In praise of Tel Aviv. A newcomer’s impression], 1941).598 Besondere Hervorhebung verdient der mit mehr als 200 Fotografien aufwändig ausgestattete Bildband Palestine in War (1941) mit dreisprachigem (englischem, hebräischem und arabischem) Text, dessen mit 5.000 Exemplaren sehr optimistisch bemessene Startauflage sich aber schlecht verkaufte: »Unter dem Druck seiner Kosten verramschte Feuchtwanger daher 4.500 Exemplare an Bücherhausierer, die die Auflage darauf hin – zum Verdruss des Verlegers – im Direktvertrieb zum Originalpreis profitabel absetzten«.599 Umso sichereren Absatz erhoffte er sich von medizinischen und juristischen Ratgebern (Keep healthy in Palestine, ca. 1943); Fritz Gillis, H. Knopf: The reparation claim of the Jewish people, 1944), aber auch von der Wiederbelebung seines schon früher erfolgreichen Konzepts einer billigen Romanreihe: Von der 1943 ins Leben gerufenen Serie »The famous novel« ist aber nur ein Titel (William Somerset Maughams Rain, 1940, »No. 4« der Reihe) nachweisbar; ihre Realisierung dürfte also – in diesem Fall wohl aufgrund kriegsbedingter Papierkontingentierung – ebensowenig gelungen sein wie die einer bereits 1941 angekündigten »Feuchtwanger’s Miniature-Library«, die im Ratgeberbereich angesiedelt sein sollte. Auch eine geplante Programmschiene »Books for Children« ist nicht zustande
595 Der Willy Verkauf Verlag GmbH Wien firmierte seit 1954 in Bregenz und ging 1959 in Teilen an den Verlag Arthur Niggli GmbH, Bregenz; ein Teil der Rechte und Bestände verblieb aber beim Wiener Verlag. 596 Siehe dazu weiter oben, im Abschnitt Tschechoslowakei 597 Vgl. zum Folgenden Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag »Edition Olympia« in Tel Aviv [mit zahlreichen Abbildungen; auch online verfügbar]. 598 1940 erschienen auch Travels in Palestine und eine Faltkarte Palestine Guide. Large Map of Palestine. Mit lokalgeschichtlichem Bezug später auch: Gideon Weigert: Days and nights in the old city. Sketches of Arab life in Jerusalem, 1944. 599 Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag »Edition Olympia«, S. 83.
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gekommen.600 Ein deutlicher Schwerpunkt bildete sich dann aber mit deutsch- und englischsprachigen Büchern zu jüdischen Themen aus (etwa Walter Preuss: Ein Ring schließt sich. Von der Assimilation zur Chaluziuth, 1950),601 wozu im weiteren Sinne auch Erinnerungsbücher von Emigranten gehörten (z. B. Ben-Zwi Kalischer (d. i. Heinz Wisla): Vom Konzentrationslager nach Palästina. Flucht durch die halbe Welt, ca. 1944; Käte Werner: Wir sind alle nur Menschen, ca. 1945) oder Bücher, die sich auf das Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung bezogen (Chaim Heinrich Kuhn: Juden und Araber. Eine historische Rück- und Vorschau, ca. 1944; Gideon Weigert: Days and nights in the old city. Sketches of Arab life in Jerusalem, 1944). Ein weiterer Schwerpunkt entstand später mit Lyrikausgaben, u. a. von Jehuda Louis Weinberg (In den Vorhöfen des Heiligtums. Sonette, ca. 1950; Sonette des Gedenkens, ca. 1950) und anderen Autoren (u. a. Otto Klepetar: Leid und Aufschwung. Lieder aus Israel, ca. 1951). So sind von 1940 bis 1952 in der Edition Olympia in Tel Aviv rund 40 Titel erschienen, wobei bei einem Teil der deutsch- oder englischsprachigen Bücher auch eine zusätzliche hebräischsprachige Ausgabe erstellt worden ist. Gemessen an seinen einstigen wirtschaftlichen Erfolgen musste Feuchtwanger das in Palästina Erreichte und Erreichbare unbefriedigend erscheinen; Anfang 1946 berichtete er seinem Bruder Lion nach Kalifornien: wie klein und bedeutungslos meine hiesige verlegerische Tätigkeit ist. Es liegt an dem Land – in dem nur 55.000 Juden leben […] und das wie eine von der Welt abgeschnittene Insel ist. Ernaehren kann ich mich von diesem Verlag nicht. Meine Haupttätigkeit besteht im Kochen.602 Seit 1950 schrieb der Verleger an seinen Lebenserinnerungen; der erste Teil davon erschien, als Roman deklariert, unter dem Titel Ebenbilder Gottes im März 1952 in der Edition Olympia, wenige Monate vor dem Tod Feuchtwangers. Nicht mehr erlebt hat er das Erscheinen der von ihm maßgeblich geförderten, von Ludwig Fritz Toby erstellten genealogischen Dokumentation The Feuchtwanger Family. The Descendants of Seligmann Feuchtwanger (datiert 1952, erschienen 1953) in seinem Verlag. Seine mit dem zweiten Teil komplettierten Lebenserinnerungen konnten unter dem einem Gedicht Weinbergs entnommenen Titel Zukunft ist ein blindes Spiel überhaupt erst Jahrzehnte später, 1989, bei Langen Müller veröffentlicht werden. 600 Dass 1950 einige Nummern der Internationalen Zeitschrift für Orgonomie, dem Organ der Wilhelm Reich Foundation für die deutschsprachigen Gebiete in der Edition Olympia erschienen sind, war der direkten Nachbarschaft Feuchtwangers mit einem Schüler W. Reichs, Walter Hoppe, geschuldet. Eine Gefälligkeitspublikation war 1946 auch der Roman Love Waits Round the Corner von Herbert Rona (d. i. Herbert Rosenthal), »eine Liebesgeschichte in Form eines dialogischen Drehbuchs. Der Autor brauchte das Buch als Visitenkarte für seine Ambitionen in Hollywood und hat die Produktion daher selbst bezahlt« (Jaeger, S. 86). 601 Weitere Beispiele: Felix Aaron Theilhaber: Judenschicksal. Acht Biographien, ca. 1945; Manfred Reifer: Dr. Mayer Ebner. Ein jüdisches Leben, 1947; Josef Kastein (d. i. Julius Katzenstein): Wege und Irrwege. Drei Essays zur Kultur der Gegenwart, ca. 1947. Da die Bücher der Edition Olympia ohne Jahreszahl erschienen sind, orientieren sich alle diese Angaben an den Datierungen der DNB. 602 Martin F. an Lion Feuchtwanger am 16. Februar 1946 (Feuchtwanger Memorial Library); hier zit. n. Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag »Edition Olympia«, S. 86.
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Tarshish Books, Jerusalem Tarshish Books in Jerusalem war eine Gründung Moritz Spitzers*, der noch bis Ende 1938 in Deutschland Leiter des Schocken Verlags gewesen war.603 Im März 1939 nach Palästina geflüchtet, machte er sich hier um die Hebung des Schriftgießerei- und Druckgewerbes verdient, und auch die Bücher seines Tarshish Verlags sollten in Satz, Druck und Austattung neue Qualitätsmaßstäbe setzen. In den 1940er Jahren waren es hauptsächlich englischsprachige (u. a. Yisrael Meir Lask: Palestine stories, 1942; Shmuel Yosef Agnon, Meir Lask: Land of Israel earth, 1942) und hebräischsprachige Publikationen (Martin Buber: Gog u-magog, megilat yamim, 1944; Bücher von Abraham Meir Habermann, Shlomo Zemach u. a. m.). Hinzu kamen später Übersetzungen ins Hebräische etwa von Friedrich Hölderlin (Schirim niv’charim, übersetzt von G. Liebes 1948) und von R. M. Rilkes »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« von Itshak Shenhar, 1952. Aber auch deutschsprachige Titel wurden bei Tarshish produziert, so 1956 Devora Hyrkanosʼ Lieder der Talita, und 1959 erschien eine 2. Ausgabe von Else Lasker-Schülers berühmter Gedichtsammlung Mein blaues Klavier. Neue Gedichte; die erste Ausgabe hatte Moritz Spitzer 1943 in 330 nummerierten Exemplaren auf eigene Kosten bei der Jerusalem Press herausgebracht, einem von ihm offenbar eigens für diesen Zweck gegründeten bibliophilen Imprint von Tarshish Books.604 In Palästina gab es nach 1933 noch mehrfach Versuche von deutschen Einwanderern, verlegerisch aktiv zu werden, die aber oft nach den allerersten Publikationen wieder aufgegeben wurden. Als ein Beispiel sei genannt Manfred Rothschild, der in Jerusalem einen Literaturverlag aufbauen wollte, von dem allerdings nur zwei Titel nachweisbar sind, ein Sammelheft jüdischer Dichtung, an dem Schalom Ben-Chorin mitgearbeitet hat und das Gedichte von Else Lasker-Schüler enthält (Die Ernte, 1936), sowie der Lyrikband Wort aus Leere von Werner Kraft, erschienen 1937.
Südamerika Editorial Cosmopolita, Argentinien In Argentinien kam es aufgrund günstiger gesellschaftlicher und kultureller Voraussetzungen − nach 1933 waren dort mit 30.000 die relativ meisten Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich untergekommen – zur Gründung mehrerer Verlage durch Exilanten. Zwei aus Deutschland mitgebrachte Bücherkisten waren die Basis für das Buchhandelsunternehmen, das James Friedmann* (ursprgl. Isidor Friedmann, 1900 Posen – 1971 Buenos Aires) in Argentinien aufbaute.605 Er war als Buchhändler und als Verleger juristischer Fachliteratur in Berlin tätig gewesen, bis er 1935 als Jude aus der RSK ausge-
603 Zu Spitzer siehe auch den Abschnitt über Typographie im Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 604 Die Jerusalem Press hat nachfolgend nur sehr wenige Bücher herausgebracht, wie Arie Gorals (Walter A. Sternheims) Ballade vom Kaliban (1944) oder The Jubilee of the First Zionist Congress 1897‒1947 (1947). 605 Vgl. Rojer: Exiled Novelists of Argentina’s Editorial Cosmopolita; Höchtl: Buenos Aires ‒ eine neue Heimat? Die Integration der deutschen Juden in der argentinischen Hauptstadt
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Abb. 22: Die Editorial Cosmopolita informierte Buchhandel und Publikum mittels eines Verlagsverzeichnisses, darüber hinaus leistete sie sich eine (allerdings kurzlebige) Zeitschrift für die »amigos del libro« (1943/44).
schlossen wurde und seine Firma James Friedmann & Co. schließen musste. Eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis wurde ihm in verschiedenen europäischen Ländern verweigert. 1938 flüchtete Friedmann aus Deutschland und kam auf abenteuerlichen Wegen über die Flussgrenze aus Paraguay nach Argentinien. In Buenos Aires war er in den ersten Monaten als Wanderbuchhändler tätig, der Privatkunden in ihrer Wohnung aufsuchte; die besagten beiden Bücherkisten bildeten dafür den Grundstock. Gleichzeitig erwarb er preisgünstig Bücher von Mitemigranten, oft ganze Bibliotheken. Bald richtete er in einem Winkel eines Zigarrengeschäfts einen Bücherstand mit antiquarischen Büchern ein, aus dem die deutschsprachige Buchhandlung Cosmopolita mit angeschlossener Leihbibliothek entstand. Um der schlechten Versorgung mit zeitgenössischer (unpolitischer) Literatur abzuhelfen, entschloss sich 1940 ein Komitee von Emigranten zur Gründung eines Freien deutschen Buchverlags, der wenig später, um behördlichen Vorschriften zu entsprechen, in Editorial Cosmopolita umbenannt wurde. Friedmann fungierte – zunächst als »Verleger wider Willen« – als Verlagsdirektor; als Auslieferungsnetzwerk sollten die Hilfskomitees der Einwanderungsfürsorgestellen hauptsächlich in ganz Nord- und Südamerika dienen. Seine besondere Aufgabe sah der Verlag in der geistigen Fürsorge für die versprengten, freiheitlich gesinnten Geistesarbeiter, denen Veröffentlichungsmöglichkeiten geboten werden sollten. In der Editorial Cosmopolita erschienen bis 1949 an die 30 Buchveröffentlichungen, fast alle in deutscher Sprache und somit an die in Argentinien relativ große Gruppe der Emigranten gerichtet.
1933‒1939. Vgl. ferner Kießling: Exil in Lateinamerika. 2., erw. Aufl. 1984, S. 466‒475 (Kap. »Exkurs: Editorial Cosmopolita und andere«).
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Das Programm war äußerst vielfältig: Eine in den ersten Jahren durchgehende Linie entstand aber mit illustrierten Märchenbüchern von Andersen, Grimm, Hauff und Bechstein, später gefolgt von Wilhelm Busch. Eine andere Linie bildeten die Romane und (auto)biographischen Werke von exilierten Autoren, die vor Ort lebten, wie überhaupt die in Buenos Aires vorhandenen Kapazitäten in verschiedener Richtung genützt wurden: mit praktischen – sprachlichen oder juristischen, auch unterhaltsamen – Handreichungen für die Flüchtlinge, die sich in Argentinien orientieren und neu verwurzeln wollten (z. B. Geiringer); mit Publikationen, die auf das reiche Theater-, Kabarett- und Musikleben in der Hauptstadt Bezug nahmen (besonders von Paul Walter Jacob), und mit dem einzigen politischen Buch, das als solches ganz untypisch war für das Editorial CosmopolitaProgramm und von einem in Buenos Aires lebenden Politemigranten stammte, von August Siemsen, der in seiner Reden- und Aufsatzsammlung Die Tragödie Deutschlands und die Zukunft der Welt seiner Wandlung vom linken Sozialdemokraten606 zum entschiedenen Vertreter einer sozialistischen Neuordnung unter Überwindung des Kapitalismus Ausdruck gab. Die enorme Bandbreite des Programms dokumentierte sich auch durch eine romanhafte Darstellung des österreichischen Spionagefalls Oberst Redl einerseits und die 100 ausgewählten Rezepte der Wiener Küche andererseits. Publikationen der Editorial Cosmopolita, Buenos Aires, 1942‒1949 1942: Livia Neumann: Hab Mut zum Glück!; Andersens schönste Märchen. Zeichnungen von Werner Basch; 1943: Curt Ernesto Bellak: Ein praktischer Führer durch das argentinische Recht, Bde. 1‒ 3, 6‒7, 1943‒1944; Juan Jorge Geiringer: Was nicht im Wörterbuch steht: Argentinismen. 2000 argentinische Worte ins Deutsche übertragen; Herbert Highman: Diccionario electrotecnico internacional; Livia Neumann: Puerto nuevo ‒ Neuer Hafen. Roman; Grimms schönste Märchen. Zeichnungen von Werner Basch; 1944: Adolf Borstendoerfer: Graf Ciano. Roman; Herz an der Rampe. Ausgewählte Chansons, Songs und Dichtungen ähnlicher Art, hrsg. von Hans Jahn und Karl Kost (mit Texten von B. Brecht, Fred Heller, M. Herrmann-Neiße; Mascha Kaléko, Walter Mehring, Kurt Tucholsky u. a. m.); Hans Jahn: Babs und die Sieben, eine lustige Geschichte für Kinder von 12‒80 Jahre; Hauffs schönste Märchen. Zeichnungen von Werner Basch; Universus [Ps.]: Humorismo mundial – All worlds humor – Humour à travers le monde – Humor aus aller Welt;
606 August Siemsen, Bruder der Sozialpädagogin, Politikerin und Pazifistin Anna Siemsen, war vor 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD bzw. SAPD. 1952 remigrierte er in die Bundesrepublik, 1955 übersiedelte er in die DDR und trat dort der SED bei.
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1945: Günter Ballin: Zwischen gestern und morgen. Roman; Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch; Gil Buster (Ps.): Das tönende Band. Kriminalroman; Doris Dauber: Eine Nacht, ein Leben. Roman [eigentl. Autobiographie] (Vorwort: August Siemsen); Fred Heller: Das Leben beginnt noch einmal. Schicksale der Emigration; José Hernández: Martin Fierro. Ins Deutsche übertragen von Adolf Borstendoerfer; S. E. Kelly [Ps. von Livia Neumann, geb. Székely]: Der Meisterspion. Roman. Das Geheimdossier des Falles Redl. Mit 26 Reproduktionen von Originalfotos und Dokumenten aus dem Wiener Kriegsarchiv (Abenteurer der Zeitgeschichte); Karl Kost: Menschen essen Stickstoff. Roman; Johan Luzian: Der ungläubige Thomas. Roman; August Siemsen: Die Tragödie Deutschlands und die Zukunft der Welt. Aufsätze und Reden; Paul Walter Jacob: Rampenlicht. Köpfe der Literatur und des Theaters. (Mit 20 Skizzen von Arthur Reiss); Paul Walter Jacob: Zeitklänge. Komponisten-Porträts und Dirigenten-Profile; 1946: Hermann Baumgart: Der Kasinogeist. Liebe, Spiel und Leidenschaften in Mar del Plata. Ein sommerlicher Roman; 100 ausgewählte Rezepte der Wiener Küche, nach Hess-Ziegenbein; Maximilian Blochert: Lachen und Schmunzeln. Vorträge, Couplets, Conferencen, Witze usw.; Universus [Ps.]: 50 ausgewählte Denksportaufgaben. Intelligenz-Prüfungen mit Auflösungen; 1947: Wilhelm Busch: Max und Moritz, eine Bubengeschichte in sieben Streichen, 1947; 1948: Fred Heller: Familienalbum einer Stadt; Bruno Weil: Durch drei Kontinente; 1949: Richard Otto Frankfurter: Der Eid des Hippokrates. Roman. Die Umschlaggestaltungen und -zeichnungen stammten überwiegend von Arthur Reiss, teilweise auch von Werner Basch, der hauptsächlich als Illustrator für den Verlag tätig war. In der Editorial Cosmopolita erschienen auch Zeitschriften, so ab 1943 ein Nachrichtenblatt für Bücherfreunde in deutscher Sprache Literatura sowie 1945/1946 kurzzeitig das Magazin Panorama. Unsere Zeit im Querschnitt. Selecciones universales en Aleman. Friedmann konnte sein buchhändlerisches Unternehmen, zu dem schon in den 1960er Jahren drei Filialen und die größte deutschsprachige Leihbücherei des Landes
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gehörten,607 bis zu seinem Tod 1971 noch bedeutend vergrößern, nachdem er sie 1963 in eine Kapitalgesellschaft Cosmopolita S.R.L. umgewandelt hatte; der angeschlossene Verlag brachte seit damals v. a. Bücher über Technik und Fortbildungsliteratur in spanischer Sprache heraus.608
Editorial Estrellas, Buenos Aires
Abb. 23: Swarsenskys Plädoyer für einen Judenstaat im Sinne Theodor Herzls erschien in schlichtem, aber von Walter Wind überlegt gestaltetem Gewand.
Die Editorial Estrellas, ein Verlagshaus für deutschjüdische und argentinisch-jüdische Schriftsteller, war eine Gemeinschaftsgründung von Hardi Swarsensky* (1908 Berlin – 1968 Buenos Aires) und Günter Friedländer* (1914 Halle – 1994 Miami Beach). Swarsensky hatte 1932 ein rechtwissenschaftliches Studium in Leipzig abgeschlossen, erhielt aber 1933 Berufsverbot und emigrierte 1939 nach Argentinien.609 Friedländer hatte seit 1932 an der Hochschule für Politik studiert, von 1933 bis 1938 die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin besucht und war 1937 als Hilfsprediger der jüdischen Gemeinde Berlin, ab 1938 als freier Journalist tätig gewesen;610 1939 flüchtete er über Frankreich und Bolivien nach Argentinien und wurde Rabbiner in Buenos Aires. Swarsensky und Friedländer riefen noch im gleichen Jahr in der argentinischen Hauptstadt die zionistische Zeitschrift Jüdische Wochenschau (»Semana Israelita«) ins Leben, die Swarsensky bis 1968 verlegte und redigierte;611 1942‒1945 gaben die beiden auch die Zeitschrift Porvenir – Zeitschrift für alle Fragen des
607 Nach dem Bericht von Sigfred Taubert von seiner Lateinamerika-Reise (Taubert: Lateinamerika (1961), S. 124). Dazu mehr im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 608 James Friedmann hat ein autobiographisches Werk (mit einem Lebenslauf auf S. 359) verfasst, das bis heute (2020) unveröffentlicht geblieben ist: Muttersprache – das Vaterland der Heimatlosen. Erinnerung und Dokumentation eines deutschen Verlegers in der Emigration mit anschliessender Anthologie aus vergriffenen Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Argentinien 1938‒1946. Buenos Aires 1963 [Unveröff. Typoskript mit hs. Ergänzungen und Korrekturen, im Deutschen Exilarchiv, EB 68b/1, DNB, Ffm]. Eine Kopie von Muttersprache: Das Vaterland der Heimatlosen befindet sich auch in der German and Jewish Intellectual Émigré Collection, (GER-034), M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, The University at Albany. Vgl. auch HABV / DNB 25, 1–6: Splitternachlass James Illy Friedmann (6 Schnellhefter mit fotografischen Reproduktionen, Original-Titelblättern und Material für eine Anthologie aus den Publikationen der Editorial Cosmopolita, OriginalSchutzumschläge). 609 Vgl. zum Folgenden Furtado Kestler: Die Exilliteratur und das Exil der deutschsprachigen Schriftsteller und Publizisten in Brasilien. 610 Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika (1984), S. 468 f. 611 Hierzu Schirp: Die Wochenzeitung »Semanario Israelita«.
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jüdischen Lebens heraus. Beide Blätter erschienen in der 1942 ebenfalls gemeinsam gegründeten Editorial Estrellas, in der anfänglich einige bemerkenswerte autobiographische und literarische Werke erschienen, wie Franz Werfels Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift oder ein Roman Paul Zechs. Die 1941 begonnene Reihe »Sternen-Bücherei« fand nach zwei Titeln keine Fortsetzung, und auch zu der im Jahr darauf ins Leben gerufenen Serie der »Lese- und Quellenbücher jüdischen Wissens« sind nur vier Titel nachweisbar. Seit 1945 diente der Verlag hauptsächlich der Veröffentlichung eigener Werke, beginnend mit der von den Gründern gemeinsam herausgegebenen Anthologie Das Buch des Lebens sowie einigen zionistisch orientierten Abhandlungen Swarsenskys, denen zwanzig Jahre später noch ein Buch über die Reichspogromnacht 1938 folgte. Publikationen der Editorial Estrellas, Buenos Aires Heinrich Zschokke: Die Gründung von Maryland (Sternen-Bücherei, 1), 1941; Paul Zech: Ich suchte Schmied … und fand Malva wieder (Sternen-Bücherei, 2), 1941; Bruno Weil: Baracke 37 – stillgestanden! Ich sah Frankreichs Fall hinter Stacheldraht, 1941; Franz Werfel: Ein blaßblaue Frauenschrift, 1941; Josef Székely: Süd-Rhodesien, 1942; Rubén Darío: Azul. Ausgewählt, übertragen und mit einem Lebensbild des Dichters versehen von Herman Weyl. Illustrationen von Helene Apfelbaum, 1942; »Lese- und Quellenbücher jüdischen Wissens«: (1) Pessach ‒ Zeit unserer Befreiung, 1942; (2) Schowuas ‒ Zeit unserer Gesetzgebung. Ein Quellen- und Lesebuch, 1942; (11) Theodor Herzl. Leben, Werk und Wirken. Ein Quellen- und Lesebuch, 1942; (21) Eugenio Villa: Neue Wege, 1942; Das Buch des Lebens. Eine Anthologie. Vorwort und hrsg. von Günter Friedländer und Hardi Swarsensky, 1945; Hardi Swarsensky: Von Basel nach Jerusalem, 1945; Hardi Swarsensky: Eroberung durch Aufbau. Ein Beitrag zur Geschichte der jüdischen Kolonisation in Israel, 1949; Hardi Swarsensky: Pogrom über Deutschland. Zu den Ereignissen im November 1938, 1969. Später, von 1952‒1968, führte Swarsensky eine auf Wiedergutmachungsansprüche spezialisierte Rechtsanwaltskanzlei; außerdem bekleidete er hohe Funktionen in nationalen und internationalen jüdischen Organisationen. Friedländer ging 1954 nach Bolivien und übernahm als Rabbiner und Direktor die Leitung der jüdischen Schule in La Paz; 1962 zog er nach Chile.
Editorial el Lago, Chascomús / Argentinien Ein bewegtes Exilschicksal mit glücklichem Ende durchlebte Johan Luzian* (bis 1927 Friedrich Johannes Adolf Lindenkohl; 1903 Hamburg – 1996 Chascomús), der seit Mitte
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Abb. 24: Ortsbezogene Literatur, die sich wie dieses Kleine Bilderbuch auch für Geschenkzwecke innerhalb der deutschsprachigen Kolonie eignete, verschaffte kleineren Verlagen einen gewissen Mindestabsatz.
der 1920er Jahre in Hamburg und Bonn als Schauspieler, Rezitator und freier Schriftsteller tätig war, ehe er 1930 beim Langen-Müller-Verlag in München eine Anstellung als Lektor und Vertreter, dann als Abteilungsleiter wahrnahm.612 Noch 1933 publizierte er einen Artikel im Börsenblatt zum Thema Vortragswesen und Buchhandel.613 »Nichtarisch« verheiratet und daher beruflichen Sanktionen ausgesetzt, musste er sich 1936 zur Emigration entschließen und gelangte zuerst nach Paraguay, wo er hauptsächlich mit deutschen Büchern eine Buchhandlung eröffnete. 1938 ging er nach Argentinien und betrieb bis 1940 in Buenos Aires die Bücherstube Belgrano (auch Librería Johan Luzian). Dort brachte er 1938 im Verlag der Bücherstube Belgrano ein von ihm zusammengestelltes Kleines Bilderbuch von Buenos Aires heraus.614 Da die Bücherstube nach Kriegsausbruch von der deutschen Kolonie boykottiert wurde, ging Luzian nach Chascomús in der Provinz Buenos Aires und betrieb dort den Buchverlag Editorial el Lago, in welchem offensichtlich nur eigene Werke, teils wieder mit örtlichem Bezug, wie Chascomús. Verse und Bilder (1944) oder El Lago. Un saludo de Chascomús (1945), teils dichterische Arbeiten wie Tag des Gerichts. Gleichnisse und
612 Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika (1984), S. 473 f.; Latin America and the Literature of Exile, S. 448 f.; Damus: Deutsche Exilliteratur in Argentinien (1982), S. 41‒46. 613 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 1933, Nr. 100, S. 516‒518. 614 Mit Beiträgen von Werner Hoffmann, Ludwig Kruse, Richard M. Meier, Max Tepp, Reinhard Völter und von ihm selbst. Die Photoaufnahmen stammten von Hans Mann. 2. Aufl. 1939.
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Balladen (1945) herauskamen.615 Seine wichtigste Exilveröffentlichung, der Roman Der ungläubige Thomas, erschien nicht im eigenen Verlag, sondern 1945 in der Editorial Cosmopolita. Seit seiner Einwanderung nach Südamerika hatte Luzian Beiträge für Emigrantenzeitschriften wie Das Andere Deutschland sowie deutschsprachige Tageszeitungen und Journale in Argentinien geliefert; auch trat er bis in die 1980er Jahre gelegentlich noch als Autor von Lyrikbänden und Sachbüchern (meist wieder mit lokalen Bezügen) in der immer noch bestehenden Editorial El Lago hervor.616
Editora Léo Jerônimo Schidrowitz, Porto Alegre / Brasilien Unmittelbar nach dem »Anschluss« war Leo Schidrowitz* (1894 Wien – 1956 Wien) nach Brasilien geflüchtet.617 Der Redakteur und Buchautor hatte in Wien eine ganze Reihe von Verlagen betrieben, wobei er in der Inflationszeit mit spekulativen Luxusdrucken, danach mit Romanen des damals höchst erfolgreichen Hugo Bettauer (u. a. Die freudlose Gasse), aber auch mit zahlreichen eigenen, meist volkskundlich-erotischen Werken hervortrat, so mit einer10-bändigen Sittengeschichte der Kulturwelt. Nach seiner Ankunft in Porto Alegre arbeitete er zunächst im dortigen Deutschen Volksblatt, gab das offizielle Festbuch zur Zweihundertjahr-Feier der Stadt heraus und gründete 1941 wieder einen Verlag. Die Editora Léo Jerônimo Schidrowitz (das war jetzt seine Namensform), in der auch seine Frau Martha als Illustratorin und Buchgrafikerin tätig war, dürfte (mit Verlagsort Rio de Janeiro) hauptsächlich für die brasilianische Bibliophilengesellschaft Confraria dos Bibliófilos Brasileiros produziert haben.618 1949 kehrte Schidrowitz nach Österreich zurück.
Editorial Los Amigos del Libro, Cochabamba In Bolivien war Werner Guttentag erfolgreich als Sortimentsbuchhändler tätig,619 wurde aber durch das Manuskript eines Schriftstellers – des einzelgängerischen, radikalkom-
615 In einer »Editorial El Lazo« ist 1945 der Roman Tod in Paraguay des Emigranten Carl Heinz Hillekamps erschienen; dass es sich dabei um eine Maskierung von Luzians Editorial El Lago handelte, kann vermutet werden. Aktivitäten einer Editorial El Lazo sind jedenfalls über diesen einen Titel hinaus nicht nachweisbar. 616 Beispiele: Mondfahrt. Prosaverse (1952); Páginas de Chascomús (1973) u. a. m. Die Bücher erschienen nun unter dem Namen Juan Luzian und nach Mondfahrt nur noch in spanischer Sprache. 617 Siehe jetzt Marschik / Spitaler: Leo Schidrowitz: Autor und Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär. 618 Beispielsweise Luís da Câmara Cascudo: Lendas-brasileiras, 21 histórias criadas pela imaginação de nosso povo. (Mit Illustr. von Martha P. Schidrowitz). Rio de Janeiro: confraria dos bibliófilos brasileiros, 1945; Paulo Menotti del Picchia: Juca Mulato [Lyrik]. Ilustr. e colorido por Martha Pawlowna Schidrowitz (1947); Edmond Rostand: Cyrano de Bergerac (1948). 619 Zur Biographie siehe Gurtner: Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag zwischen Deutschland und Bolivien, sowie das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel.
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munistischen Autors Jesús Lara620 – dazu veranlasst, auch verlegerisch aktiv zu werden. Daraus wurde 1952 schließlich ein Unternehmen, die Editorial Los Amigos del Libro, in der im Laufe mehrerer Jahrzehnte rund 1200 Titel erschienen, darunter auch zahlreiche Werke von besonderem Gewicht. Guttentags Augenmerk als Verleger richtete sich in besonderem Maße auf die Förderung der bolivianischen Kultur und Literatur. So brachte er in seinem Verlag neben kulturellen Zeitschriften und einer Serie von Boliviana seit 1962 die jährlich erscheinende Bio-Bibliografia Boliviana heraus, mit der Bolivien damals zu den wenigen lateinamerikanischen Ländern gehörte, die über eine regelmäßig erscheinende Nationalbibliographie verfügten. In 80, auch einzeln verkauften Bänden erschien hier die Enciclopedia Boliviana zu allen Bereichen der Geschichte, Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Kultur Boliviens, eine verlegerische Leistung ersten Ranges. Verdienstvoll war auch die Herausgabe der rechtswissenschaftlichen Sammlung Colección Jurídica Guttentag und der von Adolfo Cáceres Romero verfassten Historia de la Literatura Boliviana. Guttentag hat mit der Gesamtheit dieser Werke nicht nur wichtige Anstöße zu einer kulturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme gegeben, sondern gleichsam auch die Identität seiner neuen Heimat mitdefiniert. Mit Beginn der Diktatur 1964 geriet er allerdings in das Visier des Regimes, da er neben Lara auch noch Werke anderer gesellschaftskritischer Autoren veröffentlicht hatte, die nun eingesperrt und gefoltert wurden; Guttentag selbst, der 1971 ein weiteres Buch Laras Guerillero Inti publizierte, wurde unter dem Verdacht verhaftet, die Guerilla und Ernesto ›Che‹ Guevara unterstützt zu haben.621 1969 stiftete Guttentag einen Literaturpreis, den nach seinem Vater benannten »Premio Erich Guttentag« (mit dem ihm befreundeten Vargas Llosa in der Jury), der für fast alle namhaften zeitgenössischen bolivianischen Autoren am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn stand. In der Tat war es das Anliegen Guttentags, mit dem Preis und auch mit seinem Verlag dazu beizutragen, dass aus der literarischen Kultur Boliviens ein Autor von Weltrang hervortritt. Seit den 1980er Jahren konnte der Verlag aus wirtschaftlichen Gründen kaum noch Neuerscheinungen herausbringen. Doch Guttentags verlegerische Leistung wurde in Bolivien gewürdigt: er erhielt den »Condor de los Andes«, die höchste Auszeichnung Boliviens, und 1993 den Orden »Parlamentaria al Merito Democratico«; die Stadt Cochabamba ernannte ihn zum Ehrenbürger und die bolivianische Post – eine in dieser Form einzigartige Geste – veröffentlichte 1998 eine Sondermarke mit seinem Portrait.
El Libro Libre, Mexiko Aufgrund seiner liberalen Asylpolitik war Mexiko zu einem wichtigen Schauplatz der deutschsprachigen Emigration geworden, als ein Land, das auch jene Schriftsteller aufnahm, die aus politischen Gründen von der Einreise in die USA ausgeschlossen worden waren. Deshalb bildete sich hier auch ein reges literarisches Leben aus – ein gutes Umfeld für verlegerische Initiativen. Unter der Präsidentschaft Lázaro Cárdenas’ (seit 1942 Manuel Ávila Camachos) hatten hier nicht nur bis zu 25.000 spanische Republikaner Asyl gefunden, sondern auch 3.000 Flüchtlinge aus anderen europäischen Ländern, darunter eine Kolonie kommunistischer Schriftsteller und Parteifunktionäre, von denen 620 Gurtner, S. 335 f. 621 Münster: Das Buch als Gastgeschenk, S. 70.
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die meisten eine Einreise in die USA angestrebt hatten, aber aus politischen Gründen abgewiesen worden waren.622 Diese kommunistische Gruppe bildete den aktivsten Kern der deutschsprachigen Hitleremigration, die in Mexiko günstige Voraussetzungen vorfand, um sich zu organisieren und sich publizistische Sprachrohre zuzulegen. Bereits im Frühjahr 1938 bildete sich, noch als eine überparteiliche Organisation, auf Initiative des Fotografen Heinrich Gutmann eine Liga Pro-Cultura Alemana, die gute Kontakte zu mexikanischen Regierungs- und Gewerkschaftskreisen unterhielt. Insbesondere der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes Vicente Lombardo Toledano sollte eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum ging, die Bestrebungen namentlich der kommunistischen Parteifreunde unter den Exilanten, die nach den ersten Erfolgen des Hitlerschen Eroberungskriegs jetzt zahlreicher ins Land kamen, zu unterstützen. So entstand im November 1941 die Zeitschrift Freies Deutschland, die sich zu einem der wichtigsten Periodika des deutschsprachigen Exils überhaupt entwickeln sollte; zu ihren Herausgebern gehörte der Kunstkritiker Paul Westheim, zu den Beiträgern viele Schriftstelleremigranten, die in den USA Zuflucht gefunden hatten, wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Ferdinand Bruckner und Ernst Bloch.623 Im Gefolge der Zeitschrift entstand die »Bewegung Freies Deutschland«, die rasch Bedeutung gewann, teilweise über Mexiko hinaus in mehreren Ländern Lateinamerikas. Noch wichtiger für das literarisch-kulturelle Leben in Mexiko wurde aber der Ende 1941 entstandene Heinrich Heine-Club, dessen Vorsitz Anna Seghers übernahm und der bis Frühjahr 1946 regelmäßig Literarische Abende, wissenschaftliche Vorträge, Konzerte sowie Theater- und Filmaufführungen veranstaltete. Da inzwischen die Publikationsmöglichkeiten in deutscher Sprache für die doppelt exilierten Schriftsteller dramatisch geschrumpft waren, lag es für sie nahe, selbst an die Errichtung eines Verlages zu denken. Dazu kam es dann auch: Am 10. Mai 1942, dem 9. Jahrestag der Bücherverbrennung, wurde im Rahmen einer großen Kundgebung des Heinrich-Heine-Clubs, der Bewegung Freies Deutschland, des PEN-Zentrums Mexiko und der Acción Republicana Austriaca de Méxiko der Exilverlag El Libro Libre offiziell gegründet. Unter Beisein zahlreicher mexikanischer Intellektueller und Schriftsteller wurden Reden u. a. von Ludwig Renn, Anna Seghers, Bruno Frei und Pablo Neruda gehalten. Da nach mexikanischem Recht Ausländer keinen Verlag gründen durften, fungierte als Lizenzträger der ehemalige Universitätsrektor Antonio Castro Leal. Die Leitung des kommunistisch gesteuerten Verlags El Libro Libre lag bei einem literarischen Beirat, dem Anna Seghers, Ludwig Renn, Otto Katz (unter seinem »nom de guerre« André Simone), Leo Katz, Paul Mayer, Bodo Uhse und Egon Erwin Kisch angehör-
622 Zu Mexiko als Asylland und zu allem Folgenden vgl. insbesondere Pohle: Das mexikanische Exil; Patka: »Zu nahe der Sonne«. Deutsche Schriftsteller im Exil in Mexiko; in geraffter Form: Patka: Wildes Paradies mit Ablaufzeit. Struktur und Leistung deutschsprachiger Emigranten in México Ciudad. Vgl. auch die Darstellungen aus der DDR-Zeit: Kießling: Alemania libre in Mexiko. 2 Bde; Kießling: Exil in Lateinamerika (1984), bes. S. 441‒580. 623 Zum Freien Deutschland siehe das Kap. 5.3 Zeitschriften und Zeitungen des Exils. – Seit August 1943 erschien, von kommunistischer Seite initiiert, 14-täglich auch eine Zeitung Die Demokratische Post, die bis zum Frühjahr 1952 bestand. Sowohl das Freie Deutschland wie die Demokratische Post bieten das beste Quellenmaterial zur Geschichte des Verlags El Libro Libre. Als ein Beispiel: Paul Mayer: Leitung des Verlages El Libro Libre. In: Freies Deutschland 5 (1946), Nr. 5, S. 25.
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ten.624 Dieses Kuratorium hatte über die Programmplanung, über Annahme oder Ablehnung von Manuskripten zu entscheiden; die kaufmännische und technisch-organisatorische Führung der Verlagsgeschäfte lag in den Händen von Walter Janka* (1914 Chemnitz – 1994 Potsdam),625 das Lektorat bei Paul Mayer* (1889 Köln – 1970 Zürich),626 der früher bei Rowohlt als Cheflektor tätig gewesen war. Externe Beratungsfunktionen nahmen Wieland Herzfelde und F. C. Weiskopf von New York aus wahr.627 Eine finanzielle Basis für das Unternehmen war im Grunde nicht gegeben, anfänglich konnten weder Gehälter628 noch Honorare gezahlt werden, die Druckkosten mussten durch Spenden, Solidaritätsveranstaltungen bzw. anfänglich auch im Subskriptionsverfahren aufgebracht werden. Erst allmählich, im Grunde bereits nach dem erfolgreichen Absatz der ersten beiden Titel, besserte sich die Lage, nach einiger Zeit wurden sogar bescheidene Gewinne erzielt.629 Die Herstellung war schwierig;630 die meisten Titel 624 Zu El Libro Libre siehe v. a. Díaz Pérez: Der Exilverlag El Libro Libre in Mexiko; sowie dies.: Mexiko als antitotalitärer Mythos. Siehe ferner Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒ 1950. Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 442‒ 449. Ferner: Kießling: Alemania libre in Mexiko, (bes. Bd. 2, ab S. 249). – Das Archiv der Zs. Freies Deutschland und El Libro Libre sollte per Schiff nach Deutschland gebracht werden; die 6 Tonnen Fracht sind allerdings verschollen geblieben. Siehe Díaz Pérez: Der Exilverlag El Libro Libre, S. 159 u. 176, Fn. 18, unter Berufung auf Ludwig Renn: In Mexiko. Berlin, Weimar: Aufbau 1979, S. 387. 625 Janka hatte den Beruf des Schriftsetzers erlernt; als KPD-Mitglied war er 1933 verhaftet worden und war bis 1935 im Zuchthaus Bautzen und im KZ Sachsenburg inhaftiert gewesen. Aus Deutschland ausgewiesen, emigrierte er in die ČSR, kämpfte 1936 bis 1939 bei den Interbrigaden und ging nach dem Sieg der Franco-Truppen nach Frankreich, wo er 1939 bis 1941 in verschiedenen Lagern interniert war. 1941 flüchtete er über Casablanca nach Mexiko und war zunächst als Berichterstatter für einen KPD-Pressedienst tätig, bis er Geschäftsführer von El Libro Libre wurde. – Von Walter Janka liegen mehrere Erinnerungswerke vor: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Essays; Nach langem Schweigen endlich sprechen. Briefe an Walter Janka; Spuren eines Lebens; … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers; Die Unterwerfung. Eine Kriminalgeschichte aus der Nachkriegszeit. Vgl. ferner Marschall: Aufrechter Gang im DDR-Sozialismus. Walter Janka und der Aufbau Verlag. 626 Paul Mayer, in der Zeit des Expressionismus selbst als Lyriker hervorgetreten, hatte als Lektor beim Rowohlt Verlag in den 1920er Jahren, zusammen mit seinem Kollegen Franz Hessel, das Programm ganz wesentlich geprägt. Als über ihn aus »rassischen« Gründen Berufsverbot verhängt wurde, emigrierte er 1936 in die Tschechoslowakei und war in Mährisch-Ostrau im Julius Kittl-Verlag tätig. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen flüchtete Mayer nach Mexiko. Vgl. Schumann: Paul Mayer – Lyriker und Literaturvermittler im mexikanischen Exil. – Mayer war auch Verfasser eines Lebensberichts: Lebendige Schatten. Aus den Erinnerungen eines Rowohlt-Lektors. 627 Siehe auch Bodo Uhse, F. C. Weiskopf: Briefwechsel 1942‒1948, mit guten Einblicken hinter die Kulissen der Verlagsarbeit von El Libro Libre. 628 Bei Díaz Pérez werden als Angestellte noch Hans Marum (nur im ersten Jahr; danach stellvertr. Chefredakteur der Demokratischen Post) und Magda Stern als Sekretärin genannt. 629 Diese Gewinne wurden auf 43.000 bzw. 50.000 Pesos beziffert; vgl. dazu die unterschiedlichen Berechnungen von Wolfgang Kießling (Alemania libre in Mexiko, Bd. 1, S. 242) und Walter Janka (Spuren eines Lebens, S. 194). Es war daran gedacht, diese Gewinne für Rückreisen der Verlagsmitarbeiter nach Deutschland zu verwenden. 630 Vgl. hierzu das Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung.
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Abb. 25: Die Ausstattung der El Libro Libre-Bücher war meist bescheiden, aber im Falle von Anna Seghers Das siebte Kreuz gelang es, einen attraktiven Schutzumschlag zu produzieren.
konnten nur broschiert oder in Pappbänden herausgebracht werden; eine aufwändigere Buchgestaltung oder -austattung war kaum möglich; der Holzschnitt von Leopoldo Méndez auf dem Umschlag von Seghersʼ Das siebte Kreuz markiert in dieser Hinsicht einen Höhepunkt. Werbung für die Bücher erfolgte durch Anzeigen in den beiden genannten Blättern, teilweise auch im Ausland, denn der Verlag war darauf angewiesen, einen Großteil seines Absatzes außerhalb Mexikos zu erzielen.631 Wie in allen vergleichbaren Fällen war der Aufbau eines Vertriebsnetzes eines der größten Probleme für den jungen Verlag. Gegen Kriegsende gewann der Verlag mit den deutschen Kriegsgefangenen in den Camps der USA ein zusätzliches Publikum. Allen Widrigkeiten zum Trotz konnte El Libro Libre in vier Jahren bis 1946 26 Titel herausbringen, die Gesamtauflage wird auf 36.000 deutsch- und 18.000 spanischsprachige Exemplare geschätzt. Damit war er der produktivste aller Exilverlage auf dem amerikanischen Kontinent. Fünf der 26 Titel sind in spanischer Sprache erschienen, wobei eines dieser Werke eine herausgehobene Stellung im Programm einnimmt, die im April 1943 erschienene Dokumentation El Libro Negro del Terror Nazi en Europa, die einen besonderen Aufmerksamkeitserfolg erzielte. Das von einem Kollektiv (rund 50 Autoren aus 16 Ländern, von Thomas Mann bis Lenka Reinerova) unter Leitung André Simones (d. i. Otto Katz) erstellte Buch, dessen Drucklegung vom mexikanischen Präsidenten
631 In Mexico City waren die Bücher im Verlag oder in der Libreria Internacional von Rudolf Neuhaus* (Näheres dazu im Kap. 6.2 Sortiment) erhältlich. Zur Verbreitung im Ausland siehe Kießling: Exil in Lateinamerika (1984), S. 424 f., sowie Kap. 6.1: Distributionsstrukturen.
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Camacho632 durch Übernahme der Schirmherrschaft (gemeinsam mit den Staatspräsidenten von Peru und der Tschechoslowakei, Manuel Prado und Eduard Beneš) und Zurverfügungstellung der Staatsdruckerei unterstützt wurde, konnte in einer Startauflage von 10.000 Exemplaren herausgebracht werden; eine 2. Auflage wurde im September 1943 gedruckt. Dieses von Antonio Castro Leal redigierte und Hannes Meyer gestaltete und mit 167 Dokumentarfotografien sowie 50 Grafiken ausgestattete »Schwarzbuch über den Naziterror in Europa« repräsentiert am deutlichsten die zentrale Intention der Verlagsgründer, in dieser als Endstadium des Weltkriegs empfundenen Zeit noch einmal in aller Welt Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu leisten. Dass der Verlag auch einen von Bodo Uhse ins Deutsche übersetzten 24-seitigen GoetheEssay des Gewerkschaftsvorsitzenden Toledano publizierte, muss ebenso als eine Verbeugung vor diesem alles in allem wichtigsten Protektor des Verlags gesehen werden wie die von André Simone verfasste Biographie Toledanos;633 dieser hat umgekehrt auch ein Vorwort zu dem Buch Paul Merkers über den »Untergang der deutschen Republik. Hitlers Weg zur Macht« beigesteuert. Als eine Reverenz vor dem Gastland, aber zugleich auch als Beitrag zur ideologischen Einwirkung sind die spanischsprachigen Ausgaben von André Simones La Batalla de Rusia (Die Schlacht um Russland, aus dem Englischen von Pedro Quintanilla) und El ejército Alemán (Die deutsche Armee ‒ wie sie wirklich ist. Tagebücher deutscher Offiziere und Soldaten) aufzufassen. Der Blick auf das deutschsprachige Programm zeigt, dass der Verlag trotz seiner formalrechtlich privatwirtschaftlichen Organisationsform deutliche Züge eines genossenschaftlichen Selbstverlagsunternehmens aufgewiesen hat. Denn ein großer Teil der Veröffentlichungen stammt von vor Ort lebenden, im literarischen Beirat oder doch im Unternehmensumkreis tätigen Autoren; dies traf auf Abusch, Leo Katz, Kisch, Mayer, Merker, Renn, Seghers, Simone und Uhse zu. Aus den USA kamen Manuskripte von Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Heinrich Mann und F. C. Weiskopf, aus der Sowjetunion von Theodor Plivier und aus Großbritannien von Ernst Sommer. Auf literarischer Ebene weist das Programm deutschsprachige Erstausgaben von einigen der wichtigsten Exilwerke aus, allen voran Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz;634 aber auch Lion Feucht-
632 Dem Präsidenten war, über Vermittlung des Gewerkschaftschefs Toledano, in seiner Residenz von einer aus Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Ludwig Renn und Bodo Uhse bestehenden Delegation das erste erschienene Buch von El Libro Libre, Kischs Marktplatz der Sensationen, überreicht worden – ein Vorgang, der große Resonanz in der mexikanischen Öffentlichkeit gefunden hat und Camacho bewogen haben dürfte, den Verlag weiter zu fördern. 633 Díaz Pérez zufolge ist allerdings bislang kein einziges Exemplar dieser Hommage an Toledano aufgefunden worden (Díaz Pérez: Der Exilverlag El Libro Libre, S. 171). 634 Das Werk, von dem das erste Kapitel bereits 1939 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur abgedruckt worden war, war 1942 in englischer Sprache bei Little, Brown and Comp. erschienen (den Vertragsabschluss bewerkstelligte Seghersʼ Agent Maxim Lieber). Bemerkenswert, dass es damals, 1942, dem amerikanischen Publikum vor allem als »pictorial novel«, als Bildroman (erstellt von Leon Schleifer, Ps. William Sharp) bekannt geworden ist; 1944 wurde der Roman von Fred Zinnemann mit Spencer Tracy in der Hauptrolle verfilmt. Zur Publikations- und Erfolgsgeschichte des Romans in den USA Stephan: Anna Seghersʼ The Seventh Cross in den USA; zur generellen Rezeptionsgeschichte vgl. Stephan: Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Welt und Wirkung eines Romans. Siehe auch im Kap. 5.1 Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation den Abschnitt über Bestseller im Exil.
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wangers über Subskription angebotener Erlebnisbericht Unholdes Frankreich, Theodor Balks Das verlorene Manuskript, Bruno Franks Die Tochter, Ludwig Renns Adel im Untergang, Bodo Uhses Leutnant Bertram und durchaus auch Ernst Sommers Erzählung Revolte der Heiligen, die den jüdischen Widerstand in einem deutschen Arbeitslager in der Ukraine zum Thema hatte.635 Bis heute finden auch die Reportagenbücher Egon Erwin Kischs Beachtung, vor allem der stark autobiographische Marktplatz der Sensationen;636 seine kulturgeschichtlichen Reportagen Entdeckungen in Mexiko waren das einzige Buch, das sich inhaltlich mit dem Asylland beschäftigte. Der Roman von Leo Katz Totenjäger hatte gleichermaßen zeitgeschichtliche Bezüge (die Situation der Juden 1941/1942) wie auch einen lebensgeschichtlichen Hintergrund, insofern er an Katzʼ Geburtsort in Rumänien zurückführte.637 Dass Paul Mayer einen Band mit Exil-Gedichten publizieren konnte, war wohl seiner Stellung als Lektor geschuldet; Lyrik gehörte ansonsten nicht zum Programm des Verlags. Als mißglückt galt im Verlag selbst und auch dem zeitgenössischen Publikum Heinrich Manns szenischer Roman Lidice, in welchem das Blutbad, das die Gestapo im Juni 1942 in einem tschechischen Dorf anrichtete, zum Gegenstand einer satirisch verfahrenden Darstellung gemacht wurde, auch wenn Heinrich Mann selbst dies als »die einzig richtige Art, wie Greuel behandelt sein wollen: grotesk« betrachtet hat.638 Pliviers bedeutender Antikriegsroman Stalingrad (zuvor in Fortsetzungen in der Zs. Internationale Literatur erschienen) machte als Nachzügler den Beschluss der Verlagstätigkeit, das Buch ist als eine der ersten Veröffentlichungen in dem in der SBZ errichteten Aufbau Verlag erschienen und nachfolgend in viele Sprachen übersetzt worden. Ausgeprägt war aber auch die Programmschiene der politischen Bücher, in denen hauptsächlich die kommunistischen Parteifunktionäre den Ehrgeiz entwickelten, geschichtliche Analysen (Alexander Abusch: Der Irrweg einer Nation; 1946 auch im Aufbau Verlag) und Entwürfe für eine Nachkriegsordnung (Paul Merker: Was wird aus Deutschland?; Deutschland ‒ Sein oder Nichtsein?) vorzulegen, wobei diese Analysen und Perspektivenbildungen durch die Parteidoktrin entsprechend ideologisch eingeengt waren. Während aber später, in SBZ und DDR, Abuschs Irrweg zu einem Standardwerk wurde, sah sich Paul Merker* (1894 Oberlößnitz bei Dresden – 1969 Berlin-Ost) später mit schwersten Anschuldigungen konfrontiert.639 Merker nahm bereits im Verlag El Libro 635 Feuchtwangers Bericht war 1941 als The devil in France bei Viking in New York erschienen, Franks Die Tochter ebenfalls bei Viking 1943 aus dem deutschen Manuskript übersetzt. 636 Das Buch war bereits 1941 in englischsprachiger Version unter dem Titel Sensation Fair in New York bei Modern Age Books herausgekommen. 637 Leo Katz, der mit Otto Katz / André Simone in keiner Weise verwandt war, aber als österreichischer Kommunist damals schon auf eine ebenso abenteuerliche Tätigkeit im Parteiauftrag zurückblicken konnte (u. a. als Waffenbeschaffer im Spanischen Bürgerkrieg), war 1892 in der Bukowina zur Welt gekommen; er starb, in politischer Hinsicht desillusioniert, 1954 in Wien. Im mexikanischen Exil spielte er eine bedeutsame Rolle, vor allem in der österreichischen Emigrationsgruppe; im Verlag El Libro Libre vor allem als ein Opponent von Paul Merker. 638 So in einem Brief an den Agenten Barthold Fles am 21. März 1945 (Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles 1942‒1949, S. 20). 639 Merker war in Berlin bis 1933 Geschäftsführer des Internationalen Arbeiter Verlages; im Auftrag der KPD leistete er bis 1935 illegale Arbeit in Deutschland, ging danach über die
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Libre eine umstrittene Position ein; er war einer der Hauptprotagonisten der internen Auseinandersetzungen in der kommunistischen Exilgruppe in Mexiko und trat mehrfach mit kontrovers diskutierten Vorschlägen zur Führung des Verlags hervor.640 Hinweisen zufolge hat Merker auch das Erscheinen von Anna Seghersʼ Transit-Roman bei El Libro Libre verhindert.641 Einen seiner Gegenspieler fand er in André Simone / Otto Katz* (1895 Prag – 1952 Prag), der schon seit Sommer 1940 in Mexiko war und hier an der Formierung der KPD-Gruppe entscheidend mitgewirkt hatte.642 Seit 1942 war Katz als Berater des Präsidenten des lateinamerikanischen Gewerkschaftsbundes Toledano tätig und organisierte mit dessen Hilfe Vorlesungszyklen deutscher Kommunisten an der Arbeiteruniversität Obrero in Mexiko. Als Mitglied des literarischen Beirats von El Libro Libre hatte er beträchtlichen Einfluss auf die Arbeit des Verlags. Publikationen des Verlags El Libro Libre, Mexiko, 1942‒1946643 1942: Egon Erwin Kisch: Marktplatz der Sensationen; Lion Feuchtwanger: Unholdes Frankreich. Vorwort Ludwig Renn; Theodor Balk: Führer durch Sowjet-Krieg und Frieden. Nachwort Paul Merker;
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UdSSR und die ČSR nach Frankreich, wo er zu einem der führenden Köpfe der Einheitsfrontbewegung wurde. Nach Kriegsausbruch interniert, gelangte er nach Mexiko und wirkte dort 1942 an der Verlagsgründung von El Libro Libre mit, arbeitete zudem in der Redaktion der Exilzeitschrift Freies Deutschland und war Mitglied im Heine-Club. Aufschlussreich hierzu ist im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [fr. Potsdam] der Bestand EA 1306/2: Die Bewegung Freies Deutschland in Lateinamerika. Erinnerungen, Dokumentationen und Berichte von Paul Merker. Merker gibt dort S. 468 ff. eine »Einschätzung des Verlages ›El Libro Libre‹ Mexiko« und teilt einige Interna zu unterschiedlichen Auffassungen über die Vorgangsweise beim Aufbau des Verlags mit; seiner Darstellung nach habe sich seine Linie gegen das Schriftsteller-Kuratorium und André Simone durchgesetzt; der Verlag sei damit erfolgreich gewesen (Finanzierung über anfängliche Subskription und Selbstfinanzierung statt durch Kredit). Merker nimmt auch eine Aufstellung der Titelproduktion nach Rubriken und Seitenzahlen vor, macht Angaben über die Höhe der Gesamtauflage, über vergriffene Bücher und Restbestände, Bilanzen und Personal. Vgl. Patka: Wildes Paradies mit Ablaufzeit, S. 235. Otto Katz, Deckname André Simone, arbeitete seit Herbst 1929 im engeren Kreis um Willi Münzenberg mit, teils als dessen Verbindungsmann zur Film- und Theaterbranche, teils als Geschäftsführer der Universum-Bücherei. Ende 1930 flüchtete er, um einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung zu entkommen, nach Moskau, wo er in leitender Funktion bei der Filmproduktionsfirma Meschrabpom tätig war, daneben aber zum Geheimagenten ausgebildet wurde. Im Frühjahr 1933 von Münzenberg nach Paris geholt, blieb er einige Jahre einer seiner engsten Mitarbeiter, u. a. als Hauptverfasser des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror, ab Juli 1936 dann im Spanienkampf. Nach dem Zusammenbruch der spanischen Republik hielt sich Katz teils in Frankreich, teils in den USA auf, immer mit speziellen Aufträgen aus Moskau betraut. Bei Díaz Pérez: Der Exilverlag El Libro Libre, S. 163‒165, findet sich die Liste nach Erscheinungsmonaten geordnet.
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1943: Anna Seghers: Das siebte Kreuz: Roman aus Hitlerdeutschland; Paul Merker: Was wird aus Deutschland? Das Hitlerregime auf dem Weg zum Abgrund; El Libro Negro del Terror Nazi en Europa. Testimonios de escritores y artistas de 16 naciones. [Comité de red.: Antonio Castro Leal u. a.]. Selección de ill.: Hannes Meyer; Bruno Frank: Die Tochter; Theodor Balk: Das verlorene Manuskript; André Simone: La Batalla de Rusia. Trad. del inglés de Pedro Quintanilla; Heinrich Mann: Lidice; 1944: Bodo Uhse: Leutnant Bertram; Leo Katz: Totenjäger; El ejército Alemán ‒ tal como es. Diarios de oficiales y soldados alemanes. Introducción de Bodo Uhse; Paul Merker: Deutschland ‒ Sein oder Nichtsein? 1. Bd. Von Weimar zu Hitler; August Vicente Lombardo Toledano: Johann Wolfgang von Goethe. Übersetzt von Bodo Uhse; Franz C. Weiskopf: Vor einem neuen Tag; Paul Mayer: Exil (Gedichte); Paul Merker: La Caída de la república alemana. El camino de Hitler al poder. Vorwort Vicente Lombardo Toledano. Übersetzung Manuel Adújar; Ludwig Renn: Adel im Untergang; Deutsche, wohin? Protokoll der Gründungsversammlung des Nationalkomitees Freies Deutschland und des Deutschen Offiziersbundes; Ernst Sommer: Revolte der Heiligen; André Simone: Vicente Lombardo Toledano. Un Hombre de América; 1945: Egon Erwin Kisch: Entdeckungen in Mexiko; Paul Merker: Deutschland ‒ Sein oder Nichtsein? 2. Bd.: Das 3. Reich und sein Ende; Alexander Abusch: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte; 1946: Theodor Plivier: Stalingrad. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten und der Bildung der Besatzungszonen stellte der Verlag seine Tätigkeit allmählich ein; sein Zweck und seine Notwendigkeiten fielen in dem Maße weg, in dem man in den Zonen bereits wieder darangegangen war, Verlage zu errichten und Publikationsmöglichkeiten zu schaffen. Bemerkenswert erscheint, dass gerade aus dem Umkreis des Verlags El Libro Libre einige Heimkehrer als »Westremigranten« in der DDR besonderer Verfolgung ausgesetzt waren:
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André Simone / Otto Katz reiste Anfang 1946 mit einem tschechoslowakischen Diplomatenpass in die ČSR, wo er sein politisches Engagement als Mitglied der tschechischen KP und als Redakteur ihres Zentralorgans Rudé Právo fortführte. Anfang 1952 wurde er im Zusammenhang mit der sogenannten Slánský-Affäre als angeblicher britischer und zionistischer Agent verhaftet, zum Tode verurteilt und am 3. Dezember des Jahres hingerichtet. 1963 wurde er rehabilitiert und postum mit dem Orden der Republik der ČSSR ausgezeichnet. Paul Merker kehrte im Juli 1946 nach Deutschland zurück und übernahm Führungspositionen in der SED, bis er im August 1950 wegen angeblicher Zusammenarbeit während des Zweiten Weltkriegs mit US-amerikanischen »Imperialisten« aller seiner Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen wurde. Er führte danach zwei Jahre lang eine HO-Gaststätte in Luckenwalde, wurde im Dezember 1952 im Zusammenhang mit dem Slánský-Prozess verhaftet und nach mehr als zweijähriger Untersuchungshaft 1955 in einem Geheimprozess als »zionistischer Agent« zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt. Im Februar 1956 vorzeitig entlassen, wurde Merker vom selben Gericht rehabilitiert. Von 1957 bis 1961 arbeitete er als Lektor im Verlag Volk und Welt. Im Ruhestand war Merker bis zu seinem Tod Vorsitzender in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, postum wurde ihm der Vaterländische Verdienstorden verliehen.644 Walter Janka remigrierte im Frühjahr 1947 in die SBZ und war zunächst als Vorstandsvorsitzender der DEFA, seit 1950 als stellvertretender Leiter, ab 1952 als Direktor des Aufbau-Verlags in Berlin tätig. 1956 wurde er wegen angeblicher konterrevolutionärer Verschwörung verhaftet und 1957 in einem Schauprozess zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Aufgrund internationaler Proteste wurde Janka 1960 vorzeitig aus der Haft entlassen und arbeitete in den folgenden Jahren als Dramaturg für die DEFA. 1972 erfolgte die Wiederanerkennung als Verfolgter des Naziregimes und die erneute Aufnahme in die SED; zur Zeit der Wende erlangte er als Zeitzeuge eine gewisse Aufmerksamkeit und wurde im Mai 1990 vom Obersten Gericht der DDR öffentlich rehabilitiert. Paul Mayer, der allerdings nie KP-Mitglied war, war klug genug, alle Rückkehrangebote auszuschlagen; er blieb bis 1963 in Mexiko, und als er dann doch nach Europa zurückkehrte, entschloss er sich, seinen Wohnsitz in der Schweiz zu nehmen, von wo aus er für den Rowohlt Verlag Werke von Montaigne und Simone de Beauvoir übersetzte.
5.2.2
Politische Verlage
In der historischen Situation, wie sie nach der NS-»Machtergreifung« und der massenhaften Vertreibung politischer Gegner, Schriftsteller und Intellektueller 1933 gegeben war, gewann die Frage, wie eine Gegenöffentlichkeit gegen das Regime und dessen Propagandamaschine herzustellen sei, überragende Bedeutung. Nach der Zerstörung des kritisch-oppositionellen Verlagswesens in Deutschland konnte die Lösung dieses Problems nur im Ausland liegen. Der Aufbau von klandestin betriebenen Verlagen im Lande
644 Vgl. hierzu Kießling: Im Widerstreit mit Moskau. Paul Merker und die Bewegung Freies Deutschland in Mexico; Kießling: Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane Stalins und Ulbrichts.
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selbst schien aussichtslos: bis auf einige, von linken Widerstandszellen oft nur mit primitiven Abziehmaschinen betriebenen Kleinstdruckereien, die aber meist rasch aufflogen, war sowohl bei Kommunisten wie Sozialdemokraten alles auf eine verdeckte Einfuhr illegalen Schrifttums, oft in Form von Tarnschriften,645 aus dem Ausland abgestellt. Der politische Kampf konzentrierte sich nachvollziehbarer Weise auf die erste Exilphase, die Phase des »antifaschistischen Kampfes«, und hier vor allem auf Frankreich und die ČSR sowie die Sowjetunion. Als ein weiterer Schauplatz politischer Widerstandsarbeit, die mit publizistischen Medien geführt worden ist, ist Großbritannien zu nennen.
Frankreich Paris war definitiv das Zentrum des politischen Exils;646 bereits bis Ende 1933 waren 30.000 Emigranten – fast die Hälfte der bis dahin aus Deutschland Geflüchteten – nach Frankreich gegangen, davon 7.000–10.000 als politische Flüchtlinge; etwa ein Drittel lebte in Paris. Deshalb auch entstand dort ein »Mikrokosmos« von Organisationen, ein Großteil von ihnen gesteuert von der Exil-KPD, die seit 1935 ihre Auslandsleitung in Paris unterhielt. Schriftsteller und Publizisten spielten in diesem Geflecht von teils getarnten, teils auch bloß fassadenhaften organisatorischen Initiativen eine nicht unbeträchtliche Rolle.647 Als Hauptschauplatz des politischen Kampfes zählte Paris zu den wichtigsten verlegerischen Zentren des Exils;648 rund ein Dutzend Exilverlage war dort angesiedelt, und der Schwerpunkt lag auf Verlagen mit politischer Programmausrichtung, speziell auf Parteiverlagen bzw. parteinahen Verlagen. Die Exilverlagsszene in Frankreich ist dank der Forschungsarbeiten von Albrecht Betz649 und vor allem von Hélène Roussel sehr gut erschlossen.650 Roussel gibt Einblick zunächst schon in die quantitative Entwicklung: 1934‒1938 sind jährlich 60‒80 Titel erschienen, mit einer Spitze im Jahr 1936; 1933 und 1939/1940 waren es deutlich weniger: überwiegend politisch-publizistische Schriften (Kampfschriften, theoretisches Schrifttum) mit bis zu 50 Seiten, weniger Belletristik.651 Denn für Belletristik waren Kapazitäten nur sehr eingeschränkt vorhanden: »Döblin, Feuchtwanger, Heinrich Mann und Joseph Roth veröffentlichten in Amsterdam oder in Zürich, ja selbst die kommunistischen Autoren Bredel, Kisch, Koestler, Regler
645 Siehe dazu das Kap. 1 Geschichtliche Grundlagen. 646 Dazu: Fluchtziel Paris; darin u. a. Saint Sauveur-Henn: Paris in den dreißiger Jahren: Mittelpunkt des europäischen Exils? 647 Zum Organisationsgeflecht siehe Langkau-Alex: Deutsche Volksfront, Bd. 1. 648 Vgl. hierzu den Überblick über die gesamte Bücherszene in Paris von Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil. Vgl. ferner Roussel / Winckler: Zur Topographie des literarischen und publizistischen Exils in Paris. 649 Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre, S. 223‒239: Bibliographie französischer Buchpublikationen deutscher Emigranten, S. 240‒ 280: Bibliographie der (franz.) Publizistik. 650 Vgl. Roussel: Éditeurs et publications des émigrés allemands (1933‒1939), und die bibliographische Ergänzung hierzu: Roussel / Kühn-Ludewig (Bearb.): Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil 1933‒1940. 651 Roussel / Kühn-Ludewig: Deutschsprachige Bücher und Broschüren, S. 269.
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und Anna Seghers konnten ihre Romane nur begrenzt bei den ortsansässigen Verlagen Carrefour oder Prométhée unterbringen und mussten mitunter auf Oprecht oder Querido ausweichen.«652 Die Verlagslandschaft des politischen Exils in Frankreich war durchaus gemischter Art; Roussel unterscheidet zwischen Verlagsunternehmen, die direkt von politischen Organisationen finanziert oder gelenkt wurden (wie Carrefour und andere MünzenbergUnternehmen, Prométhée und andere KP-Verlage; auch ISK / ENI); Organisationen, die nur gelegentlich Bücher oder Broschüren in deutscher Sprache herausbrachten; privaten Verlagsunternehmen (Sebastian Brant), sowie dem Selbstverlag der Autoren (wie die Éditions du 10 Mai).653
Die Éditions du Carrefour, Paris Die zentrale Figur in der politischen Medienwelt des Pariser Exils war, wie bereits mehrfach in anderen Zusammenhängen erörtert, Willi Münzenberg (1889 Erfurt – 1940 bei Montagne / St. Marcellin, Departement Isère, Frankreich). Seine Tätigkeit und sein Schicksal sind eng mit den wichtigsten Emigrationsverlagen in Frankreich verknüpft, sodass im Folgenden biographische und verlagsgeschichtliche Zusammenhänge in ihrer Verschränktheit dargestellt werden sollen.654 Nachdem in Deutschland das von Münzenberg errichtete Unternehmensgeflecht, der »Münzenberg-Konzern«,655 und mit ihm auch der Neue Deutsche Verlag, bereits im Januar 1933 von der Polizei besetzt und Ende Februar endgültig geschlossen worden waren, war er, an Leib und Leben gefährdet, noch am Tag nach dem Reichstagsbrand mit falschem Pass nach Frankreich geflüchtet und begann dort sofort mit dem Aufbau neuer Publikationsplattformen. In Paris konnte Münzenberg durch Vermittlung des französischen Schriftstellers Paul Nizan, damals noch Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) und Redakteur von L’Humanité, schon im März 1933 den Namen und die Räumlichkeiten der Éditions du Carrefour am Boulevard St.-Germain aus dem Besitz des Schweizers Pierre G. Lévy erwerben.656 Der
652 Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 35. 653 Roussel: Éditeurs et publications. ‒ Diese Typologie weist allerdings keine zwingende Systematik auf und konnte daher für die folgende Darstellung nicht herangezogen werden. 654 Biographische Hauptquellen: Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie (1991). Es handelt sich um eine im Wesentlichen unveränderte, allerdings um rund ein Dutzend kleiner sachlicher Fehler bereinigte Neuausgabe der 1967 als Nr. 14/15 in der Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erschienenen Ausgabe. Siehe ferner Wessel: Münzenbergs Ende. Ein deutscher Kommunist im Widerstand gegen Hitler und Stalin; Willi Münzenberg. Ein deutscher Kommunist im Spannungsfeld zwischen Stalinismus und Antifaschismus; Weber / Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 521‒524. Für die Zeit vor 1933 vgl. Surmann: Die Münzenberg-Legende. Vgl. auch McMeekin: The Red Millionaire. A Political Biography of Willi Münzenberg, 655 Siehe hierzu Palmier: Einige Bemerkungen zu den Propagandamethoden Willi Münzenbergs (zum Exil ab S. 43). 656 Zu Pierre G. Levy (1894 Biel / Bienne, Schweiz–1945 Paris) und zur Tätigkeit des Carrefour-Verlags vor 1933 vgl. auch die Auskünfte der Tochter Levys, Catherine Lawton: Die Éditions du Carrefour. Erinnerung an eine Vorgeschichte, sowie Lawton-Lévy, Catherine: Du colportage à l’édition: Bifur et les éditions du Carrefour. An der Vermittlung zwischen
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seit 1928 in Paris existierende Verlag hatte hauptsächlich eine Avantgarde-Zeitschrift mit dem Titel Bifur herausgebracht, auf besonderem Papier und mit exquisiter Typographie gedruckt, mit Fotos der bedeutendsten Fotografen der Zeit (Man Ray, Moholy-Nagy), Abbildungen von Gemälden (Max Ernst, Klee oder Arp) oder Skulpturen (Giacometti, Lipschitz) und Texten u. a. von Blaise Cendrars, Michel Leiris, Isaak Babel, Gottfried Benn, Hemingway, Tristan Tzara, Joyce und Kafka.657 Zwischen 1929 und 1931 waren acht Ausgaben erschienen.658 Im Buchprogramm des Verlags dominierten neben avantgardistischen Romanen und Gedichtsammlungen Künstlermonographien, auch Reisebücher und Kindergeschichten, allesamt hochwertig ausgestattet. Lévy, der humanistischpazifistisch und im Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Deutschland auch antifaschistisch eingestellt war, bot Münzenberg noch im März 1933 an, seinen (in finanziellen Schwierigkeiten steckenden) Verlag samt Räumlichkeiten659 zu übernehmen, und für diesen bedeutete es eine gute Gelegenheit, ohne große bürokratische Hindernisse eine Verlagstätigkeit aufnehmen zu können, zumal ihm Lévy in einer Beraterfunktion auch Kontakte zur Pariser Verlags- und Presselandschaft verschaffte. Nach dem Bericht der Tochter Lévys, Catherine Lawton-Lévy, ging aber der Kontakt weit über das Geschäftliche hinaus: Der Reichstagsbrand bedeutete für ihn [Lévy] einen solchen Schock, daß er nicht zögerte, Münzenberg und die Seinen aufzunehmen, seine Freunde und seine Familie zu mobilisieren; ich war zu dieser Zeit noch ein Kind, aber ich erinnere mich sehr gut an Willi, an Babette [Gross], an Otto [Katz] und die anderen, die uns zu Hause besuchten, in Paris, oder, im Laufe des folgenden Sommers, in Noisy-le-Grand, wo wir ein kleines Landhaus besaßen. Sie kamen abends und diskutierten bis spät in die Nacht. Ich […] hörte erstaunt zu, wie sie unermüdlich nach den Ursachen für ihren politischen Mißerfolg suchten und die Fehler analysierten, die sie gemacht hatten, wo sie sich doch für die Stärksten hielten.660
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Münzenberg und Lévy war neben Nizan offenbar auch der Journalist und Schriftsteller Paul Vaillant-Couturier, Mitglied des ZK des PCF, beteiligt. Lawton: Die Éditions du Carrefour, S. 207. – Ein Nachdruck von Bifur erschien Paris: JeanMichel Place 1976 (2 Bde.). »Nach der Fertigstellung der siebten Ausgabe der Zeitschrift übertrug Lévy die Herausgeberschaft aus finanziellen Gründen der kommunistischen Partei Frankreichs, vertreten durch Paul Nizan und Jean-Paul Sartre, die allerdings nur noch eine Ausgabe fertig stellten (diese enthielt u. a. Martin Heideggers Beitrag ›Was ist Metaphysik?‹).« (Wikipedia). Der Verlag befand sich damals an der Adresse Boulevard Saint-Germain Nr. 169, in einem Gartenhaus, dessen zwei Zimmer sich bald als zu klein erwiesen. 1934 zog der Verlag um, in das Gebäude Boulevard Montparnasse Nr. 89. In der gegenüber dem Verlag liegenden Wohnung richtete Münzenberg das Pariser Büro der Internationalen Arbeiter-Hilfe ein. Lawton: Die Éditions du Carrefour, S. 209. 1936 kam es zu einer Distanzierung zwischen Lévy und Münzenberg, vermutlich wegen dessen Entfremdung von der KP. 1940 verließ Lévy Paris; die Wohnung mit allen Kunstobjekten wurde von der Gestapo beschlagnahmt und »arisiert«. Lévy konnte sich einer Verhaftung und Deportation in ein Konzentrationslager entziehen; er starb im März 1945, 50-jährig.
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Die Éditions du Carrefour waren somit keine eigentliche Exilgründung, aber unter Münzenbergs Leitung entstand daraus der bedeutendste Exilverlag in Frankreich, wobei hier nicht die Zahl der Veröffentlichungen den Ausschlag gibt, sondern deren politisches oder literarisches Gewicht.661 Dass Münzenberg sofort mit der verlegerischen Arbeit beginnen konnte, beruhte nicht zuletzt auf günstigen Finanzierungsvoraussetzungen: »Dazu gehörte das Geld, das Babette Gross, trotz der Sperrung sämtlicher Konten, noch aus Deutschland nach Paris transferieren konnte. Diese Beträge hatte Münzenberg schon seit zwei Jahren im Safe des sowjetischen Konsuls Alexandrowskij deponieren lassen, eine Sicherheitsvorkehrung, die davon zeugt, daß ihn Verfolgung, Exil und Illegalität nicht ganz unvorbereitet trafen.«662 Zusätzlich konnte Münzenberg aber auch mit einer Finanzierung durch die Komintern rechnen,663 mit einiger Sicherheit auch mit über die IAH laufenden Transfers.664 Gross wies in ihren Erinnerungen an Münzenberg darauf hin, dass trotz einzelner Titel mit hohen Auflagen Carrefour ein Zuschussunternehmen geblieben sei; das Defizit habe Münzenberg mit aus Deutschland transferierten Geldern ersetzt, später durch Gelder der Komintern: »Ihr gehörte Carrefour ebenso wie die anderen von Münzenberg kontrollierten Organisationen.«665 Bedingt durch diese engen Bindungen an die Komintern wurden die Räumlichkeiten des Verlags zu einem Zentrum der politischen Arbeit der Pariser Exilkommunisten; offensichtlich dienten sie auch Kurieren aus Moskau als Anlaufstelle.
661 Obwohl dem Carrefour-Verlag überragende Bedeutung zukam, ist ihm im Frankreich-Band der repräsentativen Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933‒1945 kein eigenes Kapitel gewidmet. Darin spiegeln sich die Schwierigkeiten der DDR-Exilhistoriker, mit der führenden Rolle des Renegaten Münzenberg zurechtzukommen. Der Verlag als solcher wird dort im Grunde nur auf zwei Seiten abgehandelt (Schiller u. a.: Exil in Frankreich, S. 73‒75). 662 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit im Kontext seines Umgangs mit den Medien in der Weimarer Republik und im französischen Exil, S. 157 (zu Carrefour bes. S. 182‒184). – Vgl. auch Thunecke: Willi Münzenberg und die Éditions du Carrefour (1933‒ 1937). 663 Vgl. Wessel: Münzenbergs Ende, S. 69 f., sowie S. 281 f., Anm. 33: Ein Kassenbericht, den die Internationale Kontrollkommission der Komintern im Juli / August 1935 dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationalen vorlegte, wies einen Posten »Subventionen für Parteizeitungen, Verlage und Parteibildungsarbeit« in der Höhe von $ 605.900 auf. 664 »Außerdem war Münzenberg, der von der Komintern mit der Organisation der Anti-NaziPropaganda beauftragt worden war, nicht mittellos, sondern konnte auf die Finanzen der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und der Komintern zurückgreifen. Er war bekannt, hatte überall hin Verbindungen, vor allem auch zu nichtkommunistischen Intellektuellen, die schon in der antiimperialistischen und Friedensbewegung mit ihm zusammengearbeitet hatten.« Mit diesen Finanzierungsmethoden und seinem direkten Draht zur Komintern-Führung in Moskau sicherte sich Münzenberg, obwohl seit Gründung Mitglied der KPD und seit 1927 in deren ZK, auch eine gewisse Unabhängigkeit vom deutschen Parteikommunismus: »Das ermöglichte es ihm auch immer wieder, unkonventionelle und der Partei oft suspekte Wege zu gehen.« (Zitate aus dem Beitrag von Bernhard Bayerlein und Uwe Sonnenberg: Der erfolgreichste Buchverlag in der Emigration. In: muenzenberg-forum [online]). 665 Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 371.
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Ein Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral (dazu weiter unten) aus dem Jahr 1937 liefert im Zusammenhang mit Überlegungen zur Schließung des Verlags noch weitere Aufschlüsse über dessen Finanzierung bzw. dessen finanzieller Schieflage: Diese Edition war schon in ihrer normalen Lage passiv. Die Herausgabe eines jeden Buches erhöhte das Defizit. Das ist selbstverständlich nicht der entscheidende Grund, da mit Hilfe bei der Herausgabe der antifaschistischen Schriften in deutscher Sprache muß man heute unbedingt rechnen.[!] Die Defizite der Edition müßten aber in der weiteren Perspektive wachsen. Mir ist nicht bekannt, wieviel Aktienkapital die Edition bei ihrer Gründung hatte. Sie hat früher jeden Monat für ihre eigenen Zwecke ein Drittel desjenigen Betrages verbraucht, welcher für die in der Sowjetunion verkauften Nummern der »Illustrierten Volkszeitung« ankam. Die »I-V-Z« wurde – was ich für richtig hielt – nach Prag übertragen und dadurch wurde diese verhältnismäßig hohe Einnahme für die Edition liquidiert. Außerdem war Willi fähig, für die Herausgabe einzelner Bücher und für die Edition überhaupt Hilfe (Geschenke – Zuschüsse) aus den Quellen zu bekommen, zu denen ich keinen Zutritt habe. Das Absatzgebiet für deutsche antifaschistische Bücher hat sich weiter verengt. Die französischen Parteifreunde, mit denen ich verhandelt habe, zeigten wenig Lust, die Aktien und die passive Edition zu übernehmen, nur um die international bekannte Firma zu retten.666
Gesellschafter und Mitarbeiter Nach Hélène Roussel, die sich dabei auf Dokumente in den Archives Nationales in Paris bezieht, blieb Lévy »seinen bescheidenen Geldmitteln gemäß an dem Verlagsunternehmen beteiligt, das im November 1933 als Aktiengesellschaft ›gegründet‹ und im Dezember 1935 in eine G.m.b.H. umgewandelt wurde. Gesellschafter waren: Babette Gross* (Münzenbergs Lebensgefährtin), mit dem Hauptanteil des Kapitals: 75,8 %, Lévy mit 11,8 %, Graf Michael Karolyi mit 10 %; dann werden mit einer symbolischen finanziellen Teilnahme Francis Jourdain und Josef Füllenbach (ein enger Mitarbeiter Münzenbergs667), sowie
666 Müller: Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral über seinen Pariser Aufenthalt 1937 (Dokument), S. 259. – Vgl. dazu auch McMeekin: The Red Millionaire, S. 212. 667 Nach Wessel: Münzenbergs Ende, S. 362, Anm. 24, war Füllenbach zunächst als Versandleiter und Buchhalter im Carrefour-Verlag tätig; 1939 war er Kassierer und Organisationssekretär in Münzenbergs Partei Freunde der sozialistischen Einheit. Ein interessantes biographisches Detail zu Füllenbach findet sich online in einem Bericht: »Füllenbach, der Hals über Kopf Straßburg hatte verlassen müssen, um nicht an die Nazis ausgeliefert zu werden, war bei der Edition du Carrefour als Lagerarbeiter eingestellt worden und hatte es schließlich bis zum Teilhaber Münzenbergs gebracht, als der Verlag schließlich aus politischen Gründen liquidiert werden mußte.« (http://www.schnecke-kultur.de/rueckblick/veranstaltungen1988/ schneckenreisenachparis/index.html, 19. 03. 2017). Füllenbach war allerdings der Gestapo in Frankreich nicht endgültig entkommen; im Lager Le Vernet interniert, war er dort gefangengenommen und nach Deutschland überstellt worden; nach Verhören wurde er zu hoher Zuchthausstrafe verurteilt, 1945 aber befreit und lebte anschließend in Hessen. Siehe Wessel: Münzenbergs Ende, S. 362, Anm. 24.
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Georges Simon und Raymund Bernheim angeführt.«668 1937 stellte dazu der KominternEmissär Bohumir Šmeral in seinem Bericht fest: »Gerichtlich war die Edition registriert auf Babette Groß und Jupp Füllenbach. Die zwei Angestellten der Edition waren (neben einer ›Steno‹) Füllenbach und Granzow; Babette Groß empfing damals, seit Juli 1937, noch die Hälfte des Gehalts, ohne faktisch zu arbeiten«.669 Tatsächlich war Babette Gross zur Geschäftsführerin des Verlages bestellt worden;670 sie war in gleicher Funktion bereits seit den 1920er Jahren im Neuen Deutschen Verlag in Berlin tätig gewesen.671 Zum Mitarbeiterstamm und Redaktionsteam des Verlages gehörten neben Babette Gross und dem Münzenberg treu ergebenen Sekretär Hans Schulz (sowie der Übersetzerin Else Lange672 ) vor allem Otto Katz* (André Simone673), der im Exil jedoch eine zunehmend undurchsichtige Rolle spielte, ferner Wilhelm Koenen, Alexander Abusch, Gustav Regler, Rudolf Fürth (d. i. Rudolf Feistmann), Max Schroeder, Bodo Uhse, Bruno Frei, mindestens zeitweise auch Arthur Koestler, Gustav Regler, Alfred Kantorowicz und Hans Siemsen. Die »Münzenberg-Mannschaft« war, in wechselnden Besetzungen, permanent mit der Zusammenstellung politischer Propaganda- und Aufklärungsschriften befasst: Bruno Frei und Alexander Abusch redigierten den Gegen-Angriff, Sekretär Hans Schulz betreute das Bulletin der Deutschen Freiheitsbibliothek Das freie Deutschland. Auch arbeitete Münzenberg weiterhin eng mit John Heartfield zusammen; dieser lieferte Illustrationen und bemerkenswerte Umschlaggestaltungen, wie er dies vor 1933 vielfach für die IAZ und andere Münzenberg-Organe und -Verlage getan hatte.
Funktion und Arbeit des Verlags Die Arbeit des Carrefour-Verlags war darauf abgestellt, den Fortbestand einer Opposition zum nationalsozialistischen Regime in der internationalen Öffentlichkeit zu mani668 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 183. Nach Enderle-Ristori sind die am 1. Dezember als Aktiengesellschaft gegründeten Éditions du Carrefour am 20. März 1934 ins Handelsregister eingetragen worden. Die AG war mit 500.000 Francs dotiert, davon hielten Babette Gross 758 Anteile zu einem Nominalwert von je 500 Francs, Pierre Lévy 118 Anteile, Graf Karoly 100, Jourdain 10, Simon und Bernheim je 2, Theodor Baensch 10. Josef Füllenbach ist hier (noch) nicht als Teilhaber genannt; Münzenbergs Name scheint im Handelsregister nicht auf. (Enderle-Ristori: Volksfront und »Ehekrach«, S. 174, Anm. 61). 669 Müller: Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral, S. 259. 670 Gross: Willi Münzenberg (1991). Grossʼ Münzenberg-Biographie hat durchaus auch autobiographischen Charakter. – Grossʼ Schwester war Margarete Buber-Neumann, die Ehefrau des zeitweiligen Vorsitzenden der KPD, von der ebenfalls eine Autobiographie vorliegt: Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrwegs. 671 Nach der Besetzung Frankreichs in Gurs interniert, gelang ihr 1941 über Portugal die Flucht nach Mexiko. 1947 kehrte sie nach Deutschland zurück und war 1949 eine Mitgründerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in deren Geschäftsleitung sie bis 1951 tätig war. In den folgenden Jahren verfasste sie mehrere Werke zur politischen Zeitgeschichte, u. a. die oben erwähnte Biographie ihres Lebensgefährten Willi Münzenberg. 672 Gross: Willi Münzenberg, S. 371. 673 Vgl. Wessel: Münzenbergs Ende, S. 358, wo die Mitwirkung Katzʼ an einer denunziatorischen Denkschrift über die »unheilvolle Tätigkeit« eines deutschen Kommunisten in Paris (gemeint ist Münzenberg) als wahrscheinlich betrachtet wird.
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festieren; Münzenberg sah darin wohl eine Existenzfrage für das gesamte Exil.674 Dass diese propagandistische Offensivstrategie auf der illusionären Annahme beruhte, die NSHerrschaft werde aufgrund ihrer fehlenden Massenbasis bald gestürzt werden können, sollte sich erst im Verlauf einiger Jahre herausstellen und am Ende dann auch zur Abwendung Münzenbergs von der kommunistischen Orthodoxie, zur Kritik des Stalinismus und zum allmählichen Bruch mit dem kommunistischen Apparat (zwischen Ende 1936 und 1938) führen, im weiteren auch »zur Suche nach neuen tragfähigen Modellen eines gegen das Dritte Reich gerichteten Bündnisses.«675 Zunächst aber setzte Münzenberg alles daran, möglichst rasch wieder einen Medienapparat aufzubauen. Dem Carrefour-Verlag fiel dabei eine zentrale Rolle zu: Er bildete den organisatorischen Kern des neuen Medienensembles und fungierte als »offizielles Firmenzeichen für mehrere legale Unternehmen: für das Buchprogramm und für die Periodika Unsere Zeit […] und den Gegen-Angriff.« Der Verlag bildete zugleich auch Münzenbergs Zentrale, von der aus er mit seinem Mitarbeiterteam unterschiedlichste, auch verdeckte Initiativen und Unternehmungen dirigierte oder unterstützte: »Infolgedessen ist der Verlagssitz zu einem halb geheimen Anlaufplatz für Informanten aus Deutschland und zum Umschlagplatz von Nachrichten über das Dritte Reich geworden.«676
Das Programm der Éditions du Carrefour Politisch relevante Veröffentlichungen der Éditions du Carrefour unter der Verlagsleitung von Willi Münzenberg 1933‒1937, nach der Zusammenstellung von Werner Abel und Esther Winkelmann,677 hier chronologisch geordnet (eine ergänzende Liste der 15 im engeren Sinne literarischen Veröffentlichungen findet sich in Kap. 5.2.1 im Abschnitt Die Éditions du Carrefour als Belletristikverlag. 1933: Livre brun sur l’incendie du Reichstag et la terreur hitlérienne. (= Réquisitoires 1). Publié par le Comité international d’aide aux victimes du fascisme hitlérien. Vorwort von Vincent de Moro-Giafferi; Anklage gegen die Ankläger. Die Widerlegung der geheimen Anklageschrift des Reichstagsbrand-Prozesses. [Nachtrag zum Braunbuch über Reichstagsbrand und HitlerTerror] Hrsg. vom Weltkomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus. Unter Mitwirkung der Professoren Fauconnet, G. Urbain, Prenant und anderer Gelehrter;
674 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 181. 675 Roussel, S. 157 f.; Roussel vertritt hier die These, dass sich bei Münzenberg Zielsetzung, Methoden und Inhalte seiner verlegerischen Tätigkeit schrittweise geändert haben, und dies aufgrund exilbedingter Faktoren, aufgrund der Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen politischer Opposition im Exil und im Dritten Reich sowie unter dem Einfluss von Münzenbergs persönlicher politischer Entwicklung. 676 Roussel, S. 183. 677 https://www.muenzenbergforum.de/wp-content/uploads/2013/12/IWMF_Bibliographie_ Edition-du-Carrefour.pdf
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Moro-Giafferi, Vincent de: Göring, der Brandstifter bist du!; Vom Tode bedroht. Rettet Thälmann, Dimitrow, Torgler (= Der braune Tod über Deutschland, Heft 3). [Hrsg. vom Weltkomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus]; 1934: Braunbuch II. Dimitroff contra Goering. Enthüllungen über die wahren Brandstifter; Dimitroff contre Goering. 2e livre brun; Der Kampf um ein Buch. Wie im Dritten Reich gegen das Braunbuch gekämpft und gelogen wurde; Naziführer sehen dich an. 33 Biographien aus dem III. Reich; Tels qu’ils sont. 31 [!] biographies de chefs nazis. [Die Deutsche Nationalbibliothek nennt Walter Mehring als Autor]; Weißbuch über die Erschießungen des 30. Juni 1934. Vorwort von Georg Branting; Woodman, Dorothy (Hrsg.) [tatsächl. Albert Schreiner]: Au seuil de la guerre. Documents sur le réarmement de l’Allemagne hitlérienne; Woodman, Dorothy (Hrsg.) [tatsächl. Albert Schreiner]: Hitler treibt zum Krieg. Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen. Vorwort von D. Woodman. Aus dem Englischen übertragen von Franz Obermeier; 1935: Das braune Netz. Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten; Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das III. Reich. Bilder und Dokumente, zusammengestellt und hrsg. vom Internationalen Antifaschistischen Archiv. Vorwort von Heinrich Mann. [Die Deutsche Nationalbibliothek nennt Heinz Lohmar als Gestalter]; Dimitroff, Georgi: Briefe und Aufzeichnungen aus der Zeit der Haft und des Leipziger Prozesses (von Alfred Kurella besorgte Ausgabe); Fair Play. Für ehrliches Spiel. Committee on Fair Play in Sports, New York [Kritische Denkschrift über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin]; Woodman, Dorothy [tatsächl. Albert Schreiner]: Hitlers Luftflotte startbereit. Enthüllungen über den tatsächlichen Stand der Hitlerschen Luftrüstungen. Vorwort von D. Woodman; 1936: Angell, Norman: Frieden und Sicherheitspakte (= Schriftenreihe über Strategie und Taktik im Kampfe gegen Krieg und Faschismus, Heft 2). Hrsg. vom Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus; Barbusse, Henri: Stalin. Eine neue Welt. Übersetzung aus dem Französischen von Alfred Kurella; Der gelbe Fleck. Die Ausrottung von 500.000 deutschen Juden. [Hrsg. v. Lilly Becher]. Vorwort von Lion Feuchtwanger; Der Kampf um den Frieden. Offener Brief des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus. (= Schriftenreihe zur Strategie und Taktik im Kampfe gegen Krieg und Faschismus, Heft 5);
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Eichen, Claus (d. i. Schiwko Angeluscheff): Rassenwahn. Briefe über die Rassenfrage; Erckner, S. (d. i. Staschek Scymoncyk): Die grosse Lüge. Hitlers Verschwörung gegen den Frieden; Jacob, Berthold: Das neue deutsche Heer und seine Führer; Lieb, Fritz: Christ und Antichrist im Dritten Reich. Der Kampf der deutschen Bekenntniskirche; Müller, Albert (d. i. Albert Schreiner): Hitlers motorisierte Stossarmee. Heeres- und Wirtschaftsmotorisierung im Dritten Reich; Rolland, Romain: Botschaft an den Kongress in Brüssel und Wie kann man den Krieg verhindern? (= Schriftenreihe über Strategie und Taktik im Kampfe gegen Krieg und Faschismus, Heft 1). Hrsg. vom Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus. Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Leonhard; [Scheer, Maximilian]: Das deutsche Volk klagt an! Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbuch; Spielhagen, Franz (d. i. Otto Katz): Spione und Verschwörer in Spanien. Nach offiziellen nationalsozialistischen Dokumenten; Tanin, O. / Yohann, E.: Japan rüstet zum großen Krieg; Was soll mit den Juden geschehen? Praktische Vorschläge von Julius Streicher und Adolf Hitler; 1937: Azaña spricht. Rede des Präsidenten der spanischen Republik Azaña am 21. Januar 1937 in Valencia; Durango, Stadt des Leidens. Die Bombardierung Durangos durch deutsche Flugzeuge. Vorwort von Louis Martin-Chauffier; Henry, Ernst: Feldzug gegen Moskau? Übersetzung aus dem Englischen; Jacob, Berthold: Weltbürger Ossietzky. Ein Abriss seines Werkes zusammengestellt und mit einer Biographie Ossietzkys versehen von B. Jacob. Vorwort von Wickham Steed; Koestler, Arthur: L’Espagne ensanglantée. Un livre noir sur l’Espagne; Koestler, Arthur: Menschenopfer unerhört. Ein Schwarzbuch über Spanien; Le peuple allemand accuse. Appel à la conscience du monde. Un livre de documentation. Unter Mitarbeit von Maximilian Scheer und einem Vorwort von Romain Rolland; Münzenberg, Willi: Propaganda als Waffe; Scheer, Maximilian: Blut und Ehre. Unter Mitarbeit eines Kollektivs deutscher Antifaschisten. Vorwort von Emil Julius Gumbel. Hrsg. vom Überparteilichen Deutschen Hilfsausschuss. Die Éditions du Carrefour haben unter Münzenbergs Leitung 1933‒1937 insgesamt 56 Titel (Bücher und Broschüren) herausgebracht, von denen 15 als belletristische Titel anzusprechen sind – darunter wichtige Werke der Exilliteratur, wie Bertolt Brechts / Hanns Eislers Lieder Gedichte Chöre (1934), Gustav Reglers Saarroman Im Kreuzfeuer
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(1934) oder Anna Seghersʼ Der Weg durch den Februar (1935).678 Acht der 56 Titel sind in französischer Sprache erschienen, sechs von diesen waren Übersetzungen von zuvor oder gleichzeitig erschienenen deutschsprachigen Büchern. Der Schwerpunkt des Programms lag aber eindeutig auf politischen Publikationen. Als Münzenberg den Verlag an die Komintern übergeben musste (siehe dazu weiter unten), verfasste er einen mit 31. Dezember 1936 datierten »Bericht über Gründung, Tätigkeit, Entwicklung und Stand von Editions du Carrefour«, in welchem er darauf verwies, dass sich »der Verlag bewußt nur auf die Herausgabe von Büchern gegen Hitler« beschränkt habe.679 Mit »Büchern gegen Hitler« konnte er auch die von der französischen Regierung für alle ausländischen Verlage, Zeitungen und Vereine verfügte Auflage beachten, sich nicht in die französische Politik einzumischen. Diese Verpflichtung wurde von den Behörden zwar relativ tolerant gehandhabt, aber Münzenberg hat von sich aus darauf geachtet, dass vor allem der Carrefour-Verlag sich aus Debatten heraushielt, die in dieser Hinsicht hätten problematisch werden können. Das gilt auch für die Volksfrontdebatte, die nicht nur in der Emigration, sondern auch in der französischen Politik geführt wurde. Dafür standen Periodika zur Verfügung, nicht aber der Buchverlag.680 Münzenberg baute also die Éditions du Carrefour von Anfang an zu einer Basis der Agitation gegen das »Dritte Reich« aus; sein Programm lautete: Aufklärung der Weltöffentlichkeit über Hitler und den Nationalsozialismus. Wie aber schon Hélène Roussel in einer vorläufigen Analyse des Verlagsprogramms festgestellt hat, kam es zwischen 1933/1934 und 1935/1937 zu einer merklichen Verlagerung der Hauptakzente.681 Die ersten Carrefour-Titel waren »vorwiegend der Kritik an der offenen Unterdrückungspolitik des Nationalsozialismus gewidmet«, wofür insbesondere das Braunbuch steht. Der Erfolg ließ sich aber weder mit dem Braunbuch II noch mit anderen Titeln wie Naziführer sehen Dich an. 33 Biographien aus dem Dritten Reich (1933, nach Verlagsangaben in acht Sprachen übersetzt) wiederholen. Zwar hielt man noch eine ganze Weile an der These fest, »nach der sich die nationalsozialistische Herrschaft gegen den Willen der deutschen Bevölkerung nur durch Terror an der Macht halten würde«: dafür stehen Titel wie Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das III. Reich (1934) oder Das deutsche Volk klagt an! (1936) oder auch die von den Éditions du Carrefour verlegten Schriften des Welthilfskomitees für die Opfer des Hitlerfaschismus. Immer stärker aber schob sich ein anderes Thema in den Vordergrund: die Kriegsvorbereitungen Deutschlands. Hellsichtig wurde vor der Gefahr einer Expansion Hitlerdeutschlands und eines erneuten Weltkrieges gewarnt, z. T. mit Dokumentationen, in denen das Aufrüstungsprogramm des »Dritten Reiches« und die Notwendigkeit von Gegenmaßnahmen seitens der westlichen Demokratien der Weltöffentlichkeit vor Augen gestellt werden sollte. Im Grunde begann das schon mit Hitler treibt zum Krieg (1934);
678 Eine Verlagsbibliographie zu Carrefour hat auch Roussel zusammengestellt, siehe: Éditeurs et publications, S. 414‒417. – Zu den literarischen Titeln vgl. das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 679 Zit. n. Roussel: Zu Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 184. Der Bericht befindet sich in den Archives Nationales in Paris (genauere Angaben bei Roussel). 680 So die zutreffende Einschätzung von Roussel, S. 184. 681 Roussel, S. 184 f.
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mit Hitlers Luftflotte startbereit (1935) und Hitlers motorisierte Stoßarmee (1936) und anderen einschlägigen Dokumentationen suchte Münzenberg seine erfolgreich begonnene Aufklärungsarbeit über die Kriegsvorbereitungen weiter fortzusetzen. Der Verlag reihte sich so in die vom Rassemblement Universel pour la Paix und dem (von Münzenberg mitinitiierten) Weltkomitee gegen Faschismus und Krieg getragene Friedensbewegung ein, nicht zuletzt mit der seit 1936 herausgebrachten Schriftenreihe über Strategie und Taktik im Kampf gegen Krieg und Faschismus, die man parallel zu der französischsprachigen Reihe herausbrachte, die vom Bureau d’Éditions publiziert wurde, einer Gründung der Komintern.682 Eine weitere Programmlinie wurde 1936/1937 eröffnet mit Büchern über den Spanischen Bürgerkrieg, an dem ja viele kommunistische Schriftsteller teilnahmen (1936 erschien ein Titel, 1937 waren es vier von neun). Diese Werke (wie Spione und Verschwörer in Spanien, 1936), die überwiegend schon in die Endphase des Verlages fielen, sollten Sympathien für den heldenhaften Kampf des republikanischen Spanien erzeugen und die in dieser Sache untätig bleibenden europäischen Länder zum Widerstand gegen die militärische Intervention Hitlerdeutschlands aufrufen. Die Produktionsweise bei den Éditions du Carrefour unterschied sich somit in mancherlei Hinsicht deutlich von der in anderen Verlagen üblichen. So war Münzenbergs Mitarbeiterstab unentwegt mit dem Sammeln von Material befasst; der Verlag war nicht eigentlich auf die Manuskripte angewiesen, die von Autoren angeboten wurden. Ein Großteil der Titelproduktion beruhte auf gezielt in Auftrag gegebenen Werken, wie man sie für die antifaschistische Propaganda benötigte. Münzenberg machte auch als Verleger von seinen vielfältigen Verbindungen Gebrauch, das führte u. a. dazu, dass die Éditions du Carrefour mit mehreren Verlagen kooperierte, etwa mit dem Malik-Verlag, allen voran aber mit der (von 1931 bis 1938 bestehenden) Verlagsgenossenschaft für ausländische Arbeiter (VEGAAR) in der Sowjetunion, teils durch Titelübernahme oder durch Belieferung oder den Austausch von Buchblöcken, die von den Kooperationspartnern jeweils nur mit einem eigenen Einband versehen werden mussten.
Zu einzelnen Publikationen der Éditions du Carrefour 1933‒1940 Den spektakulärsten Erfolg in der von Münzenberg entfachten antinazistischen Propaganda überhaupt erzielte ohne Zweifel das Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror, erschienen am 1. August 1933, also noch vor dem Reichstagsbrandprozess. Grundintention des Braunbuchs war es, die von der NS-Propaganda erhobene Anschuldigung, es seien Kommunisten gewesen, die das Berliner Reichstagsgebäude in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 in Brand gesteckt haben, zu widerlegen und im Gegenzug die Nazis selbst als die eigentlichen Brandstifter zu entlarven. Ein von Münzenberg zusammengestelltes Team683 hatte zu diesem Zweck eine umfangreiche Sammlung (z. T. 682 Roussel, S. 185. 683 Federführend in diesem Team war Otto Katz (André Simone), auch Arthur Koestler, Gustav Regler, Alfred Kantorowicz u. a. wirkten darin mit. Das juristische Material soll, einem Bericht der Deutschen Botschaft in Paris zufolge, von dem linksgerichteten Rechtsanwalt Botho Laserstein zusammengestellt worden sein (Vgl. den Bericht der Deutschen Botschaft vom 3. November 1933 im IfZ, Fb 226).
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allerdings bloß konstruierter) Indizien und Beweise angelegt, gleichzeitig auch eine Dokumentation über die vom NS-Regime von Februar bis Mai 1933 begangenen Terrorund Unterdrückungsmaßnahmen gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und andere oppositionelle Gruppen. Angeschlossen war ferner eine »Mordliste des ›Dritten Reiches‹«, mit den Namen von rund 250 Arbeitern und Intellektuellen, die seit der »Machtergreifung« gewaltsam ums Leben gekommen waren. Diese Dokumentation sollte nach den Intentionen Münzenbergs zur Grundlage einer konzertierten Kampagne gemacht werden, mit dem Ziel, die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. Erschienen ist in den Éditions du Carrefour allerdings zunächst nur die französischsprachige Ausgabe Livre brun sur l‘incendie du Reichstag et la terreur hitlèrienne.684 Wohl als Vorsichtsmaßnahme hat man es vorgezogen, die deutschsprachige Originalausgabe lt. Impressumsangabe im Verlag der Universum Bücherei in Basel erscheinen zu lassen.685 Nach zwei gebundenen Ausgaben erschien das Werk auch als preisgünstigere Broschur, und nur deren als 20.‒30. Tsd. erschienene 3. Auflage enthält den Hinweis »Copyright by Éditions du Carrefour Paris 1933«.686 Um die Wirkung möglichst auch nach Hitlerdeutschland hineinzutragen, wurden von dem Braunbuch auch Tarnausgaben in Dünndruck und im Kleinformat hergestellt und als Bändchen von Reclams UniversalBibliothek, versehen mit dem Titelblatt von Goethes Hermann und Dorothea und Schillers Wallenstein, im Reich verbreitet.687 Die Angaben über die Auflagenhöhen schwanken, wobei die von Arthur Koestler – in Braunbuch-Zeiten ein enger Mitarbeiter Münzenbergs – in seinem Erinnerungswerk Die Geheimschrift genannte Zahl von einer Million Exemplaren einigermaßen unrealistisch ist. Babette Gross ging 1967 davon aus, dass die im Carrefour-Verlag erschienenen deutschen und französischen Ausgaben eine Gesamtauflage von 25.000 nicht überschritten haben;688 allerdings kamen Übersetzungen in zahlreichen weiteren Ländern (u. a. in Großbritannien, USA und Schweden in mehreren Auflagen) heraus, die nach Gross zusammen 70.000 Exemplare, in Wahrheit aber doch um einiges mehr ausgemacht haben dürften. Denn während bei Gross von »Übersetzungen in weiteren 12 Ländern« die Rede ist, sprechen neuere Darstellungen davon, dass das Braunbuch »binnen kurzer Zeit mehr als 50 Auflagen in mehr als zwanzig Sprachen erreichte«,689 ja sogar davon, dass
684 Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage. 685 Anonym: Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror (Vorwort Lord Marley). Basel: Universum Bücherei 1933. – Dazu ist als Nachtrag erschienen: Anklage gegen die Ankläger. Die Widerlegung der geheimen Anklageschrift des Reichstagsbrand-Prozesses (siehe die Liste der politischen Veröffentlichungen weiter oben). Das Braunbuch ist in der DDR mehrfach in einer Reprintausgabe erschienen, so 1980 im Berliner Akademie-Verlag; in der BRD als Ausgabe des Röderberg Verlags in Frankfurt am Main 1983 u. ö. 686 Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage. 687 vgl. Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 260. 688 Gross, S. 260. 689 Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. Dort auch ein Hinweis auf die in der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR) für die »in der Sowjetunion lebenden deutschen Arbeiter und Spezialisten« (Verlagsvorwort) gedruckte, um fast 200 Seiten gekürzte Ausgabe, in der u. a. die Kapitel über Marinus van der Lubbe und die antisemitischen Aktionen der Nazis fehlen; diese ist in einer Auflage
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die Auflagenhöhe des ersten Braunbuches mehr als 500.000690 bzw. 600.000 betragen habe.691 Darüber hinaus ist in den Exilländern das Braunbuch vielfach auszugsweise in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden; unter den frontal gegen den Nationalsozialismus gerichteten Propagandabüchern hat das Braunbuch sicherlich international am meisten Staub aufgewirbelt. Nicht zuletzt hat das Buch, ungeachtet oder gerade wegen seiner sachlichen Irrtümer und Verfälschungen, entscheidend dazu beigetragen, dass der vor dem Reichsgericht (neben dem Attentäter van der Lubbe) angeklagte KPFunktionär Georgi Dimitroff freigesprochen wurde. Denn tatsächlich wurden verschiedene, auch gegen Hermann Göring erhobene Tatvorwürfe vom Leipziger Gerichtshof aufgegriffen und geprüft. Ein riesiger Erfolg, der seitens des wütenden NS-Regimes damit beantwortet wurde, dass noch am 23. August 1933 die Erste Ausbürgerungsliste ausgegeben wurde, auf der gemeinsam mit sieben anderen Kommunisten auch Willi Münzenberg aufgeführt war. Den Machthabern kam das negative Bild, das im Ausland aufgrund der Braunbuch-Kampagne vom »neuen Deutschland« entstand, äußerst ungelegen. Das Reichspropagandaministerium war mit zahlreichen Dementis um Schadensbegrenzung bemüht; die Berliner SA suchte den »Greuelmärchen« des Braunbuchs über das KZ Oranienburg sogar mit einem »Anti-Braunbuch« entgegenzutreten. All dies konnte aber nicht verhindern, dass in den Folgejahren in der deutschen Exilpublizistik sowie der alliierten Kriegspropaganda (und auch noch nach 1945!) das Braunbuch als ein Quellenwerk betrachtet und ausgewertet worden ist. Einen gewissen Anteil am Erfolg hatte auch John Heartfield, der wie schon vor 1933 eng mit Willi Münzenberg zusammenarbeitete und für das Braunbuch eine Umschlagillustration beisteuerte, die einen stiernackigen Göring mit Henkerbeil und Schlachterschürze zeigte, im Hintergrund den brennenden Reichstag. Damit fasste er den Inhalt des Braunbuchs in einem suggestiven Agitprop-Bild zusammen. Nachdem es gelungen war, mit dem Braunbuch gewaltiges Aufsehen zu erregen und den Reichstagsbrandprozess im Herbst 1933 positiv zu beeinflussen, lag es für Münzenberg nahe, an dem Thema dranzubleiben. Dem diente zunächst schon eine 32seitige Broschüre Der Kampf um ein Buch. Wie im Dritten Reich gegen das Braunbuch gekämpft und gelogen wurde, die 1934 bei Carrefour in einer Auflage von 20.000 erschien.692 Nachgelegt wurde aber vor allem mit dem Anfang Mai 1934 bei Carrefour erschienenen Braunbuch II. Dimitroff contra Goering. Enthüllungen über die wahren Brandstifter, das den Verlauf des Prozesses, in dessen Rahmen der Angeklagte gegenüber Göring zum Ankläger wurde (diese Szene bzw. Konstellation wählte Heartfield für seinen Umschlagentwurf), rekonstruierte; darüber hinaus enthielt der Band in einem zweiten Teil eine Liste von »747 nachgewiesenen [politischen] Morden in Hitler-
von 10.000 Exemplaren erschienen, obwohl auch die Originalausgabe der UniversumBücherei in der UdSSR erhältlich war. 690 Krohn: Propaganda als Widerstand? Die Braunbuch-Kampagne zum Reichstagsbrand 1933, S. 20. – Krohn weist auch darauf hin, dass die Anfertigung von Übersetzungen (nicht nur in die großen Weltsprachen, sondern auch ins Japanische, Ivrith und Jiddische) mit Mitteln der Internationalen Arbeiterhilfe planmäßig und in kurzer Zeitspanne vorgenommen wurde. 691 Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, S. 324, Anm. 3. 692 Diese Auflagenangabe nach Krohn: Propaganda als Widerstand?, S. 23.
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Abb. 26: Mit der schwarz-weiß-roten Reichskriegsflagge hat John Heartfield für die Gestaltung des Schutzumschlags zu den »dokumentarischen Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen« ein einfaches, aber treffendes Motiv gefunden (Sonderprospekt S. 1 und 4).
Deutschland«.693 Die erste Auflage war binnen einer Woche vergriffen; das Vorwort zur zweiten Auflage wies darauf hin, dass zeitgleich mit ihr auch eine französische, englische694 und holländische Ausgabe erschienen sind; weitere fremdsprachige Ausgaben waren angekündigt. Die Aufklärungsarbeit wurde im gleichen Jahr 1934 fortgesetzt mit Naziführer sehen dich an und einem Weißbuch über die Erschießungen des 30. Juni 1934. Authentische Darstellung der deutschen Bartholomäusnacht, vor allem aber mit Hitler treibt zum Krieg. Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen.695 Diese Dokumentation erschien offiziell unter der Herausgeberschaft von Dorothy Woodman, einer
693 Anonym: Braunbuch II. Dimitroff contra Goering. Enthüllungen über die wahren Brandstifter. (Vorwort von Denis Nowell Pritt). Paris: Éditions du Carrefour 1934. Die Umschlaggestaltung stammte wieder von John Heartfield. 694 The Reichstag fire trial. The second brown book of the Hitler terror based on material collected by the World Committee for the Relief of the Victims of German fascism, with an introductory chapter specially written for the book / Georgi Dimitrov. A foreword by D. N. Pritt, an appendix on murder in Hitler-Germany introduced by Lion Feuchtwanger. London: Lane 1934. 695 Hitler treibt zum Krieg. Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen. Herausgegeben von Dorothy Woodman, Sekretärin der englischen Union für demokratische
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Politikerin der Labour-Party, Mitglied der International Fabian Society und Sekretärin der englischen Union für demokratische Kontrolle, war tatsächlich aber von Albert Schreiner zusammengestellt worden. Generell verfolgte Münzenberg in seinen Carrefour-Propagandabüchern die Taktik, als Vorwortverfasser (Braunbuch I: Lord Marley, Braunbuch II: D. N. Pritt, Vorsitzender des in London inszenierten Gegenprozesses zur Aufklärung des Reichstagsbrandes; Weißbuch: Georg Branting) Persönlichkeiten zu gewinnen, die nicht Kommunisten waren und so den Dokumentationen einen objektiveren Anschein und ein besseres Entrée in der Öffentlichkeit sicherten. So auch in diesem Fall: Dorothy Woodman diente – wie 1936 noch einmal – nur als Aushängeschild, der Verfasser Albert Schreiner hatte sich nach verschiedenen Stationen in der Arbeiterbewegung den Kommunisten angeschlossen und sich zum Militärexperten herangebildet. Hitler treibt zum Krieg beruhte auf umfangreichen Daten- und Faktensammlungen und löste den im Untertitel erhobenen Anspruch auf »dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen« absolut ein, ebenso wie sich der Haupttitel wenige Jahre später als zutreffend erweisen sollte. In diesem Fall war das Buch noch vor der deutschsprachigen Ausgabe in England bei Lane unter dem Titel Hitler Rearms erschienen, ehe es in Paris bei Carrefour in einer deutsch- und einer französischsprachigen Ausgabe herauskam. Im Jahr darauf erschien es auch in der Sowjetunion als eine Ausgabe der VEGAAR, allerdings unter dem geänderten Titel Der Faschismus treibt zum Krieg. Möglicherweise war dieser Titel ideologiekonformer, indem die Bewegungskräfte der Geschichte nicht in einer Einzelperson, sondern einer gesellschaftlichen Bewegung gesehen wurden. Die Umschlaggestaltung für Hitler treibt zum Krieg stammte einmal mehr von John Heartfield. Im Jahr 1935 lag ein Schwerpunkt des Carrefour-Programmes auf im engeren Sinn literarischen Werken (Johannes R. Becher, Karl Billinger, Anna Seghers, Bodo Uhse), es wurde aber auch die Aufklärung der Weltöffentlichkeit über die Vorgänge im »Dritten Reich« und die Absichten Hitlers weitergeführt. Dieser Aufklärungsintention entsprach der offiziell vom Internationalen Antifaschistischen Archiv, de facto von Alfred Kantorowicz und Bruno Frei zusammengestellte Band Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das III. Reich.696 Bevorwortet von Heinrich Mann, sollten Bilder (rund 200) und Dokumente Evidenz über die Unterdrückungssituation in Hitler-Deutschland herstellen. Wie der Titel erkennen lässt, hing man in kommunistischen Kreisen damals noch der These an, dass eine verbrecherische Clique gegen den Willen der Bevölkerung den Staat gleichsam gekapert habe.
Kontrolle. Aus dem Englischen übertragen von Franz Obermeier. Paris: Carrefour 1934. (Nachdruck Köln: Pahl-Rugenstein und Frankfurt am Main: Röderberg-Verlag, 1979). 696 Deutschland vom Feinde besetzt. Die Wahrheit über das III. Reich. Bilder und Dokumente, zusammengestellt und hrsg. v. Internationalen Antifaschistischen Archiv. Vorwort von Heinrich Mann. Paris: Carrefour 1935 (aber wohl bereits in den letzten Tagen des Jahres 1934 erschienen). Die Buchgestaltung stammt vermutlich von dem auch als surrealistischer Maler hervorgetretenen Heinz Lohmar. – Vgl. hierzu auch Bores: »Wir hüten Erbe und Zukunft«, S. 63. Bores geht in der Folge noch auf andere, bei Carrefour herausgebrachte Dokumentationen ein, für die das Antifaschistische Archiv und die Deutsche Freiheitsbibliothek Materialien bereitgestellt haben.
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Aufsehen erregten vor allem aber zwei weitere Titel des Jahres 1935: Das braune Netz und Hitlers Luftflotte startbereit. Das wieder mit einem Schutzumschlag von John Heartfield erschienene und demonstrativ mit einem Vorwort des Mitglieds des Oberhauses und Labour-Politikers Lord Listowel versehene Enthüllungsbuch Das braune Netz: Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten697 warnte vor der von Hitler-Deutschland betriebenen Auslandsspionage und auch vor der Bespitzelung der Emigranten durch deutsche Agenten. Der oder die Verfasser verfügten über erstaunlich detaillierte Informationen zu den Nazi-Umtrieben im Ausland; u. a. wurde eine Liste mit rund sechshundert Namen von Agenten, Propagandisten und Spionen aufgeführt, auch von Spitzeln, die unter falschem Namen versuchten, in die Kreise der Emigranten einzudringen. Von diesem Titel sind mindestens drei Auflagen erschienen, dazu wieder Übersetzungen in mehrere Sprachen. Die Linie der Warnungen vor Hitlers im Geheimen betriebener Aufrüstung wurde fortgesetzt mit der wieder Dorothy Woodman zugeschriebenen, tatsächlich aber von Albert Schreiner zusammengestellten Dokumentation Hitlers Luftflotte startbereit. Enthüllungen über den tatsächlichen Stand der Hitlerschen Luftrüstungen (mit HeartfieldUmschlag). Erneut zeigte sich Schreiner bemerkenswert gut informiert; in Europa war aber das politische Klima zu sehr auf Appeasement abgestellt, als dass sich ein solches Buch hätte Gehör verschaffen können. Eine wichtige Aufklärungsfunktion erfüllten die Éditions du Carrefour mit der Dokumentation Der gelbe Fleck. Die Ausrottung von 500.000 deutschen Juden, die herausgegeben von Lilly Becher mit einem Vorwort von Lion Feuchtwanger erschien und im Grunde einen Beleg dafür lieferte, dass man die Vernichtungspolitik des NS-Regimes gegenüber den Juden bereits im Jahr 1936 durchaus klar als eine solche erkennen konnte. Etwas später im Jahr erschien in dieser Richtung bei Carrefour noch eine weitere, von Hans Siemsen herausgegebene Aufklärungsbroschüre: Was soll mit den Juden geschehen? Praktische Vorschläge von Julius Streicher und Adolf Hitler. Eine dritte große Aufrüstungsdokumentation lieferte 1936 erneut Albert Schreiner, diesmal unter dem Pseudonym Albert Müller: Hitlers motorisierte Stoßarmee. Heeresund Wirtschaftsmotorisierung im Dritten Reich.698 Der mit zahlreichen Bildern, Karten und Tabellen ausgestattete Band wurde im gleichen Jahr bei Dent in einer englischsprachigen Ausgabe herausgebracht; er erschien auch in einer französischsprachigen Ausgabe in Paris, bemerkenswerterweise aber nicht bei Carrefour, sondern in den Éditions de la Nouvelle Revue Critique, in der Reihe »Bibliothèque d’histoire politique, militaire et navale«. Übrigens befasste sich Albert Schreiner nicht nur auf theoretischer Ebene mit dem Thema Krieg, sondern war ab August 1936 im Spanischen Bürgerkrieg engagiert und baute dort die »Centuria Thaelmann« mit auf; im Frühjahr 1937 war er Stabschef der XIII. Internationalen Brigade.
697 Anonym: Das braune Netz: Wie Hitlers Agenten im Auslande arbeiten und den Krieg vorbereiten. Paris: Carrefour 1935. Umschlaggestaltung von John Heartfield. (Verfasser war Arthur Seehof, nach anderen Quellen Otto Katz; siehe dazu Dieter Schiller: Statt einer Einführung. In: Der Traum von Hitlers Sturz, S. 21). 698 A[lbert] Müller (Ps. f. Albert Schreiner): Hitlers motorisierte Stoßarmee. Heeres- und Wirtschaftsmotorisierung im Dritten Reich. Mit zahlreichen Bildern, Karten und Tabellen und einem Anhang über die Militarisierung der entmilitarisierten Zone. Paris: Carrefour 1936.
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Abb. 27: Mit Sonderprospekten suchten die Éditions du Carrefour auf ihre mit beachtlichem Rechercheaufwand zusammengestellten Dokumentationen zu den Umtrieben und Verbrechen des Nationalsozialismus aufmerksam zu machen (Sonderprospekt S. 1 und 4).
Bei dem anonym erschienenen »Tatsachenbuch« Das deutsche Volk klagt an! Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland 699 handelte es sich wieder um ein Auftragswerk des Verlags bzw. Münzenbergs, das in diesem Fall von Maximilian Scheer zusammengestellt wurde, unterstützt durch zwei Ko-Autoren.700 Das Autorenteam, dem
699 2012 erschien in Hamburg im Laika-Verlag eine Neuausgabe des Werkes im Neusatz, herausgegeben von Katharina Schlieper, Tochter des Hauptautors Maximilian Scheer (eig. Walter Schlieper), mit einem Vorwort der Herausgeberin, einer deutschen Übersetzung des von Romain Rolland stammenden Vorworts der französischen Originalausgabe sowie einem ergänzenden Artikel von Lionel Richard aus Le Monde diplomatique vom Mai 2010. Außerdem wurden dem Buch noch ein Aufsatz von Nikolaus Brauns »Propaganda als Berufung. Der rote Manager Willi Münzenberg« sowie biographische Angaben zu Maximilian Scheer beigefügt. 700 Hinter den von Maximilian Scheer genannten Decknamen »Bruno« und »Nico« (Maximilian Scheer: So war es in Paris, S. 129 f.) verbargen sich nach Ansicht der Herausgeberin der o. g. Neuausgabe die beiden Kommunisten Erich Birkenhauer und Bruno Meisel. Es ist aber sehr viel wahrscheinlicher, dass es sich bei »Bruno« um Bruno Frei gehandelt hat. Diesen Schluss legen auch die Ausführungen von Maximilian Scheer nahe, der »Bruno« als jemanden vorstellt, der zum innersten Kreis der Münzenberg-Mitarbeiter gehörte – was damals auf Bruno
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dafür nur wenige Wochen Zeit gegeben wurde, nutzte hierzu die Bestände der Deutschen Freiheitsbibliothek, wo auch deutsche Tageszeitungen und Zeitschriften auflagen. Scheer und seine beiden Mitarbeiter zogen auf der Basis öffentlich zugänglicher Faktenmeldungen eine (Zwischen-)Bilanz des Terrors, den das NS-Regime im Rahmen seiner »Tyrannei gegen das Volk« und seiner »Methoden der blutigen Unterdrückung« ausübte; die verübten Morde und Hinrichtungen wurden in einer »Statistik des Grauens« erfasst. Bemerkenswert aber auch die zwei Anlagen »Die Lagerordnung des Konzentrationslagers Esterwegen« und eine »Uebersichtskarte über die Konzentrationslager, Zuchthäuser und Gefängnisse in Deutschland«. Eine französische Ausgabe Le peuple allemand accuse. Appel à la conscience du monde. Un livre de documentation erschien 1937 (mit der Jahreszahl 1938) ebenfalls bei Carrefour, mit einem Vorwort von Romain Rolland (2. Auflage 1938). 1936 bildete sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg kurzfristig ein weiterer Programmschwerpunkt aus, wobei der Hauptgegner unverändert in Hitler-Deutschland und seinen Machenschaften gesehen wird, so in dem von Otto Katz unter dem Pseudonym Franz Spielhagen veröffentlichten Bericht Spione und Verschwörer in Spanien. Nach offiziellen nationalsozialistischen Dokumenten. Mehr Aufsehen erregte Arthur Koestlers »Schwarzbuch über Spanien«, das 1937 unter dem Titel Menschenopfer unerhört bei Carrefour erschienen ist. Es kam noch im gleichen Jahr, ebenfalls bei Carrefour, in französischer Übersetzung heraus (L’Espagne ensanglantée. Un livre noir sur l’Espagne). Koestler war als Kriegsberichterstatter nach Spanien gegangen, dort von Francos Truppen als kommunistischer Spion verhaftet und zum Tode verurteilt worden; während seiner Isolierhaft erlebte er mit, wie innerhalb weniger Tage fünftausend Menschen erschossen wurden. Er selbst wurde im Wege eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Um die Jahresmitte 1937 erschienen war nun auch, als eines der letzten Bücher des bereits unter Šmeral-Aufsicht stehenden Carrefour-Verlags, Willi Münzenbergs vielbeachtete Schrift Propaganda als Waffe.701 Die Frage, ob Münzenberg selbst als Verfasser dieser Schrift gelten kann oder ob in Wahrheit Kurt Kersten es geschrieben hat, wird bis heute diskutiert.702 Kersten hat 1958 in einem an Manfred Georg gerichteten Brief die Autorschaft für sich in Anspruch genommen, dabei aber wohl die von ihm geleisteten Vorarbeiten und die von ihm vorgenommene Materialzusammenstellung überbewertet. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die in dem Buch vertretene Position vollkommen den Absichten Münzenbergs entspricht. Diese waren nicht etwa darauf gerichtet, die Erfolge der linken Propaganda darzustellen, vielmehr sollte der Charakter der Nazi-Propaganda sowie ihre Bedeutung beim Aufstieg der Bewegung dargestellt werden – um so eine kritische Prüfung der Komintern-Propaganda (»Die Hitlerpropaganda war bis heute vor allem auch deshalb erfolgreich, weil es keine ernsthafte Gegen-
Frei zutraf. In seiner Autobiographie Der Papiersäbel verzichtete Frei allerdings auf jede Bezugnahme auf dieses Buch. 701 Eine digitalisierte Version davon mit Erläuterungen im muenzenberg-forum [online]. 702 Vgl. blogs.taz.de/schroederkalender/2008/03/13/propaganda-als-waffe-1/ (Peer Schröder: pro Kersten-These); blogs.taz.de/schroederkalender/2008/03/14/propaganda-als-waffe-2/ (Til Schulz, der Neffe des Münzenberg-Sekretärs Hans Schulz; pro Münzenberg-These).
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propaganda gab«703), nicht zuletzt auch die Notwendigkeit von deren Intensivierung unter Einsatz von aktuellen Methoden der Massenpsychologie zu bewirken. Insofern spiegelt sich darin der Prozess der Ablösung Münzenbergs von der Partei, auch wenn er sich damals noch die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit Dimitroff offenhielt. Umgekehrt wurde Propaganda als Waffe zu einem Ausgangspunkt der Intrigen, die im Bereich der KPD, insbesondere von Walter Ulbricht, gegen den Verfasser gesponnen wurden.704 Aufschlussreich für den Status von Carrefour ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Ulbrichts in einem Brief an Wilhelm Pieck von Anfang Juli 1937: »Das Buch [Propaganda als Waffe] erschien im Carrefour Verlag, der uns bekanntlich nicht untersteht.«705 Und Ulbricht stand wohl auch hinter der in Die Internationale und in der Deutschen Volks-Zeitung veröffentlichten Rezension von Münzenbergs Buch, die »unverfroren und ungeschminkt auf politische Denunziation angelegt« ist und Münzenberg letztlich als Trotzkisten hinstellte – damals der schlimmste Vorwurf, der einem Parteigenossen gemacht werden konnte.706 Darüber hinaus unterstellte die Rezension, Münzenberg wolle Goebbels’ an niedrigste Instinkte appellierende Propagandatechnik nachahmen – jenes Goebbels nämlich, in dessen Arsenal die »giftigen Propagandawaffen« des Trotzkismus Eingang gefunden hätten. Dieser im Artikel fettgedruckte Hinweis, dem jede historische Grundlage fehlte, war einzig darauf angelegt, Münzenberg jenem Schicksal preiszugeben, das mehrere seiner Freunde in Moskau bereits erlitten hatten oder noch erleiden sollten. Unter dieser Perspektive repräsentiert Propaganda als Waffe im Verlagsprogramm der Éditions du Carrefour nicht einen Titel unter vielen, sondern einen Wendepunkt. Für Münzenberg, auch den Verleger Münzenberg, blieb nur noch der Weg der Ablösung von einem politischen Milieu, das für ihn lebensbedrohend geworden war. Als definitiv letztes Buch der Éditions du Carrefour und damit auch als eine letzte große Gemeinschaftsleistung des Münzenbergkreises707 kam die von Maximilian Scheer »unter Mitarbeit eines Kollektivs deutscher Antifaschisten« erstellte und vom Überparteilichen Deutschen Hilfsausschuss herausgegebene Dokumentation Blut und Ehre heraus, mit einem Vorwort von Emil Julius Gumbel. Bei dem Hilfsausschuss handelte es sich um einen im November 1936 gegründeten, von sieben Organisationen beschickten, dem Volksfrontgedanken verpflichteten Zusammenschluss, dessen Zweck im Sammeln und Verteilen von Hilfsmitteln an Opfer des Nationalsozialismus bestand, aber auch in der Dokumentation von dessen Verbrechen. Gumbel, ursprünglich Mathematiker, war den Nationalsozialisten als politischer Publizist und engagierter Pazifist seit langem verhasst und hatte deshalb, wie auch Münzenberg, auf der ersten Ausbürgerungsliste
703 Willi Münzenberg: Propaganda als Waffe. Ausgewählte Schriften 1919‒1940. Hrsg. von Til Schulz. Frankfurt am Main: März-Verlag 1972, S. 193. 704 Vgl. hierzu Wessel: Münzenbergs Ende, S. 129‒142. 705 Zit. nach Wessel, S. 136. Wessel hält fest, dass dieser Satz in dem Dokument handschriftlich, vermutlich von Wilhelm Pieck, unterstrichen wurde, und erklärt ihn und die Unterstreichung mit einem »Absicherungsinteresse«: Die KPD-Führung habe sich auf diese Weise von den – möglicherweise in Moskau beanstandeten – Publikationen des Carrefour-Verlages distanzieren können. 706 Wessel, S. 137. 707 Vgl. Scheer: Paris – New York (in Scheers So war es in Paris nicht erwähnt!)
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vom 25. August 1933 gestanden. Gumbel war kein Kommunist (zu diesem Zeitpunkt weniger noch als in den Jahren zuvor), unterhielt aber gute Beziehungen zu Münzenberg und trug später auch zum Publikationsprogramm des Sebastian Brant Verlags bei. Nicht mehr erschienen sind die bereits für 1936 angekündigten Bücher von Rudolf Feistmann über Hitlers neue Armee und ihre Zersetzung. Der Kampf gegen die nationalsozialistische Militärpsychologie sowie Leo Lanias Das gelobte Land. Ein Querschnitt durch die deutsche Republik und ein Roman der deutschen Juden.
Das Ende des Verlags Münzenberg genoss seit den Tagen der Weimarer Republik besondere Freiheiten, da er nicht der KPD-Leitung, sondern der Kontrollkommission der Komintern gegenüber rechenschaftspflichtig war. Dieser Sonderstatus wurde aber zunehmend problematisch, da Stalin in den »Säuberungen« seit 1936 die frühen Leitungskader systematisch liquidierte.708 Auch war unter den Bedingungen des Exils seine Abhängigkeit vom kommunistischen Apparat fortlaufend gewachsen. Umgekehrt wurden seine Aktivitäten von Moskau aus und vor allem von der Exilführung der KPD mit steigendem Argwohn beobachtet. Einen ersten Schlag gegen die Basis von Münzenbergs Organisationsgeflecht und konkret gegen seine Finanzierungsmethoden bedeutete die vom Zentralkomitee der KPdSU im Gefolge des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale 1935 beschlossene Auflösung der von Münzenberg aufgebauten IAH; sie bedeutete für ihn immer noch einen wichtigen Rückhalt,709 auch in Bezug auf die Éditions du Carrefour. In diesem Punkt stieß der mit der IAH-Auflösung beauftragte Schweizer Kommunist Karl Hofmaier auf eine Schwierigkeit: Willy [sic] Münzenberg hatte diesen Verlag als Teil der Organisation der IAH aufgezogen. Er wollte von einer Liquidierung nichts wissen, […] um so mehr, als dieses Unternehmen im Laufe der Jahre eine erfolgreiche Verlagstätigkeit entwickelt hatte. Ich schlug also Münzenberg und Duclos [Sekretär der PCF; JT] vor, den Verlag aus der Organisation der IAH herauszunehmen und als selbständiges Unternehmen zu konstituieren. Der Verlag wurde Münzenberg übergeben […].710 In welcher Weise der als AG ins Handelsregister eingetragene Verlag tatsächlich als »Teil der Organisation der IAH« betrachtet werden konnte, ist unklar. Vermutlich aber
708 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 159. 709 Dazu auch Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 421 f. Wessel stellte dazu fest, dass die Übergabe der ausländischen IAH-Sektionen an die jeweiligen kommunistischen Parteien die Idee der internationalen Solidarität ihrer bis dahin effektivsten Organisation beraubte, »aus reinen machtpolitischen Erwägungen, um Münzenbergs eigenständigen ›internationalen Verbindungsapparat‹ zu ›liquidieren‹, wie es wörtlich in einer ›streng vertraulichen‹ Stellungnahme der Moskauer KPD-Führung an ›den Generalsekretär der Komintern Genossen Dimitroff‹« hieß. Wessel: Münzenbergs Ende, S. 291, Anm. 58. 710 Karl Hofmaier: Memoiren eines Schweizer Kommunisten. Zürich: Rotpunkt 1978, S. 78; hier zit. n. Jörg Thunecke: Münzenberg, S. 382.
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war dies der Anlass für die im Dezember 1935 erfolgte Umwandlung der Aktiengesellschaft in eine GmbH.711 Im Laufe des Jahres 1936 ging Münzenberg zunehmend auf Distanz zur Partei: »Unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse und des stillschweigenden Kurswechsels der Komintern in der Frage der Bündnispolitik, der bei den Pariser Volksfront-Verhandlungen gegen Münzenbergs Meinung zur Wiederaufnahme einer hegemonialen Haltung durch die KPD führt, löst sich dieser mehr und mehr von der offiziellen kommunistischen Linie ab und wird zugleich schrittweise marginalisiert.«712 Da er im Oktober 1936 nach einem Verhör vor der Internationalen Kontrollkommission der Komintern in Moskau nur unter großen Schwierigkeiten wieder ausreisen konnte, weigerte er sich seither, noch einmal nach Moskau zu kommen und sich dort vor dem Exekutivkomitee der Komintern zu verantworten. Damit war der Entzug all seiner Ämter nur noch eine Frage der Zeit. Für jeden seiner Verantwortungsbereiche, auch für den Carrefour-Verlag, erstellte Münzenberg Ende 1936 genaue Abrechnungen und Übergabeprotokolle (diese sind z. T. verschollen). Denn damals war der tschechische Komintern-Funktionär Bohumir Šmeral, als – wie Gross es ausdrückte – »Liquidator der Münzenbergschen Unternehmen in Paris« erschienen; die Protokolle wurden von Münzenberg und Šmeral nach Kontrolle gemeinsam unterzeichnet.713 Über seinen vom Dezember 1936 bis 2. November 1937 währenden Pariser Aufenthalt fertigte Šmeral einen »streng vertraulichen« Bericht an, der für die Mitglieder des Exekutivkomitees der Komintern bestimmt war; das Datum seiner Abfassung war der 5. Januar 1938.714 Der Bericht kennzeichnet die
711 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 159. Im Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 1, wird als (zeitweiliger) Teilhaber von Carrefour auch Peter Maslowski* (1893 Berlin – 1983 Sommerhausen b. Würzburg) genannt. Maslowski, der schon 1919 am Gründungsparteitag der KPD teilgenommen und sich als Journalist und Redakteur bei verschiedenen, meist kommunistisch ausgerichteten Zeitungen betätigt hatte, stand auf der ersten Ausbürgerungsliste vom 25. August 1933 und flüchtete zunächst nach Polen, 1934 in die Tschechoslowakei und schließlich 1935 über die Schweiz nach Paris, wo er sich bei den Éditions du Carrefour engagierte und bis 1939, meist unter Decknamen, eine vielfältige politische und journalistische Arbeit im Widerstand gegen das NS-Regime entfaltete. Auf den Ausschluss Münzenbergs aus der KPD 1938 reagierte Maslowski mit dem Austritt aus der Partei und dem Beitritt zur SPD. Nach seiner Internierung 1939‒ 1940 wurde er ›Prestataire‹ in Südfrankreich und agierte unter dem Namen ›Griman‹ in der Résistance. Nach Beendigung der NS-Herrschaft kehrte Maslowski 1945 nach Deutschland zurück; 1946 erhielt er die Lizenz zur Herausgabe der Neuen Presse in Coburg, deren Chefredakteur er bis 1963 war; danach arbeitete er als freier Schriftsteller. 712 Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 186. 713 Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 471 und 443. ‒ Der streng linientreu-stalinistische Funktionär war nach dem 1. Weltkrieg an der Gründung der tschechoslowakischen KP maßgeblich beteiligt gewesen, hielt sich aber – »rechter« Abweichung beschuldigt – seit 1926 in Moskau auf und führte in den folgenden Jahren als Komintern-Beauftragter zahlreiche Missionen durch. 1935/1936 war er vorübergehend wieder in der ČSR, dann wieder in Moskau. Zur Biographie vgl. auch: Jan Galandauer: »Er stand in der vordersten Reihe«. Bohumir Šmeral. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1981, H. 3, S. 418‒427. 714 Ein Exemplar, seinerzeit bestimmt für den Sekretär des Exekutivkomitees Klement Gottwalt, fand sich im Nachlass Šmerals im Zentralen Parteiarchiv der KPTsch. Das aufschlussreiche
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z. T. rücksichtslos (u. a. durch Entlassungen) durchgeführten Versuche, nicht nur den kommunistischen Propagandaapparat, sondern nach Möglichkeit das gesamte antifaschistische Exil zu kontrollieren und im Rahmen der Volksfront- bzw. Intellektuellenstrategie die Komintern-Politik durchzusetzen, auch gegenüber Münzenberg, der sich bereits seit einiger Zeit nicht mehr auf die Linie Moskaus verpflichten lassen wollte und sich namentlich auch der von der Komintern angeordneten Reorganisation des Apparates widersetzte. Nicht zuletzt ging es um die Eindämmung der »trotzkistischen Beeinflussung von Emigrantenkreisen nach den Moskauer Prozessen«.715 Der Fokus der Ausführungen lag auf dem Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus (Barbusse, Langevin etc.). Einmal mehr offenbart sich, wie komplex die Organisationen untereinander verflochten waren: »Aus dem Budget des Weltkomitees werden auch gehalten: Die Hälfte der Räumlichkeiten, die im Boulevard Montparnasse die Edition Carrefour gemietet hat. Diese Hälfte wurde von Willi und später von mir als Hauptsitz für die Besorgung anderer als mit dem W. K. offiziell und direkt verbundener Aufgaben benützt.«716 Zum Antifaschistischen Archiv und zur Deutschen Freiheitsbibliothek (hier fälschlich als »Deutsche Arbeitsbibliothek« bezeichnet) äußerte er sich nur sehr kurz, plädiert aber für deren Beibehaltung, denn die »Räume können auch zu verschiedenen kleineren, unauffälligen Beratungen benützt werden.«717 Was die Éditions du Carrefour betraf, so kam er aber »nach längerer Überlegung […] mit dem Antrage, die Edition Carrefour zu liquidieren.«718 Zur Begründung gab er die (oben bereits zitierte) finanzielle Schieflage an, nannte aber noch andere Faktoren: Der Hauptgrund aber für mich ist der, daß wir eigentlich keine Möglichkeit haben, die Edition in unsere Hände zu bekommen, wenn sie Willi nicht ganz freiwillig übergibt. Von Anfang an war die juristische Konstruktion der Unternehmung so aufgebaut, daß Willi sie vollkommen in Händen hat. In dieser Lage sehe ich keinen anderen Ausweg, als daß wir uns einfach an diesem Unternehmen desinteressieren, daß ich nach meiner Rückkehr die Lokalitäten am Boulevard Montparnasse nicht betrete und daß wir es einfach seinem Schicksal überlassen. […] Diese der Form nach primitive Lösung könnte ich selbstverständlich nur mit Eurer ausdrücklichen Zustimmung durchführen. Im Falle der Liquidierung der Edition müßte die Herausgabe der deutsch geschriebenen antifaschistischen Bücher nach Prag übertragen werden.719
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Dokument wurde 1991 ediert von Reinhard Müller (Müller: Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral). Müller: Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral, S. 236. Müller, S. 253. Müller, S. 253. Müller, S. 258 f. Müller, S. 259. ‒ Zum »Renegaten« Münzenberg bemerkte Šmeral: »Was die Frage des Gen. Münzenberg betrifft, kann ich ganz kurz formulieren: ich bin mir bewußt, daß in der jetzigen Situation ein Ausbruch eines jeden, wenn auch nur vorübergehenden Skandals, auf dem Pariser Boden unbequem ist. Auf der anderen Seite bin ich persönlich der Meinung, daß er hierher zu einer politischen Aussprache nicht kommt. Die Sache zieht sich schon mehr als ein Jahr hin. Vor meiner Abreise sollte unbedingt Klarheit geschaffen werden, was mit Willi Münzenberg sein soll.«
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Münzenberg war nun aber der Anweisung, seine Verlage und Zeitschriften und sämtliche andere Arbeitsgebiete der Komintern zu übergeben, bis zum Sommer des Jahres 1937 doch ohne Widerstand nachgekommen.720 Die Leitung des Carrefour-Verlags hatte formell Šmeral übernommen, der noch einige unter Münzenberg auf den Weg gebrachte Titel erscheinen ließ. Auf eine Weiterführung der Éditions du Carrefour wurde seitens der Komintern verzichtet; möglicherweise wäre eine solche auch gar nicht möglich gewesen, weil es sich um einen französischen Verlag handelte. Unter diesen Umständen wurde am 26. Juni 1937 von der Aktiengesellschaft als der Eigentümerin des CarrefourVerlags Konkurs angemeldet.721 Während die KPD sich in der Folge auf die Édition Prométhée konzentrierte und dort hauptsächlich Kaderliteratur publizierte, hatte Münzenberg selbst, dem seit April 1937 auch der Zugang zur Parteipresse verwehrt worden war, sich inzwischen anderweitig umgesehen, um neuerlich eine publizistische Basis aufzubauen. Dazu zählt auch sein heimlich unternommener Versuch, über Mittelsmänner die Pariser Tageszeitung zu kaufen.722 Mit dem Sebastian Brant-Verlag in Straßburg hat er sich dann eine neue, von der KP unabhängige Publikationsplattform gesichert. Über diesen Verlag hat Münzenberg auch noch Teile der Carrefour-Bestände vertrieben, soweit diese nicht von Komintern und KPD übernommen wurden.
Éditions Sebastian Brant, Straßburg Parallel zur zunehmenden Entfremdung von der Partei hatte Münzenberg versucht, Sympathisanten für seinen eigenen politischen Kurs zu sammeln, zunächst noch innerhalb der kommunistischen Bewegung, dann auch darüber hinaus. Denn spätestens nach seinem Ausschluss aus dem ZK der KPD723 und einem vergeblich erhobenen Einspruch musste Münzenberg klar sein, dass er auf sich gestellt war. Auch die noch bis Oktober 1938 aufrecht erhaltene Hoffnung, wenigstens die Unterstützung Dimitroffs für seine Zeitschriften-Neugründung Zukunft erhalten zu können, erwies sich als unrealistisch, spätestens als am 25. Oktober 1938 eine »Klarstellung« des ZK der KPD erschien, mit der dieses endgültig alle Brücken abbrach.724 Um dem Ausschluss aus der Partei, der er
720 Vgl. Schlie: Politische und publizistische Aktionen Willi Münzenbergs (1936 bis 1940), S. 41. Schlie verweist in diesem Zusammenhang auf eine Aufstellung, in der Münzenberg angab, nicht weniger als 22 Hauptarbeitsgebiete gehabt zu haben (nach einem Dokument in den Archives Nationales (F 7 15131/1), datiert mit 21. Dezember 1936). 721 Willi Münzenberg. Eine Dokumentation zur Muenzenberg-Tagung im September 1989 in Zuerich, S. 39. – Thunecke: Willi Münzenberg und die Éditions du Carrefour, S. 386, Fn. 35: »Laut Enderle-Ristori (2001), S. 175, meldet Münzenbergs Aktiengesellschaft am 24. Juni 1937 Konkurs an.« Thunecke bezieht sich hier auf Enderle-Ristori: Volksfront und »Ehekrach«. ‒ Zum Ende des Verlags siehe auch Gross: Willi Münzenberg (1991), S. 443. 722 Genaueres dazu im Kap. 5.3 Zeitungen und Zeitschriften. 723 Das Datum des Ausschlusses ließ sich bisher nicht eindeutig klären; die Angaben schwanken zwischen dem 21. März und dem 14. Mai 1938. Einen Terminus ante quem liefert aber die Bekanntmachung in der Deutschen Volks-Zeitung vom 22. Mai 1938, aus der auch hervorgeht, dass der Ausschluss hauptsächlich von Walter Ulbricht betrieben worden war. Vgl. Wessel: Münzenbergs Ende, S. 143‒151. 724 Vgl. Wessel, S. 170.
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seit ihrer Gründung angehört hatte, zuvorzukommen, erklärte Münzenberg (wie auch seine Lebensgefährtin Babette Gross) im März 1939 seinen Austritt aus der KPD. Öffentlich gemacht hat er diesen Entschluss in seinem neuen Sprachrohr, der Zeitschrift Zukunft.725 Denn inzwischen hatte er sich neue Zugänge zur publizistischen Öffentlichkeit aufbauen können, um Bücher und Periodika zu publizieren, die allein seinen eigenen politischen Überzeugungen entsprachen. Das erwies sich als umso wesentlicher, als er nach Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 nun auch offensiv gegen seine ehemalige Partei agitierte. Nach seinem Abfall vom stalinistischen Kommunismus konzentrierte sich Münzenbergs verlegerische Arbeit 1938/1939 auf die in Straßburg angesiedelten, bereits 1933/ 1934 gegründeten Éditions Sebastian Brant.726 Wie Carrefour war auch der Sebastian Brant Verlag keine Exilgründung, sondern ein schon einige Zeit bestehender kleiner Verlag, der zu einer Druckerei (Imprimerie française) gehörte. Eigentümer war der radikalsozialistisch eingestellte Elsässer Lucien Mink, Herausgeber der Tageszeitung La republique.727 Er stand schon seit Längerem mit Münzenberg in Kontakt und ermöglichte diesem seit 1934, Bücher seiner Mitarbeiter, die nicht ins Carrefour-Programm passten, im Verlag Sebastian Brant unterzubringen. So waren dort 1934 Bruno Freis Hanussen, der Wunderrabbi des Dritten Reiches (eine Biographie des – in Wahrheit jüdischstämmigen – Hellseher-Scharlatans Eric Jan Hanussen, von dem sich der extrem abergläubische Hitler beraten ließ) und 1935 Berthold Jacobs Die Hindenburg-Legende erschienen. Darüber hinaus waren einige Bücher des Carrefour-Verlags in Minks Druckerei hergestellt worden.728 Seit 1938 konnte Münzenberg den Verlag Sebastian Brant als seine neue Plattform für Buchveröffentlichungen nutzen und dort auch, von Oktober 1938 bis Anfang Mai 1940, seine neue Wochenzeitschrift Die Zukunft herausbringen.729 Diese war entschiedener als alle seine Unternehmungen zuvor darauf angelegt, Hitlergegner sämtlicher politischer und weltanschaulicher Richtungen zu sammeln (Kommunisten wurde allerdings die Mitarbeit von der Partei verboten), und wurde aus dieser Zielsetzung heraus auch zum Organ der von Münzenberg gegründeten neuen Partei Freunde der sozialistischen Einheit Deutschlands (FSED).730 In der Tat gewann das Wochenblatt rasch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im politischen Diskurs jener Jahre, zumal es Münzenberg gelang, eine beachtliche Zahl linker, sozialdemokratischer und bürgerlicher Intellektuel-
725 Vgl. Wessel, S. 174 f.; Wessel zitiert den vollen Wortlaut der Erklärung aus dem maschinenschriftlichen Original. 726 Im Gesamtzeitraum seines Bestehens erschienen bei Sebastian Brant ca. 20 Titel. 727 Roussel: Éditeurs et publications, S. 404. 728 Genauere Angaben dazu bei Roussel: Éditeurs et publications, S. 414‒417. – Möglicherweise war es der seit 1934 in Straßburg lebende Berthold Jacob, der die Verbindung zwischen Mink und Münzenberg herstellte. 729 Siehe dazu Droz: Die Zukunft – Wochenzeitung Willi Münzenbergs. Ferner: Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Band 4: Exilpresse, S. 128‒184. 730 Eigentlich handelt es sich um eine Umwandlung der Gruppe »Kommunistische Opposition«; die neue Organisation hatte das Ziel, »die Spaltung in der deutschen Arbeiterbewegung zu liquidieren und ihre Einheit wieder herzustellen.« (zit. nach Roussel: Zu Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 187).
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ler (von Manès Sperber und Arthur Koestler oder Anna Siemsen bis zu Treviranus oder Hermann Rauschning; Ludwig Marcuse betreute ein Zeit lang den Kulturteil) für die Mitarbeit an der Zeitschrift und sein Projekt einer Überwindung der Parteigrenzen zu interessieren.731 Sie war auch insofern parteiübergreifend und pluralistisch angelegt, als zu einzelnen Themen Vertreter unterschiedlicher Positionen zu Wort kamen. Ihre Programmatik wirkt im Rückblick erstaunlich modern: Erörtert wurden die Möglichkeiten einer Einigung Europas, um neue Kriege unmöglich zu machen; ein festes Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland – alles dies natürlich nach dem Sturz des HitlerRegimes – sollte die Grundlage dafür bilden.732 Die Zukunft war dann auch das Organ einer im April 1939 gegründeten »Union Franco-Allemande« (weitere solcher »Unionen« folgten), um so die europäische Einigung bereits hier und heute voranzutreiben. Diesem Ziel diente auch die Gründung von Kreisen der »Freunde der Zukunft« in mehreren Ländern. Dass man mit solchen Ideen und mit manchen Artikeln auch französische Politikinteressen berührte, war nur durch sehr gute Beziehungen zu politischen Kreisen Frankreichs möglich, zu radikalsozialistischen Gruppierungen ebenso wie zu linkskatholischen, zu Vertretern des hohen Klerus ebenso wie zu Freimaurern. Damit nicht genug: Die Zeitschrift erhielt, wie Tania Schlie erst Ende der 1980er Jahre nachweisen konnte, vom Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, eine monatliche Subvention von 50.000 Francs; bei Kriegsbeginn wurde sie um die Hälfte gekürzt.733 In dieses Bild passt, dass Münzenberg bzw. Werner Thormann von der französischen Regierung, die nun – in allmählicher Überwindung der Appeasement-Politik ‒ doch aktive Gegenpropaganda betreiben wollte, nach der Verhaftung Rudolf Leonhards im September 1939 mit Lenkungsaufgaben im »Deutschen Freiheitssender« betraut worden ist, mit dem deutsche Hörer erreicht werden konnten. Die offene Kritik Münzenbergs am Stalinismus nach dem Hitler-Stalin-Pakt dürfte ihn, neben seiner Erfahrung als Medienorganisator, dafür prädestiniert haben.734
731 Münzenberg trat als Herausgeber der Zeitschrift anfänglich nicht hervor, um diesen Anspruch auf Überparteilichkeit nicht zu gefährden, schrieb aber später, nach dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939, nahezu regelmäßig die Leitartikel, in denen er die kommunistische Bewegung heftig attackierte (»Stalin, der Verräter bist du!«). 732 Vgl. Roussel: Zu Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 188‒190. – Die Zukunft trug im Untertitel: »Ein neues Deutschland: Ein neues Europa!«. Ursprünglich war vorgesehen: »Blätter für Klarheit und Kampf«; dies wurde unter dem Eindruck des Münchner Abkommens (30. September 1938) und der dort zutage getretenen Appeasement-Politik der Westmächte (die Münzenberg mit Bestürzung zur Kenntnis nahm) noch kurz vor dem Druck der ersten Nummer geändert. Vgl. Schlie: Politische und publizistische Aktionen Willi Münzenbergs 1936‒1940, S. 42. 733 Schlie, S. 42. Als Quellengabe findet sich dort der Hinweis auf einen vertraulichen Brief Werner Thormanns an den Vizepräsidenten des Auswärtigen Ausschusses der französischen Kammer, Ernest Pezet, vom 27. Oktober 1939 in den Archives Nationales F7 15127/1/a. Vgl. auch Wessel: Münzenbergs Ende, S. 208. – Der Katholik Werner Thormann war – dies war offenbar Bedingung der Förderung durch französische Stellen – Chefredakteur der Zukunft und in dieser Funktion ein Vertrauter Münzenbergs. 734 Roussel: Zu Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit, S. 191. – Vgl. auch Pütter: Rundfunk gegen das Dritte Reich. – Vgl. ferner den Hinweis von Wessel: »Scheel berichtet auch über die Arbeit des antifaschistischen Senders 29,8, der die technischen Anlagen eines von der
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Die Zukunft wurde rasch eines der erfolgreichsten Exilorgane überhaupt, aufgrund der günstigen Finanzierungsbasis,735 aufgrund auch der Möglichkeit, das Adressenmaterial der AIZ verwenden, aufgrund nicht zuletzt der Unterstützung, die Münzenberg von Seiten des saarländischen Sozialdemokraten Max Braun erfuhr, der das von ihm herausgegebene Blatt Deutsche Freiheit der Zukunft als Kopfblatt zur Verfügung stellte und auch deren Abonnentenlisten weitergab. Nach Redaktionslisten und den Auskünften von Chefredakteur Thormann wurden eine Durchschnittsauflage von 8.800 und Spitzenauflagen von 12.000 Exemplaren erreicht.736 Die Zeitschrift unterhielt ein eigenes Korrespondentennetz, sogar in Übersee; auf Bibelpapier gedruckte Kleinausgaben der Zeitschrift wurden nach Deutschland geschmuggelt.737 Im Verlag Sebastian Brant erschien auch die von Münzenberg gemeinsam mit Julius Deutsch* herausgegebene militärpolitische Revue Krieg und Frieden.738 Der Militärtheoretiker Deutsch, in Österreich bis 1934 Führer des sozialdemokratischen »Schutzbundes«, hatte auf der Seite der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg als General der regulären spanischen Armee gekämpft, zuständig für die Küstenverteidigung. Für die Komintern war Deutsch ein »rotes Tuch«, da er sich geweigert hatte, sich in Spanien an der Trotzkistenverfolgung zu beteiligen; die Aufnahme seiner Militärzeitschrift in den Sebastian Brant-Verlag stellte für sich genommen bereits eine Provokation dar. Im Buchprogramm des Verlags Sebastian Brant sind – rechnet man die seit 1934 erschienenen Titel dazu – 17 Titel erschienen: Veröffentlichungen des Sebastian Brant-Verlags 1934–1939 1934: Bruno Frei: Hanussen, der Wunderrabbi des Dritten Reiches; Franz Lipp: Kriegsschuld-Legende; Ruth Rewald: Janko, der Junge aus Mexiko;
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Firma Siemens & Schuckert bei Madrid erbauten modernen Kurzwellensenders ab Ende 1936 nutzen konnte. […] Von der Arbeit dieses Senders scheint Münzenberg weitgehend ferngehalten worden zu sein.« (Wessel: Münzenbergs Ende, S. 317, Anm. 19; Wessel bezieht sich hier auf Klaus Scheel: Krieg über Ätherwellen. NS-Rundfunk und Monopole 1933‒ 1945. Berlin: Deutscher Verl. d. Wissenschaften VEB 1970, S. 95‒100). Neben den genannten Geldquellen scheint es noch eine weitere gegeben zu haben: Wie Wessel einem an das Exekutivkomitee der Komintern gerichteten Denunziationsbrief Walter Ulbrichts vom 26. November 1937 entnahm, dürfte Münzenberg damals auch Zuwendungen von dem schwedischen Bankier Olof Aschberg erhalten haben, der schon zu Lenins Zeiten Berater der sowjetischen Staatsbank gewesen war und, Ulbricht zufolge, »grosse Einnahmen aus seinen geschäftlichen Beziehungen zur Handelsvertretung der SU hatte«. (zit. n. Wessel: Münzenbergs Ende, S. 170. An anderer Stelle (S. 208) zieht Wessel auch britische und nordamerikanische Geldquellen in Betracht). Schlie: Politische und publizistische Aktionen Willi Münzenbergs 1936‒1940, S. 42 f. Schlie, S. 43. In vier Nummern 1938/1939.
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1935: Berthold Jacob: Die Hindenburg-Legende; Jean Jerry: Weill und Co. (Roman); 1938: Emil Julius Gumbel (Hrsg.): Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration; Kurt Kersten: Unter Freiheitsfahnen. Deutsche Freiwillige in der Geschichte; Emil Ludwig: Die neue Heilige Allianz; Albert Lux: Von Goerings Kriegsflugstaffeln in Goerings Zuchthäuser; Willi Münzenberg: La propagande hitlérienne instrument de guerre (Übersetzung von Münzenbergs Propaganda als Waffe); Max Werner (Ps. für Alexander Schifrin): Sozialismus, Krieg und Europa; Max Werner (Ps. für Alexander Schifrin): Der Aufmarsch zum Zweiten Weltkrieg; Deutscher Freiheitskalender 1939, zusammengestellt von Kurt Kersten; Fritz Lieb: Der Mythos des nationalsozialistischen Nihilismus; 1939: Deutscher Freiheitskalender 1940, zusammengestellt von Kurt Kersten; René Schickele: Heimkehr (Übersetzt von Ferdinand Hardekopf); Fritz Sternberg: Die deutsche Kriegsstärke. Wie lange kann Hitler Kriege führen? Wie schon bei Carrefour lag auch im Verlag Sebastian Brant ein Programmschwerpunkt auf dem Thema »Kriegsvorbereitungen des Dritten Reichs«. Insbesondere die unter dem Pseudonym Max Werner erschienenen Bücher des sozialdemokratischen Theoretikers und Journalisten Alexander Schifrin (Sozialismus, Krieg und Europa und Aufmarsch zum Zweiten Weltkrieg) stellten eindringliche Warnungen vor den Hegemoniebestrebungen des deutschen Faschismus dar, die unvermeidlich auf Krieg hinauslaufen würden. Abgesehen davon, dass sich eine Koalition gegen Deutschland bilden würde, wäre das Hauptangriffsziel Hitlers in jedem Fall die Sowjetunion. Bemerkenswert die Einschätzung Schifrins, dass Deutschland einen erneuten Weltkrieg nicht gewinnen könne und aufgrund fehlender Ressourcen eine Überfallsstrategie verfolgen werde, die aber auch nur innerhalb Europas, nicht aber im Osten Erfolg haben könnte. Ganz ähnliche Auffassungen vertrat der Ökonom Fritz Sternberg im letzten Buch, das bei Sebastian Brant erschien; in Die deutsche Kriegsstärke. Wie lange kann Hitler Krieg führen? sagte auch er einen »Blitzkrieg« voraus – was sich nur zu bald als zutreffende Annahme erweisen sollte. Mit Kriegsbeginn war dann auch das Ende des Verlags gekommen. Münzenberg erkannte bald, dass er mit den Büchern des Sebastian Brant-Verlags nicht die Wirkung erreichen konnte, wie er sie mit Carrefour erzielt hatte. Aus diesem Grund entschloss er sich, den Verlag von Straßburg nach Paris zu verlegen – was aber kaum greifbare Verbesserungen erbrachte. Zweifellos wirkte sich das von der KP über Münzenberg und seine Unternehmen verhängte Kontaktverbot negativ aus, auch war die Bestandsdauer des Verlags auf rund eineinhalb Jahre begrenzt. Dafür waren 17 Publikationen keine schlechte Bilanz, zumal neben den genannten militärischen Analysen auch noch einige andere Bücher von Gewicht erschienen waren, etwa der von Emil Julius
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Gumbel herausgegebene Band Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration, mit Beiträgen von 15 exilierten Wissenschaftlern über die »geistige Situation«, »Staat und Gesellschaft« sowie die Entwicklungen in den Naturwissenschaften im nationalsozialistischen Deutschland. Gute Resonanz fanden auch die beiden von Kurt Kersten zusammengestellten Deutschen Freiheitskalender, René Schickeles Heimkehr in der Übersetzung von Ferdinand Hardekopf (der Roman des aus dem Elsass stammenden Autors war zuvor in einer französischen Ausgabe erschienen) sowie die französischsprachige Ausgabe von Münzenbergs Propaganda als Waffe.
Münzenbergs Ende Den Hitler-Stalin-Pakt vom 23./24. August 1939 betrachtete Münzenberg als Katastrophe, als einen Vernichtungsschlag gegenüber der kommunistischen Bewegung in allen Ländern und als Verrat an allen Antifaschisten. Als nach dem Überfall Hitlers auf Polen am 17. September 1939 auch sowjetische Truppen in Ostpolen einmarschierten, wurde ihm bewusst, dass es zu dem Pakt auch noch Geheimabmachungen Stalins mit Hitler gegeben haben musste: Von Empörung und grenzenloser Wut erfaßt, läßt Münzenberg alle Rücksichten auf Stalin endgültig fallen und schreibt für DIE ZUKUNFT vom 22. September 1939 den berühmten Artikel ›Der russische Dolchstoß‹, der einer publizistischen Kanonade gleichkommt und in dem beinahe biblischen Bannfluch endet: »Heute stehen in allen Ländern Millionen auf, sie recken den Arm und rufen, nach dem Osten deutend: ›Der Verräter, Stalin, bist Du‹«.739 Dass Münzenberg seit damals an Leib und Leben gefährdet war, versteht sich. Weitere Gefährdungsgründe und Rachemotive entstanden Anfang 1940 mit der Veröffentlichung einer Liste von 40 in der Sowjetunion ermordeten Kommunisten in der Zeitschrift Zukunft.740 Ebenso drohte Gefahr von deutscher Seite: Nach dem Einfall der Wehrmacht in die Beneluxstaaten am 10. Mai 1940 und nachfolgend in Frankreich kam Münzenberg in das zwischen Lyon und Grenoble gelegene Internierungslager Chambaran, seine Lebensgefährtin wurde in Gurs interniert und konnte 1941 über Portugal nach Mexiko fliehen. Die genauen Umstände von Münzenbergs Schicksal sind trotz eindringlich betriebener Nachforschungen741 bis heute ungeklärt: Die Lagerinsassen flüchteten im Juni 1940 zunächst in Marschkolonnen vor den vorrückenden deutschen Truppen, Münzenberg setzte sich in der Nähe von Charmes vermutlich in Richtung Marseille ab; seine Leiche wurde im Oktober 1940 in einem Waldstück nahe dem Dorf Montagne gefunden.742
739 Wessel: Münzenbergs Ende, S. 217. 740 Wessel, S. 360, Anm. 19. Diese Liste wurde von zahlreichen anderen Zeitschriften übernommen. 741 Vgl. hierzu Wessel, S. 218‒244; sowie Willi Münzenberg. Eine Dokumentation zur Muenzenberg-Tagung im September 1989 in Zuerich. 742 Vgl. auch bei Wessel: Münzenbergs Ende, S. 360, Anm. 20, den Hinweis auf den Artikel von Martin Rott: Ein Grab im Schatten des Vercors. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
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Éditions Prométhée, Straßburg / Paris Der nominell produktivste Exilverlag in Frankreich waren die Éditions Prométhée, ein kommunistischer Verlag, dessen Ursprung in dem kleinen Schweizer Prometheus-Verlag lag, in dem u. a. die Zeitschrift des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, die Kommunistische Internationale gedruckt wurde. Ende 1933/Anfang 1934 wurde der Prometheus-Verlag von Basel nach Straßburg transferiert und dort unter der Bezeichnung Éditions Prométhée betrieben, 1936 auch ins Handelsregister eingetragen;743 im Sommer 1938 wurde das Unternehmen dann nach Paris744 verlegt. Entgegen anderslautenden Einschätzungen745 ist der Verlag nicht der Einflusssphäre Willi Münzenbergs zuzurechnen, sondern als ein Unternehmen anzusehen, dass direkt der (III.) Kommunistischen Internationale unterstand.746 Für diese Zuordnung spricht allein schon das Verlagsprogramm, das lange nicht so pluralistisch angelegt war wie bei den Münzenberg-Verlagen und das sich mit den ausschließlich in deutscher Sprache gedruckten Publikationen, zu denen auch Schulungshefte (sogar solche für die KPF) gehörten, ganz offensichtlich nur an Parteimitglieder richtete, dabei stets auch die Richtungswechsel in der Parteilinie
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FAZ-Magazin, Nr. 538 vom 22. Juni 1990, mit zusätzlichen Informationen, die aber auch alle Todesvarianten (Freitod, Ermordung durch Gestapo oder durch NKWD) offen lassen. Vgl. hierzu die präzisen Angaben bei Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 54, Fn. 26: »In den Publikationen wurde ab 1934 Straßburg als Verlagsort angegeben. Die einzige bislang auffindbare Eintragung ins Handelsregister erfolgte jedoch am 13. 1. 1936. Die Editions Prométhée (Verlagssitz: 15, rue des Francs-Bourgeois) waren eine Aktiengesellschaft mit 25.000 Francs Kapital. Als pro-forma-Aktionäre fungierten mehrere Mitglieder der Strassburger Humanité-Redaktion und der Parteidruckerei Argentoratum. – Möglicherweise war der im Mai 1934 um die Zeitschrift Le Combat Marxiste in Paris gegründete Verlag Le Nouveau Prométhée (32, rue Rodier, Paris 9e) eine Abspaltung des Strassburger Unternehmens: er versammelte neben Trotzkisten auch Mitglieder des linken Flügels der SFIO, u. a. den Bruder des aus dem Elsass stammenden sozialistischen Abgeordneten Salomon Grumbach, Jacques. Geschäftsführer von Le Nouveau Prométhée war der 1920 eingebürgerte russische Emigrant Wolf Epstein (geb. 1. 10. 1881 in Godlevo), selbst SFIO-Mitglied.« Lt. Verlagsverzeichnis Winter 1938/39, siehe DEA, Slg. Verlagsprospekte, Nr. 8, Editions Prométhée. Vgl. auch die Eintragung im Handelsregister: Société anonyme au capital de 25.000 Frs. Registre du Commerce: Paris 277.757 B [3, rue Valette, Paris 5e). – Motiv für den Umzug waren die größere Nähe zur Führung der KPD und die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt Münzenberg in Straßburg den Sebastian Brant-Verlag betrieb. Palmier: Einige Bemerkungen, S. 52; auch Wessel (Münzenbergs Ende, S. 327, Anm. 56) spricht ungenau von den Éditions Prométhée als von »einem Verlag, der aus Münzenbergs ›Unternehmen‹ hervorgegangen war.« David Pikes Auffassung, wonach die Éditions Prométhée und der Ring-Verlag in Zürich als »Tochterverlage der VEGAAR« zu betrachten seien, dürfte – ungeachtet der engen Kooperation dieser Verlage – den Sachverhalt nicht zutreffend beschreiben (vgl. Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933‒1945, S. 311). Diese Zuordnung wird auf überzeugende Weise vorgenommen bei Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. Die Autoren schließen nicht aus, dass Münzenberg an den Finanzierungsvorgängen beteiligt war, verweisen jedoch auf die deutliche Nähe des Verlags zur KPD, mit der Münzenberg schon lange vor seinem Parteiaustritt in einem Spannungsverhältnis stand.
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reflektierte.747 1933 brachte der Prometheus-Verlag noch unter dem fingierten Verlagsort Hamburg einige Schriften heraus, darunter von Sepp Schwab Die KPD und ihre Presse lebt und kämpft. Eine gewisse Rolle in der operativen Leitung des Verlages dürfte Johannes Wertheim* zugekommen sein, der vor 1933 in Wien mehrere KP-nahe Verlage gegründet und betrieben hatte, darunter den Agis-Verlag und den Verlag für Literatur und Politik, und im Schweizer Exil 1937 den Ring-Verlag errichtet hatte, der mit der VEGAAR kooperierte. Wertheim war Beauftragter der Komintern für Verlagswesen und hatte als solcher zweifellos großen Einfluss auf die Éditions Prométhée – dies nicht zuletzt auch als Mitinhaber der kommunistischen Buchhandlung C. Mayer & Cie. in Paris, die den Exklusivvertrieb der Prométhée-Bücher in Frankreich übertragen bekommen hatte. Von 1937 bis 1939 wurden die Éditions Prométhée allerdings von dem von der KPD dazu abgestellten Bruno Peterson* (1900 Berlin – 1966 Berlin) geleitet, der sich schon 1930 bis 1932 in vergleichbarer Funktion im Internationalen Arbeiter Verlag bewährt hatte und nach 1945 eine bedeutende Rolle im Verlagswesen der DDR spielen sollte. Die Éditions Prométhée brachten 1934‒1939 mehr als 160 Titel heraus, vor allem Werke von KP-Funktionären und, überwiegend in Broschürenform mit oft nur 50‒60 Seiten Umfang, dokumentarische Veröffentlichungen etwa zu parteiinternen Vorgängen und Parteibeschlüssen; allein zur sogen. »Brüsseler Konferenz« der KPD 1935 sind dort acht solcher Broschüren erschienen.748 Als weitere Beispiele für das Buchprogramm können dienen Schriften von Fritz Heckert (Was geht in Deutschland vor, 1933), typische Volksfrontliteratur wie Jan Jansen (Katholiken und Kommunisten im deutschen Freiheitskampf), Spanienliteratur wie von Ernst Mohr (und Erich Weinert) Wir im fernen Vaterland geboren… Die Centuria Thälmann (1938) oder der von Herbert Wehner unter seinem Parteinamen Kurt Funk publizierte Titel Soll die Arbeiterklasse vor dem Kriege kapitulieren? Eine Auseinandersetzung mit der Politik der II. Internationale (1939). Von Albert Schreiner, der bei Münzenbergs Abwendung von der KP nicht mitmachte und sich nach der Liquidierung von Carrefour mit seinen Militäranalysen anderweitig orientieren musste, kam 1939 bei Prométhée Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers heraus. Hervorhebenswert auch die ebenfalls 1939 erschienene, rund 180 Seiten starke kritische Dokumentation von Hans Behrend (Ps. für Albert Norden) Die wahren Herren Deutschlands, in der in gut marxistischer Manier das Industrie- und Finanzkapital als die Drahtzieher der nationalsozialistischen Revolution entlarvt werden sollten. Der Verlag wurde im Herbst 1939 aufgelöst, vermutlich im Zusammenhang mit dem von der französischen Regierung nach dem Hitler-Stalin-Pakt verfügten Verbot der KPF im September 1939.749 Zuvor hatte die Zeitschrift Kommunistische Internationale, die nach wie vor in deutscher Sprache bei den Éditions Prométhée erschien,750 noch in
747 Vgl. Abel / Winkelmann / Waligora. 748 Vgl. Roussel / Kühn-Ludewig: Bücher und Broschüren; die Dokumentation kann auch in diesem Fall als Verlagsverzeichnis dienen. 749 Vgl. Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. 750 Das Organ erschien zeitweise in russischer, französischer, englischer, chinesischer, spanischer und deutscher Sprache; mindestens die deutsche Ausgabe kam bei den Éditions Prométhée heraus.
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Abb. 28: Mit dem Pseudonym H. Behrend tarnte sich der KP-Journalist Albert Norden; er lebte damals im Pariser Exil, wo er auch am Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror mitgearbeitet hatte.
Heft 4/1939 darüber informiert, dass Willi Münzenberg wegen Verrats an Partei und Arbeiterbewegung nicht nur aus dem ZK der KPD, sondern aus der Partei selbst ausgeschlossen worden war.751
Éditions du 10 Mai, Paris Der erst im Frühjahr 1939 gegründete Verlag hat nur zwei Bücher herausgebracht und verdiente insofern keine besondere Beachtung – wenn die Umstände seines Entstehens und auch seiner Stagnation nicht so kennzeichnend wären für die internen Verwerfungen, die 1939/1940 im Bereich des kommunistischen Exils eingetreten waren.752 Den Entstehungshintergrund bildete die deutliche Verschlechterung der Publikationsmöglichkeiten für die emigrierten Schriftsteller seit 1937/1938, die besonders die Autoren des kommunistischen Lagers betraf, für die in Frankreich nach Münzenbergs Abrücken von
751 Vgl. Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. 752 Eine direkt aus den Originalquellen erarbeitete Darstellung der Geschichte der Éditions du 10 Mai gibt Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen …«. – Vgl. zusätzlich Roussel: Éditeurs et publications, S. 392‒394.
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der KP der Carrefour-Verlag und in der Sowjetunion die VEGAAR durch Schließung weggefallen waren. Gleichzeitig gerieten moskaufreundlich eingestellte Autoren innerhalb der Emigration in zunehmend stärkere Isolation, da sich in Reaktion auf die Moskauer Schauprozesse und den stalinistischen Terror eine immer breitere Ablehnungsfront gegenüber den KP-Aktivitäten herausbildete. Dies wirkte sich auch negativ auf den Zugang zur publizistischen Öffentlichkeit des Exils, zu den Verlagen und Zeitschriften aus. Bereits im Februar 1938 hatten daher Lion Feuchtwanger und Louis Aragon in einem Brief an Michail Kolzow, der in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Auslandskommission des Sowjetischen Schriftstellerverbandes politisch verantwortlich war für die kommunistischen Literaturinstitutionen im westeuropäischen Exil, den Vorschlag gemacht, die Internationale Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur (ISVK) möge sich einen Verlag angliedern, um jene Werke herauszubringen, die von den bürgerlichen Verlagen nicht oder nur zu hohen Verkaufspreisen publiziert würden.753 Ihrer Ansicht nach könnte ein solcher in Paris zu gründender neuer Verlag auch an die Zeitschrift Das Wort angeschlossen werden, in welchem Falle die Zeitschrift von Moskau nach Paris verlegt werden sollte.754 Unabhängig davon schlug fast zeitgleich Paul Merker als in Paris stationiertes Mitglied des ZK der KPD dem Politbüro der KPD in Moskau die Gründung eines Verlages vor und führte zur Begründung an, Parteischriftsteller seien von Münzenbergs Éditions du Carrefour schlecht behandelt worden.755 Die Tatsache, dass Münzenberg damals bereits die Möglichkeit hatte, mit dem Sebastian Brant-Verlag eine neue, von der Partei unabhängige Plattform für die Verbreitung seiner politischen Vorstellungen aufzubauen, dürfte derartige Überlegungen weiter befördert haben. Es bedurfte allerdings noch weiterer Initiativen, um die Idee einer Verwirklichung näher zu bringen. So etwa brachte Anna Seghers am 25. Juli 1938 auf der außerordentlichen Konferenz der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur (ISVK) öffentlich den Vorschlag einer Verlagsgründung zur Sprache.756 Die letztlich entscheidende Initiative scheint jedoch von Willi Bredel ausgegangen zu sein, der im Juli 1938 aus dem spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrt war. Als der einzig wirklich aktive Herausgeber der Zeitschrift Das Wort (die beiden anderen, Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, spielten im Redaktionsbetrieb nur eine untergeordnete Rolle) und deren Chefredakteur war er mit dem Problem der schwindenden Publikationsmöglichkeiten engstens vertraut und wiederholte gegenüber seinen Moskauer Vorgesetzten den Vorschlag, der Zeitschrift eine Buchreihe anzugliedern. Jeweils vierteljährlich könnte in Paris ein Band gedruckt werden; er selbst würde die Redaktion der Reihe übernehmen.757 Offenbar stellte sich Bredel vor, die Finanzierung der Buchreihe könne, zur Vereinfachung der Entscheidung, über einen (entsprechend erhöhten) Etat der Zeitschrift laufen. Der Vorschlag Bredels fand die volle Unterstützung Franz Dahlems, dem damals
753 Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 181 f. 754 Schiller, S. 182 f. 755 Schiller, S. 182, referiert diesen Brief, der vom 13. April 1938 stammt; dort auch ein genauer Quellennachweis. 756 Roussel: Éditeurs et publications, S. 392, unter Verweis auf Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hrsg. von Sigrid Bock. Bd. 1, Berlin: Akademie-Verlag 1970, S. 67‒69. 757 Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 184.
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wichtigsten KP-Funktionär in Paris, und benötigte nur noch das Placet von Michail Kolzow. Den Quellen zufolge muss es im August / September 1938 ein positives Signal aus Moskau gegeben haben, allerdings für eine vom Wort unabhängige, stattdessen an die ISVK angeschlossene Buchreihe. Mitte Oktober bat Bredel den Sekretär der Auslandskommission des Sowjetischen Schriftstellerverbandes Michail J. Apletin um Unterstützung bei der Realisierung des Vorhabens, und verschwieg dabei auch nicht, dass er selbst inzwischen ein persönliches Motiv für diese Bitte hatte. Denn mit der Annexion der Tschechoslowakei im Herbst 1938 war auch das Ende des Malik-Verlags in Prag gekommen, der gerade dabei war, Willi Bredels Bericht, den er als politischer Kommissar über seine Erfahrungen beim Bataillon Tschapaiev im Rahmen der Kämpfe der Internationalen Brigaden in Spanien in Barcelona verfasst hatte, im Druck herauszubringen. Der Satz war bereits fertig, als die deutschen Truppen in das Sudetenland und Nordböhmen einmarschierten, wo sich auch die Druckerei befand: »Aber ein antifaschistischer Setzer hatte vorher Bürstenabzüge des Buchs beiseite geschafft und brachte sie nach Prag, von wo sie im Koffer einer amerikanischen Journalistin durch Deutschland nach Paris reisten. Hier nun konnte ›Begegnung am Ebro‹ endlich in Buchform erscheinen […].«758 Bevor dies gelang, waren allerdings noch weitere Hürden zu überwinden. Zwar wurden im Gefolge der Intervention nun tatsächlich Gelder bereitgestellt und Bredel konnte die ersten Bände zur Publikation vorbereiten.759 Nun aber verzögerte sich der Start aufgrund von »endlos sich hinziehenden Verhandlungen«,760 und auch die Verlagskonstruktion selbst musste erst noch festgeschrieben werden. Von Anfang an problematisch verlief auch die Finanzierung: Noch bevor das erste Buch erscheinen konnte, musste Bredel bereits um zusätzliche Mittel kämpfen; ein von Oktober 1938 bis Januar 1939 aus Moskau an die ISVK überwiesener monatlicher Sonderzuschuss von 10.000 FF scheint nicht ausgereicht zu haben, um den Verlag flott zu bekommen. »Bredel rechnete, wie aus dem weiteren Briefwechsel hervorgeht, mit einer Verdoppelung der Subvention für ein halbes Jahr, einer späteren Aussage zufolge für acht bis neun Monate. Dann, hoffte er, werde der Verlag sich selbst tragen können. Ohne eine solche zusätzliche Zahlung jedoch hielt er ihn nicht für dauerhaft lebensfähig.«761 Dem Verlag war eine solche längerfristige Tätigkeit nicht beschieden. Immerhin, unter dem Namen Éditions du 10 Mai, der einmal mehr das propagandistische Motiv der NS-Bücherverbrennung aufnahm, konnte das Unternehmen im Januar 1939 offiziell gegründet werden; im Handelsregister war der Sekretär der ISVK, der französische
758 Weiskopf: Unter fremden Himmeln (1981), S. 79. 759 Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen …«, S. 186. Bei Pike heißt es dazu, Kolzow habe der ISVK 10.000 Francs monatlich für die Gründung des Verlags zur Verfügung gestellt und »im Einverständnis mit den Genossen des [KPD] Pol-Büros« der Publikation von acht Büchern zugestimmt. Der sowjetische Zuschuss sei für ein Jahr vorgesehen gewesen; danach sollte sich der Verlag selbst tragen (Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933‒1945, S. 261). 760 Bredel in einem Brief an Kolzow vom 10. Dezember 1938, hier zit. n. Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 187. 761 Schiller, S. 187.
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Schriftsteller Louis Aragon, eingetragen.762 Die praktische Arbeit im Verlag wurde indes von Maria Osten (der Lebensgefährtin von Michail Kolzow) geleistet, die Programmverantwortung lag bei Willi Bredel,763 Geschäftsführung und Vertrieb wurden Hermann Budzislawski, dem Herausgeber / Chefredakteur der Neuen Weltbühne, übertragen.764 Anfang 1939 erschienen endlich auch die ersten beiden Verlagstitel, eben das SpanienBuch Bredels Begegnungen am Ebro. Aufzeichnungen eines Kriegskommissars sowie, unter dem Titel Mut!, ein Essay-Band von Heinrich Mann. Die Initiative ging im letzteren Fall von Maria Osten aus, die für einen repräsentativen Erst-Auftritt des Verlags einen prominenten Autor suchte. Wie schon so oft zeigte sich Mann bereit, Reputation und Namen zur Verfügung zu stellen und besorgte zu diesem Zweck (und für ein »freundschaftlich« bemessenes Honorar von 6.000 FF765) eine Auswahl seiner politischen Artikel zum Thema Volksfront.766 Darüber hinaus verfasste er ein Vorwort zur Schriftenreihe »10. Mai«, das in der Zeitschrift Das Wort abgedruckt wurde.767 Er gab dort seiner Überzeugung Ausdruck, dass gegenüber der Barbarei die Kultur nur mehr auf internationaler Ebene verteidigt werden könne und dass die Schriftsteller dazu aufgerufen seien, vor dem Eindringen von Judenhass und Antikommunismus in die Gemeinschaft der Demokratien zu warnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte längst auch eine Werbekampagne in der Exilpresse begonnen; so war Ende Dezember in der Neuen Weltbühne in einer redaktionellen Vorbemerkung auf die neue »Reihe deutscher Bücher« hingewiesen worden, die »erschwinglich für Jeden und also wirksam überall« sei.768 Und in der parteikommunistisch ausgerichteten Deutschen Volkszeitung vom 8. Januar 1939 wurde mitgeteilt, die ISVK habe unter der Bezeichnung »Verlag 10. Mai« einen Verlag für die in Deutschland »verbrannten« und »verbotenen« Schriftsteller errichtet, in welchem bereits zwei Bücher erschienen seien; jährlich sollten acht bis zehn Titel herauskommen.769 In der Tat existierten für das weitere Programm damals schon recht konkrete Planungen: vorgesehen waren Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz und ein Roman von Hans Marchwitza; längerfristig lagen nach Angaben Bredels noch weitere zwölf Manuskripte vor.770 Ob Bredel in allen Fällen von konkreten Absprachen mit Autoren ausging oder nur deren aktuelle Buchprojekte kannte, ist unklar. Ersteres traf jedenfalls auf Ernst Toller zu, der aber offensichtlich finanzielle Bedingungen stellte, die der Verlag nicht erfüllen konnte. Brecht bot sein Galilei-Stück an, aber dieser Titel taucht in der Verlagsplanung nicht auf. Anna Seghers bekam bereits einen Vorschuss von 3.000 FF ausbe-
762 Der Verlag stand unter der Patronanz der Schriftsteller-Vereinigung, die auf dem Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 gegründet worden war. 763 Diese Tätigkeit übte er ehrenamtlich aus, da er damals vom Politbüro der KPD Gehaltszahlungen erhielt. 764 Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 181. 765 Schiller, S. 189. 766 Schiller, S. 188. 767 Heinrich Mann: Mut. Vorwort zur Schriftenreihe »10. Mai«. In: Das Wort 1939, Heft 2, S. 105 f. 768 Die neue Weltbühne 1938, Nr. 58 vom 22. Dezember 1938; hier zit. n. Schiller, »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 193 f. 769 Schiller, S. 194. 770 Vgl. Schiller, S. 186‒191.
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zahlt, doch zeigte sich, dass sie die Arbeit an dem Roman noch nicht abgeschlossen hatte (Das siebte Kreuz erschien dann erst 1942 in den USA in englischer Übersetzung und bei El Libro Libre Mexiko in deutscher Sprache).771 Als weitere Manuskriptlieferanten waren Hermann Kesten, Maria Osten, Wolf Franck und Johannes Wüsten in Aussicht genommen.772 Und einem Bericht zufolge, den Bredel Ende 1938 für Michail Kolzow zum Stand der Verlagsgründung erstellt hatte, waren in Vorbereitung bzw. in Aussicht genommen eine Auswahl neuer deutscher Lyrik von Johannes R. Becher, Briefe gefallener Spanienkämpfer und eine kurz gefasste deutsche Literaturgeschichte von Kurst Kersten sowie ein Novellenband zum Jahrestag der Französischen Revolution, weiters Erzählungen aus dem Dritten Reich von Leonhard Frank sowie Werke von Oskar Maria Graf, Bodo Uhse, Alfred Döblin, Gustav Regler, Ernst Weiß und ihm selbst.773 Zweifellos wollte Bredel mit solchen in der Sache etwas überzogenen Darstellungen das große Potenzial aufzeigen, das ein Verlag in der damals gegebenen Situation hatte. Wie aus Briefen an Ernst Bloch hervorgeht, hat der weitaus erfahrenere Wieland Herzfelde dagegen das Konzept der Éditions du 10 Mai als nicht sonderlich aussichtsreich eingeschätzt; abgesehen von der Unprofessionalität der Betreiber waren aus seiner Sicht die Verkaufspreise zu niedrig angesetzt, um der Produktion eine dauerhafte Grundlage geben zu können.774 Die Probe aufs Exempel konnte nicht gemacht werden, und dies nicht eigentlich aus finanziellen, sondern aus politischen Gründen. Noch Ende 1938 war Michail Kolzow unter dem Vorwurf »konterrevolutionärer Tätigkeit« verhaftet worden; nach Haft und schwerer Folter wurde er am 2. Februar 1940 hingerichtet (1954, ein Jahr nach Stalins Tod, wurde er offiziell rehabilitiert). Dass Kolzow so plötzlich zur Unperson wurde, war fatal auch im Hinblick darauf, dass die Verlagsleiterin und Funktionärin der ISVK Maria Osten mit ihm liiert war. Schon seit der Gründung stand das Schicksal des Verlags also auf der Kippe; in Bredels Bemühungen, den Moskauer Autoritäten (zunächst in einem an Apletin gerichteten Brief, dann in einem Memorandum775) die Bedeutung dieser Publikationsplattform für die emigrierten Schriftsteller begreiflich zu machen, spiegelt sich bereits die Ahnung vom frühen Ende des Verlags.776 Wirklich hatte Bredel bereits im Januar 1939 einen Hinweis erhalten, dass die Weiterzahlung der Unterstützungssummen fraglich sei, und bot in seinem Memorandum daher alle Argumente auf, die geeignet schienen, dieses Ende abzuwenden: die Verlagssituation in der Emigration sei, v. a. nach dem Wegfall von Carrefour, fatal; ein Zusammenbruch des eben gegründeten Verlags, des einzig linken in Westeuropa, würde zu allerhand Gerüch-
771 Schiller, S. 188. 772 Nach den Anzeigen des Verlags in den beiden tatsächlich erschienenen Büchern von Bredel und Heinrich Mann. Vgl. auch Schiller, S. 190. 773 Schiller, S. 191. 774 So die Darstellung bei Schiller, S. 191 f. Schillers Einschätzung, dass Bredel bewusst nicht aus der Sicht eines »professionellen Verlegers«, sondern eines »literaturpolitischen Aktivisten« gehandelt habe, der mit der Subventionierung durch Moskau fix gerechnet habe, ist sicherlich zutreffend. 775 Willi Bredel-Archiv, Akademie der Künste der DDR, Nr. 765. Im Folgenden zit. nach Müller: Bericht des Komintern-Emissärs Bohumir Šmeral, S. 259, Fn. 23. 776 Schiller: »Wir konnten nicht mit dem K-Unglück rechnen…«, S. 192 f.
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ten Anlass geben, der von der Parteileitung erwünschten Zusammenarbeit mit Autoren wie Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig oder Franz Werfel und Hermann Kesten (eine etwas weit hergeholte Vorstellung) werde dadurch der Boden entzogen, und wenn die Zuschüsse gezahlt bzw. verdoppelt würden, dann könnten sofort drei neue Bücher herausgebracht werden; der Verlag würde dann doch noch ein geistiges Zentrum der antifaschistischen deutschen Literatur werden können.777 Bredels Appell blieb ungehört; die Konten wurden gesperrt, der Geldfluss aus Moskau war nach Kolzows Verhaftung versiegt. Auch ein Brief an die Pariser KPD-Führung mit einer genauer Schilderung der Lage und der Behauptung, die Bücher würden gut verkauft und der Verlag könne mit geringen Zuschüssen überleben, blieb letztlich erfolglos, auch wenn diese umgehend nach Moskau mit der Bitte um rasche Entscheidung in dieser Angelegenheit schrieb.778 Bredel selbst wollte nicht sofort aufgeben. Aus seinen Briefen an Erpenbeck in Moskau geht hervor, dass Anfang März von seinem Spanienbuch 1.140 Exemplare ausgeliefert und 616 fest verkauft waren, beim Essayband von Heinrich Mann beliefen sich diese Zahlen auf 1.660 bzw. 480.779 Nachdem im März auch ein allerletzter Rettungsversuch Bredels scheiterte – er wollte Heinrich Mann zur Mitarbeit in einem redaktionellen Beirat der »Bücher-Reihe des 10. Mai« gewinnen, dem auch Becher, Feuchtwanger, O. M. Graf und er selbst angehören sollten, um mit dieser prominenten Besetzung den Fortbestand des Verlags zu erzwingen –, hatte das Unternehmen keine Zukunft mehr. Da zudem die Zeitschrift Das Wort abgedreht wurde, musste sich Bredel neu orientieren. Er wird davon Kenntnis gehabt haben, dass das ZK und Politbüro der KPD in einer Sitzung am 13. April 1939 offiziell festgehalten haben, dass der Verlag »10. Mai« aufgrund fehlender Subventionen aufgelöst wird.780 In Paris von allen Aufgaben entbunden, suchte er am 1. Mai um Genehmigung zur Rückkehr nach Moskau an – nicht ohne sich darüber zu beklagen, dass über eine Fortführung des Verlags keine positive Entscheidung getroffen worden war, wo doch sein eigenes Buch bei einer Auflage von 3.000 Exemplaren nahezu vergriffen und ein – damals höchst selten gewordener – Verkaufserfolg geworden sei.781 Die gleiche Position vertrat er auch in einem im Juli 1939 in Moskau entstandenen Bericht über die Lage der antifaschistischen Literatur, in der er noch einmal offen, kritisch und dabei doch demonstrativ linientreu einen nun leider nicht eingelösten Hauptzweck der Verlagsgründung ansprach, nämlich »der münzenbergischen Spaltungspolitik, den trotzkistischen Verleumdungen und der bürgerlichen Indifferenz […] entgegen[zu]treten«.782 Objektiv betrachtet, hatte der Verlag nie eine Chance auf Bestand gehabt, in einem kommunistischen Literaturmilieu, das zu einem Schauplatz absoluter Planlosigkeit und Unsicherheit, absurder Verdächtigungen und Liquidierungen geworden war; so war es nur konsequent, dass er mit der
777 Interessanterweise wurden von Bredel jetzt Titel genannt, die in anderen Planungen nicht aufgeschienen waren: Hans Marchwitza: Der Vikar von Kremskotten; F. C. Weiskopf: Die blauen Wälder. Novellen aus den Sudeten, und Wolf Franck: Fichte, ein Kämpfer für die deutsche Freiheit (nach Schiller, S. 195). 778 Nach Schiller, S. 196. 779 Schiller, S. 196. 780 Schiller, S. 198. 781 Bredel in einem Brief an Michail J. Apletin, nach Schiller, S. 197. 782 Zitiert n. Schiller, S. 198.
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Verhaftung Kolzows, dem unvorhersehbaren »K-Unglück« (W. Bredel), auch ein Opfer des stalinistischen Terrors wurde. Und ebenso trifft es zu, dass die fortgesetzten Versuche Bredels um eine Rettung der Éditions du 10 Mai »angesichts des Hitler-StalinPaktes und des beginnenden Weltkrieges« sich ohnehin als hinfällig erwiesen hätten.783 Das Lager des Verlags wurde nach Kriegsbeginn von der französischen Polizei beschlagnahmt und fiel im Sommer 1940 in die Hände der Nazi-Okkupanten: »Aus unerfindlichen Gründen vernichtete die Gestapo aber nur einen Teil der Bücher, und so kam es, daß vier Jahre darauf Exemplare des Bredelschen Romans auf einem seltsamen Umweg deutsche Leser fanden: Kriegsgefangene in alliierten Lagern hinter der Westfront.«784
Éditions A.S.R.A., Paris Einer der bedeutendsten Repräsentanten des kommunistischen Verlagswesens in der Weimarer Republik war Karl Retzlaw* (d. i. Karl Gröhl, 1896 Schneidemühl b. Posen – 1979 Frankfurt am Main) gewesen, zuletzt, von 1928 bis 1933, als Geschäftsführer des Neuen Deutschen Verlags, des wichtigsten Buchverlags des »Münzenberg-Konzerns«.785 Wie so viele seiner Parteigenossen und Münzenberg selbst musste er sich nach der NS»Machtergreifung« in Sicherheit bringen und nahm von Saarbrücken aus KominternAufträge in Verlagsangelegenheiten in der Schweiz (Universum-Bücherei für alle), in Frankreich und Österreich wahr. Bereits im November 1933 kam es zum Bruch mit KPD und Komintern; Retzlaw schloss sich den Trotzkisten an und war unter dem Pseudonym Karl Erde zunächst als Journalist tätig. 1935 ging er nach Straßburg und dann weiter nach Paris. Dort konnte er, wie so viele Mitemigranten, aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen in Frankreich keine bezahlte Anstellung finden,786 mit einer Verlagsgründung787 jedoch das Anstellungsverbot umgehen. Die Editions A.S.R.A. (Asra) wurden am 6. April 1936 unter seinem wahren Namen Karl Gröhl in das Pariser Handelsregister eingetragen und am 6. Februar 1939 wieder aus dem Register gestrichen. In dem Verlag erschienen nur zwei Bücher, mit dem Erscheinungsjahr 1935 zunächst ein schmales Bändchen von Paul Schuhmann (d. i. Karl Gerold) Es lohnt sich noch… Gedichte, Chöre, und 1937 von Joachim Schumacher ein Band mit dem umständlichen Titel Die Angst vor dem Chaos. Gegenangriff durch Geschichte, zugleich Verteidigung der Demokratie, des Christentums, des Mutes des individuellen Mannes und anderer missachteter Ideale.788 Ein weiteres Tätigkeitsfeld des Unternehmens war die Verbreitung der von Max Sievers in Brüssel herausgegebenen Zeitschrift Freies Deutschland. Organ der deutschen Opposition in Frankreich, einer in Antwerpen gedruckten Wochenzeitschrift, die als Organ der deutschen Freidenker fungierte, dabei
783 So das Resümee bei Schiller, S. 198. 784 Weiskopf: Unter fremden Himmeln (1981), S. 79. 785 Eine wichtige Quelle ist die Autobiographie Retzlaws / Gröhls: Spartakus. Aufstieg und Niedergang. 786 Vgl. zum Folgenden v. a. Roussel: Éditeurs et publications, S. 389 f. 787 Retzlaw: Spartacus (4. Aufl. 1976), S. 356. 788 Von diesem Werk erschienen Neuauflagen im Makol-Verlag, Frankfurt am Main 1972, und im Verlag Syndikat, Frankfurt am Main 1978.
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eine eigenwillige Bündnispolitik verfolgte und kritisch zur Sopade stand, besonders heftig aber die KP und den Katholizismus attackierte.789 Angesichts des mageren Publikationsprogramms liegt der Verdacht nahe, dass dem Verlag A.S.R.A. hauptsächlich eine gewisse Tarnfunktion zugekommen ist, wie dies auch für andere Betätigungsfelder Retzlaws zutrifft. Denn dieser engagierte sich im Widerstand gegen das NS-Regime teils in enger Verbindung mit dem undurchsichtigen Verleger der Pariser Tageszeitung (PTZ) Fritz Wolff,790 teils auch durch Spionagetätigkeit für den britischen Geheimdienst. Nach kurzfristiger Internierung 1939/1940 flüchtete Retzlaw nach Südfrankreich, dann über Spanien nach Lissabon. 1940 wurde er auf Veranlassung des britischen Geheimdienstes nach Großbritannien ausgeflogen. Im britischen Exil gehörte er mehreren antifaschistischen und antimilitaristischen Gruppen an, u. a. dem von Hans Jaeger gegründeten »Klub Konstruktivisten«.791 Nach dem Krieg lebte Retzlaw als SPD-Funktionär bis zu seiner Ausweisung 1949 im Saargebiet; seit 1950 war er Verlagsangestellter der Frankfurter Rundschau, die seit 1947 von Karl Gerold als Mitherausgeber, seit 1954 als Alleinherausgeber und Mehrheitsgesellschafter herausgebracht wurde – jenem Karl Gerold, von dem Retzlaw im Pariser Exil den unter dem Pseudonym Paul Schuhmann erschienenen Gedichtband verlegt hatte.
Éditions Bernhard Rosner / Éditions Météore Einer der Verlage, die aus der zersplitterten politischen Szene des Pariser Exils heraus entstanden und sich mangels solider Finanzierungsgrundlage nur kurze Zeit halten konnten, waren die Éditions Bernhard Rosner. Ihr Gründer, Bernhard Rosner* (1909 Worochta / Polen – 1942; rumän. Staatsbürger),792 war vor 1933 u. a. als Geschäftsführer der kommunistischen Agis-Verlags GmbH in Berlin tätig gewesen, hatte diese Stelle aber verloren, als er wegen Zugehörigkeit zur »Versöhnlerfraktion« aus der KPD ausgeschlossen wurde. Im Pariser Exil mag es zu einer Wiederannäherung an die Partei gekommen sein, denn hier versuchte er in Zusammenarbeit mit der Deutschen Volksfront und speziell mit dem »Institut für das Studium des Faschismus«, das unter der Patronanz von Paul Langevin, Lucien Lévy-Bruhl und Marcel Prenant stand, einen Verlag aufzu-
789 Vgl. Roussel: Éditeurs et publications, S. 389; zum Freien Deutschland vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils, S. 65‒67; Presse im Exil, S. 200‒204. 790 Retzlaw war, wie Wolff, als Spartakist zur KPD gekommen und hatte bis 1924 den illegalen Apparat der KPD geleitet; wie Enderle-Ristori vermutet, stammt die Bekanntschaft der beiden aus dieser Zeit. 1936 wurde Retzlaw unter seinem bürgerlichen Namen Karl Gröhl bei der PTZ als »Anzeigenrequisiteur« geführt, »dies zur Tarnung seiner politischen Aktivitäten und vertraulichen Missionen, die er auch für Wolff wiederholt ausführte«, siehe EnderleRistori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 33 f. 791 Vgl. dazu Später: Die Kritik des »anderen Deutschland«. – Retzlaw stand offenbar in Verbindung mit Karl Otten und Otto Lehmann-Rußbüldt, die ihrerseits Kontakt zu britischen Regierungsstellen hatten. In diesem Zusammenhang interessieren auch die wiederholten Behauptungen der KPD, Fritz Wolff würde für die PTZ finanzielle Zuwendungen aus Großbritannien erhalten (Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 34). 792 Vgl. u. a. Langkau-Alex: Deutsche Volksfront 1932‒1939. Bd. 3, S. 382, 524, 530; sowie (anekdotisch) Scheer: So war es in Paris, S. 89 f.
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bauen.793 1934 erschien bei Éditions Bernard Rosner als Band 1 der Schriftenreihe des Instituts zum Studium des Faschismus von S. Erckner [d. i. Staschek Scymoncyk] Exerzierplatz Deutschland. Für den weiteren Ausbau des Programms hatte Rosner Kontakt mit zwei ebenfalls im Pariser Exil lebenden Autoren aufgenommen, die ihrerseits auf der Suche nach einem Verlag waren: mit Georg Wolfgang Hallgarten* (1901 München – 1975 Washington, D.C.) und Friedrich Alexan* (eig. Georg Kuppermann / Kupfermann 1901 Mannheim ‒ 1995 Dornum). Der dezidiert republikanisch gesinnte Hallgarten war promovierter Historiker; seine Habilitation war jedoch durch den politischen Umbruch 1933 verunmöglicht worden. 1935 war er nach Frankreich emigriert und in Paris hauptsächlich als Lektor an der »École des Hautes Études Sociales et Internationales« tätig gewesen.794 Hallgarten hatte ins Exil das Ergebnis einer siebenjährigen Arbeit mitgebracht, ein 1.760 Seiten starkes Manuskript über den Imperialismus vor 1914.795 An eine vollständige Publikation war nicht zu denken, aber Hallgarten kürzte das Original um zwei Drittel und bot diese Fassung verschiedenen Verlagen in Zürich, Wien und Amsterdam zur Veröffentlichung an. Zu seiner Enttäuschung lehnten alle ab oder verlangten einen Druckkostenzuschuss, der die Möglichkeiten Hallgartens überstieg. Ende August 1934 traf er nun Bernhard Rosner, der sich bereit zeigte, die gekürzte Fassung zur Publikation anzunehmen, allerdings auch nur gegen eine finanzielle Beteiligung. Hallgarten willigte ein, musste jedoch Anfang 1935 feststellen, dass sich sein Verleger in einer prekären Lage befand. Ebendieses musste auch der nach der NS-»Machtergreifung« nach Frankreich geflüchtete Schriftsteller Georg Friedrich Alexan zur Kenntnis nehmen, der Rosner sein Manuskript von Mit uns die Sintflut zur Veröffentlichung übergeben und dafür gleichfalls einen beträchtlichen Zuschuss gezahlt hatte. Alexan erreichte, dass der Verlag unter Geschäftsaufsicht gestellt wurde; Rosner wurde verboten, weitere Verträge zu unterzeichnen, bevor diese beiden Bücher erschienen seien. Dazu sollte er dem renommierten Drucker d’Arcosse (der Imprimerie de l’Argus in Soissons), mit dem er einen Generalvertrag zur Herstellung der Bücher geschlossen hatte, die Bezahlung garantieren. Rosner aber, dessen finanzielle Lage unhaltbar wurde, flüchtete, ohne den Drucker bezahlt zu haben, im April 1935 aus Paris nach Spanien.796 Daraufhin gab Hallgarten seine aus
793 Die Éditions Bernhard Rosner wurden am 7. August 1934 in das Handelsregister eingetragen. Vgl. hierzu und zum Folgenden Roussel: Éditeurs et publications, S. 388 f. 794 Vgl. Radkau: George W. F. Hallgarten. 795 Das Folgende hauptsächlich nach Roussel: Éditeurs et publications, S. 388 f.; sowie nach Hallgartens Autobiographie: G. W. Hallgarten: Als die Schatten fielen, S. 189‒229, bes. 203‒211. 796 Im Spanischen Bürgerkrieg schloss sich Rosner 1936/37 der Kulturabteilung der Interbrigaden in Albacete an. Dabei geriet er in die Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten, Trotzkisten und Stalinisten, wurde der Mitgliedschaft in der halbtrotzkistischen POUM verdächtigt, aus den Brigaden ausgeschlossen, am 4. März 1937 verhaftet und verhört; nachfolgend wurde er auf dem Gefängnisschiff »Uruguay« im Hafen von Barcelona und im Gefängnis von Castelldefels bis Anfang 1939 festgehalten. Nach seiner Freilassung flüchtete er in die Schweiz, von wo er nach Frankreich zurückgestellt wurde. Dort wurde er wohl aufgegriffen und in das Lager Bentschen in Polen gebracht, wo er infolge der Zwangsarbeit verstorben sein dürfte.
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dem Münchner Haus gerettete Guarneri-Geige d’Arcosse als Pfand, um den schon begonnenen Druck der Bücher fortsetzen zu können, und gründete gemeinsam mit Alexan, gleichsam in Übernahme der Rosnerschen Éditions, den Verlag Éditions Météore. Hier erschienen nun 1935 sowohl [Friedrich] Alexans Mit uns die Sintflut. Fibel der Zeit (mit einem Schutzumschlag von Lépine und dem Hinweis »Carrefour in Komm.«) als auch Wolfgang Hallgartens Vorkriegsimperialismus. Die soziologischen Grundlagen der Aussenpolitik europäischer Großmächte bis 1914. 1937 folgte dann als nächstes und letztes Buch des Verlags Friedrich Alexans Im Schützengraben der Heimat. Geschichte einer Generation. Die Éditions Météore lösten sich danach rasch auf, sodass ihr, im Blick auf die drei erschienenen Titel, der Charakter eines Selbstverlagsunternehmens zukam. Hallgarten ging bereits 1937 in die USA und nahm 1938 eine Lehrtätigkeit am Brooklyn College auf;797 Alexan ging 1939 ebenfalls in die USA und betrieb in New York neben exilpolitischen Aktivitäten im KP-Umkreis in der U-Bahn-Station am Times Square einen Buchladen, der zu einem Emigrantentreffpunkt wurde.798
Éditions Nouvelles Internationales Verlegerische Aktivitäten im Pariser Exil entfaltete auch der »Internationale Sozialistische Kampfbund« (ISK). Bei dem ISK handelte es sich um eine Mitte der 1920er Jahre von Leonard Nelson und Minna Specht ins Leben gerufene, ethisch motivierte sozialistische Abspaltung von der SPD, die neben striktem Antiklerikalismus und Antimarxismus auch Vegetarismus, Abstinenz und Tierschutz miteinschloss.799 Aufgrund der strengen Anforderungen, u. a. auch einer extrem hohen Parteisteuer, hatte die Vereinigung nie mehr als 300 Mitglieder, konnte aber eine weit größere Zahl an Aktivisten rekrutieren. Unter der Führung von Willi Eichler (1896 Berlin – 1971 Bonn), der seit 1927 den Vorsitz führte, konnte der ISK nach 1933 zunächst von Frankreich, ab 1939 von London aus eine Widerstandsarbeit von nicht unbeträchtlicher Bedeutung entfalten. Eichler, der bereits im Juli 1932 mit einem vielbeachteten (u. a. von Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Heinrich Mann, Erich Kästner, Kurt Hiller unterschriebenen) »Dringenden Appell« für ein Zusammengehen von SPD und KPD im aktuellen Wahlkampf hervorgetreten war,
797 1942‒1945 Soldat, fand Hallgarten bis 1949 eine Anstellung in der US-Army, seit 1951 war er als Berater für das amerikanische Außen- und Verteidigungsministerium tätig. Als Historiker genoss er hohe Anerkennung und nahm Gastprofessuren in aller Welt wahr; 1972, bereits 71jährig, wurde er auf einen Lehrstuhl an die University of North Carolina in Charlotte berufen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten untersuchte er u. a. die Rolle der Industrie beim Aufstieg des Nationalsozialismus. 798 Alexan war in New York auch als Sekretär der von der Kommunistischen Partei initiierten und finanzierten kulturellen Vereinigung »Tribüne für freie deutsche Kunst und Kultur in Amerika« tätig. 1949 kehrte er zurück und lebte bis zu seinem Tod in (Ost-)Berlin. Vgl. Tribüne und Aurora, Reg. S. 242; Christine-Félice Roehrs: Jüdin sein kam lange nicht in Frage. DDR-Produkte: Wie Irene Runge [Tochter von F. A.] und ihr Jüdischer Kulturverein in die Bundesrepublik hineinwuchsen. In: Die Zeit 10/2000 [online]. ‒ Die Berliner Akademie der Künste verwahrt in ihrem Literaturarchiv den Nachlass A.s. 799 Zum ISK vgl. Link: Die Geschichte […] des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK); sowie Lindner: »Um etwas zu erreichen […]« [online].
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engagierte sich als Leiter der Auslandszentrale des ISK in Paris 1935/1936 in der Volksfrontbewegung (»Lutetia-Kreis«); die von ihm herausgegebenen Reinhart-Briefe und das ISK-Organ Sozialistische Warte genossen aufgrund ihrer sachbezogenen Berichterstattung Ansehen über alle Parteigrenzen hinweg.800 1937 gründete der Exil-ISK einen Verlag, die Éditions Nouvelles Internationales (E.N.I.), die in den Impressa gelegentlich auch als »Internationale Verlags-Anstalt« auftraten.801 Die Aktivitäten der E.N.I wurden, wie auch jene des ISK selbst, mitfinanziert vom Inhaber eines 1934 eröffneten vegetarischen Restaurants, Erich Lewinski.802 Seit 1934 gab es auch einen – offenbar von Eichler auf einer Englandreise errichteten – Ableger des Verlags in London, unter dem Namen International Publishing Company.803 Geleitet wurde der Pariser Verlag 1934‒1940 von Hanna Fortmüller, seit 1938 Hanna Bertholet* (1901 Hannover – 1970 Penedo / Brasilien), die seit 1927 als Mitarbeiterin in Eichlers Pressemedien und Verlagen in Göttingen und in Berlin tätig gewesen und wie dieser nach Verbot des ISK 1933 ins Pariser Exil gegangen war.804 Ebenfalls eine leitende Stellung im Verlag nahm seit 1937 Erich Irmer* (1908 Berlin – 1985 Australien) ein;805 er war vor 1933 in Berlin Inhaber des Verlages Öffentliches Leben, der zunächst offiziell, ab 1933 verdeckt als Verlag des ISK fungiert hatte.806 Nach Widerstandsarbeit im »Dritten Reich«, Verbüßung einer siebenmonatigen Haftstrafe und 1937 erfolgter Flucht nach Frankreich arbeitete er gemeinsam mit Fortmüller / Bertholet am Aufbau der Éditions Nouvelles Internationales. Die vom ISK im Exil in Paris ins Leben gerufenen Éditions Nouvelles Internationales (E.N.I.) brachten rund 15 Titel in deutscher Sprache heraus, überwiegend Darstellun800 Die Organe gelangten als Schmuggelware teilweise auch nach Deutschland. 801 Sie wurde am 7. April 1937 ins Handelsregister eingetragen, unter dem Namen von Paul Stamfort, eines Parteifreundes von Willi Eichler. Vgl. die Angaben bei Link: Die Geschichte des […] Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK); sowie bei Roussel: Éditeurs et publications, S. 374. ‒ Bereits vor Gründung der E.N.I. hatte der ISK in Paris eine Schrift Sozialistische Wiedergeburt. Gedanken und Vorschläge zur Erneuerung der sozialistischen Arbeit (1934) im Druck herausgebracht. 802 Roussel: Éditeurs et publications, S. 374. – Der 1933 gemeinsam mit seiner Ehefrau Hertha emigrierte Rechtsanwalt Erich Lewinski, ISK-Mitglied, betrieb in Paris das Restaurant Végétarien des Boulevards (d’aprés Bircher-Benner) 28 Boulevard Poissonniére, das auch von vielen Emigranten besucht wurde. Die mit dem Lokal erwirtschafteten Überschüsse dienten der Finanzierung des politischen Widerstandes im Exil. Lewinskis Schwester Eva leitete in den Jahren 1938/1939 den Pariser Ortsverein des ISK. Vgl. dazu Deringer: Die drei Exile des Erich Lewinski, S. 103‒108. 803 Eichler flüchtete im Januar 1939 nach London, wo er sich schließlich wieder der SPD zuwandte; nach 1945 spielte er eine nicht unbedeutende Rolle beim Wiederaufbau der SPD in Deutschland, u. a. bei der Ausarbeitung des Godesberger Programms. Vgl. hierzu LemkeMüller: Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. 804 Siehe Willi Eichler: [Nachruf auf H. Bertholet]. In: Geist und Tat, H. 3, 1970. 805 Vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 102, 119; Paul Bonart: But we said »No«. Voices from the German Underground. San Francisco: M. Backman Productions 2007, S. 73‒76, 192 f. 806 Als einer der Führer der illegalen ISK-Arbeit war er seit 1934 an der Organisation einer Widerstandsbewegung beteiligt, hielt aber den privat weitergeführten Verlag aus der Untergrundarbeit heraus.
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gen zu den politischen Verhältnissen in Deutschland und zu Fragen der internationalen Politik. Aus dem Buchprogramm ragen Bücher von Otto Lehmann-Rußbüldt 807 (Landesverteidigung ohne Profit, 1937; Neues Deutschtum, 1939), Anna Siemsen (Spanisches Bilderbuch, 1937; als Herausgeberin: Preussen. Die Gefahr Europas, 1937), Kurt Hiller (Profile. Prosa aus einem Jahrzehnt, 1938)808 oder Alfred Kerr (Melodien. Gedichte, 1938) heraus. Prägend für das Profil des Verlags, speziell für den Schwerpunkt Deutschland- und Europa-Politik, waren aber auch die – zum Schutz der Autoren häufig pseudonym erschienenen – Werke von Ernst Sachse (Deutsche Sozialversicherung 1933‒36. Tatsachen und Zahlen, 1937), Klaus Bühler (d. i. Richard Kleineibst: Englands Schatten über Europa. 300 Jahre englische Aussenpolitik, 1938), Kurt K. Doberer (Die unbekannte Waffe. Möglichkeiten und Grenzen, 1938), Max Herb (d. i. Eugen Brehm: Südosteuropa. Form und Forderung, 1938) und Georg Wieser (d. i. Otto Leichter: Ein Staat stirbt. Oesterreich 1933‒1938, 1939). Positionen des Sozialismus, insbesondere des vom ISK vertretenen »Ethischen Sozialismus«, wurden bezogen mit Publikationen wie Leonard Nelson. Ein Bild seines Lebens und Wirkens. Aus seinem Werk zusammengefügt und erläutert von Willi Eichler und Martin Hart in Gemeinschaft mit anderen Freunden (1938), aber auch bei Paul Frölich (Rosa Luxemburg, 1939) oder Wilhelm Herzog (Hymnen und Pamphlete: 30 Jahre Arbeiter und Kampf, 1939). Als letzter Band, mit der Jahreszahl 1940 im Impressum, erschien in den Pariser E.N.I. mit einem Vorwort von Rudolf Olden die Anklage von Irmgard Litten Die Hölle sieht dich an. Der Fall Litten, in welcher die Mutter des »Anwalts des Proletariats« Hans Litten, der u. a. in einem Prozess Hitler als Zeugen lächerlich gemacht hatte und nach der »Machtergreifung« sofort verhaftet und immer wieder, bis zu seinem Suizid im KZ Dachau 1938, gefoltert worden war, die Weltöffentlichkeit auf das Schicksal ihres Sohnes aufmerksam machen wollte.809 Neben dem Buchprogramm brachte die E.N.I. auch die bereits erwähnte Zeitschrift Sozialistische Warte (»Blätter für kritisch-aktiven Sozialismus«) heraus (bis Mai 1940). Eine besondere Bedeutung gewann der Verlag durch die Herausgabe der seit Frühjahr 1938 dreimal im Jahr erscheinenden Revue Das Buch. Zeitschrift für unabhängige deut-
807 Von dem politischen Publizisten und Pazifisten Lehmann-Rußbüldt (als dem NS-Regime verhasster Rüstungskritiker befand sich sein Name auf der ersten Ausbürgerungsliste am 23. August 1933) erschien 1935 bei Allen & Unwin in London ein englischsprachiger Titel Germanys Air Force, mit einer Einleitung von Henry Wickham Steed. Unwin berichtete dazu, es sei ihm, obwohl das Buch die von Hitler betriebene geheime Wiederaufrüstung Deutschlands in allen Einzelheiten schilderte, trotz größter Bemühungen nicht gelungen, in Großbritannien dieser Warnung Gehör zu verschaffen: »Die damalige Regierung glaubte Hitlers Versicherung, das ganze Buch sei erlogen. Heute wissen wir, daß, wovon ich damals schon überzeugt war, alle Angaben darin auf Wahrheit beruhten.« (Unwin: Ein Verleger erzählt, S. 157). 808 Bemerkenswert auch eine Publikation Kurt Hillers: Der Unnennbare. Verse 1918–1937. Peking: Yangschudau-Werkstatt 1938 [Privatdruck; Blockbuch]. 809 Irmgard Littens Buch ist nachfolgend noch in zahlreichen Ausgaben erschienen, in der Exilzeit etwa in einer englischsprachigen Ausgabe bei Allen & Unwin (A Mother Fights Hitler, London 1940), und nach dem Krieg mehrfach bis herauf in neueste Zeit (Eine Mutter kämpft gegen Hitler, mit einem Nachwort von Heribert Prantl. Cadolzburg: ars vivendi 2017).
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Abb. 29: Otto Leichter, prominenter österreichischer Sozialist, hatte die Februarkämpfe 1934, den Widerstand in der Illegalität und den »Anschluss« im März 1938 aus nächster Nähe miterlebt und eine der ersten kritischen Chroniken dazu vorgelegt.
sche Literatur, die eine fortlaufende Bibliographie der im Exil erscheinenden Publikationen brachte, ergänzt durch Ausschnitte aus noch nicht veröffentlichten Manuskripten. Bis März 1940 erschienen sieben Hefte.810 Die E.N.I. suchten ihre Tätigkeit auch nach Kriegsbeginn möglichst lange, bis in das Jahr 1940 hinein, fortzusetzen. Allerdings war Erich Irmer bereits Ende 1939 in ein französisches Internierungslager gekommen; er nutzte dann eine Gelegenheit, um sich nach England abzusetzen und dort als Führungsmitglied der ISK-Gruppe London politisch aktiv zu werden, bis er als »enemy alien« eingestuft und in ein Lager nach Australien verschickt wurde.811 Hanna Bertholet führte vorerst die Verlagsarbeit weiter und flüchtete erst nach der Besetzung Frankreichs; sie überdauerte die Jahre des Exils in der Schweiz, der Heimat ihres Mannes René Bertholet, eines Journalisten, und koordinierte von dort aus gemeinsam mit ihrem Mann das ISK-Nachrichtennetz.812 810 Roussel: Éditeurs et publication, S. 374 f. Näheres dazu in Kap. 5.1: Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation. 811 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 kehrte Irmer, der inzwischen die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, als Angehöriger der britischen Armee nach Deutschland zurück, um dort an der Entnazifizierung mitzuwirken. Danach ging er nach Australien zurück, änderte seinen Namen in Eric Innis und war als Sozialarbeiter tätig. 812 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs spielte Hanna Bertholet eine zentrale Rolle bei Entstehung und Aufbau der Europäischen Verlagsanstalt (EVA). Siehe dazu: Mit Lizenz. Geschichte der Europäischen Verlagsanstalt 1946‒1996, S. 25‒72; Näheres dazu im Kap. 8.1 Das Nachleben des Exils in Deutschland.
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Politische Kleinverlage in Frankreich Neben die Verlage, die von politischen Parteien oder größeren politischen Gruppierungen getragen wurden, trat im politischen »Mikrokosmos« des französischen Exils auch eine Vielzahl von Splitterparteien, Komitees und Organisationen, die in Summe eine rege Publikationstätigkeit entfalteten und mit Aufrufen, Dokumentationen oder politischer Agitationsliteratur ihren Beitrag zum antifaschistischen Kampf und zur Beseitigung der Hitlerdiktatur leisten wollten. Viele dieser Organisationen waren international verankert oder wollten doch – zur Erhöhung der propagandistischen Wirkung – wenigstens als solche wahrgenommen werden; in nicht wenigen Fällen kam es daher zu mehrsprachigen Publikationen bzw. Ausgaben in mehreren Sprachen. Erscheinungsort für die im Folgenden genannten Veröffentlichungen war aber in jedem Fall Paris bzw. ein Ort in Frankreich. Als Beispiel für eine Splitterpartei können genannt werden die Deutschen AnarchoSyndikalisten (D.A.S.), eine relativ kleine Gruppe, die bereits vor 1937 existierte, aber erst in diesem Jahr mit einer größeren Veröffentlichung hervortrat: Schwarz-Rot-Buch. Dokumente über den Hitlerimperialismus in Spanien. Publiziert wurde die Dokumentation zum Spanischen Bürgerkrieg unter dem Verlagsnamen »Asy-Verlag Barcelona Paris«, wobei sich »Asy« aus der Zusammenziehung von A-narcho-Sy-ndikalisten ergab. Zusammen mit den spanischen Anarchosyndikalisten der CNT und FAI brachten sie als »Informationsdienst« 1936‒1938 in Barcelona / Paris auch ein wöchentliches Boletín de informacíon heraus. Nicht als Splitterpartei anzusprechen, aber in ihrem publizistischen Aktionsradius beschränkt war die Auslandsvertretung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Sie hatte ihren Sitz ja die längste Zeit in Prag und brachte in ihrem Verlag Zeitschriften wie die Neue Front / Front Nouveau oder die Marxistische Tribüne. Diskussionsblätter für Arbeiterpolitik heraus, an Broschüren u. a. Deutschland am Hakenkreuz. Dokumente des Hunnenfaschismus (mit einer Titelholzschnittillustration von Trapp), mit Paris als Verlagsort erschienen ist aber Otto Erbe (d. i. Klaus Zweiling): Der Sieg des Faschismus in Deutschland und die Aufgaben der Arbeiterklasse. Bedeutender und meist auch publizistisch produktiver waren die Organisationen, die sich auf Initiative von Willi Münzenberg oder in seinem Einflussbereich bildeten. Dazu gehörte das Welthilfskomitee für die Opfer des Hitlerfaschismus, das sich bereits 1933 mit Lord Marley als Präsidenten, Albert Einstein und Paul Langevin als Ehrenpräsidenten sowie Dorothy Woodman als Sekretärin konstituierte. Das Welthilfskomitee übernahm eine Art Patronage über das legendäre Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror, Woodman fungierte bei zwei Carrefour-Titeln als Aushängeschild und »Strohmann« für Publikationen des kommunistischen Rüstungsexperten Albert Schreiner. 1934 kam unter der Verlegerschaft des Komitees die Broschüre Ein Jahr Hilfskomitee für die Opfer des Hitlerfaschismus 1933‒1934 heraus. Das ebenfalls 1933 gegründete Internationale Befreiungskomitee für Thaelmann und alle eingekerkerten Antifaschisten brachte im Zuge seiner Aktivitäten eine Reihe von Broschüren heraus, wie Das Gewissen der Welt wacht über Thälmann’s Leben (1936), Für Hitler oder Thälmann? Für Krieg oder Frieden? (Paris: Imp. Coop, Etoile 1935; Herausgeber war wohl Michael Tschesno-Hell), Die Welt im Kampf für Thälmann. Vorwort von Wilhelm Pieck (1936) u. a. m.
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In die Zeit vor 1933 reicht die Entstehungsgeschichte813 des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus zurück, dem bis zu seinem Tod 1935 Henri Barbusse, danach Heinrich Mann vorstand und in dem als weitere Funktionäre Paul Langevin, Francis Jourdain oder Sir Norman Angell mitwirkten.814 Das Weltkomitee gab mehrere Periodika heraus: Weltfront gegen imperialistischen Krieg und Faschismus (1933 bis November 1935, frz. Ausgabe: Front mondial Mai 1934 ‒ Januar 1935) sowie anschließend: Paix et Liberté (1935‒1939). Weiters erschienen unter dem Impressum »Paris: Weltverlag« einige Broschüren wie Illegal von Paris nach Berlin. Patenschaftsaktion für die Soldaten der sozialen Revolution in Deutschland (1934, gedruckt in Saarbrücken). Das Weltkomitee, das zwar Anhänger unterschiedlicher politischer Richtungen vereinte, aber doch im Wesentlichen kommunistisch gesteuert wurde, engagierte sich auch im Kampf um die Rettung des früheren KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, u. a. durch die Publikation entsprechender Aufrufe des Komintern-Sekretärs Georgi Dimitroff (Auf zur Rettung Thaelmanns! auch u. d. T. Wie kann Ernst Thälmann gerettet werden? in den Éditions Prométhée in Strasbourg erschienen). Gelegentlich fungierten auch die Éditions du Carrefour als Verlag des Weltkomitees, so 1936 bei einer Broschürenserie, die zunächst in französischer Sprache, aber für eine Übersetzung ins Deutsche gedacht, unter dem Titel Schriftenreihe über Strategie und Taktik im Kampf gegen Krieg und Faschismus erschien; davon sind drei Titel nachweisbar. Auch die französische Sektion der »Roten Hilfe« (Secours Rouge), Herausgeberin der Zeitschrift La Défense, brachte einige Broschüren heraus, die der deutschen Emigration zugerechnet werden können, darunter die Schrift des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Ludwig Der Reichstagsbrand. Ursachen, Wirkungen, Zusammenhänge, mit einem Vorwort von Marcel Cachin (1933). Thematisch bezogen sich einige französische Broschüren auf Opfer des Faschismus, wie Erich Mühsam oder Koloman Wallisch (Österreich). Offenbar waren an die Secours Rouge auch die Éditions Universelles angeschlossen, die 1936‒1938 eine Zeitschrift Unité pour l’aide et la défense. Revue mensuelle du mouvement de la solidarité, in deutscher Ausgabe Einheit für Hilfe und Verteidigung. Zeitschrift der internationalen Solidaritätsbewegung herausgab. Es handelte sich über weite Strecken um ein kommunistisch kontrolliertes Organ der Volksfrontbewegung. Darüber hinaus haben die Éditions Universelles zwischen 1936 und 1938 eine Serie von Broschüren herausgebracht, die sowohl in französischer wie in deutscher Sprache erschienen, darunter 1936 von N. Baker Olympiade in Berlin?, Martha Berg-Andrée[!] Edgar André, mein Mann und Kampfgenosse, Fritz Beyer Das Haus in der Sonne, Bruno Frei Was geht in Deutschland vor? und Harry Olten Weltappell für Asylrecht. Zur Pari-
813 Ausgangspunkt war der von Münzenberg im August 1932 in Amsterdam für 2.000 Delegierte aus 27 Ländern organisierten Weltkongreß gegen den imperialistischen Krieg / World Congress Against Imperialist War, auf dem ein World Committee against Imperialist War gegründet wurde. Im Anschluss an den im Juni 1933 in der Salle Pleyel in Paris abgehaltenen European Anti-Fascist Workers’ Congress erfolgte eine Zusammenarbeit dieser antifaschistischen Kräfte in der sogen. »Amsterdam-Pleyel-Bewegung«, die sich im August 1933 in der Errichtung des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus manifestierte. 814 Sekretär war zunächst Alfred Kurella, bis zu seinem Weggang nach Moskau 1934.
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ser internationalen Asylrechtkonferenz vom 20.‒21. Juni 1936. 1937 kam heraus von Leo Lambert Der Völkerbund und die politischen Flüchtlinge, 1938 Hitlers Geisel, mit einem Vorwort von Romain Rolland und schließlich 1939 von Wilhelm Pieck Deutschland unter dem Hitlerfaschismus. Wie lange noch? Insgesamt erschienen in den Éditions Universelles zwölf Titel sowie sieben Übersetzungen ins Französische.815 Die Zentralstelle für die Weltvereinigung »Die Menschheit durch den Frieden« (identisch mit R.U.P., Rassemblement pour la Paix) veröffentlichte die Broschüre Die Völker antworten: Ja! Weltfriedenskongress 1936, der Überparteiliche Deutsche Hilfsausschuß, dem Anna Siemsen, E. J. Gumbel, Heinrich Mann angehörten, publizierte 1937 Heinrich Manns Rede »Hilfe für die Opfer des Faschismus«. Roussel fasst in ihrer Dokumentation eine Reihe kleinerer Vereinigungen in der Rubrik »Organisations syndicales ou culturelles, associations religieuses, fédérations d’émigrés« zusammen816 und nennt dort den Internationalen Gewerkschaftsbund als Herausgeber einer sechssprachigen Broschüre Nie wieder Krieg (1934). Unter der Herausgeberschaft des Comité des Délégations Juives erschien 1934 anonym Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933, zusammengestellt und redigiert von Rudolf Olden. Der Deutsche Klub, eine Vereinigung von Demokraten im Pariser Exil, war ein wichtiger Treffpunkt für deutsche Emigranten. Er organisierte verschiedene Konferenzen, aber auch Tanz- und Freundschaftsabende, und publizierte einen juristischen Führer Du und dein Recht in Frankreich. ABC des französischen Rechts für Ausländer nach der neuesten Gesetzgebung und Rechtsprechung. ABC du droit francais pour les étrangers. Verfasser des Ratgebers waren Ernst Fraenkel, Carl Hirsch und Botho Laserstein. Das Centre de Documentation, Strasbourg brachte heraus Der deutsche Bauer unterm Hakenkreuz (1938). Das Internationale Zentrum für Recht und Freiheit in Deutschland, gegründet auf der in Paris im November 1937 auf Initiative des Thälmann-Komitees abgehaltenen Conférence européenne pour le droit et la liberté en Allemagne, veröffentlichte 1939 die Schrift Nazibastille Dachau. Schicksal und Heldentum deutscher Freiheitskämpfer. Publizistisch aktiv war auch das Deutsche Kulturkartell, ein 1938 erfolgter Zusammenschluss mehrerer Organisationen der Pariser Emigration (SDS im Exil, FreierKünstler-Bund, Verband deutscher Journalisten in der Emigration, Vereinigung deutscher Bühnenangehöriger, Freie Deutsche Hochschule), als dessen Präsident der Maler Eugen Spiro fungierte. Rund ein Jahr lang erschien unter der Herausgeberschaft von Paul Westheim das monatliche Bulletin Freie Kunst und Literatur (Nr. 1, September 1938 – Nr. 9, September 1939; das 150jährige Jubiläum der Französischen Revolution beging das Kulturkartell im Juni 1939 mit der Schrift Deutsche Stimmen zu 1789, 1939, gesammelt vom Deutschen Kulturkartell Paris, mit einem Vorwort von Heinrich Mann. Von den Gelegenheitspublikationen einzelner Exil(naher)-Vereinigungen in Paris wäre noch manches mehr zu nennen, angefangen von dem bereits 1933 von dem vom Völkerbund unterstützten Institut de Coopération Intellectuelle / Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit publizierten Briefwechsel Albert Einstein und Sigmund Freud: Warum Krieg ? / Pourquoi la Guerre?, erschienen in drei Sprachen (dt., fr., engl.),
815 So Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 93. 816 Roussel: Éditeurs et publications, S. 380.
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bis zu der 1940 von der Vereinigung der österreichischen Emigranten erstellten Broschüre Die Interessenvertretung der österreichischen Emigration. Aufbau, Entwicklung und Aktivität der Zentralvereinigung österreichischer Emigranten. Darüber hinaus gab es auch Zeitungen und Zeitschriften, die sich gelegentlich buchverlegerisch betätigten,817 so das Pariser Tageblatt, das mit einer unter dem Pseudonym Manuel Humbert veröffentlichten politischen Analyse des Redakteurs Kurt Caro Adolf Hitlers »Mein Kampf«. Dichtung und Wahrheit hervortrat. In dem mit einem Vorwort von Heinrich Mann versehenen Buch setzte sich Caro insbesondere kritisch mit der NS-Rassentheorie auseinander. Im Verlag der Pariser Tageszeitung erschien 1939 ein von Carl Misch zusammengestelltes Gesamtverzeichnis der Ausbürgerungslisten 1933‒1938. Die Zeitschrift Neue Front brachte 1934 Die Internationale Situation der Proletarierjugend nach der deutschen Niederlage heraus, das trotzkistische Organ der »Internationalen Kommunisten Deutschlands« Unser Wort publizierte 1936 Trotzkis Schrift Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, während Europa, Wochenzeitung für Tat und Freiheit, eine Gründung junger Linkskatholiken aus Deutschland und Frankreich, 1936 in einer wohl ad hoc gegründeten Société dʼÉditions Européennes die pseudonyme Schrift eines Miles Ecclesiae mit dem Titel Hitler gegen Christus. Eine katholische Klarstellung und Abwehr veröffentlichte, der eine Liste eingekerkerter und verurteilter Katholiken in Deutschland beigegeben war. Zwei Presseorgane im Elsass taten sich zusammen, der Service de Presse indépendant Strasbourg-Cronenbourg und La République, um Berthold Jacobs Enthüllungsschrift Wer? Aus dem Arsenal der Reichstagsbrandstifter (1934) herauszubringen; eine weitere solche Schrift desselben Autors Die Hindenburg-Legende erschien zunächst im Verlag von La République, 1935 dann im Sebastian Brant-Verlag. Nach 1938 trugen auch die Zeitschriften der österreichischen Emigration zur Exilpublizistik bei, u. a. die Nouvelles d’Autriche, das wichtigste Organ der österreichischen Emigranten, das 1939 mit L’Anschluss: Oesterreich unter dem Reichskommissar die »Bilanz eines Jahres Fremdherrschaft« vorlegte. Der sozialistische Kampf brachte 1939 posthum Otto Bauers Die illegale Partei (Aus dem unveröffentlichten Nachlass) (Bauer war im November 1938 in Paris verstorben) heraus und im gleichen Jahr unter dem Pseudonym »Gustav Richter« Joseph Buttingers Probleme und Aufgaben der österreichischen sozialistischen Emigration. Darüber hinaus publizierten auch französische Verlage, Druckereien und Buchhandlungen Bücher deutscher Emigranten, zum Teil als Akt direkter politischer Solidarität. Hélène Roussel 818 nennt hierfür eine Reihe von Beispielen, darunter das Bureau d’Éditions der Kommunistischen Partei Frankreichs, das 1938 eine Internationale Bücherschau / Revue Internationale du Livre sowie eine Reihe von Broschüren in französischer Sprache herausbrachte. Nichts weiter bekannt ist über eine Édition Combat, die 1934 Theodor Balks Ein Gespenst geht um. Mit einer Einleitung von Egon Erwin Kisch druckte. Die Druckerei »Coopérative Etoile«, die als eine der wenigen auch Typographen mit deutschen Sprachkenntnissen beschäftigte, druckte zahlreiche Titel von Carrefour,
817 Vgl. Roussel, S. 382: »Journeaux et revues ayant édité éxcéptionellement des livres et brochures«. 818 Vgl. zum Folgenden Roussel, S. 394‒397.
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Prométhée und den Editions Universelles sowie zeitweise (1934/1935) auch den GegenAngriff, 1939 die Deutsche Volks-Zeitung und die diversen Veröffentlichungen der Deutschen Freiheitsbibliothek. Nicht zuletzt waren dort aber auch einige der heimlich nach Deutschland geschmuggelten Tarnschriften entstanden, wie Brechts Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, die camoufliert als Satzungen des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller (RDS) in Umlauf gebracht wurden. Zu diesen gehörte sehr wahrscheinlich (es gab begreiflicherweise in solchen Schriften keinen Druckvermerk) auch das bekannteste Beispiel, die Anthologie Deutsch für Deutsche des SDS im Exil und der Deutschen Freiheitsbibliothek. Der Verlag (mit Druckerei) Alsatia in Colmar brachte 1937 zwei Bände des als Widerständler hervorgetretenen Jesuitenpaters Friedrich Muckermann heraus Revolution der Herzen und Es spricht die spanische Seele … Neue Dokumente (zum Spanischen Bürgerkrieg). Die der rechtsgerichteten »Action française« nahestehenden Nouvelles Éditions Latines (die 1934 eine französische Ausgabe von Hitlers Mein Kampf herausgebracht hatten: Mon combat, 2. Aufl. 1938), veröffentlichten 1934 überraschenderweise auch zwei kleine Bücher von Botho Laserstein Justizmord an Catilina, Vorbilder für Hitlers Sturz sowie Cicero der Narr und Catilina der Revolutionär, Geschichtslügen und Provokationen der Unterdrückerklassen. Ein Führer durch das französische Recht von Silvio Bodländer Der Deutsche in Frankreich erschien 1934 in den Éditions Excelsior, ebenso von Max Raphael Zur Erkenntnistheorie der konkreten Dialektik.819 Weitere Beispiele sind die Société d’Édition de la Basse Alsace mit Josef-Matthias Goergens Das Saarexperiment des Völkerbundes (1934), die Librairie Lipschutz mit der mehrsprachigen Veröffentlichung von Cassie Michaelis, Heinz Michaelis, W. O. Somin Der braune Hass. La haine brune. The brown hate (1934) oder die Edition Lucien Vannier mit Max Seydewitzʼ Hakenkreuz über Europa (1939). In Strasbourg brachte die Librairie de la Mésange 1934 Hermann Wendels Jugenderinnerungen eines Metzgers heraus, und die schon mehrfach erwähnte kommunistische Pariser Buchhandlung und Buchimportfirma C. Mayer et Cie. publizierte 1938 die Erstausgabe des nach 1945 vielfach gespielten und auch verfilmten Schauspiels Haben von Julius Hay; das Buch wurde in der UdSSR gedruckt und ist dort im selben Jahr auch bei der VEGAAR erschienen. Als einen zweiten Verlagsort hat der 1933 von Berlin nach Zürich verlegte Mopr-Verlag – der Verlag der Internationalen Roten Hilfe – auch Paris angegeben, deshalb sei hier der 1933 erschienene Titel Angeklagter Hitler: Protokolle, Augenzeugen und Tatsachenberichte aus den Faschisten-Folterhöllen Deutschlands erwähnt, eine allerdings nur 16 Seiten starke Broschüre. Wie im belletristischen Bereich gab es auch im Feld des politischen Buches – nicht nur in Frankreich – schriftstellerischen Selbstverlag. Roussel 820 nennt als Beispiele u. a. Siegfried Marck, der seine Schrift Freiheitlicher Sozialismus unter der Herausgeberschaft des Bundes Freiheitlicher Sozialisten 1936 in Dijon drucken ließ. Ein anderes Beispiel ist Curt Geyer mit Die Partei der Freiheit, erschienen 1939 in Paris in der Schriftenreihe der Verlagsanstalt Graphia, de facto aber im Selbstverlag. Der Graphia Verlag war 1933‒1939 der sozialdemokratische Parteiverlag in Prag, aber in diesem Fall
819 Roussel, S. 395 f. 820 Roussel: Editeurs et publications, S. 390: »Les éditions à compte d’auteur«.
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eines Selbstverlags konnten Ort und Druckerei vom Autor selbst bestimmt werden. Eine Besonderheit stellt ein Buch dar, das zweimal erschienen ist, jeweils als Privatdruck, aber in unterschiedlicher Form. Es handelte sich einmal um den Titel Joseph Bloch Revolution der Weltpolitik. Vermächtnis. In Zusammenarbeit mit Joseph Bloch von Felix Stössinger [Prag: Helene Bloch 1938], Privatdruck. Bei dem zweiten Druck stand dann im Titel In Zusammenarbeit mit Joseph Bloch von Felix Stössinger niedergeschrieben.821 Der hochdekorierte Marineoffizier Helmuth Klotz gab in Paris mehrere Werke im Selbstverlag heraus. Er stellt als Exilant einen Sonderfall dar, insofern er am NaziPutsch 1923 teilgenommen und in Landsberg in Festungshaft gesessen, sich dann aber von der NSDAP ab- und der Sozialdemokratie zugewandt hatte. 1932 veröffentlichte er kompromittierende Briefe von SA-Führer Röhm, die dessen Homosexualität dokumentierten (Der Fall Röhm, in einer Auflage von 300.000 erschienen und systematisch an Meinungsführer in der Republik verschickt), so dass Klotz nach der NS-»Machtergreifung« sofort nach Paris flüchten musste, wo er die französische Staatsbürgerschaft annahm und u. a. in Münzenbergs Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus mitarbeitete; seit 1939 war er auch als Berater des französischen Kriegsministeriums tätig. 1937 brachte er in Paris heraus Der neue deutsche Krieg. Mit 5 Skizzen, 6 Schemata, 7 Diagrammen vom Verf. (auch in frz. Sprache erschienen), weiters Les lecons militaires de la guerre en Espagne, 1938 auch in einer deutschsprachigen Fassung unter dem Titel Militärische Lehren des Bürgerkriegs in Spanien. Mit 9 Skizzen und Schemas vom Verfasser und 26 Original-Photographien, alles dies im Selbstverlag. 1940 wurde Klotz in Paris von der Gestapo verhaftet und verhört, dann in das KZ Sachsenhausen verbracht und schließlich vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt; 1943 wurde er in BerlinPlötzensee hingerichtet.822
Tschechoslowakei Die Graphia Druck- und Verlagsanstalt, Karlsbad Besondere Bedeutung gewann das Asylland Tschechoslowakei durch die politische Emigration: Insbesondere die deutsche und seit 1934 auch die österreichische Sozialdemokratie hatten ihre Parteivorstände nach Prag verlegt,823 und mit ihnen hatten sich auch Parteiverlage sowie einige parteinahe Verlage dort niedergelassen. Aufgrund bestehender Verbindungen konnten diese Verlage die Ansiedlungshürden leichter überwinden als Privatverlage (wie etwa der Malik-Verlag). So hatte sich der Vorstand der SPD bereits
821 Zu dieser Version gibt es einen Brief von Helene Bloch vom 15. Juni 1953 an die Deutsche Bibliothek, in welchem die Witwe Joseph Blochs mitteilt: »Herr Felix Stössinger hat widerrechtlich aus meinem 1938 von mir in Prag herausgegebenen Werk […] meine Einleitung entfernt, sie durch die seinige ersetzt, das Titelblatt verändert und das von mir herausgegebene Exemplar als das seinige verkauft […].« In dem Exemplar der Deutschen Bibliothek hat Helene Bloch durch Zusätze und Streichungen den ursprünglichen Text wiederhergestellt. Vgl. Deutsches Exilarchiv 1933‒1945. Katalog der Bücher und Broschüren, S. 54. 822 Vgl. dazu auch Wessel: Münzenbergs Ende, S. 362, Anm. 24. 823 Mehringer: Sozialdemokraten.
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im Herbst 1932 – als sich mit der Notverordnungspolitik der Regierung Papen bereits eine Gefährdung der Pressefreiheit abzeichnete – in der ČSR als einem möglichen Zufluchtsort umgesehen und dort mit dem besonders leistungsfähigen Druckereiunternehmen Graphia in Karlsbad über die Herausgabe einer Zeitung verhandelt. Als nach der NS-Machtergreifung und dem Verbot der linken Parteien und Gewerkschaften die Auslandsleitung der Sopade (wie sie sich im Exil nannte) nach Prag verlegt wurde, entstand genau die Situation, auf die man sich vorbereitet hatte: es ging um den Wiederaufbau von Publikationsplattformen. In Verbindung mit der parteieigenen Graphia Druckerei, die bisher die Zeitung der sudetendeutschen Sozialdemokraten Volkswille hergestellt hatte, wurde nun ein neuer Graphia Verlag gegründet und Arthur Müller* (1891–1940?), Sekretär des Parteivorstands und vor 1933 Verlagsdirektor des Berliner Vorwärts, als Geschäftsführer eingesetzt.824 Diese Funktion übte Müller bis 1935 aus,825 ihm folgte Fritz Heine* (1904–2002). Im »Exilverlag der reichsdeutschen Sozialdemokratie« wurden Zeitschriften und Bücher, aber auch Propagandamaterial für den illegalen Einsatz in Hitlerdeutschland hergestellt. Als erste Publikation erschien Ende Juni 1933 (bis Mai 1938) als Fortführung des angestammten Zentralorgans und als Organ des Parteivorstands die Wochenzeitung Neuer Vorwärts unter der Redaktion von Friedrich Stampfer; mit der von Rudolf Hilferding redigierten Zeitschrift für Sozialismus (Monatsschrift, 1933–1936)826 stand den exilierten Parteifreunden auch eine Plattform für Theoriedebatten zur Verfügung; für die illegale Verbreitung im Dritten Reich war die Wochenzeitung Sozialistische Aktion (1933–1938) gedacht. Die aus Tarnausgaben des Neuen Vorwärts hervorgegangene, von P. Hertz redigierte Zeitschrift soll, auf acht Seiten in winzig kleinen Typen gesetzt, nebst anderen Tarnschriften im ersten Jahr in rund 2 Millionen Exemplaren nach Deutschland hineingeschmuggelt worden sein.827 Im Buchverlag der Graphia kamen rund 40 Bücher und Broschüren heraus,828 hauptsächlich zeitgeschichtliche Literatur und politisch-dokumentarische Schriften. Dass es damals in der deutschen Sozialdemokratie unterschiedliche Auffassungen über die Lage in Deutschland und den sich daraus ergebenden strategischen Kurs gab, spiegelte sich auch im Publikationswesen der Partei, etwa in der kurz nach Verlagsgründung etablier-
824 Jürgen Schebera: Verlagsanstalt (auch: Druck- und Verlagsanstalt) »Graphia« Karlsbad (VAG). In: Lexikon sozialistischer Literatur, S. 485‒487. 825 Als Müller sich der politisch rivalisierenden Gruppe »Neu Beginnen« zuwandte, übernahm Heine, Sekretär für Verlags- und Propagandafragen im Parteivorstand der Sopade, die Leitung der Graphia Druck- und Verlagsanstalt. Nach Müllers Weggang sank die Produktivität des Verlags deutlich ab. Im Herbst 1937 übersiedelte Heine mit dem Neuen Vorwärts nach Paris. 826 Die Zeitschrift hatte einen Rezensionsteil, der u. a. auch Kritiken zu den wichtigsten Neuerscheinungen der deutschen Exilverlage brachte, so in Nr. 33 die Sammelrezension von Fritz Brügel Bücher gegen die Barbarei. 827 Näheres dazu: Franz Osterroth / Dieter Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2: Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl., Berlin: Dietz 1980 (Stichtag: 18. Juni 1933), (http://library.fes.de/fulltext/biblio thek/chronik/band2/e235f1105.html). 828 Vgl. hierzu die Übersicht über die Verlagsproduktion bei Hall: Böhmische Verlagsgeschichte [online].
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Abb. 30: Am Verlagsverzeichnis der Verlagsanstalt »Graphia« in Prag fällt nicht nur das kämpferische Signet in die Augen, sondern auch der als Ehrentitel betrachtete Hinweis, dass sämtliche Publikationen des Verlags im Dritten Reich offiziell verboten sind.
ten »sozialdemokratischen Schriftenreihe« Probleme des Sozialismus, in der als Heft 1 im Juli 1933 in 15.000 Exemplaren die programmatische Schrift des Parteivorstands Revolution gegen Hitler. Die historische Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie erschien. Als Heft 2 folgte Neu beginnen, als Manifest einer oppositionellen Gruppe. Danach kamen noch 13 weitere Titel in dieser Reihe heraus, überwiegend Analysen der historischen Entwicklung, wie von Curt Geyer Volk in Ketten. Deutschlands Weg ins Chaos (1934, Nr. 3), Erich Kuttner (unter dem Ps. Justinian) Reichstagsbrand. Wer ist verurteilt? (1934, Nr. 4), Wilhelm Hoegner (anon.) Der Faschismus und die Intellektuellen. Untergang des deutschen Geistes (1934, Nr. 6), Karl Kautsky (anon.) Grenzen der Gewalt. Aussichten und Wirkungen bewaffneter Erhebungen des Proletariats (1934, Nr. 10), Arthur Rosenberg (Ps. Historikus) Der Faschismus als Massenbewegung. Sein Aufstieg und seine Zersetzung (1934, Nr. 12), Franz L. Neumann (Ps. Leopold Franz) Die Gewerkschaften in der Demokratie und in der Diktatur (1935, Nr. 13). Ein anderer Schwerpunkt der Reihe bildete sich mit Berichten aus den Konzentrationslagern aus. Den deutlich größten Erfolg verzeichnete dabei 1934 der Erlebnisbericht des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Gerhart Seger über seine Flucht aus dem KZ Oranienburg (Nr. 5);829 der erste in einer Reihe aufsehenerregender Bücher (wie jene von Hans Beimler, Wolfgang Langhoff oder Karl Billinger), in denen die Weltöffentlichkeit über das brutale Vorgehen des NS-Systems gegen politische Gegner aufgeklärt werden sollte. Das Thema wurde im gleichen Jahr in Nr. 9 noch ein weiteres Mal an die Öffentlichkeit gebracht: Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Ein Buch der Greuel. Die Opfer klagen an. Dachau, Brandenburg, Papenburg, Königstein, Lichtenburg, Colditz [u. a.]. In der Graphia wurden noch zwei weitere Schriftenreihen gegründet: Braunes Deutschland. Bilder aus dem Dritten Reich und Sozialistische Zeit- und Streitfragen. Die erstere fand nach Heft 1 Verse der Emigration (antifaschistische Lyrik von mehr als 30 Autoren, von Brecht bis Walter Mehring, gesammelt von Heinz Wielek, 1935) und Heft 2 Deutsche Flüsterwitze. Das Dritte Reich unterm Brennglas (Gesammelt und eingeleitet von Jörg Willenbacher, Ps. f. Franz Osterroth, 1935) bereits wieder ihr Ende, aber auch in der Broschürenreihe Sozialistische Zeit- und Streitfragen, die theoretischen
829 Gerhart Seger: Oranienburg. Der erste authentische Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten. Mit einem Geleitwort von Heinrich Mann. Karlsbad: Graphia 1934. Der Bericht wurde noch im Erscheinungsjahr in sechs Sprachen übersetzt.
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Erörterungen vorbehalten bleiben sollte, ist nicht mehr als die erste Nummer nachweisbar, Max Adlers Linkssozialismus. Notwendige Betrachtungen über Reformismus und revolutionären Sozialismus (1933). Bedeutende Werke erschienen außerhalb der Schriftenreihen, so Arthur Rosenbergs Geschichte der deutschen Republik (1935), Otto Friedrichs (d. i. Otto Friedlaender) Selbstmord einer Republik (1933) oder vom Chefredakteur des Vorwärts Friedrich Stampfer Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik (1936). Einige Titel waren dem aktuellen Schicksal der österreichischen Sozialdemokratie gewidmet, vor allem von Julius Deutsch Der Bürgerkrieg in Österreich. Eine Darstellung von Mitkämpfern und Augenzeugen (1934, in »Probleme des Sozialismus«, Nr. 8) oder, herausgegeben ebenfalls von Julius Deutsch, aber anonym erschienen, die Dokumente zum Wiener Schutzbundprozeß (1934). Etwas aus dem politischen Sach- und Diskussionsbuchprogramm heraus fielen (neben der Reihe Braunes Deutschland) der Gedichtband von Kurt Doberer Hebt unsere Fahnen in den Wind! Gedichte dieser Zeit (1936), von Friedrich Eckmann (d. i. Lothar Günther) Menschen und Masken. Fälle aus dem Leben eines Staatsanwaltes (1936) sowie Singendes Volk. Volkslieder – Jugendlieder – Kampflieder. Ausgewählt von Franz Orr (d. i. Franz Osterroth, hrsg. von der Zentralstelle für das Bildungswesen, 1938). Die Annexion der Tschechoslowakei setzte im September der Arbeit sowohl der Druckerei wie auch des Verlags Graphia ein Ende. In den hier beschriebenen Zusammenhängen spielte auch der Orbis Verlag eine Rolle, ein tschechoslowakischer Regierungsverlag in Prag, der einzelne Veröffentlichungen exilierter Autoren herausbrachte. Dazu gehörte Aus der Frühzeit des Marxismus. Engels‘ Briefwechsel mit Kautsky. Hrsg. und erläutert von Karl Kautsky, 1935, oder ebenfalls von Karl Kautsky Sozialisten und Krieg. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des Sozialismus von den Hussiten bis zum Völkerbund, 1937. Die mit Abstand bedeutendste Publikation des Orbis Verlags war aber das innerhalb der deutschsprachigen Emigration stark rezipierte, bereits 1933 erschienene politische Sachbuch von Georg Bernhard Die deutsche Tragödie. Der Selbstmord einer Republik. – Zu nennen wäre hier auch der Prager Grunov Verlag, der u. a. eine »Periodische Schriftenreihe der ›Deutschen Revolution‹« herausbrachte, wobei als Nr. 3 eine Broschüre von Otto Strasser (Kommt es zum Krieg?, 1937) erschien. Im Simplicus-Verlag erschien 1934/35 wöchentlich die Satirezeitschrift Simplicus, gleichsam als eine Exilausgabe des berühmten Simplicissimus.830 Als Chefredakteur fungierte der ehemalige Ullstein-Journalist Heinz Pol, aus rechtlichen Gründen verantwortlich zeichnete aber der tschechische Karikaturist František Bidlo. Zu den Mitarbeitern zählten deutsche Emigranten wie Erich Godal, Ludwig Wronkow oder Nikl (d. i. Johannes Wüsten); literarische Beiträge stammten u. a. von prominenten Autoren wie Heinrich Mann, Erika Mann, Alfred Kerr oder Walter Mehring. Die Zeitschrift musste aufgrund zunehmender Beschlagnahmungen Mitte 1935 eingestellt werden.
830 Vom 25. Januar 1934 bis zum 13. September 1934 erschien die Zeitschrift unter dem Titel Simplicus, danach bis zum 4. Juli 1935 unter dem Titel Simpl, jeweils in einer (inhaltlich nicht identischen) deutschen und einer tschechischen Ausgabe. Näheres dazu bei Murray G. Hall: Böhmische Verlagsgeschichte (Simplicus Verlag, Prag) [online].
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Abb. 31: Der Simplicus Verlag brachte auch Bücher heraus, wie Das 3. Reich in der Karikatur, 1934 dreisprachig (dt., engl., frz.) erschienen und zur internationalen Verbreitung bestimmt, auf der Bestellkarte beworben mit einer Hitler-Karikatur von František Bidlo.
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Eugen Prager Verlag, Bratislava (Wien) Eugen Prager* (1894 Budapest – 1967 London) war Anfang 1920 vor dem Horthy-Regime nach Wien geflohen, wo er 1931 an der Gründung des E. Prager Verlags beteiligt war, für den allerdings sein jüngerer Bruder Emmerich Prager* (1902 Budapest – 1945 Lager Köszeg, Ungarn) nominell die Konzession innehatte;831 Eugen Prager dürfte aber die eigentliche Verlagsleitung ausgeübt haben.832 Der Verlag brachte bis 1934 mindestens 26 Bücher heraus, darunter Romane und Erzählungen in einer Reihe »Das Gesicht der Zeit. Eine Bücherfolge für Alle« sowie Übersetzungen aus dem Russischen, Ukrainischen, Jiddischen und Ungarischen. Der Schwerpunkt verlagerte sich aber immer mehr auf gesellschaftskritische und politische Themen und Bücher mit dokumentarischem Charakter; mit Karl Kautskys Studie Neue Programme. Eine kritische Untersuchung (1933) wird auch eine Nähe zur österreichischen Sozialdemokratie sichtbar. Nach der NS-»Machtergreifung« brach für den Verlag E. Prager der deutsche Absatzmarkt ein und speziell mit der Broschüre des exilrussischen Autors B. Irlen (d. i. Boris Sapir) Marx gegen Hitler 1933 schnitt er sich jeglichen Vertrieb nach Deutschland ab. Wegen der Gefahr, aus politischen Gründen an Ungarn ausgeliefert zu werden, emigrierte Prager nach den Februarkämpfen 1934 und dem Verbot der Sozialdemokratie in Österreich nach Prag und leitete von dort aus das in E. Prager Verlag Bratislava Wien Leipzig umfirmierte Unternehmen – die irreführende Ortsangabe sollte zweifellos einen gewissen Schutz vor Verfolgung bieten.833 Autor des ersten Titels des Exilverlages war Julius Deutsch, der Führer des Republikanischen Schutzbundes und Mitbegründer des Auslandsbüros österreichischer Sozialisten, mit dem Buch Kontinent in Gärung. Amerikanische Reisebilder (1935), das in Österreich, wie zu erwarten stand, sofort mit einem Verbreitungsverbot belegt worden ist.834 Prager nahm in der Folge eine wichtige Position in der Publizistik der österreichischen Exil-Sozialisten ein und bildete ein Verbindungsglied zur Sudetendeutschen Sozialdemokratie (DSAP), die als eigenständige Partei in den 1930er Jahren zahlreiche Anhänger hatte. Für diese beiden Programmschwerpunkte stehen beispielhaft Publikationen von Otto Bauer Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus (1936; eine Fortsetzung seiner
831 Vgl. zum Folgenden Bartsch / Schmidt: Die Brüder Emmerich und Eugen Prager und ihre Verlage, hier S. 4‒15. Der Aufsatz von Bartsch / Schmidt, der eine (Auswahl-)Verlagsbibliographie enthält, ist auch zugänglich in Hall: Böhmische Verlagsgeschichte, Eugen Prager Verlag [online]. 832 Zum Verlag vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte I (1985), S. 426; II (1985), S. 290‒ 293 [auch online]. 833 Sein Bruder Emmerich, der in Wien die Konzession für Verlags- und Versandbuchhandel verlängert hatte, sorgte dort, als eine Art Filialbetrieb, für den illegalen Vertrieb der Verlagserzeugnisse in Österreich. Prager konnte sich für diesen illegalen Vertrieb auch der Kanäle bedienen, die von der verbotenen sozialistischen Partei vom Ausland aus aufrecht erhalten wurden. Nach dem »Anschluss« konnte sich Emmerich / Imre Prager nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen; er wurde 1945 in einem ungarischen Lager ermordet. 834 Eugen Prager schrieb am 22. Mai 1935 an Julius Deutsch: »Soeben erfahre ich, dass Ihr Werk: Kontinent in Gärung, in Österreich verboten und beschlagnahmt wurde. Die Polizei hat alle Wiener Buchhandlungen danach durchsucht.« Zit. n. Bartsch / Schmidt: Die Brüder Emmerich und Eugen Prager.
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1931 erschienenen Schrift Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg) oder von Wenzel Jaksch Volk und Arbeiter. Deutschlands europäische Sendung (1936) und Josef Hofbauer Der große alte Mann. Ein Masaryk-Buch (1938). Bei insgesamt klar linker Ausrichtung hielt sich Prager doch fern von Dogmatismus und ideologischer Verengung, Rechtssozialisten kamen hier ebenso zu Wort wie Trotzkismus-Sympathisanten. Eine gewisse Rolle spielten auch jüdische Themen, etwa mit dem gegen Weltverschwörungstheorien gerichteten Buch von Otto Friedrich (d. i. Otto Friedlaender) Weise von Zion. Die Produktion des E. Prager Verlags mit dem fingierten Verlagsort Bratislava umfasste bis 1938 mehr als 20 Bücher. Allein im Jahr 1936 kamen 14 Neuerscheinungen heraus, unter denen sich auch zwei Titel einer neuen Reihe »Bunte Romane für Alle« finden, die ähnlich wie die Wiener Reihe »Das Gesicht der Zeit« linke Trivialliteratur für ein größeres Publikum auf den Buchmarkt zu bringen versuchte. 1937/1938 erschienen nur mehr jeweils drei Titel, darunter der Gedichtband des Anarchisten Hugo Sonnenschein Der Bruder Sonka wandert nach Kalkutta und eine ungarische Übersetzung von Konrad Heidens Hitler-Buch. Jenseits des Verlags, gleichsam hinter den Kulissen, organisierte Prager aber auch mehrere Publikationen im Auftrag der sozialdemokratischen Exilparteileitung, so 1935 die Herstellung und den Vertrieb des von Paula Wallisch verfassten Gedenkbuchs für den standrechtlich zum Tode verurteilten Schutzbündler Koloman Wallisch Ein Held stirbt. Ebenso wurde der Verlag der DSAP-Zeitschrift Der Kampf. Internationale Revue von ihm betreut. Die gesamte Tätigkeit Pragers war somit – vertrieblich und auch finanziell – eng verzahnt mit dem Auslandsbüro österreichischer Sozialisten (ALÖS); dies geht auch aus dem Umstand hervor, dass die von Prager gestellten Rechnungen vom ALÖS bisweilen in Form von Gutschriften beglichen wurden, die er bei der GraphiaDruckerei in Karlsbad einlösen konnte.835 Ebenso wie seine Parteifreunde musste Eugen Prager nach der Abtrennung der Sudetengebiete aus der ČSR flüchten; wohl noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag im März 1939 ging er nach England.
Großbritannien Trotz des offiziellen Verbots einer politischen und damit auch verlegerischen Betätigung war Großbritannien und insbesondere London neben bzw. nach Paris und Prag ein weiteres Zentrum der Exilpolitik: seit 1941 befand sich hier die Zentrale der SOPADE, sekundiert von unterschiedlichen Splittergruppen (Neu Beginnen, ISK, SAP) sowie politischen Gruppierungen auch der sudetendeutschen und österreichischen Sozialdemokratie, dazu kamen pazifistische Kreise und nicht zuletzt die Kommunistische Partei. Jugendorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDI) oder das Free Austrian Movement entwickelten eine rege Publikationstätigkeit.836 In Zeitungen, Zeitschriften und Informationsblättern sorgten zahlreiche Organisationen des politischen Exils für die Repräsentanz des »anderen Deutschland« und erarbeiteten Nachkriegskonzeptionen für das befreite Deutschland bzw. Österreich. Für die politisch engagierten Schriftsteller und
835 Bartsch / Schmidt: Die Brüder Emmerich und Eugen Prager. 836 Vgl. zu diesen vereinzelten Publikationen die über das Verlagsregister auffindbaren bibliographischen Nachweise in den gedruckten Katalogen des Deutschen Exilarchivs.
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Künstler bildete der 1938 auf kommunistische Initiative hin gegründete Freie Deutsche Kulturbund einen Sammelort, zumal er mit seinen Sektionen für Literatur, Theater, Musik, Malerei und Wissenschaft ein breites Angebot bereitstellte. Aufgrund unvermeidlicher politischer Kontroversen kam es zur Abspaltung eines Club 1943, und es entstand, ähnlich wie in Paris, wieder eine überaus zerklüftete Publikationslandschaft, in der schmale Broschüren und Gelegenheitsschrifttum aller Art den Ton angaben. Im Folgenden sollen zunächst einige Beispiele von politisch engagierten, aber privaten und allenfalls parteinahen, aber nicht als Parteiverlage agierenden Unternehmen vorgestellt werden, die ihrem Grundcharakter entsprechend nicht typische »Kaderliteratur« produzierten, sondern das politische Sachbuch pflegten.
Lincolns-Prager Publishers Ltd., London Nach seiner Flucht aus der annektierten ČSR traf Eugen Prager 1939 in Großbritannien auf Paul Fischel (zuvor Julius Kittls Nf., Mährisch Ostrau837) und Kurt L. Maschler,838 mit denen er schon länger bekannt gewesen sein dürfte. Mit deren Unterstützung gründete er 1940, unter dem Vornamen Eugène, einen neuen Verlag, die Lincolns-Prager Publishers Ltd. in London, 3 Kenton Street.839 Den Aufsichtsrat des Unternehmens bildeten neben Eugen Prager noch Vandeleur Robinson, M. W. Blake und Margaret Harper Nelson; zur Exil-Geschäftstätigkeit bemerkte Maschler 1961 in einem Brief an Wilhelm Sternfeld, dass die »Bücher ein gemeinsames ›Geschäft‹ darstellten zwischen Eugen Prager, Dr. Paul Fischel und mir. Wir hatten die Broschüren selbst zu finanzieren und sandten sie auf eigene Rechnung und Gefahr ins Ausland, haben aber nie dafür Geld erhalten, da alle Länder beim Eintreffen der Buecher besetzt waren mit Ausnahme der Schweiz.«840 Das Verlagsprogramm dieser Gemeinschaftsgründung trug deutlich die Handschrift Pragers: Die in den Kriegsjahren erschienenen Titel waren fast ausschließlich politischer Natur, so die beiden Weißbücher Botschafter Henderson berichtet über Hitler, Göring, Ribbentrop sowie Die Wahrheit über die deutschen Konzentrationslager in amtlichen Dokumenten, ferner Hitlers Weg zum Krieg und die Declaration of the Sudeten-German Social-Democrats (alle 1940).841 Prager, der seine Kontakte zu den exilierten DSAPFunktionären zunächst weiterpflegte, gab im Londoner Exil außerdem den Sozialdemokrat, die Halbmonatsschrift der sudetendeutschen Sozialdemokratie, heraus. Eine andere, über 1945 hinaus fruchtbare Zusammenarbeit pflegte der Verlag mit dem Journalisten und späteren Sekretär der von ihm mitbegründeten Sozialistischen Internationale Julius Braunthal, der für den 1940 erschienenen, gemeinsam mit der Labour Party erarbeiteten Band Labour spricht. Die britische Arbeiterpartei über Krieg, Frieden, neues Europa
837 Siehe das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 838 Zum Atrium Verlag siehe das Kap. 5.2.7 Kinder- und Jugendbuchverlage. 839 Woher der Namensteil »Lincolns« kommt, ist ungeklärt. – Vgl. zum Folgenden Bartsch / Schmidt: Die Brüder Emmerich und Eugen Prager, hier S. 15–19. Vgl. ferner Joos: Trustees for the public?, S. 148 f. 840 Hier zit. nach Joos, S. 149. Joos hat für ihre Nachforschungen Archivalien des deutschen Exilarchivs in Frankfurt am Main herangezogen. 841 Zum Programm vgl. Joos, S. 149 sowie den Beitrag von Bartsch / Schmidt mit Auswahlbibliographie der bei Lincolns-Prager erschienenen Titel.
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Übersetzungen und eine Einleitung anfertigte. 1941 erschienen Eugen Lehnhoffs (d. i. Eugen Loewys) Thousand and one Nazi lies und Wenzel Jaksch’ England and the last free Germans. The story of a rescue, 1942 Walter Kolarz’ Stalin und das ewige Russland: Die Wurzeln des Sowjetpatriotismus. Pragers Verbindung zur Exil-Vertretung der sudetendeutschen Sozialdemokraten endete 1942/1943; stattdessen knüpfte er eine solche zur tschechoslowakischen Exilregierung an und brachte, neben Schriften Hubert Ripkas und Edvard Beneš’, 1944 Jan Masaryks Buch Speeking to my country heraus. Ebenfalls 1944 erschien mit W. S. Fabers Hungary’s Alibi ein Werk, das sowohl für die Fortführung jüdischer Themen aus Pragers Zeit in Prag wie auch seine guten Verbindungen zu exilierten Ungarn steht.842 Die klare Ausrichtung auf ein politisches Sachbuchprogramm hinderte aber Lincolns-Prager nicht daran, 1941 Dosio Kofflers Satire Die deutsche Walpurgisnacht mit einem Vorwort von Henry Wickham Steed in deutscher Originalsprache und 1942 in der englischen Übertragung von Graham Rawson zu veröffentlichen (The German witches’ Sabbath: a satire in five scenes): Goethe, Schiller und Nietzsche werden von Mephisto in das Dritte Reich geführt und dort mit dem Missbrauch ihrer Werke in Form von Originalzitaten aus Nazi-Reden konfrontiert. Die in der Nachfolge von Karl Kraus stehende, für den Rundfunk konzipierte Satire wird heute als ein herausragendes Werk der deutschen Exilliteratur bewertet. Eugen Prager war seit Wiener Zeiten mit Stanley Unwin bekannt und knüpfte den Kontakt nach seiner Emigration nach England wieder an; von den vorgeschlagenen Kooperationsprojekten wurde die gemeinsame Publikation von Donald Cowies Allies in Arms realisiert, nicht aber Alfred Kerrs I came to England.843 Nach der britischen Kriegserklärung an Deutschland durften, entsprechend den Bestimmungen des Trading with the Enemy-Acts, deutsche Übersetzungen nur noch unter der Bedingung erscheinen, dass keine Tantiemen oder Gebühren für Urheberrechte nach Deutschland fließen. Von diesen Erschwernissen waren letztlich aber auch deutsche Exilanten betroffen; die Bereitschaft für verlagsübergreifende Kooperationen sank merklich.844 Nach 1945 erweiterte sich das Programmspektrum von Lincolns-Prager, es erschienen Kulturführer, Bildbände, Belletristik, den Schwerpunkt bildeten aber weiterhin Veröffentlichungen zu Osteuropa, Judentum und Sozialdemokratie (darunter ab 1956 das Yearbook of the international socialist labour movement). Das Verlagsunternehmen bestand bis in die 1960er Jahre fort. 842 Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit dem (vorerst ungeklärten) Faktum, dass in den Jahren 1941‒1947 verschiedene Bände aus Upton Sinclairs Romanzyklus Lanny Budd in ungarischer Übersetzung von Gergely unter der Verlagsangabe »Budapest, London: Nova-Lincolns-Prager« erschienen sind. (Für die Jahre 1945‒1947 siehe Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945, die Nrn. 11319, 11320, 11322‒ 11324; bibliographisch sind einige dieser Bände auch bereits für die Jahre 1941‒1945 nachweisbar). Dies deutet auf ein verlegerisches Joint Venture hin; allerdings ist für die Zeit des mit Hitlerdeutschland paktierenden Horthy-Regimes eine Zusammenarbeit Pragers mit einem tatsächlich in Budapest lokalisierten Verlag auszuschließen. 843 Joos: Trustees for the public?, S. 186 f. 844 Joos, S. 187. Zahlungen an deutsche Verlage, die aufgrund früherer Verträge fällig wurden, wurden vom Custodian of Enemy Property des Public Trustee Office verwaltet. Die bei Joos gegebenen Beispiele beziehen sich auf Callwey und Teubner.
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New Europe Publishing Co. Ltd. (Jakob Hegner), London Möglicherweise mehr als Verlagsberater und Buchgestalter denn als Verlagsleiter brachte Jakob Hegner nach seiner Weiterflucht 845 von Österreich nach England bei zwei Verlagen eine Reihe von Büchern heraus. Den Recherchen Judith Joosʼ zufolge publizierte er unter dem Signet des Londoner Verlags Barnard and Westwood drei Titel, Gedichte von Richard Friedenthal Brot und Salz (»Die Ausgabe besorgte Jakob Hegner, Titelholzstich von Hellmuth Weissenborn«, 1943), Albin Stuebsʼ Spanischer Tod (1943) und Toni Sussmanns Buch über Theodor Däubler (Theodor Däubler – ein Requiem, 1943).846 Jedenfalls aber gründete Hegner zusammen mit dem englischen Verleger Frederick Muller in London den Verlag New Europe Publ. Co. und brachte dort neun Titel von Exilautoren heraus, die vorzugsweise geschichtlichen und zeitgeschichtlichen Bezug hatten, so zwei Bücher von Emil Müller-Sturmheim (99,7 %: a plebiscite under Nazi rule, 1942; What to do about Austria?, 1943), ebenfalls zwei Titel von Hans Ebeling (The Caste. The political role of the German general staff between 1918 and 1938, 1945; The German Youth Movement: its past and future, 1945), ferner Bücher von Ignaz Zollschan (Racialism against civilisation, mit einem Vorwort von Aldous Huxley, 1942), von Ernst Sommer (Into exile. The history of the counterreformation in Bohemia (1620‒ 1659), 1943), Karl Kunschke (Night over Czechoslovakia, 1943) u. a. m.847
Schweiz Ring-Verlag Es erscheint bemerkenswert, dass gerade die Schweiz, in der die Fremdenpolitik überaus restriktiv gehandhabt wurde, über längere Zeit ein sicherer Boden für die aus der Sowjetunion gesteuerte kommunistische Verlagsstrategie gewesen ist. Neben der UniversumBücherei in Basel bietet ein Anschauungsbeispiel der Ring-Verlag, der 1933 in Zürich errichtet, aber erst Ende 1937 ins Handelsregister eingetragen wurde. Seine spezifische Konstruktion – als eine westliche Vertriebsagentur für von der VEGAAR in der Sowjetunion gedruckte und verlegte Titel – wurde mit Teilen der Produktion bereits im Kapitel zu den belletristischen Verlagen vorgestellt.848 Dem Kooperationsverhältnis mit der VEGAAR entstammte auch die mit dem Impressum des Ring-Verlags erschienene klassische Parteiliteratur, die teils in wissenschaftlichen Editionen, teils in Volksausgaben herauskam und die 1933/1934 noch dominanten belletristischen Titel verdrängte, bis in den Jahren 1936 bis 1939 fast nur noch einzelne Bände des Briefwechsels zwischen Karl Marx und Friedrich Engels erschienen.
845 In Wien hatte er den Thomas Verlag betrieben. Siehe dazu das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 846 Joos: Trustees for the public?, S. 150. 847 Weitere Titel bei Joos, S. 150, sowie in den Katalogen des Deutschen Exilarchivs 1933‒ 1945 (Frankfurt a. M.) und der Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945 (Leipzig). 848 Im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; dort auch die entsprechenden Literaturhinweise.
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Liste der politischen Publikationen des Ring-Verlags, Zürich, 1933‒1939: 1933: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hrsg. von Friedrich Engels. Besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau, 3. Bd., 1. Teil, Buch III: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion (Volksausgabe); 1934: Wladimir Iljitsch Lenin: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung; Karl Marx: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Besorgt vom Marx-Engels-LeninInstitut Moskau; Karl Marx, eine Sammlung von Erinnerungen und Aufsätzen, hrsg. v. Marx-EngelsInstitut Moskau; 1935: Karl Marx / Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd. 1: 1844–1853. Hrsg. vom MarxEngels-Lenin-Institut Moskau; gemeinsam mit VEGAAR und Verlag für Fremdsprachige Literatur; Friedrich Engels, der Denker und Revolutionär. Redaktion: Willi Schulz; Josef Stalin: Der Sozialismus siegt. Berichte und Reden auf dem 17. Parteitag der KPdSU; 1936: Karl Marx / Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd. 2: 1854–1860. Hrsg. vom MarxEngels-Lenin-Institut Moskau; gemeinsam mit VEGAAR und Verlag für Fremdsprachige Literatur; 1937: Karl Marx / Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd. 3: 1861–1867. Hrsg. vom MarxEngels-Lenin-Institut Moskau; gemeinsam mit VEGAAR und Verlag für Fremdsprachige Literatur; 1939: Karl Marx / Friedrich Engels: Briefwechsel, Bd. 4: 1868–1883. Hrsg. vom MarxEngels-Lenin-Institut Moskau; gemeinsam mit VEGAAR und Verlag für Fremdsprachige Literatur.
Der Vita Nova Verlag in Luzern – ein Tarnverlag? Eine besondere Spielart des Exilverlags repräsentiert der Vita Nova-Verlag, denn er brachte nicht nur ein profiliertes Buchprogramm heraus, sondern diente gleichzeitig der Tarnung geheimdienstlicher Tätigkeit – einer Tätigkeit, der ein kaum zu ermessender Einfluss auf den Ausgang des Zweiten Weltkriegs zuerkannt wird. Der Gründer und Betreiber des Verlags, Rudolf Rössler* (1897 Kaufbeuren – 1958 Kriens b. Luzern,
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Schweiz) war in der Weimarer Republik als Redakteur und Herausgeber von Theaterzeitschriften tätig gewesen; von 1929/1930 an war er geschäftsführender Direktor des deutschen Bühnenvolksbundes in Berlin. Im Juni 1933 aus dieser Stellung und anderen, ehrenamtlichen Funktionen entlassen, fand der engagierte Gegner des Nationalsozialismus 1934, gemeinsam mit seiner Frau Olga, auf Einladung von Freunden Asyl in der Schweiz (seit damals unter der Namensform Roessler). Dort hatte er bereits im Januar im Zusammenwirken mit dem Luzerner Buchhändler Josef Stocker849 und einer Geldgeberin aus vermögendem Luzerner Haus, Henriette Racine, unter der Adresse Vonmattstraße 36 einen Verlag errichtet, den Vita Nova-Verlag in Luzern, der ihm in der Folge als Plattform für den weltanschaulichen Kampf gegen die Diktatur in Deutschland diente.850 Am 28. April 1937 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt; seither hielt er sich als Staatenloser in der Schweiz auf. Unter der Leitung von Roessler brachte der Vita Nova-Verlag zwischen 1934 bis 1946 rund 60 Titel heraus,851 hauptsächlich politisch-philosophisch-historische Zeitanalysen, die in nicht wenigen Fällen ein beachtliches Echo fanden; insgesamt war das Programm durch ein christlich-humanistisches Profil geprägt, und durch eine absolut eigenständige politisch-weltanschauliche Ausrichtung.852 Strikter Antinazismus verband sich mit striktem Anti-Materialismus und Antikommunismus bzw. Antisowjetismus, wo-
849 Josef Stocker, der nicht nur bei der Gründung des Vita Nova Verlags eng mit Rudolf Roessler zusammengearbeitet hat, führte eine Buchhandlung am Kapellplatz in Luzern und auch einen eigenen Verlag, in welchem in den 1940er Jahren eine Reihe von Büchern exilierter deutscher Autoren erschien, so von Friedrich Muckermann (Der Mensch im Zeitalter der Technik, 1943), Richard Seewald (Das christliche Jahr, 1944), Ludwig Derleth (Der Tod des Thanatos, 1945), Willi Reich (Bekenntnis zu Mozart, 1945; Joseph Haydn: Leben, Briefe, Schaffen, 1946) oder Wilhelm Koppers (Geheimnisse des Dschungels, 1947). Darüber hinaus erschienen nach 1945 mehrere Bücher von Hugo Ball (Die Flucht aus der Zeit, 1946) und Emmy Ball-Hennings (Das irdische Paradies und andere Legenden, 1945) im Josef Stocker-Verlag. Vgl. die Angaben in den Katalogen des Deutschen Exilarchivs 1933‒1945 (Frankfurt a. M.) und der Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945 (Leipzig) sowie: Festschrift Josef Stocker zum 70. Geburtstag. Privatdruck. Luzern 1970. 850 Die offizielle Gründung erfolgte im Mai 1934; Präsident des Verwaltungsrates war Josef Stocker, Geschäftsführer Rudolf Roessler. – Vgl. hierzu und zum Folgenden: Luzerner Antiquariat / Buchhandlung Josef Stocker AG, Katalog Nr. 2/Sommer 1990: »Deutscher Geist im Exil 1933‒1945«. Verboten und verbrannt. Dazu: Drei Schweizer »Exilverleger«. Außerdem die Angaben zum Nachlass von Rudolf Roessler im Archiv für Zeitgeschichte der Technischen Hochschule Zürich. Einige aufschlussreiche Informationen und Quellenhinweise sind auch in dem Artikel von Max Huber in der Neuen Deutschen Biographie sowie in Wikipedia zusammengestellt. 851 Die Gestaltung der Bücher des Vita-Nova-Verlags stammt in der überwiegenden Zahl von Max von Moos, der sich als surrealistischer Maler und Zeichner einen Namen gemacht hat. Vgl. den Ausstellungskatalog Max von Moos (1903‒1979). Zum Gesamtwerk / Zeichnungen und Gebrauchsgraphik. 2 Bde., Kunstmuseum Luzern 1984; Roman Kurzmeyer: Max von Moos – Atlas, Anatomie, Angst. Zürich: Voldemeer; Wien, New York: Springer 2002. 852 Ein Gesamtverzeichnis 1934‒1946 des Vita-Nova-Verlags ist anlässlich einer im Februar 1987 gezeigten Ausstellung in der Zentralbibliothek Luzern auf Basis der dort gesammelten Belegexemplare erstellt und als Manuskript vervielfältigt worden; es listet 59 Titel auf, davon fünf zweite Auflagen.
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bei aber gerade Russland als die große Hoffnung Europas vorgestellt wurde – allerdings in Gestalt des »gläubigen Russland« oder der »russischen Idee«.853 Bei den von Roessler verlegten Büchern handelte es sich nur zum geringeren Teil um Werke deutscher Exilanten, aber diese bildeten doch einen wichtigen Schwerpunkt des Programms. So etwa wurden von Friedrich Wilhelm Foerster drei Titel publiziert, von denen fast alle eine zweite Auflage erreichten, darunter auch der mehr als 500 Seiten starke Band Europa und die deutsche Frage (1937). Von Waldemar Gurian kam heraus Bolschewismus als Weltgefahr (1935) und Der Kampf um die Kirche im Dritten Reich (1936). Von Karl Löwith erschien 1936 die Studie Über Jacob Burckhardt, und von Otto Michael (d. i. Otto Michael Knab) 1938 Die Stunde des Barabbas, ein Roman über das Schicksal eines Priesters unter der NS-Herrschaft. Nicht emigriert, sondern auch nach dem »Anschluss« in Österreich lebend war Herbert Stourzh, der 1938 unter dem Pseudonym Gerald Sturzenegger bei Vita Nova eine Schrift Humanität und Staatsidee. Eine Philosophie der Politik publizierte, in welcher er von einem christlich-protestantischen Standpunkt aus den Nationalsozialismus als »Nationalbestialismus« und »geistiges Barbarentum« geißelte und auch jene katholischen Kreise scharf angriff, die sich dem Nationalsozialismus annäherten. Ein tragisches Schicksal erlitt der 1933 aus Jena nach Riga emigrierte Rechtsanwalt Walter Schubart. Von seinen im Exil in rascher Folge entstandenen Werken erschienen insgesamt drei im Vita-Nova-Verlag: Europa und die Seele des Ostens (1938), Dostojewski und Nietzsche. Symbolik ihres Lebens (1939) sowie Geistige Wandlung. Von der Mechanik zur Metaphysik (1940). Besonders Europa und die Seele des Ostens erlebte zeitgenössisch und in Übersetzungen (auch ins Russische) sogar bis in die unmittelbare Gegenwart eine breite Rezeption – wenn auch Schubarts Grundthese, wonach eine »Heilung« des westlichen Menschen nur durch die »russische Seele« zu erhoffen sei, immer wieder auf Widerspruch stieß. 1941 wurde Schubart in Riga von der russischen Geheimpolizei GPU verhaftet; erst 1998 wurde bekannt, dass er 1942 in einem Straflager in Kasachstan umgekommen ist. Im Verlagsprogramm traten vor allem aus Russland geflüchtete Autoren dominant in Erscheinung. Schon das erste Buch des Verlags weist in diese Richtung, Theater und Kino des schon 1922 aus der UdSSR ausgewiesenen Fedor Stepun. Es war dieses Buch eigentlich schon 1932 im Berliner Volksbühnenverlag erschienen; die nicht ausgelieferten Exemplare wurden dann in Luzern mit neuem Titelblatt versehen und in der Schweiz verkauft. Zu den ersten, noch 1934 erschienenen Büchern gehörte auch Nikolai Berdjajews Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Von dem Religionsphilosophen Berdjajew, der ebenfalls 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war und seither in Berlin und Paris im Exil lebte, kamen bis 1943 noch weitere fünf Titel bei Vita Nova heraus: Das Schicksal des Menschen in unserer Zeit, 1935; Christentum und Klassenkampf, 1936; Von der Würde des Christentums und der Unwürde der Christen, 1936; Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus. Ein Beitrag zur Psychologie und Soziologie des russischen Kommunismus, 1937, und Der Mensch und die Technik, 1943 (eigentlich ein 853 Vgl. hierzu Ingold, Felix Philipp: »Neues Leben« – aus dem Osten? Der Luzerner VitaNova-Verlag und die »russische Idee«. In: NZZ, Internat. Ausg. Nr. 193 vom 22./23. August 1998, S. 51.
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Sonderabdruck aus der 1934 erschienenen Schrift Wahrheit und Lüge des Kommunismus). In vielen seiner Arbeiten propagierte Berdjajew eine Versöhnung von Marxismus und russisch-orthodoxem Christentum. Weitere Repräsentanten dieser Autorengruppe waren Helene Iswolski (Jelena Iswolskaja; Der neue Mensch im Russland von heute, 1936), Aron Steinberg (Die Idee der Freiheit. Ein Dostojewski-Buch, 1936), Wladimir Weidlé (Das Schicksal der modernen Kunst, 1937), oder die Russland-Schweizerin Elsa Mahler (mit einem Bändchen über den Maler des gläubigen Russland Michail Nesterow, 1938). Zudem kamen ältere Werke von Wladimir Solowjow (Die Erzählung vom Antichristen, 1935) und W. Mirowitsch (Schneeflocken. Neun Märchen und Erzählungen, 1940) in Übersetzungen heraus. Dass exilrussische Autoren im Programm so stark vertreten waren, war ohne Zweifel auf die enge Zusammenarbeit Roesslers mit Jewsei (Jves Eusebius) Schor zurückzuführen. Schor, der 1922 die UdSSR verlassen und in Freiburg i. Br. Philosophie bei Georg Simmel studiert hatte, seit 1933 aber in Palästina lebte, verband eine enge Freundschaft mit Roessler; aus den hunderten zwischen ihnen gewechselten Briefen854 geht hervor, dass er die Rolle eines externen Verlagsberaters wahrnahm und das Programm prägend mitbestimmte, indem er die entsprechenden Kontakte zu russischen Autoren vermittelte und für Vita Nova zahlreiche Übersetzungen aus dem Russischen anfertigte, u. a. von den Werken Berdjajews. Er selbst publizierte 1934 im Vita-Nova-Verlag den Essayband Deutschland auf dem Weg nach Damaskus. Der Protestant Roessler schloss sich in der Schweiz einer linkskatholischen Gruppe an und realisierte in seinem Verlagsprogramm gleichsam eine ökumenische Linie. Die katholische Komponente wurde insbesondere repräsentiert von Paul Claudel mit Gedanken und Gespräche (1936) oder dem bedeutenden französischen Philosophen Jacques Maritain mit Gesellschaftsordnung und Freiheit (1936). Zu der Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber seinen Widersachern gehörte aber auch die mit Unterstützung Schors zusammengestellte, international ausgerichtete Streitschrift gegen den Antisemitismus Die Gefährdung des Christentums durch Rassenwahn und Judenverfolgung, 1935. Eine weitere Programmabteilung bildeten von Anfang an Schweizer Autoren mit Schweizer Themen, möglicherweise sollte so der Status des Verlags besser abgesichert werden. Dazu gehörten Walter Grob mit der Broschüre Der Bund der Eidgenossen, ein Wagnis des Glaubens (1934), Gonzague de Reynold mit Die Schweiz im Kampf um ihre Existenz (1934) und Die Tragik Europas (1935) sowie Richard Gutzwiller SJ mit Die Katholiken und die Schweiz (1935). Eine Schriftenreihe »Männer und Völker« – die einzige Reihe im Verlagsprogramm – war international angelegt; die vier in dieser Serie erschienenen Bücher stammten von Stanley Baldwin (Freiheit und Friede, 1936), Franklin D. Roosevelt (Das neue Amerika, 1937), Anton Philipp von Segesser (Politik der Schweiz: Ideen und Grundlagen, 1937) sowie Tschiang Kai Schek (Chinas Kampf. Reden aus Frieden und Krieg, 1940). Ein 1941 erschienenes Buch führt schließlich zurück zu der eingangs erwähnten nachrichtendienstlichen Tätigkeit Rudolf Roesslers: Unter dem Pseudonym R. A. Hermes legte er, der nicht nur ein Theaterpublizist, sondern auch Militärexperte war, eine
854 Archiviert in der Hebräischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem.
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kriegswissenschaftliche Dokumentation Die Kriegsschauplätze und die Bedingungen der Kriegsführung. Mit 15 Kartenskizzen vor. Das Buch enthielt keine Geheiminformationen, es verweist aber indirekt doch darauf, dass Roessler seit vielen Jahren ein Doppelleben führte: Auf eine bis heute nicht restlos aufgeklärte Weise war er in der Lage, Verbindungen ins Oberkommando der Wehrmacht zu unterhalten und sich von dort aus, mit verschlüsselten Briefen, durch gelegentliche Besuche oder auch über Funk regelmäßig mit Informationen versorgen zu lassen. In der Tat lieferte Roessler, später auch als »legendärer Meisterspion des Zweiten Weltkriegs« bezeichnet, bereits seit Kriegsbeginn aus einer klaren antinationalsozialistischen Motivation heraus zunächst seinem Gastland (konkret dem schweizerischen Abwehrchef Roger Masson) und den Alliierten wichtige Informationen über die militärischen Aktivitäten Hitlerdeutschlands.855 Die Westmächte nahmen allerdings, mindestens anfänglich, die ihnen zugespielten Botschaften nicht ernst. Umso geneigter war Roessler, nach dem Angriff auf die Sowjetunion seine aus den inneren Kreisen der militärischen Führung Hitlerdeutschlands stammenden Informationen gleichzeitig auch dem sowjetischen Nachrichtendienst zur Verfügung zu stellen; dies tat er ab August 1942 unter dem Decknamen »Lucy«, in Kontakt mit dem in Genf installierten Komintern-Agenten Alexander Radó.856 Diese Weitergabe der OKW-Beschlüsse durch Roessler gilt nach Meinung der Rechercheure dieser Zusammenhänge als die »außerordentlichste Spionagelinie des Zweiten Weltkriegs«; eingeweihte Militärs stellten sich die Frage »ob Hitler ohne Roesslers Linie nicht vielleicht sogar Moskau und Stalingrad erobert hätte und zuletzt als Sieger aus diesem Krieg hervorgegangen wäre.«857 Die Informanten Roesslers, die übrigens mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 keinen Kontakt hatten, blieben bis Kriegsende und auch danach unentdeckt, die Übermittlung der militärischen Geheiminformationen wurde allerdings ausgangs des Jahres 1944 beendet: Am 19. Mai 1944 wurde Roessler verhaftet, nachdem Deutschland die Unterbindung der Spionageaktivitäten verlangt hatte.858 Im Interesse der Schweizer Neutralität kam man diesem Verlangen nach; Roessler wurde 1945 von einem Militärgericht für schuldig befunden, wegen seiner Verdienste um die Schweizer Landesverteidigung jedoch für straffrei erklärt. An diesem Punkt muss nun noch einmal zum Vita Nova-Programm zurückgekehrt werden: Die sonderbarste Verlagspublikation war die 1936 erschienene – und sehr viel später berühmt gewordene – Briefanthologie Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen. Auswahl und Einleitungen von Detlef Holz. Hinter dem Pseudonym Detlef Holz
855 Vgl. Accoce / Quet: Moskau wußte alles, bes. S. 62 f., 71 f. Nach dem Urteil von H. L. Davi hat Roessler »entscheidend zur Erhaltung einer unabhängigen Schweiz beigetragen« (H. L. Davi: Wie es zur Buchhandlung Josef Stocker kam. In: Festschrift Josef Stocker. Luzern: Buchhandlung Josef Stocker AG 1970). Vgl. zu dem Thema auch Rings: Schweiz im Krieg, 1933‒1945. 856 Radó war zur Tarnung als Leiter des Genfer geographischen Instituts »Geopress« tätig; Roessler kam (angeblich ohne zu wissen, dass es sich um einen sowjetischen Agenten handelte) mit ihm in Kontakt, als er mit ihm die Kartenskizzen zu seiner »Hermes«-Kriegsdokumentation besprach (vgl. Accoce / Quet: Moskau wußte alles, S. 115). 857 Accoce / Quet, S. 62 f. 858 So die Darstellung im Artikel zu Rudolf Roessler in der Neuen deutschen Biographie [online].
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Abb. 32: Ein Doppelleben als Verleger und Geheimagent führte Rudolf Roessler in der Schweiz.
5 Ve r l ag s bu c hh a n de l verbarg sich Walter Benjamin; es war das letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten erschien, und das einzige, das er im Exil veröffentlichen konnte.859 Benjamin hatte 1931/ 1932 anonym in der Frankfurter Zeitung in Einzelabdrucken eine Zusammenstellung von 27 Briefen publiziert, von Männern und Frauen, die in Deutschland zwischen 1770 und 1870 eine wichtige Rolle im deutschen Geistesleben gespielt hatten, unter ihnen Lichtenberg, Kant, Goethe, Hölderlin, Wilhelm Grimm oder Annette von Droste-Hülshoff. Schon in Deutschland und dann auch im Exil in Paris hatte er großes Interesse an einer Buchausgabe der Briefe und bat Mitte 1936 seinen Freund Karl Otto Thieme, sich in der Schweiz nach Publikationsmöglichkeiten zu erkundigen.860 Thieme hatte zwar zunächst den Züricher Verleger Max Niehans im Auge, aber auf irgendeinem Weg gelangte die Briefsammlung dann an Rudolf Roessler, der nicht zögerte, sie in seinem Verlag herauszubringen. Allerdings verband sich – Roessler dürfte in dieser Hinsicht völlig im Einklang mit Benjamin gehandelt haben – mit dieser Ausgabe eine besondere Idee, nämlich daraus eine Art Tarnschrift zu machen, die, als ein »Kassiber der Humanität«, auch und vor allem im nationalsozialistischen Deutschland Verbreitung finden sollte.861 Dazu bedurfte es zunächst eines unverfänglichen Herausgebernamens862 und eines ebenso
859 Dieses Werk hat in der Benjamin-Forschung inzwischen beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren. Maßgeblich in allen Fragen der Entstehungs- und Publikationsgeschichte ist nun die Edition im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe: Walter Benjamin: Deutsche Menschen. Hrsg. von Momme Brodersen. (W. B.: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Die Edition enthält u. a. S. 380‒442 unter »Dokumente« auch die Rekonstruktion des mit dem Verlag bzw. Roessler geführten Briefwechsels. – Von den Studien sei hervorgehoben: Walter Benjamins »Deutsche Menschen«. 860 Dokumentiert in der Kritischen Ausgabe von Brodersen, S. 380‒389. Aufschlussreich auch die Charakterisierung Roesslers durch Thieme im Brief an Benjamin vom 1. August 1936: »Zur Psychologie von Herrn Rössler, der bis 1933 in der Leitung des Volksbühnenbunds saß und ›ökumenischer‹, d. h. ostkirchlich sympathisierender Protestant ist: Er gehört zu jenen an sich sympathischen, aber manchmal den Autor rechte Not machenden Verlegern, die an den Büchern, die sie herausbringen, selbst mitarbeiten müssen, weil sie sie so haben wollen, daß sie selbst sie wie eigne Produkte verantworten können; auch wird er von Leuten, die ihn besser kennen als ich, für etwas pedantisch erklärt.« Thieme rät aber Benjamin ohne Vorbehalt zur Zusammenarbeit mit dem Verlag, der »Ihrem Werk kongenial ist wie kein zweiter.« (Brodersen, S. 389) 861 Den Tarnschriften-Charakter von Benjamins Briefanthologie hat bereits Albrecht Schöne thematisiert; vgl. Schöne: »Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche«. 862 Roessler an Thieme, 29. Juli 1936: »P. S.: Muß der Name des Herausgebers Benjamin genannt werden? (Für den Fall, daß B. Nichtarier ist, wäre doch wohl die Verwendg. eines
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unverfänglichen Titels; die Formulierung »Deutsche Menschen« wies ja deutlich in die Richtung, die im Dritten Reich dem Geist der Zeit entsprach.863 Aus dem zwischen Thieme, Benjamin und Roessler geführten Briefwechsel geht hervor, dass vom Verleger nicht nur die entscheidende Titelformulierung stammte, sondern auch die Vorlage zum mottoartigen, ebenfalls ambivalent-desheroisierend gehaltenen Untertitel, der in der von Benjamin überarbeiteten Fassung lautete: »Von Ehre ohne Ruhm / Von Grösse ohne Glanz / Von Würde ohne Sold«. In der Zusammenarbeit des Verlegers mit seinem (politisch hellwachen) Buchgestalter Max von Moos wurde dem Buch auch äußerlich eine dissimulierende Tarnkappe mitgegeben, durch einen eigens entworfenen, gezielt gotisierenden und damit »altdeutsch« anmutenden Titelschriftzug auf dem Einband (im Inneren war alles in Antiqua gesetzt).864 In der Tat lag sowohl Benjamin wie auch dem Verleger viel daran, dem Buch auf jede Weise Absatzmöglichkeiten in Deutschland zu sichern.865 Die Produktion des Bandes wurde bemerkenswert rasch durchgeführt (von der ersten Kontaktnahme Thiemes mit Roessler am 27. Juli 1936 bis zur Auslieferung Ende Oktober vergingen gerade mal zwölf Wochen); der Absatz der mit 2.000 Exemplaren bemessenen Startauflage866 verlief allerdings wider Erwarten äußerst schleppend. Zunächst war die polizeiliche Freigabe des Titels bei den Leipziger Kommissionären abzu-
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Pseudonyms mit Rücksicht auf den Vertrieb in Deutschld. zweckmäßig.)« (Brodersen, W. B. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, S. 384). – Das Pseudonym Detlef Holz hatte Benjamin seit 1933 für Veröffentlichungen in Deutschland verwendet, so für die von der Frankfurter Zeitung gedruckten Auszüge aus seiner Berliner Kindheit. Mit subtilen, für genaue Beobachter aber doch zu entschlüsselnden Unterschieden: Während in NS-Deutschland Bücher mit dem Titel »Der deutsche Mensch« herauskamen, markiert der Plural »Deutsche Menschen« doch eine wichtige Differenz zur rassenideologisch ausgerichteten »wesenhaften Schau«. Ähnliches gilt für die weiteren Gestaltungsmerkmale, so auch die Titelschrift. Zu dieser Maskierung vgl. Diers: Einbandlektüre, fortgesetzt. Roessler schrieb am 30. Juli 1936 an Thieme, er glaube, »dass bei einem geschickten Arrangement und einer Fassung der Texte, die die nationalsozialistische Zensur nicht sogleich mobilisiert, ein wirklicher – zumindest geistiger und moralischer – Erfolg mit der Publikation zu erzielen ist.« (Brodersen, W. B. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, S. 386). Und Benjamin äußerte am 4. August 1936 gegenüber Thieme: »Ich glaube, daß das Buch in Deutschland einen weiten Kreis von Lesern aus denjenigen Schichten gewinnen kann, die sich von der gegenwärtig dort verbreiteten Produktion fern halten. Ihnen könnte das Buch hoch willkommen sein, ihnen es erreichbar machen, wäre mir durch ein Pseudonym nicht zu teuer erkauft.« (W. B.: Gesammelte Schriften, Bd. IV (1972), 2, S. 948). Schon am 26. Juni 1936 hatte er Thieme geschrieben: »Sollte das Buch einen Weg nach Deutschland finden (wo es, meiner Überzeugung nach, eine tiefe Wirkung tun kann), so dürfte das natürlich keinesfalls durch den Titel erschwert werden.« (Ebd.). – Die Anthologie enthielt, ebensowenig wie die früheren Einzeldrucke in der Frankfurter Zeitung, keinen Brief eines / einer jüdisch-deutschen Autors oder Autorin, was sicherlich eine wichtige Voraussetzung für den Absatz in Deutschland bildete. Der Verlagsvertrag sah ferner eine Autorentantième von 16 % des Verlagsumsatzes (also nach Abzug des Buchhändlerrabatts) vor, bei einer Vorauszahlung von 400 Schweizer Franken in drei Raten. (Der Vertrag ist abgedruckt in: Brodersen, W. B. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, S. 402 f.). Das Buch wurde sowohl als kartonierte wie auch als Leinenausgabe angeboten, zum Preis von 3,50 Fr./2,80 RM bzw. 4,50 Fr./3,60 RM.
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warten; erst in einem Brief vom 15. Januar 1937 an Benjamin konnte der Verleger melden: »Inzwischen hat die Leipziger Polizei auch den ungehinderten Vertrieb Ihres Buches möglich gemacht, indem sie ihre ursprünglich gemachten Einwände zurückzog; das Buch kann also in Deutschland ungehindert ausgeliefert werden.«867 Für das Weihnachtsgeschäft kam die Freigabe allerdings weitaus zu spät. Ende 1937 erhielt Benjamin eine Abrechnung über rund 200 verkaufte Exemplare, ein enttäuschendes Ergebnis, zumal ihm zugetragen worden war, dass bereits eine 2. Auflage in Umlauf sei.868 Letzteres erklärte er sich selbst mit der »gebräuchlichen Sitte – oder Unsitte – der Verleger, das dritte oder vierte Hundert von einem Buche als ›neue Auflage‹ figurieren zu lassen.«869 In der Tat dürfte es sich um eine Titelauflage gehandelt haben; Roessler ließ wohl ungebundene Exemplare der Originalauflage mit einem neuen Titelblatt als »2. Auflage« aufbinden.870 Nach anderen Quellen erhielt Benjamin über Vermittlung Thiemes die Auskunft, dass die 1. Auflage bei einem Feuer in der Druckerei verbrannt sei.871 Tatsache ist aber auch, dass 1978 der größte Teil der 1. Auflage unversehrt im Keller der Stockerschen Buchhandlung in Luzern aufgefunden wurde; sie konnte noch bis in die späten 1980er Jahre gleichsam zum Ladenpreis bezogen werden. An dieses undurchsichtige Schicksal der Druckauflage(n) knüpfen nun aber noch weitergehende Spekulationen um die Rolle der Briefanthologie an: Ohne dass Benjamin, der seinem Verleger nie persönlich begegnet ist, davon etwas geahnt habe, soll der Meisterspion Roessler den Band Deutsche Menschen nicht nur als eine in Deutschland verbreitbare, antinazistische Camouflage konzipiert, sondern ihn auch in den Dienst seiner Agententätigkeit genommen haben: »Zur Spionagepraxis Rösslers zählten nämlich auch die Codebücher, die nach Deutschland geschmuggelt wurden und eine verschlüsselte Nachricht transportieren sollten. Diese Codebücher kamen nicht in den offiziellen Buchhandel, und es gibt Hinweise, die das auch für das Benjaminsche Buch vermuten lassen.«872 Für Kleeberger legen die Ungereimtheiten um den Nicht-Verkauf der 1. Auflage (»Die ›Verbreitung‹ des Buches bestand also lediglich in Benjamins Belegexemplaren«) die Annahme nahe, »daß die ›Deutschen Menschen‹ ausschließlich dem Zweck eines Codebuchs für Rösslers Nachrichtentätigkeiten gedient haben.«873 Für diese Annahme sind bisher keine handfesten Belege beigebracht worden; es wäre dies aber ein weiterer eindrucksvoller Beleg dafür, wie facettenreich sich die Rolle des Buches unter den Bedingungen des Exils gestaltet hat. Offen bleibt letztlich auch die Frage, ob der Vita Nova-Verlag hauptsächlich zur Tarnung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit Roesslers dienen sollte oder ob dies nur eine Nebenfunktion des Unternehmens gewesen ist. Umfang und Qualität des Buchprogramms sprechen dafür, dass der Verleger in der Herausgabe wichtiger Zeitanalysen und Diskussionsbücher gleichermaßen eine bedeutsame Aufgabe gesehen hat.
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Brodersen, S. 431. Brodersen, S. 435, 438 f. Brodersen, S. 441. Vgl. Brodersen, S. 190. Kleeberger: Walter Benjamin und der Spion, hier S. 200. Kleeberger, S. 200. Kleeberger, S. 200.
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5.2.3
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Judaica-Verlage
Wenn es auch für jüdische Verlage und Buchhandlungen zwischen 1936 und 1938 die von den NS-Schrifttumsbehörden aus rassistischer Logik heraus eingeräumte Möglichkeit gab, im Rahmen eines jüdischen »Ghettobuchhandels« (V. Dahm) als deklarierter »Jüdischer Buchverlag« bzw. »Jüdischer Buchvertrieb« fortzubestehen und die noch im nationalsozialistischen Deutschland lebenden Juden mit Literatur zu versorgen, so war doch seit der »Machtergreifung« klar, dass es für diesen Zweig des deutschen Buchhandels, der sich in den 1920er Jahren gut entwickelt hatte und namentlich mit dem Schocken Verlag noch eine späte Blüte erfuhr, im Dritten Reich keine Zukunft gab.874 Dementsprechend wurden schon seit 1933 Möglichkeiten wahrgenommen, bestehende Unternehmen ins Ausland zu verlagern oder nach glücklich erfolgter persönlicher Emigration im Asylland sich geschäftlich neu zu etablieren. Gelegentlich waren es auch nationale und internationale jüdische Vereinigungen, die in beschränktem Umfang eine verlegerische Tätigkeit entfalteten. Als Beispiel dafür mag in Frankreich das »Comité des delegations juives« dienen, dem Leo Motzkin, Präsident der Zionistischen Weltorganisation, vorstand, und auf dessen Veranlassung im Januar 1934 in den Éditions du rond point unter der Herausgeberschaft Rudolf Oldens und Leo Motzkins eine Bestandsaufnahme der gegen Juden verhängten Maßnahmen Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933 erschien.875 Brennpunkte einer neuen jüdischen Verlagskultur in der Vertreibung entwickelten sich jedoch an anderen Orten, naheliegenderweise in Palästina, aber auch in Großbritannien und vor allem in den USA, wo es zu bemerkenswerten und zum Teil außerordentlich erfolgreichen Unternehmensgründungen kam.
Palästina Jüdischer Verlag / The Jewish Publishing House Ltd. Ein bewegtes Schicksal hatte der Jüdische Verlag in Berlin, der in den 1920er Jahren und noch in der NS-Zeit bedeutende Werke wie das Jüdische Lexikon (4 Bde., 1927‒ 1929) oder die Weltgeschichte des jüdischen Volkes (10 Bde., 1925‒1929) herausgebracht hatte.876 Sein Geschäftsführer (und indirekter Eigentümer) Siegmund Kaznelson* (1893 Warschau – 1959 Jerusalem)877 flüchtete Anfang Januar 1937 mit seiner Ehefrau
874 Vgl. zu dieser gesamten Thematik Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993). 875 In Frankreich erschienen in den Éditions du Carrefour weitere Bücher, mit denen die Weltöffentlichkeit über die NS-»Judenpolitik« und die Judenverfolgung im Dritten Reich aufgeklärt werden sollte; siehe hierzu das Kap. 5.2.2 Politische Verlage. – Zu Motzkin und dem Comité des delegations juives vgl. den Artikel von Philipp Graf in: Dan Diner: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 2. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2012, S. 13‒ 17, hier S. 17. 876 Vgl. dazu Geschichte des deutschen Buchhandels in 19. und 20. Jahrhundert, Band 2/2, S. 171 f. 877 Vgl. Schenker: Der Jüdische Verlag, bes. S. 263‒280; Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Almanach 1992. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 19 f.
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und deren Mutter zunächst nach Triest und von dort weiter mit dem Schiff nach Haifa. In Jerusalem, wo Kaznelson bereits 1931 die Hozaah Iwrit Ltd. (The Jewish Publishing House Ltd.) als Tochtergesellschaft des Jüdischen Verlages gegründet hatte, die in erster Linie Parallelausgaben zu den Ausgaben des deutschen Mutterhauses herausbrachte, betrieb er neben der Weiterführung des Jüdischen Verlages gemeinsam mit Gustav Krojanker* (1891 Berlin – 1945 Tel Aviv) das Zeitungsprojekt Jüdische Weltrundschau; das Organ kämpfte jedoch von Beginn an mit finanziellen Problemen und musste nach wenigen Monaten im Sommer 1939 sein Erscheinen einstellen. In der Folgezeit beschränkte sich Kaznelson darauf, vorhandene Bestände früherer Verlagswerke abzusetzen und überarbeitete seinen in Deutschland verbotenen, druckfertigen Sammelband Juden im deutschen Kulturbereich.878 Nach Kriegsende bemühte er sich um Entschädigung für seine zwangsliquidierten Betriebe in Deutschland, da er seine frühere selbständige Tätigkeit wieder aufnehmen wollte. Tatsächlich gelang 1958 die Restituierung des Jüdischen Verlages in Berlin, ein Jahr später erschien in ihm noch die von Kaznelson herausgegebene Anthologie von 322 Gedichten aus vier Jahrhunderten Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten. Nach Kaznelsons Tod wurde der Verlag von seiner langjährigen Mitarbeiterin Ilse Walter weitergeführt, 1978 dann vom Athenäum Verlag, 1990 vom Suhrkamp Verlag übernommen.
Rubin Mass Publishing House, Jerusalem Als Mitarbeiter und seit 1926 als Inhaber der Jalkut GmbH Verlag und Buchhandlung in Berlin hatte Rubin Mass* (1894 Wischtinetz, Litauen – 1979 Jerusalem) bereits verlegerische Erfahrung sammeln können.879 Durch die Verhaftung seines Bruders 1933 zur sofortigen Flucht veranlasst, erreichte er Palästina mit seiner in 16 großen Kisten verpackten Privatbibliothek und gründete noch im gleichen Jahr in Jerusalem mit einem Grundkapital von 3.000 holländischen Gulden, die er von einem Freund geliehen hatte, den Verlag Rubin Mass Publishing House, den er nachfolgend zu einem der führenden Verlagshäuser Palästinas ausbauen konnte. Erschienen sind dort u. a. hebräischsprachige Bücher über jüdische Glaubensfragen bzw. zionistische Themen von Schalom Ben-Chorin und Max Bodenheimer, Peter Gradenwitz, ferner englischsprachige Titel (beispielsweise Two letters to Gandhi, from Martin Buber and J. L. Magnes, 1939; Alex Bein: The history of Jewish agricultural settlement in Palestine, 1945; Ismar Freund: Palestine
878 Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk. Hrsg. von Siegmund Kaznelson. 2., stark erw. Ausg. Berlin: Jüdischer Verlag 1959. 879 Rubin Mass hat einen autobiographischen Bericht vorgelegt: HaIsh u Veito [Der Mensch und sein Haus]. In: Ve’im Bigvuroth ‒ Fourscore Years. A Tribute to Rubin and Hannah Mass on their Eightieth Birthdays. Eds. A. Eben Shushan et al. Jerusalem 1974. Zur Biographie vgl. u. a. europäische ideen, H. 49, 1981, S. 28 [Nachruf]. – Mass war Mitglied im Verband israelischer Verlagsbuchhändler, in der Internationalen Verleger-Union und Vorsitzender des Verlegerverbandes für hebräische Publikationen. Seit 1948 übernahm er gemeinnützige Aufgaben vor allem im Gedenken an die Opfer der NS-Herrschaft und des Krieges. 1972 wurde er zum Ehrenbürger von Jerusalem ernannt. – Zu Rubin Mass siehe auch den Abschnitt zu USA / Schocken Books, New York weiter unten sowie das Kap. 6.1 Distributionsstrukturen.
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before the world’s forum, 1946; Antoni Krzewina: Tomorrow in Germany, 1943) oder auch in deutscher Sprache (Jehuda Louis Weinberg: Heinrich Loewe. Aus der Frühzeit des Zionismus, 1946). Ein wichtiges Segment bildeten Schulbücher insbesondere Grammatiken und Hebräisch-Sprachlehren.
Romema-Verlag, Jerusalem In Palästina entstanden nach 1933 noch mehr Verlage, die sich jüdischer Religion und jüdischem Denken zuwandten. Als ein weiteres Beispiel kann der Romema Verlag in Jerusalem genannt werden, der als eine Gründung des Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin* (bis 1937 Fritz Rosenthal) gelten kann.880 Er diente ihm gleichsam als »Hausverlag«, denn hier (meist in der Reihe »Niru-Nir«881) hat er seine Vorträge (Die Christus-Frage an den Juden, 1941) und Essays zum christlich-jüdischen Dialog teils in deutscher, teils in hebräischer Sprache publiziert. 1942 erschienen dort auch unter dem Titel In dieser Zeit seine »Gedichte aus neun Jahren«. Unter Ben-Chorins Herausgeberschaft kam 1941 das Sammelheft Juden, Christen und Juden-Christen in Palästina heraus, und mit ihm als Mitverfasser erschien auch George L. B. Sloans Das christliche Verständnis des Alten Testaments und der jüdische Einwand (1941). Aber der Romema Verlag stand, auch ohne direkte Mitwirkung Ben-Chorins, anderen Autoren durchaus offen, wie die Bücher von Walter Goldstein (Agonie des Glaubens?, 1941) oder Arie Sborowitz (Offenbarung und Offenbarungsreligion in Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung«, 1942) belegen. Die Tätigkeit des Verlags beschränkte sich allerdings auf die Jahre 1941 und 1942, da sich Ben-Chorin danach ganz theologisch-schriftstellerischer Arbeit zuwandte und seine Werke in anderen Verlagen veröffentlichte. Daneben gab es in Palästina Buchhändler, die sich gelegentlich auch verlegerisch betätigten, wie etwa Lipa Bronstein mit dem Kedem Bookstore in Tel Aviv einige wenige Bücher zur Geschichte Palästinas und des Zionismus herausbrachte, darunter 1939 von Eli Elkana (d. i. Georg Michelsohn) Rabbi Lurjes Prophezeiung. – Zum Schocken Publishing House Ltd. in Tel Aviv, der nicht nur ein Zeitungsverlag war, sondern auch Bücher veröffentlichte, siehe weiter unten den Abschnitt zu Schocken Books.
Großbritannien Ararat, London 1942 entstand in London die Ararat Publishing Society, als Gründung des bedeutenden jüdischen Gelehrten Simon Rawidowicz* (1897 Grajewo, Polen – 1957 Waltham, Mass., 880 Zur Rolle Ben-Chorins als Gründer der Buchhandlung Heatid siehe Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 881 Die Reihe »Niru-Nir« wurde begonnen im Matara Verlag, Tel Aviv, in welchem Schalom Ben-Chorin publizierte (Zur religiösen Lage in Palästina. Ein Beitrag zur religiösen Anthropologie der Gegenwart [Niru-Nir, 1], 1940), bevor er seinen eigenen Verlag Romema errichtete. Im kurzlebigen Matara-Verlag erschienen außerdem Bücher von Wolfgang Yourgrau (Der Nahe Osten – Gewehr bei Fuß!, 1939; Margarete Moses (Der verborgene Klang. Roman einer zerbrochenen Welt, 1940) sowie zwei Werke des Rabbiners Hans Tramer (Zio-
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USA)882 und der hauptsächlich als Financiers und operative Leiter agierenden Brüder Alexander (1902‒1992) und Benzion Margulies* (1890 Skalat, Galizien – 1955 London).883 Der Verlag, dessen Name an den biblischen Zufluchts- und Landungsort für die Arche Noah anspielte, brachte Bücher vor allem in hebräischer Sprache und Schrift, aber auch in englischer und jiddischer Sprache heraus. Rawidowicz, der in Berlin den hebräischen Verlag Ajanoth gegründet hatte und als Verfasser und Herausgeber zahlreicher Bücher über jüdische Philosophie und Geschichte, 1931 auch als Begründer der Gesellschaft zur Erhaltung hebräischer Kultur in der Diaspora (Brith Ivrith Olamith) hervorgetreten war, war nach seiner Flucht nach Großbritannien als Hochschullehrer tätig (bis 1940 an der Londoner Universität; von 1941 bis 1947 als Lektor für hebräische Philosophie in Leeds), ehe er 1948 in gleicher Funktion in die USA ging, zunächst nach Chicago und 1951 an die Brandeis University in Waltham, Mass. Die Ararat Publishing Society, ein non-profit-Unternehmen, mit dem Rawidowicz einen aktiven Beitrag zum Überleben der bedrohten »Hebrew culture« leisten wollte, wurde in praktischer Hinsicht von den Brüdern Margulies geführt. Als schwierig erwies sich von Anfang an – neben der räumlichen Distanz zwischen Leeds und London – die Durchführung des Hebräischdrucks in England; die Verleger fanden aber mit Israel Narodiczky einen einschlägig tätigen Drucker und arbeitete nach dessen Tod 1945 mit Jacob Fink zusammen, der den Druck der Publikationen bis 1955 beaufsichtigte. Unter den Verlagspublikationen befanden sich Bücher von Franz Kobler (Letters of Jews, 2 Bde., 1952), Josef Fraenkel (Theodor Herzl. A Biography, 1946; Dubnow, Herzl and Ahad Ha-am: Political and cultural Zionism, 1963) und Mordecai Margulies als Herausgeber (Midras wa-jiqra rabba, 2 Bde., 1953/1954) sowie der Sefer Shimon Dubnov (Simon Dubnov In Memoriam, 1954). Bei Ararat erschien auch die von Rawidowicz begründete und 1943‒1954 in drei Einzel- und zwei Doppelnummern herausgegebene Zeitschrift Methsuda (»Festung«),884 die mit ihren »Essays and Studies« als einziges hebräisches Journal Europas während des Zweiten Weltkriegs gilt, aufgrund zionismuskritischer Positionen aber auch auf Kritik stieß. Eines der Hauptwerke Rawidowiczʼ, Bavel vi-Yerushalyim (Babylon and Jerusalem. Towards a philosophy of Israel’s wholeness), erschien in zwei Bänden (mit dem Erscheinungsjahr 1957) erst ein Jahr nach seinem Tod und gehörte zu den letzten großen Publikationen des bis 1963 bestehenden Verlags.
nistisches Mönchstum und jüdische Wirklichkeit. Ein Wort an die »Idealisten« unter uns, 1939; Michal. Liebe und Leid einer Königin, 1940). 882 Vgl. David N. Myers: Between Jew and Arab: The Lost Voice of Simon Rawidowicz. Hanover and London: Brandeis University Press 2008. 883 Benzion Margulies war seit 1918 in Essen kaufmännisch tätig gewesen und hatte aktiv an der Integration polnischer Juden in Deutschland mitgewirkt; er gelangte 1933 nach London, wo sein Bruder Alexander bereits seit 1931 lebte. Vgl. Greenbaum: A History of the Ararat Publishing Society (u. a. mit einer Verlagsbibliographie und einer Einführung von William Margulies, Sohn von Benzion Margulies und zeitweilig Sekretär bei Ararat, sowie Fotografien und Dokumenten zur Verlagsgeschichte von Ararat). – An der Gründung des Verlags beteiligt war auch der Zionist und Philanthropist Oscar Isaac Philipp. 884 Ravid: The World of Ararat and Its Fortress, S. 248‒274, mit weiterführenden Literaturhinweisen. Benjamin C. I. Ravid ist ein Sohn von Simon Rawidowicz.
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East and West Library, Oxford Béla Horovitz gründete 1944 in Oxford The East and West Library for Judaica als einen Ableger der Phaidon Press,885 um seiner lebenslang engen Beziehung zum Judentum auch verlegerisch Ausdruck zu geben. In der Tat erschienen in der Library ausschließlich Bücher zur jüdischen Geschichte und anderen jüdischen Themen (z. B. Martin Buber: Moses, 1946), auch mittelalterliche jüdische Literatur in englischer Übersetzung, später dann (1956 ff.) die Yearbook-Serie des Leo Baeck Institutes. Aus dem Programm ragen unter Exilaspekten als Neuauflagen heraus von Stefan Zweig The buried candelabrum (1944; zuvor 1937 in Wien mit Zeichnungen von Berthold Wolpe bei Reichner u. d. T. Der begrabene Leuchter erschienen, im gleichen Jahr auch bereits in einer englischen, von Margarete Berger-Hammerschlag mit Holzschnitten ausgestatteten Ausgabe bei Cassell und einer Amerikanischen bei Viking Press) und im Jahr 1945 Robert Neumanns An den Wassern von Babylon als deutschsprachige Erstausgabe in 500 nummerierten und signierten Exemplaren; der Roman war zuvor in englischer Sprache in London 1939 und in New York 1940 erschienen. 1958 veröffentlichte die East and West Library zum Gedenken an den 1955 verstorbenen Verleger einen Band mit dem Titel Between East and West. Essays dedicated to the Memory of Bela Horovitz. Das Imprint wurde bis in die 1970er Jahre weitergeführt.
USA Schocken Books, New York Der 1945 in New York von Salman Schocken errichtete Verlag konnte auf eine Vorgeschichte besonderer Art zurückblicken, die hier kurz rekapituliert werden soll, weil sich daraus ein besseres Verständnis für die Kontinuitätslinien ergibt, die von Deutschland in die USA führten. Salman Schocken* (1877 Margonin bei Posen – 1959 Pontresina, Schweiz) war seit 1929 Alleininhaber des zu bedeutender Größe herangewachsenen Schocken-Warenhauskonzerns mit Filialen in Nürnberg, Stuttgart und Chemnitz.886 Alle Kaufhäuser hatten große, anspruchsvoll sortierte Bücherabteilungen, Schocken selbst besaß eine der bedeutendsten Büchersammlung der Zeit.887 Seit langem schon war ihm die Vermittlung, Bewahrung und Förderung der deutschen jüdischen Kultur ein Anliegen; so gründete er 1915 mit seinem Freund Martin Buber die Zeitschrift Der Jude und 1929 in Berlin das Forschungsinstitut für hebräische Dichtung. Am 1. Juli 1931 wurde der Schocken-Verlag mit Sitz in Berlin, Jerusalemer Straße 65/66 als Abteilung der Schocken KG auf Aktien gegründet, mit Schocken als persönlich haftendem Gesell-
885 Siehe das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 886 Zur Biographie vgl. David: The Patron. A Life of Salman Schocken, 1877‒1959. Vgl. ferner: Moses: Salman Schocken. Seine Betätigung in der Wirtschaft und als Zionist, S. 1‒ 43; L. Schneider: Salman Schocken, S. 192‒202. Ferner: G. Schocken: Ich werde seinesgleichen nicht mehr sehen, S. 13‒30. 887 Yonin: Salman Schocken as a Passionate Collector of Judaica and Hebraica. In: Konsum und Gestalt, S. 209‒221.
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schafter und Lambert Schneider* (1900‒1970) als Geschäftsführer.888 Den ersten großen Verkaufserfolg erzielte der Verlag nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« mit dem Ende September 1933 erschienenen ersten Schocken-Almanach. In den wenigen Jahren bis zur erzwungenen Liquidierung 1938/39 entwickelte sich der Verlag unter Aufsicht der RSK bzw. RKK (seit 1937 bis November 1938 mit dem Firmennamen Schocken-Verlag, Jüdischer Buchverlag) und unter der Programmleitung des 1933 eingestellten Lektors Moritz Spitzer* im Rahmen des »jüdischen Ghettobuchhandels« zum bedeutendsten Verlag sowohl für jüdische Autoren wie für die jüdischen Leserinnen und Leser, welche nach 1935/1936 nur noch Bücher jüdischer Autoren aus jüdischen Verlagen in jüdischen Buchhandlungen kaufen durften. In diesen Jahren gewann der Verlag, nicht zuletzt durch die beliebte Reihe der »Schocken-Bücherei«, die es – in ähnlicher Ausstattung und im Format der »Insel-Bücherei« – auf 92 Bände brachte, eine herausragende Bedeutung für die Literaturversorgung der in Deutschland lebenden Juden.889 In den sieben Jahren seines Bestehens brachte der Schocken Verlag mehr als 200 sorgfältig gestaltete Titel heraus, von den bedeutendsten jüdischen Gelehrten wie Martin Buber, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Shmuel Yosef Agnon, Leo Baeck, Gershom Scholem, mit dem Bestreben, die jüdische Kulturrenaissance durch Herausgabe maßgebender Schriften zu befördern.890 Zu den bedeutendsten Verlagswerken zählten Die Schrift, die berühmte Übersetzung der hebräischen Bibel von Martin Buber und Franz Rosenzweig, sowie seit 1934 die erste Gesamtausgabe der Werke Franz Kafkas, dessen Weltrechte Schocken kurz zuvor erworben hatte. Allerdings wurde nach Erscheinen der ersten vier Bände die Fortsetzung der Ausgabe durch Goebbels verboten, sie wurde aber mit den Bänden 5 und 6 auf der Grundlage eines geheimen Abkommens vom Heinr. Mercy Verlag in Prag zu Ende geführt.891 Salman Schocken war bereits Ende Dezember 1933 mit seiner Frau Lilly und den jüngeren Kindern zunächst in die Schweiz und von dort nach Palästina gegangen. Es glückte ihm die Überstellung eines Großteils seiner Privatbibliothek nach Jerusalem, wo sie in einem von Erich Mendelsohn errichteten Bau Aufstellung fand;892 1933/1934
888 Zur Geschichte des Schocken Verlags in Deutschland vgl. Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993). Einige Zusammenhänge, Schocken betreffend, sind ausführlicher dargestellt in der ungekürzten Version von Dahms Dissertation: Das jüdische Buch im Dritten Reich II. Salman Schocken und sein Verlag. In: AGB 1982, S. 301‒916. – Weitere Literatur zu Schocken in Deutschland: Dahm: Salman Schocken. In: Der Schocken Verlag / Berlin, S. 15‒35; Schenker: Der Schocken Verlag in Berlin; Poppel: Salman Schocken and the Schocken Verlag; Poppel: Salman Schocken und der Schocken Verlag; Mahrer: Schreiben aus den Katakomben; Mahrer: Texts and Objects. The Books of the Schocken Publishing Houses in the Context of Their Time, S. 121–141. 889 Vgl. Evers: The Schocken Bücherei in the Collections of the Leo Baeck Institute New York, S. 282‒302. 890 Vgl. Weber: »Halt und Richte«. Zur Programmatik des Schocken Verlags, S. 38‒51. 891 Genaueres hierzu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage im Abschnitt zum Verlag Julius Kittls Nf.; siehe dazu auch Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 349‒353, bes. S. 352. 892 Heinrich A. Mertens: Die Schocken-Bibliothek in Jerusalem. In: Bbl. (Ffm) Nr. 61 vom 30. Juli 1957, S. 1047‒1049; Mahrer: »Much More than just another Private Collection«, S. 4‒24.
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übersiedelte auch das Schockeninstitut von Berlin nach Jerusalem. Im Sommer 1938 wurde der Schocken Warenhauskonzern an ein deutsches Bankenkonsortium zwangsveräußert; nach den Novemberpogromen 1938 musste auch der Schocken Verlag geschlossen werden. Unter großen Schwierigkeiten gelang es, einen beträchtlichen Teil des Bücherlagers aus Berlin nach Palästina zu bringen; für deren Vertrieb sollte Rubin Mass* sorgen. Bereits 1935 hatte Schocken die hebräische Tageszeitung Ha’aretz als Hochzeitsgeschenk für seinen ältesten Sohn Gustav / Gershom Schocken* (1912 Zwickau / Sachsen – 1990 Tel Aviv) gekauft, 1937 gründete er in Tel Aviv Schocken Publishing House Ltd. Tel Aviv (Hoza’at Schocken) und setzte Gershom 1939 als Direktor des Unternehmens sowie als Chefredakteur des Ha’aretz ein. Gershom baute das Blatt zu einem international renommierten, politisch unabhängigen Organ aus und führte es bis zu seinem Tod; es befindet sich bis heute (2019) im Besitz der Familie und die Schocken-Ha’aretz-Gruppe ist das zweitgrößte Medienunternehmen Israels.893 Hauptobjekt des Schocken Publishing House war von Anfang an die Zeitung,894 es ist dort aber auch eine Anzahl von Büchern erschienen. An dieser Stelle soll auf einen Plan hingewiesen werden, den Salman Schocken erstmals im Herbst 1936 im Zuge von Überlegungen zur Verlegung seines Verlags ins Ausland erwogen hat.895 Unter dem Arbeitstitel »Zelt-Verlag« wurde auf einer Konferenz in Jerusalem die Gründung eines Verlagsunternehmens diskutiert, bei dem es sich der Grundidee nach nicht eigentlich um einen Emigrationsverlag, sondern um einen deutsch-jüdischen Auslandsverlag mit Zugang zum deutschen («Ghetto«-)Buchmarkt handeln sollte. Als möglicher Standort wurden Straßburg, Amsterdam und vor allem Prag in Betracht gezogen; die Verbindung mit Mercy hatte ja bereits gezeigt, dass man von der Tschechoslowakei aus ohne behördliche Behinderung auch nach Deutschland liefern konnte. Die im Dezember von Berlin verfügte Totalsperre der Produktion des Wiener Bermann-Fischer Verlags führte allerdings zur vorläufigen Aufgabe dieses Projekts. Erst im März 1938 wurden die Pläne wieder aufgenommen, in Richtung einer Verlagserrichtung in Amsterdam. Bemerkenswert, dass Schocken nun niemand anderen als Kurt Leo Maschler* mit der Ausarbeitung eines Konzepts beauftragte, das Vorschläge für den Vertrieb der Schocken-Produktion entweder aus Deutschland oder aus dem Ausland sowie für eine im großen Stil zu betreibende Verbreitung und Verwertung von in Deutschland unerwünschter Literatur auch anderer Verlage enthalten sollte. Für ein Vertriebsunternehmen dieser Art wollte Schocken 50.000 bis 75.000 holl. Gulden als Startkapital zur Verfügung stellen. Offensichtlich wirkte diese Idee sehr anregend auf Maschlers Phantasie; er schlug jetzt nämlich
893 1950‒1955 und 1960‒1962 war Gershom Vorsitzender der Nachrichtenagentur Itimin, in den Jahren dazwischen gehörte er als Mitglied der durch ihn mitgegründeten ProgressiveParty der Knesseth an und setzte sich für die Gleichberechtigung von Juden und Arabern ein. – Vgl. Peter B. Flint: Gershom G. Schocken, 78, Editor Of Israeli Newspaper for 50 Years [Nachruf]. In: The New York Times, December 24, 1990 [online]. 894 Dazu: Gershom Schocken: Der Zeitungsmarkt und das führende Blatt »Haaretz« (SchockenVerlag). Vom Geist des Zionismus getragen. In: Bbl. Sondernummer Israel 1978, Nr. 69 (29. August 1978), S. 1780 f. 895 Vgl. zum Folgenden Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 445‒447.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l die Gründung eines ›repräsentativen Jüdischen Weltverlages‹ mit Sitz in Amsterdam vor, der in erster Linie Buchbestände jüdisch-deutscher Verlage erwerben und weltweit vertreiben, aber auch selbst Bücher in deutscher, hebräischer, englischer und französischer Sprache herausgeben sollte, soweit diese wegen der Zensur, des nicht funktionierenden Honorartransfers und der beim jüdischen Publikum im Ausland bestehenden Aversion gegen deutsche Erzeugnisse nicht in Deutschland produziert werden konnten. Dem Verlag sollte auch eine nichtjüdische Abteilung angeschlossen werden, die unter dem Gesichtspunkt der internationalen Verwertbarkeit Restauflagen von deutsch- und fremdsprachigen Büchern auf den verschiedensten Gebieten erwerben und vertreiben sollte.896
Tatsächlich wurde dieses großangelegte Vorhaben (vermutlich von Theodore Schocken) im August 1938 in London auch Stefan Zweig vorgestellt, der als im Ausland erfolgreichster deutschsprachiger Schriftsteller und als einer, der selbst schon mehrfach hochfliegende Pläne zur Gründung eines gemeinschaftlichen Exilverlags entwickelt hatte,897 sicherlich ein sehr geeigneter Gesprächspartner war. Zu diesem Zeitpunkt dürfte aber Salman Schocken, der inzwischen mit dem Zwangsverkauf des Schocken-Konzerns seinen finanziellen Rückhalt verloren hatte, bereits Abstand genommen haben von der Vorstellung, im Sinne von Maschlers Konzept in Europa einen »repräsentativen Jüdischen Weltverlag« zu errichten, zumal auch seine noch in Berlin tätigen Mitarbeiter nicht glaubten, dass sich entsprechend große Abnehmerkreise finden ließen. 1940 übersiedelte Salman Schocken in die USA und errichtete dort 1945, im Alter von achtundsechzig Jahren, zusammen mit seinen Söhnen Theodore und Gideon seinen dritten Verlag, Schocken Books Inc., New York, mit dem er Maßstäbe setzen wollte im Bereich der Literatur des Judentums.898 Dabei gedachte er seine in Deutschland gesammelten Erfahrungen fruchtbar zu machen auf einem Boden, der nach seiner Wahrnehmung einer Erneuerung des Judentums dringend bedurfte und der auch bereit schien für die Aufnahme jener kulturzionistischen Ideen, die er mit den Büchern seines Unternehmens verbreiten wollte.899 Selbst wieder nach Jerusalem zurückgekehrt, überließ er die operative Führung des Verlags seinen Söhnen Theodore und Gideon, nahm aber auch aus der Entfernung maßgeblichen Einfluss darauf. Theodore Schocken* (1914 Zwickau – 1975 White Plains), der 1933‒1938 als Leiter des Berliner Schocken Verlags eingesetzt gewesen war, stand dem New Yorker Unternehmen 1946‒1949 und dann wieder 1965‒1975 als Präsident vor. Er befand sich, nach einer Zwischenstation in Palästina, bereits seit 1938 in den USA und hatte nach einem Studium 1941‒1945 Militärdienst in der US-Army geleistet.900 Gideon Schocken* (1919 Zwickau – 1981 Kfar 896 Dahm, S. 447. 897 Im Falle der Gemeinschaftsauslieferung von Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer war der von ihm gegebene Anstoß auch erfolgreich; siehe hierzu das Kap. 6.1 Distribution. 898 Zu Schocken Books in New York vgl. Theodore Schocken: Schocken Books: Twenty-Five Years of Judaica Publishing in America. In: Judaica Book News. 1971; Poppel: Salman Schocken and the Schocken Verlag, S. 93‒113; David: The Patron. A Life of Salman Schocken; Karper: A History of Schocken Books in America, 1945‒2013, S. 271‒281. 899 Vgl. hierzu Davidowicz: Rückführung zum Judentum, S. 115‒125. 900 Nach 1949 nahm Theodore Schocken auch Aufgaben im Aufsichtsrat der Firma Merkur AG wahr, wie die Schocken-Kaufhäuser seit der Arisierung im Jahr 1938 firmierten: im
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Shmatriahu, Israel), der jüngste Sohn Salmans, arbeitete nur bis 1948 im Direktorium von Schocken Books mit und entschloss sich dann zu einer Offizierslaufbahn in Israel.901 Wichtige Mitarbeiter im Verlag waren Hannah Arendt, die 1946–48 als Lektorin für belletristische Literatur bei Schocken Books tätig war und sich u. a. um das Werk Kafkas kümmerte, vor allem aber der Lektor für jüdische Literatur Nahum N. Glatzer (1903–1990).902 Glatzer, 1931 als Schüler Martin Bubers auch Nachfolger auf dessen Lehrstuhl in Frankfurt am Main und seinerseits ein eminenter Gelehrter im Bereich jüdischer Religionsgeschichte und Ethik, übte seine Lektorentätigkeit für Schocken Books 1945‒1956 aus; von 1950‒1973 war er auch als Professor für jüdische Geschichte und Philosophie an der Brandeis University in Waltham, Mass. tätig. Als Repräsentant der jüdischen Erneuerungsbewegung prägte er das dreisprachige (englisch, deutsch, hebräisch903) Buchprogramm des Verlagshauses maßgeblich mit. Zu einer Säule des Programms entwickelten sich von Anfang an die Werke Franz Kafkas. Salman Schocken hatte sich in den dreißiger Jahren die Abb. 33: Der Verlagskatalog von Weltrechte am Werk Franz Kafkas gesichert und, Schocken Books aus dem zweiten wie erwähnt, in Berlin und Prag eine Gesamtausgabe Halbjahr 1948 enthielt bereits herausgebracht und unter Umgehung behördlicher eine breite Palette von Werken zu Verbote auch abgeschlossen; Schocken Books er- jüdischen Themen, darunter auch warb sich nun das größte Verdienst darin, mit den die ersten Bände der neuen 1946 erscheinenden Gesammelten Schriften (hrsg. »Schocken Library«. von Max Brod, gem. mit Heinz Politzer) und mit Einzelausgaben in englischer Übersetzung dem amerikanischen Publikum Kafka als einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts vorzustellen.904 Auch Max Brods Kafka-Biographie (dt. 1946; engl. 1947) trug zur Popularisierung des Prager Dichters bei.
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Zuge der Wiedergutmachung hatte die Familie Schocken 51 % des in den drei Westzonen Deutschlands befindlichen Vermögens zurückerhalten. Er gehörte außerdem den Aufsichtsräten des New Yorker Leo Baeck-Instituts an, des Jewish Theological Seminary, N. Y., und des von der Familie gestifteten Schocken Institute of Jewish Research in Jerusalem. Gideon Schocken war 1934 nach Palästina gegangen; von 1936 bis 1941 war er Mitglied der Haganah. 1937 wurde er ins Direktorium von Schocken Publishing House Ltd. Tel Aviv berufen; von 1941 bis 1945 leistete er Militärdienst in der britischen Armee. Nach kurzer Tätigkeit bei Schocken Books in New York trat er 1949 als Stabsoffizier in die israelischen Streitkräfte ein. Vgl. The Memoirs of Nahum N. Glatzer; Fermi: Illustrious Immigrants, S. 276 f. Einige Titel wurden auch in jiddischer Sprache herausgebracht, wie Röyte Pomerantsen. Jewish folk humour, gathered by Immanuel Olsvanger, 1947. So erschienen als Nr. 7 der »Schocken Library« Kafkas Parables (1947); in Einzelbänden, meist in mehreren Auflagen, auch The great wall of China. Stories and reflections (1948),
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Der Schwerpunkt des Programms lag aber auf den Judaica, wobei Martin Buber (Tales of the Hasidim, 2 Tle. 1947/1948) die entscheidende Orientierungsfigur darstellte. Überhaupt zog sich der Verlag anfänglich fast zur Gänze auf schon in Berlin gepflegte Traditionen zurück, wenn er etwa Joseph Agnon, der schon in Deutschland zu den wichtigsten Schocken-Autoren gezählt hatte (und 1966 den Literaturnobelpreis erhielt) sowie zahlreiche zum Kanon der neueren jüdischen Religionsphilosophie zugehörige Autoren verlegte, wie Leo Baeck (The essence of Judaism, 1948) oder Gershom Scholem (Major trends in Jewish mysticism, 1946).905 Glatzer steuerte als Herausgeber einige einschlägige Textanthologien bei, wie In time and eternity. A Jewish reader (1946), The language of Faith. Selected Jewish prayers (1947) oder Hammer on the rock. A short Midrash reader (1948). Dieselbe Tendenz zeigte sich in der 1947 ins Leben gerufenen »Schocken Library«, die im Grundkonzept ganz der »Bücherei des Schocken Verlags« nachgebildet und wohl ebenfalls auf 100 Bände angelegt war. Es erschienen allerdings in dieser in Format und Umfang stark normierten, preisgünstigen Serie bis 1949 nur zwanzig Bände,906 nach der Nr. 20, Yiddish Proverbs (zweisprachig jiddisch / englisch) wurde die Reihe aufgegeben, offensichtlich wegen mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs. Dessen tiefere Ursache mag genau darin gelegen haben, dass die »Schocken Library« wie im Grunde das gesamte, bis 1950 50‒60 Titel umfassende Verlagsprogramm (abgesehen von Kafka) strikt einem deutsch-jüdischen kulturzionistischen Bildungsideal verhaftet war (u. a. auch mit Bändchen zu Heinrich Heine, Salomon Maimon, Ferdinand Gregorovius) und auf die spezifischen Gegebenheiten des Judentums in den USA fast gar nicht einging. Insofern dieses Programm teils eine Wiederholung, teils eine Fortschreibung des Schocken Verlags von vor 1938 darstellte, nahm es nicht einmal auf die Problemlage des europäischen Judentums Bezug, die nach der Katastrophe der Shoah und der Gründung des Staates Israel eine einschneidend veränderte gewesen ist. Die wenigen Ansätze, diese Einseitigkeit etwa mit Titeln wie Jean-Paul Sartres Anti-Semite and Jew (1948) zu überwinden, waren wohl dem Wirken Hannah Arendts zu verdanken, die sich aber mit weitergehenden Vorschlägen auch zu belletristischen Akzentsetzungen nicht durchsetzen konnte und nach wenigen Jahren den Verlag verließ. Erst geraume Zeit später machte sich mit einer Öffnung des Programms ein Prozess der Akkulturation geltend, sodass dann Schocken Books »immer mehr zum Medium amerikanischen jüdischen Geisteslebens wurde«.907 Der deutschsprachigen Emigration hat – anders als dem amerikanischen Publikum – das Angebot des Verlags von Anfang an zugesagt. So wurden die ersten fünf Titel der Schocken Library in der Zeitschrift Aufbau in einem Artikel Die Schocken-Bücher sind
The penal colony. Stories and shortpieces (in der Übersetzung von Willa und Edwin Muir, 1948) und The diaries of Franz Kafka, ed. by Max Brod, Teil 1: 1910–1913 (1949), Teil 2: 1914‒1923 (1949). 905 Beide Titel waren zuvor bereits in Berlin oder Jerusalem erschienen; das trifft auch auf Leo Baecks Essay Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte (Schocken Bücherei Nr. 6, 1934) zu; 1947 kam er in New York erweitert heraus u. d. T. The pharisees and other essays. 906 Eine fast vollständige Titelliste findet sich in: Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung Exil-Literatur 1933‒1945, S. 438. 907 Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger, S. 1432.
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wieder da geradezu enthusiastisch begrüßt, nicht nur aufgrund ihres überzeugenden Äußeren: Die buchtechnische Ausstattung der Bändchen der neuen Schocken Library kann nicht genug gerühmt werden. Eine hervorragend klare typographische Anordnung verbindet sich in ihnen mit gediegenen Einbänden, die auch ästhetisch hohe Anforderungen befriedigen. Qualitativ stehen die ersten fünf Bände der Sammlung auf der bei Schocken gewohnten geistigen Höhe. Das Prinzip der Schocken Library, in ihren Bänden nur die besten Erzeugnisse jüdischer Geistigkeit, Dichtung und Gelehrsamkeit zu vereinen und sie dem Lesepublikum zu sehr erschwinglichen Preisen – jeder Band der Sammlung im Umfang von etwa 128 Seiten kostet nur $ 1.50 – darzubieten, ist in den fünf Erstlingen voll gewahrt.908 Allerdings: Schocken Books hat sich nie als Exilverlag verstanden,909 und der angestrebte Transfer der deutsch-jüdischen literarischen Tradition nach Amerika ist allenfalls zum Teil gelungen. Eine Zäsur bedeutete in jedem Fall der Tod Salman Schockens 1959;910 Schocken Books wurde zunächst von Sohn Theodore und Schwiegersohn T. Herzl Rome, Ehemann der Tochter Eva Schocken* (1918 Zwickau – 1982 New York),911 weitergeführt. Eva hatte schon zuvor im Verlag als Lektorin mitgearbeitet und übernahm nun auch verlegerische Aufgaben. Sie erweiterte das Programm mit Themen, denen ihr besonderes Interesse galt, wie Reformpädagogik (u. a. mit Maria Montessori-Titeln) und Frauenforschung; auf letzterem Gebiet versicherte sie sich der Beratung durch die emigrierte österreichische Wissenschaftlerin, Feministin und Pionierin der Frauenforschung Gerda Lerner. Nach dem Tod ihres Mannes 1965 heiratete Eva Schocken 1968 in zweiter Ehe Julius S. Glaser (1916‒1986). Der Tod ihres Bruders Theodore 1975 hatte zur Folge, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann an die Unternehmensspitze rückte. In den sieben Jahren ihrer Verlagsleitung verzeichnete Schocken Books zeitweise große Erfolge, u. a. mit dem Bestseller When bad things happen to good people von Rabbi Lawrence Kushner und dem Kinderbuch Masquerade. Nach Eva Schockens Tod blieb Julius S. Glaser Präsident bis zu seinem Ruhestand 1984. 1987 wurde Schocken Books über Vermittlung André Schiffrins* um 3,5 Millionen $ an Random House verkauft;912
908 Aufbau 13, Nr. 43 vom 24. Oktober 1947, S. 10. 909 Wenn auch manche aus Deutschland geflüchtete Autoren verlegt wurden, unter ihnen der Lyriker Karl Wolfskehl (1933. A poem sequence, engl./dt. 1947), der Politologe Leo Strauss und der Historiker Walter Friedländer. 910 Salman Schocken hatte nach teilweisem, auf Westdeutschland beschränkten Rückerhalt seiner Warenhaus-Vermögensanteile noch am Wiederaufbau des Konzerns durch Helmut Horten mitgewirkt, 1953 aber seine Aktienanteile verkauft. Danach hielt er sich meist in Scarsdale bei New York und in der Schweiz auf, nach Jerusalem kehrte er nur für kurze Besuche zurück. 911 Vgl. u. a. [Nachruf Eva Schocken] In: The New York Times, 13. Januar 1982; [Nachruf Julius S. Glaser] In: The New York Times, 16. September 1986; Jewish Womens Archive: Andra Medea: Eva Schocken [online]. 912 Schocken Books an Random House verkauft. Die bewegte Geschichte eines jüdischen Verlagshauses. In: Aufbau, 25. September 1987, S. 10 f.
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das Schocken-Programm lief dann unter Schiffrin, dem Editor-in-Chief Fred Jordan* und 1993‒1999 unter dem editorial director Arthur Samuelson bei Pantheon Books weiter,913 mittlerweile ebenfalls unter dem Dach von Random House.
Philipp Feldheim, New York Beträchtliche Bedeutung gewann nicht nur die 1941 von Philipp Feldheim* (1901 Wien – 1990 New York) in New York eröffnete jüdische Spezialbuchhandlung The House of the Jewish Book,914 sondern auch der von ihm wenig später gegründete Verlag Philipp Feldheim, Inc., der zunächst mit Publikationen klassischer religiös-jüdischer Literatur (besonders der Seforim, der hebräischen Bücher für das Thora-Studium) und durch übersetzerische und editorische Pionierleistungen hervortrat. Feldheim selbst hatte unter dem Einfluss von Rabbi Joseph Breuer (Washington Heights) die bedeutsamen Schriften des deutschen Rabbi Samson Raphael Hirsch ins Englische übersetzt; auch war er am ersten Talmud-Druck in den Vereinigten Staaten beteiligt. Nachfolgend expandierte der Verlag in einer Weise, die ihn zum größten Verlag von Judaica in englischer Sprache heranwachsen ließ. Das ausgedehnte Programm umfasste neben Thoraund Talmud-Literatur als Kerngebieten auch Bücher zum jüdischen Recht, aber auch zu jüdischer Geschichte und jüdischen Lebensformen, bis hin zu koscheren Kochbüchern; der Verlag wirbt heute mit dem Slogan »Jewish Books for the whole family!«. 1968 wurde mit Feldheim Publications, Ltd. ein Zweig in Israel errichtet; die Programmerweiterung wurde u. a. mit der »Torah Classics Library« erfolgreich fortgesetzt. Philipp Feldheim starb 1990 nach längerer Krankheit; zuvor hatten bereits seine beiden Söhne die Leitung des Unternehmens übernommen: Rabbi Yitzchak Feldheim (geb. 1950) den Stammverlag in New York (seit 1982 in Nanuet / N. Y.), Rabbi Yaakov Feldheim die Feldheim Publications, Ltd. in Jerusalem (bis zur Insolvenz 2012).
E. Laub Publishing, New York Eine kleine Druckerei diente Elias Laub* (1885 Polen – 1949 New York)915 als Basis, um im New Yorker Exil wieder eine verlegerische Tätigkeit aufzunehmen. Laub war 1921 Geschäftsführer der kommunistischen Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten (VIVA)916 und zeichnete wenig später als Inhaber der 1920 gegründeten E. Laub’schen
913 Zur Geschichte der Schocken Verlage und zu den Entwicklungen in neuerer Zeit vgl. auch die aufschlussreichen Gespräche: A conversation about Schocken Books. Part I, with Altie Karper and the Editor of Archipelago (www.archipelago.org/vol5-2/karper.htm); Part II, with Susan Ralston and the editor of Archipelago (www.archipelago.org/vol5-3/ralston.htm); Part III, with Arthur Samuelson and the editor of Archipelago (http://www.archipelago.org/ vol6-1/schocken.htm). Aktuelle Website: http://knopfdoubleday.com/imprint/schocken/. 914 Näheres dazu im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel; dort auch Angaben zu Biographie und Tätigkeit Philipp Feldheims. 915 Siehe Horst Gebauer: Die Laubsche Verlagsbuchhandlung. In: Bbl. (Lpz), Nr. 3 vom 17. 1. 1984, S. 59 f. 916 Zur VIVA vgl. die Ausführungen von Siegfried Lokatis in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2: Weimarer Republik, Teil 2, S. 115‒120.
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Verlagsbuchhandlung GmbH (vorm. A. Seehof & Co.), verkaufte diese aber bereits 1924 wieder und übersiedelte in diesem Jahr mit seiner Familie nach Antwerpen. 1939 flüchtete er vor den Truppen der Wehrmacht in die USA, erwarb in New York eine Druckerei und gründete die Firma E. Laub Publishing. 1943 erschien hier der Gedichtband Tears von Angelica Balabanoff, in weiterer Folge eine Reihe von Büchern in jiddischer Sprache: von dem bedeutenden jüdischen Schriftsteller Sholem Ash (auch Schalom Asch) 1946 der Roman East River unter dem Titel Ist River sowie 1950 Der Man fun Natzeres, von Benzion Hoffman-Tzivion brachte Laub 1948 Far fuftzig Yor. Geklibene Shriftn und von Semen / Simon Dubnov 1948‒1956 in zehn aus dem Russischen übersetzten Bänden Di welṭ-gešichṭe fun jidišn folk: fun di alṭe tzaiṭn biz tzu hainṭiker tzait, beginnend mit dem Band Di uralṭe gešichṭe fun jidišn folk.
5.2.4
Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage
Die Wissenschaftsemigration Die wissenschaftliche Elite war von den »Entjudungs«-Maßnahmen der NS-Diktatur überproportional betroffen. Einige Zahlen aus dem Bereich der universitären Wissenschaft belegen dies: Etwa ein Drittel der hauptamtlichen deutschen Hochschullehrer wurde zwischen 1933 und 1939 des Amtes enthoben, ein beträchtlicher Teil davon, rund zwei Drittel, sah sich zur Emigration gezwungen. Während vor 1933 in Deutschland 4.482 Ordinarien und Extraordinarien registriert worden waren, verzeichnet das Handbuch der deutschsprachigen Emigration immerhin 2.400 bis 2.500 Exilanten aus dieser Personengruppe ‒ ein Beleg für die enormen Verluste an geistigem Kapital, die sich das nationalsozialistische Deutschland durch die Vertreibung zufügte.917 Betroffen waren Vertreter aller Wissenschaftsgebiete, Soziologen, Kunsthistoriker und Germanisten ebenso wie Mathematiker, Mediziner, Naturwissenschaftler sowie zahlreiche Berufsgruppen mit akademischer Bildung wie Juristen und Ingenieure.918 Zur Vermittlung von Arbeitsplätzen für die ins Ausland Geflüchteten hat sich schon im April 1933 auf Initiative des Anatomen Philipp Schwartz in Zürich eine »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland« gebildet, nach dem Vorbild der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft«.919 Vorsitzender dieser Selbsthilfeorganisation war anfänglich Schwartz selbst, seit Herbst 1933 Fritz
917 Für eine Grundlageninformation siehe im Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933‒1945, Sp. 681‒922 den Abschnitt IV. Wissenschaftsemigration, mit einer allgemeinen Einleitung S. 681‒691 und insgesamt 19 Artikeln zu einzelnen Disziplinen. In der Einleitung heißt es eingangs: »Nach 1933 haben die Wissenschaften im deutschsprachigen Raum rund ein Drittel ihres Personals verloren, das sind nahezu 3.000 Gelehrte.« (Sp. 681). Im Weiteren wird von einer Zahl von 2.000 emigrierten Wissenschaftlern ausgegangen (Sp. 683). 918 Die einzelnen Disziplinen waren in unterschiedlicher Weise davon tangiert; einzelne von ihnen wie die Sozialwissenschaften oder die Wissenschaftstheorie verloren ihre personelle Basis in hohem Maße oder fast zur Gänze. 919 Vgl. Feichtinger: Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945.
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Demuth; ihr wichtigstes Organ war ein Rat deutscher Professoren im Ausland, dem u. a. Max Born, Fritz Haber, Ernst Cassirer, Leopold Lichtwitz, Peter Pringsheim, Hans Kelsen oder Richard von Mises angehörten. Die über alle Asylländer verstreuten Mitglieder des Rates waren jeweils vor Ort bemüht, Stützpunkte der Notgemeinschaft zu errichten und die typischen Probleme zu lösen, mit denen sich die verfolgten Wissenschaftler – 1936 waren 1.500 in der Kartei der Notgemeinschaft registriert 920 – konfrontiert sahen: Deutsche Studienabschlüsse und akademische Diplome wurden oft nicht anerkannt; Arbeits- und Niederlassungsverbote mussten überwunden werden. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Hilfskomitees, vor allem dem britischen Academic Assistance Council (ACC) und dem amerikanischen Emergency Committee in Aid of Displaced German / Foreign Scholars (EC)921 sowie der Rockefeller Foundation, gelang es, vielen die Fortsetzung ihrer Laufbahn zu ermöglichen.922 Wie die Sachregister in den gedruckten Katalogen des Deutschen Exilarchivs erkennen lassen,923 haben die emigrierten deutschen und österreichischen Wissenschaftler in fast allen nur denkbaren Fachgebieten publiziert, von der Anthropologie bis zu den Wirtschaftswissenschaften, von der Chemie bis zur Psychologie. Und wie die Vertreibung dieser Eliten in Deutschland und Österreich Folgen gehabt hat, die bis in die Gegenwart außerordentlich negativ nachwirken, so waren umgekehrt die Angehörigen der Wissenschaftsemigration mit dem von ihnen mitgebrachten Wissen und den von ihnen repräsentierten Wissenschaftsparadigmen ein ungeheurer Gewinn für alle Länder, in denen sie ihre Arbeit wieder aufnahmen.924 Ein wichtiges Element dieses internationalen Wissenstransfers waren die aus Deutschland emigrierten Wissenschaftsverleger bzw. die Exilanten, die in ihren Aufnahmeländern jene Publikationsplattformen und -netzwerke aufbauten, in denen die vom Nationalsozialismus geächteten Wissenschaftler verlegerisches Asyl fanden.
920 Dazu erschien als eine Veröffentlichung der Notgemeinschaft, hrsg. von Fritz Demuth, 1936 in London eine List of displaced German scholars. Ein Supplement dazu wurde 1937 herausgebracht. 921 Ein Annual report des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars erschien 1941 in New York. 922 Als ein Beispiel: Der Sozialdemokrat und Pazifist Siegfried Marck, vor 1933 Ordinarius für Soziologie und Philosophie in Breslau, erhielt ein Forschungsstipendium der Rockefeller Foundation an der Universität Paris und lehrte dann seit November 1934 als Dozent an der Université Dijon Philosophiegeschichte und Literatur. Marck war in der Volksfrontbewegung aktiv; im April 1939 ging er in die USA und war dort an mehreren Colleges tätig. Siehe auch Schulz: Siegfried Marck. Politische Biographie eines jüdisch-intellektuellen Sozialdemokraten [online]. 923 Siehe hierzu das Kap. 5.1 Verlage: Typologie, Produktion, Kalkulation. Aus den anhand der Register ermittelten Zahlenwerten geht hervor, dass einen auffällig hohen Prozentsatz vor allem die Sachgruppen »Psychologie (auch Astrologie), Psychoanalyse, Psychiatrie« mit 4,21 % aller Nennungen sowie »Mathematik, Statistik« mit 3,34 % für sich beanspruchen konnten. Geschichte / Kulturgeschichte war mit 3,15 %, Kunstwissenschaft mit 2,35 %, Philosophie mit 2,29 % und die Wirtschaftswissenschaften mit 1,92 % vertreten. 924 Ganz besonders gilt dies für die USA, wo rund 1.300 Wissenschaftler, also rund zwei Drittel aller geflüchteten, Aufnahme gefunden haben. Allein 100 Physiker gehörten zu dieser Gruppe.
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Frankreich Frankreich war Schauplatz zahlreicher Initiativen, um der vertriebenen Wissenschaft Hilfe zu gewähren. So wurde im Herbst 1934 die »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, Kunst und Literatur im Ausland – Sitz Paris« gegründet, initiiert von dem Schriftsteller Anselm Ruest, dem Musikkritiker Paul Bekker und dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Die Notgemeinschaft publizierte im September ein Vorlesungsverzeichnis mit etwa 200 Vorträgen auf 16 Wissensgebieten; die Initiative blieb ansonsten aber weitgehend erfolglos.925 Ebenfalls in Paris entstand ein Jahr später die »Freie deutsche Hochschule«.926 Gegründet 1935 wurde sie u. a. von Lászlo Radványi, der sich damals Johann Lorenz Schmidt nannte und seit 1925 mit Anna Seghers verheiratet war; er leitete bis 1939 diese teils an der Tradition der Berliner Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), teils an der sozialdemokratischen Linie der Volkshochschulen ausgerichtete Institution und hielt dort Vorlesungen über historischen und dialektischen Materialismus sowie über die Ideologie des Nationalsozialismus. Neben Vorlesungen (u. a. auch von Hermann Duncker927) wurden auch Einzelvorträge zu Politik, Wirtschaft und Kultur angeboten; mit dem französischen Germanisten Vermeil wurde ein »HeineAbend« organisiert. Die »Freie deutsche Hochschule« stand in enger Verbindung zu der parallellaufenden, ebenfalls von Radványi / Schmidt initiierten »Deutschen Volkshochschule (im Exil)«, an der u. a. Anna Seghers, Kurt Kersten, Egon Erwin Kisch, der sozialdemokratische Journalist Robert Breuer oder Erwin Piscator Vorträge hielten.928 Die Volkshochschule wandte sich an ein jüngeres Publikum innerhalb der deutschsprachigen Emigration, setzte weniger spezialisiertes Wissen voraus und sollte auch als eine Vorstufe zur »Freien deutschen Hochschule« fungieren. Die Kurse der Volkshochschule fanden überwiegend in Buchhandlungen statt, der Lifa oder der Librairie Science et Littérature,929 während die Seminare und Vorlesungen der Hochschule in einem Saal der Maison des Sociétés savantes im Quartier Latin gehalten wurden. Die Attraktivität der beiden Einrichtungen ergab sich nicht zuletzt aus dem Bekanntheitsgrad und der Kompetenz der Dozenten, unter ihnen Siegfried Marck, der Theologe Fritz Lieb, die Historiker Veit Valentin und Georg W. Hallgarten, der Jurist Hugo Sinzheimer, der Statistiker und enragierte Pazifist Emil Julius Gumbel, der Soziologe Paul Honigsheim oder der Kunstwissenschaftler Klaus Berger und der Musikologe Leo Kestenberg. Einen Eindruck von der geistigen Kapazität, die damals in diesem Kreis versammelt war, vermittelt auch die von Emil Gumbel in Willi Münzenbergs Sebastian Brant-Verlag
925 Vgl. dazu Roussel: L’Université allemande libre; hier S. 330 f. Vgl. ferner Mathieu: Sur l’Emigration des universitaires. 926 Roussel: L’Université allemande libre, S. 331. – Siehe auch den Artikel »Freie deutsche Hochschule in Paris. Eine notwendige Neugründung«. In: Pariser Tageblatt vom 18. November 1935, S. 4. 927 Duncker, erst seit 1938 in Paris, gehörte 1925 zu den Mitbegründern der MASCH, ebenso wie auch Schmidt / Radványi, der die MASCH in Berlin zuletzt geleitet hatte. 928 Vgl. Roussel: L’Université allemande, S. 333‒335. 929 Siehe dazu das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. Die Pariser Exilbuchhandlungen sorgten auch für eine Bekanntmachung des Lehrangebots der beiden Einrichtungen, ebenso Exilorgane wie die Deutsche Volkszeitung.
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herausgegebene Anthologie Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration.930
Science et Littérature Exilverlage mit wissenschaftlichem Programm kamen im europäischen Exil nur sehr vereinzelt zustande. Eines der seltenen Beispiele dafür liefert der Verlag Science et Littérature, den Ernst Heidelberger* (geb. 1908 Bad Mergentheim) ab 1937, teilweise in Verbindung mit der »Freien deutschen Hochschule« in Paris, betrieb. Heidelberger war nach der NS-»Machtergreifung« als ein mit der KPD sympathisierender Gymnasiallehrer mit Berufsverbot belegt worden und entschloss sich noch im Juni 1933 zur Flucht nach Frankreich. In Paris bewegte er sich bald in Kreisen der politischen Emigration, im Komintern-Büro des »Institut pour L’étude du Fascisme« lernte er u. a. Arthur Koestler und Manès Sperber kennen.931 Im Frühjahr 1935 emigrierte Heidelberger mit seiner Familie nach Palästina Abb. 34: Nach vielversprechendem Auftakt und eröffnete in Ramat-Gan, einem Vorort endete die Zeitschrift für freie deutsche von Tel Aviv, eine Buchhandlung, in der er, Forschung nach der dritten Nummer vom mit fachlicher Beratung durch Walter ZaMärz 1939. dek, ein Sortiment deutscher Exilliteratur aufbaute. Dem Geschäft war wenig Erfolg beschieden, so dass Heidelberger Mitte 1937 die Buchhandlung verkaufte und mit seiner Familie erneut nach Frankreich ging, wo er sich in der Volksfrontbewegung engagierte. Im September 1937 eröffnete er im Quartier Latin die Buchhandlung Science et Littérature, die Emigrantenzeitschriften und Bücher von Exilverlagen führte. Kurze Zeit später lud Schmidt / Radványi Heidelberger ein, als Herausgeber der Zeitschrift für freie deutsche Forschung der »Freien deutschen Hochschule« zu fungieren, deren erste Nummer im Juli 1938 erschien und u. a. Albert Einsteins Aufsatz über Physik und Realität enthielt. Es ist bezeichnend, mit welchem Enthusiasmus diese Zeitschrift im
930 Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration. Hrsg. von Emil Gumbel. Strasbourg: Sebastian Brant 1938. Mit Beiträgen u. a. von Gumbel selbst, Anna Siemsen, Theodor Geiger, Walter A. Berendsohn, Fritz Lieb, Siegfried Marck, Julius Lips, Carl Misch, Gottfried Salomon, Alfred Meusel, Arthur Rosenberg. 931 Palmier zufolge hat Heidelberger in dem Institut in einer Gruppe von rund zwanzig Emigranten aus dem kommunistischen Umkreis Artikel aus der Nazipresse ausgeschnitten und archiviert (Palmier: Weimar en Exile, S. 747, Anm. 144).
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Abb. 35: Sonderprospekt zu Döblins Reflexion über die Exilliteratur von 1938; die auf der Rückseite angekündigten Publikationen von A. Seghers, A. Malraux und J. Schmidt (Radványi) sind nicht mehr im Verlag erschienen.
New Yorker Aufbau begrüßt worden ist.932 Unter der Überschrift »Eine bedeutsame Neuerscheinung« schrieb »Bdl.«: Der Juli dieses Jahres hat den ausserhalb Deutschlands lebenden deutschsprachigen Wissenschaftlern die Erfüllung eines Wunsches gebracht, der schon seit dem 30. Januar 1933 in ihnen brannte: Im Verlag »Science et Littérature« […] ist das erste Heft einer Zweimonats-Publikation herausgekommen, die den Titel »Zeitschrift für freie deutsche Forschung« (»Libres Recherches Allemandes«) führt. Organ der Pariser »Freien Deutschen Hochschule«, ist diese Zeitschrift dazu bestimmt, den Expectorationen der »auf dem Arierpass und dem Bekenntnis zum Antihumanismus« aufgebauten nationalsozialistischen Pseudo-Wissenschaft die Ereignisse echter und wahrhafter Forschung (insbesondere aus den Gebieten von Philosophie, Soziologie, Psychologie, Oekonomie, Geschichte, Jurisprudenz, Litteratur- und Kunstwissenschaft sowie theoretischer Physik, Chemie und Biologie) gegenüberzustellen. Gelingt es den Herausgebern, die Zweimonatsschrift in der Höhenlage zu halten, in der sie débutierte, dann haben sie den Anspruch auf die Dankbarkeit aller, die den [!] Glauben an den freien Geist noch nicht abgeschworen haben. Aus der Sicht des Rezensenten dokumentierte sich diese »Höhenlage« nicht nur im Beitrag Albert Einsteins, sondern ebenso in der Studie Julius Lipsʼ (Washington D. C.)
932 Aufbau, Jg. 4, H. 11, 1. Oktober 1938, S. 6.
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über die Regierungs- und Verwaltungsformen der Naturvölker oder in der Abhandlung über »Fremdheitskomplex und Uebernationalismus« des Historikers Georg W. Hallgarten (Paris). Außerdem enthielt die Nummer einen Vortrag von Johann Lorenz Schmidt / Lászlo Radványi zu der Programmatik der Zeitschrift. Es war den Zeitumständen geschuldet, dass von der Zeitschrift für freie deutsche Forschung, der offensichtlich eine wichtige Funktion in der scientific community des Exils zugekommen wäre, nur noch zwei weitere Nummern (November 1938 und März 1939) erscheinen konnten.933 Parallel dazu brachte Heidelberger im Verlag Science et Littérature in einer Reihe »Schriften zu dieser Zeit« 1938 Alfred Döblins als Versuch einer Verortung der Exilliteratur bedeutsamen Aufsatz Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933)934 und einen Essayband von Manès Sperber935 heraus. In französischer Sprache erschien von S. Feblowicz und Philippe Lamour Le Statut juridique des étrangers en France (1938). Nach Kriegsbeginn 1939 vorübergehend im Stadion von Colombes interniert, musste Heidelberger seine Buchhandlung aufgeben; er gelangte über Marseille nach Algerien, wo er sich der Fremdenlegion anschloss. Im September 1940 erreichte er wieder Südfrankreich und wurde Widerstandskämpfer in der Résistance. Der Versuch Heidelbergers, nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf juristischem Weg die Pariser Buchhandlung und den Verlag zurückzuerhalten, scheiterte.936
Wissenschaftliche Exilpublikationen in französischen Verlagen Deutschsprachige Bücher emigrierter deutscher Wissenschaftler sowie einschlägige Zeitschriften erschienen auch in französischen Verlagen.937 Hierzu einige Beispiele: Die Librairie Felix Alcan war 1933 bis 1939 der Verlag der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung, herausgegeben von Max Horkheimer, sowie von zwei Werken von Vertretern der Frankfurter Schule, von Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, 1934 (nach 1945 noch mehrfach neu aufgelegt und im Rahmen der linken Bewegungen nach 1968 wieder stark rezipiert!) und den 950 Seiten umfassenden Band Studien
933 Genaueres dazu bei Roussel: L’Université allemande libre, S. 342‒348. 934 Alfred Döblin: Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933), ein Dialog zwischen Politik und Kunst. Paris: Science et Littérature 1938 (Schriften zu dieser Zeit, 1). 935 Manès Sperber: Zur Analyse der Tyrannis. Das Unglück, begabt zu sein. Zwei sozialpsychologische Essais. Paris: Science et Littérature 1938 (Schriften zu dieser Zeit, 2/3). 936 Heidelberger arbeitete 1947/1948 in der Verwaltung eines Waisenhauses für deportierte Kinder in Pougues-les-Eaux und bemühte sich bei der Schulbehörde von Düsseldorf um den Wiedereinstieg als Lehrer. Nachdem ihm die Behörde ein Praktikum von einem Jahr vorschreiben wollte, gab er die Bemühungen um Rückkehr auf und ging als Buchhalter in mehreren kleinen Unternehmen einem Brotberuf nach, veröffentlichte daneben literarische Artikel zu deutschen jüdischen Schriftstellern, vor allem in der Zeitschrift L’Arche. 1964 nahm Heidelberger wieder die deutsche Staatsbürgerschaft an, blieb aus familiären Gründen aber in Frankreich. Vgl. seine autobiographischen Auskünfte in: E. H.: Une vie en tranches. – Vgl. ferner die Angaben zum NL Bundesarchiv Potsdam; Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 45 f. 937 Vgl. hierzu Roussel: Éditeurs et publications, S. 396 f.
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über Autorität und Familie, Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. In den Editions Hermann erschienen 1935 hochspezialisierte Arbeiten der Mathematiker Reinhold Baer: Automorphismen von Erweiterungsgruppen (exposés mathematiques, No. 10) und Richard Brauer: Über die Darstellung von Gruppen in Galoischen Feldern (exposés mathematiques, No. 7), aber auch eine Schrift des Philosophen Ernst Cassirer: Die Philosophie im 17. und 18. Jahrhundert (1939). Vom österreichischen Germanisten Albert Fuchs publizierte der Verlag La Société d’Editions »Les Belles Lettres« im Jahr 1934 das Werk Geistiger Gehalt und Quellenfrage in Wielands Abderiten. Die Librairie E. Droz, Genf-Paris, brachte eine Arbeit des Linguisten Eugen Seidel heraus (Zu den Funktionen der Vergangenheitstempora im Rumänischen, 1939). Heitz & Cie. in Straßburg verlegte zwei wissenschaftliche Publikationen,938 von Ludwig W. Kahn Shakespeares Sonette in Deutschland (Dissertation 1934) und von Leo Balet die nach 1945 recht bekannt gewordene Darstellung Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert (Leipzig [!], Strassburg, Zürich 1936). Im Selbstverlag publizierte Erich Stern, von 1934 bis 1940 und wieder nach 1945 an der Abteilung für Kinderpsychiatrie der Medizinischen Fakultät in Paris, seine Studie Die Emigration als psychologisches Problem (Boulogne-sur-Seine 1937), es dürfte die erste Abhandlung dieser Art gewesen sein.939
Dänemark Sexpol.Verlag Ins dänische Exil hatte sich, aus Berlin über Wien kommend, 1933 der Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich geflüchtet. In dem in Kopenhagen errichteten Sexpol.Verlag (einer Fortsetzung des 1931 in Berlin gegründeten Verlags für Sexualpolitik), dessen amerikanisches Pendant die in New York eingerichtete Orgone Institute Press war, erschienen fortan940 die zahlreichen Publikationen Reichs, darunter Massenpsychologie des Faschismus. Zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik (1933) und Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1934), auch die Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie. In New York, wohin Reich im August 1939 mitsamt seinem Labor übersiedelt war (er hatte einen Lehrauftrag an der New School for Social Research erhalten), erschienen in seiner Orgone Institute Press eine Reihe früherer Werke in Übersetzung ins Amerikanische, wie 1940 die Character-analysis oder 1946 The mass psychology of fascism,941 und noch zahlreiche weitere Titel, außerdem von 1949‒1953 das Orgone energy bulletin.
938 Roussel, S. 387 f. 939 Roussel, S. 392. 940 Mit Ausnahmen: 1934 etwa erschien in den Éditions Sociales Internationales Wilhelm Reichs La crise sexuelle. 941 Wilhelm Reich: The mass psychology of fascism. Translated from the German manuscript by Theodore P. Wolfe. 3., rev. and enlarged edition. New York: Orgone Institute Press 1946.
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Abb. 36: Hinter dem Herausgeber der Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie ›Ernst Parell‹ verbarg sich niemand anderes als Wilhelm Reich selbst.
Großbritannien Wie in vielen Ländern wurde auch in Großbritannien 1936 mit Sitz in London ein Stützpunkt der »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland« errichtet, und es kam auch dort 1942 zur Gründung einer »Freien Deutschen Hochschule«, in diesem Fall im Rahmen der von Robert Kuczynski angeführten »Freien Deutschen Bewegung in Großbritannien«, die politische Gruppierungen unterschiedlichster Ausrichtung integrierte.
Imago Publishing Co. Bedingt durch die Emigration Sigmund Freuds nach London war dort ein neues Zentrum des Verlagswesens für Psychoanalyse entstanden, in Nachfolge des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, der ab 1919 zunächst von Otto Rank, von 1925 bis 1932 von Albert (bis 1938 Adolf) Storfer* (1888 Botoschani, Siebenbürgen – 1944 Melbourne) geleitet worden war.942 Der Verlag hatte in dieser Zeit mehrere Periodika und bedeutende
942 Zu Storfer, der Ende 1938 aus Wien nach Shanghai emigrierte und 1941 nach Australien evakuiert wurde, wo er seinen Lebensunterhalt als Knopfdrechsler verdiente, vgl. ScholzStrasser: Adolf Joseph Storfer (1888‒1944); Scholz-Strasser: Adolf Joseph Storfer: Journalist, Redakteur, Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlags 1925‒1932. – In
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Werke der Psychoanalyse, vor allem aber seit 1924 eine aufwändige, 12bändige Ausgabe der Gesammelten Schriften Sigmund Freuds herausgebracht und sich damit in finanzielle Schwierigkeiten manövriert.943 1932 übernahm daher Martin Freud*, der älteste Sohn Sigmund Freuds, der bis dahin als Prokurist einer Bank tätig gewesen war, die Geschäftsführung. 1938 nach einer Hausdurchsuchung von der Gestapo festgenommen und verhört, emigrierte er 1939 zusammen mit seinem Vater nach London.944 In London war, auf Initiative von Sigmund Freud, bereits die Imago Publishing Co. entstanden.945 Begründet von John Rodker (1894‒1955), diente der Verlag hauptsächlich dazu, eine wieder federführend von Anna Freud herausgeberisch betreute Ausgabe der Gesammelten Werke des Begründers der Psychoanalyse zu publizieren.946 Von 1940 an erschienen in London insgesamt 17 Bände, mit einem Register- und einem Nachtragsband; diese Imago-Ausgabe stellt damit bis heute die vollständigste Edition der Schriften Sigmund Freuds dar. 1952 war sie abgeschlossen; 1961 wurde der Verlag aufgelöst. Vor und nach 1945 erschienen außerdem noch Werke von Theodor Reik (Aus Leiden Freuden, 1940), Anna Freud (u. a. Das Ich und die Abwehrmechanismen, 1946; Einführung in die Kinderanalyse, 1948 [engl. Ausgabe 1946]); Dorothy Burlingham (gem. m. Anna Freud: Kriegskinder, 1949; Anstaltskinder, 1950) sowie zahlreiche Bücher von Marie Bonaparte (Mythes de Guerre / Myths of War, 1946/1947; The Life and Works of Edgar Allan Poe. A psycho-analytic interpretation, 1949; Chronos, Eros, Thanatos, 1951; Monologues devant la vie et la mort, 1951; Female sexuality, 1953 u. a. m.), die 1938 ihrem Arzt und Lehrer Sigmund Freud durch Erlag der (später zurückgezahlten) »Reichsfluchtsteuer« die Ausreise nach London ermöglicht hatte. Eine weitere, für die Geschichte der Psychoanalyse wichtige Publikation war die von Marie Bonaparte bei Imago herausge-
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Shanghai war Storfer als Gründer der Emigranten-Zeitschrift Gelbe Post. Ostasiatische illustrierte Halbmonatsschrift hervorgetreten, in der sich Aufsätze zu asiatischer Kultur ebenso finden wie zu europäischer Psychoanalyse und Linguistik, dazu bebilderte Reportagen über den alltäglichen Überlebenskampf der Emigranten in der kosmopolitischen Kolonialstadt Shanghai, in die man ohne Pass und Visum einreisen konnte und die Tausenden jüdischen Flüchtlingen aus Europa Zuflucht bot. Zum Internationalen Psychoanalytischen Verlag vgl. Reichmayr: »Anschluß« und Ausschluß, bes. S. 171‒178; Hall: The Fate of the Internationaler Psychoanalytischer Verlag; Marinelli: Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags; Huppke / Zerfaß: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919‒1938; Huppke: Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages; Windgätter: »Zu den Akten.« Verlags- und Wissenschaftsstrategien der frühen Wiener Psychoanalyse (1919‒1938); Windgätter: Ansichtssachen. Zur Typographie- und Farbpolitik des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (1919‒ 1938). Zu Martin Freud vgl. Bolbecher / Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur (2000), S. 209 f. – Noch 1939 erschien im Verlag des britisch-jüdischen Hitlergegners Victor Gollancz Martin Freuds Roman Parole d’honneur. 1940 als »enemy alien« auf der Isle of Man interniert, meldete er sich freiwillig zum Pioneer Corps. Der dritte Teil von Sigmund Freuds Studie Moses war 1939 in deutscher Sprache erschienen bei Allert de Lange und in englischer Übersetzung bei Hogarth in London. Gerald W. Cloud: John Rodker’s Ovid Press: A Bibliographical History. New Castle, Delaware: Oak Knoll Press 2010; Art. John Rodker. In: Wikipedia (englischsprach. Version); Clifford Yorke: Imago Publishing Company. In: Gale Dictionary of Psychoanalysis [online].
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gebene Sammlung von Sigmund Freuds Briefe[n] an Wilhelm Fliess, Abhandlungen u. Notizen aus d. Jahren 1887‒1902 (1949). Außerdem erschienen bei Imago Bücher von Friedrich Hertz, Nationality in history and politics: A study of the psychology and sociology of national sentiment and character (1944) sowie The Economic problem of the Danubian states (1947).
Niederlande Dass die Niederlande in der ersten Exilphase zu einem der wichtigsten Zufluchtsorte der vertriebenen deutschen Wissenschaft geworden sind, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass das wissenschaftliche Verlagswesen mit Firmen wie Sijthoff, Nijhoff, Brill, Elsevier oder Van Stockum hoch entwickelt gewesen ist und dass sich hier mehrere bedeutende einheimische Verlage bereitfanden, Bücher von Exilanten herauszubringen. In F. C. Weiskopfs frühem Gesamtüberblick über die Emigration Unter fremden Himmeln hieß es dazu lapidar: »Die Produktion wissenschaftlicher deutscher Literatur nahm der Verlag Sijthoff in Leiden auf.«947
Die deutschsprachige Abteilung bei A. W. Sijthoff, Leiden In der Tat brachte die traditionsreiche, 1850 gegründete A. W. Sijthoff’s Uitgeversmaatschappij N. V. dutzende von Büchern deutscher emigrierter Wissenschaftler heraus, im Grunde quer durch alle Disziplinen, die Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso wie Psychologie, Medizin und Naturwissenschaften. Bemerkenswert erscheint, dass fast alle Titel in deutscher Sprache publiziert wurden, nur sehr wenige in niederländischer, englischer und französischer. Erklärung findet dieser Umstand nicht zuletzt darin, dass der Verlag Sijthoff` im August 1934 eine deutschsprachige Abteilung einrichtete, die von Rudolf Kayser* (1889 Parchim – 1964 New York), vormalig Herausgeber der Neuen Rundschau im S. Fischer Verlag, geleitet wurde.948 Kayser, der Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte studiert hatte und seit 1922 auch mehrere Jahre lang als Lektor bei S. Fischer tätig gewesen war, hatte beste Beziehungen zu einer Vielzahl von Autoren aller Richtungen, überdies war er Albert Einsteins Schwiegersohn. Noch vor seinem Eintritt bei Sijthoff legte er dem Verleger Simon G. van Looy den Plan einer preisgünstigen populärwissenschaftlichen Reihe vor, die sich am Vorbild der erfolgreichen illustrierten Kunstbücher des Wiener Phaidon-Verlags orientieren sollte. Dieser Plan wurde nicht umgesetzt; stattdessen kam es eher konzeptlos zur Publikation von Einzelwerken aus unterschiedlichen Fachrichtungen und mit unterschiedlich großen Zielgruppen; einige Titel waren hochspezialisiert. Für die Autorenakquisition kontaktierte Kayser sowohl
947 Weiskopf: Unter fremden Himmeln (1981), S. 75. 948 Vgl. zum Folgenden Edelman: International Publishing in the Netherlands, S. 63‒75. Auf S. 75‒78 findet sich ein Überblick über niederländische Verlage, in denen nur gelegentlich Bücher emigrierter deutscher Autoren erschienen sind; es handelte sich dabei aber ganz überwiegend um literarische oder politische Bücher. Ausnahme: Der Antiquar Menno Hertzberger brachte 1938 in seinem Verlag Hugo Sinzheimers Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft heraus.
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das »Academic Assistance Council« in Großbritannien wie auch die »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«. Das erste Buch, das die Abteilung herausbringen konnte, war die vierte Auflage der Geschichte der Musik des renommierten Musikwissenschaftlers Alfred Einstein, der damals bereits im Londoner Exil lebte; das Werk, zuletzt bei Teubner erschienen, war vergriffen und sollte nun auch nach Deutschland geliefert werden. Sijthoff legte Wert darauf, nicht als Emigrantenverlag zu gelten, um sich den Zugang zum deutschen Buchmarkt nicht zu verbauen, und man arbeitete deshalb auch mit dem Zwischenbuchhändler Volckmar in Leipzig zusammen. Dass die Autoren der deutschsprachigen Abteilung sämtlich aus Deutschland geflüchtet waren, ließ dieses Unterfangen aber als riskant erscheinen. Sowohl van Looy wie Kayser traten öffentlich dem (vom Rückgang des deutschen Buchexports gestützten) Vorwurf entgegen, in den Nieder- Abb. 37: In den Niederlanden gab landen würden einseitig die Bücher von Emigranten es leistungsfähige Wissenschaftsproduziert und propagiert, vielmehr seien die von verlage, die – wie der Leidener Sijthoff herausgebrachten Bücher politisch ebenso Verlag Sijthoff – den Werken der neutral wie die Niederlande selbst.949 Man wollte aus Deutschland vertriebenen wissenschaftlichen Autoren eine sich also durch Angriffe nicht irritieren lassen; allerneue Heimstatt gaben. dings emigrierte Kayser bereits 1936 weiter nach New York, wo er zunächst einen Lehrauftrag an der New School of Social Research in New York und später eine Professur für deutsche und europäische Literatur an der Brandeis University annahm. Trotz Beendigung seines Vertrags blieb Kayser aber dem Haus Sijthoff verbunden, indem er (gegen Provision) Autoren nach Leiden vermittelte. Publikationen deutscher Emigranten bei Sijthoff seit 1934 1934: Alfred Einstein: Geschichte der Musik, Neue [4.] Aufl.; Hermann Heller: Staatslehre [aus dem Nachlaß];950 Ferdinand Blumenthal: Ergebnisse der experimentellen Krebsforschung; Max J. Friedländer: Die altniederländische Malerei, 14 Bde., 1934‒1937;951
949 Edelman: International Publishing in the Netherlands, S. 69. 950 Heller ist 1933 im Madrider Exil überraschend verstorben. 951 Elf Bände wurden im Rohbogen vom Verlag Paul Cassirer übernommen und mit neuem Titelblatt aufgebunden; drei neue Bände kamen hinzu.
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1935: Ernst von Aster: Die Philosophie der Gegenwart; Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus; Josef M. Nap: Die römische Republik um das Jahr 225 v. Chr., ihre damalige Politik, Gesetze u. Legenden; Hans Reichenbach: Wahrscheinlichkeitslehre; Martin Sommerfeld: Goethe in Umwelt und Folgezeit. Gesammelte Studien; Emil Utitz: Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit; Theodor Reik: Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewußter Vorgänge; Alfred Rosenthal (von Grotthuss): Nietzsches »Europäisches Rasse-Problem«; Alfred Weber: Kulturgeschichte als Kultursoziologie; Geistiges Eigentum. Internationale Zeitschrift für Theorie und Praxis des Urheberrechts und seinen Nebengebieten. Hrsg. von Hans Leemann und Paul M. Dienstag, 1935‒1940; 1936: Moritz John Elsas: Umriß einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland, vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, 2 Bde. in drei Teilen, 1936, 1946, 1949; Carl Gustav Hempel: Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik; Rudolf Kayser: Ilse. Ein Requiem. Privatdruck, in Komm.;952 Leopold Lichtwitz: Pathologie der Funktionen und Regulationen; Carl Oppenheimer: Einführung in die allgemeine Biochemie; Franz Oppenheimer: De derde weg (Weder so, noch so, dt.), 1936; Theodor Reik: Wir Freud-Schüler; 1937: Julius Kraft: Erkenntnis und Glaube; Rudolf Nissen: Chirurgische Indikationen; Josef Berberich, Paul Spiro: Therapie der Tuberkulose. Bearb. v. J. van Assen u. a., 2 Bde.; Martin David: Der Rechtshistoriker und seine Aufgabe; Max Salomon: Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles; 1938: Maximilian Beck: Psychologie. Wesen und Wirklichkeit der Seele; Albert Einstein und Leopold Infeld: Physik als Abenteuer der Erkenntnis; Franz Oppenheimer: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, ein kurzgefasstes Lehrbuch der nationalökonomischen Theorie; Fritz Moritz Heichelheim: Wirtschaftsgeschichte des Altertums; Karl Strupp: Bibliographie du droit des gens et des relations internationales;
952 Im Juli 1934 war Kaysers Ehefrau Ilse in Paris verstorben, wodurch sich auch sein Dienstantritt in Leiden verzögert hatte.
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1939: Ernst Harms: Psychologie und Psychiatrie der Conversion; Heinrich L. Koppelmann: Ursachen des Lautwandels; Kurt Mendelsohn: The balance of resettlements. A predecent for Palestine;953 Nach 1945: Karl Mannheim: Diagnose van onze tijd, 1947; Harry Leo Pinner: The world of books in classical antiquity [»Printed to the design of Henri Friedlaender«]. 2. Aufl., 1948 (1958?); Harry Leo Pinner, Paul M. Dienstag (Hrsg.): The protection of intellectual and industrial property throughout the world. A legal encyclopedia, 1953‒1960.954
E. J. Brill, Leiden In ähnlicher Weise öffnete der ebenfalls in Leiden situierte E. J. Brill Verlag sein Programm den vertriebenen deutschen Wissenschaftlern, wobei er auch recht entlegene Themen akzeptierte und hochspezialisierte kulturgeschichtliche Darstellungen, wohl in Bibliotheksauflage und ganz überwiegend in deutscher Sprache, publizierte. Titel von Fritz Sternberg (Hoe houden wij de Russen tegen zonder orloog?) und Kurt Baschwitz (De intelligentie van het krantenlezend publiek) erschienen erst nach Ende des Krieges 1948 in niederländischer Sprache.955 Publikationen deutscher Emigranten bei E. J. Brill seit 1936 Goethes Faust, hrsg. von Georg Witkowski 2 Bde., 9., vielfach verb. Aufl., 1936; Hans Stein: Pauperismus und Assoziation. Soziale Tatsachen und Ideen auf dem westeuropäischen Kontinent […], 1936; Hans Stein: Der Amsterdamer Arbeiterbildungsverein von 1847 und die Vorläufer der modernen sozialen Bewegung in Westeuropa, 1937; Francis Ludwig Carsten: Der Bauernkrieg in Ostpreußen 1525, 1938; Gustav Mayer: Zum Verständnis der politischen Aktion Lassalles, 1938;
953 Es handelte sich um das letzte Buch, das vor dem Einmarsch der deutschen Truppen herausgebracht werden konnte. 954 Das enzyklopädische Werk wurde 1939/1940 vorbereitet, konnte aber aufgrund der Besetzung der Niederlande nicht realisiert werden. Pinner flüchtete nach London, Dienstag wurde in das Lager Westerbork gebracht und starb Anfang 1945 im KZ Bergen-Belsen. Den Angaben Edelmans zufolge handelte es sich bei Pinner und Dienstag um Anwälte und zugleich um Literaturagenten, u. a. von Gerhart Hauptmann. In jedem Fall war Pinner Mitinhaber des Theaterverlags Blochs Erben. Zu Dienstag vgl. den Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia. 955 Zur Geschichte des Verlags siehe Sytze van der Veen u. a.: Brill. 325 Years of Scholarly Publishing. Leiden: Brill 2008.
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Martin David: Zur Verfügung eines Nichtberechtigten nach den mittelassyrischen »Gesetzesfragmenten«, 1939, und zwei weitere Titel in niederländischer Sprache (1934, 1949); Sigmund Feist: Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, 3., neubearb. u. verm. Aufl., 1939; Franz Rosenthal: Die aramaistische Forschung seit Th. Nöldeke’s Veröffentlichungen, 1939; Martin David und B. A. van Groningen: Papyrological primer. 2. Ausg. (engl.), 1946 (1. Ausg., niederl.: Papyrologisch leerboek, 1940); Wolfram Eberhard: Kultur und Siedlung der Randvölker Chinas, 1942; Lokalkulturen im alten China, Teil 1, 1942; Das Toba-Reich Nordchinas, 1949; Julius Schaxel: Kritische Übersicht der Theorien der ontogenetischen Determination, 1942; Andreas Tietze: Die Geschichte vom Kerkermeister-Kapitän. Ein türkischer Seeräuberroman aus dem 17. Jahrhundert. (Acta Orientalia, 19), 1942; Felix Jacoby: Die Fragmente der griechischen Historiker, Teil 3, 1943.
Verlag Wilhelm Junk, Den Haag Einer der wenigen von Emigranten gegründeten Wissenschaftsverlage war die Uitgeverij Dr. W. Junk. Der in Deutschland hochgeachtete Wilhelm Junk956 veräußerte 1935 sein von Berlin nach Den Haag transferiertes Antiquariat aus Altersgründen an Otto Liebstaedter und widmete sich danach ausschließlich der Leitung des Verlags Dr. W. Junk, später Uitgeverij Dr. W. Junk. Unterstützt wurde er dabei von seinem Schwiegersohn Walter Weisbach* (1889 Berlin – 1962 Den Haag), der nach 1933 ebenfalls in die Niederlande gegangen war und seit 1937 auch Mitinhaber des Verlags war.957 Der Verlag hat seine Programmschwerpunkte einerseits auf das Spezialgebiet von Wilhelm Junk gelegt und besonders im Jahr 1940 den Coleopterum catalogus in mehreren Ergänzungen, z. T. auch Indices weitergeführt, 1941 auch den von Benno Wolf erstellten Fossilium catalogus (interessanterweise beide Catalogi überwiegend mit dem Verlagsort »Berlin«, wie die früher erschienenen Bände), andererseits aber kamen auch unterschiedliche Bücher emigrierter Wissenschaftler heraus, wie von dem in Gent untergekommenen Pharmakologen Hans Handovsky (Cellula, Bd. 1‒4, 1939‒1951) oder dem im niederländischen Exil weilenden und 1941 dort verstorbenen Biochemiker Carl Oppenheimer (Die Fermente und ihre Wirkungen, Supplement, 1939; sowie von Oppenheimer und Kurt G. Stern Biological oxidation, 1939). Dem Verlagsautor Herbert Herxheimer (Sport-physiologische Tabellen, 1936) war 1935 die Approbation an der Berliner Charité
956 Zu Wilhelm Junk und seinem Antiquariat siehe den Abschnitt im Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. Zu Junks Verlag siehe auch Edelman: International Publishing in the Netherlands, S. 110‒114. 957 Der studierte Mediziner hatte an verschiedenen Hygiene-Instituten in Freiburg / Breisgau, Berlin und Halle / Saale gearbeitet und war 1921 habilitiert worden; bis 1933 Fakultätsmitglied der Universität Halle, emigrierte er noch im gleichen Jahr in die Niederlande.
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entzogen worden; er ging erst 1938 ins Londoner Exil. Es kamen aber auch einige Bücher nicht-emigrierter Wissenschaftler heraus, so von Ferdinand Scheminzky (Elektro-Biologie, 1941), Walther Arndt (Bibliographia spongiologica, Bd. 1, 1940) sowie dem US-amerikanischen Anthropologen Wilton M. Krogman (Growth of man, 1941). Bemerkenswert, dass Junk von Den Haag aus versucht hat, Geschäftsbeziehungen nach Deutschland zu unterhalten. Dies geht hervor aus einem Schreiben des Börsenvereins vom 24. Dezember 1938, in welchem Junk die Mitgliedschaft aberkannt wurde, weshalb die Leipziger Kommissionsfirma Volckmar ihre Vertretung des Dr. W. Junk Verlages zum 1. Juli 1939 niederlegte.958 Junks Widerspruch, den er zum einen mit seiner tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft, die ihn nicht unter die Reichsgesetzgebung stelle, und zum anderen mit dem wirtschaftlichen Nutzen seines Verlages für Deutschland begründete, blieb letztlich ohne Wirkung: Obwohl das Reichswirtschaftsministerium im November 1939 die Wiederaufnahme Junks in den Börsenverein forderte, lehnte es die Kommissionsfirma Koehler & Volckmar ab, die Vertretung erneut aufzunehmen; als Begründung wurde auf die nicht einheitliche Linie des Propaganda- und des Wirtschaftsministeriums in Fragen der geschäftlichen Verbindungen mit jüdischen Emigranten hingewiesen. Junk zog nun seine Druckaufträge aus dem »Reich« zurück und wollte Lieferaufträgen nur dann entsprechen, wenn durch die zuständige Reichsstelle die direkte Bezahlung schriftlich und rechtsverbindlich zugesichert wurde. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande wurde Junk gezwungen, seinen Verlag Uitgeverij Dr. W. Junk an eine politisch verlässliche »arische« Person abzugeben. Die Leitung wurde Johann Clemens Groetschel, Leiter der Ortsgruppe der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront in Den Haag, übertragen. Vorgesehen waren Übernahme und Verkauf der gesamten, nun doch in nationalsozialistische Hände gefallenen Bestände durch den Leipziger Kommissionär Carl Friedrich Fleischer; nur die biologische Fachrichtung des Verlagsprogramms sollte weiterbestehen. Am 3. Dezember 1942 nahm sich Wilhelm Junk gemeinsam mit seiner Frau das Leben.959
Tiefland Verlag und Akademische Verlagsanstalt Pantheon Der aus Ungarn stammende Karl Kollár* (1898 Baja / Österreich-Ungarn – 1950 Brüssel) startete seine Karriere als Verleger in Wien, wo er 1936 einen wissenschaftlichen Verlag eröffnete, der unter dem Firmenmantel des alteingesessenen Verlags Franz Leo & Comp. geführt wurde.960 Dort brachte er rund 15 Bücher zu verschiedenen Themen aus Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte heraus, darunter Karl Kerényis Werk Apollon. Studien über antike Religion und Humanität. Aufgrund der zunehmenden nationalsozialistischen Bedrohung verlegte Kollár sein Unternehmen bereits im Juli 1937 nach Amsterdam, im Impressum seiner Publikationen vermerkte er neben Amsterdam
958 Vgl. hierzu Schroeder: »Arisierung« I, S. 297 f.; Schroeder: »Arisierung« II, S. 374. 959 Edelman: International Publishing in the Netherlands, S. 113. – Nach 1945 lag die Unternehmensführung in den Händen Walter Weisbachs; nach dessen Tod übernahm 1962 seine Witwe, Junks Tochter Irma-Marie Weisbach-Junk, die Führung der Uitgeverij Dr. W. Junk. 960 Siehe dazu ausführlich Edelman: International publishing in the Netherlands, S. 145‒157, und Edelman: Scholarly Publishing in Occupied Holland.
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aber nach wie vor Wien als Erscheinungsort. In Leipzig sorgte der Kommissionär Carl Friedrich Fleischer für den Vertrieb von Kollárs Büchern in Deutschland. 1938 heiratete Kollár die Niederländerin Maria-Theresia Veen, Tochter des Verlegers Lambertus Jacobus Veen (von L. J. Veen’s uitgeversmaatschappij N. V. Amsterdam); gemeinsam hatten sie beide schon ab Oktober 1937 in Amsterdam Leo & Co. unter dem neuen Namen Tiefland Verlag weitergeführt. Bis 1943 publizierte Kollár in diesem Verlag zehn Titel. Außerdem gab er die Zeitschrift Theater der Welt. Zeitschrift für die gesamte Theaterkultur heraus, die von 1937 bis 1938 in sechs Nummern erschien. Kurz nach Gründung des Tiefland Verlags etablierte Kollár an derselben Adresse ein zweites Unternehmen, die Akademische Verlagsanstalt Pantheon, in der bis zur Löschung beider Firmen im Handelsregister 1947 61 Titel erschienen, darunter 13 Untergrunddrucke, worunter sich alle sechs während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag von Castrum Peregrini publizierten klandestinen »Kentaur-Drucke« befanden.961 Den größten wirtschaftlichen Erfolg verbuchte Kollár mit der Zeitschrift Helicon. Revue internationale des problèmes généraux da la littérature, in deren Redaktionsboard internationale Wissenschaftler berufen wurden, darunter Fernand Baldensperger von der Harvard University. 1943 musste das Periodikum kriegsbedingt sein Erscheinen einstellen. Das Buchprogramm von Pantheon bestand beinahe ausschließlich aus deutschsprachigen Titeln, der thematische Schwerpunkt lag auf Veröffentlichungen zu Antike und Humanismus, Religion, Kunst- und Kulturgeschichte. Im Juni 1941 stellte Kollár Wolfgang Frommel* als Lektor ein, der mit dieser Berufstätigkeit nicht nur seinen Lebensunterhalt verdiente, sondern dem Verlag neue Autoren aus dem Kreis der George-Jünger zuführte. Kollár legte ein bemerkenswertes verlegerisches Geschick an den Tag: Bis auf die klandestinen Drucke waren alle Verlagstitel von Tiefland und Pantheon auch im deutschen Buchhandel erhältlich. Nach 1947 verlegte er die Akademische Verlagsanstalt Pantheon zunächst nach Antwerpen, dann nach Brüssel, und setzte seine Tätigkeit als Verleger in Belgien bis zu seinem frühen Tod fort.
Tschechoslowakei Academia Verlag Im tschechoslowakischen Exil gründete Theodor Marcus* (1894 Breslau – 1973 Lugano) den Academia-Verlag, mit einem dreisprachigen wissenschaftlichen Programm. In Deutschland war Marcus seit 1920 Mitarbeiter, seit 1922 auch Teilhaber am Verlag M. & H. Marcus gewesen, in welchem Werke der Rechtswissenschaft, der Geographie und der Geistesgeschichte erschienen. Als 1934 die Repressalien gegen seinen Verlag zunahmen, suchte er Teile davon in die Schweiz zu transferieren, stieß jedoch auf den Widerstand der dortigen Behörden. 1936 ausgebürgert, flüchtete Marcus in die Tschechoslowakei, wo er sich bereits die notwendige Arbeitsbewilligung als Verleger besorgt hatte. Der von ihm in Prag errichtete und geleitete Academia Verlag stand in enger Verbindung mit
961 Schmidt: »Over typografie en vriendschap«; siehe dazu auch das Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung.
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Professoren sowohl der deutschen wie der tschechischen Universität: »Die Konzession und einen Teil des Kapitals stellte die K. André’sche Buchhandlung (Arthur Heller) zur Verfügung, den anderen Teil als Darlehen der tschechische Staat.« (Th. Marcus) Zu den ersten Autoren des Verlags gehörte Staatspräsident Edvard Beneš mit einer Studie über Descartes, von einer Husserl-Ausgabe konnte nur der erste Band herausgebracht werden. Die Bücher des Academia Verlags fanden Absatz hauptsächlich im Ausland. Mit der deutschen Okkupation endete die Geschichte des Unternehmens bereits wieder 1939; bis dahin hatte das Verlagsprogramm 20 bis 30 Nummern erreicht. Marcus selbst konnte das Land erst im Januar 1940 mit einem Fremdenpass verlassen; bis dahin arbeitete er, von den deutschen Behörden zum »wirtschaftswichtigen Juden« erklärt, ehrenamtlich in der Auswanderungsstelle der Prager jüdischen Gemeinde mit. Auf der mit Unterstützung der jüdischen Gemeinde bewerkstelligten Flucht nach Chile nahm Marcus eine Sammlung von Inkunabeln, Klassikern und Napoleon-Autographen mit; 1950 kehrte er nach Europa zurück und nahm in der Schweiz, in Grono in Graubünden, seinen Wohnsitz, um hier seinen Ruhestand zu verbringen; die alten Verlagsrechte fielen 1950 an ihn zurück. Marcus hat seine Altersjahre dazu genutzt, den Wiederaufbau des deutschen Buchhandels zu beobachten und mit teilweise autobiographischen Berichten kritisch zu begleiten, auch um – wie er meinte – »Material zu haben für eine dereinst zu schreibende Geschichte des deutschen Buchhandels des 20. Jahrhunderts«.962
Schweiz Karger AG, Basel Einer der größten medizinischen Fachverlage entstand im Exilland Schweiz mit der Karger AG Basel. Heinz Karger* (1895 Berlin – 27. 3. 1959 Tessin / CH) hatte nach seiner Promotion 1922 den von seinem Vater Samuel Karger 1890 gegründeten Verlag S. Karger in Berlin übernommen und ihn weiter ausgebaut.963 Nach der NS-Machtübernahme wurde er gezwungen, alle jüdischen Wissenschaftler aus ihren Verlagsbindungen zu entlassen; Karger rechnete damit, dass sich die Repressionen bald auch auf die Inhaber
962 Siehe dazu die autobiographischen Auskünfte von Theodor Marcus: Als jüdischer Verleger vor und nach 1933 in Deutschland. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts Nr. 26, 1964, S. 138‒153, sowie: Das Jahr 1922 und seine Folgen. In: Bbl. (Ffm) Nr. 32 vom 21. April 1964, S. 689‒698; Von der Grundzahl und Schlüsselzahl zur Buchmark. In: Bbl. (Ffm) Nr. 34 vom 30. April 1965, S. 785‒789; Begegnungen. Ein Siebzigjähriger erinnert sich. In: Bbl. (Ffm) Nr. 63 vom 10. August 1965, S. 1582‒1585; Verlagsgeschichte und Kulturgeschichte 1900‒1930. Ein Augenzeugenbericht. In: Bbl. (Ffm) Nr. 93 vom 23. November 1965, S. 2511‒2523; Verlagsgeschichte und Kulturgeschichte 1900‒1930. Ein Augenzeugenbericht II. In: Bbl. (Ffm) Nr. 73 vom 10. September 1968, S. 2176‒2188. 963 Vgl. zum Folgenden Heinz Karger zum 60. Geburtstag, [Festschrift] Basel 1955; [biographische Skizze in:] S. Karger. Vollständiger Verlagskatalog 1890‒1960. Basel 1960; Schmeck, Jr.: Karger ‒ Turning medical progress into print; Stürzbecher: Medizinische Verlage mit besonderer Berücksichtigung Berlins, hier S. 141 f.; Saur: Deutsche Verleger im Exil (2008), S. 215, 232.
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des Verlags ausweiten würden, aber die Weigerung seines Vaters, Deutschland zu verlassen, machte Fluchtpläne zunächst unmöglich. Am 1. Juli 1935 starb Samuel Karger, und bereits am nächsten Tag wurde Heinz Karger aufgefordert, das Unternehmen in »arische« Hände zu übergeben. Er unternahm verschiedene Reisen nach Zürich, in die Niederlande und die Tschechoslowakei, um einen potentiellen neuen Firmenstandort zu erkunden, hatte aber keinen Erfolg. Durch die Vermittlung Prof. Heinrich Polls, dessen Abschied von der Universität Hamburg die Nationalsozialisten erzwungen hatten, wurde der Weg für den Verlagsumzug nach Basel frei, auch weil das Unternehmen in der dortigen medizinischen Fakultät in hohem Ansehen stand. Kargers jüngerer Halbbruder Fritz Karger* (1903 Berlin‒1990)964 ging 1936 nach Basel und vertrat die Verlagsinteressen, bis im April 1937 der komplette Umzug von Unternehmen und Familie vollzogen war. Zwei Wochen nach der Flucht wurde das Berliner Warenlager von den Nationalsozialisten, zusammen mit allen anderen Gütern, konfisziert. Doch konnte etwa die Hälfte des Bücher- und Zeitschriftenvorrats zurückgefordert und das Übrige an den Kommissionär Rudolf Heublein in Leipzig zur Aufbewahrung und eventuellem Verkauf geschickt werden, was nur aus Rücksicht auf die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Schweiz gestattet wurde; Jahre später gingen auch diese Werte an die Nationalsozialisten verloren. Nach dem »Anschluss« Österreichs übernahm S. Karger den aus Wien emigrierten jüdischen Verlag Ars Medici von Max Ostermann*, ebenso die gleichnamige medizinische Zeitschrift. Das NS-Regime verhängte einen Boykott über die Firma, die jetzt in Basel als S. Karger AG eine neue Existenz gefunden hatte: Weder durften deutsche Institute und Kliniken Karger-Publikationen beziehen, noch war deutschen Autoren die Kontaktaufnahme gestattet; 1937/1938 wurden die Sortimenter in offiziellen Rundschreiben der »Gruppe Buchhandel« in der RSK vor Geschäftsbeziehungen mit Karger gewarnt, 1940 wurde die Karger AG Basel endgültig aus dem Adressbuch des deutschen Buchhandels gestrichen. Begründet wurde dies mit dem Vorwurf, Karger betreibe bewusste Gegengründungen zu Fachzeitschriften in Deutschland; als Herausgeber fungierten dabei aus deutschen Universitäten ausgeschiedene jüdische Professoren, wie Bruno Kisch im Fall der Zeitschrift Cardiologia. Tatsächlich stellte Karger den Verlag damals konsequent auf eine neue, internationale Basis: Die Fachzeitschriften erschienen von nun an in mehreren Sprachen, 1939 wurde die Firma mit der Gründung einer Filiale in New York erweitert, die internationalen Beziehungen gepflegt. Während des Krieges produzierte Karger weiter, ohne die Auflagenzahlen wesentlich zu verringern, und sammelte, da es kaum Absatzmärkte gab, einen immens großen Vorrat an Publikationen an, in der festen Überzeugung, dass bessere
964 Fritz Karger war bis 1933 in Berlin als Rechtsanwalt tätig gewesen; nach der NS-»Machtergreifung« war ihm die Ausübung seines Berufes nicht mehr möglich. 1936 bereitete er in Basel nicht nur den Umzug des in Familienbesitz befindlichen medizinischen Fachverlags vor, sondern gründete dort im gleichen Jahr den Exilverlag »Haus zum Falken«, in welchem Ende 1938 Norbert Eliasʼ nachmals berühmt gewordenes Werk Über den Prozeß der Zivilisation in zwei Bänden herausgebracht wurde, unter Verwendung der noch in Deutschland erstellten Druckbögen (der Druckvermerk der deutschen Druckerei »Printed in Germany« wurde geschwärzt). Fritz Karger arbeitete in der Folge jahrelang in leitender Funktion in der S. Karger AG mit. Vgl. Fritz Karger: Fata Libelli, S. 23 f. Weiters: Korte: Über Norbert Elias, S. 19.
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Zeiten kommen würden. Finanzielle Unterstützung erhielt der Verlag während dieser Zeit von drei großen in Basel ansässigen chemisch-pharmazeutischen Unternehmen. Nach Beendigung des Krieges überbrückten die vorrätigen Karger-Veröffentlichungen die entstandenen Bedarfslücken; das Programm expandierte auf 57 medizinische Zeitschriften (u. a. Acta Haematologica, Acta Psychotherapeutica, Annales Paediatrici, Cardiologia, Dermatologica, Gastroenterologia) und 75 wissenschaftliche Buchserien; Karger erschuf damals recht eigentlich den »Kompendium«-Buchtyp. Nach Heinz Kargers Tod 1959965 wurde die Leitung des zu einem der größten Wissenschaftsverlage auf dem Sektor der Medizin herangewachsenen Hauses von seinem Sohn Thomas übernommen. Thomas Karger* (geb. 1930 Berlin) war als Siebenjähriger im April 1937 mit seiner Familie nach Basel gelangt und 1949 nach Beendigung seiner schulischen Ausbildung in den väterlichen Verlag eingetreten. Am 1. November 1960 wurde die Karger Libri AG gegründet, eine internationale Zeitschriftenagentur und Buchhandlung in Basel. Thomas Karger erweiterte den Betrieb neben der seit 1939 in New York bestehenden Filiale um eine Niederlassung von Verlag und Buchhandlung in Germering / München; nachfolgend entstand ein weltweites Vertriebsnetz mit Vertretungen in Paris, London, Neu Delhi, Tokyo, Singapur, Bangkok und Sydney. 1979 wurde die Karger Publishers Inc. in New York gegründet und später nach Farmington / Connecticut verlegt. 1982 trat Kargers erster Sohn Steven (1959‒2008) in den Verlag ein, nach dessen Tod übernahm seine Schwester Gabriella diese Funktion; ab 1990 arbeitete der Zweitgeborene Sohn Philipp in der akademischen Buchhandlung Karger Libri AG in Basel mit.966
Palästina Von den Wissenschaftlern, die in Deutschland und Österreich nach 1933 bzw. 1938 aus ihren Stellungen an Universitäten und Forschungseinrichtungen ausgestoßen wurden, gingen nicht wenige nach Palästina.967 Allerdings war eine einschlägige berufliche Betätigung in diesem Land kaum möglich, zumal sich die Hebräische Universität in Jerusalem erst im Aufbau befand. Auch die seit 1914 bestehende Technische Schule in Haifa entwickelte sich erst später zu einer Hochschule, wie sich überhaupt ein strukturierter Wissenschaftsbetrieb erst nach Gründung des Staates Israel entfalten konnte. Dann allerdings leisteten die Immigranten – auch solche, die in den 1950er Jahren aus den USA und anderen Exilländern geholt wurden – einen beträchtlichen Beitrag zur Entstehung einer Forschungslandschaft, die heute zu den innovativsten weltweit gehört. Vor diesem Hinter-
965 1955 war Heinz Karger die medizinische Ehrendoktorwürde der Universität Basel verliehen worden. Die Stiftung »Heinz-Karger-Preis« honoriert hervorragende wissenschaftliche Arbeiten. 966 Siehe auch: Allzeit voran. Festschrift für Thomas Karger zu seinem 60. Geburtstag. Basel: Karger 1990, S. 4; ferner die aktuelle Homepage des Unternehmens. 967 Siehe dazu Willy Verkauf-Verlon: Palästina als Emigrationsland österreichischer Wissenschaftler. In: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, S. 1021‒1027; mit einer Liste von 74 österreichischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie einer angehängten Liste von (14) Verlagen aller Art und neun deutschsprachigen Periodica.
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grund nehmen sich die Anfänge sehr bescheiden aus; eigentliche Wissenschaftsverlage haben sich damals nicht herausgebildet, immerhin aber der eine oder andere Fachverlag.
Ägyptologischer Verlag, Kartographischer Verlag Wie eng die Geschichte eines Verlags mit der Biographie seines emigrierten Verlegers zusammenhängt, und wie wenig aussichtsreich spezialisierte Verlagsgründungen im Exil sein konnten, zeigen die beiden folgenden Beispiele aus Palästina: Miron Goldstein (-Mironescu)* hatte erst im Januar 1933 in Berlin-Charlottenburg seinen Ägyptologischen Verlag eröffnet, 1934 erschien dort Die ägyptische Kunstgeschichte von den ältesten Zeiten bis auf die Eroberung durch die Araber: Ein systematisches Handbuch des renommierten Ägyptologen Freiherr Friedrich Wilhelm von Bissing (seit 1925 Mitglied der NSDAP!); im Jahr darauf flüchtete Goldstein nach Bukarest, um der rassistischen Verfolgung zu entkommen. Später ging er nach Israel, wo er Mitte der fünfziger Jahre in Nahariya lebte und dort seinen Fachverlag weiterführte. 1957 unternahm er einen Rückkehrversuch nach Deutschland und firmierte mit seinem Verlag Miron Mironesco in Berlin. Der Versuch scheiterte offenbar; 1959 übersiedelte Goldstein erneut nach Israel. Einen kartographischen (Selbst-)Verlag gründete 1934 in Haifa Zvi Herbert Friedländer* (geb. 1898 Züllichau – nach 1970 Israel), nachdem er sich – bis 1933 in Deutschland als Prokurist und Einkäufer in einem Textilgeschäft tätig – in seiner neuen Heimat Palästina zum Kartographen umschulen ließ. Der auch in der zionistischen Bewegung aktive Friedländer zeichnete Stadtpläne und Landkarten (Tel Aviv und Yaffa, Haifa und Mount Carmel); die Druck- und Verlagsangaben führen die Zeitumstände eindrücklich vor Augen (»printed in Prague-Smichov, published by Georg Herz & Co. Ltd., Real Estate Office, Haifa«, 1936968).
Südamerika Casa Editora Liebmann, Quito, Ecuador Fast der einzige juristische Verlag, der von einem Emigranten nach 1933 gegründet worden ist, war jener von Carlos G. Liebmann in Ecuador.969 Die Seltenheit solcher Gründungen liegt auf der Hand: Die Rechtssysteme differierten in den verschiedenen Kontinenten und einzelnen Ländern so sehr, dass alles erworbene Wissen und auch die akademischen Abschlüsse nichtig waren; auch Verleger konnten ihre Erfahrungen allenfalls partiell wieder einbringen. Karl Wilhelm Liebmann* (1900 Berlin – 27. 7. 1985) war im Grunde der einzige in dieser Sparte, dem die Fortsetzung seiner Tätigkeit gelang, wenn auch nur in eingeschränkter Form und nach einigen Umwegen. Er war Sohn des Verlegers Dr. Dr. Otto Liebmann (verstorben 1942 in Berlin), der bis 1933
968 Online-Recherche http://discovery.nationalarchives.gov.uk/details/r/C3004528 969 Siehe Taubert: Lateinamerika, S. 77 f.; Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 318 f.; Kreuter: Wo liegt Ecuador?, S. 288; Edgar Freire Rubio: Quito. Tradiciones, testimonio y nostalgia. Bd. IV. Quito: Libresa 2002, S. 152.
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Inhaber der von ihm 1890 gegründeten Verlagsbuchhandlung für Rechts- und Staatswissenschaften Otto Liebmann in Berlin war, diese aber nach der NS-»Machtergreifung« aufgeben musste. Der juristische Fachverlag ging 1934 »aufgrund freundschaftlicher Vereinbarungen«, letztlich aber doch im Sinne einer »Arisierung« an die C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung München über.970 Karl Wilhelm Liebmann, der auch Inhaber und Geschäftsführer des 1923 gegründeten Werk-Verlags in Berlin war,971 wurde zeitweise in KZ-Haft genommen und misshandelt; nach Zahlung aller Abgaben972 emigrierte er Mitte 1939 mit seiner Familie nach Paris, im September / Oktober 1939 dann weiter nach Ecuador, das ihm als einziges Land eine Einreisegenehmigung erteilt hatte. Liebmann, der Betrügern aufsaß und 1940 einen Selbstmordversuch nicht ohne körperliche Schädigung überlebte,973 suchte sich zunächst durch die Herstellung von Stempeln, Schildern und Notizblöcken sowie durch Verkauf von Schreibwaren und Büroartikeln eine Existenz zu schaffen. In diesen ersten Jahren kaufte und verkaufte er auch deutschsprachige Gebrauchtbücher. 1942 gründete er in Quito an der Plaza de la Independencia ein allgemeines und wissenschaftliches Sortiment SU Libreria Carlos G. Liebmann mit einem überwiegend spanischsprachigen Buchangebot; innerhalb Ecuadors wurde das Unternehmen auch als Versandbuchhandlung und als Grossobuchhandlung tätig und war darüber hinaus mit Ecuadoriana auch im Buchexport engagiert. Eine ausländische bzw. deutsche Abteilung wurde von Eva Weinberg als Prokuristin geführt; mit dem Victory Book Club wurde der Firma auch eine Leihbibliothek angegliedert. Liebmann (inzwischen Carlos Guillermo Liebmann) war bald auch als Drucker und Verleger erfolgreich tätig: In der Casa Editora Liebmann erschienen u. a. juristische Ratgeber, etwa von Alfred[o] Karger, der den Immigranten die ecuadorianische Rechtslage verständlich darlegte, oder Bücher des ebenfalls aus Berlin emigrierten Anwalts und Urheberrechtsexperten Wenzel Goldbaum (Derecho de autor panamericano. Estudio comparativo, 1943; Convención de Washington sobre el derecho de autor en obras literarias, científicas y artísticas, 1954). Setzte Liebmann also zunächst die Tradition des väterlichen Verlagshauses fort, so brachte er in weiterer Folge immer mehr Bücher südamerikanischer Autoren heraus (z. B. von Gustavo Adolfo Otero La cultura y el periodismo en América, 1953). Der Verlag und besonders die Buchhandlung entwickelten sich in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem Kulturfaktor im geistigen Leben Ecuadors.974 Liebmann 970 Siehe hierzu Rebenich: C. H. Beck 1763‒2013, mit einer präzisen Darstellung des Vorgangs der »Arisierung« und des weiteren Schicksals Karl Wilhelm / Carlos Liebmanns S. 365‒380 (Kap. 21: Die Verleger Otto Liebmann und Karl Wilhelm Liebmann). 971 Dieser wurde am 1. Januar 1938 von Willem Jaspert (auch Gf. des Karl Siegismund-Verlags und des Süd-Ost-Verlags) mit Sondergenehmigung des Reichspropagandaministeriums übernommen. 972 Liebmann hatte 11.200 RM Judenvermögensabgabe, 11.157 RM Reichsfluchtsteuer, 2.700 RM Golddiskontabgabe und ca. 1.500 RM als Zwangsabgabe an die jüdische Gemeinde zu erlegen. Dazu wurde sein gesamtes Umzugsgut von der Gestapo konfisziert und versteigert, darunter eine wertvolle Bibliothek (Rebenich: C. H. Beck 1763‒2013, S. 377). 973 Rebenich, S. 378. 974 Die von Rebenich referierte Angabe, wonach Liebmann um 1960 mit seiner Buchhandlung in Quito nur einen Jahresumsatz von 100 bis 200 DM gemacht haben soll, ist mit den sonstigen Quellen kaum in Einklang zu bringen, auch nicht mit dem kurz zuvor gegebenen Hinweis, dass in Liebmanns Unternehmen zeitweise bis zu zehn Angestellte tätig gewesen seien.
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gehörte als Gründungsmitglied dem Vorstand der nationalen Buchhändler-Vereinigung an und engagierte sich – obwohl in Berlin getauft und vollkommen »assimiliert« aufgewachsen – nunmehr aktiv in der jüdischen Emigrantenkolonie von Quito. Als in den 1960er Jahren Sigfred Taubert als Vertreter des Börsenvereins eine Informationsreise durch Südamerika machte, berichtete er über den Buchhändler und Verleger: Die schweren Schicksalsschläge, die Herr Liebmann durch die NS-Politik erlitten hat, haben ihn zunächst dazu bestimmt, mit dem deutschen Buchhandel nach 1945 keinerlei Kontakt mehr zu suchen. […] Diese mehr als verständliche abwehrende Haltung gegenüber einer direkten Verbindung hat sich erfreulicherweise in den letzten Jahren aber etwas gelockert […]. Herr Liebmann ist zugleich eine der maßgebenden Persönlichkeiten in dieser großen, geistig sehr regsamen Emigrantengruppe.975 Tatsächlich hatte Liebmann lange Zeit keine Bücher direkt aus Deutschland bezogen, sondern diese allenfalls über die Schweiz importiert. 1960 betrug der Anteil der nichtspanischsprachigen Bücher im Sortiment rund 30 %; davon stammte knapp ein Viertel aus dem deutschsprachigen Raum.976
Todtmann Editores, São Paulo, Brasilien Gerth Todtmann war als jüdischer Emigrant Mitte der 1930er Jahre nach Brasilien gelangt und hat sich in São Paulo zunächst mit Postfachadresse (Caixa postal 3620)977 als Buchhändler von wissenschaftlicher Literatur und Fachzeitschriften, seit 1947 auch als Verleger betätigt; u. a. hat er mit großem Erfolg Richard Neutras bedeutendes Werk Architecture of Social Concern in Regions of Mild Climate (1948) in einer zweisprachigen (Erst-)Ausgabe herausgebracht.978 Todtmann war an einigen der von ihm bei Editores Todtmann & Cia. Ltda. verlegten Werke auch als Übersetzer beteiligt.
Wissenschaftsverlage im US-Exil Vorrangig in den USA hat die Verlegeremigration in der Vermittlung europäischer Wissenschaftstraditionen eine bedeutende Rolle gespielt; ihre Aktivitäten und jene der aus Deutschland emigrierten Wissenschaftler griffen hier auf besonders glückliche Weise ineinander. Im Rahmen des nach 1933 einsetzenden »brain drains« aus Deutschland sind komplette Wissenschaftsparadigmen in die USA gelangt und haben dort für eine enorme
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Dagegen könnte es zutreffen, dass die aus Deutschland bezogenen Entschädigungszahlen in seinen Betrieb und dessen Ausbau geflossen sind (Rebenich, S. 378). Taubert: Lateinamerika, S. 77. Zum geschäftlichen Umfeld der Libreria Carlos G. Liebmann in Ecuador siehe in Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel den Abschnitt zur Librería Cientifica von Bruno Moritz (Guayaquil und Quito). Geschäftliche Dokumente von Gerth Todtmann finden sich online auf http://acervo.if.usp.br/ uploads/IF/DF/IV-0/IF-DF-IV-03-00-0000-00035-0.pdf SStAL, BV, F 11.763; Online-Recherche.
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Belebung des amerikanischen intellektuellen Lebens gesorgt.979 Der Grad dieser Durchdringung wird indirekt belegt durch die Kritik daran, wie sie sich etwa in dem Buch The Closing of the American Mind des Chicagoer Philosophen Allan Bloom bemerkbar machte, der die »German invasion of the United States« als eine Demontage amerikanischer Werte kennzeichnete.980 Und wenn Bernard M. Rosenthal, selbst ein prominenter Buchhändleremigrant, in einem Vortrag mit dem Titel The Gentle Invasion die enormen Auswirkungen der deutschen Antiquarsemigration auf die US-amerikanische Szene beschrieben und dabei selbstironisch auch einen Vergleich mit der »Teutonisierung« der Wissenschaften an den amerikanischen Universitäten gezogen hat,981 so ließe sich die Funktion der Verlegeremigranten im Prozess der Etablierung ursprünglich deutscher Forschungsansätze als ähnlich folgenreich beschreiben. Die entscheidende Leistung der von Emigranten aufgebauten oder geführten Verlage in den USA nach 1933 hat der Münchner Verleger Klaus G. Saur bereits 1977 auf den Punkt gebracht: Die Aktivität dieser Verlage führte in den USA zu einer enormen Entwicklung des wissenschaftlichen Verlagswesens. Während vor dem 2. Weltkrieg wissenschaftliche Verlage mit internationaler Bedeutung fast ausschließlich in Großbritannien und in Deutschland ansässig waren, entwickelte sich ab 1940 in den Vereinigten Staaten aufgrund der Emigration jüdischer Verleger aus Deutschland ein wissenschaftliches Verlagswesen, das heute absolut führend im internationalen Maßstab ist und an der Spitze der Verlagswelt steht.982 Und an anderer Stelle bekräftigte Klaus G. Saur diese Bewertung: »Um die Leistungen der Emigration zutreffend einschätzen zu können, gilt es zu bedenken, dass es bis 1940 im Grunde genommen kein privates wissenschaftliches Verlagswesen in den USA gab. Wissenschaftliche Bücher wurden in Holland und in Deutschland verlegt sowie in Großbritannien bei der Oxford oder bei der Cambridge University Press. In den USA verlegten zwar auch die amerikanischen University Presses wissenschaftliche Literatur, aber gewissermaßen als Druckereianstalten der einzelnen Universitäten, ohne dabei originär verlegerisch zu agieren.«983 Im Weiteren hat die deutschsprachige Verlegeremigration
979 Zur Bedeutung der Wissenschaftsemigration in die USA vgl. auch die Einschätzung von H. Stuart Hughes: »In the perspective of the 70’s, the migration to the United States of European intellectuals fleeing fascist tyranny has finally become visible as the most important cultural event ‒ or series of events ‒ of the second quarter of the twentieth century.« (Hughes: The Sea Change. The Migration of Social Thought 1930‒1965, S. 1). ‒ Gegen eine solche Beurteilung haben sich Stimmen in der Exilforschung selbst gewandt, vgl. etwa Papcke: Fragen an die Exilforschung heute. Papckes kritische Thesen – »Das Exil vermochte ebensowenig einen Kulturtransfer zu vermitteln wie heute die Touristik« (S. 24) ‒ erscheinen allerdings überzogen. 980 Bloom: The Closing of the American Mind. 981 Bernard M. Rosenthal: Die sanfte Invasion. 982 Saur: Die Verbreitung deutscher Bücher und Zeitschriften im Ausland aus verlegerischer Sicht, S. 292. 983 Saur: Deutsche Verleger im Exil 1933 bis 1945, S. 216.
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nach 1945 auch wesentlich zum Rücktransfer von wissenschaftlichen Paradigmen, Methoden und Positionen nach Deutschland und Europa beigetragen. Mit der Etablierung weltweiter Austauschbeziehungen im Bereich wissenschaftlicher Fachinformation hat sie den globalen Wissenstransfer ebenso befördert wie die Etablierung literarisch-kultureller Austauschbeziehungen.
Academic Press, New York Der Blick fällt hier zunächst auf das Schicksal eines bis 1933 außerordentlich bedeutenden Unternehmens in Leipzig, auf die Firma Gustav Fock. Gegründet als Vertrieb von wissenschaftlicher Kleinliteratur und wissenschaftliches Antiquariat,984 hatte nach der 1898 erfolgten Übernahme durch Leo Jolowicz* (1868 Posen – 1940 Leipzig)985 der Geschäftsumfang stetig zugenommen: Der ältere Sohn des international bekannten Posener Buchhändlers Joseph Jolowicz (1840‒1907) baute das Unternehmen in der Folge zu einem kaufmännischen Großbetrieb von Weltgeltung aus: Fock hatte in den meisten größeren Städten Deutschlands Filialen sowie japanische und amerikanische Auslandsvertretungen.986 Außerdem gründete Jolowicz 1906 die Akademische Verlagsgesellschaft, erwarb 1916 die Berliner Buchhandlung Mayer & Müller und erweiterte das Leipziger Unternehmen 1923 um den C. F. Winter’schen Verlag. Den Höhepunkt des geschäftlichen Wirkens des Antiquariats Gustav Fock dokumentiert die Festschrift zum 50jährigen Firmenjubiläum 1929. Zu diesem Zeitpunkt hatte »Buchfock« (so die in aller Welt bekannte Telegrammadresse) 160.000 internationale Kunden, das wissenschaftliche Antiquariat war auf mehr als 1,5 Millionen Bücher angewachsen und stellte das weltweit größte seiner Art dar; es umfasste ganze Straßenzüge in Leipzig. 113 Angestellte standen auf der Gehaltsliste. Auch die Akademische Verlagsgesellschaft expandierte in den zwanziger Jahren zum – nach dem Springer-Verlag – zweitgrößten naturwissenschaftlichen Verlagsunternehmen Deutschlands, ja Europas. Nach 1933 konnte Jolowicz wegen
984 Vgl. Schulze: Buchhandlung Gustav Fock G.m.b.H. 1879‒1929; Friedrich Schulze: »Buchfock«. Ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der Buchhandlung Gustav Fock […], anlässlich der Veröffentlichung des Antiquariats-Kataloges No. 500. o. O. u. J. [Leipzig 1922]. 985 Siehe u. a. Lorz: »Strebe vorwärts«. Lebensbilder jüdischer Unternehmer in Leipzig, darin: Familie Jolowicz S. 83‒123. 986 In New York bestand seit 1930 eine Filiale der Firma Gustav Fock, die von Paul Jolowicz (1905 Posen – 1966 New York), Sohn von Albert Jolowicz* (1869 Posen – 1945 Long Island, New York) und Neffe von Leo Jolowicz, geleitet wurde. Nachdem diese Filiale aufgelöst und sein Cousin Walter sowie Kurt Jacoby in New York als Verleger Fuß gefasst hatten, arbeitete Paul Jolowicz in deren Unternehmen mit und war zuletzt Leiter des Secondhand Periodical Departments der Walter J. Johnson Inc. Später betrieb er das Minerva-Antiquariat in New York (siehe auch Lorz: »Strebe vorwärts«, bes. S. 111; zu Albert J. siehe auch Arthur Kronthal: Das erste wissenschaftliche Antiquariat des Ostens. In: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur. Wien – Berlin 7 (1929), S. 431‒433; sowie Aufbau 11 (1945), 12. Januar 1945, S. 17). – Pauls Ehefrau Ruth Jolowicz (geb. von Eltzsch; 1907 Leipzig – 2005 Manhattan, N. Y.) war bis 1971 Vorstandsmitglied im Familienkonzern Academic Press.
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seiner Exporttätigkeit und den damit verbundenen Deviseneinnahmen für das Reich länger als andere jüdische Antiquare arbeiten, bis er im Juli 1937 eine Neufassung des Gesellschaftservertrages unterzeichnen musste: Als »Arier« wurde der seit 1926 in der Firma tätige Prokurist Dr. Willy Erler eingesetzt. Im Juni 1938 wurde Jolowicz gezwungen, seinen Austritt aus der Firma zu erklären.987 Die Akademische Verlagsgesellschaft wurde damals geleitet von Kurt Jacoby, dem Schwiegersohn Jolowiczʼ, auch sie wurde 1940 zur Gänze »arisiert«.988 Während Leo Jolowicz, die Gefahr unterschätzend, in Deutschland blieb, wo er 1940 an den Folgen einer Inhaftierung durch die Nationalsozialisten starb,989 konnten sich sein Sohn Walter und sein Schwiegersohn Kurt Jacoby ins Ausland retten. Kurt Jacoby* (1893 Insterburg, Ostpreußen – 1968 New York)990 wurde am 10. November 1938 wie sein Schwiegervater und sein Schwager Walter Jolowicz verhaftet; er kam in das KZ Buchenwald, wurde nach kurzer Zeit entlassen, und am 22. Dezember 1938 erneut in »Schutzhaft« genommen. Zur Begründung hieß es, er »sabotiere die Arisierung« der Akademischen Verlagsgesellschaft. Zur gleichen Zeit war auf Anweisung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda der SS-Standartenführer Gerhard Noatzke aus Berlin als Treuhänder sowohl für das Unternehmen Gustav Fock Buchhandlung als auch für die Akademische Verlagsgesellschaft eingesetzt worden. In letzter Minute konnte Jacoby 1941 über die UdSSR und Japan in die USA emigrieren. Gespräche mit Eric Proskauer,991 eine bereits 1937 angepeilte Verlagspartnerschaft nunmehr zu realisieren und dem mittlerweile prosperierenden Verlag Interscience Publishers beizutreten, blieben ergebnislos. Darauf gründete Jacoby noch im selben Jahr gemeinsam mit seinem Schwager Walter Jolowicz* (1908 Leipzig – 1996 Manhattan, N.Y.), der sich in den USA Walter J. Johnson nannte,992 analog zum väterlichen Verlags987 Wenige Wochen später wurde Jolowiczʼ Reisepass gesperrt. Im Zusammenhang mit der Pogromnacht vom November 1938 wurde der 70jährige verhaftet und nach erniedrigenden Prozeduren wieder freigelassen. Im Mai 1940 musste er seine Wohnung aufgeben, wenig später verstarb er in seiner neuen Wohnung in der Jacobstraße 11. 988 Die Akademische Verlagsgesellschaft wurde von zwei bisherigen Angestellten übernommen und trug bis 1947 den Namen Becker & Erler K. G. Später wurde sie umbenannt in Geest & Portig K. G. und war zu DDR-Zeiten einer der führenden wissenschaftlichen Verlage. 989 Vgl. Lorz: »Strebe vorwärts«, S. 83‒123. 990 Firmenarchiv des Leipziger Unternehmens: SStAL, Bestand Nr. 21091, Laufzeit: 1829‒ 1991, 10,20 lfm Akten, 35 Fotos; Datenbank und Findbuch (2003); SStAl, BV, F 1.327; Albert J. Phiebig: The Jolowicz Family. A List compiled for Dr. Ernst Jolowicz. New York 1948; The New York Times [Nachruf] 2. September 1968; Lorz: »Strebe vorwärts«, S. 92 f. und S. 97 f.; Saur: Deutsche Verleger im Exil (2008), S. 215, 231 f.; Beschler: Walter J. Johnson and Kurt Jacoby. 991 Zu Proskauer siehe in diesem Kapitel weiter unten. 992 Walter Jolowicz zeichnete ab 1933 als Prokurist der Buchhandlung Gustav Fock GmbH, seit 1935 war er zusätzlich Mitinhaber der Akademischen Verlagsgesellschaft. Ende Juni 1938 wurde er, wie sein Vater, aus dem Unternehmen ausgeschlossen, zwei Monate später reiste er nach London, um die Flucht der Familie vorzubereiten. Aufgrund von Passverweigerung kehrte er zurück, wurde am 10. November 1938 verhaftet und in das KZ Buchenwald überstellt. Am 7. Dezember 1938 kam er frei mit der Auflage, Deutschland zu verlassen. Doch wurde Anfang Januar die Auswanderung der Familie abgelehnt, obwohl Walter Jolowicz der Zahlung aller geforderten Beträge nachgekommen war. Von einer Behörde zur nächsten verwiesen,
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und Antiquariatsmodell die Verlagsgesellschaft Academic Press Inc. (AP) und im folgenden Jahr an derselben Adresse das wissenschaftliche Antiquariat Walter J. Johnson; später kam noch die Firma Johnson Reprints hinzu (siehe weiter unten). Johnson war der für die Finanzen zuständige Manager und hielt zusammen mit seiner Frau 95 % Abb. 38: Wie die ›business card‹ Walter J. Johndes Unternehmens, Jacoby war mit 5 % sons ausweist, entwickelte sein geschäftlicher nur Minderheitseigentümer, war aber in Aktionsradius interkontinentale Dimensionen. beiden Unternehmen hauptverantwortlich für die Programmlinien und die Kontakte zur »scientific community«. Ersten Periodika auf den Gebieten der Biologie, Chemie und Biochemie folgten Zeitschriften zu allen Fachdisziplinen der »Life Sciences«, »Physical Sciences« und des »Engineering«. Ab 1941 zeichnete Jacoby auch als Herausgeber des Rezensionsorgans Advances: eine vom Typus her innovative Publikation mit Fortschrittsberichten, die nach und nach für die verschiedensten Wissenschaftszweige eingerichtet wurden (schon 1948 etwa die Advances in Electronics and Electron Physics), bis Mitte der sechziger Jahre rund 100 solcher Serien liefen, neben 65 wissenschaftlichen Zeitschriften von durchgehend hoher Reputation. In einzelnen Bereichen bewirkte Academic Press, zusammen mit anderen Gründungen von Emigranten, eine Revolutionierung der Verhältnisse: Waren vorher weitaus die meisten amerikanischen medizinischen Zeitschriften Gesellschaftsorgane gewesen, so führten die neuen Verlage [von Jacoby und Johnson] das in Europa verbreitete System wissenschaftlicher Zeitschriften ein, die von Verlegern gegründet und von jedweden wissenschaftlichen Gruppierungen unabhängig waren. Auch die Formen wissenschaftlicher Sekundärliteratur wie »Ergebnisse der …«, »Fortschritte der …«, fanden unter den amerikanischen Bezeichnungen, »Results« bzw. »Recent Results«, »Progress in …« bzw. »Reviews in …« Eingang in die amerikanische Literatur und errangen bald hohes wissenschaftliches Niveau und weite Anerkennung.993 Wie das Zeitschriftenprogramm erfüllte auch das naturwissenschaftliche Buchprogramm höchste Ansprüche. 1961 wurde ein textbook-Department angegliedert, das ebenfalls zum außerordentlichen Erfolg des Unternehmens beitrug. 1965 wurden rund 300 Titel veröffentlicht, bei einem Umsatzvolumen von zehn Millionen Dollar, mit weiter steigen-
musste er sich monatlich bei der Gestapo melden. Erst im Frühjahr 1940 konnte er sich zusammen mit seiner Frau Thekla in Sicherheit bringen; der Fluchtweg führte die beiden über die UdSSR und Japan in die USA. Hier nahm Walter Jolowicz nicht nur die amerikanische Staatsbürgerschaft an, er änderte auch seinen Namen in Walter J. Johnson. Nach eigenen Aussagen verstand er sich nicht als Hitler-Emigrant und wollte auch nicht an die Zeit in Deutschland erinnert werden. Vgl. Fragebogen 1986, Materialsammlung Rosenthal. 993 Götze: Der Springer-Verlag. Teil II: 1945‒1992, S. 86.
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der Tendenz: In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre produzierte das Verlagshaus durchschnittlich 400 neue Titel im Jahr, bei einer backlist von 8.000 Titeln »in print« sowie mehr als 180 Zeitschriftenserien. Der Verbreitungsbereich der Academic PressPublikationen war sehr bald gänzlich international; immer schon wurde mehr als die Hälfte des Umsatzes außerhalb der USA getätigt, über Filialen und Repräsentanten in allen Erdteilen, besonders aber in Europa, wo der Verlag in London einen Zweig errichtete, von dem aus die Beziehungen in andere Länder, auch nach Deutschland ausgebaut wurden. Academic Press betätigte sich auch als Importeur europäischer Wissenschaftsliteratur; seit 1962 fungierte sie als Vertriebspartner für die englischsprachigen Bücher des wissenschaftlichen Springer Verlags, Heidelberg.994 Academic Press entwickelte sich so zu einem der größten wissenschaftlichen Verlage der Welt. Jacoby, der Mitglied der National Academy of Sciences war, blieb bis zu seinem Tod 1968 in der Unternehmensleitung aktiv; im Januar 1970 wurde Academic Press von Harcourt Brace Jovanovich übernommen.
Nordemann Publishing Company und Interscience Publishers Inc. Das Beispiel einer höchst beachtlichen Karriere im Bereich des naturwissenschaftlichen Verlags lieferte auch Eric A. Proskauer* (ursprgl. Erich Pr.; 1903 Frankfurt a. M. – 1991 New York).995 Nach einem Studium der physikalischen Chemie in Leipzig und nebenher erledigten Katalogisierungsarbeiten im Antiquariat Max Weg war auch er der Akademischen Verlagsgesellschaft verbunden; er war dort u. a. mit der Akquise englischsprachiger Übersetzer befasst und gab zusammen mit seinem akademischen Lehrer Carl Drucker 1932/1933 das zweibändige Physikalisch-Chemische Taschenbuch heraus. 1934 war er involviert in die Vergabe von Übersetzungsrechten der Akademischen Verlagsgesellschaft an den 1928 gegründeten holländischen Verlag Wetenschapelijke Boekhandel von Maurits Dekker und Johann Gerhard Nordemann, im selben Jahr veröffentlichte er zusammen mit Arnold Weissenberger bei der Clarendon Press in Oxford den Titel Organic Solvents als Ergebnis gemeinsamer Forschungsarbeit. 1936 sondierte Proskauer die Möglichkeiten einer Gründung eines Wissenschaftsverlags in den USA; 1937 emigrierte er und gründete, mit Dekker und Nordemann als Financiers, im Juli 1937 die Nordemann Publishing Company in New York, als deren Präsident Kurt Jacoby vorgesehen war (verhindert wurde dies durch ein Veto von dessen Schwiegervater Leo Jolowicz). Für das Verlagsprogramm zeichnete in erster Linie Proskauer verantwortlich, es rekrutierte sich aus der Backlist von Gustav Fock ebenso wie aus Lizenzausgaben der Akademischen Verlagsgesellschaft. Zusätzlich brachte Proskauer Vertragsabschlüsse mit renommierten Wissenschaftlern wie dem emigrierten deutschen Mathematiker Richard Courant und dem ebenfalls emigrierten österreichischen Chemiker Hermann Mark (seit 1940 Herman F. Mark) zustande. Pläne, in den USA in Kooperation mit einer projektier994 Vgl. Madison: Book Publishing in America, S. 527‒529. 995 Vgl. die autobiographische Schrift Proskauers: A Tribute. New York: Wiley [1974]; ferner Leon Sokoloff: Refugees from Nazism and the biomedical publishing industry. In: Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, Vol. 33, Issue 2, July 2002, p. 315‒324; Edelman: Maurits Dekker and Eric Proskauer.
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ten Niederlassung von Elsevier in New York zu treten, konnten aufgrund des Kriegsausbruchs in Europa nicht in die Tat umgesetzt werden. Nachdem auch Dekker in die USA geflüchtet war, gründeten dieser und Proskauer im Juni 1940 den Verlag Interscience Publishers Inc., der an derselben Adresse wie Nordemann firmierte, 215 Fourth Avenue. Der sprechende Name zielte auf ein Programm, dessen Besonderheit in der Konzentration auf Forschungsfelder lag, die bislang weder in den wissenschaftlichen Disziplinen noch von anderen Verlagen abgedeckt worden waren. Interscience Publishers erwiesen sich als voller Erfolg, denn es gelang Proskauer rasch, ein Netzwerk bedeutender Naturwissenschaftler zu knüpfen. Die Subskriptionen für mehrere Zeitschriftenreihen stellten das Unternehmen auf eine solide Geschäftsgrundlage – so etwa startete Proskauer 1946 mit Herman Mark das Journal of Polymer Science. Während des Zweiten Weltkrieges profitierte der Verlag auch von den Möglichkeiten, mit Nachdrucken staatlich beschlagnahmter deutscher Verlagsrechte das Programm zu erweitern: die Aufhebung des Copyrights markierte den Beginn des Reprint-Booms in den folgenden Jahrzehnten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs positionierte sich Interscience rasch auch auf dem internationalen Buchmarkt: zunächst übernahm das Unternehmen den USA-Vertrieb für Elsevier, 1946 erfolgte die Gründung von Interscience Publishers Ltd. in London für den Vertrieb in Europa; als Manager der Filiale fungierte Fritz Gerhard Weg.996 1947 erschien der erste Band der Encyclopedia of Chemical Technology in der von Dekker und Proskauer neu gegründeten Interscience Enyclopedia Inc., die umsatzstark agierte und bald auch Projekte des Mutterhauses mitfinanzierte. Das Unternehmen wuchs in der Folge durch Zukäufe; u. a. erwarb Interscience 1955 den Verlag Textile Book Publishers, geriet dadurch aber in wirtschaftliche Schieflage. 1961 verkauften Dekker, der 33 % der Firmenanteile hatte, und Proskauer mit 27 %-Anteil Interscience an den Verlag John Wiley & Sons, der sich damit den Grundstock seines Wissenschaftsprogramms erwarb und inzwischen einer der fünf größten Wissenschaftsverlage der Welt ist. Proskauer blieb von 1961 bis 1970 als Senior Vice-President und von 1970 bis 1973 als Direktor von John Wiley & Sons verlegerisch tätig.997
996 Fritz Gerhard Weg* (1919 Leipzig – 1986 Sutton, GB) war vor seiner Emigration Inhaber von Buchhandlung und Antiquariat Max Weg in Leipzig. Das Antiquariat war spezialisiert auf Naturwissenschaften, besonders auf geologisch-mineralogische und botanische sowie zoologische Literatur. Weg durfte mit Sondergenehmigung bis Anfang 1939 weiterarbeiten, das Geschäft stand zuletzt aber bereits unter kommissarischer Leitung: Der SS-Standartenführer Gerhard Noatzke aus Berlin war gemäß § 52 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 zum Treuhänder bestellt. Behördlichen Vermutungen zufolge emigrierte Weg in die Schweiz, wo er in Zürich ein schon bestehendes Zweiggeschäft weitergeführt haben soll. In jedem Fall hat Weg 1946 die Leitung der neugegründeten Londoner Filiale von Interscience Publishers Ltd. übernommen. Vgl. hierzu Edelman: Maurits Dekker and Eric Proskauer, S. 22. 997 In einem Brief an Michael Harris, Vice-President von Wiley-Interscience, vom 15. Mai 1973 unterstreicht Kurt Enoch die zuweilen engen Beziehungen der Verlegeremigranten untereinander: »I knew of Dr. Proskauer by his reputation as an outstanding scientific German Publisher long before. I met him personally in 1940, shortly after my arrival from wartorn France, in this country where he had already again become the driving force in a new and fast growing publishing enterprise. He was one of the first who helped me in many ways to make my own fresh start. Although my publishing activity went in a different direction,
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Unter den Qualitäten, die ihm von Kollegenseite attestiert worden sind, erscheinen zwei von besonderer Bedeutung, sein internationales Gesichtsfeld (»an amazing familiarity with the spezific ability of authors all over the world, in Europe, America, and Japan«), und die spezifischen Ideen, die er in das amerikanische Verlagswesen einbrachte (»you set the standard for many innovations in U. S. publishing«).998 Proskauer bewies Begabung für das Lancieren von Buchprojekten, mit denen die bestehenden Grenzen des Wissens überschritten und die Phantasie der Forscher in Gang gesetzt werden konnten. Auch wurde ihm bescheinigt, in den USA gezielt und produktiv von seinen in Deutschland erworbenen Kenntnissen der Forschungslandschaft Gebrauch gemacht zu haben: »You became acquainted with German Scientists during the days when Germany was a leading scientific nation. This undoubtedly explains your welcome by all the scientists in the United States«.999 Nach 1945 drehte sich das Verhältnis – und damit der Informationsfluss – um: Die USA wurden zur führenden Wissenschaftsnation, und Proskauer war mit ein Element dieses Prozesses: Mehrfach hat er Interscience-Titel mit deutschen Verlagspartnern koproduziert – Titel, die in den fünfziger und sechziger Jahren zu Standardwerken an deutschen Universitäten wurden. Proskauer selbst betrachtete und kommentierte seine Rolle nicht ohne Ironie: »Sic transit gloria mundi! I started my career by bringing German chemistry to the United States, and I am finishing it by bringing American chemistry to German universities! The cycle is closed.«1000
Grune & Stratton, New York Eine Intensivierung der transatlantischen wissenschaftlichen Kommunikation haben emigrierte Verleger auch auf dem Gebiet der Medizin bewirkt. Henry M. Stratton* (geb. als Max Slovsky, später Slutzker; 1901 Wien – 1984 Palm Beach FL), erhielt in Wien seit 1925 bei Urban & Schwarzenberg eine gediegene Ausbildung im Medizinverlagswesen, die auch Kenntnisse im Buchdruck, Buchbinden und in der Druckgraphik umfasste.1001 Später trat er als Geschäftspartner in den Wiener Verlag Weidmann ein, der
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our developing close relationship and friendship gave me the opportunity and pleasure of observing and admiring his spectacular career, which made him one of the leading figures in the world of scientific publishing and his great contributions to our industry as a whole.« (Antwort Enochs auf das Einladungsschreiben Harrisʼ zu einer Dinner-Party, gegeben zu Ehren Eric Proskauers, aus Anlass seines Rückzugs in den Ruhestand. Kurt Enoch Papers, Box 1, New York Public Library, Manuscripts and Archives Division). Der Aufbau würdigte Proskauer aus Anlass seines 75. Geburtstages 1978 und der Verleihung des Ehrendoktorats des New Yorker Polytechnic Institute 1984 mit Gratulationsartikeln (Aufbau, 10. März 1978; Aufbau 22. Juni 1984). Eric A. Proskauer. A Tribute. New York, London, Sydney, Toronto: John Wiley & Sons (1973), S. 2 u. 9. Eric A. Proskauer. A Tribute, S. 11 (Prof. Piet Koltoff). Ebd., S.18. Siehe hierzu die Materialien im Archiv John M. Spalek, Albany, darunter: Dr. Henry M. Stratton. On the Occasion of his 70th Birthday, April 5, 1971 (Dokumentation zu der ersten Henry M. Stratton Lecture in New York). O. O. u. J. (New York 1972). Ferner: Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1434 f.; Edelman: Other Immigrant Publishers of Note in America, S. 199 f.
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ebenfalls auf diesem Gebiet tätig war. 1938 verließ er Wien und kam, nach einem Zwischenaufenthalt in Havanna (Kuba), wo er mit einem dort ansässigen Verleger ein Gemeinschaftsunternehmen zur Übersetzung amerikanischer Lehrbücher ins Spanische organisierte, 1940 nach New York. Hier gründete Stratton im darauffolgenden Jahr gemeinsam mit seinem ebenfalls emigrierten Geschäftspartner Ludwig H. Grünebaum den Medizinverlag Grune & Stratton. Für einen guten Start konnte er seine in Wien erworbenen Kenntnisse einsetzen: »He began in 1941 by publishing monographs by distinguished European immigrant physicians and English translations of European books.«1002 Die Basis für die Expansion des Verlags bildeten die Zeitschriften Blood. The Journal of Hematology, 1947 die erste auf diesem Feld, sowie Circulation Research (gegr. 1950), das offizielle Fachorgan der American Heart Association. Insbesondere die hämatologische Forschung blieb ein Schwerpunkt im Verlagsprogramm; darüber hinaus förderte Stratton die Beschäftigung mit Blutkrankheiten in den USA in entscheidender Weise durch Gründung von Gesellschaften, Diskussionsforen, Lectures und Laboratorien sowie durch Forschungspreise. Aber auch auf anderen Gebieten wie der Psychiatrie, Herz-Kreislauf-Medizin, Röntgenologie oder Nuklearmedizin war Stratton v. a. durch Zeitschriftengründungen engagiert. In seinem Buchprogramm produzierte der Verlag bis zum Beginn der 1970er Jahre mehr als tausend Titel, von denen damals rund 700 lieferbar waren; er setzte anerkanntermaßen neue Standards im medizinwissenschaftlichen Publikationswesen und unterstützte auf diese Weise die Entstehung und Verbreitung neuen medizinischen Wissens weltweit. Zur Internationalisierung dieses Wissens gründete Stratton 1954 die Intercontinental Medical Book Corp., die zahlreiche Bücher von Grune & Stratton in fremdsprachigen Übersetzungen herausbrachte, sich aber auch in den Bereichen Buchimport und internationaler Koproduktion betätigte. Grune & Stratton wurde 1968 an Harcourt Brace Jovanovich verkauft, während der Intercontinental-Zweig unabhängig weiter bestand und den Grundstock bildete für die 1979 gemeinsam mit dem Georg Thieme Verlag (Stuttgart) vorgenommene Gründung von Thieme Stratton Inc., eines nachmals sehr erfolgreich operierenden Unternehmens. Henry M. Stratton erhielt für seine verlegerische Leistung zahlreiche Auszeichnungen (u. a. Ehrendoktorate der Universität Freiburg im Breisgau und des Mount Sinai Medical Centers in New York, die Ehrensenator-Würde der Universität Wien) und trat durch umfangreiche Wohltätigkeitsinitiativen (v. a. der Henry M. & Lillian Stratton Foundation) und die Förderung kultureller Einrichtungen hervor.
Springer Publishing Company, New York Im Verlag Grune & Stratton war fünf Jahre lang, 1945 bis 1950, noch ein weiterer Emigrant mit prominentem Namen tätig: Bernhard Springer* (1907 Berlin – 1970 New York).1003 Der Spross der Familie, welche mit der 1842 gegründeten Julius Springer 1002 Palm Beach Daily News, 15. April 1984 (in der German and Jewish Intellectual Émigré Collection, M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, University at Albany / State University of New York). 1003 Siehe Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1434; Götze: Der Springer-Verlag. Teil II: 1945‒1992; Ursula Springer: The History of Springer Publishing Company. New York.
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Verlagsbuchhandlung den bedeutendsten Fachverlag für medizinische, rechtswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Literatur in Deutschland betrieb, hatte 1931 in Göttingen promoviert und war anschließend in Heidelberg und Wien im Familienunternehmen tätig, bis er im Sommer 1938 – nachdem sein Vater Julius Springer (1880‒ 1968) in das KZ Oranienburg verschleppt und der Verlag trotz seiner außerordentlich großen internationalen Bedeutung unter starken »Arisierungs«-Druck geraten war1004 – nach monatelangen Bemühungen um ein Visum in die USA emigrieren konnte. Dort arbeitete er in New York zunächst mit Walter J. Johnson zusammen, der zu diesem Zeitpunkt die Gründung der Academic Press betrieb. Nach zwei Jahren ging Bernard Springer (wie er sich inzwischen nannte) nach Baltimore zu Williams & Wilkins, einem medizinischen Fachverlag, blieb dort bis 1942 und erwarb gründliche Kenntnisse im amerikanischen Verlagswesen. Nach einem dreijährigen Militärdienst bei der US-Army arbeitete er von 1945 bis 1950 bei Grune & Stratton in New York; 1947 heiratete er in erster Ehe die Lektorin Sara Picus, die ihn bei seinen Plänen, einen wissenschaftlichen Verlag zu etablieren, unterstützte. 1950 gründete Springer in New York schließlich einen eigenen medizinischen, psychologischen und pharmakologischen Fachverlag, die Springer Publishing Company, mit einem kleinen Büro in der 23rd Street und drei Mitarbeitern. Seinen ersten, 1951 erschienenen Verlagstitel, eine veterinärmedizinische Publikation, vermittelte ihm der österreichische Emigrant Frederick Praeger*. Ab Mitte der 1950er Jahre bis zur Gründung einer eigenen Filiale in New York Mitte der 1960er Jahre hatte das Unternehmen auch die Generalvertretung des deutschen Springer Verlags für die USA inne. Beim Generationswechsel in der Leitungsebene des Heidelberger Springer Verlags blieb Bernard Springer unberücksichtigt, obwohl er der älteste Sohn von Julius Springer war. In New York leitete Bernard Springer die mit PaperbackTiteln zur Krankenpflege und mit Fachzeitschriften von Ärztevereinigungen bald höchst erfolgreiche Springer Publishing Company bis zu seinem Tod 1970; danach übernahm seine zweite Frau Ursula geb. Pietzschmann (1922 Berlin – 2014 New York) bis 2004 die Verlagsführung und erweiterte das Programm mit gerontologischer Fachliteratur. Seit 2004 ist die Springer Publishing Company Teil der Mannheim Trust LLC und betrachtet sich »as a leader in the fields of nursing, social science, and medical publishing« (Homepage).
Paul Perles bei Yearbook Medical Publishers Inc., Chicago Paul Perles* (1908 Wien – 2001 Northbrook) war nach seiner buchhändlerischen Ausbildung in Leipzig, Köln und London mit der verlegerischen Betreuung der im Familien-
1004 Julius Springer musste 1935 aus der Geschäftsführung ausscheiden; Teile seines Vermögens wurden zeitweilig eingezogen. Er überdauerte, zurückgezogen lebend, die Jahre des »Dritten Reiches«. Sein Vetter Ferdinand Springer (1881‒1965) musste als »Halbjude« ebenfalls in den Hintergrund treten; aus diesem Grund hatte bereits 1933 der langjährige Verlagsdirektor Tönjes Lange als Generalbevollmächtigter die Vertretung des Verlags nach außen übernommen; 1935 wurden ihm auch sämtliche Unternehmensanteile übertragen. Unmittelbar nach dem Krieg wurde der Verlag an Julius und Ferdinand Springer restituiert; Tönjes Lange übergab am 9. Mai 1945 seine Anteile wieder vollständig bzw. blieb mit 1 % Teilhaber und persönlich haftender Gesellschafter; als er 1961 starb, hatte er dem Unternehmen
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verlag erscheinenden, in Fachkreisen höchst angesehenen Wiener medizinischen Wochenschrift befasst; sein Vater Oskar Perles (geb. 1875, gest. 1942 im Vernichtungslager Izbica) und sein Onkel Ernst Perles führten die ehemalige k. u. k. Hofbuchhandlung Moritz Perles in der Seilergasse 4 in der Wiener Innenstadt.1005 Im März 1938 wurde die Familie Perles mit der »Arisierung« der Zeitschrift durch die Druckerei Brüder Hollinek konfrontiert, die Buchhandlung wurde von dem berüchtigten »Ariseur« Johann Katzler ausgeräumt. Perles gelang es, im August 1939 aus Österreich zu flüchten; er wanderte über England mit Protektion von James Joyce in die USA aus, wo er sich zunächst in New York, 1949 schließlich in Northbrook, Illinois, niederließ. Zunächst arbeitete er im von George C. Macy geleiteten Limited Editions Club, einem Buchclub, der für seine Mitglieder bibliophile Klassikerausgaben herstellte. Aufträge erhielt Perles als Buchhersteller und -gestalter u. a. auch von der John Day Company. 1942 ging er zu Yearbook Medical Publishers Inc. nach Chicago, für dessen internationalen Vertrieb er zuständig wurde und wo er es bis zum Vice-President brachte. Daneben galt Perlesʼ Interesse der Gestaltung wissenschaftlicher Fachpublikationen, bereits 1949 hatte er sein erstes diesbezügliches Fachbuch veröffentlicht.1006 1963 erhielt er den Preis des US Department of Commerce für hervorragende Leistungen im Export. Er verließ den Medizinverlag in den späten 1960er Jahren und wurde »managing editor« des Journal of Biocommunication. Mitte der 1970er Jahre ernannte die Glenbrook Hospital Medical Library Perles zum leitenden Bibliothekar. Die Überlebenden der Familie Perles strebten Mitte der 1950er Jahre die Wiederherstellung ihrer Besitzverhältnisse an, hatten damit aber nur zu einem äußerst geringen Teil Erfolg: die Republik Österreich konnte den »Ariseuren« kein Verschulden nachweisen.
International Universities Press Inc., New York Die von Abraham Kagan* 1944 in New York gegründete International Universities Press Inc. war zunächst auf die Veröffentlichung psychoanalytischer Schriften in der Nachfolge Sigmund Freuds spezialisiert, verbreiterte aber in den folgenden Jahrzehnten das Spektrum auf das gesamte Gebiet der Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychologie sowohl mit Zeitschriften wie mit Buchpublikationen.1007 Kagan war vor 1933 wie seine Cousins Bendit* und David Kagan* an mehreren Verlagen in Russland und in Berlin beteiligt; so etwa war er Mitinhaber der Verlagsanstalt Wwe. & Gebr. Romm in Wilna und gemeinsam mit Jakob Bloch und dessen Schwager S. Grinberg 1922 auch Mitbe-
insgesamt 40 Jahre gedient. Siehe hierzu auch Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 3/1, S. 392 f. 1005 Siehe Paul Perles: Looking Back. World History and Personal Recollections 1914‒1994. Northbrook o. J. [Privatdruck]. Außerdem: Punkl: Verlag Moritz Perles; Hall: Epitaph auf den Verlag Moritz Perles in Wien, 1869‒1938; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 366; Hall: Jüdische Buchhändler und Verleger im Schicksalsjahr 1938 [online]. 1006 Paul Perles: Planning, Design, and Production of the Modern Scientific Book. Brooklyn: George McKibbin & Son Comp. 1949. 1007 Als Beispiele aus dem Zeitschriftenbereich seien genannt: Journal of Clinical Psychoanalysis; Modern Psychoanalysis; Psychoanalysis and Psychotherapy.
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gründer des Berliner Verlagshauses Petropolis Verlag A.-G. Die International Universities Press brachte in den sechs Jahrzehnten ihres Bestehens eine Vielzahl von Veröffentlichungen heraus, darunter auch so prägnante Studien wie Hitler's psychopathology (von Norbert Bromberg und Verna Volz Small, 1983), und stellte erst 2003 ihre Tätigkeit ein.
Philosophical Library, New York Die intellektuellen Debatten entscheidend befördert – meist über Themen der europäischen Geistesgeschichte ‒ hat die Philosophical Library des bereits einige Jahre vor der »Machtergreifung« des Nationalsozialismus in die USA gelangten Dagobert D. Runes* (1902 Czernowitz – 1982 Manhattan, New York).1008 In Wien als Schüler von Moritz Schlick mit einer Arbeit über Spinoza zum Dr. phil. promoviert, war er dort Leiter des »Ethischen Seminars«, einer von den Ideen Constantin Brunners inspirierten Studentengruppe, und hatte 1927 ein Buch in einem Freidenker-Verlag herausgebracht (Der wahre Jesus oder Das fünfte Evangelium), das die katholische Kirche für den Antisemitismus verantwortlich machte.1009 Da Runes, der eigentlich zum Katholizismus kon- Abb. 39: Dagobert D. Runes (um 1955), vertiert war, eine Anklage wegen Gottesläste- eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die rung befürchtete – sein Verleger Rudolf Cerny mit zahlreichen Emigranten aus Deutschwurde für die Publikation zu zwei Monaten Ar- land und Österreich in enger freundrest verurteilt – sah er sich 1928 dazu veran- schaftlicher und verlegerischer Beziehung stand. lasst, in die USA auszuwandern.1010 In New York übernahm er gemeinsam mit seiner Frau Mary Gronich zwei insolvente Zeitschriften und gab sie neu heraus (The Modern Thinker, bis 1936; New Current Digest, ein Nachdruckmagazin, das in den späten 1930er Jahren vom Konkurrenten Readers Digest aufgekauft wurde), redigiert im Geiste Alfred Adlers, mit dem Runes Zeit seines Lebens befreundet war.1011 Durch die Beteiligung von prominenten Beiträgern (unter ihnen Tho-
1008 Zu Runes vgl. vor allem die exzellent recherchierte Studie von Ulrich E. Bach: Dagobert D. Runes: Ein streitbarer Verleger in New York, ferner: Dr. Dagobert Runes, Founder Of the Philosophical Library [Obituary]. In: The New York Times, September 27, 1982 [online]; Edelman: Other Immigrant Publishers of Note in America, S. 197 f. 1009 Mündliche Information von Shalom Miron (Tel Aviv) an den Vf. am 23. September 2000, Den Haag. 1010 Vgl. Cazden: German Exile Literature in America, S. 101, 128, 204. – Vgl. ferner Kurt Lubinski: Ein dichtender Verleger. In: Aufbau (N. Y.), 6. August 1948, S. 7 f. 1011 Zum Weiteren siehe Rochelle Larkin: Philosophical Library Redux. In: Publishers Weekly, August 21st, 1987, S. 26‒28.
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mas Mann, Sigmund Freud, Jakob Wassermann, Henri Bergson) und die intellektuelle Qualität der Beiträge konnte namentlich The Modern Thinker eine hervorragende Stellung in der New Yorker Presselandschaft für sich erobern. Das von Runes vierteljährlich herausgegebene Rezensionsorgan Philosophical Abstracts (erschienen bis 1956, später durch H. P. Kraus nachgedruckt) gab 1941 den Anstoß für die Gründung des Verlags Philosophical Library (PL), der – obwohl Runes über keine verlegerische Erfahrung verfügte – sich im Verlauf von vier Jahrzehnten zu einem bedeutenden Unternehmen entwickelte: 1980 umfasste das Programm ca. 2.500 Publikationen aus verschiedensten Bereichen der Geistes- und Naturwissenschaften, zu den Autoren des Verlags zählten 22 Nobelpreisträger (u. a. Bertrand Russell, Albert Schweitzer und Boris Pasternak).1012 Als nach 1933 der Strom der deutschen Exilierten einsetzte, stellte Runes seine verlegerische Arbeit ganz in den Dienst einer geistigen Betreuung der Neuankömmlinge: For many, the trauma of flight and the bewilderment of emigration to America was overwhelming. It was cushioned for some, however, by the existence of a publishing company, itself started by exiles of an earlier decade, that welcomed the newcomers, their ideas and their writings, with open arms. First the periodical »Modern Thinker« and then the book line called the Philosophical Library were to become a second home, not only to the penniless and unemployable, but to names like Albert Einstein, Thomas Mann and Arnold Schoenberg.1013 Tatsächlich war Runes nicht allein bemüht, für die neuankommenden Emigranten Sprachlehrzeitschriften (z. B. Better English, aber auch Home Crafts and Hobbies, Model Airplane Builder, American Lady) bereitzustellen, sondern er gründete zu diesem Zweck 1931 auch ein »Institute for Advanced Education«, eine von ihm bis 1934 geleitete Volkshochschule, die neben Sprachunterricht auch Vorlesungsreihen zu philosophischen, psychologischen und politischen Fragestellungen anbot und an welcher Persönlichkeiten wie Eleonor Roosevelt ebenso Vorträge hielten wie Heinrich Mann oder Alfred Adler; die Volkshochschule hatte allerdings nicht lange Bestand. Die Philosophical Library hingegen sollte eine erstaunliche Langlebigkeit entfalten. Runes setzte den Auftakt mit einem Dictionary of Philosophy, der von einem Team von 72 Beiträgern erstellt und schon 1942 in einer Startauflage von 150.000 Exemplaren herauskam. Das Dictionary war sofort ein großer Erfolg und stellte das Verlagsunternehmen – ebenso wie ein von der U. S.-Army in großen Mengen aufgekauftes Buch War Medicine, das die medizinische Versorgung von Kriegsverwundeten und -versehrten zum Thema hatte – auf eine dauerhafte Grundlage. In der PL erschienen Werke des mit Runes befreundeten Albert Einstein (Out of my later Years, 1950; Essays on Humanism, 1950), von Leonhard Frank (Dream Mates, 1946) und Emil Froeschel (The Human Race, 1947), den Musikwissenschaftlern Max Graf und Paul Nettl, von Rudolf Kayser (u. a.
1012 Weitere Nobelpreisträger(innen) unter den Autoren waren Marie Curie, Max Planck, Albert Einstein, Sir Chandrasekhara V. Raman, Werner Heisenberg, Percy Williams Bridgman, Irving Langmuir, Albert Szent-Györgyi, Andre Gide, Maurice Maeterlinck, Rabindranath Tagore, Romain Rolland, George Bernard Shaw, Henri Bergson und François Mauriac. 1013 Larkin: Philosophical Library Redux, S. 26.
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Spinoza: portrait of a spiritual hero, 1946), Emil Ludwig (Of Life and Love, 1945), Hans Reichenbach (From Copernicus to Einstein, 1942), Karl Schwarz (Jewish Artists of the 19th and 20th centuries, 1949) und Franz Werfel (Between heaven and earth, 1944). Einem Verlagsprospekt von 1946 zufolge konnte der Verlag nach nur sechs Jahren bereits auf über 3.000 Wissenschaftler zurückgreifen, die an den zahlreichen Enzyklopädien und Wörterbüchern mitarbeiteten. Dabei war der Begriff »Philosophie« weit gespannt und umfasste neben Literatur auch Disziplinen wie Soziologie, Politologie, Religionswissenschaft, Psychologie oder Mathematik; seit 1964 erschien auch eine Reihe »Wisdom Library«. Besonderes Interesse entwickelte Runes am französischen Existentialismus (neben Sartres Being and Nothingness mit einer Gesamtauflage von 115.000 Exemplaren erschienen in der Philosophical Library auch Bücher von Simone de Beauvoir, André Gide oder François Mauriac). Überhaupt war es ihm ein großes Abb. 40: Runes war an zahlreiAnliegen, europäische Geistigkeit und europäisches chen Publikationen seines VerDenken in den Vereinigten Staaten zu propagieren. Ru- lages beteiligt, besonders bei umnes selbst steuerte als Autor1014 und Herausgeber1015 fangreichen kompilatorischen nicht weniger als 68 Werke bei, nicht geachtet der Werken. Die ›Schatzkammer der wichtigen Hintergrundfunktion, die er bei der Erstel- Philosophie‹ mit Textausschnitten aus Werken von 381 großen lung der zahlreichen Lexika und Enzyklopädien ausüb- Denkern auf nahezu 1.300 Seiten te, die in seinem Verlag erschienen. Allerdings hatte er hat er selbst zusammengestellt. auch eine besondere Fähigkeit, geeignete Autoren für sein Verlagsprogramm ausfindig zu machen und sie zum Schreiben zu motivieren. Hilfreich war dabei, dass Runes in New York viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und speziell auch des deutschsprachigen Exils wie Alfred Adler, Albert Einstein und Emil Ludwig zu seinem Bekanntenkreis zählte. Nach seinem Tod 1982 wurde der Verlag durch seine Tochter Regeen Najar Runes und seine zweite Ehefrau Rose Morse-Runes weitergeführt, mit rund 30 Titeln jährlich, teils auf der Grundlage von Neuauflagen aus dem früheren Programm als Paperback, teils durch eine Programmstrategie, in deren Rahmen jüdischen Themen wieder größeres Augenmerk geschenkt wurde. Das New Yorker Büro des Verlages wurde 1998 geschlossen, doch verwaltete Regeen Najar Runes auch weiterhin die Rechte der Philosophical Library.
1014 V. a. Bücher zu Themen der Philosophie, Politik, Erziehung, Judaica und eigene Lyrik. Beispiele: The Art of Thinking, 1951; Despotism: A Pictorial History Of Tyranny, 1963; Hebrew Impact on Western Civilization, 1951; Jordan Lieder: Frühe Gedichte, 1948. 1015 So etwa gab er, mit einer eigenen Einleitung, Karl Marxʼ Aufsatz Zur Judenfrage 1959 als erste vollständige Übersetzung ins Englische unter dem Titel A World without Jews heraus.
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Focal Press, London / New York, und Global Press, New York Eine nur periphere Rolle spielte die Global Press, ein kartographischer Verlag, im bewegten Leben von George Bernhard Eisler* (1892 Hamburg – 1983 Hamburg-Barmbek). Sohn des aus Budapest nach Hamburg zugezogenen Heinrich Eisler (1853‒1924), der 1883 den Hamburger Zeitschriften- und Fachbücherverlag Heinr. Eisler gegründet hatte, war Georg Eisler nach dem Tod des Vaters als persönlich haftender Gesellschafter an die Spitze eines Konzerns getreten, der mittlerweile Zweigniederlassungen in Berlin und Frankfurt am Main hatte und zu dem eine Annoncen-Expedition, die deutschlandweit als Branchenführer im Anzeigengeschäft galt, die Graphische Kunstanstalt Labisch & Eisler sowie der Verlag der Deutschen Hotelnachrichten gehörten. Schon im April 1933 geriet das Unternehmen unter politischen Druck: Eisler wechselte den Firmennamen zu Fachverlag AG, als »arischer« Teilhaber trat Paul Hartung ein und am 18. Oktober 1933 erfolgte die Umgründung in eine GmbH. Eisler schied im Dezember aus dem Vorstand aus, seine Mutter Ida Ernestine geb. Eysler trat als Gesellschafterin ein. Im Juli 1935 verkaufte er, vertreten durch Ernst Minden, den Fachverlag weit unter seinem wirklichen Wert an das Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn und sah sich gezwungen, seinen Immobilienbesitz zu veräußern. Zu diesem Zeitpunkt war Eisler bereits seit eineinhalb Jahren in der Emigration: Anfang 1934 war er mit seiner Familie über die Schweiz nach England gelangt. In London gründete er 1937 den Buchverlag Focal Press und ein Institut für hebräische Studien. 1940 gelangte Eisler mit seiner Familie in die USA und etablierte in New York eine Zweigniederlassung des Londoner Verlags. Inwieweit diese Firma mit der Focal Press von Andor Kraszna-Krausz*1016 zusammenhängt, ist nicht dokumentiert. Jedenfalls aber errichtete Eisler in New York noch ein zweites Unternehmen, den kartographischen Verlag Global Press. Dort erschien, möglicherweise als einziger Verlagstitel, 1944 der Atlas of global geography von Erwin Raisz, mit einer Einleitung des Verlegers. Die Geschäfte gingen offensichtlich schlecht, so dass Eisler sich nach Kriegsende um die Klärung der Eigentumsfragen seines Besitzes in Deutschland bemühte. Sein Lebensmittelpunkt blieb die 1950er Jahre hindurch noch New York, obwohl er 1951 in Hamburg die Heinrich Eisler AnnoncenExpedition neu als GmbH gründete und als Geschäftsführer fungierte; die Firma wurde 1959 in Heinrich Eisler Werbung umbenannt. Die anwaltlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen um Restitution und Wiedergutmachung zogen sich bis in die 1970er Jahre; immerhin aber konnte mit dem Buchgewerbehaus Müller & Sohn ein Vergleich ausgehandelt werden, durch den Eisler 1954 wenigstens den Verlag der Deutschen Hotelnachrichten rückerstattet bekam.1017
1016 Siehe dazu das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage in diesem Band. 1017 Näheres zur Biographie Eislers in New York Times, 9. Dezember 1983 [Obituary]; Aufbau v. 16. Dezember 1983, S. 4; Reinhard Mehring: Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt (Carl Schmitt Opuscula, Plettenberger Miniaturen 2 ‒ Jahresgabe 2009 des Carl-Schmitt Fördervereins). Plettenberg 2009, S. 8‒18.
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ABC-Clio, Santa Barbara, CA Einen der bedeutendsten Reference-Verlage weltweit hat in den 1960er Jahren der Emigrant Eric H. Boehm* (1918 Hof / Bayern – 2017 Santa Barbara, CA) aufgebaut.1018 Boehm war 1934, im Alter von 16 Jahren, in die USA gelangt und hatte 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen; als Soldat der U. S. Air Force nahm er am Zweiten Weltkrieg teil, 1946/1947 war er Mitglied der Presseprüfungskommission der amerikanischen Militärregierung in Berlin. 1951 schloss er sein Studium in Yale mit dem Doktor der Philosophie ab, zeitgleich veröffentlichte Boehm sein erstes und erfolgreichstes Buch We Survived, das sich aus Fallgeschichten zu Personen zusammensetzt, die vom Nationalsozialismus verfolgt worden sind; das Buch sollte die Leser in den USA über die Auswirkungen eines totalitären Regimes informieren. Bis 1955 war Boehm bei der Air Force Intelligence in Wien tätig, danach in München. Seit 1953, also noch in Wien und München, begann er – mit tatkräftiger Unterstützung seiner Frau, die er in Berlin kennengelernt hatte ‒, seine Idee der »Historical Abstracts« zu verwirklichen, die nach dem Vorbild der im Bereich der Chemie bereits üblichen Literaturberichte einen bibliographischen Überblick über die aktuelle historische Forschung vermitteln sollten. Diese Abstracts (und die etwas später, 1963, ins Leben gerufene Abstracts-Serie »America: History and Life«) bildeten die Basis für die Ausweitung seiner Aktivitäten: In den folgenden Jahren, nach dem Umzug in die USA (zunächst nach Berkeley, dann nach Santa Barbara, Kalifornien) widmete er sich mit Energie dem Aufbau seines 1960 gegründeten Verlags Clio Press (später erweitert zu ABC-Clio). Das Unternehmen zählte am Beginn der 1980er Jahre mehr als 60, später mehr als 100 Mitarbeiter. Boehm war zugleich Präsident und Vorstandsmitglied des American Bibliographical Center, dem die Clio Press in Santa Barbara angeschlossen war; 1970 übernahm er dann dieselben Funktionen im European Bibliographical Center, zu dem die Clio Press in Oxford gehörte. Angegliedert wurde auch eine Schulbuchabteilung, deren Bücher, CD-ROMs und Internetseiten – wie auch die Produkte der anderen Reference-Abteilung – zahlreiche Auszeichnungen erhielten. Das College of Wooster ehrte Boehm 1973 mit der Ehrendoktorwürde, verliehen für die Förderung der Computeranwendung im wissenschaftlichen Publikationswesen und für seine Leistung für die Verbreitung von Wissen, und 1990 mit der Verleihung eines »Distinguished Award«. In der Tat hat Boehm bereits sehr früh die Bedeutung der informationstechnologischen Revolution erkannt: Nach seinem 1982 erfolgten Rückzug von der Leitung von ABC-Clio (sein Sohn Ronald J. Boehm rückte in dieser Funktion nach) widmete sich Boehm vorzugsweise dem Aufbau der »International School of Information Management« (ISIM), die sich Methoden des computergestützten Distance Learning widmete.
1018 ABC-Clio – a 25-year history. Ed. Ronald J. Boehm. Santa Barbara, CA: ABC-Clio 1981; Biographic Speech at the Rotary Club, 19. April 1996 (Materialien des Büros Eric H. Boehm, Santa Barbara, CA); Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 231. Eric H. Boehm, obituary. In The Santa Barbara Independent vom 18. September 2017 [online].
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Reprintverlage Ein weiteres, für die USA selbst und für den verlegerischen Brückenschlag zwischen Europa und Amerika immens bedeutsames verlegerisches Aktivitätsfeld ergab sich im Bereich des Reprintverlags. Zur Vorgeschichte des Reprintverlagswesens gehört das staatliche Nachdruckprogramm, durch das kriegswichtige wissenschaftliche Literatur des feindlichen Auslands in den Vereinigten Staaten verfügbar gemacht werden sollte. Dazu gilt es sich in Erinnerung zu rufen, dass Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen eine führende Stellung eingenommen hat: Physik, Mathematik, Chemie und deren Anwendungen in den Ingenieurwissenschaften, aber auch Medizin wurden an deutschen Universitäten bzw. Universitätskliniken vor einer internationalen Hörerschaft gelehrt, die Publikationen der deutschen Wissenschaftsverlage waren weltweit begehrt, die deutsche Sprache war auf dem Sprung zur international verbindlichen Wissenschaftssprache. Allerdings hatte der Erste Weltkrieg zu einem schweren Rückschlag in den Austauschbeziehungen geführt, einen zweiten, noch gravierenderen Einschnitt markierte dann die Vertreibung von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft aus Deutschland nach 1933. Für die deutschen Wissenschaftsverlage, von denen nicht wenige überwiegend vom Export lebten, bedeutete dies eine Einbuße von enormer Dimension. Aber auch in den USA fielen die Probleme in die Augen, die sich aus der mangelnden Versorgung mit wissenschaftlicher Fachliteratur ergaben: »Scholars, bookmen, and librarians became painfully aware that this country’s library resources and publishing industry were not effectively organized or stocked to meet the research needs of a nation on the verge of a major war […]«.1019 Es unterstreicht die Bedeutung dieses Sektors, wenn von US-Regierungsstellen Mittel und Wege gesucht wurden, trotz des Abbruchs der Handelsbeziehungen an deutsche Wissenschaftsliteratur heranzukommen. Da sich die Probleme mit jedem Kriegsjahr noch weiter zu verstärken drohten, wurde im März 1942 das »United States Office of the Alien Property Custodian« (APC) gegründet, das der Beschaffung und Weiterleitung von kriegsrelevanter technischer und wissenschaftlicher Literatur aus dem feindlichen europäischen Ausland diente.1020 Seine Tätigkeit beruhte auf der Aufhebung der Urheberrechtskonventionen im Krieg, d. h. der amerikanische Staat hatte offiziell die Verlagsrechte an dieser Feindstaatenliteratur beschlagnahmt und dem APC zur Verwaltung übergeben. Insgesamt wurden im Rahmen dieses organisierten Nachdruckprogramms bis Oktober 1946 rund 700 Bücher- und 116 Zeitschriftentitel systematisch nachgedruckt.1021 Unter den Verlegern, die sich beim APC um Nachdrucklizenzen bewarben, waren auch einige deutsche Emigranten, so etwa Friedrich Ungar,1022 der mindestens zehn Titel mit
1019 Nemeyer: Scholarly Reprint Publishing in the United States, S. 33. 1020 Siehe hierzu Sarkowski: Amerikanische Nachdrucke deutscher Wissenschaftsliteratur während des Zweiten Weltkrieges. 1021 Im Grunde lief das Programm noch weiter bis 1963 und umfasste dann insgesamt über tausend Werke der deutschen naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Im Übrigen haben die amerikanischen Bibliotheken nach dem Krieg Zeitschriftenserien regulär weiterbezogen und auf diese Weise dem Wiederaufbau des deutschen Buchhandels Hilfestellung geleistet. 1022 Genaueres dazu im Abschnitt über Frederick Ungar im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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einer Lizenz des APC herausbrachte, z. B. Bücher über Wellenmechanik oder Betontechnologie, aber auch den Sprach-Brockhaus. Die aus dem fränkischen Fürth stammende Buchhändlerin Mary S. Rosenberg verlegte im Rahmen dieses Nachdruckprogramms sieben Titel.1023 Auch der bereits erwähnte Walter J. Johnson war an dem APC-Programm beteiligt, und er hat die Grundidee dieses Transfers auch nach Auslaufen des Programms weiterverfolgt.
Johnson Reprint Corporation, New York Denn Walter J. Johnson1024 war nicht nur Hauptbeteiligter an der Gründung von Academic Press und dem Antiquariat Walter J. Johnson, er errichtete wenige Jahre später, 1946, in New York noch ein weiteres Unternehmen, das ein wissenschaftliches Antiquariat mit einem Reprint-Verlag vereinigte, die Johnson Reprint Corporation. Johnson machte sich in seinem Antiquariat den damals enorm großen, zum Teil kriegsbedingten Bedarf an Ergänzungsjahrgängen für wissenschaftliche Zeitschriften v. a. in nordamerikanischen Bibliotheken zunutze. Da jedoch nicht alles Verlangte mehrfach zu beschaffen war, war es von hier aus nur ein Schritt in die großflächige und planmäßige Reprinttätigkeit: In seinem Verlag brachte Johnson Nachdrucke von Zeitschriften, Reihenpublikationen und großen Sammelwerken sowie Monographien heraus, die für den Neuaufbau von Instituten und Bibliotheken – sowohl in den USA wie auch im kriegsbeschädigten Europa – benötigt wurden.1025 Das Reprintunternehmen expandierte in hohem Tempo; Anfang der 1970er Jahre konnte die Johnson Reprint Corporation rund 3.000 Einzelund Reihentitel und ungefähr 1.000 Zeitschriftenreprints zu einem Gesamtpreis von 1,8 Mio. DM zur Lieferung anbieten, über Stützpunkte in New York und San Francisco, aber auch über Niederlassungen in London, Paris, Mailand, Bombay und Frankfurt am Main. Diese Expansion erfolgte parallel zu dem Unternehmen von H. P. Kraus (siehe weiter unten). Bereits Ende der 1950er Jahre war Johnsons Unternehmen in die Fifth Avenue übersiedelt, mittlerweile war der jährliche Umsatz auf 3 Millionen $ angewachsen. Seit den 1950er Jahren führten Johnson geschäftliche Aufenthalte auch wieder nach Deutschland. Ein Wiedereinstieg in Leipzig war chancenlos; zusammen mit Jacoby initiierte Johnson deshalb einen Neubeginn der Arbeit der Akademischen Verlagsgesellschaft in Frankfurt am Main, mit Zweigstellen in Paris und seit 1958 in London. Im
1023 Nach Cazden: German Exile Literature in America, S. 89 u. S. 126. 1024 Zur Biographie siehe u. a. Klaus G. Saur: Walter J. Johnson [Nachruf]. In: Bbl., Nr. 15, 21. Februar 1997, S. 32; Lorz: »Strebe vorwärts«, S. 83‒123, hier bes. S. 113 f.; zu den Unternehmen v. a. Pfäfflin: Die totale Reproduktionsindustrie; Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 215, S. 232; Beschler: Walter J. Johnson and Kurt Jacoby: Academic Press; Henderson: Walter J. Johnson and the Scholarly Reprint. – Johnson selbst hat zum Thema Reprint Vorträge gehalten: The Development and Mechanics of Reprints. Paper given October 1964 at the meeting of the College and University Libraries Section of the New York Library Association (71st Annual Conference of NYLA); Copyright Problems. (Unpublished paper given on October 15, 1966, to Midwestern Regional Group of the Medical Library Association). 1025 Vgl. Pfäfflin: Die totale Reproduktionsindustrie, S. 267‒272, sowie Nemeyer: Scholarly Reprint Publishing in the United States.
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März 1968, als der Umsatz von Johnsons Unternehmen 13 Millionen $ erreicht hatte, die mit rund 100 Angestellten erzielt wurden,1026 ging die Academic Press an die Börse. Im Januar 1970 kaufte die Verlagsgruppe Harcourt Brace Jovanovich die Academic Press; Johnson Reprints wurde von Faxon übernommen. Damit begann der Umwandlungsprozess eines unabhängigen Verlagshauses zur Tochter eines Konzernriesen: 1986 war der Jahresumsatz von AP auf 70 Millionen $ gestiegen, die Backlist umfasste 12.000 Titel, mit 400 bis 600 Neuerscheinungen pro Jahr, der Zeitschriftenkatalog umfasste 158 Periodika. Johnson blieb auch nach dem Verkauf der AP verlegerisch aktiv: er erwarb vier deutsche Verlage (Dr. Max Gehlen, Franz Steiner, Johann Ambrosius Barth sowie Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion), die er allerdings nach wenigen Jahren weiter verkaufte, um sich mit seiner Firma Walter J. Johnson Inc. auf das Antiquariatsgeschäft zu konzentrieren und sich außerdem mit seinem 1976 gegründeten Verlagshaus Ablex Publishing Corp., Norwood, erneut der Publikation wissenschaftlicher Zeitschriften, Jahrbücher und Nachschlagewerke zu widmen. Seine bedeutende Sammlung wissenschaftsgeschichtlicher Werke ging als Schenkung an das Albany Medical College, NY. Als Walter Johnson Ende Dezember 1996 starb, wurde in den Nachrufen hervorgehoben, dass »zahlreiche Entwicklungen und Impulse im gesamten internationalen Verlagswesen durch ihn ausgelöst oder vorangetrieben« worden waren;1027 er galt als eine der eindrucksvollsten, erfolgreichsten und wirkungsvollsten Persönlichkeiten des internationalen Buch- und Zeitschriftenmarktes des 20. Jahrhunderts.
Kraus Reprint, New York / Nendeln, Liechtenstein Parallel zu Walter J. Johnson agierte noch ein weiterer emigrierter Antiquar als Reprintverleger großen Stils, der aus Wien stammende Hans Peter Kraus*.1028 Nach der 1940 erfolgten Gründung seines auf alte Handschriften und Drucke spezialisierten Antiquariats in New York errichtete Kraus 1948, als sich die Gelegenheit zum Erwerb des Zeitschriftenlagers der H. W. Wilson Company bot, einen Zeitschriftenverlag, die Kraus Periodicals Inc. New York, aus dem heraus sich 1962 die Kraus Reprint Corporation New York entwickelte. Vorausgegangen waren vereinzelte Reprint-Aktivitäten seit 1957, die vom ersten Satellitenflug der Sowjetunion ausgelöst worden waren und das Journal of the British Interplanetary Society betrafen. Dem Reprintunternehmen in New York wurde bald auch ein europäischer Zweig in Nendeln in Liechtenstein angegliedert, wo es zum regierenden Fürsten laufende Geschäftsbeziehungen gab und die Steuerbedingungen günstig waren.1029 Das Unterneh-
1026 Sie repräsentierte damals das zweitgrößte Unternehmen dieser Art weltweit. Vgl. auch die Angaben zur Firmengeschichte im Internet: www.archivalresources.com/johnson.htm 1027 Klaus G. Saur: Walter J. Johnson (Nachruf). In: Börsenblatt Nr. 15, 21. Februar 1997, S. 32. 1028 Näheres zum Antiquar H. P. Kraus im Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. Zum Folgenden siehe auch die Auskünfte, die H. P. Kraus in seiner Autobiographie A Rare Book Saga bzw. Die Saga von den kostbaren Büchern gibt. Ergänzend dazu die Sicht des langjährigen Mitarbeiters in New York und Liechtenstein Jens J. Christoffersen (1914–2007) in dessen Erinnerungen (Christoffersen: An Antiquarian Odyssey; bes. S. 17‒22). 1029 Der Vf. dankt Herbert Gstalder für mündliche Auskünfte über die Geschichte von Kraus Reprint am 12. März 2001 in New York; H. Gstalder war seit 1965 bei Kraus Reprint in
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men, in dem insgesamt bis zu 250 Personen beschäftigt waren,1030 davon bis zu zwanzig im technischen Reprintbereich, brachte eine riesige Zahl photomechanischer Nachdrucke heraus, wissenschaftliche Zeitschriften vor allem, sowie eine zweite Produktlinie mit literarischen Zeitschriften und einem Buchprogramm, hauptsächlich mit Quellentexten, die schwer greifbar waren. Einmal mehr kam hier dem Antiquar die Kenntnis des Marktes und des Bedarfs zugute: »Produziert wurde, was gesucht wurde, und der Preis konnte sich am Antiquariatspreis orientieren.«1031 1970 waren in dem 416 Seiten umfassenden Katalog mehr als tausend Reprinttitel mit 22.400 Bänden als lieferbar verzeichnet,1032 zum Gesamtlieferpreis von 1,1 Millionen D-Mark; insgesamt hat Kraus im Laufe von zwanzig Jahren mehr als 30.000 Bände herausgebracht und an Bibliotheken in aller Welt geliefert. Die technischen Voraussetzungen waren durch ein besonderes Offsetdruckverfahren gegeben, das bei Auflagenhöhen von 250 Exemplaren (später wurden oft nur noch Auflagen zu 100 Exemplaren gedruckt) rentabel einsetzbar war. Wenn es auch durchaus konkurrierende Aktivitäten zwischen Johnson Reprint und Kraus Reprint gab (in einem Fall wurde unwissentlich ein und dasselbe Buch nachgedruckt),1033 so trat doch sehr bald eine Spezialisierung oder jedenfalls eine Schwerpunktbildung ein, indem sich Johnson auf das Gebiet der Sciences / Naturwissenschaften, Kraus auf die Humanities / Geisteswissenschaften konzentrierte. Beiden Unternehmen kamen die nach dem Sputnikschock forcierten Ausbauprogramme der amerikanischen Universitäten entgegen, deren Bibliotheken sehr rasch ihre wichtigsten Kunden wurden. Die Regierungsunterstützung endete in den USA jedoch in den frühen 1970er Jahren. In einem zweiten Schritt kamen dann Japan, der arabische Raum und die Bibliotheken in Europa, vor allem in Deutschland, aber auch in Italien und anderen Ländern hinzu. Vor allem die Bibliotheken des deutschsprachigen Raumes konnten ihre Kriegsverluste auf diese Weise kompensieren, ihre durch Unterbrechung der Bezugswege gerissenen Lücken füllen oder einfach ihre Bestände erweitern, ob es sich nun um Serien mit expressionistischen
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New York und seit 1968 in Liechtenstein in verantwortlicher Stellung tätig. Siehe hierzu auch die Werbebroschüre: The Kraus organization in Liechtenstein, 1956‒1966. Nendeln: Kraus 1966 (mit einem Foto der damals 49 Mitarbeiter). Die Kraus Organization war der drittgrößte Steuerzahler in Liechtenstein. Seit 1946 war in den Firmen Krausʼ auch der aus Wien stammende Emigrant Fred Altman* (ursprgl. Fritz Altmann; 1910 Wien ‒ 1990 New York) tätig. Ursprünglich Schmuckverkäufer, wurde er von H. P. Kraus aufgrund seiner Sprachkenntnisse in der Zeitschriften- und Lehrbuchabteilung des Antiquariats, 1948 dann in Kraus Periodicals eingestellt; seit 1948 fungierte er dort als General Manager, daneben auch als Leiter der Tochterfirma »Back Issues Corporation«. Später war Altman auch im Reprintunternehmen von H. P. Kraus tätig und war mitbeteiligt an den Verhandlungen mit Roy H. Thomson, die 1968 in den Firmenzusammenschluss mündeten. Siehe u. a. H. P. Kraus: A Rare Book Saga, S. 102, 368, 371 f.; Aufbau, 31. August 1990, S. 24 [Todesanzeige]. Christoffersen beschreibt Altmans Rolle in Kraus Periodicals und Kraus Reprint als »our dynamic and hard-working boss« (Christoffersen: An Antiquarian Odyssey; S. 20). Pfäfflin: Die totale Reproduktionsindustrie, S. 269. Christoffersen: An Antiquarian Odyssey; S. 19 f. Dazu gab es eine gütliche Einigung (Auskunft von Hanni Kraus, in einem Gespräch mit dem Vf. am 12. März 2001 in New York). – Nemeyer: Scholarly Reprint Publishing, S. vii, bezeichnet die Tätigkeit der im Reprintgeschäft tätigen Verlage als »hotly competitive«.
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Texten und Zeitschriften handelte oder die von Reinhard Wittmann zusammengestellten und edierten Quellen zur Geschichte des Buchhandels im 18. Jahrhundert. Der Überblick, den Johnson und Kraus in ihrer Eigenschaft als Antiquare über die Fehlbestände gewonnen hatten, stellte zweifellos eine nicht unwichtige Voraussetzung für diese Programme dar;1034 allerdings dürfte bei Kraus, der den europäischen Vorstellungen vom »cultural life« doch stark verhaftet blieb, bei einzelnen Reprintentscheidungen eine ideelle Motivation wirksam gewesen sein. Wenn es in Nordamerika auch einige Konkurrenzunternehmen wie AMS, Arno Press, Da Capo oder Greenwood gab, so bleibt die Entstehung einer weltweit agierenden wissenschaftsverlegerischen »Reproduktionsindustrie« doch in hohem Maße das Werk Johnsons und Krausʼ. Kraus selbst zog sich 1968 aus dem operativen Geschäft seines Reprint-Unternehmens zurück,1035 das im selben Jahr an die kanadische Thomson International Corporation Ltd. verkauft und zur Kraus-Thomson Organization zusammengeschlossen wurde; mit Herb Gstalder blieb ein Schwiegersohn Krausʼ in der Reprint-Firma tätig (die Leitung des Antiquariats wurde 1970 von einem anderen Schwiegersohn, Roland Folter, übernommen). Das Reprintunternehmen wurde 1989 von der Familie Kraus zurückgekauft, seither war die Kraus Organization Ltd. mit der Herstellung von Ausstellungskatalogen sowie mit der Entwicklung kleinerer zugekaufter Firmen befasst, wie der Bernan Press, des größten Verlags für US-Regierungspublikationen, oder Worldwide Press und Productivity Press. Die Emigration deutschsprachiger Wissenschaftsverleger in den USA stellt sich in Summe betrachtet als eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte dar; unter wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunkten kann diese Gruppe als eine der bedeutendsten innerhalb der deutschsprachigen Emigration nach 1933 gelten. Die aus Deutschland vertriebenen Verleger haben ihre in einem hochentwickelten Buchhandelssystem gesammelten beruflichen Erfahrungen mit amerikanischem Knowhow kombiniert; im Verbund mit einer liberalen, flexiblen Wirtschaftspraxis, einem Arbeiten im großen Stil, der Finanzierbarkeit großer Projekte hat dies zu starken Entwicklungsimpulsen auf dem wissenschaftlichen Buchmarkt in den Vereinigten Staaten und weit darüber hinaus geführt. Denn mit der Tätigkeit dieser Emigrantengruppe waren weitere Entwicklungsschritte hin zur Internationalisierung des Buchmarktes verbunden: durch Globalisierungsstrategien in den Vertriebsstrukturen, durch Forcierung des Lizenzhandels, durch Koproduktionen mit deutschen bzw. europäischen Partnerverlagen.1036 Die erfolgreiche Tätigkeit der Jacoby, Johnson, Kraus, Praeger oder Proskauer in den USA beruhte letztlich auch auf den spezifischen Möglichkeiten, die sich aus ihrem Emigrantenstatus ergaben: Hochmotiviert, konnten sie die Kenntnis beider Welten, der alten und der neuen, als Wissens-
1034 Vgl. Nemeyer: Scholarly Reprint Publishing, S. 5: »Scholarly reprinting has close bonds to the antiquarian book trade.« 1035 Danach widmete sich Kraus u. a. seiner Tätigkeit im Kuratorium der Yale Library Association. ‒ Vgl. H. P. Kraus: Die Saga von den kostbaren Büchern. Zürich 1982; dazu: Werner Bodenheimer: Eine sagenhafte Autobiographie. In: Bbl. (Ffm) Nr. 17 v. 27. Februar 1979. 1036 Vgl. etwa die »Co-publishing Agreements« des Heidelberger Springer-Verlags am Beginn der 1960er Jahre; als Partner (oder »Brückenköpfe«), die bei der Eroberung des englischsprachigen Markts Hilfestellung leisten sollten, werden ausdrücklich Academic Press, Interscience und Grune & Stratton genannt (Götze: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Teil 2, S. 85 f.).
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Kapital einsetzen und sich im interkontinentalen »bridge-building« einen Vorsprung sichern.1037
5.2.5
Kunstbuchverlage
Das illustrierte Kunstbuch in Deutschland, eine kurze Vorgeschichte Die Entstehung des modernen illustrierten Kunstbuchs hat ihre Grundlage in der Fülle von druckgraphischen Erfindungen, mit denen im 19. Jahrhundert der originalen Buchillustration, aber auch der Reproduktion von Bildern neue Möglichkeiten eröffnet wurden.1038 Vom (Ton-)Holzstich und Stahlstich über die Lithographie und die auf photographischen Aufnahmen von Bildvorlagen beruhende Autotypie und den Lichtdruck bis zum Kupfertiefdruck v. a. in Gestalt des auch in schnellem Rotationsdruck ausführbaren Rakeltiefdrucks wurden in rascher Folge neue Verfahren entwickelt und zur Marktreife gebracht, mit denen Druckwerke von bis dahin nicht gekannter Naturtreue hergestellt werden konnten. Im Gefolge dieser fortgesetzten technischen Innovation entstand im deutschsprachigen Raum bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bemerkenswert expansive Szene von Kunstverlagen, hauptsächlich in Berlin, Leipzig, München, Dresden und Wien, wo es ein lebendiges Kunstleben gab und wo in Kunstmuseen großartige Bestände zu Reproduktionszwecken zur Verfügung standen. Diese Verlagsszenerie bestand in ihrer Vielfalt und Leistungsfähigkeit in der Weimarer Republik im Großen und Ganzen weiter fort, ebenso wie der technologische Vorsprung der deutschen Bildreproduktionsgraphik, allerdings hatten die Zeitereignisse manche Einbußen mit sich gebracht.1039 Die Hauptzielgruppe der Kunstbuchverlage, die gebildeten bürgerlichen Schichten, war nach den Vermögensverlusten im Ersten Weltkrieg und der Hyperinflation vielfach geschwunden und verarmt.1040 Im Ausland hatte die deutsche Kultur und damit auch das deutsche Kunstbuch durch den Krieg an Reputation und Bedeutung verloren, und in der Wirtschaftskrise nach 1929 waren erneut empfindliche Exportrückgänge zu verzeichnen. Die ökonomische Chance, die darin liegt, dass Bilder unabhängig von Sprache rezipiert und daher ihr Druck von vornherein für mehrere nationale Märkte produziert werden kann, wurde von den Verlagen bestenfalls in Ansätzen wahrgenommen. Das Prinzip des internationalen Co-publishing musste erst
1037 Bei den literarischen Brückenschlägen haben neben den Verlegern auch international agierende Literaturagenten eine wichtige Rolle gespielt; vgl. hierzu Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 1038 Siehe den Beitrag von Georg Jäger in: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 1/1, bes. S. 603‒607. 1039 Siehe den Beitrag von Dorothea Peters in: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 2/1, bes. S. 463‒487. 1040 Vgl. Langer: Kunstliteratur und Reproduktion, S. 115; danach haben sich am Beginn der 1930er Jahre Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und das Absinken der Industrieproduktion auf die Lebenshaltung der Volksmassen in einer Weise ausgewirkt, »daß auch die breite Schicht der Käufer von Kunstliteratur ausfiel, soweit überhaupt angesichts der allgemeinen Existenzangst noch Interesse an Fragen der Kunst bestand«.
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noch erfunden werden – wofür die nach 1933 aus Deutschland und Österreich emigrierten Kunstbuchverleger einen entscheidenden Beitrag leisten sollten. Das Jahr 1933 bedeutete eine Zäsur auch in der Geschichte des deutschen Kunstbuchverlags. Auf die Verhältnisse in Deutschland bezogen, ist sie aber nicht so tief ausgefallen wie in manchen anderen Sparten des Verlagswesens. Das lag auch daran, dass gerade in den bedeutenderen Verlagen die Anpassung an die neuen Verhältnisse vergleichsweise reibungslos erfolgte. Über den Bruckmann Verlag muss in diesem Zusammenhang nichts weiter gesagt werden, denn es ist bekannt, dass das Ehepaar Bruckmann und besonders Elsa Bruckmann zu den größten Förderern Adolf Hitlers überhaupt gehört haben.1041 Andere Kunstbuchverlage entledigten sich ihrer jüdischen Mitinhaber, um den Forderungen der neuen Zeit zu entsprechen. Dies galt auch für den ältesten und bedeutendsten von ihnen, E. A. Seemann in Leipzig,1042 wo sich Elert A. Seemann schon frühzeitig und aus Überzeugung der NSDAP angeschlossen hatte und 1933 vom Teilhaber Gustav Kirstein trennte, der seit 1899 als Geschäftsführer im Haus tätig gewesen war und den Verlag v. a. durch schwunghafte Produktion von Kunstblättern zum weltgrößten seiner Art gemacht hatte.1043 Ähnlich war der Fall im Münchner Piper Verlag, wo 1935 der jüdische Teilhaber Robert Freund* den Verlag verlassen musste, damit das Unternehmen sich aus dem Schussfeld der NS-Behörden bringen konnte.1044 Für zahlreiche Kunstbuchverleger endete aber die »Entjudung« des deutschen Verlagswesens mit Zwangsverkauf, mit Flucht und Vertreibung. Für manche von ihnen bedeutete das Exil das Ende ihrer Laufbahn als eigenständiger Verleger, wie etwa für Richard Landauer*, den Inhaber des Delphin Verlags in München, der in London sich als Bürokraft bei Allen & Unwin fortbringen musste, bis er im Foreign Rights Department einige Jahre lang noch eine etwas anspruchsvollere Tätigkeit ausüben durfte. Andere blieben ganz verschollen im Exil, wie etwa Ernst Pollak* in Italien, der vor 1933 in Berlin mit seinem fortschrittlichen Architekturverlag wie manche andere Nischenverlage zum Facettenreichtum des Buchmarktes beigetragen hatte. Im Folgenden soll jedoch von den Verlagen berichtet werden, die als Gründung von deutschen und österreichischen Exilanten in den verschiedenen Asylländern wiederoder neuerrichtet worden sind und dafür gesorgt haben, dass das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus im Bereich des Kunstbuchverlags nur begrenzte Wirkung hatte, ja
1041 Siehe hierzu Kühnert: Ideologie und Geschäft; Martynkewicz: Salon Deutschland. 1042 Langer: Kunstliteratur und Reproduktion; sowie Willer / Müller-Wolff: 150 Jahre E. A. Seemann. 1043 Kirstein wurde mit einer Tochtergründung, dem vom Verlag E. A. Seemann unabhängigen, auf Bildreproduktion ausgerichteten Kunstverlag Seemann & Co. abgefunden. Dieser Verlag, den Kirstein mit einer Sondergenehmigung der Reichskunstkammer führen durfte, musste bald in »Meister der Farbe« umbenannt werden. Kirstein starb bereits im Februar 1934 unter ungeklärten Umständen, nach seinem Tod übernahm seine Ehefrau Cläre den Betrieb. Die Ausnahmegenehmigung wurde Ende 1938 für ungültig erklärt; der Verlag fiel durch Inanspruchnahme des vereinbarten Rückkaufrechtes zurück an E. A. Seemann. Cläre Kirstein, der eine Flucht aus Deutschland nicht möglich war, starb durch Selbstmord im Sommer 1939. 1044 Zu Robert Freund siehe in diesem Kapitel weiter unten und den Abschnitt über Österreich in Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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dass sich daraus sogar bemerkenswerte Erfolgsgeschichten und positive Effekte für das illustrierte Kunstbuch im globalen Maßstab ergeben konnten. Als Zentrum des Geschehens kristallisierte sich sehr bald Großbritannien heraus, wo drei Kunstbuchverlage eine herausragende Stellung einnahmen: der aus Berlin nach Oxford übersiedelte Verlag von Bruno Cassirer, der von Wien nach London transferierte Phaidon Verlag und der in London neugegründete Verlag Thames & Hudson.1045 Während ersterer hauptsächlich die soliden Traditionen deutscher Kunstbuchproduktion aufrecht erhielt, wurde mit den beiden letzteren durch ihre innovativen verlegerischen Konzepte gleichsam ein neues Kapitel in der Kunstbuchproduktion aufgeschlagen, und dies auf eine bis in die unmittelbare Gegenwart nachwirkende Weise.
Großbritannien Bruno Cassirer Publishers Ltd., Oxford Zu den angesehensten Kunstbuchverlagen in Deutschland hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts der Verlag von Bruno Cassirer* (1872 Breslau – 1941 Oxford) gehört.1046 Zusammen mit seinem Vetter Paul Cassirer (1871‒1926) hatte er im September 1898 in Berlin den Kunstsalon und die Verlagsbuchhandlung Bruno & Paul Cassirer, Kunst- und Verlagsanstalt gegründet, in welcher – beeinflusst von der von England ausgehenden Buchkunstbewegung – Literatur, Kunst, illustrierte Ausgaben sowie Originalgraphik publiziert wurde. Bereits im August 1901 trennten sich die Vettern im Unfrieden. Paul betätigte sich fortan hauptsächlich als Kunsthändler und Ausstellungsmacher, und nach Ablauf der vereinbarten Sperrfrist ab 1908 auch wieder als Verleger vor allem im Bereich des Kunstbuchs und der Graphik. Er beging 1926 aus privaten Motiven Selbstmord; das Unternehmen wurde von Grete Ring* (1887 Berlin – 1952 Zürich) sowie von Walter Feilchenfeldt* (1894 Berlin – 1953 Zürich)1047 weitergeführt, die zuvor 1045 Mit der Dissertation von Nyburg: Émigrés. The Transformation of Art Publishing in Britain liegt seit 2014 eine Studie vor, die über alle bedeutenden Exilgründungen von Kunstbuchverlagen in Großbritannien informiert. Die nachfolgenden Ausführungen sind vielfältig den von Nyburg gewonnenen Erkenntnissen verpflichtet. 1046 Zur Geschichte des Verlags Bruno Cassirer bis zur Emigration vgl. Sarkowski: Bruno Cassirer. Ein deutscher Verlag 1898‒1938; Sarkowski: Bruno Cassirer (1872‒1941). Porträt eines bibliophilen Verlegers; Abele: Zur Geschichte des Verlages Bruno Cassirer 1928‒ 1932. Teil I; Abele: 1933‒1938: Der Verlag Bruno Cassirer im Nationalsozialismus. Teil II; Kennert: Paul Cassirer und sein Kreis, darin Kap. III: Bruno Cassirer, S. 29‒38; Rahel E. Feilchenfeldt / Brandis: Paul-Cassirer-Verlag Berlin 1898–1933. Eine kommentierte Bibliographie; Ein Fest der Künste. Paul Cassirer. Der Kunsthändler als Verleger, bes. S. 367, 394 f., 405; sowie Bauschinger: Die Cassirers. 1047 Feilchenfeldt war 1919 in den Paul Cassirer Verlag eingetreten und hatte, zunächst als Mitarbeiter, enge Beziehungen zu Robert Musil, Else Lasker-Schüler und Ernst Bloch geknüpft und so das Verlagsprogramm bereichert. 1922 wurde er Vorstandsmitglied der Paul Cassirer Verlags-A.G. und wechselte in die Kunsthandlung Paul Cassirer, deren Mitinhaber er 1923 wurde, kümmerte sich aber auch um die Weiterführung des Verlagsprogramms. Am 28. März 1933 emigrierte Feilchenfeldt in die Niederlande, wo er die Leitung der bereits 1923 gegründeten holländischen Filiale Amsterdamʼsche Kunsthandel Paul Cassirer
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schon als Partner eingestiegen waren. Unter ihrer Leitung verlagerte sich das Schwergewicht vom Ausstellungs- auf das Auktionswesen. Bruno Cassirer widmete sich nach 1901 in seinem Verlag vorrangig der bildenden Kunst, aber auch der Dichtung und der Philosophie; mit seinem Buchprogramm und der seit Oktober 1902 bis 1933 herausgegebenen Zeitschrift Kunst und Künstler wurde er zu einem Wegbereiter der modernen Kunst. Ende der 1920er Jahre nahm er, zusammen mit seinem Lektor Max Tau, zusätzlich ein belletristisches Programm in Angriff. Autoren des Hauses waren die Kunsthistoriker und einflussreichen Museumsdirektoren in Berlin und Hamburg, Wilhelm Bode und Alfred Lichtwark, aber auch Henry van de Velde, Fjodor Dostojewski, Maxim Gorki; Max Slevogt setzte neue Maßstäbe auf dem Sektor der Jugendbuchillustration. Nach 1933 setzten die Repressalien gegen den jüdischen Verlag ein; im November 1935 versuchte Cassirer, sich von seinen Autoren Blankovollmachten für die Übertragung der Rechte ausstellen zu lassen, um sie dem Zugriff Dritter zu entziehen;1048 dies wurde jedoch von fast allen Autoren aus Angst vor Sanktionen verweigert.1049 Als Gottfried Bermann Fischer Cassirer im selben Jahr anbot, seinen Verlag oder zumindest seine Hauptwerke mit in die Emigration zu nehmen und für ihn zu verwalten, bis er sich selber zur Auswanderung entschlossen hätte, lehnte dieser ab, da er von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes nicht überzeugt war.1050 Im Februar 1937 wurde Cassirer aus der RSK ausgeschlossen. Im Dezember 1938, kurz nach der Pogromnacht, emigrierte er schließlich mit seiner Familie nach England. Cassirer war im Exil höchst unglücklich; er sah sich all dessen beraubt, was ihm so wichtig gewesen war: das geistige und gesellschaftliche Leben in Berlin.1051 Trotzdem
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übernahm. Näheres zu W. Feilchenfeldt als Kunsthändler in Amsterdam und Zürich weiter unten im Abschnitt ›Kunstgalerien mit Verlagstätigkeit‹. Vgl. hierzu auch Joos: Trustees for the Public?, S. 150, Fn. 444. Sigrid Undset, Cassirers Erfolgsautorin, war bereit, ihm ihre deutschen Rechte zu überlassen; einzelne ihrer Werke erschienen dann aber seit 1938 im Züricher Sperber Verlag, unter welchem Label 1937 auch Max J. Friedländers Von Kunst und Kennerschaft herausgekommen war (siehe dazu im Haupttext weiter unten). Die Rolle des Sperber Verlags ist unklar; bei Rahel E. Feilchenfeldt heißt es dazu: »Vermutlich hat sich Sperber durch die Übernahme der Bruno Cassirer Titel als ›Verleger‹ derselben ausgeben können. Wahrscheinlich war Bruno Cassirer Teilhaber dieses Verlages, der ihm die Möglichkeit bot, Verlagsrechte zu erhalten und zu nutzen.« (Feilchenfeldt: Abschied von Berlin, S. 324). Möglicherweise handelte es sich um einen fingierten Verlag; in den Adressbüchern des deutschen Buchhandels ist eine solche Firma nicht vermerkt. Es ist bemerkenswert, dass Bruno Cassirer in Deutschland seine verlegerische Arbeit in diesen Jahren relativ ungehindert fortsetzen konnte: »Insgesamt erschienen in der Zeit vom Januar 1933 bis Ende 1936 noch 38 Titel von 24 verschiedenen Autoren, darunter auch Neu- und Wiederauflagen absatzstarker Werke. Die Gruppe der im Bruno Cassirer Verlag nach 1933 erschienenen Publikationen lassen sich in vier Kategorien im Hinblick auf die nationalsozialistische Ideologie und die Restriktionen der RSK unterteilen: 1) Bücher ausländischer Autoren, 2) Bücher weitgehend unproblematischer Inhalte, 3) Bücher freigeistiger Inhalte von pazifistischen und systemkritischen Autoren und 4) Bücher jüdischer Autoren« (Brandis: »Keime entdecken, sie pflegen und zum Blühen bringen«. Der Bruno Cassirer Verlag Berlin nach 1933, S. 368). Das letzte in Deutschland erschienene Buch Cassirers waren Karel Čapeks Gespräche mit Masaryk. Vgl. dazu den bei Feilchenfeldt zitierten Brief an seinen früheren Lektor Max Tau (Feilchenfeldt: Abschied von Berlin, S. 320 f.). Cassirer stand von England aus auch mit seinem
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bemühte er sich bereits im Frühjahr 1939 um den Aufbau eines neuen Verlages, wobei er von dem von T. S. Eliot geleiteten Verlag Faber & Faber in Oxford freundschaftlich unterstützt wurde. Eliot hatte bereits im Vorfeld der Emigration die Zusicherung gegeben, bei einer Fortführung des Verlags in jeder Weise behilflich zu sein, und hatte auch behördlicherseits die nötigen Garantien geleistet; zudem konnte einer der Schwiegersöhne Cassirers, der Altphilologe Dr. Richard Walzer, bei Faber & Faber eine Stelle annehmen. Für den im Mai 1939 in London gegründeten, nach Beginn des Weltkriegs nach Oxford übersiedelten Verlag Bruno Cassirer Publishers Ltd.1052 übernahmen Faber & Faber Vertrieb1053 und Werbung – eine Zusammenarbeit, die ohne schriftliche Vereinbarung bis 1990 anhalten sollte. Allerdings: Bruno Cassirer erlebte nur das Erscheinen des ersten Titels, einer ins Englische übersetzten Detektivgeschichte des norwegischen Autors Jonas Lie, The Devilʼs Birthday. Der Verleger starb im Oktober 1941 in Oxford, und bereits ein Jahr später verstarb auch seine Frau Else* (1873–1942),1054 die sich stets auch im Verlag betätigt hatte. Inzwischen hatte Schwiegersohn George Hill* (bis 1940: Günther Hell; 1905 Berlin − 1995 London)1055 die Verlagsleitung übernommen;1056 er hatte, nach einem Studium der Klassischen Philologie und Archäologie in Berlin und Heidelberg 1929 Agnes, die jüngere Tochter Bruno Cassirers, geheiratet und bereits vor der Emigration 1938 im Verlag seines Schwiegervaters mitgearbeitet. 1940‒1945 diente er in der Britischen Armee beim Pioneer Corps (damals erfolgte auch seine Namensänderung); deshalb und aufgrund der Papierrationierung blieb in den Kriegsjahren der Produktionsumfang eher gering. »Mehr Intellektueller als Geschäftsmann gelang es ihm dennoch, ohne personelle Hilfe ein respektables Kunstbuchprogramm für Bruno Cassirer Oxford zusammenzustellen.«1057 1941 erschienen die Briefe von Paul Cézanne in einer englischen Übersetzung von Marguerite Kay; damit nahm der Verlag die Tradition des illustrierten Kunstbuchs wieder auf, mit der sich der Bruno Cassirer Verlag in Deutschland und weit darüber hinaus einen Namen gemacht hatte. Und mit Max J. Friedländers On Art and Connoisseurship (1942; 4. Aufl. 1946; deutsch erstmals 1946) kam ein Buch eines absoluten Stammautors heraus: Der international hochangesehene Friedländer hatte zwischen 1924 und 1937 fast jährlich ein Buch bei Bruno Cassirer publiziert, hauptsächlich zur niederländischen Malerei, und lebte seit 1939 im Exil in Amsterdam. Von ihm kamen in der Folgezeit noch zahlreiche alte und neue Titel, zunächst in deutscher Sprache, später überwiegend
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früheren Verlagsvertreter Fritz Picard in Verbindung (vgl. ebd. sowie Rahel E. Feilchenfeldt: »Alles ist umständlich, schon wegen der Sprache, geht langsam …«). Die Geschichte des Exilverlags von Bruno Cassirer ist, wie zuvor auch die Verlagsgeschichte vor 1938, in vorbildlicher Weise erforscht und dokumentiert: Feilchenfeldt / Weber: Bruno Cassirer Publishers Ltd. Oxford 1940‒1990. Faber & Faber hatte bereits für die Kunstbücher des Berliner Cassirer Verlags den Vertrieb in England ausgeführt. Ein Fest der Künste, hier bes. S. 393, 405. Zu Hill siehe bes. Feilchenfeldt / Weber: Bruno Cassirer Publishers Ltd. Hill war bereits bei der offiziellen Gründung von Bruno Cassirer Publishers Ltd. am 25. Mai 1939 gemeinsam mit seinem Schwiegervater als »Director« eingetragen worden. Nyburg: Kunstbuchproduktion in Oxford in den 1940er-Jahren, S. 406.
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in englischer Übersetzung, heraus, die sämtlich großen Anklang fanden.1058 Noch während des Krieges erschien Lionello Venturi: Paul Cézanne, Water Colours (1943; 4. Aufl. 1945). Nach Kriegsende wurde (auch wenn Hill noch bis 1946 im britischen Re-education Programm aktiv war) der Verlag fortschreitend produktiver: Im ersten Friedensjahr kamen das Buch des England-Emigranten Kurt Badt über die Zeichnungen Delacroixs (Eugène Delacroix, Drawings, 1946) und – wie bereits erwähnt – die deutsche Erstausgabe von Max J. Friedländers Von Kunst und Kennerschaft heraus, die 1937 mit dem Sperber-Verlag Zürich im Impressum schon einmal bei Julius Kittls Nachf. in MährischOstrau gedruckt, nach dem deutschen Einmarsch aber bis auf wenige Exemplare vernichtet worden war.1059 Ebenfalls noch 1946 erschienen zwei weitere Bücher: die von John Rewald (auch er ein Cassirer-Stammautor) zusammengestellten und kommentierten Zeichnungen Auguste Renoirs (Renoir, Drawings, 1946), in diesem Fall übernommen von Bittner & Co New York, aber mit eigenem Schutzumschlag in Großbritannien über Faber & Faber vertrieben. Mit Grete Ring befreundet und auch dem Hause Cassirer verbunden war die nach England emigrierte Künstlerin Katerina Wilczynski, von der 1946 zwölf Zeichnungen in Buchform erschienen (Daphnis and Chloe, mit einem Vorwort von Gilbert Murray). Die auch in Druck und Bindung splendid ausgestattete Luxusausgabe verweist zurück in die Berliner Zeit, als im Verlag Bruno Cassirer zahlreiche zeitgenössische Künstler ihren Auftritt hatten. 1947 kamen insgesamt drei Titel heraus, die Briefe Degasʼ (Edgar Germain Hilaire Degas: Letters, edited by Marcel Guérin), von Max J. Friedländer Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen (ein ausnahmsweise nicht illustriertes Buch!) und ein weiteres Buch von John Rewald, diesmal über Edouard Manet Pastels. Zusammen mit den zuvor erschienenen Büchern über Cézanne, Delacroix, Renoir und Degas wird deutlich, dass sich Bruno Cassirer Publishers Ltd. in diesen Anfangsjahren mit einem Schwerpunkt auf französischer Kunst des 19. Jahrhunderts profilierte. Dies änderte sich in den folgenden Jahren: »Ausreißer« wie das von einem Schulkind, Robert Nicolson, stammende Bilderbuch The Battle of the Goldfish Pond (1947) oder Edouard de Pomianes Cooking in Ten Minutes or the Adaptation to the Rhythm of our Time (1948, mit Illustrationen von Henri Toulouse-Lautrec; in Kooperation mit der Pazifischen Presse Los Angeles) und die Poems (1949) von Margaret Millett ergänzten das Spektrum des sich ausweitenden Kunstprogramms. Ein Band über das alte Mexiko (C. A. Burland: Art and Life in Ancient Mexico, 1948) sowie Masterpieces of Greek
1058 Die Übersetzung kam auf Vermittlung von Grete Ring zustande, die 1938 emigrierte und in London ab 1939 die Kunsthandlung Paul Cassirer Ltd. führte, die (ab 1952 von Marianne Feilchenfeldt geleitet) bis 1975 existierte. Eine Verlagstätigkeit hat die Kunsthandlung nicht entfaltet. 1949 veröffentlichte Ring, in den Vorbereitungen dazu unterstützt von Ludwig Goldscheider von Phaidon Press, ihre bedeutendste Publikation A Century of French Paintings 1400‒1500. Vgl. auch Rahel E. Feilchenfeldt: Grete Ring als Kunsthistorikerin im Exil. 1059 In der Vorbereitung und Produktion dieses Buches ihres verehrten Lehrers spielte Grete Ring eine wichtige Rolle: »Sie fuhr unzählige Male nach Oxford und überwachte von der Übersetzung bis zur Bebilderung alle verlegerischen Schritte.« (Feilchenfeldt: Grete Ring, S. 145).
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Coinage (1949) von Charles Seltman bedeuteten hier einen gewissen Wendepunkt, wie auch Edward Conzes Buddhism Its Essence and Development (1951) ein erstes Signal dafür war, dass neben der europäischen Kunst nun auch ostasiatische oder islamische Kulturen eine Rolle spielen sollten – dies unter dem Einfluss von Hills Schwager Richard Walzer, der in Oxford griechische und arabische Geschichte und Philosophie lehrte und den ersten Band der neuen Reihe »Oriental Studies« herausgab. Jedoch fuhr George Hill, der – tatkräftig unterstützt zunächst von seiner Frau Agnes und dann von seiner zweiten Ehefrau Elsie1060 – als Managing Director im Verlag von der Autorenakquisition über Lektorat und Redaktion bis zu Layout und Herstellung, anfänglich auch Schutzumschlaggestaltung, für alles zuständig war und sich manchmal auch noch als Übersetzer betätigte, nach und nach den Anteil der Kunstbücher zurück, wohl auch, um der erstarkenden Konkurrenz (Phaidon und Thames & Hudson) auszuweichen. Analysen der Programmentwicklung zeigen, dass in den 1950er-Jahren von 16 Titeln nur noch fünf dem Bereich Kunstbücher zugeordnet werden können, also nur noch ein Drittel. Dass sich der Verlag wirtschaftlich einigermaßen halten konnte, ging auf eine gute Mischung des Programms zurück, in welchem auch Fotobildbände (z. B. 26 »Photopockets« des niederländischen Fotografen Cas Oorthuys, eine Koproduktion mit Kurt Maschlers Axel Juncker Verlag) oder Städteporträts für gute Verkaufserfolge sorgten, vor allem aber die (insgesamt zwölf) Romane von Nikos Kazantzakis, die in Hills Übersetzung ins Englische zwischen 1954 und 1972 erschienen. Kazantzakis war ein echter Glücksfall, denn er wurde bei Cassirer, u. a. mit Sorbas the Greek (1959), ein Bestsellerautor und eine europäische Berühmtheit; Faber & Faber brachten die gängigsten Titel als Taschenbuch heraus. Literarische Titel spielten ansonsten aber nur eine untergeordnete Rolle; dafür erschienen in den 1960er Jahren immer mehr Titel zu sozialen Problemen, etwa zu Psychiatrie (auf Anregung von Thomas Hill, Sohn von G. Hill, der als Sozialtherapeut tätig war), oder Neuausgaben von Werken Ernst Cassirers, des Cousins von Bruno Cassirer. Von den kunsthistorischen Werken behaupten die Werkverzeichnisse zu Goyas graphischem Werk (Tomás Harris: Goya. Engravings and Lithographs, in zwei Foliobänden, 1964) und zu Jean Siméon Chardin (1969) sowie – ein letzter Höhepunkt in diesem Bereich – das monumentale Verzeichnis French Sculptors of the 17th and 18th Century (4 Bde., 1977‒1987)1061 einen besonderen Rang. Die Verlagsbibliographie aller zwischen 1941 und 1990 bei Bruno Cassirer Publishers erschienenen Bücher verzeichnet insgesamt 116 Titel. Dass einzelne in Kooperation mit anderen Verlagen herausgebracht wurden, ist verschiedentlich bereits angeklungen; ergänzend dazu kann darauf hingewiesen werden, dass Hill zwischen 1949 und 1951 mehrere Bücher in Zusammenarbeit mit dem (vor 1945 im niederländischen Untergrund agierenden) Verlag A. A. M. Stols ins Programm nahm. Eine Rückkehr nach Deutsch-
1060 Agnes Hill, geb. Cassirer, starb 1957. – Elsie Mattin war seit 1960 als Chefassistentin im Verlag tätig, ehe sie 1966 Günther / George Hill ehelichte. Wie Michael Kauffmann betont, war im Bruno Cassirer Verlag (abgesehen von Schreibkräften) die ganze Zeit über nur eine einzige (externe) Sekretärin bzw. Assistentin zur Unterstützung Hills angestellt (Kauffmann: Bruno Cassirer Oxford 1940‒1990, S. 42). 1061 Die Jahreszahlen 1977‒1987 gelten für die drei Bände, die unter Bruno Cassirer Publishers erschienen sind; der 4. Band erschien erst 1991, dann bereits im Verlag Faber & Faber.
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land wurde nie in Betracht gezogen, doch wurde 1950 der Versuch gestartet, gemeinsam mit dem Berliner F. A. Herbig Verlag einige der früher erfolgreichen Verlagstitel als Neuausgaben herauszubringen (z. B. Pomianes Cooking in Ten Minutes); dieser Versuch wurde jedoch bald wieder aufgegeben. Weitaus besser klappte die Kooperation mit dem Atrium Verlag in Zürich, der deutsche Ausgaben von englischen Cassirer-Büchern herausbrachte. Der Atrium Verlag gehörte Kurt Maschler, der zu den besten Freunden George Hills im Verlagsgeschäft zählte.1062 Bruno Cassirer Publishers hielt außerdem noch gut verwertbare Rechte an Autoren (z. B. auch von Karel Čapek), die Hill nicht in sein eigenes Verlagsprogramm aufnehmen wollte und vorzugsweise Faber & Faber oder Allen & Unwin anbot, oder außerhalb Englands eben auch Maschler, der gemeinsam mit Faber den Verlag FAMA zur Verwertung solcher Lizenzen betrieb.1063 In längerfristiger Perspektive wichtig war aber vor allem die bereits mehrfach erwähnte Vertriebs- und Werbegemeinschaft mit dem Londoner Verlagshaus Faber & Faber, die von Anfang an echte Synergieeffekte mit sich brachte: Alle Cassirer-Neuerscheinungen wurden stets zusammen mit jenen von Faber & Faber angezeigt; die beiden Verlage profitierten dabei wechselseitig von ihrem Prestige. Diese Kooperation wurde über die gesamte Bestandszeit des Verlags fortgesetzt, also bis 1990. In diesem Jahr ging George Hill in Pension, die Firma Bruno Cassirer Publishers wurde liquidiert; Teile des Programms wurden von Faber & Faber fortgeführt.1064
Phaidon Press, London Der Name »Phaidon« hat in der internationalen Kunstbuchszene auch heute noch einen exzellenten Klang. Er ist verbunden mit einem ebenso facettenreichen wie hochwertigen internationalen Kunstbuchprogramm, nicht zuletzt auch mit dem weitaus meistverkauften Fachbuch dieses Marktsegments, Ernst H. Gombrichs History of Art / Geschichte der Kunst, das 1950 zuerst erschienen ist und von dem seither, in 30 Sprachen übersetzt, weltweit mehr als sechs Millionen Exemplare abgesetzt werden konnten. Die Ursprünge dieses in London angesiedelten, längst global agierenden Unternehmens, das im Laufe seiner Geschichte viel zur Demokratisierung von Kunstwissen beigetragen hat, führen in das Wien der Zwischenkriegszeit zurück und danach in ein Kapitel Exilverlagsgeschichte, das in mancherlei Hinsicht von besonderer Aussagekraft ist. Gründer des Phaidon Verlags1065 war Béla Horovitz* (1898 Budapest – 1955 New York), der 1922 an der Universität Wien zum Doktor der Rechte promoviert wurde, sich
1062 So Kauffmann: Bruno Cassirer Oxford 1940‒1990, S. 42. 1063 Vgl. Feilchenfeldt: Abschied von Berlin, S. 330. 1064 Der (fragmentarische) Verlagsnachlass wurde von der Staatsbibliothek zu Berlin übernommen. 1065 Zur Gründungsgeschichte des Phaidon Verlags in Wien siehe Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938, bes. Bd. 2, S. 363‒372; Fischer: The Phaidon Press in Vienna 1923‒ 1938. Zur weiteren Verlagsgeschichte siehe Phaidon Jubileee Catalogue 1923‒1973, London 1973 (darin »The Phaidon Press – a brief history«, S. 2‒16, mit einer – lücken- und fehlerhaften – Verlagsbibliographie bis 1972; sowie den Webauftritt des Verlags www. phaidon.com (u. a. mit einer »full history« von Nigel Spivey: Phaidon 1923‒1998). Archivalische Quellen: SStAL, BV, F 7163; University of Reading, Publishersʼ Archive, Allen &
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aber danach nicht der vorgezeichneten Karriere als Rechtsanwalt widmete, sondern der Errichtung eines Verlags, gemeinsam mit dem gleichaltrigen Fritz Ungar* und dem um zwei Jahre älteren Kunsthistoriker Ludwig Goldscheider* (1896 Wien – 1973 London).1066 Als offizielles Gründungsdatum des Phaidon Verlags wird im Adressbuch des Deutschen Buchhandels der 15. November 1923 genannt. Um die Mitte des Jahres 1925 schieden Ungar und Goldscheider als Gesellschafter des Unternehmens aus; eine materiell vorteilhafte Heirat hatte Horovitz in die Lage versetzt, den Phaidon-Verlag in das alleinige Eigentum zu übernehmen. Ungar gründete 1926 in Wien einen eigenen Verlag, den Saturn-Verlag, den er nach seiner Emigration 1938 in New York weiterführte, Goldscheider dagegen blieb Phaidon als Mitarbeiter in leitender Stellung verbunden, bis zu seinem Tod 1973. Das Verlagsprogramm der ersten Jahre ließ noch keine klare Ausrichtung erkennen: In der Inflationszeit erschienen – wohl als eine Spekulation auf die damalige »Flucht in die Sachwerte« – die Phaidon-Drucke, eine Serie von sieben bibliophilen Drucken, herausgegeben von Ludwig Goldscheider; es folgten eine Shakespeare-DünndruckAusgabe in vier Bänden, sowie Ausgaben von Weltliteratur-Klassikern. Mitte der 1920er Jahre rückte die Gegenwartsliteratur in den Vordergrund, Knut Hamsun ist unter den Neuerscheinungen ebenso zu finden wie Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Arnold Zweig, Jakob Wassermann, Robert Neumann, Leo Perutz. Eine Sonderstellung nahmen Werkausgaben Klabunds sowie des spanischen Schriftstellers und Philosophen Miguel de Unamuno ein. 1930 lassen sich Anzeichen für eine weitere Neuorientierung erkennen. In diesem Jahr erschien Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, wie seine später erschienene Kulturgeschichte des Altertums eine weniger wissenschaftliche als vielmehr unterhaltsam zu lesende Darstellung, ähnlich wie die unter Kennern geschätzte Sittengeschichte Europas und des Orients (1932) von Paul Englisch. In den folgenden Jahren, zwischen 1932 und 1938, entwickelte sich der Phaidon Verlag rasch zu einem der führenden Kunstbuchverlage im deutschsprachigen Raum, in vier Stufen, die jeweils verbunden waren mit dem Auftreten eines neuen KunstbuchTypus, gekennzeichnet durch je unterschiedliche Konzepte der Kunstvermittlung:1067 mit reich illustrierten Neuausgaben großer Werke der Kulturgeschichtsschreibung (Mommsen, Ranke, Burckhardt, Waetzolds Dürer); mit dem Typus des fast textlosen Bildbandes, der zum reinen Kunsterleben einlädt (Zeitlose Kunst; Fünfhundert Selbstporträts); mit dem großformatigen künstlermonographischen Bildband (van Gogh; Cézanne); schließlich mit den auf einzelne Künstler gerichteten, mit kunstwissenschaftlichem Anspruch
Unwin Archive. Vgl. auch Nyburg: Émigrés, sowie Nyburg: Kunstbuchproduktion in Oxford in den 1940er-Jahren. 1066 Zur Persönlichkeit Goldscheiders, zu seinen vielfältigen Betätigungsfeldern und zur jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit Horovitz siehe Elly Miller: Ludwig Goldscheider: a Memoir; sowie Nyburg: Émigrés, S. 12‒16. – Während sich Horovitz hauptsächlich um das Geschäftliche kümmerte, war Goldscheider für das Verlagsprogramm und die Ausstattung sowie die Überwachung der Herstellung der Bücher verantwortlich und hat durch seine Expertise entscheidend zu dem überragenden Erfolg beigetragen, den Phaidon seit den 1930er Jahren erzielen konnte. 1067 Genaueres dazu in Fischer: Zwischen Popularisierung und Wissenschaftlichkeit. Das illustrierte Kunstbuch des Wiener Phaidon Verlags in den 1930er Jahren.
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erstellten Bildmonographien (El Greco), unter ambitioniertem Einsatz der fotografischen Reproduktionstechnik für eine »Schule des Sehens«.1068 Im gegenständlichen Zusammenhang nicht unwichtig ist das Faktum, dass der Wiener Phaidon Verlag den Anspruch erheben kann, ein Pionier des heute im Kunstbuchsektor selbstverständlich gewordenen internationalen Co-Publishing gewesen zu sein. So unterhielt er seit 1935 enge Beziehungen zur Oxford University Press, New York, die neben dem van Gogh-Band noch zehn weitere Phaidon-Titel herausbrachte. Das van Gogh-Buch erschien außerdem in niederländischer, englischer und französischer Ausgabe und mehrte den internationalen Bekanntheitsgrad des Verlags. Besonders im englischsprachigen Raum fanden die Bücher des Phaidon Verlags großen Anklang; sie wurden als »phenomena of social importance« und als »immense advance in the technique of publishing« bezeichnet.1069 Hervorgehoben wurden in den Kommentaren u. a. die Vorteile des Formats für ernsthafte wissenschaftliche Studien sowie das Preis-LeistungsVerhältnis dieser »remarkably fine productions«: »Indeed, it seems incredible that such a book […] can be sold at such a small price – a price that brings it within the reach of a vast public.«1070 In der Tat war die Phaidon-Produktion zuvor auch schon von Buchhandel und Publikum im deutschsprachigen Raum mit größter Begeisterung aufgenommen worden – auch im nationalsozialistischen Deutschland. Dabei war den NS-Behörden die jüdische Herkunft des Verlegers keineswegs unbemerkt geblieben, und wenn auch zur Vermeidung außenpolitischer Komplikationen förmliche Einfuhrverbote nicht verhängt wurden, so gab es doch geheime Anweisungen zur Einschränkung dieser Importe.1071 Um die Auslieferung von Phaidon-Büchern im Deutschen Reich zu verhindern oder zu erschweren, schreckte man vor konstruierten Anschuldigungen nicht zurück.1072 Für das Unternehmen, das einen hohen Prozentsatz seiner Produktion nach Deutschland lieferte, war es überlebenswichtig, sich diesen Absatzmarkt zu erhalten, weshalb Horovitz 1936 den Botschafter des Deutschen Reichs in Wien Franz von Papen aufsuchte, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass die Bücher eines Verlags, der Mommsen und RankeAusgaben sowie ein grandioses Dürer-Werk zum Nutzen des deutschen Publikums he-
1068 In Nyburg: Émigrés, S. 242‒244, findet sich in Appendix A eine Auflistung aller zwischen 1932 und 1955 publizierten Phaidon-Titel (Buchtitel in Kurzfassung). 1069 The Burlington, zit. n. Anthony Hamber: Communicating Colour: Advances in Reprographic Technology 1840‒1967, S. 359. – Vgl. hierzu auch die brieflichen Äußerungen des bekannten Londoner Buchhändlers W. A. Foyle über die außergewöhnlich guten Absatzchancen von Phaidon-Büchern im März 1937, zitiert bei Nyburg: Émigrés, S. 60: »Foyle said, he had never seen a greater bargain offered to booksellers. He was quite sure they would manage to sell thousands of them and was beginning a ›special selling campaign‹«. 1070 So der Direktor der Tate Gallery in London, J. B. Manson, über das van Gogh-Buch, zitiert in dem Verlagsprospekt: Art Books of the Phaidon Press (1939). Andere dort zitierte Stimmen zeigten sich ähnlich begeistert: »a revolution in art publishing«; »the prices are absurdely low«. 1071 Zum »versteckten Boykott« gegenüber Phaidon vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte [online]. 1072 Vgl. die Dokumente in der Firmenakte in SStAL, BV, F 7163; danach hätten Koehler & Volckmar Horovitz die Vertretung gekündigt, weil dieser sie zu nachträglichen Umbuchungen verleiten wollte.
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rausgebracht hatte, weiter unbehindert in das Reich geliefert werden dürfen.1073 Horovitz hatte einen Trumpf in der Hand: Ein beträchtlicher Teil seiner Bücher wurde in Deutschland selbst gedruckt und gebunden, so dass ein völliges Verbot mit empfindlichen Einbußen für deutsche Betriebe verbunden gewesen wäre. Als für das Unternehmen überlebenswichtig sollte sich in der Folge die sich seit Ende 1936 festigende Verbindung mit dem bedeutenden, z. T. in Deutschland ausgebildeten englischen Verleger Stanley Unwin erweisen. Unwin, der zunächst eigentlich nur einzelne Buchrechte erwerben sowie den Vertrieb englischsprachiger Phaidon-Titel in Großbritannien organisieren wollte, erkannte (offenbar früher als Horovitz1074 ) die bedrohte Lage Österreichs und des Phaidon-Verlags und bot an, den Verlag zum Schein zu erwerben, um danach als eine in »arischen« Händen befindliche Firma den deutschen Markt weiter beliefern zu können.1075 Tatsächlich wurde ein solches Abkommen noch 1937 geschlossen, Stanley Unwin konnte nunmehr gegenüber dem Dritten Reich als »arischer« Inhaber des Verlags auftreten und eine ungehinderte Belieferung des deutschen Buchmarktes verlangen. Dies tat er auch, offensiv und gegen alle Widerstände, und ließ im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel am 23. Dezember 1937 eine fünfseitige Werbeanzeige des Phaidon-Verlags erscheinen, die erhebliche Aufregung verursachte. Die Schrifttumsfunktionäre, die zahlreiche Anfragen von Buchhändlern erhielten, waren besorgt: »Wie soll der Sortimenter nun klar sehen, wie er sich zu den […] beim Publikum ausserordentlich beliebten Phaidon-Büchern stellen soll?«, hieß es in einem Brief des Geschäftsführers des Börsenvereins an den Vizepräsidenten der Reichsschrifttumskammer Wilhelm Baur.1076 In Reaktion darauf dürfte dem Buchhandel gegenüber der Bezug von Phaidon-Büchern als unerwünscht erklärt worden sein, ohne dass man dabei großes Aufsehen erregen wollte. Als im März 1938 Österreich annektiert wurde, hielt sich Horovitz gerade in London auf (um die ergänzenden Verträge über die Übereignung der Buchrechte mit Stanley Unwin abzuschließen) und konnte mit Hilfe Unwins seine Familie sowie – unter Verlust des gesamten kostbaren Bild- und Verlagsarchivs – Ludwig Goldscheider und dessen Familie über Frankreich und Antwerpen in Sicherheit bringen. Über die Vorgänge in Wien berichtete Stanley Unwin später in seiner Autobiographie, dass die NS-Funktionäre,
1073 Vgl. Harvey Miller: Phaidon and the Business of Art Book Publishing: 1923‒1967, S. 349. 1074 Vgl. hierzu die Darstellung von Stanley Unwin in seinen Erinnerungen: »I urged the proprietor, Dr Horovitz, to get out. He seemed to think that he had plenty of time.« (Stanley Unwin: The Truth about a Publisher (1960), S. 223) und die Erinnerungen von dessen Sohn David an »[…] the owner, who seemed to be paying, I thought, insufficient attention to my parent’s urgent pleas. If he wished to save his business, then he must act, and act quickly; but Dr Horovitz was not to be hurried and months went by and the suspense mounted.« (David Unwin: Fifty Years With Father, S. 43, hier zit. n. Joos: Trustees for the Public?, S. 184, Fn. 604). 1075 Über die Leistungen, die Stanley Unwin nicht nur in diesem Fall, sondern in vielfältiger Weise für die deutschsprachige Emigration erbracht hat, vgl. Joos: Trustees for the Public, S. 171‒181. 1076 SStAL, BV, F 7163. Bemerkenswerterweise wurde ein Buchhändler darauf verwiesen, dass rund tausend ausländische Buchhändler, die nicht den deutschen Bestimmungen unterliegen, das Börsenblatt läsen; auch sie hätten ein Anrecht auf die sie interessierenden Anzeigen.
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die bereits wenige Stunden nach dem Einmarsch den Phaidon Verlag aufgesucht hatten, höchst unangenehm überrascht gewesen seien von Verlagsmitarbeitern zu erfahren, dass alles, auch die Lagerbestände, bereits in englischem Besitz sei und alle Rechnungen bereits seit einem Jahr von Allen & Unwin bezahlt worden seien.1077 Horovitz und Goldscheider befassten sich in Oxford bzw. in London zunächst mit der Fertigstellung des bereits erwähnten, in seiner Art herausragenden El Greco-Bandes, zu dem die Vorarbeiten noch in Wien in Angriff genommen worden waren.1078 Um ihn auch nach Deutschland liefern zu können, fehlte auf dem Titelblatt wie später auch in der Werbung für diesen Band jeder Hinweis auf einen Verfasser oder Herausgeber.1079 Zunächst aber galt es, die unterbrochenen Liefermöglichkeiten nach Deutschland neu aufzubauen, und dies konnte nach Lage der Dinge nur durch Stanley Unwin geschehen. Dieser richtete im April 1938 eine Anfrage an den Leiter der Fachschaft Verlag in der RSK Karl Baur, mit dem er – im Zusammenhang mit dem Internationalen Verlegerkongress in Berlin – ohnehin im Kontakt stand, ob nun, da er jetzt der alleinige Verlagsleiter von Phaidon sei, das gegen die Phaidon-Bücher verhängte Verbreitungsverbot aufgehoben werden könne.1080 Die Voraussetzungen dafür schienen insofern günstig, als Karl Baur kurz zuvor Unwin zur Übernahme des Phaidon Verlags gratuliert und dabei sogar Anerkennung für das außergewöhnliche Konzept bekundet hatte – freilich nicht ohne auf die angeblichen steuerlichen Verfehlungen zurückzukommen: Über die Leistungen des Verlags gab es ja immer nur ein Urteil. Freilich waren wir Verleger oft sehr unangenehm berührt, denn auch der spitzeste Rechenstift wollte nicht erklären, wie man solche Bücher so billig herstellen kann. Diese Bedenken kamen aber nicht nur aus Verleger-Kreisen: der gesamte einsichtige Buchhandel behandelte immer wieder die Fragen der Auswirkungen so abnorm billiger Buchpreise auf die Normalproduktion des Verlages und auf das Verhältnis des bücherkaufenden Publikums zur Preisgestaltung auf dem Büchermarkt. Sie wissen ja, dass der Phaidon-Verlag nicht um seiner Produktion willen, ja nicht einmal um seines nichtarischen Inhabers willen während der letzten Monate so scharf im Reich abgelehnt wurde. Das kam erst, als gewisse Steuerangelegenheiten bekannt wurden.1081 Baur hatte hinzugefügt, dass diese Ablehnung sicherlich nicht mehr zu befürchten sei, wenn Produktion und Vertrieb in den Händen von Allen & Unwin liege. Schwierigkeiten seien allenfalls im Clearing, also in währungstechnischer Hinsicht zu erwarten; bei deren Überwindung werde er ihm aber gerne behilflich sein. In der Tat bekam Unwin grünes Licht für die Büchereinfuhr nach Deutschland, spätestens nachdem er im direkten Kontakt mit Paul Hövel von der Wirtschaftsstelle des deutschen Buchhandels die Geldtransfer-Frage dahingehend geklärt hatte, dass er
1077 Unwin: The Truth about a Publisher (1960), S. 223. 1078 Zum Folgenden vgl. Nyburg: Émigrés, S. 60‒63, 69‒74, 88‒96. Für eine kurzgefasste Geschichte des Exilverlags vgl. auch Shorrocks: Phaidon Press Limited. 1079 El Greco. Phaidon-Ausgabe, London: George Allen & Unwin 1938. 1080 Brief Stanley Unwin an Karl Baur, 25. 4. 1938, nach Joos: Trustees for the Public?, S. 184. 1081 Brief Karl Baur an Stanley Unwin, 12. 4. 1938, hier zit. n. Joos, S. 185.
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die ihm in Mark bezahlten Bücher für die Produktion in Deutschland verwenden könne bzw. verwenden würde.1082 Die Phaidon Press (London) platzierte daraufhin im Oktober 1938 im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel eine aufsehenerregende, vier Seiten umfassende Anzeige, mit einer Anfrage an alle deutschen Sortimenter; diese sollten mitteilen, wie viele Exemplare der angebotenen Titel sie benötigten.1083 Die einlangenden Bestellziffern waren so enorm, dass aus den Lagerbeständen kaum ein Zehntel der Wünsche befriedigt werden konnte. Oft waren von einer einzigen Buchhandlung 20 oder 100 Exemplare eines Titels bestellt worden, zugeteilt werden konnten dann in vielen Fällen nur zwei bis zehn.1084 Geliefert wurden die Bücher zunächst mit überklebten Verlagsangaben. Mit dem innerhalb von 48 Stunden verdienten Geld konnte der Druck von Nachauflagen und weiterer Bände finanziert werden. Aufgrund dieser überragenden Resonanz wurde auch eine Belieferung des deutschen Buchhandels im Rahmen eines Abonnementsystems in Erwägung gezogen: die Idee wurde aber wegen des Kriegsausbruchs und wohl auch aufgrund von Umsetzungsschwierigkeiten nicht realisiert.1085 Aus internen Papieren der NS-Behörden spricht deutlicher Ärger über die obrigkeitlich durchaus unerwünschte Begeisterung der deutschen Buchhändler für die so trickreich importierten Phaidon-Bücher. Auch der rabiate NS-Literat Will Vesper schäumte Anfang 1939 in seiner Zeitschrift Die Neue Literatur wegen des Wiedererscheinens der Bücher »des bekannten Wiener Judenverlags Phaidon« auf dem deutschen Markt: »Schon prangen in deutschen Buchschaufenstern Plakate in großen Lettern: ›Phaidonbücher wieder lieferbar!‹«1086 Fast scheint es, als seien die NS-Diktatur und ihre Instanzen der Schrifttumskontrolle machtlos gewesen gegenüber der Beliebtheit dieser Kunstbände bei Buchhandel und Publikum. In der Phaidon Press, die also ganz offiziell unter das Dach von Allen & Unwin geschlüpft war,1087 erschienen 1939 bis 1945 insgesamt 23 Titel; allein Goldscheider erarbeitete im gleichen Zeitraum als Autor und Herausgeber sechs umfangreiche und bedeutende monographische Werke, hauptsächlich zur Kunst der Renaissancezeit (Michelangelo, Donatello, Leonardo da Vinci), aber – u. a. mit der 1940 erschienenen, kunstwissenschaftlich bedeutsamen Zusammenstellung von Roman Portraits – auch zur Klassischen Antike.1088 Dabei arbeitete er in einem Londoner Büro, während Horovitz unter kriegsbedingt erschwerten Bedingungen immer wieder von Oxford nach London
1082 Nach Joos, S. 185. Unwin war damals Präsident des Internationalen Verlegerkongresses, der im Juni 1938 in Berlin und Leipzig stattfinden sollte, und von daher ist es auch verständlich, dass innerhalb der NS-Schrifttumsbehörden die Losung ausgegeben wurde: »Streitigkeiten mit Herrn Unwin sind nicht erwünscht.« Gleichwohl stand Unwin auf der schwarzen Liste jener Personen, die im Falle einer Eroberung Großbritanniens durch deutsche Truppen sofort verhaftet werden sollten. (Joos, S. 185, nach Unwin: The Truth About a Publisher (1960), S. 225). 1083 Bbl. Nr. 241, 15. Oktober 1938, S. 5660‒5663. 1084 Unwin: Ein Verleger erzählt, S. 225. 1085 Joos: Trustees for the Public, S. 186. 1086 Neue Literatur, Nr. 1, 1. Januar 1939, S. 44. 1087 Eine Meldung über den Verlagstransfer nach London war erschienen in: The Publishers Weekly, Nr. 19, 17. Mai 1938, S.1851: »Phaidon Press Quits Vienna«. 1088 Nyburg: Émigrés, S. 89 f. Vgl. dort auch die Titelliste in Appendix A, S. 242‒244.
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Abb. 41: Die ganzseitige Anzeige im Börsenblatt vom 13. Februar 1939 belegt, dass der Bildband zu El Greco, der nun bereits den Namen Allen & Unwin auf dem Titelblatt trug, den Buchhändlern in NS-Deutschland problemlos zur Bestellung und Belieferung über F. Volckmar in Leipzig angeboten werden konnte. Eine andere Voraussetzung war, dass die Namen der Bearbeiter Goldscheider und Horovitz nicht genannt wurden.
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pendelte. Die beiden knüpften damals neue Verbindungen zu Kunsthistorikern und Museumsdirektoren an, was u. a. ehrenvolle Projekte wie den »catalogue raisonnée« zur Kunstsammlung Windsor Castle zur Folge hatte. Nach Kriegsende steigerte der Verlag seine Produktion, 1947 kamen bereits sieben Titel heraus, zwei von J. Pope-Hennessy über Malerei bzw. Buchmalerei in Siena in der Renaissancezeit, Bücher über Rembrandt und Holbein (The Dance of Death) oder von S. und R. Redgrave A Century of British Painters. In den darauffolgenden Jahren steigerte sich der Titelausstoß noch weiter; thematisch blieben die Akzente auf der Kunst der Renaissance und der Antike, mit Weiterentwicklungen in Richtung Weltkunst (Indien, Japan / Hokusai). Im Januar 1950 kam es schließlich, nach langer, bis Wien zurückreichender Vorgeschichte, zur Publikation von Ernst Gombrichs The Story of Art, jenes Buches, das junge Menschen, aber auch ein noch viel größeres Publikum in unübertrefflicher Weise in die Welt der Kunst hineinholte und ein Weltbestseller wurde – gerade rechtzeitig, um den Fortbestand von Phaidon Press als unabhängiger Verlag zu sichern.1089 Denn die Zusammenarbeit zwischen Unwin und Horovitz, beides starke Persönlichkeiten, war nicht ungetrübt geblieben.1090 Formal war Phaidon seit 1938 ein Teil von Allen & Unwin, aber Horovitz tendierte dazu, nicht bloß in Redaktion und Herstellung der Bände weiterhin so eigenständig zu agieren, wie er es aus Wiener Tagen gewohnt war. Im Juni 1949 teilte er seinem Partner mit, dass er auch die Distribution der PhaidonBücher wieder selbst in die Hand nehmen möchte, und kündigte das vor 12 Jahren geschlossene Agreement mit Ende Dezember 1949 auf. Unwin war überrascht und hielt mit allen denkbaren Argumenten dagegen, aber es kam dann doch zur Auflösung der Zusammenarbeit, auch zum persönlichen Bruch zwischen den beiden,1091 und Phaidon war ab 1950 wieder ein eigenständiger Verlag in eigenen Räumlichkeiten. Unwin aber blieb das (von ihm selbst mit einigem Stolz vermerkte) Verdienst, den Verlag gerettet zu haben: »I had achieved what I had set out to do, I had rescued a most remarkable art publishing business from Hitler’s clutches, and that was all that mattered.«1092 Dem Unternehmen wurden in den folgenden Jahren Tochtergesellschaften in Zürich und New York angegliedert, ein internationaler Vertrieb wurde aufgebaut. 1951 gründete Horovitz gemeinsam mit Joseph Caspar Witsch in Deutschland die Phaidon Verlags GmbH, deren Verlagssitz nach kurzer Zeit von München nach Köln verlegt wurde. Die Absicht war, an dem in den 1930er Jahren erworbenen Ruf der Phaidon-Bücher mit ihrem unschlagbaren Preis-Leistungs-Verhältnis anzuknüpfen, was aber nicht wirklich gelang. Nach Österreich kehrte der Verleger zu keinem Zeitpunkt zurück. Inzwischen hatte Horovitz sein lebenslang gepflegtes Verhältnis zum Judentum verlegerisch intensiviert und 1944 die Verlagsabteilung »The East and West Library for Judaica« gegründet, in der er vor allem mittelalterliche jüdische Literatur in englischer
1089 Vgl. Nyburg, S. 90‒94. 1090 Nyburg, S. 88 f. – Dazu auch Holman: Art Books Against the Odds: Phaidon in England 1938–1950, S. 327. 1091 Offenbar gab es nach 1949 bis zum Tod Horovitz‘ keinerlei Kontakt mehr zwischen den beiden Verlegern. Über die näheren Umstände informiert Nyburg: Émigrés, S. 89. 1092 Unwin: The Truth about a Publisher (1960), S. 226; hier zit. n. Joos: Trustees for the Public?, S. 186.
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Übersetzung herausgab, in der aber auch die »Yearbook«-Serie des Leo Baeck Institutes erschien.1093 Nach Horovitz plötzlichem Tod 1094 1955 setzte zunächst seine Witwe Lotte sein Lebenswerk fort, vor allem aber seine Tochter Elly Miller* (geb. 1928 in Wien),1095 die als art publisher bei Goldscheider in die Schule gegangen war; Ellys Ehemann Harvey Miller, der selbst als (Wissenschafts-)Verleger tätig gewesen war, übernahm dabei die Geschäftsleitung. 1967 verkaufte das Ehepaar den Phaidon Verlag an den Mitemigranten Frederick Praeger*1096 und gründete erneut einen Verlag, Harvey Miller Publishers, der sich zunächst auf medizinische Lehrbücher spezialisierte, ab 1970 aber ein eigenes Imprint für Kunstbücher etablierte. Die dort erschienenen Fachbücher zu illuminierten Handschriften gelten als buchwissenschaftliche und kunsthistorische Standardwerke. Ludwig Goldscheider, der 1946 die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war über den Verkauf des Verlags hinweg bis zu einem Schlaganfall 1970 als Direktor für die Phaidon Press tätig, danach bis zu seinem Tod 1973 als Konsulent.1097 Auch mit dem langjährigen Lektor Innozenz Grafe* (1916 Wien – 1992 Schweiz) war die Kontinuität lange über Horovitzʼ Tod hinaus gewahrt geblieben.1098 Noch 1970 erhielten fünf Phaidon-Titel den »Best Designed Book Award«. Eine Großtat war auch die Produktion des dreibändigen Katalogs der Leonardo da Vinci-Zeichnungen in Windsor Castle. Als aber Praeger mit seinen Unternehmungen (besonders der Encylopaedia Britannica) in finanzielle Schwierigkeiten geriet, wurde davon auch Phaidon in Mitleidenschaft gezogen: Der Verlag wurde 1974 an Elsevier verkauft und dann unter verschärften kommerziellen Gesichtspunkten geführt, mit der unvermeidlichen Folge empfindlicher Qualitäts-
1093 Zur East and West Library vgl. das Kap. 5.2.3 Judaica-Verlage. 1094 Horovitzʼ Verdienste wurden u. a. in einem Nachruf im Börsenblatt gewürdigt; dort hieß es, er habe es »zum erstenmal in der Geschichte des Verlagsbuchhandels fertiggebracht, einen außergewöhnlich billigen Preis mit außergewöhnlich guter Qualität und einem starken verlegerischen Gefühl für das Bedürfnis der Zeit zu vereinigen«; mit den in seinem Verlag erschienenen Büchern habe er ein Andenken hinterlassen, das unzerstörbar sei. (Bbl. (Frankf. Ausgabe), Nr. 29 vom 13. April 1955, S. 246 f.). 1095 Elly Horovitz hatte in Oxford Philosophie, Politik und Ökonomie studiert und danach für Stanley Morison sowie bis März 1950 in der New Yorker Zweigstelle der Oxford University Press gearbeitet; in diesem Jahr heiratete sie den Verleger Harvey Miller (1925‒2008) und war anschließend im Vertrieb von Phaidon Press tätig. Nachdem sie nebenher einen Typographielehrgang an der Londoner Central School of Art absolviert hatte, begann sie unter Anleitung von L. Goldscheider mit der selbständigen Herausgabe von Phaidon-Titeln, darunter die zweibändige Ausgabe von Henri Focillons Art of the West. Siehe dazu auch Materialien im Literaturhaus Wien, Archiv der Österreichischen Exilbibliothek. 1096 Zu Praeger siehe das Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive. 1097 Ludwig Goldscheiders Nachlass wird im Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica aufbewahrt. In der Bestandsbeschreibung heißt es zu den von ihm kreierten Formen des Kunstbuchs: »The visual impact and richness of these large-sized editions did much to determine the development and general style of the modern form of the popular art book.« Darüber hinaus wird Goldscheider dort als »one of the most influential art book publishers of the twentieth century« bezeichnet. (www.getty.edu/research/ conducting_research/finding_aids/goldschd_m4.html) 1098 Nyburg: Kunstbuchproduktion in Oxford, S. 408 f.
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verluste, ebenso einem Verlust der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Anbietern preisgünstiger illustrierter Bücher. Nach einem Management Buy-out 1981 wurde Phaidon Teil der Verlagsgruppe Musterlin Holding Company mit Sitz in Oxford; eine Insolvenz Anfang der 1990er Jahren wurde überwunden, als eine Investorengruppe um Mark Futter und Richard Schlagman den Verlag kaufte und in Rückbesinnung auf das verlegerische Konzept der Gründer erneut auf qualitätvoll illustrierte Kunstbücher setzte. Dabei wurden manche der klassischen Phaidon-Titel neu aufgelegt, aber auch zahlreiche spektakuläre Kunstbuch-Großprojekte realisiert. Seit 2012 steht Phaidon im Eigentum des US-Milliardärs und Kunstsammlers Leon D. Black,1099 liefert als »global publisher« mit Büros in New York, Paris, Berlin, Madrid, Mailand und Tokio sein mehr 1.500 Titel umfassendes Kunst-, Architektur- und Designbuch-, aber auch Koch- und Kinderbuchprogramm in rund 100 Ländern der Erde in vielen Sprachen aus und repräsentiert auch wieder einen der international führenden Verlage in der Sparte »visual arts«.
Adprint Ltd., London Beachtung verdient auch ein Unternehmen, das kein ausgesprochener Kunstverlag, ja nicht einmal ein Verlag im klassischen Sinne war, das aber ein Sammelplatz von österreichischen und deutschen Hitler-Flüchtlingen gewesen ist und ein interessantes Geschäftsmodell repräsentiert; auch gehört es zur Vorgeschichte des anschließend vorgestellten Verlags Thames & Hudson. Die Rede ist von der Londoner Adprint Ltd., deren Name aus einer Zusammenziehung von Advertising und Printing resultierte – in der Tat stellte sie in ihrer Anfangszeit Glückwunschkarten und Akzidenzdrucksachen her. Im Mittelpunkt dieses Unternehmens stand Wolfgang Foges* (1910 Wien – 1983 London), der in Wien Direktor der von Textilunternehmern finanzierten Modezeitschrift Neue Welt gewesen war und sich in dieser Funktion mit den besonderen Erfordernissen bei der Herstellung farbillustrierter Medien auseinandergesetzt hatte.1100 Foges, der mehrfach Geschäftsreisen nach Großbritannien unternommen hatte, um weitere Kunden für Vierfarbdrucke zu akquirieren, entschloss sich bereits 1934, seinen Wohnsitz nach London zu verlegen. Mit finanzieller Unterstützung durch Lord Glenconner von der Charles Tennant Group gründete er dort 1937 die Fa. Adprint 1101 – keinen eigentlichen Verlag, sondern einen »book packager«, also ein Unternehmen, das – im Sinne eines »outhouse-publishing« – für andere Verlage Buchideen kreierte und diese dann auch, von der Autorensuche und -gewinnung über die Buchgestaltung bis zum Abschluss des Herstellungsprozesses, realisierte; der auftraggebende Verlag übernahm dann Lagerung,
1099 Bekannt geworden 2012 durch die Ersteigerung von Edvard Munchs Der Schrei um 120 Mio. $, dem bis dahin höchsten bei einer Auktion erzielten Preis für ein Kunstwerk. 1100 Vgl. Nyburg: Émigrés, S. 16‒19; Lambert: Wolfgang Foges and the new illustrated book in Britain, S. 113 f. – Einem freundlichen Hinweis von Silke Körber zufolge befinden sich an der Wiener Library in London umfangreiche Materialien aus dem Nachlass von W. Foges u. a. mit Geschäftskorrespondenz; diese Bestände werden von ihr für eine Studie über den Einfluss deutschsprachiger Verleger im britischen und US-amerikanischen Exil auf das populäre illustrierte Sachbuch im 20. Jahrhundert ausgewertet. 1101 Adprint wurde 1938 in die Tennant Gruppe eingereiht.
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Marketing und Vertrieb. Diese Art von Dienstleistung, die heute (gerade auch von London aus) international sehr verbreitet ist, war damals neu; es gibt Hinweise darauf, dass das Verfahren des »book packaging« zum ersten Mal von Walter Neurath* gemeinsam mit seinem Freund Heinrich (Harry) Fischer* in Wien erprobt worden ist, 1935 mit einem Prag-Buch für den Callwey Verlag in München; Fischer hat dann noch 1938 für den Buchhändler und Verleger Wilhelm Frick ein Buch über die Wiener Philharmoniker produziert, das als erstes typisches »coffee table book« betrachtet werden kann.1102 Für den Londoner Emigranten Wolfgang Foges hatte das »book packaging« außerdem den Vorteil, dass das neugegründete Unternehmen in den Kriegsjahren nicht von den Papierzuteilungen abhängig war und mit solchen Verlagen zusammenarbeiten konnte, die über reichliche Zuteilungen verfügten. Foges brachte noch eine weitere Ideen in seine Tätigkeit ein: In Österreich hatte er sich schon als Zeitschriftenherausgeber intensiv mit Fragen der Bildbeschaffung und des Farbdrucks auseinandersetzen müssen. Diese Erfahrungen sollten sich nun als besonders nützlich erweisen, denn in Großbritannien war diese Praxis der »picture research« und auch die Anordnung von Bildern mitten im Text noch nicht allgemein üblich. Und wie nachfolgend genauer dargestellt werden soll, waren die von Adprint erstellten Bücher grundsätzlich reich illustriert. Eine weitere Besonderheit war das Team, das Foges für Adprint zusammenstellte. Es bestand neben britischen Lektoren wie W. J. Turner1103 und Max Parrish (der zuvor – was sich als günstiger Umstand erweisen sollte – im Ministry of Information und später für Thames & Hudson tätig war) fast zur Gänze aus Emigrantinnen und Emigranten, unter ihnen auch Kunsthistorikerinnen, die sich auf diese Weise beruflich über Wasser halten konnten. Dies gilt etwa für Hilde Kurz, die in Wien bei Gombrich studiert hatte und deren Ehemann Otto Kurz, mehr oder weniger ohne Einkommen, im renommierten Warburg Institute in London untergekommen war. Sie hatte auch gute Beziehungen zu exilierten Künstlerinnen wie Bettina Ehrlich oder Katerina Wilczynski, die sie gelegentlich mit Bildmaterial versorgten.1104 Ein anderes Beispiel war Ruth Rosenberg, die – 1905 in Berlin geboren – in Italien und Freiburg i. Br. studiert und in einem Museum gearbeitet hatte, ehe sie in der fotografischen Abteilung der Ullsteinschen Berliner Illustrierten tätig wurde, in der ja der Beruf des Bildredakteurs recht eigentlich erst erfunden wurde: »There Rosenberg learned how to see pictures from a journalistic point of view
1102 So Nyburg: Émigrés, S. 21 f. – Harry R. Fischer (1903 Wien – 1977 London), der zuvor hauptsächlich im Buchhandel tätig war, flüchtete 1938 aus Wien und baute zunächst eine Druckerei in Zagreb / Jugoslawien auf, ehe er im Mai 1939 nach London ging, wo er eine große Karriere als Galerist startete. – Zu Fogesʼ Anwendung des »book-packing« vgl. auch die Feststellung bei Westphal: »One of Fogesʼ ideas – how far he was initially responsible for it is hard to say – was the development of so-called ›book-packaging‹. […] Knowledge of the market supplied the idea for a particular book; an author was then found, along with a designer to create an appealing format, and economical printers to produce it. The colour reproductions in particular, were often printed in other countries.« (Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 197). 1103 Dieser Hinweis auf die Tätigkeit des Lyrikers W. J. Turner als Lektor bei Adprint findet sich bei Joos: Trustees for the Public, S. 179, Fn. 584. 1104 Nyburg: Émigrés, S. 152.
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and began to recognize a need for a way to organize the visual material.«1105 Ihre Bekanntschaft mit berühmten Fotografen kam ihr bei ihrer Tätigkeit für Adprint, wohin sie über ein Einführungspraktikum am Warburg Institute vermittelt wurde, sehr zugute; später landete sie, nach einem Zwischenspiel bei der Max Parrish Ltd., wie Parrish selbst bei Thames & Hudson. Dies war umso weniger erstaunlich, als der wichtigste Mitarbeiter Fogesʼ und zeitweiliger Co-Direktor der Adprint niemand anderes war als der bereits kurz erwähnte Walter Neurath*, der nachmalige Gründer von Thames & Hudson. Der ebenfalls in Wien geborene Neurath hatte sich in seiner Geburtsstadt bereits als Buchverleger betätigt, zuletzt im Zinnen Verlag.1106 Nach seiner Emigration im Juni 1938 von Foges für Adprint engagiert, konnte er dort seine einschlägigen Kenntnisse als Produktionsleiter erfolgreich einbringen – bis hin zu einem Punkt, an dem kaum noch zu unterscheiden war, wem die größeren Verdienste in der Entwicklung der einzelnen Buch- und SerienProjekte zukamen.1107 Auch Paul Steiner* (1913 Wien – 1996 New York), der ein Jugendfreund Fogesʼ war und mit diesem bereits in Wien im Verlag Moderne Welt zusammengearbeitet hatte, erneuerte diese Verbindung, indem er nach seiner im Dezember 1938 erfolgten Flucht in die USA dort 1941 eine Zweigstelle von Adprint aufbaute und bis 1951 leitete, ehe er sich mit ihr unter dem Namen Chanticleer Press erfolgreich selbständig machte.1108 Die Wien-Verbindung ging aber noch tiefer: Zeitweise eng verbunden war Adprint auch mit der Tätigkeit von Otto und Marie Neurath (nicht mit Walter Neurath verwandt), deren bildstatistisches »Isotype«-Darstellungsverfahren vielfältig in Büchern des Packaging-Unternehmens Anwendung fand.1109 Es ist sicherlich zutreffend, dass sich viele der in Adprint verfolgten Konzepte und Überlegungen zur Optimierung der visuellen Wissensvermittlung im Buch aus den im Wien der Zwischenkriegszeit entstandenen Ideenarsenalen speisten.1110 Aus diesem Grund, der Akzentuierung des Visuellen, waren in dem Adprint»Büro« – einem einzigen riesigen Raum, in dessen Mittelbereich die Farbdruckmaschinen standen, umgeben von kleinen Fotostudios und Arbeitsplätzen1111 – die mit der Beschaffung und Bearbeitung von Bildmaterial befassten Mitarbeiter besonders wichtig. Das Unternehmen arbeitete außerdem mit emigrierten deutschen Graphikern zusammen, etwa mit dem in seinem Fach bedeutenden F. H. K. Henrion (geb. als F. H. Kohn, 1914‒
1105 Nyburg, S. 152. 1106 Zu Neurath siehe in diesem Kapitel weiter unten den Abschnitt über Thames & Hudson. 1107 Wie Nyburg berichtet, entstand später eine öffentliche Kontroverse über diese Frage (Nyburg: Émigrés, S. 159 f.). 1108 Siehe dazu in diesem Kapitel weiter unten. 1109 Otto Neurath hatte in Wien das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums gegründet, das sich als »Volksbildungsinstitut für soziale Aufklärung« verstand, und zur Darstellung gesellschaftlicher Zusammenhänge eine bildstatistische Methode entwickelte, die er nach seiner Emigration nach Großbritannien in Oxford, mit Unterstützung seiner Frau Marie Neurath, weiterentwickelte und die unter dem Namen »Isotype« (International System of Typographic Picture Education) bekannt wurde. Nach dem Tod Ottos führte Marie Neurath das IsotypeInstitut weiter. 1110 Vgl. dazu Nyburg, S. 150 u. ö. 1111 Vgl. ebd.
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1990), der eine Reihe von Umschlägen für das von Adprint produzierte Magazin Future entwarf. Direkt bei Adprint tätig war als »director of photography« Paul Rotha, der seinerseits mit zahlreichen emigrierten Fotografen zusammenarbeitete, so mit Wolf Suschitzky (1912‒2016)1112 und dessen Schwester Edith Tudor-Hart.1113 Als weitere Emigrantinnen, die in die Arbeit von Adprint miteinbezogen wurden, sind zu nennen die Typographin und Graphikerin Elizabeth Friedlaender, Elisabeth Ullmann oder Eva Feuchtwang, später als Eva Neurath* (dritte Ehefrau von Walter Neurath) Mitbegründerin von Thames & Hudson. Eine wichtige Rolle spielte, als Sekretärin Fogesʼ, von Anfang an die aus Ungarn stammende Alice Kun, seit 1937 verheiratet mit William Richard Foyle, dem Sohn der Begründer der berühmten Londoner Buchhandlung; als Alice Harrap1114 trat sie dann seit Beginn der 1960er Jahre als international im großen Stil operierende Literaturagentin hervor. Von einem »Verlagsprogramm« kann man bei einem Dienstleister-Unternehmen nicht eigentlich sprechen; eher handelte es sich um eine Liste von Aufträgen. Aus der Anfangszeit besonders hervorzuheben sind die fünf Titel, die Adprint Ltd. für den 1935 von Allen Lane errichteten Penguin Verlag produziert hat. Den Quellen zufolge waren es Foges und Neurath, die – mit Anleihen am Insel Verlag und dessen kleinformatigen, aber fest gebundenen Bändchen – 1937 das Konzept der »King Penguins« entwickelten und dieses Projekt Allen Lane unterbreiteten.1115 Bei der Vorbereitung der beiden ersten Titel, Redoutés Roses und Gould’s Birds of Britain, waren allerdings einige Hürden zu überwinden, weil es in England kaum geeignete Druckereien gab und die österreichischen und tschechischen Druckereien, mit denen Foges und Neurath früher zusammengearbeitet hatten, inzwischen auf besetztem Gebiet lagen; die Bändchen erschienen daher erst 1939 und fanden zwar guten Absatz, allerdings aufgrund unzulänglicher Herstellungstechnik auch kritische Resonanz. Trotzdem konnte Adprint drei weitere »KingPenguin«-Titel produzieren, darunter Ernst Gombrichs Caricature, das für diese Serie neue Maßstäbe setzte, dies auch hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Anspruchs, der mit jenem der Oxford University Press konkurrieren konnte, zumal inzwischen der bedeutende, aus Göttingen emigrierte Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner die Herausgeberschaft der Reihe übernommen hatte.1116 Nach den ersten fünf Titeln übernahm allerdings
1112 Vgl. wolf suschitzky films. Hrsg. von Michael Omasta, Brigitte Mayr, Ursula Seeber. Wien: Synema 2010. 1113 Die Mutter von Wolf und Edith, Adele Suschitzky, hatte mit ihrem Mann Wilhelm und ihrem Schwager Philipp in Wien die sozialdemokratisch orientierte Buchhandlung Brüder Suschitzky und den Anzengruber-Verlag geführt; nach dem Tod Wilhelms (1934) und der Flucht aus Wien 1938 lebte sie in London, wo ihre Neffen Joseph und Willi Suschitzky nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine Buchhandlung und Antiquariat aufbauten (siehe dazu das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel). Edith, die am Bauhaus die Fotografie-Klasse besucht hatte und seit 1927 für die ›Abteilung internationaler Verbindungen‹ der Komintern (OMS) aktiv war, lebte seit 1933 mit ihrem Mann, dem Arzt Alex Tudor-Hart, im englischen Exil. 1114 Der Ehemann von Alice Foyle starb 1957; sie heiratete danach »Paul Harrap, whose family company, George G. Harrap, had published many of the Adprint-designed books in the 1940s.« (Nyburg: Émigrés, S. 157). 1115 So Nyburg, S. 153. 1116 Nyburg, S. 154.
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Penguin, wo inzwischen Jan Tschichold tätig war, die Konzeption und Herstellung der Bändchen in eigene Regie. Ein noch weitaus ergiebigeres und insgesamt hoch erfolgreiches Tätigkeitsfeld eröffnete sich für Adprint 1941 mit der für den Londoner Collins Verlag erstellten Reihe »Britain in Pictures«. Die Idee zu der Serie stammte von Hilde Matheson, die im Rahmen ihrer Tätigkeit für den britischen Rundfunk in Erfüllung ihrer Aufgabe (»to diffuse positive propaganda about Britain«) mit zahlreichen deutschsprachigen Emigranten zusammengetroffen war. Das Reihenkonzept selbst war jedoch eindeutig aus jenem der Reihe »Die Blauen Bücher« abgeleitet, die seit 1907/1909 im Verlag von Karl Robert Langewiesche erschienen waren und die besonders in der seit 1926 erfolgten Akzentuierung der deutschen Landschaft und Architektur als Vorbild dienten. Während allerdings »Die blauen Bücher« außer den Bildunterschriften kaum Text aufwiesen, schrieben für »Britain in Pictures« vielfach höchst renommierte Autorinnen und Autoren, von George Orwell und Rose Macaulay bis Vita Sackville-West und Virginia Woolf, durchlaufende Texte, in die dann die Fotografien eingebettet wurden. Zu den Themen konnten neben »English country houses« sowie Kunst und Literatur durchaus auch Essen, Sport oder »British children« gehören. Ihren Nimbus gewann die Serie nicht zuletzt durch ihre reiche Bebilderung (bei immer noch problematischer Druckqualität) und ihre gekonnte Durchgestaltung. So etwa wurde die emigrierte Graphikdesignerin Elizabeth Friedlaender 1946 von Wolfgang Foges eingeladen, für Adprint ab sofort alle Umschläge zu der Serie zu entwerfen; Friedlaender knüpfte dabei an den von Elisabeth Ullmann geprägten Hausstil an.1117 »Britain in Pictures« wurde vom Publikum sehr gut angenommen; bis 1950 erschienen bei Collins 142 Einzeltitel.1118 Entscheidend für den Erfolg war nicht zuletzt die enge Zusammenarbeit mit dem Ministry of Information, mit dessen Unterstützung die Bände auch in mehrere Sprachen übersetzt und auf den nationalen Buchmärkten der Mitgliedsstaaten des Commonwealth vertrieben wurden.1119 Mit Recht wurden der Reihe propagandistische Wirkungen zugeschrieben: die Bücher vermittelten »an uncomplicated love of Britain and things British, and an urge to educate and explain [it] among its most attractive features«.1120 Wolfgang Fogesʼ Verbindungen zum Informationsminis-
1117 Vgl. Paucker: Crossing Borders. Women Designers in Exile, S. 45. 1118 Als eine weitere, ebenfalls außerordentlich und nachhaltig erfolgreiche Serie folgte bei Collins seit 1945 die (nach einer von Walter Neurath 1942 geborenen Idee) anfänglich von Adprint produzierte, von Julian Huxley herausgegebene Serie »The New Naturalist«. Revolutionär war damals die Präsentation von Farbaufnahmen für Motive in der freien Natur und dabei auch die Verwendung des eben erst erfundenen Kodachrome-Farbfilms. In der bis heute (2018) fortgesetzten Reihe sind 136 Bände erschienen (und zusätzlich mehr als 20 Monographien); einige der frühen Ausgaben wurden 1989/1990 in einer Bloomsbury Edition nachgedruckt. 1119 Nyburg: Émigrés, S. 154‒156. Vgl. auch: Michael Carney: Britain in Pictures. A history and a bibliography. London: Werner Shaw 1995. 1120 Carney: Britain in Pictures, S. 60; hier zit. n. Nyburg: Émigrés, S. 155. Nyburg stellte an gleicher Stelle fest: »Readers probably had no idea that these quintessentially British books were produced by German-speaking refugees.« – Vgl. auch die Bemerkung bei Paucker: »This series […] was a subtle form of propaganda aiming to show, at home and abroad, that British way of life for which the nation was fighting. It was devised by an English-
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terium und die anerkannt »kriegswichtige« Leistung von Adprint trugen auch dazu bei, dass einzelne Mitarbeiter schneller aus den Internierungslagern freikamen.1121 Foges selbst wirkte während des Zweiten Weltkriegs auch als Berater für Druck und Publikationen für das Colonial Office; er entwickelte und produzierte die »Corona Library Series«, mit illustrierten Büchern zu den einzelnen britischen Kolonialstaaten. Schon 1941 erhielt er, sicherlich auch wegen seiner mit Adprint erworbenen Verdienste um die Stärkung des Verteidigungswillens im Empire, die britische Staatsbürgerschaft. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde für den Verlag Nicholson & Watson eine Nachkriegsserie entworfen und in Angriff genommen: »The New Democracy«.1122 Hier nun intensivierte sich die Zusammenarbeit mit dem Isotype-Institut von Otto und Marie Neurath, denn die 1944‒1948 erschienenen acht Bände dieser Reihe hatten hohen Bildungsanspruch und waren darauf angelegt, die britische Nachkriegsgesellschaft u. a. mit Fragen des Gesundheitswesens, der Berufstätigkeit von Frauen, den Arbeitsverhältnissen in der Industrie oder »citizen and government« vertraut zu machen.1123 All diese Sachzusammenhänge und statistischen Daten konnten mit den im Zeichen des »International System of Typographic Picture Education« entwickelten Darstellungsmethoden gut verständlich aufbereitet werden. Die Neuraths hatten zu ihrer Unterstützung für diese Arbeit eine weitere junge Emigrantin engagiert, Ernie Braun, die sie im Internierungslager kennengelernt hatten. Adprint war trotz seiner epochemachenden Entwicklungsarbeit besonders auf dem Gebiet des hochqualitativen farbillustrierten Buches kein dauerhafter Erfolg beschieden, sein Niedergang Ende der 1940er Jahre war nicht aufzuhalten: Walter und Eva Neurath verließen das Unternehmen im Streit, Lord Glenconner entzog seine Unterstützung. Die Firma wurde von Foges an Wilfried Harvey in Purnell & Sons verkauft, das 1964 in die marktführende British Printing Corporation überging, die ihrerseits 1981/1982 von Robert Maxwell* übernommen wurde. Die Karriere von Wolfgang Foges als »book packager« war mit dem Verkauf von Adprint aber noch lange nicht zu Ende: Schon 1946 (bis 1952) hat er unter dem Label Future books, wieder im »Teamwork« mit Isotype und mit entsprechend ambitioniertem visuellem Design, eine Reihe (mit insgesamt nur vier Buchpublikationen) und ein Future-Magazin (mit 29 Nummern) ins Leben gerufen, die er, thematisch auf Aspekte von Politik, Wissenschaft und Kunst ausgerichtet, bis 1952 fortführte.1124 Mit geborgtem Geld entwickelte er dann Anfang der 1950er Jahre unter dem Imprint von Rathbone Books und in Zusammenarbeit mit Doubleday & Co. Inc., New York, die »Wonderful World«-Buchreihe, der weitere erfolgreiche Buchreihen in internationaler Kooperation folgten. 1960 gründete er schließlich Aldus Books als Subunternehmen von Doubleday & Co., in dessen Verlagsleitung auch Frederick
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woman, Hilda Matheson, formerly of the BBC, but carried out by refugees from Nazism involved in publishing.« (Paucker: Crossing Borders, S. 45, Fn. 15). So etwa wurde Walter Neurath bereits nach zwei Wochen entlassen, vgl. Nyburg: Émigrés, S. 155. Vgl. hierzu Nyburg, S. 157 f. Vgl. auch Isotype revisited [online]. Vgl. Kindel: Future, Fortune and the Graphic design of Information.
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Ullstein* eintrat;1125 zu den Autoren des Verlags zählten J. B. Priestley und Julian Huxley. Im Verlauf der wachsenden internationalen Verlagskonzentration gingen sowohl Rathbone wie Aldus schließlich vollständig in Doubleday auf. Später trachtete Foges in idealistischer Weise seine Expertise in das afrikanische Verlagswesen einzubringen, um als Konsulent speziell in Schulbuchfragen das Bildungswesen in den postkolonialen Ländern aufbauen zu helfen. Fogesʼ innovative Leistung für das britische Verlagswesen und namentlich für das »educational illustrated book«, wie es heute u. a. von Dorling Kindersley vertreten wird, ist heute allgemein anerkannt.
Thames & Hudson, London Im Bereich des illustrierten Kunstbuchs nimmt auf internationaler Ebene der Verlag Thames & Hudson bis heute eine herausragende Stellung ein. Seine Entstehung verdankt er Walter Neurath* (1903 Wien – 1967 London), von dessen Rolle als Co-Direktor bei Adprint weiter oben bereits berichtet worden ist.1126 Neurath, der schon in Wien einige Verlagserfahrung gesammelt hatte (beim Verlag für Kulturforschung, Zinnenverlag, Wilhelm Frick Verlag) war Anfang Juni 1938, an Leib und Leben gefährdet auch durch Mitarbeit an Anti-Nazi-Publikationen, zusammen mit seiner zweiten Frau Marianne nach London geflüchtet und dort zunächst für den Galeristen Harry Fischer, den er schon aus Wien kannte, tätig, ehe er bei Adprint Ltd. eine Anstellung fand. Im September 1949 gründete Neurath, der das Kostengefälle zwischen den USA und den vergleichsweise günstigeren Produktionsbedingungen in Europa als Chance erkannte, gemeinsam mit seiner dritten Frau Eva Neurath* (1908 Berlin – 1999 London)1127 den Kunst-
Abb. 42: Am Aufstieg von Thames & Hudson zu einem der bedeutendsten Kunstbuchverlage der Welt an vorderster Front beteiligt: Eva Neurath (1908‒1999).
1125 Dass Frederick Ullstein bei Aldus als »Legal & Contract Executive« tätig war, wird auch in den »Frederick Ullstein Papers« bestätigt, aufbewahrt in der Wiener Library. Auch diesen Hinweis verdanke ich Silke Körber. – Frederick Ullstein war 1936 nach England emigriert, kehrte 1956 nach Deutschland zurück und ging 1960, nach Verkauf des nach dem Krieg zurückerstatteten Ullstein-Verlags an den Springer-Konzern, wieder nach London. 1126 Zur Biographie siehe u. a. Tom Rosenthal: Walter and Eva Neurath: Their Books Married Words with Pictures. – Zum Verlag Thames & Hudson siehe vor allem Nyburg: Émigrés, S. 163‒193; Craker: Opening Accounts and Closing Memories; Shorrocks: Thames and Hudson. – Siehe auch: Newcomers’ Lives. The Story of Immigrants, S. 148‒151. 1127 Auch Eva Neurath war insgesamt dreimal verheiratet, zunächst mit Ernst Jutrosinski*, den sie in Berlin im Antiquariat Paul Graupe kennengelernt hatte, wo sie ihre ersten Berufs-
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verlag Thames & Hudson mit Büros in London und New York. Eva brachte in das gemeinsame Verlagsprojekt ihr Erspartes in Höhe von 150 ₤ ein und verhalf ihm auch zu seinem ersten Titel: ein reich bebildertes Buch über English Cathedrals (mit Fotos von Martin Hürlimann, 1950), das Collins nicht verlegen wollte, das aber bis ins Jahr 1971 einer der ersten großen und dauerhaften Erfolge des Verlags wurde. Dem programmatischen Verlagsnamen entsprechend, agierte der Verlag sowohl auf dem britischen wie auch auf dem amerikanischen Buchmarkt. In den ersten Jahren vertrat Thames & Hudson New Yorker Verlage wie Abrams, aber auch die Publikationen der großen Museen (Metropolitan Museum of Art, Museum of Modern Art)1128 auf dem englischen Buchmarkt, die unter dem eigenen Imprint erschienen. Bald erwarb der Verlag, der sich als »museum without walls« verstand, auch mit seiner eigenen Produktion – 144 Novitäten waren es bereits im Jahr 1955 – einen hervorragenden Ruf: Anders als der konkurrierende und damals führende Kunstbuchverlag Phaidon Press setzten die Neuraths auf durchgängigen Farbdruck und in den Text integrierte Illustrationen. Das rasch expandierende Unternehmen brachte nun internationale Gemeinschaftsproduktionen mit anderen Verlagen heraus (das »co-edition publishing« war von Neurath bei Adprint mitentwickelt worden), reich illustrierte »book-packaging«-Serien zu erschwinglichen Preisen wie »The World of Art« (seit 1958) oder »Ancient Peoples and Places« (hrsg. von Glyn Daniel, mit mehr als 100 Titeln in 34 Jahren) und seit 1961 »The Arts of Mankind« sowie »Great Civilisations«. In der Reihe »The World of Art«, die in Großbritannien selbst weite Verbreitung fand und dem sonstigen Programm einen festen Rückhalt gab, kamen bis 1965 bereits 49 Titel, bis heute aber mehr als 300 Titel heraus; davon waren zu jedem Zeitpunkt mindestens 180 lieferbar. Überhaupt spielten die offenen Serien, mit denen auch die Sammellust des Publikums geweckt werden sollte, eine zentrale Rolle in der Verlagsstrategie; dass die so aufwändig illustrierten Bände auch noch preisgünstig angeboten wurden, war ein weiterer absatzsteigernder Faktor. Das umfangreiche Verlagsprogramm umfasste bald nicht mehr nur Titel aus bildender Kunst und Fotografie, sondern deckte auch die Themenbereiche Architektur, Religion, Philosophie, Literatur, darstellende Kunst u. a. m. ab. Als Herausgeber und Autoren wirkten hauptsächlich renommierte Fachgelehrte. Zu den Besonderheiten gehörte der erste erschwingliche Faksimiledruck des Books of Kells, die sechsbändige Ausgabe der Briefe von Vincent van Gogh oder der erste Graffiti-Bildband Subway Art. Der reich illustrierte Bildband From Giotto to Cezanne: A History of Western Painting mit mehr als 500 Farb-
erfahrungen sammelte. Die Ehe hielt nur ein Jahr; 1936 heiratete sie den Österreicher Wilhelm Feuchtwang, Sohn des Oberrabbiners von Wien, mit dem sie unmittelbar nach dem »Anschluss« Österreichs nach Holland und von dort weiter nach England emigrierte. Während ihr Mann auf der Isle of Man als »enemy alien« interniert war, lernte sie Walter Neurath kennen, der ihr eine Anstellung bei Adprint verschaffte und den sie nach ihrer Scheidung von Feuchtwang und dem Tod von Neuraths zweiter Frau heiratete. Vgl. Wolfhart Draeger: Berlinerin, noch immer. In: DIE ZEIT Nr. 27, 26. Juni 1992, S. 79; Bbl. Nr. 4 vom 14. Januar 2000; S. 30; David Plante: Eva Neurath [Nachruf]. In: The Guardian, 6. Januar 2000 [online]; Joanna Pitman: 60 Years of Thames & Hudson. In: The Times, April 18, 2009 [online]. 1128 Zu dieser Schiene kehrte Thames & Hudson 2016 zurück mit Publikationspartnerschaften, die mit dem British Museum und dem Victoria and Albert Museum abgeschlossen wurden.
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abbildungen fand weltweit in mehreren hunderttausend Exemplaren und in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt Verbreitung. Walter Neurath, selbst großer Kunstkenner und -sammler, Freund Oskar Kokoschkas, galt in England als ein Verleger, »more than any other single individual responsible for the revolution in the publishing of art books« (Sir Herbert Read). Nach seinem Tod 1967 übernahmen seine Witwe und sein damals 27jähriger Sohn Thomas aus zweiter Ehe das verlegerische Erbe. Eva Neurath hatte von Anfang an großen Anteil am Erfolg von Thames & Hudson: sie war in die Herstellung der Bücher ebenso involviert wie in die Programmplanung. In ihrem Haus in Highgate und in der »Dolphin Villa« in der Toskana (zwei Delfine bildeten immer schon das Verlagssignet) pflegte sie persönliche Kontakte zu vielen Künstlern und Autoren; sie blieb bis 1999 als Chairman im Familienunternehmen aktiv. Seit 1960 war, von Eva Neurath engagiert, auch Ruth Rosenberg* (geb. 1905 Berlin) als Herstellerin bei Thames & Hudson tätig.1129 Sie hatte nach Ende des Zweiten Weltkriegs über Empfehlung des Warburg Institute eine Anstellung als Bildredakteurin bei Adprint erhalten und später für den Verlag Max Parrish und das Verlagshaus Odhams Press gearbeitet (u. a. English Inns, 1951; The Coronation Book of Queen Elizabeth II., 1953). Für Thames & Hudson war sie über drei Jahrzehnte lang bis in ihr hohes Alter sowohl mit der Konzeption von Bildbänden und Fotobüchern befasst wie auch als Buchgestalterin tätig und hat dazu beigetragen, dass die hohe Qualität der Bücher dieses Verlages weltweit Anerkennung gefunden hat. Thames & Hudson ist nach wie vor in Familienbesitz: Seit 2005 fungiert Thomas Neurath als Vorsitzender, seine Schwester Constance Kaine, zuvor lange Zeit Direktorin der Design-Abteilung, als stellvertretende Vorsitzende. Inzwischen sind auch die beiden Töchter von Thomas Neurath, Johanna und Susanna, in der Unternehmensleitung tätig. Der Verlag, der heute mit mehr als 200 Mitarbeitern jährlich rund 180 neue Titel zu Kunst, Architektur, Design und zahlreichen anderen Themenbereichen (inzwischen auch Kinderbücher) herausbringt und in seiner Backlist rund 2.000 Titel führt, hat Niederlassungen in Melbourne (seit 1970) und Frankreich (mit dem Tochterunternehmen Interart), seit einiger Zeit auch in Hong Kong und in Singapur.
Werner Schüller in Oxford University Press Als Kunstbuchverleger, wenn auch nicht in eigenem Unternehmen, betätigte sich in Großbritannien Theodor (»Teddy«) Schüller (1910 Wien – 1997 Oxford).1130 Aufgewachsen und als Diplomatensohn hervorragend ausgebildet in Wien, war er nach dem Studium 1930 nach Berlin gegangen und dort zwei Jahre lang als Privatsekretär von Louis-
1129 Rosenberg war nach einem 1928 mit der Promotion bei Wilhelm Pinder abgeschlossenen Kunstgeschichte-Studium zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft am Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Berlin und danach drei Jahre lang bis zu ihrer Entlassung aus »rassischen« Gründen im Ullstein-Verlag tätig gewesen, wo sie in der Bildredaktion wichtige Erfahrungen sammeln konnte. Nach kurzzeitiger Mitarbeit für die Zeitschrift Der Zionist war sie Ende 1939 nach England emigriert. 1130 Vgl. zum Folgenden Nyburg: Émigrés, S. 84‒87, sowie Nyburg: Kunstbuchproduktion in Oxford, S. 403 f.
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Ferdinand Ullstein (1863‒1933), dem strategischen Lenker des Presse- und Buchkonzerns, tätig gewesen. Anschließend ging er nach London, wo er eine akademische Laufbahn anstrebte, die ihm aber verwehrt blieb. Er wurde, anglophil und mit perfekten englischen Sprachkenntnissen, bereits 1939 naturalisiert und blieb daher auch von der Internierung verschont. Schon während des Krieges in London für die Oxford University Press tätig, erarbeitete er später – nunmehr in Oxford – für den Verlag das Konzept für zwei hochbedeutende, Maßstäbe setzende Nachschlagewerke: The Oxford Companion to Art und The Oxford History of English Art [OHEA]. Während aber das erstere nach jahrzehntelanger Vorbereitung in einem rund 1.300 Seiten starken Band erst 1970 erschien, kam letzteres (in der zur Oxford University Press gehörenden Clarendon Press) in neun Bänden 1949 bis 1978 heraus. Diese Werke waren nicht für Fachleute, sondern für ein breites Publikum konzipiert – für Ausstellungsbesucher, Sammler, Studierende aller Richtungen, öffentliche Bibliotheken u. a. m. Ungeachtet dieser Ausrichtung auf leicht fassliche Information suchte Schüller für beide Großprojekte herausragende Wissenschaftler als Autoren zu gewinnen, was ihm umso eher gelang, als er beste Beziehungen zu den aus Deutschland und Österreich nach Großbritannien geflüchteten Kunsthistorikern unterhielt: Mit Ernst Gombrich, der als Berater fungierte, war er in Wien zur Schule gegangen, und auch zum Warburg Institute hatte er guten Kontakt, u. a. zu Rudolf Wittkower, Nikolaus Pevsner, Otto Pächt und nicht zuletzt zu Otto Kurz, der mit Schüllers Kusine Hilde verheiratet war. Die wissenschaftlichen Qualitätsstandards waren somit außerordentlich hoch, wofür auch Gombrich durch eine überaus kritische Durchsicht der Einträge sorgte. Unter Schüllers Herausgeberschaft gerieten die beiden Großprojekte zu Meilensteinen der Kunstvermittlung im Buch.1131
Die Focal Press, London, ein Fotografie-Verlag Eine Erfolgsgeschichte besonderer Art repräsentierte der auf das Thema Fotografie spezialisierte Verlag Focal Press in London, der 1938 von Andor Kraszna-Krausz* (1904 Szombathely / Österreich-Ungarn – 1989 Buckinghamshire / GB) gegründet wurde.1132 Kraszna-Krausz hatte in München Filmtechnik studiert und dort, später auch in Berlin, seit 1925 als Filmpublizist gearbeitet; bis 1936 gab er für den Verlag Wilhelm Knapp, damals der führende Film und Fotografie-Verlag Deutschlands, das Magazin Die Filmtechnik heraus. Kraszna-Krausz lieferte auch Beiträge für Die Weltbühne. 1937 flüchtete er nach Großbritannien und da er keine Anstellung in einem Verlag fand, startete er von seinem Wohnzimmer aus gemeinsam mit seiner Frau Irma ein eigenes Verlagsunternehmen, das mit seinem Programm eine wichtige Nische besetzte. Zu den ersten Veröffentlichungen gehörten 1938 Übersetzungen von zwei Fotografieranleitungen, die 1935/1936 bei Knapp (mit dem er auch in herstellerischer Hinsicht immer noch in Verbindung stand) in Halle erschienen waren (Snaps of Children and How to Take Them
1131 Eine Art »Remake« des Oxford Companion to Art erschien 1997 bis 2013 als Oxford History of Art in dreißig Bänden. 1132 Siehe Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 203; Dorner: Andor Kraszna-Krausz: Pioneering Publisher in Photography; Nyburg: Émigrés, S. 127 f. und 145 f.
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sowie A Good Picture Every Time, beide von Alex Strasser). Das von Rudolf Arnheim verfasste Buch Phototips on Children: The Psychology, the Technique and the Art of Child Photography kam 1939 heraus; mit Arnheim, obwohl publizistischer Konkurrent, war Kraszna-Krausz lebenslang befreundet. Eine der berühmt gewordenen Publikationen des Verlags war The All-in-One Camera Book von Walter Daniel Emanuel, ebenfalls 1939 zuerst erschienen, 1946 bereits in 10. Auflage vorliegend und letztlich in einer Weltauflage von mehr als einer Million Exemplaren verkauft – ein frühes Beispiel für Bücher, die das Thema Fotografie für ein großes Publikum in leicht verständlicher Form aufbereiteten, dabei aber außerordentlich sorgfältig recherchiert, lektoriert und gestaltet waren. Kraszna-Krausz brachte auch Literatur für Berufsfotografen und für Kenner und Liebhaber dieses Genres heraus, so auch großformatige Bücher über die Geschichte der Fotografie im 19. Jahrhundert. Focal Press hatte sowohl wissenschaftliche Werke und technische Handbücher im Programm wie kunsthistorische Fotobücher (z. B. Focal Encyclopedia of Photography), und begleitete die (audio)visuelle Medienentwicklung des 20. Jahrhunderts. Der Verlag wurde zwar in den 1960er Jahren von der Pitman Publishing Corp. übernommen, doch blieb Kraszna-Krausz bis 1978 Verlagsleiter und sicherte dem Unternehmen den Rang des weltweit führenden Verlages für Fotografie, Film und Fernsehen. 1979 wurde Focal Press Teil von Butterworths bei Reed (heute Reed Elsevier). Bis 1989, dem Todesjahr Kraszna-Krausz’, hatte Focal Press mehr als 1.200 Titel produziert und mehr als 50 Millionen Bücher verkauft. Kraszna-Krausz, der sich im Lebensstil als echter, leicht exzentrischer Englishman der Upperclass gerierte, erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1989 die Ehrendoktorwürde der Bradford University; dem National Media Museum in Bradford hatte er seine mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek als Schenkung überlassen. Die 1983 gegründete Kraszna-Krausz-Foundation vergibt seit 1985 jährlich die »And / or Book Awards« für herausragende Fotound Filmbücher. In einem von berufener Seite verfassten Nachruf hieß es von KrasznaKrausz, er habe mehr Einfluss auf die Kunst und die Wissenschaft der Fotografie gehabt als irgendjemand sonst auf der Welt.1133
Schweiz Holbein Verlag, Basel 1924 hatte der Trierer Kunsthistoriker Hermann Loeb* (1897‒1963) den Prestel Verlag gegründet und ihn mit Faksimilemappen zu Handzeichnungen alter Meister, wissenschaftlich fundierten Katalogen bedeutender Sammlungen und Jahrbüchern großer Museen erfolgreich aufgebaut.1134 Nach der NS-»Machtergreifung« sah sich Loeb aufgrund von Repressalien gezwungen, Deutschland zu verlassen; er ging noch 1933 in die Schweiz, wo er in Basel mit Hilfe von Schweizer Freunden die (bis 1956) bestehende
1133 So Gordon Graham: Only a Link in the Chai: A Tribute to a Great Publisher. In: The Bookseller, no. 3858, 1 December 1979, p. 2454 (»[he] had more influence on the art and science of photography than anyone else in the world«); hier zit. n. Nyburg: Émigrés, S. 127. 1134 SStAl, BV, F 4147 (umfangreiche Mappe); 1924‒1984 Prestel Verlag.
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Holbein-Verlags-AG gründete. Der Verlag stand bis Kriegsbeginn mit grenzüberschreitenden Co-Editionen in engen Geschäftsbeziehungen zum Prestel Verlag, für den Loebs Frau Annemarie Loeb-Cetto in Frankfurt nach wie vor Prokura hatte. Seine GmbHAnteile hatte er am 21. September 1933 seinem langjährigen Mitarbeiter Hans König übertragen, der ab diesem Zeitpunkt als Geschäftsführer eingesetzt war. Zum 31. Dezember 1935 wurde Loebs Mitgliedschaft im Bund Reichsdeutscher Buchhändler gestrichen, er fand nun – eine Ausnahme von der sonstigen Vorgangsweise – am 1. Februar 1936 Aufnahme in den Schweizerischen Buchhändlerverein. Seine (inzwischen geschiedene) Frau emigrierte nach einer Warnung des Freundes Peter Suhrkamp erst 1939, nachdem sie auch die Anteile von Hans König übernommen hatte, in die Schweiz. Der nun faktisch führerlose Prestel Verlag geriet ins Schlingern und wurde schließlich durch den Aachener Juristen Paul Capellmann fortgeführt, der frisches Kapital zur Verfügung stellte und das Unternehmen, mit dem Papiergroßhändler Karl Hartmann als Kommanditisten, nach München transferierte; die Kooperationsvereinbarungen mit dem Holbein Verlag, dessen Produktion nach Möglichkeit nach Deutschland übernommen werden sollte, blieben dabei im Prinzip aufrecht.1135 Im Programm des Baseler Holbein Verlags bildete sich ein Schwerpunkt in der Zusammenarbeit mit dem bedeutenden, in die Schweiz emigrierten Typographen Jan Tschichold heraus. Von Tschichold erschienen neben einer Geschichte der Schrift in Bildern (1941; 2., veränd. und erw. Aufl. 1946) eine Reihe von als Blockbücher gedruckten, mit Faksimiles in Originalgröße ausgestatteten Büchern, in denen sich dessen aktuelles Interesse an chinesischer Bild- und Druckkunst manifestierte (Der frühe chinesische Farbendruck, 1940; Lehrbuch des Senfkorngartens. Chinesische Farbendrucke […], 1941; Der Holzschneider und Bilddrucker Hu Chêng-yen. Mit 16 Faksimiles nach Blättern der Zehnbambushalle. 1943; Chinesische Farbendrucke der Gegenwart, 1945; Chinesisches Gedichtpapier vom Meister der Zehnbambushalle, 1947). Tschichold betreute auch einige Bücher des Verlags typographisch und mit Umschlagentwürfen, so den von Max Huggler und Anna Maria Cetto erstellten Band Schweizer Malerei im neunzehnten Jahrhundert (1942) oder Luitpold Dusslers Monographie Sebastiano del Piombo (1942). Ein weiterer Programmschwerpunkt ergab sich aus der Kooperation mit dem Kunsthistoriker Paul Wescher, der 1933 nach Paris geflüchtet und 1939 in die Schweiz gelangt war, ehe er dann 1948 in die USA ging und dort 1953 bis 1959 als Direktor des J. Paul Getty Museums wirkte. Von ihm erschienen bei Holbein Großkaufleute der Renaissance. In Biographien und Bildnissen (1941), Schweizer Künstler-Anekdoten aus zwei Jahrhunderten (1942), Goya (»Schatzkammer der Malerei«; in Mappe, 1943) sowie das bedeu-
1135 Im Prestel Verlag wurden während der Kriegsjahre jedoch nur wenige Titel veröffentlicht; 1944 wurden sowohl das Münchner Büro als auch die nach Leipzig ausgelagerten Buchbestände durch Bombenangriffe zerstört. Nach dem Krieg und dem Tod Paul Capellmanns 1947 waren es dann dessen Frau Georgette und der neue Verlagsleiter Gustav Stresow, die den Verlag zu neuer Blüte führten. Innovative Konzepte für das Kunstbuch und die bald sehr beliebten »Landschaftsbücher« trugen dazu ebenso bei wie internationale Koproduktionen; hier war es der umtriebige Exilverleger Kurt L. Maschler, der den ersten Kontakt zu Penguin in Großbritannien herstellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Hermann Loeb dem Münchener Prestel Verlag wieder in beratender Funktion zur Seite.
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tende Werk Jean Fouquet und seine Zeit (1945, frz.sprachige Ausgabe: Jean Fouquet et son temps, 1947). Bereits seit 1939 hatte Loeb in seinem Holbein Verlag die Serie »Schatzkammer der Malerei« herausgebracht, eine Serie mit jeweils acht (bei Goya: neun) Bildern in Farbwiedergabe und einer kurzen Einführung, in der Landschaften und Feste in der französischen Malerei des achtzehnten Jahrhunderts (1939, Einführung von Erwin Gradmann), Das Bildnis in der französischen Malerei des achtzehnten Jahrhunderts (1939, Einführung von Henri Puvis de Chavannes), Delacroix (1940, Einführung von Pierre Courthion), Renoir (1940, Einführung von Germain Bazin in Übersetzung von Anna Maria Cetto) sowie der oben erwähnte Goya-Band von Paul Wescher erschienen. Erwähnung verdienen auch von Karl Schefold Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker (1943) sowie Französische Meisterzeichnungen des 19. Jahrhunderts (Einführung und Auswahl von Klaus Berger, 1949). Der Holbein Verlag hat das Verdienst, einen hohen qualitativen Standard im Schweizer Kunstbuchverlag eingeführt zu haben. Anfang der 1960er Jahre gründete Hermann Loeb in Basel noch einmal ein Verlagsunternehmen, den Phoebus-Verlag, der allerdings bald nach dem Tod des Verlegers 1963 wieder eingestellt wurde. In seiner kurzen Bestandsdauer brachte er von Fritz Buri Die Bilder und das Wort am Basler Münster (mit Fotografien von Peter Heman, 1961), von Martin Butlin J. M. W. Turner: Aquarelle (Übersetzung der engl. Originalausgabe von Gerd Schiff, 1962) sowie von Georg Schmidt Schriften aus 22 Jahren Museumstätigkeit (erschienen 1964) heraus.
Verlag S. A. W. Schmitt, Zürich Erst fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand der Verlag S. A. W. Schmitt, mit Sitz in Zürich und Viernheim. Sein Gründer, Samuel Schmitt (1920 Viernheim / Hessen – 2002 Zürich), der – pietistisch erzogen – schon als Jugendlicher mit dem NSRegime in Konflikt geraten war, hatte 1936‒1938 die Handelsschule in Basel besucht, erhielt dort aber keine Lehrstelle und musste zurück nach Deutschland.1136 Nachdem ihm 1939 die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, weil er den Militärdienst verweigert hatte, gelang ihm als Rheinschiffsjunge die Flucht nach Belgien. 1940 wurde er nach Frankreich zwangsverschickt und in Internierungslagern festgehalten, bis ihm im Oktober 1942 die Flucht in die Schweiz glückte. Dort wurde er erneut interniert und arbeitete u. a. in der Redaktion einer Arbeitslagerzeitschrift (Über die Grenzen), dann bei Bauern und in einer Schlosserwerkstatt. Ab 1945 erschienen seine ersten eigenständigen Veröffentlichungen. 1949 war Schmitt in Deutschland als Vertreter des Luzerner Verlags Kunstkreis unterwegs, doch schon 1950 gelang es ihm, einen eigenen Verlag zu errichten. Im Verlag S. A. W. Schmitt kamen unter anderem qualitätvolle Farbreproduktionen sowie bibliophile Drucke (1958 die Zürcher Kassette, mit 38 Autoren und Grafikern, 1972 die
1136 Ein Teilnachlass Schmitts befindet sich im Deutschen Exilarchiv / DNB: EB 88/153 (Korrespondenz, u. a. mit Bernard von Brentano, Richard Friedenthal, Kurt Hirschfeld, Kurt Kersten, Hans Siemsen; Lebensdokumente, insbesondere zur Internierung in Frankreich und der Schweiz). Siehe auch: Ach, Sie schreiben deutsch? Biographien deutschsprachiger Schriftsteller des Auslands-PEN, S. 108 f.
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Kassette Über die Grenzen, mit 21 Künstlern) heraus, ebenso eigene Werke. Seit 1947 war Schmitt Mitglied des deutschen Exil-PEN in London.
Belgien Éditions de la Connaissance, Brüssel Schon Jahre vor dem »Anschluss« Österreichs war Ernst Goldschmidt* (1906 Tajkowitz / Mähren – 1992 Brüssel), der in Wien in Kunstgeschichte promoviert und auch eine drucktechnische Ausbildung erfahren hatte, nach Brüssel übersiedelt. Dort fand er eine Anstellung am Museum Oude Kunst, gründete dann aber im November 1936 die Éditions de la Connaissance, ein Verlagshaus für Kunstbücher, an der Adresse 33, Pl. Brugmann; sein Codirektor war der belgische Architekt Marcel Schmitz. Nach Armeedienst im Zweiten Weltkrieg setzte Goldschmidt seine verlegerische Tätigkeit bis zu seinem 75. Lebensjahr fort. Die Kunstbücher (zur flämischen Malerei, zur deutschen Kunst des Mittelalters, über James Ensor u. v. a. m.) und Ausstellungskataloge waren ebenso geschätzt wie die seit 1956 erschienene internationale Kunstzeitschrift Quadrum. Goldschmidt vermachte seine 25.000 Stücke umfassende Sammlung an Kunstkatalogen und Kunstbüchern dem Musée d’Art Contemporain de Marseille (Centre de Documentation Ernst Goldschmidt).
USA Chanticleer Press, New York Mit Wolfgang Foges und der Adprint Ltd. verbunden war der ebenfalls aus Wien stammende Paul Steiner* (Wien 1913 – New York 1996). Steiner hatte in Wien nach Beendigung eines Studiums der Rechtswissenschaften Anfang 1938 eine Stelle als Chefredakteur des Moderne Welt Verlags angetreten, musste aber bereits im März desselben Jahres nach der Annexion Österreichs aufgrund seiner jüdischen Herkunft diese Stelle aufgeben.1137 Nach Zwangsarbeit und Inhaftierung gelang ihm im September 1938 die Flucht in die Niederlande, nach Internierung und drohender Ausweisung nach Österreich konnte er schließlich im Dezember in die USA entkommen. Seinen Lebensunterhalt suchte er zunächst als Staubsaugervertreter und Dachdecker zu verdienen. 1941 baute er für seinen nach England emigrierten Jugendfreund Foges, der in Wien ebenfalls im Moderne Welt Verlag tätig gewesen war, in New York eine Zweigstelle von dessen »book packaging«Unternehmen Adprint Ltd. auf, die er bis 1951 leitete; 1952 übernahm er die Geschäfte in eigene Regie und änderte den Namen des Unternehmens in Chanticleer Press. Unter diesem Label war er weiterhin, als der erste Packager in den USA, hauptsächlich als Dienstleister für andere Verlage tätig, für die er komplette Buchprojekte realisierte; später hat sich dieses Verfahren international etabliert. Dass er in dieser Hinsicht seinem
1137 Eine unveröffentlichte Autobiographie Steiners liegt im Typoskript im New Yorker Leo Baeck Institute (Acc. No. ME 938).
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Freund Foges viel verdankte, war sich Steiner sehr bewusst; in einem Brief vom 30. November 1964 nannte er Foges einen »Wegbereiter for us all« und erklärte am 28. März 1985 im Zusammenhang mit dem Erfolg einer von Chanticleer Press produzierten Naturführerreihe: »You and [Walter] Neurath and I have been in the forefront and have done pioneer work in using color photography for identification in nature guides«.1138 Als Alleininhaber und Präsident der Chanticleer Press brachte Steiner von Anfang an aber (neben Kinderbüchern von Marie Neurath) auch kunstgeschichtliche Literatur heraus, so von Stanley Cursiter Scottish Art to close the 19th century (1949), von Frederick S. Wight Milestones of American painting in our century (1949) oder Kataloge und monographische Bücher über Oskar Kokoschka (1948) und Edvard Munch (1950). Später verschob sich der Schwerpunkt auf naturgeschichtliche Themen, etwa mit der in 16 Bänden erschienenen Serie North American Nature. Indem die Chanticleer Press dazu überging, großformatige, buchästhetisch aufwändige Fotobildbände zu produzieren, gab sie dem Typus des »coffee table books« in den USA entscheidende Impulse. Einen besonderen Erfolg erzielte Steiner in den 1970er Jahren mit einem in seiner Anlage neuartigen Führer durch die amerikanische Vogelwelt, dem National Audubon Society’s Field Guide in zwei Bänden; mehr als 10 Millionen sind von diesem Guide und den daraus abgeleiteten Pocket Guides verkauft worden. In diesem für den Verlag A. Knopf produzierten Projekt wurden erstmals anstelle gezeichneter Vogeldarstellungen Fotografien verwendet; auch folgte die Systematisierung der Vogelwelt nach Größe, Form und Farbe anderen Kriterien als den bisher üblichen nach Gattungen und Arten. Chanticleer stellte noch andere bemerkenswerte Reihen her, wie die Collins Bird Guides of Britain and Europe, Wildlife Habitat oder Taylor’s Guides to Gardening. Von den monographischen Werken erscheinen hervorhebenswert Mary McCarthys Stones of Florence, Edward Steichens Life in Photography und Peter Matthiessens African Experience. Paul Steiner, der schon seit 1945 die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und auch mit dem TaschenbuchTycoon Kurt Enoch befreundet war, war seit 1976 Vorstandsmitglied des American Institute of Graphic Arts. In einem Nachruf in der New York Times wurde Steiner als ein Verleger charakterisiert, »who helped reshape the publishing business in the United States and made the illustrated coffee table book an industry staple«.1139 Ergänzend wäre darauf hinzuweisen, dass Steiners unternehmerischer Aktionsradius keineswegs auf die USA beschränkt blieb; er arbeitete auch mit zahlreichen Firmen in Europa zusammen und unterhielt z. B. eine längere Kooperation mit dem Verlag Droemer Knaur in Deutschland.
1138 Den Zugang zu diesen Quellenzitaten, die aus den Foges-Materialien in der Wiener Library stammen, verdanke ich Silke Körber. Ihren Recherchen zufolge legen diese Materialien die Annahme nahe, dass die Gründung der Chanticleer Press in New York bereits früher erfolgte als bisher angenommen. Dafür sprechen auch die Erscheinungsjahre der oben angeführten Titel 1948 bis 1950. Siehe auch Silke Koerber: Paul Steiner (1913–1996). Influential Book Packager of Non-Fiction Books and Founder of Chanticleer Press, Inc. and Chanticleer Co. In: Transatlantic Perspectives [online]. 1139 Robert Mcg. Thomas jr.: Paul Steiner, Who Popularized Coffee Table Books, dies at 83. In: New York Times, 11 Mar. 1996 [online].
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Wittenborn & Comp., New York Otto Wittenborn, der in Manhattan eine der bedeutendsten Kunstbuchhandlungen in den USA führte,1140 betrieb daneben auch einen Verlag, in welchem er illustrierte Kunstbücher in kleinen Auflagen herausgab. Der erste bei Wittenborn & Comp. (seit 1955 George Wittenborn, Inc.) verlegte Titel war Mythology of being (1942) mit Texten und Zeichnungen des Surrealisten André Masson, mit dem Wittenborn seit seiner Zeit in Paris befreundet war. Zum bedeutendsten Verlagsprojekt wurde in Zusammenarbeit mit den Herausgebern Robert Motherwell und Bernard Karpel die Reihe »Documents of Modern Art« (1944‒1972).
Twin Prints, The Twin Editions Robert Freund* (1887 Saaz / Böhmen – 1952 New York), der 1926 als Teilhaber in den in finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Münchener R. Piper Verlag & Co. eingetreten war und diesen aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1936 verlassen musste, hatte im gleichen Jahr in Wien mit zwei Geschäftspartnern einen belletristischen Verlag, den Bastei Verlag, gegründet.1141 1938/1939 war er über die Schweiz und Paris in die USA gelangt und gründete in New York die »Twin Prints« und »The Twin Editions«, zwei Reihen mit Gemäldereproduktionen, ähnlich den »Piperdrucken«. Mit den qualitativ hervorragenden Farbdruckwerken konnte er einen großen Erfolg verbuchen.1142 Ab 1944 nahm Freund auch Kunstbücher in das Programm auf; so erschien dort von Lionello Venturi The Rabinowitz Collection (1945) oder von Charles de Tolnay The drawings of Pieter Bruegel the Elder (»with a critical catalogue«; o. J., mit der Verlagsort-Angabe New York, Salzburg). Nach Inkrafttreten der Wiedergutmachungsgesetze bemühte sich Freund erfolglos, erneut bei Piper einzusteigen. Nach seinem Tod übernahm die New York Graphic Society die »Twin Editions«.
Kunstgalerien mit Verlagstätigkeit Anders als der bedeutende Kunsthändler, Zeitschriften- und Buchverleger Alfred Flechtheim* (1878 Münster – 1937 London), der nach seiner Flucht nach Großbritannien 1933 bis zu seinem Tod nicht mehr als Kunstbuchverleger hervortrat,1143 und auch anders als Franz Bader* (1903 Wien – 1994 Washington), der in Wien als »nichtarischer« Gesell-
1140 Vgl. den entsprechenden Abschnitt im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 1141 Siehe auch Hall: Österreichische Verlagsgeschichte II (1985), S. 74‒77; 75 Jahre Piper, S. 44‒51; Ziegler: 100 Jahre Piper. Siehe auch das Kap. 5.2.1 Belletristischer Verlag. 1142 Robert Freund: Prints Like Twins. Color collotype reproductions. In: Newsweek, July 27, 1942, S. 62; Edelman: Other Immigrant Publishers of Note in America, S. 200 f. 1143 Dazu Vömel: Alfred Flechtheim, Kunsthändler und Verleger; Alfred Flechtheim – Sammler, Kunsthändler, Verleger; Dascher: Die Ausgrenzung und Ausplünderung von Juden. Der Fall der Kunsthandlung und des Kunsthändlers Alfred Flechtheim; Dascher: Alfred Flechtheim ‒ Kunsthändler, Sammler und bibliophiler Verleger; Jentsch: Alfred Flechtheim – George Grosz; Flechtheim: »Nun mal Schluß mit den blauen Picassos«; Dascher: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst«; Alfred Flechtheim: Raubkunst und Restitution.
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schafter der traditionsreichen Wallishausser’schen Buchhandlung nach der Annexion Österreichs seine Anteile abgeben musste und, 1939 in die USA emigriert, in Washington nur noch eine Galerie mit angeschlossener Kunstbuchhandlung betrieb,1144 schloss Curt Valentin* (1902 Hamburg ‒ August 1954 Forte de Marmi) in seine berufliche Tätigkeit als Galerist auch den Verlag von Ausstellungskatalogen und Künstlerbüchern in limitierten Auflagen ein: vor seiner Emigration in die USA 1936 in leitender Stellung in den Kunsthandlungen von Alfred Flechtheim und Karl Buchholz in Berlin,1145 eröffnete Valentin unter Beteiligung von Buchholz im März 1937 in New York City die Buchholz Gallery Curt Valentin und erlangte mit dem Handel von Werken der von den Nationalsozialisten geächteten »Entarteten Kunst« internationale Aufmerksamkeit. Seit Anfang der 1950er Jahre betrieb Valentin die Galerie selbständig unter seinem Namen, kuratierte Ausstellungen und verlegte unter dem Label Curt Valentin Gallery auch Publikationen zu Paul Klee, Gerhard Marcks oder Auguste Rodin. Als Mitarbeiter, später Vorstandsmitglied und Mitinhaber in den 1920er Jahren den Unternehmen von Paul Cassirer eng verbunden,1146 führte Walter Feilchenfeldt* (1894 Berlin – 1953 Zürich) nach dessen Selbstmord im Januar 1926 die renommierte Firma zusammen mit Grete Ring, die ebenfalls Teilhaberin des Verlages und der Kunsthandlung war, bis zu seiner Emigration 1933 in die Niederlande fort. Dort übernahm er als Rechtsnachfolger des Paul Cassirer Verlages die Leitung der bereits 1923 gegründeten holländischen Filiale Amsterdam’sche Kunsthandel Paul Cassirer, während Ring die englische Zweigniederlassung in London leitete. Bei Kriegsausbruch befand sich Feilchenfeldt zufällig in der Schweiz; dieser Umstand bewahrte ihn vor der nationalsozialistischen Verfolgung, zwang ihn aber zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre, sich in einem neuen Land eine Existenz aufzubauen; die holländische Firma wurde nun von Helmuth Lütjens, einem langjährigen Mitarbeiter, geleitet. In der Schweiz, wo ihm als Immigrant während des Krieges eine Firmengründung untersagt war, agierte Feilchenfeldt innerhalb der buchhändlerischen und verlegerischen Emigrantenszene als Vermittler; belegt ist, dass er sich bei Emil Oprecht dafür verwendete, dass der Zürcher Verlag Oprecht & Helbling die früher bei Cassirer erschienenen Bloch-Titel zur Auslieferung übernahm. Erst nach Kriegsende wurde Feilchenfeldt eine Arbeitserlaubnis erteilt; 1947 eröffnete er in Zürich die Firma Kunsthandel Walter Feilchenfeldt, die sich unter seiner Leitung zu einem der Hauptumschlagplätze für Werke der Impressionisten entwickelte. Nach seinem Tod wurde die Galerie von seiner Frau bis 1990 weitergeführt; sein 1939 in Amsterdam geborener Sohn Walter ist seit 1966 in der bis heute existierenden väterlichen Firma tätig.1147 1144 SStAL, BV, F 10094; Die Verlagsbuchhandlung Johann Baptist Wallishausser, 1784 bis 1964 [online]; Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 106‒115; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien (2003), S. 53. 1145 Godula Buchholz: Karl Buchholz. Buch- und Kunsthändler im 20. Jahrhundert. Sein Leben und seine Buchhandlungen und Galerien Berlin, New York, Bukarest, Lissabon, Madrid, Bogotá. Köln: Dumont 2005; Curt Valentin Papers in The Museum of Modern Art Archives, 1937‒1955 [Finding aid online]. 1146 Siehe in diesem Kapitel weiter oben den Abschnitt zu Bruno Cassirer. 1147 Siehe Konrad Feilchenfeldt, Rahel Feilchenfeldt-Steiner: Walter Feilchenfeldt als Verleger; Marianne Feilchenfeldt Breslauer: Bilder meines Lebens; Rahel E. Feilchenfeldt / Brandis: Paul-Cassirer-Verlag Berlin 1898–1933.
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Als Buchhändler in Wien war Harry R. Fischer* (ursprgl. Heinrich F., 1903 Wien – 1977 London) tätig gewesen,1148 bis er 1946 gemeinsam mit einem anderen Wiener Emigranten, Frank K. Lloyd (vormals Franz Kurt Levai),1149 in der Old Bond Street die Kunstgalerie Marlborough Fine Art gründete, die in ihren Anfängen auch mit »rare books, prints and pictures« handelte, mit der Zeit jedoch zu einer der weltweit größten Galerien für moderne Kunst wurde und seit Beginn der 1960er Jahre Zweigstellen in New York und Rom besitzt. Fischer machte sich mit Ausstellungen insbesondere um Nolde und Kokoschka auf dem internationalen Kunstmarkt verdient. Im Verlag der Galerie erschien eine Reihe von Katalogen, zu den beiden genannten Künstlern, aber auch zu Klimt, Schiele, Henry Moore, Horst Janssen u. a. m. 1971 verließ Fischer die Galerie im Unfrieden, noch bevor sich diese in eine skandalumwitterte Auseinandersetzung mit den Erben des Malers Mark Rothko verwickelte, und gründete noch im selben Jahr zusammen mit seinem Sohn Wolfgang G. Fischer, der bis dahin schriftstellerisch tätig gewesen war, eine neue Galerie, Fischer Fine Art, die er bis zu seinem Tod mit Erfolg leitete. Auch Fischer Fine Art war durch Herausgabe zahlreicher Ausstellungskataloge verlegerisch aktiv; die Themenspannweite reichte hier von Josef Hoffmann und der Wiener Werkstätte über Egon Schiele, Paul Klee oder Picasso bis Wolfgang Mattheuer und Karl Korab. In einem weiter gefassten Verständnis des Kunstverlag-Themas verdient auch die nachmals weltberühmte Fotoagentur Black Star Erwähnung, die von Kurt Kornfeld* (1887‒1967 New York), Ernst Mayer* (1893 Bingen – 1983 New York) und Kurt S. Safranski* (1890 Berlin – 1964 Kingston b. New York) 1935 in New York errichtet worden ist.1150 Alle drei hatten vor ihrer Emigration in Verlagen gearbeitet bzw. selbst Verlage betrieben, wie Kornfeld mit dem auf den Vertrieb von Feuilletonromanen an Zeitungen spezialisierten Carl Duncker Verlag; besonders Mayer (Mauritius Verlag, Berlin) und Safranski (Ullstein) hatten auch im Bereich Fotografie und Zeitschriftenillustration Erfahrungen gesammelt. Als sie sich im Exil zur Gründung eines gemeinsamen Unternehmens zusammentaten, war es Kornfeld, der den Namen Black Star Publishing Company vorschlug, weil er in ihr die Tätigkeit einer Bildagentur mit jener eines Buch-
1148 Fischer hatte nach einer Buchhändlerlehre seit 1923 in Wien in bester Innenstadtlage eine eigene Buchhandlung betrieben, mit der er auch verlegerisch tätig wurde. Von 1931 bis 1935 war er Teilhaber der Buchhandlung Berger und Fischer, von 1935 an Teilhaber der Buchhandlung Friedrich Wilhelm Frick. Pläne, zusammen mit Walter Neurath (siehe den Abschnitt zu Thames & Hudson) einen eigenen Verlag zu gründen, scheiterten aufgrund der politischen Entwicklung. Nach der Annexion Österreichs 1938 emigrierte Fischer zunächst nach Zagreb, dann nach London. Nach Internierung und Kriegsdienst war er 1944/ 45 als Journalist für die Financial Times und als Mitarbeiter im Austrian Centre in London tätig. 1945 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an und fand eine Anstellung als Buchhändler in der Londoner St. George’s Gallery, ehe er mit Frank K. Lloyd die Kunstgalerie Marlborough Fine Art gründete. 1149 Siehe den Nachruf auf Frank Lloyd in: New York Times, April 8, 1998. 1150 Zur Agentur Black Star vgl. Smith: Emigré Photography in America; vor allem aber Phoebe Kornfeld: Passionate Publishers: The Black Star Photo Agency Founders: Ernest Mayer, Kurt Safranski, and Kurt Kornfeld – Catalysts of the American Revolution in Photojournalism (im Erscheinen).
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verlags verbinden wollte. Zu verlegerischer Aktion kam es allerdings nicht bzw. erst drei Jahrzehnte später, und auch dann nur in begrenzter Form, mit Büchern zum Thema Fotografie. Tatsache bleibt, dass die Erfolgsgeschichte großer US-amerikanischer Magazine wie TIME / LIFE oder Times Magazine undenkbar gewesen wären ohne die Agentur Black Star mit ihrem aus Deutschland mitgebrachten Knowhow auf dem Feld des Fotojournalismus.
5.2.6
Musikverlage
Zur spezifischen Situation des Musikverlagswesens vor und nach 1933 Das in Deutschland und Österreich hochentwickelte Musikverlagswesen, das trotz Erstem Weltkrieg, Inflation und Wirtschaftskrise eine weltweit führende, in manchen Bereichen hegemoniale Stellung einnahm, wurde nach 1933 bzw. 1938 in wichtigen Teilen zerschlagen.1151 Die Verlagssparte umfasste zum Zeitpunkt der NS-»Machtergreifung« mehr als 200 Musikverlage und noch einmal so viele Selbstverlage und nebenberufliche Musikverleger, mit einer starken Zentrenbildung in Leipzig und Berlin. Wenn diese Zahl dann weiter anstieg und 1939 rund 500 betrug, so hatte dies seine Ursache einerseits in der Mitgliedspflicht, der auch Selbstverleger oder nebenberufliche Musikverleger nachkommen mussten, andererseits im Hinzutreten der österreichischen Musikverlage nach dem »Anschluss« 1938.1152 Gleichzeitig waren gerade die größten und namhaftesten Unternehmen wie C. F. Peters, Anton J. Benjamin, Eulenburg oder in Österreich die Universal Edition AG, aber auch viele Unternehmen im Bereich der Unterhaltungsund Filmmusik von der rassistischen Verfolgung und den »Arisierungen« am stärksten betroffen. Diese florierenden Firmen hatten Begehrlichkeiten geweckt: Mit der Cautio Treuhand GmbH wurde auf Basis der »Arisierungen« eine Verlagsgruppe im Bereich Bühne, Film- und Unterhaltungsmusik geschaffen, die später größtenteils von ihrem Treuhänder Hans C. Sikorski aufgekauft wurde.1153 Ebenfalls durch »Arisierungen«, u. a. von C. F. Peters und der Universal Edition, haben Johannes Petschull und Kurt Hermann eine große private Verlagsgruppe gebildet.1154 Entsprechend hoch war die Zahl der aus diesen Unternehmen Vertriebenen: Fetthauer geht in ihrer für dieses Thema maßgeblichen Monographie von einer Zahl von mindestens 190 verfolgten Inhabern oder Mitarbeitern von Musikverlagen aus, von denen mindestens 94 die Flucht ins Ausland gelungen war, mindestens 85 davon in ein sicheres Exilland.1155 Jeweils mehr als ein Drittel
1151 Vgl. zum Folgenden das 2004 in 2. Auflage erschienene Standardwerk von Fetthauer: Musikverlage; zur Verfolgung der Musikverleger dort bes. Kap. 3, S. 94‒214; zum Exil der Musikverleger bes. Kap. 5, S. 294‒440. 1152 Vgl. Fetthauer, S. 60 f. 1153 Siehe dazu Fetthauer, Kap. 3.4, S. 132‒173. 1154 Fetthauer, Kap. 3.5, S. 173‒214. – Sowohl Sikorski und Petschull konnten, trotz der manifesten »Arisierungen« und ihrer Verstrickungen in den Raub jüdischen Eigentums, nach 1945 ihre gewichtigen Positionen wahren. 1155 Fetthauer, S. 294. Die Zahlen beziehen auch jene mit ein, die nicht als Musikverleger geflüchtet waren, aber im Exil zu solchen wurden.
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der Flüchtlinge landete in Großbritannien und den USA, andere nach Zwischenstationen in Österreich, der Tschechoslowakei, Frankreich und den Niederlanden in Palästina, Südamerika, Australien und noch manchen anderen Ländern. Die Voraussetzungen für eine Neuetablierung im Ausland waren für Musikverleger vergleichsweise günstig, weil manche schon vor 1933 Lehrzeiten außerhalb Deutschlands absolviert hatten bzw. regelmäßige Verbindungen, auch mit Zweigstellen und Repräsentanzen, unterhalten hatten. Auch konnten Exilverleger (wie auch ausländische Verlage) davon profitieren, dass viele als »Nichtarier« oder aus politischen Gründen geächtete Komponisten ihre verlegerische Heimat in Deutschland und den besetzten Gebieten verloren hatten und nach neuen Verlagsbeziehungen suchen mussten.1156 Exilierte Musikverleger leisteten Wesentliches für die Rezeption zeitgenössischer Musik in ihren Asylländern. Nicht zuletzt wirkte sich vorteilhaft aus, dass die »Sprache der Musik« von vornherein international verständlich war und so (weitgehend) eine Barriere entfiel, die es am Buchmarkt zu überwinden galt. Im Durchschnitt waren Musikverleger auch, trotz der erlittenen Verluste durch Liquidation und »Arisierung« der Firmen, materiell besser gestellt, zumal wenn es ihnen gelungen war, rechtzeitig Verlags- und Aufführungsrechte ins Ausland zu transferieren. Gerade der Bereich der Musikrechte war immer schon stärker auf Internationalität gepolt, nicht nur in der E-Musik, sondern in weiten Teilen auch im Unterhaltungssektor. Es gab aber noch eine andere, gegenläufige und für die globale Musikkultur durchaus folgenreiche Entwicklung: Wer als emigrierter Musikverleger auf keinerlei Rechte zurückgreifen und auch keine Kontakte zu Komponisten reaktivieren konnte, dem blieb die Möglichkeit, sich auf jene Felder zu konzentrieren, auf denen alle Urheberschutzfristen längst abgelaufen waren und also weder Komponisten noch andere Verlage Rechte beanspruchen konnten. In diesem Zusammenhang kam es insbesondere in Großbritannien zu einer breiten Welle der Wiederentdeckung alter Musik, von Purcell, Bach, Händel oder Telemann, auch zur Wiederentdeckung bislang unbekannt gebliebener Kompositionen und Komponisten, ebenso zu einem neuen Interesse an werkgetreuen Notenausgaben dieser Musikliteratur. Auf solche Weise wirkte das deutschsprachige Exil ganz konkret auf das Musikleben in den Gastländern ein.1157 Für die Wiederherstellung der Verhältnisse im Musikverlagswesen nach 1945 in Deutschland lässt sich generell sagen, dass sie nicht geglückt ist, am wenigsten, was die Stellung Leipzigs und Berlins betrifft.1158 Die Verlagshäuser waren großenteils im Bombenkrieg zerstört worden, die zonale Teilung Deutschlands führte einerseits zum
1156 Vgl. dazu auch Fetthauer, S. 418–422. Als anschauliches Beispiel für die Probleme, die sich in den Komponisten-Verlegerbeziehungen im Exil typischerweise ergaben, wird von Fetthauer Arnold Schönberg herangezogen, dessen Hauptverleger nun G. Schirmer in New York wurde. Nach Konflikten vergab er aber neue Werke an andere Verlage wie Bomart und die C. F. Peters Corporation; auch stand er in Kontakt mit Associated Music Publishers, die wiederum mit der Universal Edition zusammenarbeitete. Auch in diesem Fall war Schönberg unzufrieden mit der Verfügbarkeit seiner Werke und der Tantiemenabrechnung. Siehe Fetthauer, S. 422–431. 1157 Zu den Wirkungsaspekten copyrightfreier Musik in Großbritannien vgl. Raab Hansen: NSVerfolgte Musiker in England, bes. S. 181‒196. 1158 Zum Folgenden vgl. Fetthauer, S. 446‒448.
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Exodus Leipziger Verlage in die Westzonen, andererseits dazu, dass sich voneinander unabhängige Ost- und Westbetriebe bildeten, wie bei Peters und Breitkopf & Härtel. Frühere Besitzer klagten auf Rückerstattung ihres Eigentums oder Entschädigung und mussten feststellen, dass sie langwierige Verfahren und oft auch unbefriedigende Bescheide in Kauf nehmen mussten.1159 Möglich waren diese Klagen auch nur in den Westzonen, denn in der SBZ gab es keine vergleichbaren Regelungen, vielmehr kam es hier bei den ehemaligen »jüdischen« Unternehmen zu weiteren Enteignungen von Staats wegen, um volkseigene Betriebe zu errichten. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Remigrationsrate bei den Exilmusikverlegern sehr gering blieb. Auch wer wieder die Leitung deutscher Unternehmen bzw. Unternehmensteile übernahm, wie die Brüder Max und Walter Hinrichsen, zog es vor, seinen Lebensmittelpunkt im Ausland zu belassen. Von den exilierten Komponisten hat sich allenfalls ein Sechstel zur Rückkehr nach Deutschland oder Österreich entschlossen; bezeichnend auch, dass sie in den Katalogen z. B. der Universal Edition nur am Rande vertreten waren. Ihre Werke finden sich überwiegend in den Katalogen der im britischen oder US-amerikanischen Exil gegründeten Verlage oder ihren Nachfolgeunternehmen. Insofern wirkt die Vertreibung der Musikschaffenden und ihrer Verleger in vielfältiger Hinsicht bis heute nach.
Großbritannien als Asyl für Musikverleger Dass viele der vertriebenen Musikverleger – anders als die Buchverleger – auf ihrer Flucht Großbritannien ansteuerten, war kein Zufall, boten sich doch insbesondere in London die relativ besten Bedingungen für die Neugründung eines Unternehmens, aber auch für Anstellungen in den bestehenden britischen Musikverlagen. Speziell mit Boosey & Hawkes und Novello & Co. bestanden vielfach bereits Kontakte und Geschäftsbeziehungen, etwa wenn an sie vor 1933 Alleinvertretungen des eigenen Programms vergeben worden waren. Musikverleger hatten auch weniger Probleme, in Großbritannien eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu erhalten; man erwartete von ihnen einen positiven Beitrag zur Belebung der Wirtschaft. Dieser Beitrag war auch absolut gegeben, nicht nur durch die Gründung von Unternehmen. Auch die alteingesessenen Firmen wussten zu schätzen, was die Exilanten an Wissen und – nicht zuletzt dann nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Neuaufbau eines Weltmarktes – an internationaler Vernetzung einbringen konnten. Auch war das deutsche und österreichische Musikverlags-
1159 Beispielsweise zog sich das Rückstellungsverfahren der Musikverlage von Franz Sobotka* (1884 Waltrowitz / Mähren – 1953 New York), der in Wien Inhaber des Sirius-Verlags, der Edition Bristol Musik- und Bühnenverlag sowie des Europaton Verlags gewesen war, wegen seiner Ehe mit einer Jüdin enteignet wurde und 1938 über die Tschechoslowakei in die USA geflüchtet ist, von 1947 bis weit nach seinem Tod hin. Als die Erben einen neuerlichen Antrag auf Rückstellung aller Verlags- und Werknutzungsrechte in die Wege leiteten, wurde der Antrag 1958 amtlich abgewiesen. Vgl. dazu Fetthauer, S. 500 f.; Österreichisches Musiklexikon [online]; Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 116‒124; Images Musicales Stories (http://blog.imagesmusicales.be/heinrich-strecker-vs-franz-sobotka/); Carla Shapreau: The Austrian Copyright Society and Blacklisting During the Nazi Era. In: The Orel Foundation, Articles & Essay [online].
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wesen in der Zeit vor 1933 moderner organisiert als die vergleichsweise schwerfälligen und eher auf den nationalen Markt ausgerichteten britischen Unternehmen, sodass es auch in dieser Hinsicht zu einem willkommenen Transfer an geschäftlichem Knowhow kam. Dass sich mit Beginn des Weltkriegs die Situation für die »enemy aliens« durch Internierungen sowie durch den »Trading with the Enemy Act« und den »Ban on Alien Composers« verschlechterte, unterbrach diese Entwicklungen, zumal sich (auch auf Vermittlung durch Emigranten) einige britische Verlage wie Novello weitere Alleinvertretungen deutscher Verlage verschafft hatten, wodurch nunmehr – mit der Möglichkeit, in Deutschland erschienene Werke ohne urheberrechtliche Schranken nachzudrucken – nach Kriegsende einige Konflikte vorprogrammiert waren. Insgesamt aber erhielt das britische Musikverlagswesen durch die Tätigkeit der Immigranten eine bedeutende Stärkung; nach 1945 und bedingt durch den Bruch der deutschen Hegemonie im Bereich des Musikverlags fanden die Briten für ihre Produktion auf dem europäischen Kontinent sehr gute Absatzmöglichkeiten.
C. F. Peters / Hinrichsen Edition Ltd., London Zu den weltweit bedeutendsten Musikverlagsunternehmen hatte ohne Zweifel die Firma C. F. Peters in Leipzig gehört, deren patriarchalischer Chef Henri Hinrichsen* (1868 Hamburg – 1942 Auschwitz)1160 ein tragisches Opfer der nationalsozialistischen »Entjudungs- und Arisierungspolitik« wurde. Hinrichsen hatte, schon seit 1891 Teilhaber bei C. F. Peters, 1900 den Verlag seines Onkels geerbt und weiter ausgebaut. Als Verleger, Handelsrichter, Geheimrat und Stadtverordneter einer der prominentesten Bürger Leipzigs, auf vielfache Weise als Mäzen engagiert, wollte Hinrichsen nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten die Gefahr nicht wahrhaben und blieb, auch aus Pflichtgefühl gegenüber dem Verlag und der Stadt Leipzig, zunächst in Deutschland. Erst nachdem er aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen und sein Verlag »arisiert« wurde, entschied er sich zur Flucht. Aus dem Erlös des Zwangsverkaufs des Verlags und privaten Besitzes, von dem Hinrichsen die »Reichsfluchtsteuer« sowie weitere Zahlungen wie die »Judenvermögensabgabe« oder die »Auswanderer-Abgabe« zu zahlen hatte, sollten er und seine Familie eine Restsumme von 450.000 RM erhalten. Die Abwicklung der den Verlag betreffenden Angelegenheiten wurde jedoch so verschleppt, dass Hinrichsen Ende Januar 1940 Brüssel völlig mittellos erreichte, gemeinsam mit seiner Frau Martha, die dort 1941 an Zuckerkrankheit verstarb, weil sie als Jüdin kein Insulin erhielt.
1160 Die hier und in Fischer: Handbuch aufgeführten biographischen Daten im Bereich Musikverlagswesen beruhen in weiten Teilen auf den in Fetthauer: Musikverlage auf S. 451‒509 aufgeführten »Kurzbiographien NS-verfolgter Musikverleger«, die ihrerseits Vorlage waren für das online verfügbare LexM [online]; sie wurden aber auf Grundlage eigener Forschungen in vielen Fällen ergänzt und erweitert. – Zu Henri Hinrichsen vgl. neben Fetthauer, S. 475 f., auch die Materialien im Archiv des Verlags: SStAL, Bestand Nr. 21.070 (1800‒ 1945), siehe Petersiana, Nr. 7, Juni 2009, S. 7‒12; ferner Lawford-Hinrichsen: Music Publishing and Patronage; Bucholtz: Henri Hinrichsen und der Musikverlag C. F. Peters; Molkenbur: C. F. Peters 1800‒2000; Bucholtz: Ausgrenzung und »Arisierung«; Petersiana, Nr. 19, Juni 2009, S. 22‒27.
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Henri Hinrichsen wurde Mitte September 1942 in Brüssel verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er noch am Tag seiner Ankunft ermordet wurde. Ähnlich tragisch wie das Schicksal Henri Hinrichsens war das seines Sohnes HansJoachim Hinrichsen* (1909 Leipzig – 1940 im Internierungslager St. Cyprien, Perpignan).1161 Er hatte ein Jurastudium 1934 mit einer Promotion über Fragen des Urheberrechts abgeschlossen, und zuvor Verlagslehren bei Hofmeister-Figaro und Doblinger in Wien sowie bei Foetisch Frères in Lausanne absolviert. Als Mitarbeiter und Teilhaber im Familienunternehmen erhielt er Anfang November 1938 Berufsverbot, die Geschäftsräume des Verlagshauses wurden in der Nacht zum 10. November demoliert, die Lagerbestände in der Lindenstraße geplündert; er selbst wurde am 13. November verhaftet und einen Tag später in das KZ Sachsenhausen überführt. Die Zwangsarisierung der Firma C. F. Peters lief über den Treuhänder und SS-Standartenführer Hans-Joachim Noatzke, der Zwangsverkauf erfolgte im Juli 1939. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen gelang Hans-Joachim Hinrichsen erst 1940 die Ausreise aus Deutschland; über Brüssel floh er weiter nach Frankreich. Dort wurde er von der französischen Polizei im Lager St. Cyprien inhaftiert, wo er, an Typhus erkrankt, starb. Das Unternehmen C. F. Peters bestand aber nicht nur in »arisierter« Form in Deutschland weiter, sondern wurde auch im Exil über die NS-Zeit hinweg bewahrt, denn Henri Hinrichsen hatte fünf Söhne. Der älteste von ihnen, Max Hinrichsen* (1901 Leipzig – 1965 London),1162 war nach gründlicher Ausbildung in Berlin und in Zürich 1926/1927 als Geschäftsführer bei Peters Edition Publishers, der kurz zuvor von seinem Vater eingerichteten New Yorker Vertriebsabteilung, tätig geworden; er selbst errichtete in Toronto eine kanadische Peters-Vertretung. 1928 erhielt Max Prokura im Leipziger Haus, seit 1. Juli 1931 firmierte er als Firmenteilhaber und hatte bis 1937 die Leitung von C. F. Peters Leipzig inne, wo er gleichzeitig ab 1931 Peters Musik Bibliothek verwaltete und als Mitherausgeber des Jahrbuches fungierte. 1937 emigrierte Max Hinrichsen nach Großbritannien und gründete am 10. März 1938 in London den Musikverlag Hinrichsen Edition Ltd. London. Da es ihm aus rechtlichen Gründen nicht möglich war, die »Edition Peters« nachzudrucken, mussten neue Programmlinien aufgebaut werden. Ein Schwerpunkt lag hier auf bislang kaum bekannten älteren britischen Komponisten, die in der Reihe »From Wallis to Wesley« herausgebracht wurden, ein anderer auf zeitgenössischen britischen Komponisten.1163 Daneben wurden auch vereinfachte Fassungen der klassischen Musik oder Noten für Brass Bands publiziert, für die er auch Kompositionswettbewerbe ausschrieb. Mit der Einrichtung einer Konzert- und Künstleragentur, dem 1942 bis 1965 von ihm geleiteten »Hinrichsen Concert Direction and Artists Management«, erweiterte er sein Arbeitsfeld in der britischen Hauptstadt; überdies machte er sich mit den stark auf die Förderung zeitgenössischer Musik abgestellten Konzerten vom gravierenden Papiermangel, der die Verlagsproduktion empfindlich limitierte, unabhängig. Dies galt auch für die von ihm mitbetreute »Composers and Editors Lending
1161 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 474 f., sowie die in der vorigen Fußnote genannte Literatur; ferner Petersiana, Nr. 19, Juni 2009, S. 13 f. 1162 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 476; ferner den Nachruf in: BRIO 3 (1966) Nr. 1, S. 20, und die zu Henri Hinrichsen genannte Literatur. 1163 Genauere Angaben zu den Komponisten bei Fetthauer, S. 339.
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Library«, die unter Vermeidung der hohen Kosten für Notenstich und Druck vorzugsweise moderne Werke im Manuskript zur Ausleihe anbot. In den Jahren 1944 bis 1950 veröffentlichte er darüber hinaus Hinrichsen’s Musical Year Book, das über verschiedene Bereiche des Musiklebens informierte. 1945 gründete er in London zusätzlich zur »Hinrichsen Edition« die »Peters Edition«. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs entwickelte Max Hinrichsen das Londoner Verlagshaus zu einem weltweit angesehenen Unternehmen, das seine zweite Frau Carla nach seinem Tod engagiert weiterführte.1164 1953/1954 war in die Hinrichsen Edition Ltd. in London auch Maxʼ Tochter Irene Lawford-Hinrichsen* (1935 Leipzig – 2017 London) eingetreten.1165 Sie war im November 1937 mit ihren Eltern ins Exil nach Großbritannien gegangen und arbeitete in dem von ihrem Vater gegründeten Verlagsunternehmen mit, bis sie es 1960 nach einem Zerwürfnis mit ihrer Stiefmutter Carla verließ. Zu den bedeutendsten Leistungen Max Hinrichsens zählte neben Gründung und Entwicklung der Londoner Firma, dass er seit 1950 als einer der drei Kommanditisten zusammen mit seinem Bruder Walter das Unternehmen seines Vaters unter dem Namen Verlagsgruppe C. F. Peters Frankfurt – London – New York neu aufbaute. Über den von Walter Hinrichsen in den USA errichteten und geleiteten Musikverlag, der zu einer Säule dieser internationalen Firmenkonstruktion wurde, soll weiter unten, im Abschnitt zu den USA, berichtet werden.
Edition Bernoulli / Sondheimer Edition, Basel / London Mit einem Umweg über die Schweiz war Robert Sondheimer* (1881 Mainz – 1956 Hannover) nach Großbritannien gelangt. Der promovierte Musikwissenschaftler war von 1922 bis 1933 Leiter des von dem Schweizer Christoph Bernoulli gegründeten Musikverlages Edition Bernoulli in Berlin, wo er vorwiegend Werke aus dem 18. Jahrhundert verlegte.1166 Gleichzeitig verfasste er Artikel für Cobbett’s Cyclopedia of Chamber Music, betätigte sich als Musikkritiker und hielt Vorlesungen an der Berliner Volkshochschule. 1933 oder 1934 emigrierte Sondheimer in die Schweiz und verlegte den Sitz des Musikverlags nach Basel. Spätestens 1939 siedelte er nach Großbritannien über, wo er in London den Verlag Edition Bernoulli weiterführte. Er erweiterte dort seine 1922 begonnene Kollektion alter Musikwerke zur »Sondheimer Edition«, in welcher er umfassend Kammermusik-, Gesangs- und Orchesterwerke u. a. von Bach, Boccherini,
1164 In der Firma Hinrichsen Ltd. tätig war auch der Emigrant Gerhard Spanier* (geb. 1910), Bruder bzw. Schwager des Musikverlegerehepaars Alice und Ernst Julius Hainauer (siehe dazu weiter unten). 1938 nach Großbritannien emigriert, wo er sich zunächst der britischen Armee anschloss, trat er im März 1946 als Angestellter bei Hinrichsen ein und arbeitete dort viele Jahre lang als Sales Manager. Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 502; LexM [online]. 1165 Irene Lawford-Hinrichsen kehrte 1991 das erste Mal nach Leipzig zurück und hielt im Stammhaus einen Vortrag über die Geschichte des Verlags C. F. Peters. 2000 veröffentlichte sie eine Monographie über den Verlag und ihre Familie: Lawford-Hinrichsen: Music Publishing and Patronage. – Siehe ferner: Fetthauer: Musikverlage, S. 484; LexM [online]; Christian Wolff: In Memoriam Irene Lawford-Hinrichsen (8. April 1935 – 2. Mai 2017) [online]. 1166 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 501 f.; Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 230.
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Haydn, Vivaldi etc. herausgab. Er war damit jedoch nur mäßig erfolgreich; bei Fetthauer wird er sogar als »seltene[r] Fall einer gescheiterten Biographie eines Musikverlegers im britischen Exil« bezeichnet.1167
British Standard Music Company Familiär eng verknüpft und dennoch höchst unterschiedlich verlief das Exil der Musikverleger Hermann Benjamin* (1900 Hamburg ‒1936 London) und Richard Schauer* (1892 Leipzig – 1952 London). Benjamin, Sohn des erfolgreich expandierenden Verlegers John Benjamin (1868‒1931), war seit 1930 im Vorstand der Anton J. Benjamin AG Hamburg Leipzig tätig gewesen, ehe er 1934/1935 nach Großbritannien ging. Dort gründete er im November 1935 gemeinsam mit dem britischen Musikverlag B. Feldman & Co. die British Standard Music Company Ltd., die Verlagstitel der Benjamin AG in Großbritannien vertrat. 1936 nahm sich Hermann Benjamin das Leben. In Deutschland firmierte der Musikverlag Anton J. Benjamin nach der 1940 erfolgten »Arisierung« als Hans C. Sikorski KG, Leipzig, bis er ab 1953 wieder als Anton J. Benjamin GmbH geführt wurde.1168 Die British Standard Music Company Ltd. existiert heute noch als Label von Boosey & Hawkes, wie übrigens seit 2002 auch der wieder in Hamburg ansässige Verlag Anton J. Benjamin Teil desselben britischen Verlagskonglomerats ist.
Schauer & May / Richard Schauer Music Publishers Richard Schauer* war ein Neffe von John Benjamin und Mitinhaber und Prokurist im Musikverlag Anton J. Benjamin in Leipzig.1169 Durch die NS-Rassengesetze bedroht, versuchte er 1936, den Verlag an Freunde zu verkaufen. Zu dieser Zeit war das World Centre for Jewish Music in Palestine daran interessiert, dass der Verlag eine Zweigstelle in Jerusalem einrichtet, die als zentraler Verlag für jüdische Musikliteratur gedacht war. Diese Pläne konkretisierten sich jedoch nicht. Schauer musste mit seiner Familie 1939 ins Exil nach Großbritannien gehen. In London gründete er gemeinsam mit dem Schlagerkomponisten Hans May* (1886 Wien – 1958 London) den Unterhaltungsmusikverlag Schauer & May1170 sowie ca. 1943 die Fa. Richard Schauer Music Publishers. Ersterer war auf Lieder und Werke (u. a. von May) auch für kleinere Orchester spezialisiert; in letzterer verwertete Schauer die Rechte an den Werken »nichtarischer« Komponisten, über die er nach der »Arisierung« des Benjamin-Verlags frei verfügen konnte. Nach
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Fetthauer, S. 325. Siehe auch Fetthauer, S. 456. Siehe LexM [online]. May stieg allerdings aus dem gemeinsamen Verlag bald wieder aus. Der aus Wien stammende Komponist, der ursprünglich Johann Mayer hieß, hatte sich Anfang der 1920er Jahre in Berlin niedergelassen, wo er mit Paul Leni das politisch-literarische Kabarett Die Gondel gründete und für viele Stummfilme die Filmmusiken schrieb. Sein größter Erfolg wurde der Schlager Ein Lied geht um die Welt aus dem gleichnamigen Film von 1933. May war auch im Exil in Großbritannien erfolgreich als Filmkomponist tätig; bis Mitte der 1950er Jahre schuf er über 30 Filmmusiken. Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 488; LexM.
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dem Krieg konnte er außerdem auf die Rechtekataloge des Rahter Verlags und des Simrock Verlags zurückgreifen, die beide (1917 bzw. 1929) von John Benjamin übernommen worden waren.1171 Enthalten waren darin sowohl russische Musik, von Tschaikowski bis Cui, sowie Richard Strauss, Busoni und Wolf-Ferrari, aber auch Werke der Klassik und Romantik und des beginnenden 20. Jahrhunderts. 1947 übernahm Schauers Tochter Irene Retford* (1921 Hamburg – 2009 London)1172 Aufgaben im Verlag. 1951 fand in Hamburg der Restitutionsprozess statt, der ausgehandelte Vergleich sah die vollständige Rückgabe an die vormaligen Eigentümer vor. Nach Schauers Tod 1952 wurde seine Frau Rosel Schauer, geb. Intrator (1895‒1995) Inhaberin, Irene Retford Geschäftsführerin des Musikverlags in London mit einer neu aufgebauten Zweigstelle in Hamburg; seit Anfang der 1970er Jahre war Retford auch im Vorstand der britischen Music Publishers Association tätig. Von 1980 bis zum Verkauf des Verlags an Boosey & Hawkes 2001/2002 war sie alleinige Inhaberin und leitete die Geschäfte in London und in der Zweigstelle in Hamburg.
Josef Weinberger Ltd., London Otto Blau* (1893 Wien – 1980 Schweiz), Neffe des Wiener Bühnen- und Musikalienverlegers Josef Weinberger, hatte nach dessen Tod 1928 die alleinige Leitung des Verlags übernommen1173 und sich in den 1930er Jahren in den berufsständischen Organisationen engagiert. Nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland wurde der lukrative Musik- und Bühnenverlag J. Weinberger, der viele Weltrechte u. a. für Johann Strauß oder Franz Léhar besaß, von dem »Ariseur« Hans C. Sikorski zu einem günstigen Preis gekauft. Blau ging 1938 nach Großbritannien ins Exil, wo schon 1936 in London die auf Operetten spezialisierte Firma Josef Weinberger Ltd. gegründet worden war. Die vom Firmenleiter Hugo Golwig, Blaus Onkel, bereits übertragenen Rechte mussten allerdings an die »arisierte« Wiener Firma rückübertragen werden. Blau wurde als »feindlicher Ausländer« auf der Isle of Man interniert, danach nach Australien deportiert, wo er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Dolmetscher arbeitete, er konnte also in den Kriegsjahren nicht selbst in dem Verlag tätig werden. Nach 1945 ging er nach London zurück, nahm die britische Staatsangehörigkeit an und baute die Firma Josef Weinberger Ltd. erneut auf, da ein mit Adolf Aber verhandelter Verkauf an Novello nicht zustande kam. Neben (für den englischsprachigen Raum übersetzten und adaptierten) Operetten umfasste der Rechtekatalog jetzt auch Unterhaltungsmusik für Rundfunkorchester, klassische Konzertmusik oder Backgroundmusik für Film und Fernsehen auf Schallplatten; außerdem übernahm Weinberger Ltd. die Vertretung von amerikanischen und britischen Musicals. Für die Erben Viktor Albertis übernahm er zusätzlich die Leitung von Octava Music Co. Ltd., der die Werke von Emmerich Kálmán verwertete, sowie für Franz Lehár bzw. dessen Erben die Leitung des Glocken-Verlags. 1949 konnte
1171 Die Simrock-Rechte hatte allerdings zuvor der britischen Musikverlag Lengnick vom Ariseur Hans C. Sikorski erworben; sie mussten von Schauer durch Rechtsgutachten erst wieder zurückerobert werden. 1172 Fetthauer: Musikverlage, S. 494; LexM [online]. 1173 Fetthauer: Musikverlage, S. 457 f.; LexM [online].
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Blau mit Sikorski ein Restitutionsabkommen für den Weinberger Verlag abschließen und damit die Geschäftsgrundlage für den bis heute bestehenden Wiener Verlag sichern.
Brull Ltd. & Co. Paris, London Auf dem Gebiet des Verlags von Populärmusik hatte auch der Emigrant Karl Brüll* (später Carl oder Charles Brull / Bruell; geb. 1895 Boskowitz / Mähren) beträchtlichen Erfolg. Er war 1920 in Berlin Gründer der auf Unterhaltungs- und Filmmusik spezialisierten Edition Karl Brüll GmbH; der Verlag hielt Rechte u. a. an Werken von Friedrich Hollaender, Nico Dostal, Robert Stolz oder Ralph Benatzky;1174 Brüll selbst verfasste Liedtexte für UFA-Filme (Schützenfest in Schilda; Seitensprünge, beide 1931). 1933/ 1934 ging er nach Frankreich ins Exil, die Berliner GmbH wurde 1933 aufgelöst. In Paris führte er seinen Musikverlag unter dem Namen Charles Bruell weiter; mit Hilfe eines Subverlagsvertrages mit dem Wiener Musikverlag Doblinger gelang es ihm, die Einnahmen aus den ihm nicht mehr zugänglichen deutschen Vertragsgebieten zu sichern. Um 1937 flüchtete Brüll weiter nach Großbritannien, wo er den Musikverlag Brull Ltd. & Co. gründete, in dem neben Notenmaterial zu Tanz- und Filmmusik die Schallplattenreihen »(Harmonic) Mood Music Library« und »A Harmonic Private Recording« erschienen, heute rare Sammelobjekte. In den 1980er Jahren befand sich die Firma unter dem Dach des international expandierenden Bertelsmann-Medienkonzerns, 2006 ging sie in der aus dem Zusammenschluss von PolyGram und MCA entstandenen Universal Music Publishing Group auf, als diese das Bertelsmann Music Publishing aus der Bertelsmann Music Group übernommen hat. Der in München ansässige Zweig der Charles Brull Ltd. & Co. wurde 2008 vom Wiener Boheme-Verlag (Berlin) aufgekauft.
Julius Hainauer Ltd., London Mit der 1936 in London gegründeten Firma Julius Hainauer Ltd. (die offizielle Registrierung erfolgte am 18. Juni 1938) suchte Ernst Julius Hainauer* (1907 Breslau ‒ Mitte der 1960er Jahre, London) die Rechte des vormals in Breslau ansässigen Familienunternehmens Julius Hainauer zu verwerten. Nach einer Lehrzeit im renommierten Leipziger Musikverlag Benjamin hatte er 1929 die Leitung des seit Beginn des 19. Jahrhunderts existierenden Verlags in dritter Generation übernommen; nach 1933 sah er sich jedoch bald gezwungen, die dem Verlag angeschlossene Buch- und Musikalienhandlung zu verkaufen.1175 1934 wurde der auf Salonmusik und polnische Komponisten spezialisierte Verlag als »nichtarische« Firma aus dem Adressbuch des Deutschen Buchhandels gestrichen, Hainauer flüchtete zusammen mit seiner Ehefrau Alice, Schwester von Gerhard Spanier (siehe weiter oben) nach Großbritannien. Julius Hainauer Ltd. hatte vor allem Werke von Carl Czerny und einer Reihe heute weitgehend vergessener Komponisten im Programm; auch betrieb das Unternehmen einen Lieferservice für Leihbibliotheken. Zeitweise arbeitete Hainauer auch für Richard Schauer Music Publishers (s. o.). Nach Hainauers Tod führte seine Witwe Alice das Unternehmen noch bis 1985 weiter.
1174 Fetthauer: Musikverlage, S. 460; LexM [online]. 1175 Siehe Adressbuch 1931, S. 237; Fetthauer: Musikverlage, S. 470; LexM [online].
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Edition Eulenburg Ltd. Zu den alteingesessenen Leipziger Musikverlagshäusern zählte der 1874 von Ernst Eulenburg (1847–1926) gegründete Musikverlag Ernst Eulenburg. Kurt Eulenburg* (1879 Leipzig – 1982 London) hatte im für die Herausgabe von Taschenpartituren bekannten Musikverlag seines Vaters das verlegerische Handwerk gelernt und war dort seit 1911 Teilhaber, seit 1926 Alleineigentümer.1176 Er verlegte u. a. Werke Mozarts, herausgegeben von Alfred Einstein, Ludwig van Beethovens oder Robert Schumanns und wirkte in den Ausschüssen des »Deutschen Musikalien-Verleger-Vereins« (DMVV) mit. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1938 mit einem Berufsverbot belegt (bis dahin schützte ihn das internationale Ansehen seines Unternehmens) und vorübergehend inhaftiert, emigrierte Eulenburg im Mai 1939 in die Schweiz; sein Leipziger Verlag wurde »arisiert« und ging 1941 nach zeitweiliger Treuhandverwaltung durch Gerhard Noatzke in den Besitz von Horst Sander vom Leipziger Musikverlag F. E. C. Leuckart über. Da Eulenburg in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis als Musikverleger erhielt, gründete er von Basel aus mit Hilfe der britischen Firma Goodwin & Tabb die Ernst Eulenburg Ltd. in London, durfte aber aufgrund der ablehnenden Haltung des Home Office erst nach Kriegsende nach London übersiedeln. In den folgenden Jahren konnte er den Verlag stetig vergrößern, unter anderem durch die Taschenpartiturreihe, die nun in England als »Eulenburg Miniature Scores« wieder aufgenommen und fortlaufend erweitert wurde, etwa mit Klavierkonzerten von Mozart oder Musik der vorklassischen Zeit, in deren Rahmen nun neben Werken von Bach, Händel und Vivaldi auch weniger bekannte Kompositionen von Monteverdi, Purcell, Schütz oder Gabrieli vorgestellt wurden.1177 In Großbritannien waren bis dahin kleinformatige Partituren nur in geringem Maße hergestellt worden, sodass sich hier ein einträglicher Markt eröffnete. Von den »Eulenburg Miniature Scores« waren 1948 ca. 70 Titel erhältlich, 1954 bereits 600 und Ende der 1970er Jahre mehr als eintausend. 1947 eröffnete Eulenburg gemeinsam mit Albert Kunzelmann eine Filiale in Zürich, die Edition Eulenburg GmbH. Sukzessive machte die Edition Eulenburg Ltd. auch die Publikationen der alten Leipziger Firma wieder zugänglich. Die Restitutionsbemühungen, die Eulenburg von London aus betrieb, verliefen ergebnislos. 1950 gründete er deshalb gemeinsam mit Erich Otto eine Zweigniederlassung des Eulenburg Verlages in Stuttgart. 1968, im Alter von 89 Jahren, zog er sich aus der Geschäftsleitung zurück. Die englische Firma war schon 1957 vom Musikverlag Schott & Co. Ltd., London, übernommen, aber bis zu Eulenburgs Rücktritt als selbständiges Unternehmen weitergeführt worden.
Fürstner Ltd., London Namhaft war auch der Musikverlag von Otto Fürstner* (1886 Berlin – 1958 London), der seit 1922 Alleininhaber des von seinem Vater gegründeten Unternehmens Adolph Fürstner in Berlin war. Bei Fürstner erschienen vornehmlich Opern von Richard Strauss,
1176 Zu Eulenburg siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 464; LexM [online]; Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 228; Fetthauer: Kurt Eulenburg und die »Arisierung« der Firma Ernst Eulenburg. 1177 Genaueres hierzu bei Fetthauer: Musikverlage, S. 331‒333.
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Hans Pfitzner und – über den firmenzugehörigen Verlag C. F. Meser – Werke von Richard Wagner. Als Fürstner unter den Bedingungen des Nationalsozialismus keine Möglichkeit sah, seinen Verlag weiterzuführen, verpachtete er einen Teil der Verlagsrechte an seinen langjährigen Prokuristen Johannes Oertel, der dann nach 1945 auf dieser Grundlage in Berlin einen eigenen Verlag errichtete. Fürstner selbst ging ins Exil nach Großbritannien, wo er mit den aus Deutschland mitgenommenen Verlagsrechten den Musikverlag Fürstner Ltd. gründete. 1943 verkaufte er seine Rechte an Werken von Richard Strauss für die nicht von Deutschland besetzten Länder an den Musikverlag Boosey & Hawkes; sein Verhandlungspartner war hier Ernst Roth, der nachfolgend auch einen engen Kontakt zu Strauss entwickelte.1178 1950 wurde von Fürstner und Oertel ein notarieller Vertrag abgeschlossen und die Verlagsrechte wurden im Rahmen eines Vergleichs neu verteilt. Nach dem Tod Fürstners übernahm seine Frau Ursula die Verlagsleitung von Fürstner Ltd., 1970 verkaufte sie sämtliche Rechte an der Firma und ging zurück nach Deutschland. Seit 1981 befindet sich der Fürstner Musikverlag unter dem Dach von Schott Music, Mainz.1179
Die Universal Edition Ltd., London Zu den größten und wichtigsten Musikverlagen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zählte die Universal Edition AG (UE) in Wien, die sich Verdienste vor allem in der Förderung junger zeitgenössischer Komponisten, darunter auch der Zweiten Wiener Schule, erwarb. Das Unternehmen konnte seinen Betrieb in der NS-Zeit aufrecht erhalten, was vor allem das Verdienst von Alfred Schlee war, der seit 1928 der Universal Edition angehörte. Emil Hertzka (1869‒1932), seit 1907 geschäftsführender Direktor und verantwortlich für die Aufwärtsentwicklung des Verlags, war 1932 verstorben; seine Frau Jella Hertzka* (1873 Wien – 1948 Wien) wurde nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 als Jüdin gezwungen, ihre Anteile an der UE zu veräußern.1180 Sie emigrierte noch im selben Jahr nach Großbritannien, wo sie hauptsächlich als Gartenbauarchitektin ihren Lebensunterhalt bestritt. 1946 kehrte sie nach Österreich zurück und bemühte sich um den Wiederaufbau des Verlages; sie machte Alfred Schlee zum Geschäftsführer und leitete die UE als öffentliche Verwalterin bis zu ihrem Tod. Während Jella Hertzka selbst in Großbritannien nicht musikverlegerisch tätig geworden ist, so gab es doch einige andere Mitarbeiter der UE, die ihre Laufbahn im Exil erfolgreich fortsetzen konnten. An erster Stelle zu nennen ist Alfred A. Kalmus* (1889 Wien – 1972 London), denn er hat am meisten dazu beigetragen, in der UE die Kontinuität zu sichern.1181 Kalmus hatte ein Jura-Studium an der Universität Wien 1913 mit
1178 Nachfolgend erwarb Roth direkt vom Komponisten die Weltrechte an dessen späten Werken und brachte nicht nur die maßgeblichen Werkkataloge, sondern auch eine Edition des kompletten Liedwerks heraus; auch sorgte er für Aufführungen von Straussʼ Werken in Großbritannien. Vgl. dazu Fetthauer, S. 346 f. 1179 Vgl. NDB (Art. Oertel); Fetthauer: Musikverlage, S. 466 f.; LexM [online]. 1180 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 474; Jella Hertzka. Frauen in Bewegung. In: AriadneProjekt [Online]. 1181 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 480, LexM [online]. Von weiteren UE-Mitarbeitern und Direktoren wird weiter unten und in dem Abschnitt über die USA zu berichten sein.
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einer Dissertation zum Urheberrecht abgeschlossen; zugleich hatte er bei Guido Adler musikwissenschaftliche Studien betrieben und eine Lehre bei der UE absolvierte. 1923 gründete er den Wiener Philharmonischen Verlag, den er mit Ernst Roth (siehe weiter unten) leitete; 1927 ging er zurück zur UE, die den Philharmonischen Verlag als Subverlag übernahm. Nach dem Tod Emil Hertzkas leitete Kalmus ab 1932 zusammen mit Hugo Winter und Hans W. Heinsheimer die UE; in London baute er ab 1936 auf der Basis guter Kontakte zu Musikerpersönlichkeiten und der BBC die Zweigniederlassung Universal Edition (London) Ltd. auf,1182 die hauptsächlich zeitgenössische britische Komponisten im Programm hatte, aber auch den in der Wiener UE vertretenen Komponisten wie Alban Berg nach dem weitgehenden Wegfall des deutschen Marktes den Weg auf den britischen Musikmarkt ebnen sollte. Gleichzeitig fungierte Kalmus weiter als Geschäftsführer der UE in Wien, bis diese nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 »arisiert« wurde und ihre jüdischen Inhaber ihre Aktienanteile verkaufen mussten. Im Zuge der geänderten Besitzverhältnisse des Wiener Stammhauses kam es zu Verhandlungen über den Status von Universal Edition (London) Ltd., in deren Folge das britische Unternehmen 1939 an den Verlag Boosey & Hawkes (der zuvor bereits viele Rechte von der Wiener UE erworben hatte) verkauft wurde. 1940 war Kalmus, wie übrigens auch Erwin Stein (siehe unten), als »enemy alien« im Lager Huyton interniert. Anschließend arbeitete er für Boosey & Hawkes und übernahm dort eine Reihe von Aufgaben. So organisierte er 1941‒1947 als Leiter des Concert Departments des Verlags die hauptsächlich auf zeitgenössische Musik ausgerichteten »Boosey & Hawkes Concerts«; jährlich sieben bis neun Kammermusikkonzerte mit einem hohen Anteil an Uraufführungen von Werken britischer Komponisten. Außerdem gründete er 1941 die auf zeitgenössische russische Komponisten spezialisierte Anglo-Soviet Press.1183 Deren Vorgeschichte reicht zurück auf ein von Kalmus ausgehandeltes Abkommen der UE mit dem Sowjetischen Staatsverlag, demzufolge die UE sowjetrussische Musikpublikationen in ihren Katalog aufnehmen konnte. Kalmus erneuerte nun das Abkommen für Boosey & Hawkes, indem er diesen darauf spezialisierten Subverlag errichtete. In ihrem ersten Katalog zeigte die Anglo-Soviet Press Werke von 36 Komponisten an, darunter keine Geringeren als Prokofjew und Schostakowitsch, und stieß damit beim britischen Publikum auf ein wachsendes Interesse an russischer Musik – auch Novello hatte, wohl auf Betreiben des Emigranten Adolf Aber, einen ähnlichen Vertrag über symphonische Musik, Opern und Ballette sowie Volksmusik mit dem Sowjetischen Staatsverlag abgeschlossen. 1949 machte sich Kalmus, seit 1945 britischer Staatsbürger, mit der Universal Edition Ltd. in London wieder selbständig (was für Boosey & Hawkes eine empfindliche Einbuße an Rechten bedeutete) und brachte auch einen eigenen Katalog mit britischen, US-amerikanischen und australischen Komponisten der Gegenwart heraus. Darüber hinaus übernahm er mit der neugegründeten Vertriebsfirma Alfred A. Kalmus Ltd. die Generalvertretung der UE Wien für das Commonwealth. 1951 erfolgte in Wien die konstituierende Generalversammlung der alt-neuen Universal Edition, in deren Vorstand Kalmus berufen wurde. Er selbst blieb in London und konnte dort durch die Wiederher-
1182 Formell waren im Direktorium der Londoner UE-Gründung auch Yella Hertzka sowie Hugo Winter vertreten. Im Wesentlichen handelte es sich aber um ein Ein-Mann-Unternehmen. 1183 Vgl. hierzu Fetthauer, S. 371.
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stellung dieser kontinentaleuropäischen Verbindung dem Musikleben in Großbritannien noch einmal Impulse verleihen, indem er dort nun auch die von der UE verlegte Avantgarde der Nachkriegsepoche – Stockhausen, Berio oder Boulez – bekannt machte.
Die Rolle von Exilanten in britischen Musikverlagen (Novello, Boosey & Hawkes, Schott & Co. Ltd.) Nicht alle aus Deutschland vertriebenen Musikverleger sahen sich in der Lage, im Exil wieder einen eigenen Verlag ins Leben zu rufen. Einige haben jedoch als Angestellte in ausländischen Musikverlagen eine leitende Stellung in Unternehmen und eine bedeutende Rolle im internationalen Musik-Business errungen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet Adolf Aber* (1893 Apolda / Thüringen – 1960 London), der nach seinem Studium als Musikkritiker für die Leipziger Neuesten Nachrichten und die Allgemeine Musikzeitung tätig war, ehe er 1927 Teilhaber im Musikverlag Friedrich Hofmeister (Edition Germer) wurde.1184 1933 emigrierte Aber nach England und war zunächst Mitarbeiter im traditionsreichen Verlagshaus Novello and Co.; 1936 wurde er als Direktor in dessen Geschäftsleitung berufen, wohl weil er über die Alleinvertretung vieler deutscher Musikverlage verfügte und für eine stärker internationale Ausrichtung des Unternehmens sorgen konnte.1185 In dieser einflussreichen Position konnte Aber seinen spezifischen Vorlieben entsprechend sich für die Verbreitung älterer und neuerer deutscher Komponisten einsetzen. Damit unterschied er sich von vielen seiner Mitemigranten, die – wie Max Hinrichsen, Alfred Kalmus, Erwin Stein oder Walter Bergmann – ein dezidiertes Interesse an heimischen, d. h. an britischen Komponisten entwickelten. Aber förderte insbesondere den Verlag deutscher Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts, wie Samuel Scheidt, Johann Kuhnau oder Johann Gottfried Schicht; er interessierte sich in diesem Zusammenhang auch für Fragen der historischen Aufführungspraxis und publizierte dazu Artikel, die auf breite Resonanz, aber auch heftige Gegenreaktionen stießen.1186 Aber engagierte sich zudem für volkstümlich arrangierte Gesangstücke von Schubert, Schumann oder Brahms und suchte zeitgenössische deutsche Komponisten wie Cesar Bresgen in England bekannt zu machen. 1940 wurde Aber interniert; Stanley Unwin intervenierte für ihn bei den Behörden unter Hinweis darauf, dass mit Aber Bereiche des Musikverlagsgeschäfts nach England gekommen seien, auf die bisher deutsche Verlage nahezu ein Monopol gehabt hätten. Seit 1950 war Aber Direktor der britischen Verwertungsgesellschaft Perfect Right Society. Gemeinsam mit Max Hinrichsen1187 hat Aber entscheidend zur Weiterentwicklung des britischen Musikverlagswesens beigetragen, auch wenn der von ihm eingeschlagene Weg von Novello schon seit Mitte der 1950er Jahre wieder revidiert wurde.
1184 Fetthauer: Musikverlage, S. 452. 1185 Außerdem trat Aber nachfolgend mit zahlreichen Vorschlägen zur Reorganisation des Verlags hervor; Näheres dazu bei Fetthauer, S. 335‒338. 1186 Vgl. Fetthauer, S. 320 f. 1187 Auch Max Hinrichsen war kurzzeitig bei Novello tätig; unmittelbar nach seiner Ankunft in Großbritannien fungierte er dort 1937/38 als Repräsentant von C. F. Peters, bis er sich mit eigener Firmengründung selbständig machte.
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1936 übernahmen Boosey & Hawkes die Vertretung der Universal Edition (UE), wodurch sich Kontakte ergaben, die wenig später auch den aus Wien geflüchteten UEDirektoren und Mitarbeitern zugutekamen. In besonderer Weise traf dies zu auf Ernst Roth* (1896 Prag – 1971 Twickenham).1188 Er hatte nach einem Studium der Rechtswissenschaft in Prag wie Alfred A. Kalmus bei Guido Adler in Wien Musikwissenschaft studiert und von 1922 bis 1928 in leitender Position beim Wiener Philharmonischen Verlag gearbeitet, einer Tochtergesellschaft der UE; 1927/1928 war er auch als Leiter der Verlags- und Vertriebsabteilung für die UE und in bemerkenswertem Umfang publizistisch tätig. Nach der Annexion Österreichs 1938 emigrierte Roth nach London, um dort, persönlich gefördert von Ralph Hawkes, bei Boosey & Hawkes zu arbeiten. Die Erwartung war, dass Roth bei der Internationalisierung des Verlagsprogramms behilflich sein könnte – was so auch zutraf. Roth war mit prominenten Komponisten wie Arnold Schönberg, Richard Strauss, Igor Strawinsky und Anton Webern befreundet und konnte seinen neuen Arbeitgeber für diese Repräsentanten der neuen Musik interessieren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Roth maßgeblich an der Gründung bzw. dem Aufbau der Zweigstellen des britischen Verlags in Bonn und Paris beteiligt. 1949 wurde er zum General Manager berufen, im Jahr darauf in den Board of Directors gewählt. 1964 legte Roth seine Funktionen in der operativen Verlagsleitung zurück, blieb aber bis zu seinem Tod als Deputy Chairman der Holding Company sowie Chairman der Publishing Company dem Konzern verbunden. Rückblickend auf seine Tätigkeit lässt sich sagen, dass Roth maßgeblich am Wachstum von Boosey & Hawkes beteiligt war, vor allem als Herausgeber der »Hawkes Pocket Scores«, kleinformatigen Partituren, die dem Vorbild der von der UE in Wien herausgegebenen »Philharmonia-Taschenpartituren« folgten und in England in Konkurrenz zu den »Eulenburg Miniature Scores« standen.1189 In dieser mit Einführungen und Analysen (an die hundert davon von Roth selbst verfasst) ausgestatteten Reihe erschienen Standardwerke der Kammer- und Orchestermusik von Bach bis Brahms, auch zeitgenössische Werke von Bartók über Britten und Copland bis Schostakowitsch und Prokofjew. Wie aus seinem Buch Musik als Kunst und Ware (erschienen 1966 in Zürich bei Atlantis) hervorgeht, sah Roth in der Taschenpartitur eine logische Entwicklung von der klassischen Hausmusik mit den Bearbeitungen für Klavier hin zum Studium der Partitur, auch wenn dieses Studium – wie er selbst einräumte – in den meisten Fällen rasch ins Stocken geraten dürfte. Auch in Südamerika fanden die »Hawkes Pocket Scores«, versehen mit spanischsprachigen Einführungen, Verbreitung. Ernst Roth erwarb sich noch weitere Verdienste: mit der Übersetzung von Opern und Chorwerken, als Katalogherausgeber, durch die Erstellung von Klavierauszügen,
1188 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 497; LexM; W. Schub: Ernst Roth 1896‒1971. In: Tempo 98 (1972); [online]; George Newman: Ernst Roth: A personal recollection. In: Tempo 165 (1988), S. 37‒40. 1189 Ein ernsthaftes Konkurrenzverhältnis bestand auf internationaler Ebene zu der nach wie vor im Philharmonischen Verlag (der der Universal Edition AG angehörte) erscheinenden Philharmonia-Reihe; die UE-Leiter befürchteten den Totalverlust des Geschäfts für Taschenpartituren im englischsprachigen Raum, besonders auch in den USA. Dazu Fetthauer, S. 334 f.
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als »E. Thorne« auch mit Bearbeitungen von Werken Beethovens und Chopins. Seine publizistische Tätigkeit fand eine Fortsetzung u. a. durch die Veröffentlichung von Büchern; neben dem bereits erwähnten Titel Musik als Kunst und Ware brachte er 1949 Vom Vergänglichen in der Musik, 1959 Eine Wallfahrt zu Mozart. Die Reisetagebücher von Vincent und Mary Novello aus dem Jahre 1829 und 1961 European Music. A Short History heraus; weitere, autobiographische Texte von ihm sind in dem von Martin Hürlimann herausgegebenen Band Von Prag bis London. Erfahrungen. Autobiographische Fragmente enthalten (Zürich, Freiburg: Atlantis 1974) sowie in Erfahrungen eines Musikverlegers. Begegnungen mit Richard Strauss, Igor Stravinsky, Béla Bartók, Zoltán Kodály, Benjamin Britten und anderen Komponisten unserer Zeit (Zürich und Freiburg: Atlantis 1982). Für die gesamte Musikwelt machte Roth sich verdient mit der Ausarbeitung von Standardverträgen zwischen Musikern (besonders Komponisten) und europäischen Radiostationen; auch wurde er, als eine führende Gestalt der internationalen Musikverlagsszene, zum Vizepräsidenten der Sektion Musik der International Publishers Association gewählt. Auch Erwin Stein* (1885 Wien − 1958 London), Sohn von Marcus Stein, dem Gründer der Manz’schen Verlags- und Universitätsbuchhandlung am Kohlmarkt in Wien, hatte vor seiner Emigration der Direktionsetage der Wiener Universal Edition angehört. Er hatte zwischen 1905 und 1910 ein Privatstudium bei Arnold Schönberg absolviert und gleichzeitig an der Universität Wien Musikwissenschaft studiert;1190 nach Jahren als Dirigent und Chorleiter trat Stein 1924 in die UE Wien ein, wo er bald leitende Positionen bekleidete. Er wirkte dort als Herausgeber und Leiter der Orchesterabteilung und gab von 1924 bis 1929 die Zeitschrift Pult und Taktstock heraus. 1938 wurde Stein im Zuge der »Arisierung« des Verlags gezwungen, seine Aktienanteile an der UE zu verkaufen, 1940 wurde sein übriges Vermögen beschlagnahmt und seine bei der UE erschienenen Publikationen verboten. Doch schon zuvor, im September 1938, war Stein aufgrund bereits bestehender Kontakte ins Exil nach Großbritannien gegangen, wo er bei Boosey & Hawkes als künstlerischer Berater und Editor tätig wurde und von dieser Stelle aus das Werk Gustav Mahlers und des Schönberg-Kreises sowie jenes des mit ihm befreundeten Benjamin Britten propagierte.1191 In dieser Hinsicht stand er wie auch Alfred Kalmus innerhalb des Verlags in einer Art Ergänzungs-, aber auch in einem Spannungsverhältnis zu Ernst Roth, nicht zuletzt aufgrund der Machtstellung, die sich dieser bei Boosey & Hawkes aufgebaut hatte. 1939 gründete Erwin Stein die als Informations- und Werbeforum für zeitgenössische Musik gedachte Zeitschrift Tempo; in einem 1958 dort erschienenen Nachruf auf ihn charakterisierte ihn der Earl of Harewood als im Musikleben unersetzbare Persönlichkeit, als »someone with the whole of Europe-
1190 Vgl. Marion Thorpe [Tochter von E. S.]: Art. Erwin Stein. In: MGG, Bd. 16, S. 1750 f.; Fetthauer: Musikverlage, S. 502 f.; LexM [online]. 1191 Vgl. dazu auch Steins Schrift Orpheus in New Guises (London: Rockliff 1953), die den drei genannten Komponisten – die er alle als Genies betrachtete – gewidmet war. Um eine verstärkte und vertiefte Rezeption Mahlers in Großbritannien war Stein nicht nur als Musikschriftsteller bemüht, sondern auch auf der Ebene der Aufführungspraxis. Für Brittens Werk setzte er sich als einer der Direktoren der 1946 gegründeten »English Opera Group« ein. Ständigen Kontakt hielt er auch mit Schönberg, mit dem er in Wiener Zeiten als Konzertveranstalter und Verleger eng zusammengearbeitet hatte.
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an culture behind him who yet lived and thought in the present and was able and prepared to impart this wisdom without preaching.«1192 Erwin Steins Nachfolger bei Boosey & Hawkes wurde Leopold Spinner* (1906 Lemberg / Lwów – 1980 London). Spinner, der vor seiner Emigration erste Erfolge als Komponist errungen und neben einem musikwissenschaftlichen Studium auch Unterricht bei Anton Webern genommen hatte,1193 war im Mai 1939 über Belgien nach Großbritannien geflüchtet; seine Absicht, in die USA auszuwandern, konnte er nicht verwirklichen. Spinner unterrichtete zunächst in Bradford an der Bellevue School of Music und wurde von 1942 bis 1946 im Rahmen des »War-Employment«-Programms als Arbeiter in einer Lokomotivfabrik eingesetzt. Ab 1947/1948 war er in London bei Boosey & Hawkes tätig, zunächst als Kopist, später als Lektor und Editor, und von 1958 bis zu seiner Pensionierung 1975 in leitender Funktion. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit lag in der Befassung mit dem Werk Strawinskys, zu dem er auch mehrfach Klavierauszüge erstellte. Persönlich war er aber hauptsächlich an Anton Webern interessiert und brachte – allerdings mit wenig Erfolg – einige von dessen Kompositionen im Verlagsprogramm von Boosey & Hawkes unter.1194 Erst im Exil zum Musikverlagsgeschäft dazugestoßen ist Walter G. Bergmann (1902 Altona – 1988); er hatte Musik studiert, war aber auch ausgebildeter Jurist und als Anwalt in Halle a. d. Saale tätig.1195 Nach seiner 1939 erfolgten Flucht nach Großbritannien und Internierung bis Januar 1941 wurde er Musikpädagoge, war jedoch von 1942 bis 1967 auch Mitarbeiter von Schott & Co. Ltd. in London, zunächst als Packer, schließlich aber als Herausgeber von mehr als 250 Kompositionen und Editionen zur Barockmusik und Blockflötenliteratur, darunter von ihm bearbeitete Werke von Barsanti, Blow, Dieupart, Purcell, Schickhard und Telemann. Bergmann, der auch zu den Entdeckern des nachmals berühmten Countertenors Alfred Deller gehörte, gilt als ein prägnantes Beispiel für den Einfluss, den die deutschsprachige Emigration durch die Erschließung vergessener Musiktraditionen auf die Entwicklungen in der musikalischen Kultur Großbritanniens genommen hat.
Schweiz Musikverlag und Bühnenvertrieb AG, Zürich Die Schweiz war Musikverlagsgründungen von Emigranten wenig oder erst spät günstig. Nur kurz währte dort das exilverlegerische Engagement von Armin Lackenbach
1192 Zit. n. Fetthauer, S. 350. 1193 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 502; LexM [online]. – Als Musiker blieb er in Kontakt zu den Mitgliedern der »Wiener Schule«; in Österreich setzte sich Gottfried von Einem für die Aufführung von Spinners Zwölftonkompositionen ein. Den Nachlass erwarb die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 1194 Auch George Newman, in den 1950er Jahren in der Produktionsabteilung von Boosey & Hawkes tätig, war ein Emigrant aus Wien, später machte er sich mit einer eigenen Firma im Bereich Notenstich und Partiturvervielfältigung selbständig. Vgl. Fetthauer, S. 308. 1195 Zu seiner Biographie vgl. Fetthauer, S. 457. Genaueres zu seiner Tätigkeit in London ebd., S. 321‒325.
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Robinson* (1900 Wien – 1985 Bad Ischl). Gemeinsam mit Victor Alberti war er Gründer und Inhaber der auf Unterhaltungsmusik spezialisierten Verlagsgruppe Alrobi in Berlin, zu der die Subunternehmen Alrobi Musikverlag GmbH und Alberti, Drei Masken Verlag A. G. sowie Doremi und Charivari gehörten. Daneben war Lackenbach gemeinsam mit Victor Alberti, Otto Hein und der Universum-Film AG (Ufa) 1929 an der Gründung des Ufaton-Verlags beteiligt. Nach der NS-»Machtergreifung« wurden die Musikverlage, an denen Lackenbach beteiligt war, »arisiert«; er selbst ging in die Schweiz ins Exil und gründete 1934 in Zürich die bis heute existierende, seit Lackenbach Robinsons Zeiten auf Operetten-, Film- und leichte Unterhaltungsmusik spezialisierte Musikverlag und Bühnenvertrieb AG. Anfang 1937 schied Lackenbach Robinson aus dem Verwaltungsrat dieser Firma aus und ging weiter nach Frankreich und Großbritannien. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt Lackenbach Robinson seine Verlage durch Restitution zurück, verkaufte sie aber später an die Ufa.1196 Noch heute vertritt die Zürcher Musikverlag und Bühnenvertrieb AG die Rechte für die Schweiz von Musikverlagen, die von Emigranten gegründet bzw. im Exil fortgeführt wurden wie Victor Albertis Verlag Octava, Franz Léhars Glocken-Verlag (Wien, danach London), der wiederum seit vielen Jahren von der Verlagsgruppe Josef Weinberger Ltd. London administriert wird (siehe oben).
Ars-Viva-Verlag, Zürich Der hoch anerkannte Dirigent Hermann Scherchen* (1891 Berlin – 1966 Florenz) war vielfältig im Musikleben engagiert, u. a. auch in der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) und als Mitherausgeber der Zeitschrift Melos 1919/1920.1197 Nach 1933 wurde Scherchen aufgrund seiner Kontakte zu jüdischen Kreisen und zur Arbeiterbewegung öffentlich diffamiert und verließ Deutschland. Er hielt sich in den folgenden Jahren in der Schweiz, in Frankreich, Belgien und Großbritannien auf, wo er seine Karriere mit Dirigaten und Rundfunkaufträgen weiter ausbauen konnte. In Brüssel gründete Scherchen 1935 den Musikverlag Ars Viva, in welchem er sowohl unbekannte ältere Werke wie auch Partituren und Textbücher zu zeitgenössischer Musik, etwa von Karl Amadeus Hartmann, publizierte sowie drei Nummern der Musikzeitschrift Musica viva herausgab. Er konnte jedoch seine ursprüngliche Idee, den Verlag als genossenschaftliches Unternehmen zu führen, nicht umsetzen und scheiterte mit der Finanzierung aus eigenen Mitteln. 1937 fusionierte er Ars Viva mit dem traditionsreichen Budapester Rózsavölgyi Verlag, das Brüsseler Büro wurde aufgegeben; er selbst emigrierte weiter in die Schweiz. Erst 1950 gründete Scherchen in Zürich seinen Musikverlag als ArsViva-Verlag GmbH neu, in dem bedeutende Kompositionen u. a. von Luigi Nono oder Aribert Reimann erschienen. Heute ist Ars Viva Teil von Schott Music GmbH & Co. KG.
1196 Vgl. Adressbuch 1931, S. 9, 12, 141; Verlagsveränderungen 1942‒1963, S. 10 (Alrobi-V.), 53 (Drei Masken-V.); Fetthauer: Musikverlage, S. 483; LexM [online]. 1197 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 497; LexM [online].
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Frankreich Éditions Méridian, Paris In der blühenden Berliner Unterhaltungsmusikbranche der Goldenen Zwanziger Jahre lagen auch die Anfänge des Verlagsunternehmens von Rolf Marbot* (1906 Breslau – 1974 Cannes). Geboren als Albrecht Marcuse, hatte er nach einem Jura-Studium und einer Lehre bei einem Musikverlag in Berlin sowie einer Tätigkeit als Barpianist beachtlichen Erfolg als Autor und Komponist von Schlagern. Eine Reihe der von ihm gemeinsam mit Berthold (Bert) Reisfeld* (1906 Wien – 1991 Badenweiler)1198 komponierten Titel, darunter so berühmte wie Mein kleiner grüner Kaktus, gehörte zum Repertoire der Comedian Harmonists. Seit 1927 verwendete Marcuse den Künstlernamen Rolf Marbot. Sein Emigrationsweg nach der NS-»Machtergreifung« entsprach durchaus einer »inneren Logik«: sowohl Wien als auch Paris boten als Kultur- und Unterhaltungsmetropolen einen günstigen geschäftlichen Boden; in beiden Städten hat Marbot Musikverlagsunternehmen aufgebaut.1199 1936 gründete er in Wien zusammen mit Reisfeld die Edition Staccato GmbH, und nach seiner Weiteremigration nach Paris baute er auch dort einen Verlag für Unterhaltungsmusik auf, die Éditions Méridian, an dem sich auch sein Freund Rodolfo Hahn*1200 und vermutlich auch wieder Reisfeld beteiligten. Marbot war Geschäftsführer des Verlags, der vor allem seine eigenen Kompositionen und jene Reisfelds publizierte. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen schloss Marbot sich der Fremdenlegion an. Im Oktober 1940 demobilisiert, lebte er von September 1942 bis September 1944 mit gefälschten Papieren unter dem Namen Louis Sandret in Lyon und in dem Dorf Pralognan-la-Vanoise in den französischen Alpen. 1944 ging er zurück nach Paris und übernahm erneut die Leitung seines Musikverlages, den er in Nouvelles Éditions Méridian umbenannte und der bald wieder prosperierte. Zugleich baute er die von ihm gegründete Société d’Éditions Musicales Internationales (SEMI) in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Musikverleger Ralph Peer sen. mit internationaler Schlagermusik erfolgreich aus. 1958 gründete Marbot in Hamburg die Edition Marbot. Er war Präsident des »Syndikats der Musikverleger der leichten Mu-
1198 Reisfeld arbeitete Anfang der 1930er Jahre in Berlin wiederholt mit Marbot zusammen. 1933 flüchtete Reisfeld nach Paris und arbeitete dort als Komponist in der Varietészene; vermutlich war er an beiden Exilverlagsgründungen von Marbot finanziell beteiligt. 1938 ging Reisfeld in die USA und übernahm seit 1941 in Hollywood die verschiedensten Aufträge in der Film- und Unterhaltungsbranche, u. a. als Arrangeur, Journalist, Schlagerkomponist und Pianist. Der von ihm komponierte Titelsong zu An Affair to Remember brachte ihm 1957 eine Oscar-Nominierung ein. Reisfeld war Präsident der Hollywood Foreign Press Association. Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 493; LexM [online]. 1199 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 487; LexM [online]; »Marbot, Eminent Publisher, Dies.« Billboard, September 28, 1974; »Rolf Marbot«. In: IMDb [online]. 1200 In Breslau aufgewachsen, kam Rudolf (später Rodolfo) Hahn nach einem Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin. 1933/1934 lebte er in Budapest im Exil, Mitte der 1930er Jahre in Paris, wo er an der Gründung der Éditions Méridian beteiligt war. Später flüchtete er nach Südamerika und lebte in Buenos Aires. Seine Verlagsanteile übergab Hahn nach Ende des Zweiten Weltkriegs an Marbot. Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 470.
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sik«, Vorsitzender der Société des Auteurs, Compositeurs et Éditeurs de Musique und Generalsekretär der Société pour l’administration du droit de reproduction mécanique, des auteurs compositeurs et éditeurs (SDRM). Da Marbot keine Erben hinterließ, wurden seine beiden Verlage 1979 von der Verlagsgruppe Peermusic übernommen.
Die Wiener Musikverleger Otto und Erwin Hein im Pariser Exil Jeweils nur vorübergehend und voneinander getrennt verlief das Pariser Exil der Brüder Otto und Erwin Hein, die 1919 in Wien unter finanzieller Beteiligung von Robert Stolz den Wiener Bohème Verlag und damit einen der kommerziell erfolgreichsten Musikverlage im Österreich der Zwischenkriegszeit geschaffen hatten.1201 Noch im Gründungsjahr war dort mit Hallo, du süße Klingelfee ein absoluter Kassenschlager erschienen; weitere, ebenfalls in vielen Ländern in Übersetzungen verbreitete Lieder sollten folgen (z. B. Salome, schönste Blume des Morgenlands; später: Ausgerechnet Bananen!). Der Verlag brachte fast durchgehend Musiknoten – hauptsächlich zu Operettenschlagern – heraus; in einer »Bohème-Bibliothek« ist nur ein einziger Buchtitel erschienen, eine Neuauflage der Satire Getaufte und Baldgetaufte von Fritz Löhner-Beda (mit der Verlagsortsangabe »Wien, Berlin, New York« 1925; Erstausgabe 1908). 1932 kaufte überraschend die Ufa, die Berliner Filmproduktionsfirma Universum Film AG, den Wiener Bohèmeverlag, zur Stärkung ihres 1929 gegründeten Ufaton-Verlags, der zur Verwertung der Filmmusikrechte dienen sollte. Otto Hein, der sich finanziell übernommen hatte und sich zu diesem Verkauf gezwungen gesehen haben dürfte, sollte in diesem Rahmen seine bisherige Tätigkeit als Verlagsleiter weiter führen; weil die Ufa letztlich nur die Aktiva, nicht aber die Verbindlichkeiten übernehmen wollte, war dieses Arrangement bald beendet, zumal nach der NS-»Machtergreifung« eine Zusammenarbeit mit Juden absolut unerwünscht war. 1933 ging Hein nach Paris; dort dürfte er beim Musikverlag Édition Coda SA gearbeitet haben, der Werke österreichischer Komponisten herausbrachte, u. a. von Hermann Leopoldi. Später, jedenfalls noch vor Kriegsausbruch, ist er nach London gezogen und hat dort einen Musikverlag gegründet, der Werke Wiener Komponisten vertrieb. Ende 1946 kehrte Hein zurück nach Wien, wo er zwei Jahre später starb.1202 Sein Bruder Erwin Hein, der in Wien 1933 gemeinsam mit der Universal Edition AG den ebenfalls im Schlager-, Tonfilm- und Operetten-Verlagsgeschäft aktiven Dacapo Verlag errichtet und 1935 dann eine weitere Firma »Erwin Hein, Verlag von Musik- und Bühnenwerken« ins Leben gerufen hatte, war im Juni 1938 nach Paris emigriert; ob er dort den Versuch einer Wiederetablierung als Musikverleger unternahm, ist nicht bekannt.
1201 Vgl. zum Folgenden Hall: »Ausgerechnet Bananen …«: Zur Geschichte des Wiener Bohème-Verlags [online], ferner Pacher: Mit Musik geht alles besser. Zeitgeschichte in Lied und Schlager (1919–1945); Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft, S. 520. 1202 Vgl. die Notiz in der Rubrik The Final Curtain. In: The Billboard, 1 January 1949, S. 49 [online].
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USA Nicht so zahlreich wie in Großbritannien erfolgten Musikverlagsgründungen in den USA, doch insgesamt war der Einfluss der Immigranten auf das Musikleben ebenfalls sehr beachtlich. Dieser Einfluss prägte sich auf zwei Feldern besonders deutlich aus: der zeitgenössischen Musik und der jüdischen Musik. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als die deutschen und österreichischen Exilanten in Nordamerika eine durchaus hochentwickelte und ausdifferenzierte Musikverlagslandschaft vorfanden, besonders an der Ostküste, mit einem klaren Fokus auf New York, wo z. B. der große Verlag G. Schirmer residierte, der für sich genommen bereits ein enormes Gravitationsfeld darstellte, was den Erwerb und die Verwaltung von Verlags- und Aufführungsrechten betraf. Die Branche hatte sich auch in Verbänden organisiert, seit 1895 in der Music Publishers Association und seit 1917 in der National Music Publishersʼ Association, letztere konzentrierte sich auf den Bereich der Unterhaltungsmusik. Durch das spezifische Urheberrechtssystem waren die USA schon vor 1933 von Deutschland aus kein lukrativer Markt; Werke, für die kein gültiges Copyright eingeholt worden war, konnten jederzeit nachgedruckt werden. Dennoch gelang es vielen der mehr als dreißig in die USA geflüchteten Musikverleger bzw. Musikverlagsangestellten, sich auch in der Neuen Welt erfolgreich zu etablieren.
C. F. Peters Corporation, New York An erster Stelle zu nennen ist hier Walter Hinrichsen* (1907 Leipzig – 1969 New York), der zweitgeborene Sohn von Henri Hinrichsen. Er hatte, ähnlich wie sein Bruder Max, eine gediegene verlegerische Ausbildung im In- und Ausland erfahren, in Hamburg, Lausanne, Köln, Brüssel und London, und war seit 1931 im väterlichen Musikverlag C. F. Peters in Leipzig tätig.1203 Unter dem Druck der politischen Ereignisse entschloss er sich, 1936 in die USA zu gehen, wo er zunächst bei der Vertreterfirma von Peters in Chicago arbeitete. Nach dem Dienst in der US-Armee von 1942 bis Kriegsende war er als U. S. Music Control Officer in der Berliner US-Kommandantur 1945 bis 1947 mitbeteiligt an der Verlegung der wichtigsten Leipziger Verlage und des Börsenvereins nach Westdeutschland, er wirkte auch aktiv am Wiederaufbau der GEMA mit.1204 Auf seine Initiative hin wurde im Juni 1945 in Leipzig der Verlag C. F. Peters mit allen anhängenden Verlagen an seine Person rückübertragen, doch wurde kurz darauf diese Entscheidung durch die sowjetische Militäradministration annulliert. Am 14. August 1946 wurde die Rückgabe an Walter Hinrichsen 1945 durch den SED-Bezirksvorstand West-Sachsen für ungesetzlich erklärt und der Verlag in Folge in der SBZ / DDR treuhänderisch verwaltet; im November 1950 wurde der VEB Edition Peters in das Handelsregister einge-
1203 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 413–417, 474 f., 477; ferner Das Jahr 1945 und die Zeit danach – zum Wirken von Walter Hinrichsen. In: Petersiana, Nr. 3, 2005, S. 8‒29; Walter Hinrichsen – 40. Todestag. In: Petersiana, Nr. 19, Juni 2009, S. 5‒11. 1204 Zum Wiederaufbau des Kulturlebens hat Walter Hinrichsen mehrere Beiträge verfasst wie: Some Considerations of the Rehabilitation of German Music and German Music-Trade in the Post-War Period. In: Hinrichsen’s Musical Year Book 1945/1946, S. 156‒159; und: German Music Life (In: Hinrichsen’s Musical Year Book 1947‒1948, S. 356‒360).
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tragen und damit die neuerliche Enteignung vollzogen. Walter Hinrichsen ging in die USA zurück und war zunächst wieder in Chicago tätig, bevor er 1948 einen eigenen Musikverlag, die C. F. Peters Corporation, in New York ins Leben rief. Beim Aufbau behilflich war sein Cousin Walter Bendix* (1909 Berlin – 2000 New York); er war hauptsächlich für die Verkaufsabteilung und die Verbindung zu den Musikalienhändlern verantwortlich.1205 Bendix hatte keine verlegerische Ausbildung, denn er hatte in Deutschland im familiären Textilunternehmen gearbeitet, bis der Betrieb Mitte 1938 »arisiert« wurde. Im März 1939 war er nach Großbritannien ins Exil gegangen, im Juni 1940 gelang ihm die Einreise in die USA, wo er zunächst als Vertreter tätig war. Insofern hatte er gute Voraussetzungen, in der C. F. Peters Corporation als Verkaufsmanager tätig zu werden.1206 In den Anfängen vertrieb das Unternehmen Notenmaterial, das es aus Leipzig bezog, und ging dann über zum Nachdruck der »Edition Peters«, bis große Teile des Leipziger Katalogs auch jenseits des Atlantiks verfügbar waren. Darüber hinaus übernahm es nach und nach die Vertretung von insgesamt 35 europäischen Musikverlagen, u. a. des in London wiederaufgebauten Eulenburg Verlags. Dies war hauptsächlich ein Betätigungsfeld für Kurt Michaelis (siehe auch weiter unten), der bis 1941 in Berlin als Musiker im Orchester des Jüdischen Kulturbundes gespielt hatte und nach seiner Flucht in die USA zunächst bei G. Schirmer unterkam, bis er 1957 zu C. F. Peters wechselte.1207 In seiner Verlagspolitik unterschied sich Walter Hinrichsen von jener des alten Leipziger Stammhauses, indem er sich nicht auf Klassik und Romantik einschränkte, sondern diese Linie ergänzte durch zeitgenössische Musik, insbesondere von USKomponisten, im weiteren auch solchen aus Kanada, Europa (mit Einbeziehung der Exilkomponisten wie Arnold Schönberg und Stefan Wolpe) und Japan. Auch experimentelle Musik, u. a. von John Cage, von dem 1960 eine Gesamtausgabe veranstaltet wurde, war Bestandteil dieser Neuorientierung, wobei Walter Hinrichsen hier unter dem Einfluss seiner Frau Evelyn, geb. Merell, stand, die seit ihrem Studium gute Kontakte zur zeitgenössischen Musikszene hatte und ihn in diesem Bereich kompetent unterstützen konnte. Unterstützung im Bereich zeitgenössische Musik fand Hinrichsen auch bei dem Musikwissenschaftler Fritz Oberdoerffer* (1895 Hamburg – 1979 Austin / Texas).1208 Zwar hatte das Forschungsinteresse Oberdoerffers in Deutschland noch der Barockmusik gegolten; bei C. F. Peters hat er aber seit 1949/1950, neben einer Lehrtätigkeit an
1205 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 456. Als Oral History-Quelle: Walter Bendix, German Intellectual Émigré Tape Recordings, John M. Spalek Collection (GER-106), University at Albany, State University of New York. 1206 1970, nach Walter Hinrichsens Tod, wurde Bendix Vizepräsident der Firma, aus der er sich 1991 zurückzog. 1207 Nach Fetthauer: Musikverlage, S. 414, 489. 1208 Oberdoerffer war 1944 war mit seiner Familie deportiert worden und musste in einem Lager Zwangsarbeit leisten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erhielt er im sowjetischen Sektor Berlins eine Verdienstmöglichkeit als Außenlektor beim Berliner Rundfunk. 1949 entschloss er sich, mit seiner Frau Rose-Marie, einer Cellistin, in den USA eine neue Existenz aufzubauen, und erhielt eine Anstellung bei der C. F. Peters Corporation. Vgl. Fetthauer, S. 416, 491; LexM [online]; ferner: Hinterthür: Noten nach Plan: die Musikverlage in der SBZ / DDR, S. 83; The University of Texas Austin, Obituary [online].
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der Universität in Austin / Texas, mehr als 25 Jahre lang als Senior Editor Walter Hinrichsen bei der Auswahl von Werken zeitgenössischer Komponisten beraten. C. F. Peters wurde so zu einem der wichtigsten Verlage für amerikanische Musik der Gegenwart.1209 Hinrichsen selbst sah im Ausbau dieses Verlagsbereiches mehr eine moralische Verpflichtung als einen Absatzmarkt. Fetthauer merkt dazu unter Bezugnahme auf ein Interview Hinrichsens aus dem Jahr 2001 an: Hinrichsens Positionierung als Musikverleger zeitgenössischer Musik, seine Verläßlichkeit gegenüber Komponisten sowie seine loyale Haltung gegenüber seinen Mitarbeitern wurden innerhalb der unübersichtlichen und teilweise schnellebigen USamerikanischen Musikverlagsbranche als Teil einer alten europäischen Tradition und speziell als Bezug auf Henri Hinrichsen und dessen soziales Engagement für die Stadt Leipzig sowie für einzelne Komponisten (z. B. Edvard Grieg) wahrgenommen.1210 Walter Hinrichsen arbeitete mit seiner New Yorker C. F. Peters Corporation von Anfang an Hand in Hand mit dem Londoner Unternehmen seines Bruders Max. In weiterer Folge bauten die Brüder seit 1950 gemeinsam in Frankfurt am Main den deutschen Stammverlag wieder auf (C. F. Peters Frankfurt) und schlossen sich zur Verlagsgruppe C. F. Peters Frankfurt – London – New York zusammen, die zu einem der weltweit führenden Musikverlagshäuser wurde. Dabei wurde der amerikanische Zweig des Unternehmens weitergeführt: nach Walter Hinrichsens Tod 1969 übernahm seine Frau Evelyn die Leitung des Verlags, später traten seine Kinder Martha und Henry in das Unternehmen ein.
Emigrantenkarrieren in US-Musikverlagen Eine bedeutende Stellung errangen ehemalige Mitarbeiter der Universal Edition (UE), die in amerikanischen Verlagen ein neues Betätigungsfeld fanden. Ein prominentes Beispiel dafür ist Hans W. Heinsheimer* (1900 Karlsruhe – 1993 New York), der in der Universal Edition AG seit 1925 die Opernabteilung geleitet, die Verlagszeitschrift Anbruch redigiert und als künstlerischer Berater von Komponisten bzw. als Opernarrangeur Bedeutendes geleistet hatte.1211 So hatte er 1925 Alban Bergs Wozzeck und 1928 Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper arrangiert. Er stieg so zur »grauen Eminenz« der UE auf, des »fortschrittlichsten, spektakulärsten Musikverlags Europas, ja der Welt« (so Heinsheimer selbst im Rückblick 1980). Zum Zeitpunkt der Annexion Österreichs befand er sich (mit Besuchervisum) in New York; er kehrte von dort nicht nach Europa
1209 Dafür erhielt Walter Hinrichsen 1964 eine Auszeichnung der amerikanischen Komponistenvereinigung »For distinguished Achievement in Fostering and Encouraging American Music«. Auch wurde ein durch den Verlag C. F. Peters finanzierter Walter Hinrichsen Award geschaffen, der bis 1971 und dann wieder ab 1978 an Komponisten vergeben wurde, die sich in der Mitte ihrer Laufbahn befinden. 1210 Fetthauer: Musikverlage, S. 416. 1211 Vgl. Fetthauer, S. 406‒413, 473.
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zurück, sondern beschaffte sich nach einem Umweg über Cuba ein Affidavit für den ständigen Aufenthalt in den USA und ließ sich in New York nieder, wo er zunächst als Repräsentant der UE bei Associated Music Publishers (AMP) arbeitete, bis er, als Folge eines zufälligen Zusammentreffens mit Ralph Hawkes im Sommer 1938, eine Anstellung und dann auch die Leitung des amerikanischen Zweiges des britischen Musikverlags Boosey & Hawkes übernahm. Er war dort mit dem Aufbau eines Katalogs für EMusik betraut und verlegerisch speziell mit dem Werk von Igor Stravinsky, Britten und Bartók befasst. 1947 erschien bei Doubleday Heinsheimers autobiographische Schrift Menagerie in F Sharp,1212 die zum (äußerlichen) Anlass seiner Kündigung wurde: Hawkes sah darin etwas, was mit der Arbeit eines Verlegers unvereinbar sei, wollte sich allerdings mit der Entlassung Heinsheimers auch die Alleinführung der New Yorker Zweigstelle sichern. Sehr bald danach wurde Heinsheimer eine Stelle bei dem großen Konkurrenten G. Schirmer angeboten, wo er dann bis zum Ende seiner Berufslaufbahn tätig war, zunächst als Leiter der Abteilung Oper und symphonische Musik, seit 1957 als Verlagsleiter und seit 1972 als Vizepräsident.1213 In diesen Funktionen arbeitete Heinsheimer mit Komponisten wie Samuel Barber und Elliott Carter zusammen, verlegte Gian Carlo Menotti und Leonard Bernstein, außerdem förderte er die Musik Benjamin Brittens in Amerika und verhalf Aaron Copland zum Durchbruch. Bei G. Schirmer konnte er nun auch wieder beruflich seiner Liebe zur Oper nachgehen und einen Katalog mit Opern aufbauen, wobei ihm eine genaue Beobachtung der US-amerikanischen Opernszene zugute kam. Er förderte das Interesse einer jungen Zuhörerschaft durch Propagierung von Schulopern (u. a. Kurt Weill, Menotti und Bernstein); das Repertoire für Werkstattbühnen bereitete dann auch den Boden für das europäische Standardrepertoire. Hier konnte Heinsheimer an seine früheren Verbindungen anknüpfen. Im Ruhestand war Heinsheimer als Musikkritiker für verschiedene europäische Zeitungen tätig, u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Führungsriege der Universal Edition AG hatte auch Hugo Winter* (1885 Wien – 1952 New York) angehört; er war dort schon seit 1910 als kaufmännischer Leiter und nach Emil Hertzkas Tod 19321214 gemeinsam mit Alfred A. Kalmus* als Direktor tätig gewesen.1215 Überhaupt war Winter eine Zentralfigur der Wiener Musikverlagsszene, denn er war auch Geschäftsführer der 1924 gegründeten Friedrich HofmeisterFigaro-Verlags GmbH, des Wiener Operetten-Verlags sowie der Musikalienhandlung Th. Schmidt’s Nachf. Josef Blaha, zudem Vorstandsmitglied in der Wiener Philharmoni-
1212 Heinsheimer hat noch weitere autobiographische Schriften verfasst: Best Regards to Aida. The defeats and victories of a music man on two continents. New York: Alfred A. Knopf 1968; dt.: Schönste Grüße an Aida. Ein Leben nach Noten. München: Nymphenburger 1969; Selbstbetrachtung zum 80. Geburtstag. In: Aufbau (New York), 19. September 1980. 1213 Fetthauer erwähnt, dass bei G. Schirmer noch vier weitere Flüchtlinge aus dem Dritten Reich untergekommen waren, F. Charles Adler, Felix Greissle, Kurt Michaelis und George Sturm (S. 409). 1214 Winter war (bis 1932 gemeinsam mit Emil Hertzka) auch Geschäftsführer des Sesam Verlags. Siehe dazu im Kap. 5.2.7 Kinder- und Jugendbuchverlage den Abschnitt zu Helene Scheu-Riesz. 1215 Siehe Fetthauer: Musikverlage, 507 f.; Österreichisches Musiklexikon online; LexM [online].
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schen Verlags AG sowie Mitinhaber von Eibenschütz & Berté, Verlags- und Vertriebsgesellschaft des Carltheaters. Nach der Annexion Österreichs 1938 wurden alle Firmen, an denen Winter mitwirkte, »arisiert«: Er musste seine Vermögensanteile anmelden und seine Verlagsbeteiligungen verkaufen; außerdem wurden ihm sämtliche Funktionen in den Branchenorganisationen entzogen. Im Mai 1939 ging Winter mit seinen Söhnen ins Exil in die USA und konnte dort seine Berufstätigkeit im gleichen Metier fortführen, indem er als Vertreter der Universal Edition bei Associated Music Publishers eintrat, deren Vizepräsident er schließlich wurde. Sein Bruder Emil Winter, der ebenfalls Aktien der Universal Edition AG gehalten hatte, war nach London emigriert. Als »Platzhirsch« in der New Yorker Musikverlagsszene übte G. Schirmer, Inc. eine magnetische Wirkung auf branchennahe deutsche und österreichische Immigranten aus. Aufgrund ihrer großen musikhistorischen Kenntnisse, ihrer Beziehungen zu zeitgenössischen Komponisten oder ihres verlegerischen Knowhows gelangte viele von ihnen in leitende Funktionen. Das galt z. B. für Kurt Günter Michaelis* (1913 Berlin – 2005 Goshen, NY), der zwischen 1937 und 1941 als Oboist dem Orchester des »Jüdischen Kulturbunds« in Berlin angehört hatte, bis es ihm gelang, in die USA zu flüchten. Dort wurde er Mitglied des New Orleans Symphony Orchestra und des Kansas City Philharmonic Orchestra, nahm dann aber 1946 eine Tätigkeit im Musikverlag G. Schirmer auf; von dort wechselte er 1957 zu C. F. Peters und blieb dem Haus einundvierzig Jahre verbunden.1216 Der ehemalige Mitarbeiter der Universal Edition in Wien Felix Greissle* (1894 Wien – 1982 Manhasset / New York), verheiratet mit Arnold Schönbergs Tochter Gertrude, war 1938 mit seiner Frau in die USA geflüchtet.1217 Über Vermittlung Schönbergs erhielt er bei G. Schirmer in New York eine Stelle und stieg dort bald zum Director of Serious Music Publications auf. Aus Enttäuschung über die Situation bei Schirmer, wo er auf die schweren Konflikte mit Schönberg nicht positiv einwirken konnte, wechselte er 1947 zum Musikverlag Edward B. Marks und übernahm hier die Leitung und Reorganisation der E-Musik-Abteilung. Außerdem wirkte Greissle als Lehrer für Musiktheorie und Komposition an der Columbia University sowie an der Philadelphia Musical Academy. Nachdem Kurt Stone* (1911 Hamburg – 1989 Wilmington N.C.) die Fortsetzung seines Konzertpianisten-Studiums aufgrund »rassischer« Verfolgung 1933 verwehrt worden war,1218 ging er nach Kopenhagen an das Königlich Dänische Musikkonservatorium; 1938 emigrierte er in die USA, wo er zunächst Musikunterricht gab, 1942 aber Verbindung zum Musikverlagswesen bekam und als Lektor für mehrere Firmen tätig wurde. 1950 wurde er in New York Leiter des Lektorats für Orchestermusik beim Verlag G. Schirmer, Inc., 1956 Cheflektor bei Associated Music Publishers, Inc. Nach Verkauf
1216 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 487 f.; Peter Conover: Kurt Michaelis. A lifelong friend to orchestra librarians. In: Marcato Vol. XV, No. 1, Sept. 2000 [online]. 1217 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 468 f. 1218 Vgl. Biographical Note, Publikationsliste (Archiv John M. Spalek, Albany); Guide to the Archival Materials of the German-speaking Emigration to the United States after 1933, Bd. 2, S. 678 (dort verzeichnet: die private Sammlung Kurt Stones); Kurt Stone, 77, Editor and Scholar of Music. In: The New York Times, 17 June 1989 [Nachruf; online]; URJ Books and Music: A Brief History of Transcontinental Music Publications ‒ A division of the Union for Reform Judaism [online]. Nicht bei Fetthauer und LexM.
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dieses Unternehmens an G. Schirmer war Stone in leitenden Stellungen bei Alexander Broude Inc. von 1965 bis 1969 und anschließend daran bis 1976 bei Joseph Boonin Inc. tätig, daneben auch in beratender Funktion für Charles Scribner’s Sons sowie 1973 als »managing editor« der elfbändigen »New Scribner Music Library«. Stone hat in 30 Jahren Arbeit für Musikverlage rund 60 Editionen alter Musik, vor allem Barockmusik, erarbeitet, besondere Verdienste hat er sich aber in der Publikation zeitgenössischer Musik, von Paul Hindemith und Charles Ives bis zu Ernst Krenek oder Arnold Schönberg, erworben. Darüber hinaus leitete er ein bedeutendes Forschungsprojekt zur Schaffung eines Index zeitgenössischer Musiknotation.1219 Kurt List* (1913 Wien – 1970 Mailand), der bei Berg und Webern studiert hatte und als Musikwissenschaftler, Dirigent, Musikkritiker, Komponist und Schallplattenproduzent tätig gewesen war, wirkte im US-amerikanischen Exil zunächst als Dozent an der Johns Hopkins University, Baltimore, sowie als Herausgeber des Musikjournals Listen, bis er beim New Yorker Musikverlag Bomart als Chairman of the Editorial Board und musikalischer Ratgeber des Verlegers ein neues Wirkungsfeld fand.1220 Der Verlag war 1948 von dem in Berlin geborenen Walter Boelke1221 und dessen Ehefrau Margot Tietz gegründet worden; ein weiterer Verlag folgte kurz darauf, Mobart Music Publications, Inc.; 1951 zogen sie nach Hillsdale / NY um. Das auf zeitgenössische Musik spezialisierte Unternehmen konnte bald, vielfach über Vermittlung durch Kurt List, Werke bedeutender Komponisten herausbringen, so von Arnold Schönberg (darunter A Survivor from Warsaw und das Streichtrio op. 45), Charles Ives und René Leibowitz, später auch von Milton Babbitt, Miriam Gideon, Leon Kirchner, u. a. m. Seit 2011 ist Boelke-Bomart, Inc., ebenso wie Mobart, Teil der internationalen Schott Music Group.
Belmont Music Publishers und International Music Corporation In die Emigrantenkolonie Hollywoods führen die Spuren zurück von Belmont Music Publishers, einem Musikverlag, der sich ausschließlich der Pflege und Rechtenutzung von Arnold Schönbergs Oeuvre widmete. Überlegungen des Komponisten, einen eigenen Verlag zu gründen und dort seine gesamten Werke unterzubringen, konnten zu seinen Lebzeiten nicht verwirklicht werden.1222 Gleichsam in eigener Sache errichteten aber die Nachkommen des Zwölftonkomponisten einen Verlag. Gertrud Schönberg* (1898 Wien − 1967 Los Angeles), Schönbergs zweite Ehefrau, war 1925 – ein Jahr nach ihrer Heirat – mit ihrem Mann nach Berlin gezogen, wo er als Leiter einer Meisterklasse für Komposition und Mitglied des Senats der Akademie der Künste wirkte.1223 Antise1219 Zu diesem Thema hat Stone 1980 ein Buch veröffentlicht: Music Notation in the 20th Century – A Practical Guidebook. New York: Norton 1980. 1220 Siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 486; Peter Revers: Egon Wellesz in Oxford. In: Vertriebene Vernunft: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930‒1940. Bd. 2, S. 618, 620. 1221 Boelke befand sich bereits seit 1925 in den USA und war dort bis zur Gründung des eigenen Verlags als Notenstecher tätig, zuletzt bei G. Schirmer. Siehe Walter R. Boelke (1905–1987) [Nachruf]. In: maa / music associates of America [online]. 1222 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 431. 1223 Vgl. Fetthauer, S. 498.
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mitische Anfeindungen in Berlin führten dazu, dass die Familie im Mai 1933 nach Paris ging und von dort im Oktober 1933 weiter in die USA, wo sie sich nach kürzeren Aufenthalten in Boston, New York und Chautauqua in Los Angeles niederließ. Ende der 1950er Jahre übernahm die Witwe zunächst den Vertrieb der Werke in den USA, 1965 zog sie die Vertretung der bei der Universal Edition erschienenen und bis dahin von den Associated Music Publishers (AMP) vertriebenen Werke Schönbergs an sich und gründete mit ihrem Sohn Lawrence Schoenberg (geb. 1941) in Los Angeles den Musikverlag und Musikvertrieb Belmont Music Publishers. In diesem Verlag sorgten sie auch für den Nachdruck vergriffener Werke oder den Erstdruck posthumer Werke. Als die amerikanischen Copyrights für Arnold Schönbergs Werke nach 28jähriger Laufzeit fristgemäß erneut angemeldet werden mussten, wurden die Rechte – allen finanziell günstigen Angeboten zum Trotz – nicht wieder an die ursprünglichen Verleger vergeben, sondern im Belmont Verlag gebündelt. Dass ein Verlag allein auf das Werk eines einzigen Komponisten ausgerichtet ist, stellt für sich genommen keinen absoluten Ausnahmefall dar; die Tatsache aber, dass Belmont nicht in erster Linie profitorientiert arbeitet, sondern ideellen Motiven den Vorrang einräumt, der von wirtschaftlichen Interessen unabhängigen Pflege des Schönberg’schen Werkes, lässt ihn als einen Sonderfall erscheinen. Nach dem Tod der Mutter übernahm Lawrence Schoenberg die Weiterführung des Verlags, der sich bis in die Gegenwart u. a. durch Erarbeitung kritischer Editionen überaus aktiv zeigt.1224 Verwischt haben sich dagegen die Spuren des 1941 in New York von A. W. Haendler (ca. 1894‒1979) gegründeten Musikverlags International Music Corporation (IMC), »a major supplier of classical print music«, der nach dem Tod des Firmengründers in den Besitz der Bourne Co. Music Publishers übergegangen ist: the company was purchased from the estate of Haendler and the American Israel Foundation, which inherited the company upon Haendlers death. The purchase price is estimated at several million dollars. Bonnie Bourne, president of Bourne Music, said company management would continue to operate the company. The company was reportedly eagerly sought by other print firms.1225
Alexander László und die American Colorlight-Music Society Aus der Musik-, Theater-, Film- und Fotoszene des Berlins der 1920er und 1930er Jahre führte der Emigrationsweg den in (Österreich-)Ungarn geborenen Alexander (Sandor) László* (1895 Budapest − 1970 Los Angeles) 1938 über Ungarn in die USA. In New York setzte er 1940/1941 als Leiter der American Colorlight-Music Society seine lichtund tontechnischen Experimente fort (Lászlo ist mit seinem »Sonochromatoskop« der Erfinder der Farblichtmusik); es war dann nur ein logischer Schritt, dass László 1943 nach Kalifornien zog, wo er nicht nur als Leiter des Musikverlags Guild Publications of California, sondern auch als Dirigent des Symphonieorchester Hollywoods und Filmkomponist insbesondere für Paramount Pictures ein reiches Betätigungsfeld fand.
1224 Siehe hierzu die Homepage des Belmont-Verlags: http://www.schoenbergmusic.com/ 1225 »Intl Music Firm Sold To Bourne«. In Billboard, 2. Juni 1979, S. 15 [online].
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Verlage für Jüdische Musik in Palästina / Israel und in den USA Der Begriff »Jüdische Musik« erfordert eine Erläuterung, wie Fetthauer in ihrer umsichtigen Darstellung mit Recht anmerkt.1226 Die Diskussion darüber kommt allerdings zu keinem eindeutigen Ergebnis; es bleibt unklar, ob es sich dabei um »Musik von Juden für Juden« oder »Musik von Juden für alle Zuhörer« handelt. Gemeinhin wird unter ersterem Begriff sämtliche liturgische Musik, aber auch nicht-liturgische Musik der jüdischen Gemeinden weltweit verstanden, und in der Tat finden wir nicht nur in Palästina / Israel Musikverlage, die sich auf solche Musik spezialisiert haben, sondern ebenso in den USA und noch anderen Ländern. In Deutschland gab es vor 1933 eine Reihe von Musikverlagen, die sich wie der Berliner Verlag Hatikwah auf jüdische Musik spezialisiert hatten, außerdem noch andere, die – wie etwa I. Kauffmann1227 in Frankfurt am Main oder die Firma M. W. Kaufmann in Leipzig, die zuletzt von Max Kallmann* und dann von Oscar Porges* geleitet wurde1228 – neben diesem auch noch andere Programmfelder pflegten. Insofern sie als »Jüdischer Buchvertrieb« oder »Jüdischer Buchverlag« im Rahmen des »jüdischen Ghettobuchhandels« die Erlaubnis dazu hatten, wurden einige von ihnen noch bis 1938 weitergeführt. Nur wenigen der Inhaber gelang die Flucht; umgekehrt entschieden sich manche Verlegeremigranten erst in ihrem Asylland, sich auf jüdische Musik zu konzentrieren. In Palästina fehlte es in vielerlei Hinsicht an den Voraussetzungen für den Aufbau und Betrieb eines wirklich produktiven Musikverlags. Vor 1933 gab es in Palästina faktisch keinen Musikverlag, und auch das entsprechende Vorhaben von Oskar Guttmann* (1885 Brieg / Schlesien – 1943 New York) hat sich nicht verwirklichen lassen.1229 Guttmann war 1929 durch eine Verpflichtung an die Synagoge in der Oranienburger Straße nach Berlin gelangt und widmete sich in der Folge als Herausgeber und Komponist der jüdischen Kultusmusik. Nach Errichtung der NS-Herrschaft flüchtete Guttmann zunächst nach Palästina, wo er sich 1937 zusammen mit Eduard Gans vergeblich um die Gründung eines Verlags für jüdische Musik bemühte. Nach seiner Auswanderung in die USA fand Guttmann eine Stelle im Astoria Center of Israel in Queens, N. Y.; 1941 übernahm er die musikalische Leitung an der Spanish and Portuguese Synagogue in New York. Ein weiterer gescheiterter Versuch zur Gründung eines Musikverlags wurde im Rahmen des »World Centre for Jewish Music in Palestine« unternommen, das von dem Amateurmusiker Salli Levi 1936 gegründet worden war.1230 Im gleichen Jahr beschrieb
1226 Fetthauer: Musikverlage, S. 381. 1227 Zu dem 1941 in die USA geflüchteten Inhaber Felix Kauffmann siehe das Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. Als Verleger ist er im Exil nicht mehr tätig geworden; auch der geplante und auch behördlich genehmigte Vertrieb seiner (Musik-)Verlagswerke in den USA kam nicht zustande, da sein Lager nicht transferiert wurde. 1228 Zu beiden vgl. Fischer: Handbuch. 1229 Vgl. Aufbau 17. September 1943 [Nachruf]; Fetthauer: Musikverlage, S. 469; Jascha Nemtsov: Oskar Guttmann und Alfred Goodman. Berlin: Hentrich & Hentrich 2009; Leo Baeck Institute Archives, Eduard Gans Family Collection 1796–1982 [online]. 1230 Vgl. zum Folgenden Fetthauer: Musikverlage, S. 390‒395.
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Levi in einem weltweit verbreiteten und auch in Berlin diskutierten Memorandum die möglichen Aufgabengebiete des »World Centre«, zu denen seiner Ansicht nach auch der Betrieb eines Musikverlags in Palästina gehörte. Zur Umsetzung dieses Zieles (das mehr und mehr zum Hauptziel des »World Centre« avancierte) wurden unterschiedliche Pläne entworfen, u. a. von Eduard Gans und Paul Rosenberger in Berlin, die auch ein Fachgutachten Richard Schauers vom Musikverlag Benjamin einholten und auch Ernst Hainauer zu Rate zogen, doch ließ sich unter den gegebenen Umständen, auch aus Kapitalmangel, nichts davon umsetzen. Als einziges gelang es dem »World Centre«, 1938 zwei Nummern einer mehrsprachigen Zeitschrift Musica Hebraica herauszubringen; 1940 musste es selbst schließen.
Edition Pro Musica Immerhin mehr als zehn Jahre lang hatte der Musikverlag Bestand, den Benno Balan* (1896 Berlin – 1944 Jerusalem) zuerst in Paris gegründet und dann in Jerusalem weitergeführt hat. Balan hatte in Berlin ein Musikaliengeschäft und mit der Edition Balan auch einen kleinen, aber doch bemerkenswert ambitionierten Verlag für zeitgenössische Musik betrieben, ehe er 1933 nach Paris flüchtete und im Quartier Latin eine Musikalienhandlung eröffnete; auch setzte er seine verlegerische Tätigkeit unter dem Firmennamen Éditions Pro Musica fort.1231 1935 emigrierte Balan nach Palästina und führte mit seiner Frau Dora Balan-Munk in Jerusalem ein mit dem Konservatorium assoziiertes Musikaliengeschäft, dem erneut auch ein – nunmehr auf hebräische Musik und Lehrmaterialien spezialisierter – Musikverlag angeschlossen war, der wieder Edition Pro Musica hieß; nach Balans Tod setzte seine Witwe die Geschäftstätigkeit eine Zeitlang fort. Mit welchen Hürden ein solch spezialisiertes Unternehmen zu tun hatte, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es um 1945 in Palästina nur einen einzigen Drucker gab, der in der Lage war, Musikalien herzustellen; auch war es schwierig, die benötigten Papierqualitäten und Druckplatten zu beschaffen.
Israeli Music Publications Ltd.; Ilan Melody Press, Tel Aviv Zu den ersten Musikverlagsgründern im neuerrichteten Staat Israel gehörte in jedem Fall Peter Emanuel Gradenwitz* (1910 Berlin – 2001 Tel Aviv).1232 Gradenwitz war nach einem Studium u. a. der Musikwissenschaft in Berlin, Freiburg i. Br. und Prag sowie Kompositionsunterricht bei Hanns Eisler 1936 über London nach Palästina gegangen und hatte dort zunächst als Musiklehrer sowie als Journalist und Musikwissenschaftler sowie für den Rundfunk gearbeitet. 1949 gründete er in Tel Aviv unter Beteiligung des israelischen Komponistenverbandes und des Leeds Publishing House die Israeli
1231 Vgl. Fetthauer, S. 388 f. und 454 f. Außerdem: Barbara von der Lühe: Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina, S. 79‒81. 1232 Vgl. Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh: Bertelsmann-Lexikon Verlag 1992, S. 173 f.; Fetthauer: Musikverlage, S. 396‒398, 468; EXIL 21 (2001), Nr. 2, S. 64. Gradenwitz hat eine Vielzahl von Publikationen herausgebracht; siehe als ein Beispiel: Gradenwitz: Der deutsch-jüdische Beitrag zur Entwicklung des Musiklebens in Israel.
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Music Publications Ltd., die sich bald zum ersten Musikverlag Israels von internationalem Rang entwickelte. In der Mehrzahl waren es Kompositionen aller Stilrichtungen von zeitgenössischen, in Israel lebenden Komponisten, die dort erschienen; es wurden aber auch Komponisten aus anderen Ländern und Religionen sowie klassische westliche Musik in den sich ständig vergrößernden Katalog aufgenommen. 1952 trennte sich Gradenwitz von seinen Teilhabern; der Verlag wurde mit Schwerpunkt auf religiöser Musik, aber auch mit Kompositionen von Schönberg, Milhaud oder Martinů selbständig. Daneben gründete Gradenwitz einen weiteren Verlag, Ilan Melody Press, der auf Unterhaltungsmusik spezialisiert war und dessen Einnahmen den Israeli Music Publications zugutekamen. 1982, nach dreißigjähriger Tätigkeit, verkaufte Gradenwitz, der seit 1968 auch an der Universität Tel Aviv lehrte und seit 1980 Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Freiburg war, den Verlag.1233
Transcontinental Music Publishers Corp., New York In den USA bestanden besonders günstige Voraussetzungen für die Etablierung von Verlagen für jüdische Musik, da vor allem in New York die jüdischen Immigranten bereits seit dem 19. Jahrhundert u. a. in Chorvereinigungen ein reges Musikleben entfaltet hatten.1234 Eine amerikanische Erfolgsgeschichte auf dem Spezialgebiet jüdischer Musik repräsentiert insbesondere die Transcontinental Music Publishers Corp. (TMP), gegründet von Josef Freudenthal* (1903 Geisa / Thüringen – 1964 New York).1235 Der Jurist Freudenthal war seit 1926 als Syndikus im Leipziger Musikverlag A. J. Benjamin tätig gewesen und dort zum Direktor aufgerückt. Daneben betätigte er sich als Musikpublizist und, meist unter Pseudonymen, als Komponist von Unterhaltungsmusik sowie Synagogenmusik. 1936 emigrierte er in die USA, wo er 1937/1938 fünf europäische Musikverlage sowie den Tel Aviver Buchverlag Hozaah Ivrit Co. als Agent vertrat. 1938 gründete er die TMP, die bald zum größten amerikanischen Verlag für jüdische Musik aufstieg. Freudenthal, der 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, brachte zunächst Lieder und Kammermusik für Streicher und Klavier heraus, setzte sich aber auch für bekannte deutsch-jüdische Komponisten wie Heinrich Schalit, Hugo Chaim Adler oder Oskar Guttmann sowie für junge amerikanische Talente ein. Auf diese Weise verschaffte er seinem Unternehmen ein fortschrittliches Profil, mit dem es sich gegen die eingesessenen, traditionalistisch ausgerichteten Verlage wie Bloch Music Publishing, Metro sowie Mills Music durchsetzen konnte. Kennzeichnende Publikationen waren der Sammelband New Palestinean Folk Songs von Abraham W. Binder und das Piano Book of Tunes from Israel von Louise Tischler. Freudenthal komponierte auch selbst wieder Synagogen- und Populärmusik, gab Liederbücher heraus (Oneg Shabbat – The New Jewish Community Songster, The Singing Israel – Jewish Community Songster) und verfasste musikwissenschaftliche Artikel und Hörfunkmanuskripte. Bemerkenswert
1233 Zu musikverlegerischen Initiativen einzelner Institutionen wie des »Israel Music Institute« oder des »Israel Institute for Sacred Music« siehe Fetthauer: Musikverlage, S. 398 f. 1234 Vgl. hierzu Fetthauer, S. 433‒441. 1235 Fetthauer: Musikverlage, S. 437‒440, 465; LexM [online]; Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 228 f.
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auch, dass sehr früh Kompositionen in den Katalog aufgenommen wurden, die den Holocaust zum Gegenstand hatten, wie Erich Zeisls Requiem Ebraico. Diese thematische Abteilung wuchs später auf mehr als 40 Titel an. Freudenthal, Vorstandsmitglied des National Jewish Music Council und Jewish Music Forum, auch in der Society for the Advancement of Jewish Liturgical Music und noch anderen Organisationen engagiert und dementsprechend einflussreich im jüdischen Musikleben der Zeit, leitete den Verlag bis zu seinem Tod 1964. Seine Frau Marie Barova, eine Sängerin, führte den Verlag noch bis 1980 weiter und überließ dann alle Rechte und das gesamte Lager der Union of American Hebrew Congregations, später Union for Reform Judaism (URJ). Als diese mit dem Geschenk wenig anzufangen wusste, kam ein weiterer aus Deutschland emigrierter Musikverleger ins Spiel: der sehr erfahrene und in der gesamten Musikbranche höchst respektierte Kurt Stone* (siehe oben). Er bildete das Personal aus, das in weiterer Folge im Unternehmen jene hohen Standards etablierte, für die es heute bekannt ist. Als »part-time editor« war 1977 bis 1980 der Kantor Stephen Richards tätig, gefolgt von Judith Tischler, die – ausgebildet ebenfalls von Kurt Stone – bis 1999 als Direktorin den Verlag leitete. Ihre Nachfolger sorgten für eine Ausweitung des Programms und dessen genaue Ausrichtung auf die aktuellen Bedürfnisse der Zielgruppen, auch durch Vertriebskooperationen (mit der Hal Leonard Corp., dem größten Notenvertrieb der Welt) oder die Zusammenlegung mit den buchverlegerischen Aktivitäten zur URJ Books and Music publishing group. Das Programm umfasste inzwischen viele tausend Artikel, sowohl im Bereich der Notenliteratur wie auch der Tonträger. Die TMP, die sich seit 2015 unter dem Dach der American Conference of Cantors (ACC), der Berufsorganisation zertifizierter jüdischen Kantoren, befindet, versteht sich heute als weltweit ältester und größter Verlag für jüdische (liturgische) Musik.1236
Hatikvah Music Publishing Comp., Boston Mit der um 1940 entstandenen Hatikvah Music Pub. Co. setzte Janot S. Roskin* (1884 Rjesitza bei Witebsk / Weißrussland – 1946 Indianapolis) seine Tätigkeit als Musikverleger im Exil fort.1237 Begonnen hatte diese Tätigkeit bereits 1916 in Berlin-Wilmersdorf, als er den auf jüdische Musik spezialisierten Verlag für nationale Volkskunst ins Leben rief, den er 1921 in Musikverlag Hatikwah (»Hoffnung«, wie die zionistische Nationalhymne) umbenannte. Neben seiner verlegerischen Tätigkeit wirkte Roskin als Chorleiter der jüdischen Gemeinde Moabit, komponierte chassidische Lieder und Bearbeitungen jüdischer, auch chassidischer Volksmelodien und war im Berliner Jüdischen Kulturbund aktiv. Vermutlich 1936 ging er in die USA ins Exil, und spätestens 1941 gründete er in Boston die Hatikvah Music Publishing Comp. In der Folgezeit hatte die Firma Adressen in Roxbury, Dorchester (Massachusetts) sowie Indianapolis (Indiana); die Verlagsproduktion wuchs auf ca. 170 Nummern, wobei Roskin auf sein früheres, in Deutschland aufgebautes Verlagsprogramm zurückgreifen konnte, etwa mit den Jewish Folk Songs und eigenen Kompositionen. Das weitere Programm enthielt auch Roskins Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten, von Georg Friedrich Händel ebenso wie von
1236 A Brief History of Transcontinental Music Publications [online]. 1237 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 440 f., 495; LexM [online].
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zeitgenössischen jüdischen Komponisten wie Louis Lewandowski, Hermann Jadlowker oder Weintraub. Als Mitglied des Jewish Music Forum unterhielt Roskin engen Kontakt mit der jüdischen Musikszene in den gesamten USA. Den Vertrieb der Verlagswerke überließ er der großen New Yorker Firma Bloch Publishing Co. Nach seinem Tod übernahm seine Frau, die 1903 geborene Komponistin Evelyn Borofsky Roskin, den Verlag und führte die Firma noch bis zu ihrem Tod 1967 weiter. Einige Verlagswerke von Hatikvah wurden später von Transcontinental Music Publishers, New York, neu aufgelegt.
Südamerika Edicion Fermata, Buenos Aires / Fermata Do Brazil, São Paulo Höchst erfolgreich agierte als Musikverleger in der »pop music industry« in Südamerika der Hitler-Emigrant Henryk Lebendiger* (geb. 1911 in Polen); er setzte die von ihm in Warschau gegründete und geleitete Edition Fermata nach seiner 1933 erfolgten Emigration in Argentinien unter gleichem Namen fort. 1936 erschien in der Edicion Fermata in Buenos Aires der erste Tango Nostalgias. 1951 nahm er Ben Molar als Partner auf und gründete drei Jahre später in Brasilien Fermata Do Brazil; Enrique Lebendiger, »the boss of bossa nova« (Eric Hobsbawm) baute in der Folge seinen Musikverlag, der auch ein eigenes Plattenlabel produzierte, u. a. mit Werken von Tom Jobin, Roberto Carlos oder Héctor Villalobos zu einem international agierenden Musikkonzernunternehmen aus: In den 1960er Jahren eröffnete Fermata Do Brazil Zweigstellen in New York, Zürich, Tokio und Mexiko. Lebendiger vertrat die deutsche GEMA in Südamerika und galt in der U-Branche als der beste Musikverleger Südamerikas.1238
Otto Preston, Buenos Aires Unter dem Namen Otto Preston startete Otto Pretzfelder* (1886 Regensburg − 1940) in Buenos Aires ein Musikverlagsunternehmen, über das allerdings nichts Näheres bekannt ist. Pretzfelder war seit Anfang der 1930er Jahre Inhaber des 1892 gegründeten Musikverlages mit Musik- und Instrumentenhandlung Hermann Augustin in Berlin und Geschäftsführer bei der Ufaton Verlags GmbH. Aus den Vertraulichen Mitteilungen des deutschen Musikalien-Verleger-Vereins / der Fachschaft Musikverleger der Reichsmusikkammer geht hervor, dass Pretzfelder in dieser Funktion 1934 aufgrund seiner jüdischen Abstammung ausscheiden musste; spätestens 1935 wurde sein Musikalienverlag »arisiert«. Sein Fluchtweg ins Exil ging über Holland und Prag nach Südamerika, wo er in Buenos Aires unter dem Namen »Otto Preston« erneut als Musikverleger tätig wurde.1239 Einer Liste zu jüdischen Begräbnissen in Buenos Aires zufolge ist er bereits 1940 dort verstorben.1240
1238 Vgl. Fetthauer, S. 484; Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Musikverleger, 1939; Fermata do Brasil (Homepage) [online]. 1239 Adressbuch 1931, S. 23; Fetthauer: Musikverlage, S. 492 f.; LexM [online]. 1240 https://www.hebrewsurnames.com/jewish-burial-argentina-1940
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5.2.7
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Kinder- und Jugendbuchverlage
Spezifika der Kinder- und Jugendliteratur im Exil Im deutschsprachigen Exil 1933‒1945 ist Kinder- und Jugendliteratur (KJL) in beachtlichem Umfang entstanden; zahlreiche Autoren und Autorinnen, aber auch Illustratoren und Illustratorinnen haben sich auf diesem Gebiet betätigt. Allerdings sind diese Bücher in unterschiedlichsten belletristischen Verlagen erschienen, sowohl Exilverlagen wie ausländischen Verlagen, während es zur Errichtung von darauf spezialisierten Verlagen innerhalb des Exils nur in ganz wenigen Fällen gekommen ist, da der Markt für reine KJL-Verlage schlicht zu klein und die deutschsprachige Emigration angesichts ihrer räumlichen Zersplitterung als Absatzgebiet kaum erschließbar gewesen ist.1241 Deshalb soll in diesem Kapitel der Bogen etwas weiter aufgespannt werden, um größere Teile der KJL-Produktion des Exils unter verlagsgeschichtlichen Gesichtspunkten in Augenschein nehmen zu können. Eine günstige Voraussetzung dafür ergibt sich aus dem Faktum, dass die literaturwissenschaftliche KJL-Forschung selbst gut entwickelt ist. Auch wenn diese Forschung buchhandelsgeschichtliche Aspekte kaum gezielt berücksichtigt, so liefert sie doch nützliche Basisdaten zu Autoren und Werken.1242 Für den Bereich der Illustration stellt u. a. der Begleitband zu der 2003 in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main gezeigten Ausstellung »Buchgestaltung im Exil« einen zweckdienlichen Ausgangspunkt dar.1243 Dass das Exil der Kinder und Jugendlichen ein Thema mit ganz spezifischen Fragestellungen darstellt, wurde spät erkannt. Das Erlebnis von Flucht und Vertreibung, die Erfahrung der Fremde, das Aufwachsen in oft wechselnden Lebensumgebungen wurde von ihnen in anderer Weise verarbeitet als von Erwachsenen, wobei auch die Tatsache zu berücksichtigen ist, dass der deutlich größere Teil der mehr als 30.000 Kinder und Jugendlichen unter 16 Jahren, die zwischen 1933 und 1939 aus Deutschland und Österreich geflüchtet sind, nicht im Familienverband, sondern getrennt von ihren Eltern im Rahmen organisierter Rettungsaktionen ins Ausland gelangt ist.1244 In Gang gebracht wurden diese Aktionen für jüdische Kinder schon seit 1933 von der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, vor allem im Rahmen der Jugend-Alija, mit der bis November
1241 Eine Belieferung des deutschen Marktes war nur in einer geringen Zahl von Fällen möglich; sie kam allenfalls für weltanschaulich neutrale Bücher aus Nicht-Exilverlagen in Frage und nur für Bücher von Autoren, die im Dritten Reich nicht auf Verbotslisten standen. 1242 Siehe etwa Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒1950 [Katalog der Deutschen Bücherei Leipzig]; Fuss Phillips: German children’s and youth literature in exile; Josting: Exil, S. 295‒311; Josting: Kinder- und Jugendliteratur deutschsprachiger ExilautorInnen; Herre: Kinder- und Jugendliteratur im politischen Exil 1933–1945; Benner: Federkrieg. Kinderund Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus 1933‒1945 (bes. Kap. 3.3, S. 78‒175: Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils). – Für die österreichische KJL des Exils vgl. Kleine Verbündete; Seeber: Wo andere Leute wohnen. Kinder- und Jugendliteratur des österreichischen Exils in Großbritannien. 1243 Buchgestaltung im Exil 1933‒1950. 1244 Vgl. Hansen-Schaberg: Kindheit und Jugend, Sp. 82 f. – Dem Artikel ist ein ausführliches Literaturverzeichnis beigegeben.
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1938 rund 4.800 Kinder nach Palästina kamen. Aber auch andere Länder nahmen Kinder und Jugendliche auf: Unter dem Eindruck der Reichspogromnacht verstärkten sich die Bemühungen vor allem der ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen und der Quäker, und Großbritannien bot Asyl für 10.000, Holland für 1.850, Belgien für 800, Frankreich für 700 Kinder und die Schweiz für 300 Waisenkinder an […], so daß bis Ende 1939 vermutlich über 18.000 deutsche jüdische Mädchen und Jungen ausgewandert waren […].1245 In der Praxis dürften diese Zahlen nach Kriegsbeginn jedoch überboten worden sein; in Frankreich lebten Anfang 1940 allein in den vom »Oeuvre de Secour aux Enfants« (OSE) betriebenen, von Ernst Papanek geleiteten Kinderheimen 1.600 Kinder aus Deutschland und noch anderen Ländern. Mit dem Vorrücken der deutschen Truppen gerieten sie erneut in Gefahr; die von den USA gewährten 5.000 Visen kamen teilweise zu spät; rund 100 Kinder wurden aus Frankreich deportiert und ermordet. In einigen Ländern, vor allem in den Niederlanden, überlebten viele Kinder die Besetzung des Landes in Verstecken im Untergrund. Kinderheime gab es auch in anderen Ländern, in Italien oder in der Schweiz, dort immerhin vor dem Zugriff der NS-Verfolger geschützt. In Palästina dürften rund 12.000 jüdische Mädchen und Jungen aus Deutschland und allen okkupierten Ländern Zuflucht gefunden haben, nachdem nach der Pogromnacht noch 2.500 zusätzliche Einreisezertifikate für die Jugend-Alija bewilligt worden waren. Zu bedenken ist, dass die allermeisten dieser über Transporte ins Ausland geretteten Kinder ihre Eltern und Angehörigen nicht wieder gesehen haben, was in vielen Fällen Traumatisierungen, Schuldgefühle und andere bleibende psychische Schäden und Beeinträchtigungen zur Folge gehabt hat. Auch waren die Lebensverhältnisse und die Bedingungen des Aufwachsens in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Für die gemeinsam mit ihren Eltern geflüchteten Kinder und Jugendlichen galt es nicht minder, vielfältige Probleme in Sprache, Schulbildung und generell im Bereich der Sozialisation (mit charakteristischen Entwurzelungs- und Ausgrenzungserfahrungen) zu überwinden.1246 Kinder passten sich in der Regel der neuen sprachlichen Umgebung schneller an, sie hingen nicht in gleicher Weise wie ihre Eltern an der deutschen Sprache. Es konnte aber wohl geschehen, dass die Eltern gerade deshalb großen Wert darauf legten, ihre Kinder mit deutschsprachigem Lesestoff zu versorgen, damit diese eben nicht die Beziehung zur heimatlichen Kultur verloren. Welchen Beitrag die Verlage, die deutschsprachige KJL produzierten, zur Bewältigung dieser schwierigen Lebenssituationen leisten konnten, ist bisher nicht systematisch erforscht worden. Soviel steht fest, dass alle an der Entstehung einer Exil-KJL Beteiligten – Autoren, Illustratoren, Übersetzer, Verlage – sich nicht allein auf eine deutschsprachige Käuferund Leserschaft konzentrieren konnten, sondern sich, im zeitlichen Verlauf zunehmend stärker, auch auf das Publikum des jeweiligen Gastlandes bzw. auf ein internationales
1245 Hansen-Schaberg: Kindheit und Jugend, Sp. 83; dort mit genaueren Quellenangaben. 1246 Vgl. hierzu die Arbeiten von Hildegard Feidel-Mertz, besonders: Pädagogik im Exil nach 1933; Schulen im Exil.
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Publikum hin orientieren mussten. Das hatte nicht nur sprachliche Konsequenzen – sofern es sich nicht um reine Bilderbücher handelte, galt es, taugliche Übersetzungen anzufertigen –, sondern auch inhaltliche, indem auf Titel, Namen, Themen und Motive abgestellt werden musste, die alles allzu spezifisch Deutsche (oder Österreichische) vermieden; nicht zuletzt galt es, Mentalitätsunterschiede zu berücksichtigen, was manche Verlage von der Übernahme von Titeln Abstand nehmen ließ. Ein Überblick über die Kinder- und Jugendbuchszene des Exils wird aus diesen Gründen ein besonders internationales Gepräge haben und zahlreiche ausländische Verlage mit einbeziehen. Auch sonst sind hier manche Grenzen vergleichsweise fließender, so etwa zwischen Autor / in und Illustrator / in; nicht selten fällt dies in eins, oder es kann nicht ohne Weiteres entschieden werden, wer von den beiden den größeren Anteil am Zustandekommen eines Kinderbuches hat. Ebenso fließend sind die Grenzen zwischen »intentionaler KJL« und Büchern, die vom Autor als Erwachsenenlektüre gedacht waren, letztlich aber als Jugendlektüre dienten. So etwa hat Alexander Moritz Frey seinen 1945 in Basel im Burg-Verlag erschienenen Roman Birl, die kühne Katze als »Märchen für Erwachsene« bezeichnet, die mit Zeichnungen von Hans Fischer versehene Erzählung wurde aber doch nur eingeschränkt als solches rezipiert.1247 Manche Exilwerke sind – ohne dass der Begriff schon bekannt gewesen wäre – bereits gezielt als »All-Age-Buch« positioniert worden, wobei sich auch in diesen Fällen ein jugendliches Publikum deutlicher angesprochen fühlen durfte als ein erwachsenes. Dies gilt etwa für die beiden von Anna Maria Jokl in Prag geschriebenen Bücher Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute und Die wirklichen Wunder des Basilius Knox. Ein Roman über die Physik für Kinder von 10 bis 70 Jahren, die allerdings in deutscher Sprache erst 1948 im Berliner Dietz Verlag bzw. im Wiener Globus Verlag erschienen sind (Basilius Knox bereits 1937 in tschechischer Sprache).1248 Fließend sind die Übergänge namentlich im Bereich der Mädchen- und der Frauenromane, wie etwa am Beispiel von Maria Leitners Elisabeth, ein Hitlermädchen beobachtet werden kann; der 1937 in Fortsetzungen in der Pariser Tageszeitung erschienene Roman (eine Buchausgabe kam erst 1985 im Aufbau-Verlag Berlin, Weimar heraus) war als eine Art antifaschistisches Gegenstück zum nationalsozialistischen Jungmädchenroman gedacht. In der einschlägigen Forschungsliteratur werden die Bücher von Frey und Leitner, ebenso Werke von Irmgard Keun (Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften), Anna Gmeyner (Manja) oder Ernst Preczang (Ps. Peter Labor) Ursel macht Hochzeit (Zürich: Büchergilde 1934) und Ursula. Geschichte eines kleinen Mädchens (Berlin: Büchergilde 1931, Zürich: Büchergilde 1934 u. ö.) nicht der Jugendliteratur zugerechnet, wobei allerdings konzediert wird, dass in diesen Fällen »die Trennlinie zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur sicherlich nicht eindeutig gezogen werden kann«.1249 In der KJL des Exils waren im Prinzip alle literarischen Gattungen vertreten, wenngleich mit recht unterschiedlichen Anteilen – und unterschiedlichen Publikationschancen.
1247 Josting: Kinder- und Jugendliteratur deutschsprachiger ExilautorInnen, Sp. 851. 1248 Vgl. hierzu Josting, Sp. 855 f., sowie Sp. 875, wo auf das vorbildliche Konzept dieses Sachbuchs hingewiesen wird. 1249 Josting, Sp. 850 f.
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Bertolt Brecht verfasste Kinderlieder, die in den Svendborger Gedichten (London [eig. Prag]: Malik 1939) erschienen, Mascha Kaléko im Exil für ihren Sohn das Versbuch Der Papagei, die Mamagei und andere komische Tiere, das erst 1961 in der Bundesrepublik Deutschland herauskam. Margarete Steffin schrieb mehrere Theaterstücke (Die Geisteranna, verfasst 1934/1935, gedruckt 1994; Wenn er einen Engel hätte, mit Teilabdrucken 1936 und 1937), die ebenfalls erst viel später im Druck erschienen.1250 Auch von Anna Maria Jokl (Die Böhmische Polka; English Scene) und Béla Balász (Karl Brunner, Moskau 1937) sind Kindertheaterstücke bekannt; Anna Seghers schrieb ein Kinderhörspiel Ein ganz langweiliges Zimmer, das erst 1973 gedruckt wurde. Beispiele kennt selbstverständlich auch das Kindersachbuch, wiewohl es sich in der KJL des Exils insgesamt als unterrepräsentiert erweist. Wie es einige Autoren gab, die im Exil keine Kinder- oder Jugendbücher mehr schrieben (Anna Siemsen, Jo Mihaly),1251 so gab es sehr viel mehr andere, die darin neue Betätigungsmöglichkeiten fanden. Allerdings: Nicht alle im Exil entstandenen Arbeiten konnten sofort veröffentlicht werden, wie nicht nur die eben genannten Beispiele aus dem Bereich der Kinderlyrik und des Kindertheaters zeigen. Unter exilgeographischer Perspektive lässt sich feststellen, dass sich die KJL-Autoren / innen und Illustrator / innen über fast alle Kontinente verteilt haben, dass sich aber doch klare Schwerpunkte vor allem in Großbritannien, den USA und der Schweiz gebildet haben. Nach einer Aufstellung im 1999 erschienenen Katalog der Deutschen Bücherei Leipzig Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒19501252 stellte sich die Verteilung – ausgehend von den bei Fuss Phillips erfassten Vertretern des Genres – wie folgt dar: Großbritannien USA Schweiz Frankreich UdSSR Österreich ČSR Palästina Spanien
26 26 25 24 15 14 13 9 8
Dänemark Niederlande Schweden Argentinien Italien Belgien China Finnland Mexiko
7 7 6 4 4 3 2 2 2
Brasilien Ecuador Kanada Luxemburg Paraguay Polen Portugal Uruguay
1 1 1 1 1 1 1 1
Tschechoslowakei In der Tschechoslowakei, für viele Autoren und auch Verleger erstes und naheliegendes Fluchtziel, kamen in verschiedenen Verlagen Kinder- und Jugendbücher heraus, so Anna Maria Jokls Das süße Abenteuer. Eine Geschichte für Kinder (Prag: Industrie-Druckerei 1937),1253 Fritz Rosenfelds Der Regenbogen fährt nach Masagara. Ein Kinderbuch 1250 1251 1252 1253
Siehe Barck: Von Gespenstern und Engeln, S. 53‒64. Josting: Kinder- und Jugendliteratur deutschsprachiger ExilautorInnen, Sp. 847. Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒1950, S. 18. Das mit zahlreichen Illustrationen von Busche Landsberger versehene Kindersachbuch beschreibt die Verarbeitung von Rüben zu Zuckerwürfeln aus der Perspektive von zwei Rü-
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(Prag: Staatl. Verlags-Anstalt 1938) oder 1938 eine Neuauflage von Friedrich Torbergs Jugend- und Erwachsenenroman Der Schüler Gerber hat absolviert in Mährisch-Ostrau bei Kittls Nf. (Erstausgabe Wien: Zsolnay 1930). Ein politisches Kindersachbuch erschien mit Kurt Falks (d. i. Kurt Löwenstein) Karl Marx. Erzählt für unsere Jugend (Bodenbach: Nordböhm. Druck- und Verlags-Anstalt 1935). 1936 erschien im Prager Rozsevačka Verlag Max Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel in tschechischer Sprache (Honba za botou), nachdem es ihm nicht gelungen war, einen Verlag für eine originalsprachliche Ausgabe zu finden (das war erst 1953 der Fall); Zimmering gehörte nach 1945 zu den bekanntesten Kinderbuchautoren der DDR; Die Jagd nach dem Stiefel wurde dort 1961 verfilmt und im gleichen Jahr sowie 1966 als Theaterstück für Kinder adaptiert.1254 Im sozialdemokratischen Spektrum angesiedelt war in Bratislava der Exilverlag von Eugen Prager, der 1936 Robert G. Groetzschʼ Wir suchen ein Land. Roman einer Emigration herausbrachte; Groetzsch, der als Jugendschriftsteller in der Weimarer Republik mit humorvoll-sozialkritischen Erzählungen hervorgetreten war, erzählt hier die aktuelle Geschichte einer aus neun NS-verfolgten Flüchtlingen bestehenden »Kolonne Herkner«, die Asyl in der Tschechoslowakei gesucht und gefunden hat. Groetzsch selbst konnte 1938 aus dem tschechoslowakischen Exil weiter in die USA fliehen. In den belletristischen Exilverlagen sind KJL-Bücher meist nur vereinzelt erschienen. So z. B. brachte Wieland Herzfelde im Prager Exil in seinem Malik Verlag nur ein einziges »echtes« Jugendbuch heraus, 1936 Alex Weddings (d. i. Grete Weiskopfs) Das Eismeer ruft.1255 Weiskopf ihrerseits hat im Exil nur dieses eine Buch veröffentlicht; dass sie trotzdem immer wieder als Wegbereiterin der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet wird, geht zum einen auf den »Roman für Jungen und Mädchen« Ede und Unku zurück, der 1931, ebenfalls bei Malik, erschienen war,1256 zum anderen darauf, dass sie sich mit programmatischen Stellungnahmen zu Wort gemeldet hat. So beklagte sie 1937 in einem in Das Wort erschienenen Artikel die generelle Vernachlässigung der Kinderliteratur, unter Hinweis auf die »ungeheure Aktivität der Nazis gerade auf diesem Literaturgebiet«.1257 Gerade deswegen sei es die Aufgabe der Verlage, sozialistische Kinderbücher in möglichst billigen Ausgaben herauszubringen. Dabei sei auf den erzieherischen Wert der Bücher mehr zu achten als bisher, desgleichen auf ihre künstlerische Gestaltung, auf Thema und Tendenz. In der Sowjetunion sei die Produktion guter und billiger Bücher kein Problem, wohl aber in den kapitalistischen Ländern. Nur der vorhandene Mangel erkläre es,
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ben; es handelt sich um eine Auftragsarbeit des Zentralvereins der Tschechoslowakischen Zuckerindustrie. 1946 wurde das Buch in Wien im Globus Verlag neu aufgelegt. Vgl. die »Auswahl von Theaterstücken und Filmen nach Vorlagen der Kinder- und Jugendliteratur des Exils 1933‒1950« im Katalog Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒1950, S. 87. Alex Wedding: Das Eismeer ruft. Das Abenteuer einer großen und kleinen Mannschaft. Nach wahren Begebenheiten erzählt von A. W. Illustrationen von Albert Rämer. London [eig. Prag]: Malik 1936. Davon ist 1935 eine englischsprachige Übersetzung erschienen: Alex Wedding: Eddie and the gipsy. A story for boys and girls. Transl. by Charles Ashleigh. New York: International Publishers 1935. Alex Wedding (d. i. Grete Weiskopf): Kinderliteratur. In: Das Wort 1937, H. 4, S. 50‒54.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l daß eine Literatur wie die von Erich Kästner einen so großen Einfluß auch auf Kreise ausüben konnte, die Kästners Moral vom guten Schupo, von der Lächerlichmachung der Erwachsenen, vom Happy end durch den reichen Papa ablehnen müßten, wie überhaupt die Ansicht, die in Kästners Büchern zum Ausdruck kommt, daß die sozialen Konflikte individuell gelöst werden können und eine Frage des Charakters und des guten Willens sind.1258
Immerhin gesteht die Autorin Kästner zu, mit wirkungsvollen künstlerischen Mitteln zu arbeiten: »Unsere Kinderschriftsteller müßten sich diejenigen schriftstellerischen Fähigkeiten aneignen, mittels derer Kästner und seinesgleichen so erfolgreiche Kinderbücher schreiben. Dazu gehören: genaue Kenntnis der Psychologie des Kindes, Vermeidung von Onkelhaftigkeit und Belehrung mit dem Zeigefinger, eine naive Phantasie, Fabulierkunst, Wort- und Situationswitz, Spannung und nicht zuletzt eine gute, verständliche Sprache«. Sie selbst habe versucht, ein solches Buch zu schreiben mit Das Eismeer ruft, über das »Leben der schiffbrüchigen Tscheljuskin-Mannschaft auf der treibenden Eisscholle im Hohen Norden und ihre Rettung durch die Sowjetflieger […] sowie die Abenteuer einer kleinen Kindermannschaft, die loszog, um den Tscheljuskin-Leuten zu helfen«. Mit »antifaschistischer Kinderliteratur«, für die Weiskopfs Abenteuergeschichte zweifellos als vorbildlich angesehen werden konnte, suchte damals das kommunistische Lager Terraingewinne auch im bürgerlichen Lager zu erzielen: auf dem 1938 in Prag abgehaltenen Kongress des Internationalen PEN-Clubs wurde der Kinderliteratur eine eigene, vom P.E.N.-Sekretär Hermon Ould geleitete Arbeitssitzung gewidmet. Wieland Herzfelde berichtete darüber in der Zeitschrift Internationale Literatur: Von der Sitzung über Kinderliteratur, an der ich teilnahm, lässt sich sagen: auch sie stand im Zeichen des weltgeschichtlichen Kampfes unserer Zeit. Die Versuche des Faschismus, die Kinderliteratur durch Militarismus, Rassenhetze und Rassendünkel zu vergiften, wurden gebührend gebrandmarkt. […] Widersprechend waren die Meinungen über die Eignung von Märchen und Sagen als Lesestoff für Kinder. […] Hingewiesen wurde auf den Umstand, daß für Kinder bis zum sechsten und zwölften Jahr ganz verschiedene Literatur benötigt wird, daß darauf viel zu wenig Rücksicht genommen wird, wie überhaupt die Schriftsteller von Ansehen es offenbar für unter ihrer Würde halten, für Kinder und Jugendliche zu schreiben.1259 Und wie Herzfelde und O. M. Graf noch aus Prag in einem (freilich kommunistischpropagandistisch gefärbten) brieflichen Bericht an den deutschen P.E.N.-Sekretär Rudolf Olden in London eigens anmerkten, wurde auf dem Kongress die sowjetrussische Kinderliteratur von Seiten der Engländer und einer slowakischen Delegierten »als beispielgebend angeführt, ohne daß dem widersprochen wurde«.1260
1258 Wedding: Kinderliteratur, S. 53. 1259 Wieland Herzfelde: P.E.N.-Club-Kongreß in Prag. In: Internationale Literatur 8 (1938), H. 10, S. 149‒151; hier S. 151. 1260 Wieland Herzfelde, Oskar Maria Graf an Rudolf Olden, Prag 3. Juli 1938, zit. n. Der deutsche PEN-Club im Exil 1933‒1948, S. 277.
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UdSSR In der Tat kamen in Moskauer Verlagen nicht nur Kinderbücher sowjetrussischer Autoren in hohen Auflagen und zu billigen Preisen heraus, sondern auch solche von Hitleremigranten wie etwa Béla Balázs. Von ihm brachte die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (VEGAAR) 1936 den »Roman für Kinder« Karlchen durchhalten!, während der Verlag Meshdunarodnaja Kniga / Das internationale Buch 1940 eine Neuauflage von Balázsʼ Das Märchen vom richtigen Himmelblau veranstaltete und 1941 seine »Erzählung für Kinder« Heinrich beginnt den Kampf publizierte. Wie schon diese Beispiele zeigen: »Kampf« avancierte zum ubiquitären pädagogischen Leitbegriff, ohne dass der kommunistischen Seite auffiel, dass sie damit eine spiegelverkehrte Version dessen propagierte, was sie an NS-Deutschland als Erziehung zum Soldatischen brandmarkte. Die Instrumentalisierung des Genres Kinderliteratur für Zwecke des antifaschistischen »Kampfes« kam zum Ausdruck auch in der repräsentativen Textzusammenstellung Kampf. Deutsche revolutionäre Dichtung gegen Faschismus. Sammlung für Kinder mittleren Alters, die mit Zeichnungen von Heinrich Vogeler in Charkow im Kinderverlag beim ZK d. LKJVU 1935 erschien. Der Band vereinigte Ausschnitte aus Werken oder kurze Originalbeiträge von Johannes R. Becher, Walter Schönstedt, Kurt Kläber, Berta Lask, Hugo Huppert, F. C. Weiskopf, Anna Seghers u. a. Mit Junge Helden. Erzählung aus den österreichischen Februarkämpfen war das einzige Buch betitelt, das Berta Lask im sowjetischen Exil im Druck herausbringen konnte (erschienen unter dem Pseudonym Gerhard Wieland in Engels: Staatsverlag
Abb. 43: Die kommunistische Buchhandlung C. Mayer in Paris legte einen Sonderprospekt »Bücher für Ihre Kinder« auf, der einen guten Überblick über ›linke‹ Kinder- und Jugendbücher des Exils (A. Lazar, A. Wedding, H. Zur Mühlen), aber auch über die in deutscher Sprache verfügbare KJL aus der Sowjetunion bot.
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1934). Lask, die sich in der Weimarer Republik im Bereich der Arbeiterbewegung auch mit Kinder- und Jugendliteratur einen Namen gemacht hatte, litt in Moskau unter den über sie verhängten Publikationseinschränkungen; sie konnte neben den Jungen Helden nur noch 1935 Teilveröffentlichungen von Erzählungen (Otto und Else. Vier Erzählungen vom Kampf der deutschen Arbeiterjugend) in einer sowjetischen Zeitschrift unterbringen. Den ganz eigenen Fall eines nur scheinbar für Kinder gedachten, im Grunde rätselhaften Buches stellten Anna Seghersʼ Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok dar, die 1937 in der Exilzeitschrift Das Wort und 1940 in Moskau bei Meshdunarodnaja Kniga erschienen. Klar auf ein jugendliches Publikum zielte dagegen Walter Schönstedts Roman Jungarbeiter Fritz Stein ab, den bereits 1933 der Staatsverlag der Nationalen Minderheiten der USSR in Charkow herausgebracht hatte. Von der in sowjetischen Verlagen erschienenen KJL verdient Hervorhebung das von der VEGAAR 1935 mit Originalzeichnungen von Alex Keil (auch bekannt als Sándor Ék) ausgestattete Kinderbuch von Auguste Lazar Sally Bleistift in Amerika, das unter dem Pseudonym Mary MacMillan erschien, denn die Autorin war damals noch in Dresden im illegalen antifaschistischen Widerstand tätig. Es war dies ihr Erstling, der die Solidarität mit allen Unterdrückten zum Kernthema hatte und sie berühmt machte; die 1939 ins britische Exil geflüchtete und zehn Jahre später in die DDR zurückgekehrte Lazar trat weiterhin (aber nicht ausschließlich) mit Kinderliteratur hervor (Jan auf der Zille. Eine Jugenderzählung aus dem Jahre 1934, entstanden 1934/1935, im Druck erschienen 1950 im Dresdener Sachsenverlag), konnte aber an den Erfolg des vielfach wieder aufgelegten Sally Bleistift-Buchs nicht anknüpfen.
Frankreich Antifaschistische Kinderliteratur erschien selbstverständlich auch außerhalb der Sowjetunion. Der Verlag Sebastian Brant 1261 in Strasbourg landete 1934 einen großen Erfolg mit Ruth Rewalds Janko, der Junge aus Mexiko. Das mit Einband- und Innenillustrationen von Paul Urban versehene Buch dürfte von Willi Münzenberg, der es immer abgelehnt hatte, Kinderbücher zu verlegen, an den Verlag vermittelt worden sein, der damals noch nicht zu dem von ihm kontrollierten Firmengeflecht gehörte;1262 Rewald wurde später in Auschwitz ermordet. Die von der KPF unterhaltenen Éditions Sociales Internationales (auch Librairie ESI) brachten 1934 unter dem Titel Ce que disent les amis du petit Pierre eine Übersetzung des 1921 im Berliner Malik Verlag erschienenen Kinderbuches Was Peterchens Freunde erzählen von Hermynia Zur Mühlen heraus. In der Originalausgabe mit Zeichnungen von George Grosz ausgestattet, erschien es in Paris mit Illustrationen von Mathieu Rosianu, reproduziert in »quadrichromie«; die erste deutschsprachige Neuauflage nach dem Krieg erschien 1946 in Wien im Globus Verlag mit Zeichnungen von Heinrich Vogeler.
1261 Eine Übersetzung ins Schwedische erschien in Stockholm bei Holmström 1936; weitere sollten folgen. Zu der Autorin siehe Krüger: Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald. 1262 Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil [online].
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Schweiz Der Atrium-Verlag, Basel / Zürich Kurt Leo Maschler* (1898 Berlin – 1986 London) zählte zu den Schlüsselfiguren des verlegerischen Exils 1933‒1945 und wird daher in dieser Buchhandelsgeschichte in vielfältigen Zusammenhängen erwähnt.1263 Besondere Bedeutung gewann er aber als Inhaber von Kinder- und Jugendbuchverlagen: zunächst des wichtigsten deutschen Kinderbuchverlags, des Williams Verlags, den er im August 1933 mit allen Verbindlichkeiten von dessen Gründerin Edith Jacobsohn erworben hatte, zusätzlich zu dem bereits in seinem Besitz befindlichen Josef Singer Verlag, der Schlesischen Verlagsanstalt und dem Axel Juncker Verlag.1264 Edith Jacobsohn* (1891 Berlin-Schöneberg – 1935 London) hatte mit ihrem Vermögen die wiederholt vom Konkurs bedrohte Zeitschrift Die Weltbühne ihres Ehemanns Siegfried Jacobsohn (1881‒1926) unterstützt und nach dessen Tod auch den Verlag der Weltbühne Siegfried Jacobsohn & Co. übernommen und weitergeführt.1265 Zuvor schon hatte sie gemeinsam mit ihrer Freundin und ehemaligen Lehrerin Edith Lillie Weinreich geb. Williams eine »Internationale Übersetzungs-Agentur« betrieben und 1924 den Verlag Williams & Co. gegründet, der sich bald zu einem erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchverlag entwickeln sollte. Edith Jacobsohn war es, die 1928 Erich Kästner zum Schreiben von Kinderbüchern animierte: Bei Williams & Co. erschien im Jahr darauf Emil und die Detektive, ein ungeheurer Erfolg und späterer Weltbestseller. In dem Verlag, der eine antinationalistische, von der gängigen Jugendliteratur abweichende Ausrichtung hatte, erschienen neben Werken von Karel Čapek auch Winnie-the-Pooh bzw. Pu der Bär von A. A. Milne und Doktor Dolittle von Hugh Lofting, beide Bücher übersetzt von Edith Jacobsohn. Als Weltbühne-Verlegerin war sie das Ziel rechtsradikaler Angriffe und gründete als Vorsichtsmaßnahme 1932 in Wien einen Ableger der Zeitschrift, der aber wenig erfolgreich war. In der Nacht des Reichstagsbrandes emigrierte Jacobsohn im Februar 1933 nach Wien, überließ die Geschäftsführung in Berlin ihrer Mitarbeiterin Cecilie Dressler (1905‒1978), die ihrer Chefin Teile des Barvermögens nach Wien brachte, und zog einige Monate später in die Schweiz, wo sie beide Verlage verkaufte: die Neue Weltbühne an Hermann Budzislawski, Williams & Co. an den mit ihr befreundeten Kurt Maschler.1266
1263 Zu Maschler siehe auch das Kapitel Politische Verlage. Zu den hier berührten Zusammenhängen vgl. Ernest Redmond Till: Zuviel Hochdeutsch auf der (Zürcher) Bahnhofstraße? Interview mit dem 87jährigen Kurt L. Maschler in London. Ein Emigrantenschicksal. In: Bbl. (Ffm) Nr. 23 vom 22. März 1985, S. 823 f. 1264 Der Axel Juncker Verlag war damals auf skandinavische Literatur spezialisiert; zu seinen prominenten deutschen Autoren zählten Else Lasker-Schüler, Max Brod und Franz Werfel. 1265 Vgl. u. a. Frank Flechtmann: »Mein schöner Verlag, Williams & Co.« Erinnerung an Edith Jacobsohn. In: Marginalien 142, S. 11‒34; Frank Flechtmann: »Mein schöner Verlag, Williams & Co.« Erinnerung an Edith Jacobsohn. Über einen vergessenen Verlag berühmter Bücher. Berlin: Omnis 1997; Brüggemann: Kinderbuch und Zeitgeschichte; Flechtmann: Zum Jubiläum des Cecilie Dressler Verlages, S. 315 f. 1266 Edith Jacobsohns weiterer Exilweg führte nach England, wo sie hoffte, durch ihre Sprachkenntnisse und Beziehungen in einem Verlag oder in einer Agentur eine Stellung zu finden. Sie musste sich allerdings mit gelegentlichen Übersetzungsarbeiten durchbringen, unter
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Maschler ging es vor allem darum, die Rechte am Werk Erich Kästners zu sichern,1267 und gründete zu diesem Zweck offiziell am 1. Mai 1935 (de facto wohl schon etwas früher) in Basel den Atrium Verlag. Der nach einem Berliner Filmpalast benannte Verlag hatte seinen Firmensitz zunächst mit Berlin angeben müssen, weil die Schweizer Behörden die Errichtung des Unternehmens nicht erlauben wollten. Etwas später aber wurde der Firmensitz mit Genehmigung der Behörden nach Zürich verlegt. Abb. 44: Kurt Leo Maschler sorgte dafür, dass die Maschler übertrug nun einen Teil Werke Erich Kästners lieferbar blieben; der umtrieder von Williams & Co. gehaltenen bige Verleger war aber auch in zahlreichen anderen Rechte auf den Atrium Verlag – das Zusammenhängen ein gefragter Geschäftspartner. betraf neben Kästner und dessen Illustrator Walter Trier auch einige Titel von Adrienne Thomas, Kurt Tucholsky und Henry de Montherlant –, der andere Teil blieb bei der Geschäftsführerin Cecilie Dressler. Erich Kästner wollte ja in Deutschland bleiben,1268 obwohl von ihm alle Werke außer Emil und die Detektive und den Gedichtbänden verboten waren (auch diese wurden allerdings noch 1935, wie das gesamte Auslieferungslager des Williams & Co. Verlags in Leipzig, beschlagnahmt). Dagegen konnte der Roman Drei Männer im Schnee, der 1934 im Züricher Rascher Verlag herauskam, in Deutschland ausgeliefert und verkauft werden. Ebenso konnten die Bücher des Atrium Verlags, die Maschler in der Druckerei von Kittls Nf. in Mährisch-Ostrau herstellen ließ,1269 zunächst auch noch in Deutschland auf den Markt gebracht werden, angefangen von Emil und die drei Zwillinge,1270 das seit Anfang Dezem-
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dem Pseudonym »Steffi Anton« übersetzte sie aus dem Exil für ihren ehemaligen Verlag in Berlin. Weil sie keine Arbeitserlaubnis erhalten hatte, heiratete sie pro forma den Engländer John Forster und erwarb damit die englische Staatsbürgerschaft. Sie starb in London bereits im Alter von 44 Jahren an einem Schlaganfall. Zu den Autor-Verleger-Beziehungen zwischen Erich Kästner und Maschler siehe v. a. die Veröffentlichungen von Sven Hanuschek, v. a.: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners, sowie Sven Hanuschek: »Tapfer, sogar tollkühn!«. In: Die Welt, 20. November 2015 [online], und Sven Hanuschek: Ein jüdischer Verleger machte Kästner weltberühmt. In: Die Welt, 28. November 2015 [online]. Vgl. Mank: Erich Kästner im nationalsozialistischen Deutschland 1933‒1945. Siehe dazu auch im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage den Abschnitt zum Verlag Julius Kittls Nf. Maschler dürfte sich in diesen Jahren zur Überwachung der Produktion öfter in Mährisch-Ostrau als in Basel aufgehalten haben. Erich Kästner: Emil und die drei Zwillinge. Die zweite Geschichte von Emil und den Detektiven. Illustrationen von Walter Trier. Basel, Wien, Mährisch-Ostrau: Atrium Verlag 1935.
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ber 1936 in mehreren tausend Exemplaren ausgeliefert wurde, über einen Nachdruck von Das fliegende Klassenzimmer1271 bis zu den Erstveröffentlichungen von Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke1272 und Die verschwundene Miniatur oder auch die Abenteuer eines empfindsamen Fleischermeisters.1273 1938 erschien ein Nachdruck des Fliegenden Klassenzimmers und 1939 noch der von Kästner nacherzählte Till Eulenspiegel.1274 Außerdem brachte der Atrium Verlag 1937 zwei Jugendbücher von Adrienne Thomas Andrea sowie Viktoria (»Erzählungen von jungen Menschen«1275) und Jolán Földes (Peter verliert nicht den Kopf, mit Illustrationen von Walter Trier), die ebenfalls der Jugendliteratur zugerechnet werden können.1276 Ende 1936 übertrug Maschler der Geschäftsführerin von Williams & Co. Cecilie Dressler inoffiziell die Anteile des Verlags. Er selbst wurde im Mai 1937 als »Volljude« aus der RSK ausgeschlossen und unter Berufsverbot gestellt, sein Büro durfte er nicht mehr betreten.1277 Ende August 1937 ging er mit seiner Familie nach Österreich, weil ihm die dauerhafte Niederlassung in der Schweiz, obwohl bereits Mitglied im Schweizerischen Buchhändler- und Verlegerverband, verweigert wurde. Nach dem »Anschluss« im März 1938 flüchtete Maschler aus Wien nach Amsterdam. Seine Wohnung, seine Bücher und Sammlungen, sein Büro und Lager in Wien wurden beschlagnahmt.1278 Als er im Frühjahr 1939 mit seiner Familie die Einreisegenehmigung nach England bekam,
1271 Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer. Ein Roman für Kinder. Illustrationen von Walter Trier. 3.‒17. Tsd., Basel, Wien, Mährisch-Ostrau: Atrium Verlag [ca. 1935] (Erstausgabe 1933). 1272 Erich Kästner: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Ein Taschenbuch. Enthält alte und neue Gedichte des Verfassers für den Hausgebrauch der Leser, nebst einem Vorwort und einer nutzbringenden Gebrauchsanweisung samt Register. [Schutzumschlag von Walter Trier]. Basel u. a.: Atrium 1936 (4.‒7. Tsd. im selben Jahr). 1273 Erich Kästner: Die verschwundene Miniatur oder auch die Abenteuer eines empfindsamen Fleischermeisters. [Schutzumschlag von Walter Trier]. Basel u. a.: Atrium 1936. 1274 Erich Kästner: Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder. Ill. von Walter Trier. Basel: Atrium Verlag [ca. 1939]. – Till Eulenspiegel. Elf seiner Geschichten, nacherzählt von Erich Kästner. Mit 10 farbigen Bildern und vielen Zeichnungen von Walter Trier. Basel, Mährisch-Ostrau: Atrium 1938. 1275 Adrienne Thomas: Andrea. Eine Erzählung von jungen Menschen. Basel: Atrium Verlag 1937; dies.: Viktoria. Eine Erzählung von jungen Menschen. Basel: Atrium 1937. Zu Adrienne Thomas (Ps. für Hertha Strauch) siehe Sinhuber, Karin: Adrienne Thomas. Eine Monographie. Wien (Univ. Diss.) 1990. 1276 Jolán Földes: Peter verliert nicht den Kopf. Aus d. Ungar. übersetzt von Stefan J. Klein. Umschlag und Ill. von Walter Trier. Basel, Wien, Mährisch-Ostrau: Atrium Verlag [ca. 1939]. 1277 Heinrich Scheffler berichtete dazu: »Ein anderer Auswanderer aus dem weiteren Bekanntenkreis, Kurt Maschler, hatte das Glück, daß ihm Hans Paeschke, der vormalige Auslieferungsleiter des Axel-Juncker-Verlags, das Buchlager, so gut es ging, nach jenseits der Grenzen rettete, so daß Maschler wenigstens auf einen ersten Startgroschen in seiner Exilexistenz zurückgreifen konnte. Er hat das übrigens auch später nicht vergessen«. (Scheffler: Wölffische Lehrjahre, S. 51 f.) 1278 Zu den näheren Umständen siehe Sven Hanuschek: Ein jüdischer Verleger macht Kästner weltberühmt [online].
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wurde London sein neuer Wohnort: von hier aus leitete er in den nächsten Jahrzehnten den Atrium Verlag, der vorerst seinen Sitz in der Schweiz (in Basel, später Zürich) behielt. Da er die Bücher Erich Kästners nicht mehr in Deutschland verkaufen konnte, konzentrierte er sich in den Jahren seit 1937 darauf, dessen Auslandsrechte zu vermarkten, was ihm mit Übersetzungen in 35 Sprachen auch sehr gut gelang und zum Welterfolg des Jugendschriftstellers Kästner entscheidend beitrug. Während des Zweiten Weltkrieges konzentrierte Maschler sich auf den von ihm gemeinsam mit Eugen Prager gegründeten Verlag Lincolns-Prager Publishers Ltd., war aber auch an der Herausgabe antinationalsozialistischer Flugschriften des britischen Nachrichtendienstes beteiligt. Maschlers Vermögen war gemäß der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 dem Deutschen Reich verfallen; 1949 wurden ihm nach dem 1. Rückstellungsgesetz Bücher und Autographen zurückerstattet.1279 Einige Jahre nach Ende des Krieges (1954) verkaufte Maschler den Berliner Williams Verlag, der 1941 zwangsweise in Cecilie Dressler Verlag umbenannt worden war, nun auch offiziell an die Inhaberin. Er selbst übernahm in London einen Direktionsposten bei den Firmen Fine Art Engravers Ltd. und Latimer Trend Ltd., zudem gründete er gemeinsam mit Faber & Faber den FAMA Verlag, der international auf dem KunstbuchSektor agierte; auch erwarb er über Richard Friedenthal die Rechte an dem in 55 Sprachen übersetzten Werk von Stefan Zweig, die er dann an einzelne Verlage weiter vergab. Inzwischen, im Juni 1943, hatte Maschler in London auch die Atrium Press Ltd. errichtet und brachte dort u. a. von James Riddell Animal lore and disorder und Hit or myth sowie von Walter Trier1280 8192 crazy people in one book, 8192 crazy costumes in one book und Lucien Lowen 8192 crazy circus stars heraus, alles Bücher mit Spiralbindung, bei denen durch horizontale Teilung der Seiten in zwei oder drei Segmente ein Vielzahl von Bildkombinationen hergestellt werden konnten, gedacht »for children from 5 and under to 75 and over«. Parallel dazu pflegte Maschler im Züricher Atrium Verlag – abgesehen von der Publikation des zweiten Gedichtbandes des jungen Erich Fried 1281 – erneut das Werk Erich Kästners,1282 u. a. mit dessen Gesammelten Schriften (1959),1283 sowie die Linie
1279 Vgl. Restitutionsbericht 2003/2004 des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur http://www.bmukk.gv.at/medienpool/13383/restitutionsbericht_2003_04.pdf 1280 Siehe dazu weiter unten den Abschnitt zu Walter Trier. 1281 Erich Fried: Österreich. [Gedichte]. Zürich: Atrium-Verlag 1946. 1282 Gleich im Jahr 1946 erschienen von Erich Kästner: Bei Durchsicht meiner Bücher. Eine Auswahl aus vier Versbänden; Der kleine Grenzverkehr oder Georg und die Zwischenfälle. Mit farb. Ill. von Walter Trier. Neuaufl.; Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Ein Taschenbuch. (Schutzumschlag von Walter Trier). 24.‒29. Tsd.; Georg und die Zwischenfälle. – 1949 erschienen in Zürich: Der tägliche Kram. Chansons und Prosa 1945‒ 1948. [Umschlagzeichnung von Walter Trier]. 1.‒6. Tsd.; Das doppelte Lottchen. Ein Roman für Kinder. Ill. v. Walter Trier. Darüber hinaus verkaufte Maschler Lizenzen von Kästners Erwachsenenbüchern an Kiepenheuer & Witsch und an Droemer-Knaur, sowie von Kinderbüchern an Ueberreuter und an den Cecilie Dressler Verlag. 1283 Offenbar gab es auch Krisen im Verhältnis zum Verleger, etwa aufgrund von Forderungen des Autors nach Erhöhung der Tantième von 10 auf 15 % oder wegen dessen Unzufriedenheit mit der Situation, dass er im originalen Sprachgebiet zwei Verleger hatte, »einen, der die Rechte vergibt, und einen, der die Bücher drucken lässt«. (Hanuschek: Ein jüdischer
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der klassischen Kinder- und Jugendliteratur; neben Dr. Doolittle und Pu der Bär erschienen hier auch Ausgaben von Pinocchios Abenteuer oder Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finn (1955, mit Illustrationen von Walter Trier). Den Züricher Atrium Verlag verkaufte er 1976 mit Ausnahme der Rechte an den Büchern von Stefan Zweig und der Auslands-Weltrechte an Erich Kästners Werk an den Verlag Friedrich Oetinger, der sich 1971 schon den Cecilie Dressler Verlag angegliedert hatte. 1982 stiftete Maschler einen mit 1.000 Pfund dotierten Jugendbuchpreis, den »Emil Award«, der zugleich an Erich Kästner und an dessen Illustrator Walter Trier erinnern sollte und bis 1999 jährlich verliehen wurde.1284 Die in seinem Besitz befindlichen Originale der Illustrationen Walter Triers hat er der Internationalen Jugendbibliothek in der Münchner Blutenburg überlassen. Bis zu seinem Tod 1986 ist aber Kurt Maschler, dessen Mutter im KZ ermordet worden ist, nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Seinem Sohn Tom Maschler ist eine großartige Karriere im britischen Verlagswesen gelungen.1285
KJL des Exils in Schweizer Verlagen Von den eingesessenen Schweizer Verlagen1286 war vor allem der Verlag Sauerländer in Aarau zu einem Refugium für aus Deutschland geflüchtete Kinder- und Jugendbuchautoren geworden.1287 Den Löwenanteil daran hatten die Bücher des Autorenpaares Lisa Tetzner und Kurt Kläber, die schon in den 1920er Jahren mit einschlägigen Veröffentlichungen hervorgetreten waren. Tetzner war Leiterin der Kinderstunde des Berliner Rundfunks und zuletzt auch für Kinderprogramme anderer Rundfunkstationen verantwortlich, hatte daneben aber auch Märchensammlungen herausgegeben und seit 1928 eigene Kinderbücher geschrieben. Im Schweizer Exil steigerte sich die Produktivität Tetzners fortlaufend; bei Sauerländer kamen zunächst Die Reise nach Ostende (mit Zeichnungen von Walter Binder, 1949 auch Zürich: Büchergilde Gutenberg 1949) sowie in zwei Bänden Die schwarzen Brüder. Erlebnisse und Abenteuer eines kleinen Tessiners (mit Textzeichnungen und Schutzumschlag von Theo Glinz, 1940, 1941) heraus. Ab 1944 begann eine neunteilige Serie Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nummer 67. Die Odyssee einer Jugend zu erscheinen, in der Lisa Tetzner ausgehend von der Freundschaft zwischen Erwin und Paul einen großangelegten Erzählbogen ausspann, der auch das Thema Exil reflektierte.1288
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Verleger machte Kästner weltberühmt). Kästner blieb jedoch Atrium treu bis zu seinem Tod 1974. Eine Ausnahme stellte nur Die Konferenz der Tiere dar, die 1949 in Emil Oprechts Europa Verlag in Zürich erschienen war. Vgl. Carlo Bernasconi: Wo sich alles um Kästner dreht. Verlagsgeschichte ist auch Geschichte eines Emigrantenschicksals: Atrium in Zürich feiert das 50jährige mit einem Literaturpreis. In: Bbl. (Ffm) Nr. 96 vom 3. Dezember 1985, S. 3169 f. Siehe das Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive. Zur Schweiz siehe Kaminski: Heimat, Exil, Heimat: Die Rolle des Schweizer Exils (1933‒ 1945) für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Zur Geschichte des Verlags vgl. u. a. 150 Jahre Sauerländer in Aarau. Lisa Tetzner: Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nummer 67. Die Odyssee einer Jugend. 9 Bde., Aarau: Sauerländer 1944‒1949, mit den Einzelbänden: (1) Erwin und Paul. Die Geschichte einer Freundschaft, 1943; (2) Das Mädchen aus dem Vorderhaus, 1947; (3) Erwin kommt nach Schweden, 1943; (4) Das Schiff ohne Hafen, 1944; (5) Die Kinder auf
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Bücher Lisa Tetzners kamen aber nicht nur bei Sauerländer heraus, sondern auch in der Zürcher Büchergilde Gutenberg, so 1936 … was am See geschah. Die Geschichte von Rosmarin und Thymian (mit 25 Zeichnungen von Willi Harwerth) oder 1944 Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise. Neuauflagen der von Tetzner ausgewählten und nacherzählten Märchen, die vor 1933 in Deutschland erschienen waren, kamen – ebenfalls in Zürich – im Schweizer Jugendschriftenwerk heraus, so 1935 die Märchen aus aller Welt (Umschlag und Bilder von Hedwig Spörri) und 1936 Der Wunderkessel und andere Märchen aus aller Welt (Umschlag und Bilder von Lucy Sandreuter).1289 Einen herausragenden, im Grunde bis heute anhaltenden Erfolg landete Lisa Tetzners Ehemann Kurt Kläber unter dem Pseudonym Kurt Held mit Die rote Zora und ihre Bande. Eine Erzählung aus Dalmatien für die Jugend, die in Aarau bei Sauerländer zuerst 1941 erschien und im Weiteren zahlreiche Neuauflagen erlebte. Kläber war in der Weimarer Republik im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller aktiv gewesen, u. a. als Mitherausgeber von dessen Zeitschrift Die Linkskurve, und hatte mit dem Roman Barrikaden an der Ruhr Aufsehen erregt, auch bei den Behörden, die eine Beschlagnahme des Werks und die Anklage wegen literarischen Hochverrats verfügten. Der kommunistische Schriftsteller löste sich indes nach und nach von der Partei und änderte auch das literarische Genre.1290 Im Sauerländer Verlag kamen auch noch andere Exilautoren mit Kinder- oder Jugendbüchern zu Wort: Richard Plaut (ab 1947 R. Plant) veröffentlichte dort 1936 Die Kiste mit dem großen S. Eine Geschichte für die Jugend (mit Zeichnungen von Lucy Sandreuter), sein Freund Oskar Seidlin 1937 Pedronis muß geholfen werden! Eine Erzählung für die Jugend (mit Bildern von Felix Hoffmann).1291 Eine Gemeinschaftsproduktion der beiden war das 1939 in dem von dem exilierten Simon Menzel gegründeten Humanitas Verlag herausgebrachte Bändchen SOS Genf, das mit 40 Zeichnungen von Susel Bischoff ausgestattet war. Ebenfalls bei Sauerländer erschien 1935 von Irmgard von Faber du Faur Die Kinderarche (mit Zeichnungen von Felix Hoffmann); entsprechend ihrer religiösen Grundausrichtung kamen von ihr im Evangelischen Verlag in Zollikon-Zürich 1940 Die Pilgerkinder. Erzählung aus dem Leben der englischen Mayflower-Pilgerväter und 1941 in der Christlichen Vereinsbuchhandlung Geschwister. Zwei Kindergeschichten heraus. Eine weitere verlegerische Zufluchtsstätte für KJL-Autoren wurde der Züricher Verlag Orell Füssli, der u. a. zwei Bücher der 1933 aus Deutschland emigrierten Hildegard Johanna Kaeser verlegte: 1938 erschien von ihr Die Wunderlupe. Ein Buch für Knaben
der Insel, 1944; (6) Mirjam in Amerika, 1949; (7) Ist Paul schuldig?, 1945; (8) Als ich wiederkam. Aus Erwins Tagebuch, 1946; (9) Der neue Bund, 1949. Sämtliche Bände erschienen mit Textzeichnungen und Schutzumschlag von Theo Glinz. 1289 Weitere, in der Exilzeit erschienene Bücher Lisa Tetzners waren: Hans sees the world. Transl. by Margaret Goldsmith. New York: Covici-Friede 1934; Anselmo. Eine Geschichte aus dem Tessin. Bern: Blaukreuz-Verlag 1943; Su. Die Geschichte der sonderbaren zwölf Nächte. Zeichnungen von S. Dawint. Boudry-Neuchâtel: Éditions de la Baconnière 1950. 1290 Vgl. hierzu auch: Lisa Tetzner: Das war Kurt Held. 40 Jahre Leben mit ihm. Aarau: Sauerländer 1961. 1291 In den USA brachte Richard Plant 1948 bei Doubleday The dragon in the forest heraus. Zu Plaut / Plant siehe Rettig: Richard Plant.
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und Mädchen, die in die Welt sehen möchten (Umschlag und 60 Zeichnungen von Kurt Lange), und 1939 Der Zauberspiegel. Ein Buch für wißbegierige Knaben und Mädchen. Kaeser brachte weitere Werke in anderen Verlagen unter, so 1942 bei Sauerländer Mimff, der Junge, der auszog, das Fürchten zu lernen. Eine spannende Jugendgeschichte aus Schweden und 1942 im Benziger Verlag in Einsiedeln Das Karussell. Eine spannende und lustige Geschichte (»mit vielen Bildern von L. Specker«). Eine ganze Reihe von Mädchenbüchern konnte die seit 1936 in Ascona und Zürich wohnhafte Elsa Margot Hinzelmann (Ps. Margrit Hauser) bei Orell Füssli platzieren, beginnend mit Zwei Mädchen stehen im Leben. Eine Erzählung für Mädchen von 13 bis 17 Jahren (1935) und Ma-Re-Li (1936) über Gloria hat es schwer. Eine Erzählung für junge Mädchen (1938) und Ursula Amreins böse Stunde. Eine Geschichte für Mädchen (1940) bis zu Nur Mut, Gritli! Ein Buch für junge Menschen (1943), Toni in der Fremde. Ein Buch für unsere jungen Mädchen (1945) und Rosmarie. Ein Buch für junge Mädchen (1946) sowie Rosmaries glückliche Zeit. Ein Buch für junge Mädchen (1947). Unter ihrem Pseudonym Margrit Hauser publizierte Hinzelmann dazu noch mehrere Werke, die eher als Frauenromane gelten können und ein erwachsenes Publikum ansprechen sollten, wie Angelica, das Mädchen aus Crino (mit Zeichnungen von Eugen Früh, 1940), ebenfalls bei Orell Füssli. Einige der genannten Titel wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. Wie offen die Verlagsszene in der Schweiz für exilierte Verfasser von Kinder- und Jugendliteratur in den Kriegsjahren und auch noch in den ersten Nachkriegsjahren tatsächlich war, zeigen weitere, unterschiedliche Veröffentlichungen wie der Roman von Paul Mathias (d. i. Wilhelm Lichtenberg) Matur-Reise. 14 Mädchen fahren in den Frühling, 1942 in Bern im Scherz Verlag erschienen, Max Colpets (d. i. Max Kolpitzer) Für Erwachsene streng verboten (Zürich: Artemis 1948), Kurt Pahlens Kindersachbuch Das Wunderland der Musik (mit Zeichnungen von F. Ribas und Moritz Kennel, Zürich: Orell Füssli 1948), Karl Ottens Jugenderzählung Der ewige Esel (mit Scherenschnitten von Lotte Koch-Reiniger, Zürich: Atlantis 1949) oder Bruno Schönlanks in Versen abgefasstes Buch Mein Tierparadies (mit Bildern von Pia Roshardt, Zürich: Artemis 1949). Felix Salten, dessen Bambi in viele Sprachen übersetzt und mit besonderem Erfolg in den USA publiziert und von Walt Disney verfilmt worden ist, hat in den Jahren seines Schweizer Exils 1939 bis 1945 trotz Arbeitsverbots eine beachtlich große Zahl von Büchern im Verlag A. Müller in Rüschlikon-Zürich herausbringen können, so Bambis Kinder. Eine Familie im Walde (1940), Renni, der Retter. Das Leben eines Kriegshundes (mit 18 Federzeichnungen von Philipp Arlen, 1941; zuerst als Renni, the rescuer in Indianapolis, New York bei Bobbs-Merrill 1940), Die Jugend des Eichhörnchens Perri (mit zahlreichen Federzeichnungen von Hans Bertle, 1942; zuerst in englischsprachiger Ausgabe in New York 1938 und anderen Übersetzungsausgaben), Fünfzehn Hasen. Schicksale in Wald und Feld (mit zahlreichen Federzeichnungen von Hans Bertle, 1943), Gute Gesellschaft. Begebenheiten mit Tieren (mit 15 ganzseitigen Federzeichnungen von W. E. Baer), Kleine Welt für sich. Eine Geschichte von freien und dienenden Geschöpfen (mit 41 Federzeichnungen von Otto Betschmann, 1944), Der Hund von Florenz (1944), Freunde aus aller Welt. Roman eines Zoologischen Gartens (1944, mit Federzeichnungen von Philipp Arlen), Djibi, das Kätzchen (1945; mit 20 Federzeichnungen von Walter Linsenmaier). Alle diese in der Schweiz erschienenen Titel sind auch mehrfach in Übersetzungen (ins Französische, Ungarische, Spanische, Portugiesische etc.) herausgekommen.
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Niederlande Im Amsterdamer Verlag Allert de Lange brachte die aus Elsaß-Lothringen stammende, 1933 aus Berlin über die Schweiz und Frankreich nach Österreich geflüchtete Adrienne Thomas (Ps. für Hertha Strauch) im Jahr 1936 den Roman Katrin! Die Welt brennt! in der Ausstattung von Paul Urban heraus, von dem bald englische und schwedische Übersetzungen erschienen. Es handelte sich um eine Art Fortsetzung ihres überaus erfolgreichen Antikriegsromans Die Katrin wird Soldat, der zuerst 1930 erschienen war und nun, ebenfalls 1936, von Allert de Lange im 225. Tsd. neu aufgelegt wurde.1292 Die beiden Romane waren nun keineswegs nur für ein junges Publikum gedacht, ebenso wenig wie der 1939 bei Allert de Lange erschienene Roman Von Johanna zu Jane, obwohl dieser aus der Perspektive einer Dreizehnjährigen erzählt wird. Eindeutig ein Frauenroman war Dreiviertel Neugier, 1934 bei Allert de Lange und 1935 in einer E. P. Tal-Ausgabe für die Verbreitung in Deutschland aufgelegt. Klar als Jugendliteratur einzuordnen waren dagegen die beiden Bücher Andrea und Viktoria, die Adrienne Thomas allerdings in Basel im Atrium Verlag herausbrachte (siehe dort). Ihre eigenen Exilerfahrungen verarbeitete Adrienne Thomas in den Romanen Reisen Sie ab, Mademoiselle! (Stockholm 1944) und Ein Fenster zum East River (Amsterdam: Allert de Lange 1947 u. d. T. Het venster aan de Eastriver in niederl. Sprache, deutschsprachige Erstausgabe 1948 in Wien / Salzburg im Alpen-Verlag). Auch Irmgard Keuns Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, das 1936 mit Illustrationen von Paul Urban bei Allert de Lange herauskam, kann als »doppeltadressiert« angesehen werden, wird doch in dem zeitlich am Kriegsende 1918 angesiedelten Roman aus dem Blickpunkt eines zehnjährigen Schulmädchens erzählt. Ganz ähnlich angelegt ist Keuns Roman Kind aller Länder, der 1938 nicht bei Allert de Lange, sondern bei Querido erschienen ist und aus einer Ich-Erzähler-Perspektive heraus die Erlebnisse eines jungen Emigrantenmädchens in den Jahren 1936 bis 1938 auf rasch wechselnden Schauplätzen, von Lemberg bis New York mit den Zwischenstationen Salzburg, Prag, Ostende, Brüssel, Amsterdam, Paris und Nizza vorstellt. Bei Querido erschienen noch weitere Bücher, die sich zugleich an ein junges und an ein erwachsenes Publikum wandten, so Anna Gmeyners unter dem Pseudonym Anna Reiner publizierter »Roman um fünf Kinder« Manja (1938). Entschieden an ein jugendliches Publikum gerichtet war Die Stunde des Tigers. Eine Pfadfinder-Geschichte (Amsterdam: Querido 1939) von Wilhelm Speyer, der sich bereits in der Weimarer Republik mit Jugendbüchern (u. a. Der Kampf der Tertia) einen Namen gemacht hatte; er selbst hat in Österreich, Frankreich und schließlich in den USA Asyl gefunden. In den Niederlanden war es freilich in erster Linie der Meulenhoff Verlag in Amsterdam, der KJL-Werke deutschsprachiger Exilautoren herausbrachte, wenn auch überwiegend nicht Original-, sondern Neuauflagen. So war der »Roman für die Jugend« der 1938 aus Wien in die Niederlande geflüchteten Joe Lederer Fafan in China zwei Jahre zuvor bereits in Wien bei Frick erschienen, dort noch als »Roman für Kinder« (jeweils mit Bildern von Ingrid Wasa). Einige der Bücher hatten auch Sprachlehrfunktion, wie z. B. jenes von Georg Fröschel Meine Schuhe sind gestohlen!, das 1943 mit Erläuterun-
1292 Davon waren auch 16 Übersetzungen erschienen.
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gen von Lena Jansen herauskam, nachdem es unter dem Titel Himmel, meine Schuhe! bereits 1939 in Boston als Band 7 in »Heath’s modern language series« erschienen war.1293 Nur eingeschränkt als Exilveröffentlichungen können zwei andere Bücher gelten. Im Fall von Erich Kästner war das Buch, nicht aber der Autor emigriert: Emil und die drei Zwillinge. Die Fortsetzung von Emil und die Detektive war zuerst nicht in Deutschland publiziert worden, sondern – wieder mit Illustrationen von Walter Trier – in Basel bzw. Mährisch-Ostrau 1935 in Kurt Maschlers Atrium Verlag; Meulenhoff brachte 1939 eine Lizenzausgabe davon heraus. Ähnliches gilt für Wolf Durian (d. i. Wolfgang Walter Bechtle), dessen Kai aus der Kiste. Eine ganz unglaubliche Geschichte, herausgegeben und erläutert von Felix Augustin und mit Textzeichnungen von Fritz Eichenberg, 1936 bei Meulenhoff erschien.1294 Kai aus der Kiste war 1926 mit großem Erfolg im Schneider Verlag in Berlin erschienen, nach 1933 aber in Deutschland als zu amerikafreundlich verboten. Der Herausgeber, der aus der Schweiz stammende Germanist Felix Augustin, war mit der Schriftstellerin Elisabeth Augustin verheiratet; beide waren 1933 in die Niederlande emigriert; Fritz Eichenberg befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre im US-Exil. Der Autor, der Kinderzeitschriftredakteur Durian / Bechtle, war allerdings nicht Emigrant, vielmehr brachte er in der NS-Zeit Bücher wie Infanterieregiment Grossdeutschland greift an. Die Geschichte eines Sieges (Berlin: Scherl 1942) heraus.
Schweden Grete Bergesʼ Jugendbuch Liselott diktiert den Frieden war – mit 25 Textzeichnungen von Hilde Weber – im Frühjahr 1932 in Stuttgart in der Union Deutsche Verlagsgesellschaft erschienen und hatte noch im Erscheinungsjahr die 5. Auflage erreicht; 1939 kam es unter dem Titel Britta ornar gänget ins Schwedische übersetzt im Verlag Geber in Stockholm heraus.1295 Berges war im Exil nicht nur als Autorin, sondern auch als Übersetzerin sowie als Literaturagentin erfolgreich,1296 u. a. für die in Berlin geborene und ebenfalls nach Schweden geflohene Kinderbuchautorin Hildegard Johanna Kaeser.1297 Vermutlich auf Vermittlung Bergesʼ erschien Kaesers Mimff, der Junge, der auszog, das Fürchten zu lernen 1941 im Stockholmer Verlag Fritze.
Großbritannien Großbritannien erwies sich als ein Ort, an dem Autor/innen und Illustrator/innen von Kinder- und Jugendbüchern besonders gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätig-
1293 Bei Meulenhoff als Band 9 von »Meine erste Sammlung« erschienen, 1948 erreichte das Buch die 6. Auflage. 1294 Eine weitere Ausgabe erschien mit Genehmigung des Verfassers bearbeitet von A. Neibecker. Mit Bildern von Eichenberg. Paris: Didier 1941. 1295 Vgl. hierzu Weinke: Der Weg zurück ist mir unmöglich. Die Kinderbuchautorin, Übersetzerin und Literaturagentin Grete Berges. 1296 Näheres dazu im Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 1297 Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 113, 116.
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keit vorfanden. Dabei war es eine Vielzahl von Verlagen, die für eine Zusammenarbeit mit ihnen aufgeschlossen waren, sodass hier eine Orientierung besser über die exilierten Vertreter dieses Genres als über die Verlage erfolgt. Eine besondere Facette in dieser Gruppe repräsentiert Erna Pinner (1890 Frankfurt a. M. – 1987 London), die in der großen, mehr als 60 Titel umfassenden Menge von Büchern, die sie im Laufe ihres langen Lebens kreierte oder illustrierte, auch zahlreiche Kinder- und Jugendbücher schuf, wobei insbesondere ihre Tierbücher als »All age«Titel gelten konnten.1298 Zunächst hatte die Lebensgefährtin des Schriftstellers Kasimir Edschmid hauptsächlich dessen Reisebücher gestaltet und illustriert. Nach ihrer 1935 erfolgten Emigration nach England spezialisierte sie sich auf die Illustration von wissenschaftlichen Werken aus den Bereichen Zoologie und Naturgeschichte; insbesondere Tiermotive hatten sie von Anfang an fasziniert. Dies dokumentierte sich in David Seth Smith’ Animal favourites (London: Country Life 1936) und Harper Corys Animal heroes. Stories of wild life in Africa (London: Duckworth 1938), einer Reihe von Werken von H[orace] W. D. Longden ‒ Ways of the veld dwellers. Being eight stories of wild animals and birds of the African bush. London: Country Life 1937; Old Bayana’s tales. (Wide world story books 3). London: Nelson 1938; Beasts and birds of Africa. (Simple science in simple English). London: Oxford University Press 1940; Ingwe the leopard. (Oxford story readers for Africa, grade III). London: Oxford University Press 1940 ‒ und von Geoffrey M. Vevers (Animals from A to Z. London: Hammond 1944; The life story of the king penguin. London: Transatlantic Arts 1945; The life story of the beaver. Transatlantic Arts 1946), sowie auch A book of animal verse. Chosen by E. C. R. Hadfield (Chameleon books, 21; Oxford University Press 1943) oder Norah Eric: Ten little English boys (London: Favil Press 1950). 1945 kam mit großem Erfolg in der Reihe »Puffin picture books« Wonders of animal life mit einem Text von Monica Shorten bei Penguin Books heraus. Außerdem lieferte Erna Pinner für englischsprachige Ausgaben der Tierbücher Felix Saltens1299 die Illustrationen (Bambi’s children. Indianapolis, New York: Bobbs-Merrill 1939) und Umschlagentwürfe (A forest world. London: Transatlantic Arts 1943; Renni the rescuer. A dog of the battlefield. London: Transatlantic Arts 1945). 1954 kam der Band Curious creatures in der New Yorker »Philosophical Library« heraus, die 1941 von dem aus Wien emigrierten Dagobert Runes gegründet worden war. Seit Mitte der 1950er Jahre erschienen Ausgaben der von Pinner illustrierten Bücher auch wieder in deutschen und österreichischen Verlagen, wie etwa Wunder der Wirklichkeit. Seltsame Geschöpfe der Tierwelt (Hamburg, Wien: Zsolnay 1955) oder Unglaublich – und doch wahr. Merkwürdiges aus dem Tierreich (Heidelberg: Kemper 1964). Eine völlig andere, aber nicht minder bemerkenswerte Rolle spielte Marie Neurath (1898 Braunschweig – 1986 London), die die von ihr und Otto Neurath (1882‒1945)
1298 Siehe u. a. Buchgestaltung im Exil, S. 191 f. (mit Literaturhinweisen); ferner: Ich reise durch die Welt. Die Zeichnerin und Publizistin Erna Pinner; Ulrike Edschmid: »Wir wollen nicht mehr darüber reden«. 1299 Felix Salten lebte seit 1939 im Schweizer Exil, ohne sich dort beruflich betätigen zu dürfen. Er war verarmt, zumal er die Rechte für die Verfilmung seiner berühmten, 1923 zuerst erschienenen Tiergeschichte Bambi für eine sehr geringe Summe an Walt Disney verkauft hatte.
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ursprünglich in Wien entwickelte visuelle Darstellungstechnik dazu nutzte, Kindern historische Sachverhalte verständlich zu machen.1300 In dem von ihr im englischen Exil mitaufgebauten Isotype-Institut brachte sie (unter Mitarbeit des Erziehungswissenschaftlers Joseph Albert Lauwerys und des Zoologen und Statistikers Lancelot Hogben) 1948/ 1949 im Londoner Verlag Max Parrish (einem Imprint des von österreichischen Exilanten gegründeten Adprint Verlags)1301 unter dem Generaltitel Visual History of Mankind eine erste Serie von Kinderbüchern heraus, drei Bände zu den Themen Living in early times (Bd. 1), Living in villages and towns (Bd. 2) und Living in the world (Bd. 3). Mit den Isotype-Illustrationen sollte demonstriert werden, wie sich Inhalte auf neuartige Weise klar und kindgerecht vermitteln lassen. Im Sinne dieser innovativen »visual education« sind nachfolgend noch zahlreiche weitere Bücher erschienen, mit einer Wirkungsgeschichte, die bis in die Gegenwart reicht. So erschien ebenfalls ab 1948 die außerordentlich erfolgreiche Serie Wonders of the Modern World mit insgesamt 14 Bänden; ab 1950 die Serie A New Look at World History mit drei Bänden; ab 1952 die Serie The Wonder World of Nature mit 16 Bänden; ab 1954 die Serie World in Pictures mit zwei Bänden; ab 1962 die Serie A New Look at Science mit fünf Bänden, ab 1963 die Serie Parrish Junior Color Books mit acht Bänden; und schließlich ab 1964 die Serie They Lived Like This mit 21 Bänden. Insgesamt ist mit den Darstellungskonzepten von Marie Neurath und ihrem Isotype-Institut, unterstützt vom Adprint / Max ParrishVerlag, aber auch anderen Verlagen in New York und Wien, eine eigene, in vielerlei Hinsicht vorbildliche Welt des Kindersachbuchs entstanden. Dem Wiener Otto NeurathUmfeld entstammte auch der in die USA geflüchtete Grafiker Friedrich / Frederick Jahnel (1901 Wien – 1952 New York), der in New York u. a. für die von Helene ScheuRiesz gegründete Island Press tätig war (siehe dazu weiter unten).1302 Nach einer Anstellung bei der Pictograph Corporation machte er sich mit den Jahnel Studios selbständig und zeigte sich in seinen Buchgestaltungen und -illustrationen weiterhin den von den Neuraths entwickelten piktografischen Darstellungsformen verpflichtet. Aus Wien nach London geflüchtet war auch Bettina Ehrlich (geb. Bauer; 1903 Wien – 1985 London).1303 Sie hatte nach einem Kunststudium erste originalgraphisch illustrierte Kinderbücher auf einer Handpresse gedruckt. Nach ihrer Emigration im Juni 1938 war sie zunächst als Malerin und Textildesignerin tätig, ab 1943 stattete sie, meist nur als »Bettina« auftretend, eine Reihe von selbstverfassten Kinderbüchern mit Illustrationen aus, zunächst in schwarz / weiß und Farb-Lithographie, später vor allem mit Aquarellen, die im Offsetdruck reproduziert wurden. Die Bücher kamen bis 1945 sämt-
1300 Vgl. Walker: Explaining History to Children: Otto and Marie Neurath’s Work on the Visual History of Mankind. Der Aufsatz beruht auf Materialien der Neurath Isotype Collection at the University of Reading. Nyburg: Émigrés, S. 158, weist darauf hin, dass Marie Neurath verantwortlich war »for many illustrated childrens’s books, and continued to uphold the standards set by the earlier Isotype books, including the beautiful Railways Under London (Max Parrish Ltd., 1948)«. 1301 Siehe das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 1302 Zu Jahnel siehe Buchgestaltung im Exil, S. 175; Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 105, 196; Kleine Verbündete, S. 131. 1303 Siehe Buchgestaltung im Exil, S. 153; Fuss Phillips, S. 30–32; Kleine Verbündete, S. 85, 117 f.
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lich im Londoner Verlag Chatto & Windus heraus, unter ihnen Poo-Tsee, the water tortoise (1943), Show me yours. A little paintbook (1943), Carmello (1945) und Cocolo (1945), später auch bei Hamilton (A horse for the island, 1952) oder Collins (For the leg of a chicken, 1960). Auch hielt sie sich einige Zeit in den USA auf, wo einige Ausgaben ihrer Bücher erschienen (u. a. Cocolo comes to America (1949) und Cocoloʼs home (1950), beide in New York bei Harper). Für eine Anzahl von Büchern lieferte sie nur die Illustrationen, z. B. für Lee Kingman: The magic Christmas tree (New York: Farrar, Straus 1956) oder Gilles Saint-Cérère: Pirawayu and the rainbow (London: Oxford University Press 1958). Auch Bettinas Ehemann Georg Ehrlich (1897 Wien – 1966 Luzern), hauptsächlich als Maler und Bildhauer tätig, lieferte Illustrationen zu Kinderund Jugendbüchern, so zu Oscar Wildes The young king and other stories (London: Wingate 1946).1304 Seit 1936 hielt sich auch Walter Trier (1890 Prag – 1951 Collingwood, Ontario, Kanada) in Großbritannien auf. In den 1920er und 1930er Jahren hatte er für UllsteinBlätter wie die Berliner Illustrierte, die Dame und den Uhu Zeichnungen geliefert, war aber zunehmend auch im Kinderbuch-Bereich tätig und hatte von 1927 bis 1938 13 Bücher Erich Kästners illustriert.1305 Nach seiner Emigration nach London gestaltete er 1937 bis 1949 die Titelseiten der Zeitschrift Lilliput und lieferte 1940 bis 1945 antifaschistische Zeichnungen und Karikaturen für Die Zeitung, The Daily Herald und Picture Post. In Kooperation mit dem britischen Ministry of Information stattete er Broschüren mit Zeichnungen aus, veröffentlichte jedoch auch eigene Werke mit politischem Inhalt 1306 (u. a. anonym Nazi-German in 22 [twenty two] lessons. Including useful information for Führers, fifth columnists, Gauleiters and Quislings. London, Harrow: Pulman [ca. 1942]). Vor allem aber begann Trier damit, selbst Kinderbücher zu erstellen, wie Dandy the donkey (London: Nicholson & Watson 1943; 1948 in deutscher Sprache als Das Eselein Dandy in Zürich im Schweizer Spiegel Verlag erschienen; 1950 folgte im Londoner Verlag Dandy in the circus) sowie 10 little negroes. A new version (London: Sylvain Press, Nicholson & Watson 1944), in welchem in Umkehrung des Bilderbuch-Klassikers die Zahl der »Negerlein« von eins auf zehn anwächst. Für die Londoner Sylvain Press illustrierte er Claire Nelson: The jolly picnic (1944) und Kate Barlay: The story of Frisky (1945) sowie noch weitere KJL-Titel für verschiedene andere Verlage. Nach Kriegsende nahm Trier die Zusammenarbeit mit Erich Kästner und Kurt Maschlers Atrium Verlag wieder auf 1307 und brachte dort als eigene Werke zwischen 1946 und 1950 drei StreifenKlappbücher 8192 crazy people, Quite crazy. 8192 more crazy people sowie 8192 crazy
1304 Siehe Buchgestaltung im Exil, S. 154; Fuss Phillips, S. 60 f. 1305 Fuss Phillips, v. a. S. 239 f.; Buchgestaltung im Exil, S. 202 f.; Lang: Walter Trier als Illustrator; Das große Trier-Buch. 1306 Der politisch engagierte Walter Trier war als Zeichner auch beteiligt an: Jury Herman: Viel Glück. Aus dem Tagebuch einer Soviet W. A. A. F. London: Free Austrian Books [1943]; Jesters in earnest. Cartoons. By the Czechoslovak artists Z. K. ‒ A. Hoffmeister ‒ A. Pelc – Stephen ‒ W. Trier. With a Preface by David Low. London: Murray 1944; und nach dem Krieg an: De pen is machtiger. De geschiedenis van den oorlog in caricatuur. Amsterdam: Scheltens & Giltay 1947. 1307 Siehe in diesem Kapitel weiter oben.
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costumes heraus.1308 Schon 1947 war Walter Trier mit seiner Frau zur Tochter nach Kanada übersiedelt. Dort widmete er sich – neben Entwürfen für Werbeplakate – erneut der Illustration englisch- und deutschsprachiger Kinderliteratur. Die pauschale Charakterisierung der gesamten KJL-Literatur des Exils als politisch oppositionell wurde in der Forschung mit Recht zurückgewiesen;1309 es gilt dies allenfalls für die von der Partei auf Antifaschismus verpflichtete Literatur der kommunistischen Autoren. Das bedeutet aber nicht, dass nicht doch auch eine ganze Anzahl von politisch engagierten KJL-Autoren ihren Beitrag zum Widerstand und auch zur Aufklärung der Jugend über die Entwicklungen im Dritten Reich geleistet hätte. Ein Beispiel gab Hans Siemsen, der Bruder der bekannten Pädagogin und SPD-Politikerin Anna Siemsen, mit der Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers, die im Pariser Exil entstand und 1940 unter dem Titel Hitler Youth in London bei Drummond erstveröffentlicht wurde; in deutscher Originalsprache wurde das Werk anonym in Argentinien in der Zeitschrift Das Andere Deutschland 1942/1943 abgedruckt (Siemsen selbst lebte seit 1941 in den USA). Von der überaus produktiven Autorin Hermynia Zur Mühlen, die im Exil insbesondere mit dem Roman Unser Töchter, die Nazinnen (1935 in Fortsetzungen in der im Saarland erscheinenden Zeitschrift Deutsche Freiheit und als Buchausgabe im Wiener Gsur-Verlag erschienen) Beachtung fand, kamen im Verlag von Free Austrian Books Kleine Geschichten von großen Dichtern heraus, Porträts österreichischer Schriftsteller / innen in kindgerechter Darstellung (Neuauflage 1946 im Wiener Globus Verlag).1310 In Little allies. Fairy and folk tales of fourteen nations (»adapted and told by Countess Hermynia Zur Mühlen«), erschienen 1944 (in 2. Auflage 1946) in der Alliance Press in London, lässt die Autorin 14 Flüchtlingskinder Märchen aus ihrem jeweiligen Heimatland erzählen, ein starkes Plädoyer für Offenheit gegenüber allen Kulturen dieser Welt. Lisbeth Gombrich (1907‒1994), wie ihr Bruder, der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich1311 aus Wien nach London geflüchtet, brachte in den 1940er Jahren eine Reihe englischsprachiger Nacherzählungen von Sagen und Märchen hauptsächlich bei Collins (London, Glasgow) heraus, so The story of Hansel and Grethel (1943), The Story of
1308 Walter Trier: 8192 crazy people in one book. For children from 5 and under to 75 and over. London: Atrium [ca. 1946]; ders.: Quite crazy: 8192 more crazy people. For children from 5 and under to 75 and over. London: Atrium [ca. 1949]; ders.: 8192 crazy costumes in one book. For children from 5 and under to 75 and over. London: Atrium [ca. 1950]. Durch Teilung von 32 Tafeln in je drei Streifen konnten, wie im Titel angegeben, mehr als 8000 Kombinationen von Figuren vorgenommen werden. 1309 So von Josting, Sp. 876, gegen Guy Stern: Wirkung und Nachwirkung der antifaschistischen Jugendliteratur; Guy Stern: Exil-Jugendbücher als Politikum. 1310 Vgl. Altner: Hermynia Zur Mühlen. 1311 Gombrich hat noch in Wien (erschienen bei Steyrermühl 1935) für den Verleger bzw. Reihenherausgeber Walter Neurath eine Weltgeschichte. Von der Urzeit bis zur Gegenwart für junge Leser geschrieben (später erschienen als Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser), die in den Exiljahren mehrfach in Übersetzungen (ins Niederländische 1936, Dänische und Norwegische 1937, Polnische 1938, Tschechische 1939 u. a.) erschienen ist und bis in die Gegenwart Verbreitung gefunden hat. Dieses Jugendsachbuch war im Dritten Reich aufgrund seiner pazifistischen Tendenz verboten.
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Aladdin and his wonderful lamp (ebd., 1945, illustriert von Amalia Serkin, der aus Böhmen stammenden, 1933 emigrierten Schwester des Pianisten Rudolf Serkin), The story of the seven ravens (ebenfalls ill. von A. Serkin, 1945).1312 Im Verlag Max Parrish erschien, unter herstellerischer Beteiligung der Adprint Corp., Lisbeth Gombrichs The amazing pranks of Master Till Eulenspiegel (mit Ill. v. Elias Katzer, 1948; zeitgleich, mit Hinzufügung des Namens der Koautorin Clara Hemsted, auch in New York in der Chanticleer Press).1313 Von Jella Lepman, die nach 1945 die bis heute sehr aktive Internationale Jugendbibliothek bei München gründen sollte, kam 1942 bei Murray in London die Detektivgeschichte Das Geheimnis vom Kuckuckshof heraus – in deutscher Sprache, da das Buch, dem eine deutsch-englische Vokabelliste beilag, offensichtlich auch Sprachlernzwecken dienen sollte. Ebenfalls in London / Glasgow bei Collins brachte Elisabeth Castonier (1894 Dresden – 1975 München) eine Reihe von Kinderbüchern heraus, alle illustriert von Mariel Deans: Shippy the tortoise (1942), Jim the goat (1942), Lolly the bat (1944), Emily the toad (1944).1314 Grete Fischer* (1893 Prag – 1977 London), bis 1933 als Lektorin bei den Verlagen Paul Cassirer und Ullstein (als Betreuerin von Vicki Baum) tätig, trat im Londoner Exil nicht nur als Lyrikerin und Übersetzerin, sondern – unter der Namensform Margaret Fisher – auch als Verfasserin pädagogischer Werke und als Kinderbuchautorin hervor, u. a. mit der 1943 bis 1947 bei Collins publizierten KindersachbuchReihe How Things Are Made.1315 Als Kindersachbuchautor konnte Egon Larsen (d. i. Egon Lehrburger, 1904 München – 1990 London) 1943 und 1944 bei Drummond in London Inventorsʼ Cavalcade und Inventorsʼ Scrapbook unterbringen; beide Bücher haben dann unter dem Titel Abenteuer der Technik bzw. Erfindungen und kein Ende im Nachkriegsdeutschland große Absatzerfolge errungen; überhaupt brachte Larsen, der auch als Zeitungskorrespondent tätig war, nach 1945 in Großbritannien und in Deutschland eine große Anzahl von populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Technikgeschichte sowohl für Erwachsene wie für die Jugend heraus. In zahlreichen Fällen blieb die Beteiligung von Emigranten auf reine Illustrationsarbeit beschränkt. Dies gilt etwa für George Him, geboren 1900 in Lodz / Polen als Sohn von Jacob Himmelfarb; er hatte nach einem Studium der graphischen Künste in Leipzig 1933 gemeinsam mit Jan Lewitt ein Designbüro gegründet, das Entwürfe für Buchgestaltungen und Buchillustrationen sowie zu Anzeigenwerbung lieferte. 1937 waren beide im Anschluss an eine Londoner Ausstellung ihrer Arbeiten nach England emigriert; dort betrieben sie erneut eine Designagentur, bis sich Lewitt 1954 der Malerei zuwandte. Him betätigte sich erfolgreich als Ausstellungsgestalter sowie als Spielzeugdesigner und Trickfilmzeichner, er hat aber auch – zum Teil noch gemeinsam mit Lewitt – zahlreiche Bücher, v. a. Kinderbücher illustriert, u. a. Julian Turvims Locomotive (London: Minerva
1312 Siehe Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 93 f. Zu Amalia Serkin siehe Kleine Verbündete, S. 159 f. 1313 Zu dem Verbund der Exilverlage Adprint, Parrish und Chanticleer Press siehe Kap. 5.2.5 Kunst- und Musikverlage. 1314 Bibliographisch nicht nachweisbar, aber in Briefen erwähnt: Tony the donkey (1941). 1315 Siehe auch Kap. 5.5 Übersetzungswesen.
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1939), Diana Rossʼ The little red engine gets a name (London: Faber & Faber 1942) oder Alina Lewitts Five Silly Cats (London: Minerva 1943).1316 Von den bedeutenderen, in Großbritannien lebenden deutschen Exilkünstlern hat Hellmuth Weissenborn1317 gelegentlich Ausflüge in das Genre der Kinderliteratur unternommen, so für die ersten drei Bücher der Serie »Acorn books« (A picture ABC, Verse von D. Eardley Wilmot, London: Acorn Press 1945; Counting. A picture book, 1946, und Raven, the rascal. A nature story, 1946), aber auch mit Bildern zu Billy the bumblebee von Victor Bonham-Carter (London: Hammond, Hammond & Co. 1946). Die Illustratorin Susan (Suzanne) Einzig (1922 Berlin – 2009 London) repräsentiert eine Vertreterin der zweiten Exilgeneration, denn sie war als Sechzehnjährige im April 1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach Großbritannien gelangt, wo sie von 1939 bis 1942 an der Central School of Arts and Crafts in London studierte und von 1942 bis 1945 Arbeitsdienst in der Rüstungsindustrie leistete.1318 Nach Kriegsende trat sie als Buchillustratorin hervor (u. a. für Norah Tempe Pullings Mary Belinda and the ten aunts, erschienen 1945 in London bei Transatlantic Arts). Bereits 1949 gewann sie den Preis »Best Illustrated Children’s Book«, 1958 dann die »Carnegie Medal« für ihre Bilder zu Tom’s Midnight Garden von Philippa Pearce (London: The Bodley Head 1958). Von ihren in den 1960er und 1970er Jahren angefertigten Kinder- und Jugendbuchillustrationen seien erwähnt Edith Nesbitts The bastables. The story of the treasure seekers (London: Nonesuch Press 1965) oder Eleanor Spences Lillipilly hill (London: Oxford University Press 1974). Einzig, die als Malerin sowie als Grafikerin für Zeitschriften wie Lilliput und Vogue ebenso erfolgreich tätig war, lehrte 1946 bis 1951 an der Camberwell Art School und von 1959 bis 1965 an der Chelsea School of Art. Noch deutlicher der zweiten Exilgeneration gehörte Judith Kerr (1923 Berlin – 2019 London) an; die Tochter des Theaterkritikers Alfred Kerr arbeitete nach dem Krieg als Redakteurin für die BBC und reüssierte seit den 1960er Jahren mit von ihr selbst getexteten illustrierten Kinderbüchern, u. a. mit The Tiger who came to tea (London: Collins 1968) sowie einer 17 Bände umfassenden Serie mit Geschichten über den Kater Mog. Besondere Berühmtheit erlangte ihr 1971 veröffentlichtes Buch When Hitler Stole Pink Rabbit (New York: Puffin Books), ein Kinder- und Jugendbuch mit autobiographischem Gehalt, das – in der Übersetzung von Annemarie Böll Als Hitler das rosa Kaninchen stahl – seit seinem Erscheinen in Deutschland (Maier Verlag: Ravensburg 1973) rund 1,5 Millionen mal verkauft und 1974 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde; darüber hinaus fand es Verwendung auch im Schulunterricht als eine Einführung in das Thema Drittes Reich und Exil. Eine Fortsetzung fand die autobiographische Beschreibung der Flucht von Judith Kerrs Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland mit Warten bis der Frieden kommt (1975) und Eine Art Familientreffen (1979).
1316 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 171; Kunst im Exil in Großbritannien, S. 135. 1317 Zu Weissenborn siehe auch Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 1318 Buchgestaltung im Exil, S. 155. Siehe auch Nyburg: Émigrés, S. 210, sowie S. 235, Fn. 61, mit dem Quellenhinweis: Susan Einzig’s recorded interview for Refugee Voices, Association of Jewish Refugees.
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USA Island Press, New York In den Vereinigten Staaten kam es zur einzigen Gründung eines »echten« Exil-Kinderbuchverlags. Als Helene Scheu-Riesz* (1880 Olmütz / Olomouc (Mähren) – 1970 Wien) in den USA Anfang der 1940er Jahre die Island Press aufbaute, blickte sie bereits auf eine jahrzehntelange Erfahrung als Kinderbuchverlegerin zurück.1319 In Wien war die Ehefrau des sozialdemokratischen Stadtrats Gustav Scheu (gest. 1935) in der österreichischen Frauenbewegung aktiv und als Publizistin für mehrere Wiener Tages- und Wochenzeitungen, u. a. für die Neue Freie Presse, sowie als Schriftstellerin tätig gewesen. Eng mit der Reformpädagogin und Schulgründerin Eugenie Schwarzwald befreundet, war Scheu-Riesz von den neuen Gedanken der Entwicklungspsychologie fasziniert. Als sie während einer Englandreise auf die »Pennybüchlein« aufmerksam wurde, fasste sie den Plan, dazu ein österreichisches Pendant zu schaffen. Mit dem Wiener Buchhändler Hugo Heller unternahm sie den Versuch, eine preisgünstige Kinderbuchreihe »Jugendspiegel« herauszugeben: es erschienen 1906/1907 aber nur zwei Hefte der angestrebten Universalbibliothek für Kinder. Ab 1910 war Scheu-Riesz bei Konegens Jugendschriftenverlag tätig und gab dort bis 1917 insgesamt 57 Bände von »Konegens Kinderbüchern« heraus. Nach der Trennung von Konegen gründete Scheu-Riesz 1923 einen eigenen Verlag; mit ihrem Sesam Verlag verfolgte sie das Konzept, beste Werke der Weltliteratur in kindgerechter Form und zu niedrigsten Preisen auf den Buchmarkt zu bringen. Absolventen der »Jugendkunstklasse« Franz Cizeks an der Wiener Kunstgewerbeschule gestalteten die Titelbilder und Illustrationen der »Kleinen Sesambücher« (insges. 61 Bändchen mit jeweils 16 Seiten im Format 12 mal 12 cm) und der »Bunten Sesambücher« (129 Titel), die auf der Konegen-Kinderbuchreihe aufbaute. 1926 erschien das letzte Buch im SesamVerlag, 1930 wurde der Verlag endgültig aufgelöst und 1932 vom Verlag für Jugend und Volk übernommen. Helene Scheu-Riesz betätigte sich in diesen Jahren als KinderbuchAutorin und brachte 1934 in englischer Sprache in der Tauchnitz-Edition in Leipzig Gretchen discovers America. A story of pre-war types in after-war life heraus; eine weitere Ausgabe erschien 1936 in London bei Dent. In diesem als Briefroman angelegten, zeitlich in den Jahren 1923/1924 angesiedelten Jungmädchen-Roman geht es bemerkenswerterweise bereits um das Thema Auswanderung; Scheu-Riesz ist hier ein moderner Roman mit einer aufregenden Thematik gelungen. Ein junges Mädchen verläßt allein seine Heimat und beginnt erfolgreich ein neues Leben in der Fremde. Zeitgemäße Themen, wie die noch junge Psychoanalyse Freuds, partnerschaftliches Verhalten zwischen Männern und Frauen und das Engagement für eine
1319 Vgl. Dreher: Helene Scheu-Riesz. Vgl. ferner die Angaben in Helene Scheu-Riesz. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 4, Bibliographien, S. 1635‒1637; Kleine Verbündete, bes. S. 157; Blumesberger: Helene Scheu-Riesz (1880‒1970); Blumesberger: Sesam öffne dich. Helene Scheu Riesz und die Vision einer modernen Bibliothek für Kinder nach dem ersten Weltkrieg; Blumesberger: »Ich hoffe, den Tag noch zu erleben […]«. Helene Scheu-Riesz – Verlegerin und Visionärin; Ariadne-Projekt der ÖNB: Scheu-Riesz, Helene 1880‒1970 [online].
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internationale Friedensbewegung werden diskutiert. Im Kulturvergleich zwischen Österreich und Amerika ist Helene Scheu-Riesz nicht unkritisch, wenn ihre Sympathien auch stark nach Amerika tendieren, wo sie Gretchen ihr Glück finden läßt.1320 Im August 1937 entschloss sich Scheu-Riesz – allerdings nicht explizit aus politischen Gründen – nun auch selbst zur Emigration in die USA, wo ihre Tochter verheiratet war; sie lebte bis 1941 in Chapel Hill, North Carolina, danach in New York. Dort errichtete sie mit Hilfe der vermögenden Kinderpsychologin Blanche C. Weill erneut einen eigenen Verlag, die Island Workshop Press (später Island Press), die bis 1954 bestand und – analog zu den in Wien verlegten »Kleinen bzw. Bunten Sesambüchern« – die preiswerte Kinderbuchreihe »United World Books« herausbrachte. Gleichzeitig verlegte ScheuRiesz in der Open Sesame Inc., einem »separate department« der Island Press, zwölf Büchlein der »Sesame Series«, allerdings mit weniger großem Erfolg. Diese waren von den »Books for the Bairns« inspiriert, die sie in England kennengelernt hatte.1321 Als künstlerischer und administrativer Berater im Verlag Island Press betätigte sich ein emigrierter Kompatriot, der weiter oben bereits erwähnte Graphiker und Illustrator Frederick (Friedrich) Jahnel, der in Wien als Graphiker im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum bei Otto Neurath gearbeitet hatte und dessen Buchillustrationsstil von den von Otto Neurath und Gerd Arntz entwickelten piktographischen Verfahrensweisen geprägt war. Von ihm stammen die Illustrationen u. a. zu Helene Scheu-Rieszʼ Those funny grownups (New York: The Island Workshop Press 1943). Scheu-Riesz selbst sah sich, obwohl im annektierten Österreich als Jüdin und Verfechterin sozialdemokratischer und pazifistischer Ideen hoch gefährdet, nicht als typische Exilantin. Sie begriff ihren Weg nach Amerika als einen Neuanfang und hatte die Absicht, mit ihrer amerikanischen Buchproduktion auch den europäischen Markt zu beliefern. Zu diesem Zweck reiste sie im Oktober 1947 nach Europa; die angestrebte Etablierung von Handelsbeziehungen war damals aber nicht möglich. 1952 gründete sie daher in Wien erneut einen Verlag, den nur zwei Jahre bestehenden Verlag Helene Scheu-Riesz, behielt ihren Wohnsitz in den Vereinigten Staaten aber bis zu ihrer endgültigen Rückkehr nach Wien 1954 bei. In diesen zwei Jahren gab sie erneut ein Dutzend »United World Books« in englischer Sprache mit angefügter englisch-deutscher Vokabelliste heraus.
Kinder- und Jugendbücher bei Pantheon Books, New York Kinder- und Jugendliteratur erschien auch in Kurt Wolffs New Yorker Verlag Pantheon Books, so schon kurz nach Gründung 1942 mit Iwan Heilbuts tendenziell »antifaschistischem« Kinderroman Francisco and Elizabeth, illustriert von Rafaello Busoni; Francisco ist ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter vor dem Spanischen Bürgerkrieg in die USA geflohen ist. Raf(f)aello Busoni (1900 Berlin – 1962 New York), Sohn des Komponisten Ferruccio Busoni, hatte Illustrationsarbeiten schon seit den 1920er Jahren angefertigt, war aber auch als Maler hervorgetreten. 1939 aus Berlin nach Schweden
1320 Dreher: Helene Scheu-Riesz, S. 152. 1321 Darüber berichtet Scheu-Riesz in ihrer Schrift Open Sesame. Books are Keys (New York: The Island Press 1947).
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und weiter in die USA geflüchtet,1322 wandte er sich hier mit einem für seinen Sohn angefertigten Buch wieder der Buchillustration zu und stattete in der Folge unter Anwendung unterschiedlicher grafischer Techniken mehr als hundert Bücher – Kinderund Jugend(sach)bücher, Schulbücher und Bücher für Erwachsene – mit Bildern aus; gelegentlich trat er dabei auch als Textautor in Erscheinung.1323 1955 illustrierte Busoni für Pantheon Books Fritz Mühlenwegs Big Tiger and Christian, eine englischsprachige Version von Mühlenwegs Erfolgsbuch In geheimer Mission durch die Wüste Gobi, das 1950 zuerst erschienen und rasch zu einem internationalen All-Age-Klassiker avanciert war. Im Programm von Pantheon Books setzten 1944 Grimm’s fairy tales, eindrucksvoll illustriert von Josef Scharl (1896 München – 1954 New York), einen besonderen Akzent.1324 Das Buch erzielte einen beachtlichen Verkaufserfolg; es wurde mehrfach wieder aufgelegt und erschien 1948 auch in London bei Routledge & Paul. Scharl, ein über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Maler, der – 1935 als »entartet« verfemt – im Dezember 1938 über die Niederlande in die USA geflüchtet war, betätigte sich als freier Künstler in New York und stattete dort für Pantheon Books auch Adalbert Stifters Novelle Bergkristall (Rock crystal. A Christmas tale, 1945) mit Bildern aus.1325 1947 publizierte der Verlag in einem 540-Seiten-Band Selma Lagerlöfs The wonderful adventures of Nils, übersetzt von Velma Swanston Howard und reichhaltig mit gezeichneten Illustrationen versehen von Hans Baumhauer, dem späteren Schwiegersohn Kurt Wolffs. Auch Anne Marie Jauss (1902 München – 1941 West Milford, New Jersey) war für Pantheon Books als KJL-Illustratorin tätig; sie stattete u. a. 1948 Peter Lums The stars in our heaven. Myths and fables, 1950 Elinor Parkers Some dogs, 1951 Peter Lums Fabulous beasts und 1966 Alfred Duggans The falcon and the dove. A life of Thomas Becket of Canterbury mit Bildern aus.1326 Jauss war 1933 aus Protest gegen das nationalsozialistische Regime nach Portugal emigriert, wo sie als Designerin und Dekorateurin
1322 Busoni war verheiratet mit Hannah, geb. Apfel, Tochter des auf der politischen Linken engagierten Rechtsanwalts Alfred Apfel, der u. a. Carl von Ossietzky verteidigt hatte. Von Busoni illustrierte Bücher waren auch in NS-Deutschland erschienen, aufgrund der jüdischen Herkunft Hannahs musste das Paar aber flüchten. 1323 Fuss Phillips nennt 66 Titel, darunter Bände der Serie »Lands and peoples« des New Yorker Verlags Holiday House; sowie Harriet Brun: Johann Sebastian Bach. New York: Random House 1942; Emil Ludwig: The Mediterranean. Saga of a sea. New York, London: Whittlesey House 1942; Stendhal: The charterhouse of Parma. New York: Limited Editions Club 1955 u. a. m. 1324 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 195 f., mit weiterführenden Literaturhinweisen, darunter Greither: Josef Scharl 1896‒1954. 1325 Auf Märchen setzte auch der Frederick Ungar Verlag, der einschlägige Bücher des Verlagsmitarbeiters Robert Lohan herausbrachte: Es war einmal. Sechs schöne deutsche Märchen (Nacherzählt von Robert Lohan, mit 18 farbigen Originalbildern von Harry Roth, 1944). Lohan publizierte außerdem in dem New Yorker Verlag Stephen Day (der später von Ungar aufgekauft worden ist) Christmas Tales for reading aloud (1946) und gemeinsam mit seiner Frau Maria Lohan A new Christmas Treasury. With more stories for reading aloud (1954). 1326 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 175. Vgl. jetzt Johanna Jauss: Anne Marie Jauss 1902‒ 1991 (mit Werkverzeichnis).
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lebte. Erst 1946 immigrierte sie in die USA und lebte anfänglich in New York, wo sie nicht nur für Pantheon tätig wurde, sondern auch für andere Verlage; so etwa illustrierte sie Christiane Grautoffs The stubborn donkey (New York: Aladdin Books 1949), Wilhelmine Frischs The storks of Lillegaard (Indianapolis, New York: Bobbs-Merrill 1950) und Richard Headstroms Kalenderbuch für Kinder The living year (New York: Ives Washburn 1950).1327 Später zog Jauss nach New Jersey um; seit Anfang der 1960er Jahre schrieb und illustrierte sie eigene Kinderbücher, die sich durch präzise Darstellung der Natur auszeichnen. Daneben lieferte sie Entwürfe für Schutzumschläge und Landkarten für verschiedene Verlage.
Erika Mann und die L. B. Fischer Publishing Corp. Erika Mann hatte noch in der Weimarer Zeit, 1932, ihr erstes Kinderbuch Stoffel fliegt übers Meer mit Illustrationen des mit ihr und ihrem Bruder Klaus befreundeten Ricki Hallgarten herausgebracht, auch mit Hallgarten ein Weihnachtsspiel Jan’s Wunderhündchen. Ein Kinderstück in sieben Bildern verfasst, das in Darmstadt uraufgeführt wurde.1328 Im Exil trat sie gleichfalls nicht nur als Kabarettistin mit der »Pfeffermühle« und als politische Journalistin und Rednerin hervor, sondern mehrfach auch als Verfasserin von Kinder- und Jugendbüchern. Schon 1934 war in Basel im Philographischen Verlag Muck, der Zauberonkel mit Illustrationen von Fritz Wolff erschienen und einige Jahre später in den Niederlanden eine Neuausgabe von Stoffel fliegt übers Meer (bearb. von B. M. Barth. Zwolle: Tjeenk Willink 1938), besondere Beachtung fand aber ihre 1942 in den USA in der L. B. Fischer Publishing Corporation herausgebrachte, von Richard Erdös (s. weiter unten) illustrierte Geschichte A gang of ten,1329 mit der sie den 67 Kindern ein Denkmal setzte, die (wie auch der Ehemann ihrer Schwester Monika) beim Untergang der von einem deutschen U-Boot torpedierten »City of Benares« ums Leben gekommen waren. Erika Mann hatte sich überdies kritisch-politisch mit der Pädagogik des Nationalsozialismus befasst, ihr Buch Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich (1938 mit einem Geleitwort von Thomas Mann erschienen in Amsterdam bei Querido und vielfach übersetzt in niederländischen, schwedischen, englischen und amerikanischen Ausgaben, u. a. unter dem Titel School for Barbarians in New York bei Modern Age Books 1938 und in London bei Drummond 1939) erregte
1327 Auch Der ewige Kalender. Ein Jahresspiegel, 1954 von Oskar Maria Graf im Selbstverlag herausgebracht, erschien mit Zeichnungen von Anne Marie Jauss. Illustrationen lieferte Jauss u. a. zu Maurice and Pamela Michael: German Folk and fairy Tales. New York: Putnam 1963 oder zum »tapferen Schneiderlein« der Brüder Grimm (Brothers Grimm: The valiant little Tailor. Transl. by Margaret Hunt. Irvington-on-Hudson: Harvey House 1967). 1328 Murken: Gedanken zum Kinder- und Jugendbuchwerk von Erika Mann; von der Lühe: »Meine etwas kindische Art, Geschichten zu erzählen…«. Die Schriftstellerin und Publizistin Erika Mann im amerikanischen Exil. 1329 Mit Illustrationen von Richard Erdös und einer Buchausstattung von Stefan Salter. Danach erschienen auch London: Secker & Warburg 1943, weitere Ausgaben in spanischer Sprache Buenos Aires: Editorial Futuro 1944; eine deutschsprachige Ausgabe erschien erst Jahrzehnte später, 1990, u. d. T. Zehn jagen Mr. X im Berliner Kinderbuchverlag (in der Übersetzung von Elga Abramowitz).
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einige Aufmerksamkeit und lag vielfach ihren »lecture-tours« in den Vereinigten Staaten zugrunde.
KJL-Autor/innen und Illustrator/innen in US-Verlagen Einen Sonderfall stellt die KJL-Autorin Maria Gleit (eig. Hertha Gleitsmann; 1909 Crimmitschau – 1981 Locarno) dar, insofern sie 1935 gemeinsam mit ihrem Mann Walther Victor, der als linksgerichteter Publizist in der Illegalität gegen den Nationalsozialismus aktiv war, ins Exil ging (ihr Weg führte 1935 über die Schweiz 1938 nach Luxemburg und dann nach Frankreich, wo sie Artikel für das Pariser Tageblatt schrieb, und 1939 weiter über Spanien und Portugal nach New York), von dort aus aber noch jahrelang weiter in Deutschland publizierte.1330 So erschien 1937 in Berlin im SchönfeldVerlag Junges Weib Veronika und im durchaus NS-affinen Hanns-Jörg Fischer Verlag Ein ganzes Mädel. Was ein Mädel alles erleben kann sowie im gleichen Verlag noch 1940 Mein Vater war auch dabei. Möglicherweise wollte Gleit diese Einkommensmöglichkeiten nicht verlieren; immerhin brachte sie in ihren Büchern auch Appelle zu Mitmenschlichkeit und Güte unter und suchte so der Intoleranz des NS-Systems entgegenzuwirken.1331 1938 kam dann bei Oprecht in Zürich Du hast kein Bett, mein Kind heraus; 1942 wurde im Dritten Reich das Gesamtwerk Maria Gleits verboten.1332 Die von Gleit in den USA verfassten Jugendbücher erschienen sämtlich in englischer Sprache: schon 1939 war in der Oxford University Press in London / New York Child of China veröffentlicht worden (2. Aufl. 1948; die Originalausgabe u. d. T. Sa-Tu-Sai führt Krieg 1938 in Leipzig); weitere Titel verlegte Scribner in New York: 1944 Pierre keeps watch (Ill. Helene Carter), 1946 Niko’s mountains (Ill. Mimi Korach), 1945 Katrina (Ill. Nedda Walker) und 1949 Paul Tiber, forester (Ill. Ralph Ray). Tents in the wilderness. The story of a Labrador Indian boy (Philadelphia, New York: Stokes 1942), ein Jugendbuch des Ethnologen Julius E. Lips (1895 Saarbrücken – 1950 Leipzig), war mit Illustrationen von Kurt Wiese versehen. Wiese (1887 Minden – 1974 Idell / New Jersey) hat im Laufe seines Lebens die Bebilderung zu mehr als 300 Büchern und 20 Kinderbüchern geliefert; er war keine Hitleremigrant, sondern schon in den 1920er Jahren nach Brasilien gegangen und 1927 in die USA immigriert, wo er eine Farm bewirtschaftet, daneben aber seine Illustratorentätigkeit weitergeführt hat. Sein erster großer Erfolg waren dort 1929 die Illustrationen zu Felix Saltens berühmtem Buch Bambi. A Life in the Woods (New York: Simon and Schuster 1929 in der Übersetzung von Whittaker Chambers; dt. OA 1923). Unter den zahlreichen von ihm mit Bildern ausgestatteten Büchern sei noch erwähnt eine Arbeit für Pantheon Books von 1959, Pika and the Roses von Elizabeth Coatsworth. Die aus Wien emigrierte Schauspielerin, Journalistin und Literaturagentin Hertha Pauli1333 machte sich im US-amerikanischen Exil auch als Jugendbuchautorin einen 1330 Heimberg: »Schreiben kann man überall […]«. Die Schriftstellerin Maria Gleit (1909‒ 1981) im Exil. 1331 Heimberg, S. 46. 1332 Zur Verbotsthematik siehe Josting: Kinder- und Jugendliteratur deutschsprachiger ExilautorInnen, Sp. 876‒879. 1333 Siehe auch Kap. 5.4 Literarische Agenturen.
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Namen, hauptsächlich mit Silent night. The story of a song, erschienen 1943 mit Illustrationen von Fritz Kredel in New York bei Alfred Knopf, in dem Pauli der amerikanischen Jugend die Herkunft des berühmtesten aller Weihnachtslieder erzählte. Aufgrund des sich abzeichnenden großen Erfolgs konnte Pauli im Folgejahr eine Art Fortsetzung herausbringen, The story of the Christmas tree (Boston: Houghton Mifflin 1944); Schutzumschlag, Vorsatz und Illustrationen dieses Buches waren von William Wiesner gestaltet. Sowohl auf Wiesner wie auf Kredel wird gleich noch zurückzukommen sein; zunächst aber sei hingewiesen auf ein drittes, hauptsächlich auf ein jugendliches Publikum zielendes Werk Hertha Paulis, I lift my lamp. The way of a symbol (New York, London: AppletonCentury-Crofts 1948), eine Geschichte der New Yorker Freiheitsstatue, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem aus Bayern stammenden Übersetzer E. B. Ashton (eig. Ernst Basch, 1909–1983) verfasste. The story of the Christmas tree war die erste Illustrationsarbeit William (Wilhelm) Wiesners (1899 Wien – 1984), der vor 1938 in Wien als Architekt und Designer tätig gewesen war, aber auch Stücke für ein Puppentheater geschrieben hatte.1334 Nach dem »Anschluss« Österreichs ging er zunächst nach Frankreich, 1941 nach New York und begann dort Kinderbücher zu illustrieren; nach Paulis Christmas tree folgten noch zahlreiche weitere.1335 Gleichzeitig mit der Arbeit als Illustrator fing Wiesner an, selbst auch Texte zu schreiben, wobei er mehrfach auf die europäische Mythen-, Märchen- und Legendentradition zurückgriff, wie in Three good friends. An old story retold (New York, London: Harper 1946). In den 1960er und 1970er Jahren brachte er noch eine Reihe weiterer solcher Nacherzählungen und Adaptierungen heraus;1336 daneben war Wiesner als Textildesigner und Wandmaler tätig. Was Fritz Kredel (1900 Michelstadt – 1973 New York) betrifft, so hat dieser im Rahmen seiner umfangreichen Tätigkeit als freier Illustrator im New Yorker Exil dem Kinder- und Jugendbuch wohl mindestens ein Zehntel seines Schaffens gewidmet und gehörte gemeinsam mit Fritz Eichenberg zu den beliebtesten Kinderbuchkünstlern Ame-
1334 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 212; Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 272 f. 1335 Wie z. B. The Gunniwolf. Retold by Wilhelmina Harper (New York: Dutton 1946), Charles Francis Potters Tongue tanglers und More tongue tanglers and a rigmarole (Cleveland: World Publishing Company 1962 bzw. 1964), Christopher Bernard Wilsons Hobnob (New York: Viking Press 1968) und Gil Nagys No more dragons (New York: Lothrop, Lee & Shepard 1969). 1336 Noahʼs ark (New York: Dutton 1966), The Tower of Babel (New York: Viking Press 1968), Happy-go-lucky. Adapted from a Norwegian tale (New York: Seabury Press 1970), The contant little mouse. Adapted from an old French folk tale (New York: Four Winds Press 1971), Hansel and Gretel. A shadow puppet picture book. Adapted from the versions of Ludwig Bechstein and the Brothers Grimm (New York: Seabury Press 1971), Turnabout. A Norwegian tale retold (New York: Seabury Press 1972), Thom Thumb. Retold (New York: Walck 1974). Ein (Teil-)Nachlass mit Materialien zu Illustrationen, Schutzumschlagentwürfen u. ä. aus den Jahren 1951 bis 1974 befindet sich als William Wiesner Papers CLRC-1641 in den Archives and Special Collections der Elmer L. Andersen Library, University of Minnesota.
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rikas überhaupt.1337 Kredel hat Klassiker der KJL wie Grimmʼs Fairy tales (New York: Grosset & Dunlap 1945) oder im Jahr darauf Carlo Collodis The adventures of Pinocchio für die »Illustrated junior library« desselben Verlags und John Ruskins Märchen The king of the golden river (Cleveland, New York: World Publishing Co. 1946; in den »Rainbow classics«) ebenso bebildert wie Kay Boyles The youngest camel (Reprint, Boston: Little, Brown & Co. 1942) oder Felix Saltens Jibby, the cat (New York: Messner 1948). Bereits 1940 hatte Kredel die Ehre gehabt, Eleanor Roosevelts Christmas für Alfred A. Knopf zu illustrieren.1338 Wie Kredel übernahm auch der Holzstichkünstler Fritz Eichenberg (1901 Köln – 1990 Peace Dale, Rhode Island) immer wieder Illustrationsaufträge für Kinder- und Jugendbücher. Er hatte schon in Deutschland Gullivers Reisen oder den Till Eulenspiegel bebildert, und setzte dies im amerikanischen Exil weiter fort. So entstanden 1940 für die Heritage Press erneut Illustrationen für Swifts Gulliverʼs travels, aber auch zu Anna Sewells Black beauty. The autobiography of a horse (New York: Grosset & Dunlap 1945), ebenso zu Ruth Stiles Gannetts The wonderful house-boat-train (New York: Random House 1949), Rudyard Kiplings The jungle book (New York: Grosset & Dunlap 1950), Mark Van Dorens The witch of Ramoth and other tales (York, Pennsylvania: Maple Press 1950) u. v. a. m.1339 1948 steuerte Eichenberg zu Felix Saltens’s favourite animal stories (New York: Messner) die Illustrationen bei. Überhaupt erwiesen sich die USA als goldener Boden für Kinder- und Jugendbuchillustration. Davon zeugen unter anderen die Laufbahnen von Erika Weihs und Lisl Weil. Erika Weihs (geb. Fischl, Ps. Erika; 4. November 1917 Wien – 2010) war nach dem Besuch der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien 1938 nach England, 1940 nach New York emigriert.1340 Dort studierte sie weiter an einer Kunstschule; ihre Werke als Malerin wurden später in zahlreichen Ausstellungen in den USA und anderen Ländern gezeigt. 1943 erschien das erste von ihr illustrierte Kinderbuch; nachfolgend schuf sie als »free lance illustrator« den Bildschmuck zu mehr als sechzig Büchern in unterschiedlichsten Techniken, darunter zu Märchenbüchern wie Grimms Hansel and Gretel (New York: Simon and Schuster 1943), Mother Goose oder Katharina Gibsons Fairy tales (beide Racine, Wisconsin: Whitman 1944 bzw. 1945). Andere Illustrationsarbeiten lieferte sie für Frida Sarsen-Bucky: Hello, I’m Adeline. New York: Animated Book Company 1944; Muriel Laskey: The proud little kitten (New York: Universal Budget Systems 1944) und Nettie King: Johnny is a puppy (New York: Garden City Publishing Company 1945). Für die Domesday Press illustrierte Weihs 1945 Robert Louis Stevensons A child’s garden of verses sowie Mary Patrics Pandora; für die von Gottfried Bermann Fischer und Fritz Landshoff gegründete L. B. Fischer Corp. stattete sie im gleichen Jahr The rolling pancake and other nursery tales mit Bildern aus.
1337 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 179 f.; Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 125‒135 (39 Titel KJL); Ronald Salter: Der Illustrator Fritz Kredel. 1338 1961 wurde Kredel beauftragt, anlässlich der Amtseinführung von John F. Kennedy mit einem Holzschnitt die Vorlage des Präsidentensiegels zu gestalten. 1339 Fuss Phillips verzeichnet in ihrer Exil-KJL-Bibliographie S. 61–68 unter Fritz Eichenberg insgesamt 30 einschlägige Publikationen. 1340 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 210; Fuss Phillips, S. 259–264; Kleine Verbündete, S. 67 f.
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Lisl Weil (1910 Wien – 2006 New York) hatte nach Ballettunterricht bei Grete Wiesenthal und einem Kunststudium als Zeichnerin und Karikaturistin für Wiener Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet, bis sie 1939 über die Niederlande nach New York emigrierte.1341 Dort war sie zunächst als Schaufensterdekorateurin tätig, seit Mitte der 1940er Jahre schrieb und illustrierte sie Kinderbücher, insgesamt rund 140 an der Zahl. Unter den von ihr verfassten Titeln befanden sich The happy ABC (Cleveland, New York: World Publishing Company 1946), Jacoble tells the truth (Boston: Houghton Mifflin 1946) und Bill the brave (ebd., 1948); Illustrationen lieferte sie zu Marion Moss: Doll house (Cleveland, New York: World Publishing Company 1946), Dori Furth: Back in time for supper (Philadelphia: McKay 1947) und Karine Forbes: The thirsty lion (New York: Crowell 1950). Die überwiegende Mehrzahl der in die USA emigrierten Buchillustratoren konnte sich allerdings nicht auf das Kinder- und Jugendbuch spezialisieren, sondern betätigte sich nur gelegentlich in diesem Feld. Dies gilt etwa für Florian Kraner (1908 Wien – 1976 New York), ausgebildeter Handwerksmeister für Einlegearbeiten und Absolvent der Kunstgewerbeschule in Wien.1342 Er war 1935 in die USA emigriert, wo er zunächst für Werbeagenturen tätig wurde. Außerdem schuf er Wandmalereien, Bucheinbände und unter dem Pseudonym »Florian« Buchillustrationen, u. a. für den L. B. Fischer Verlag (George Hornby [u.] Allen Hofrichter: The long-ago book, 1944), aber auch für andere New Yorker Verlage wie Alfred A. Knopf (Vera Edelstadt: Young fighters of the Soviets, 1944 für die Serie »Adventure tales for young readers«) oder die Domesday Press bzw. Random House (Janet Murtaugh: Wonder tales of giants and dwarfs, 1945; Come with us to story book land, 1945; Famous myths of the golden age. Retold by Beatrice Alexander, 1947). Für die Garden City Publishing Company illustrierte Kraner 1945 The Bible picture book; für die »Illustrated junior library« von Grosset & Dunlap 1950 Thomas Malorys King Arthur and his knights of the round table. 1953 wurde Kraner Dozent, später Professor im Fachbereich Kunst des City College in New York. Auch der 1938 als 25-jähriger in die USA emigrierte Jan B. Balet (1913 Bremen – 2009 Estavayer-le-Lac, Schweiz) arbeitete anfänglich als Graphiker in der Werbebranche und für Zeitschriftenmagazine. Nachdem er aber 1947 für ein von ihm selbst verfasstes und illustriertes Kinderbuch Amos and the moon (New York: Oxford University Press 1948) den Preis des Art Directors Club erhielt, betätigte er sich häufiger als Kinderbuchillustrator und -autor.1343 Seine Illustrationen zu Patricia Jonesʼ »adaption from Grimm’s fairy tales« Rumplestiltskin (Chicago: McNally 1954) wurden 1955 von der New York Times als bestillustriertes Buch des Jahres ausgezeichnet. Seit 1965 lebte Balet wieder in Europa, bis 1973 in Deutschland, danach in Frankreich und in der Schweiz. Ähnlich Richard Erdös (auch Erdoes, geb. 1912 Frankfurt am Main – 2008 Santa Fé, New Mexico), der nach dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Wien als Karikaturist für Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet und Kurzgeschichten geschrieben hat-
1341 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 210; Fuss Phillips, S. 264 f.; Kleine Verbündete, S. 6‒68. 1342 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 178; Fuss Phillips, S. 82–84; Kleine Verbündete, S. 78, 137. 1343 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 142; Fuss Phillips, S. 29 f. – Ebenfalls in der Oxford University Press erschien 1949 Ned and Ed and the lion.
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te.1344 Nach der Annexion Österreichs hielt er sich versteckt, 1939 flüchtete er über Belgien nach Frankreich, 1940 über London nach New York, wo er als Trickfilmzeichner und Werbegraphiker, danach als Karikaturist, Zeichner und Fotograf für bedeutende Magazine (LIFE, Vogue, Harper’s Bazaar) tätig wurde. Seit den 1940er Jahren hat er auch eine Anzahl von Kinder- und Jugendbüchern illustriert, unter ihnen Erika Manns A gang of ten (1942 für den L. B. Fischer Verlag, New York), James Joyceʼ The cat and the devil (New York: Dodd, Mead 1964) oder Theo LeSieg: Come over to my house (New York: Beginner Books 1966). Als Schriftsteller setzte Erdös sich besonders mit dem Schicksal der nordamerikanischen Indianer auseinander. Weitere Beispiele für die zahlreichen Künstlerinnen, die sich mit Kinderbuchillustration mindestens ein Zubrot verdienten oder sich damit eine Existenzgrundlage sicherten, geben auch die folgenden genannten drei Exilantinnen, die allesamt in Wien in bildgraphischen Techniken ausgebildet worden waren:1345 Steffi Lerch, Fini Rudiger und Helene Schneider-Kainer. Steffi Lerch (geb. Stephanie Krausz; 1905 Budapest – 1996 New York City) war nach einem Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien als Werbegraphikerin tätig,1346 1939 emigrierte sie nach New York und arbeitete dort als Graphikerin u. a. für eine Grußkartenfirma. In den 1940er und 1950er Jahren war sie auch als Kinderbuchillustratorin für verschiedene Verlage erfolgreich, u. a. mit Illustrationen für die Serie »The little golden library« von Simon and Schuster zu Beatrice Alexander: The story of Jesus (1946), Walter M. Mason: We like to do things (1949), aber auch mit Bildern zu Robert Louis Stevenson: A child’s garden of verses (Chicago: Wilcox & Follett 1948), Morrell Gipson: The surprise doll (New York: Grosset & Dunlap 1949) und zu der amerikanischen Ausgabe von Johanna Spyris Heidi (Heidi. Child of the mountains. New York: Wonder Book 1950). Fini Littlejohn-Rudiger (geb. Josefine Vogelbaum, Ps. Fini bzw. Fini Rudiger; geb. 1914 Wien – 2004 Malibu / Kalifornien) hatte in Wien an der Kunstgewerbeschule Illustration, Mode und Bühnenbild studiert, war danach aber als Schauspielerin auf Kabarettbühnen aufgetreten.1347 1937 emigrierte sie über Kuba nach New York; seit 1939 arbeitete sie bei verschiedenen Filmgesellschaften in Kalifornien, vor allem für die Disney-Studios, für die sie Figuren und Kostüme entwarf (u. a. für Cinderella, Peter Pan und Pinocchio). In den 1930er und 1940er Jahren trat sie zudem mit Kinderbuchillustrationen hervor, u. a. zu Ann Mersereau: The Story of Li-Lo (New York: Harper & Brothers 1937); First nursery songs. Arranged by
1344 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 156 f.; Fuss Phillips, S. 70 f.; Kleine Verbündete. Von Erdös sind nicht nur zahlreiche völkerkundliche Veröffentlichungen und Fotobildbände erschienen, sondern auch eine Autobiographie: R. E.: Der Donnerträumer. Erinnerungen. Wien: Picus-Verlag 1999 (Österreichische Exilbibliothek). 1345 Zusammen mit den schon zuvor genannten Bettina Ehrlich, Erika Weihs und Lisl Weil und den im Zusammenhang mit Südamerika und Palästina noch zu nennenden Agi Lamm und Susi Hochstimm bzw. Ilse Daus ergibt sich der Eindruck, dass die Ausbildungsverhältnisse in Wien mit den diversen Akademien und der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt gerade für weibliche Studierende bzw. Absolventen besonders günstige Voraussetzungen für die Aufnahme einer (kinderbuch-)illustratorischen Tätigkeit vermittelt haben. 1346 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 183; Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 139 f.; Kleine Verbündete, S. 65, 82, 142. 1347 Fuss Philipps, S. 79 f.; Kleine Verbündete, S. 143 f.
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Rose Smith (Garden City, N.Y.: Garden City Publishing 1945) oder William Hall: The seven little elephants (New York: Crowell 1945). Zwischen 1938 und 1954 wirkte Helene Schneider-Kainer (Ps. Eleska; 1885 Wien – 1971 Cochabamba / Bolivien) im New Yorker Exil.1348 Sie war nach einem Kunststudium in Wien, München und Paris und mehrjährigen Reisen v. a. nach Asien 1933 zunächst nach Spanien emigriert, ehe sie in die USA flüchtete. In New York entwickelte sie u. a. Stoffbilderbücher für Kleinkinder, die sie in eigenem Verlag herausbrachte (I see. New York: Eleska 1941; I count [ca. 1942], Eleska book 2). Später war sie als Illustratorin auch für andere Verlage tätig (Three tall tales, mit Helen Sewell, New York: Macmillan 1947). In ihre Buchprojekte gingen Eindrücke verschiedener Kulturen ein. 1954 wanderte Schneider-Kainer nach Cochabamba (Bolivien) aus, wo sie eine Mission leitete und sich neben eigener künstlerischer Tätigkeit für das traditionelle einheimische Kunsthandwerk engagierte. In den USA zahlreich vertreten waren aber genauso die männlichen Vertreter dieses Berufsgenres, wie die Beispiele von William Sharp, Johannes Troyer und Kurt Werth verdeutlichen. Leon Schleifer, der sich im US-amerikanischen Exil William Sharp nannte (1900 Lemberg – 1961 New York City), hatte sich nach einem Kunststudium in Berlin als Gerichtszeichner betätigt und Entwürfe für Glasfenster und Wandgemälde angefertigt; neben Radierungen entstanden auch politische Karikaturen.1349 1934 emigrierte er nach New York und war dort erneut als Gerichtszeichner tätig, später erfolgreich als Zeichner für Zeitschriften und als Illustrator von Büchern für Kinder und Erwachsene. Er schuf Illustrationen u. a. zu Marion Lansing: Against all odds. Pioneers of South America (Garden City, N.Y.: Junior Literary Guild; Doubleday, Doran & Co. 1942); Johanna Spyris Heidi (New York: Grosset & Dunlap 1945); The tall book of fairy tales. Retold by Eleanor Graham Vance (New York, Evanston: Harper & Row 1947) sowie zu Büchern Robert Louis Stevensons (Kidnapped. New York: Random House 1949; Treasure Island. New York: Random House 1949). Johannes Troyer (1902 Sarnthein / Südtirol – 1969 Innsbruck) war 1938 wegen der jüdischen Herkunft seiner Frau von einem Aufenthalt in Liechtenstein nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt und hatte in Schaan als Plakatmaler, Graphiker und Illustrator gearbeitet; u. a. fertigte er zahlreiche Entwürfe für Buchumschläge von Emil Oprechts Europa Verlag an.1350 Erst 1949 war Troyer in die USA immigriert, wo er als Buchgestalter und Buchillustrator für mehr als 50 Verlagshäuser erfolgreich tätig war und sich auch auf dem Gebiet der Kinderbuchillustration einen Namen machte. Auf einer 1954 erworbenen Handpresse stellte er eigene Drucke her. 1962 kehrte Troyer nach Innsbruck zurück. Kurt Werth (1896 in Leipzig – 1983 New York) war nach seinem Studium an der Staatlichen Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig nach München gegangen, wo er eine Reihe von Pressen- und Luxusdrucken illustrierte, sich aber hauptsächlich als satirischer Zeichner betätigte.1351 Ende der 1920er Jahre zog er nach Berlin und war dort für das Berliner Tageblatt, den Querschnitt und den Simplicissimus tätig. Nach 1933 verlegte er sich auf die Gestaltung von Buchumschlägen und andere 1348 1349 1350 1351
Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 197 f.; Fuss Phillips, S. 68–70; Kleine Verbündete, S. 157 f. Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 199; Fuss Phillips, S. 206‒208. Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 204; Fuss Phillips, S. 248‒250. Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 211 f.; Fuss Phillips, S. 267 f.
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künstlerische Arbeiten, entschloss sich aber 1939 aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau zur Emigration in die USA, wo er zunächst als Illustrator beim New York Times Magazine Anstellung fand. In den Kriegsjahren zeichnete Werth Cartoons für Zeitschriften wie The New Republic oder Harper’s Bazaar, war aber auch an der Gestaltung von Büchern wie Give out! Songs of, by and for the men in service (New York: Arrowhead Press 1943) oder G.-I.-songs. Written, composed and / or collected by the men in the service (New York: Sheridan House 1944) beteiligt. Von Werth stammen die Umschlaggestaltungen zu Erich Weinert: Erziehung vor Stalingrad. Fronttagebuch eines Deutschen (New York: The German American 1943) und Jan Valtin: Castle in the sand (New York: Beechhurst Press 1947). Nach Kriegsende illustrierte Werth u. a. Lehrbücher für die Oxford University Press und andere Verlage. Auch als Kinder- und Jugendbuchillustrator war er außerordentlich produktiv und erfolgreich. Beispiele dafür sind Muriel Laskey: Cyril the squirrel (New York: Domesday Press 1946), Nina Schneider: Hercules the gentle giant (New York: Roy 1947), Phyllis MacGinley: The year without a Santa Claus (Philadelphia: Lippincott 1957), Rosalys Hall: The merry miller (New York: Oxford University Press 1952) oder Phyllis MacGinley: How Mrs. Santa Claus saved Christmas (Kingswood Surrey: Worldʼs Work 1964). Als Zwanzigjähriger war Hans Margules (5. Mai 1918 Berlin – 15. Februar 2016 München) in die Niederlande geflüchtet und hatte dort sein Studium in Den Haag und Rotterdam fortgesetzt. Während der deutschen Besatzung lebte er im Lager Westerbork. 1948 immigrierte Margules in die USA und war dort bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1987 in New York City und New Jersey als Gebrauchsgraphiker, Cartoonist und Kinderbuchillustrator (u. a. The Adventures of Peter in Mexico, New York: Golden Records 1965) tätig.
Südamerika Editorial Cosmopolita, Buenos Aires Unter den Exilverlagen in Lateinamerika war es besonders James Friedmanns Editorial Cosmopolita in Buenos Aires, die sich der Kinderliteratur annahm.1352 Der Schwerpunkt lag dabei auf illustrierten Märchenbüchern in deutscher Sprache, mit denen im Grunde alle Klassiker dieses Genres Berücksichtigung fanden: Andersens schönste Märchen erschienen 1943, Grimms schönste Märchen 1943, Hauffs schönste Märchen 1944 und Bechsteins schönste Märchen 1945. Sie alle wurden mit Zeichnungen ausgestattet von Werner Basch, der nach seiner Emigration nach Buenos Aires als Illustrator hauptsächlich für Cosmopolita tätig war und neben den Märchenbüchern auch noch für andere Titel Umschlagentwürfe und Illustrationen anfertigte.1353 Die unter dem Motto »Märchenbücher für die Kleinen – damit sie lachen und nicht weinen« mit jeweils 70 bis 80 Seiten Umfang herausgebrachte Serie fand offenbar guten Absatz; von Grimms
1352 Näheres zu dem Verlag in Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 1353 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 143; Kinder- und Jugendliteratur im Exil, S. 24.
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schönsten Märchen wurde innerhalb von fünf Wochen die Hälfte der ersten Auflage verkauft,1354 eine zweite Auflage kam 1945 heraus. Bei Cosmopolita erschien 1944 aber auch, gezielt angelegt als All-Age-Buch, von Hans Jahn Babs und die Sieben mit dem Untertitel »Eine lustige Geschichte fuer Kinder von 12 bis 80 Jahren«. Der mit einer Umschlagzeichnung von Paul Gelberg geschmückte Titel wurde darüber hinaus beworben mit dem Spruch »Ein Buch, das auch jeder Erwachsene mit Freude lesen wird«. Das Thema ist allerdings ein ernstes, insofern die Titelfigur, die Dänin Babs, gemeinsam mit Kindern anderer Nationalitäten in einem Flüchtlingsheim in Argentinien untergebracht, im Mittelpunkt einer Geschichte steht, in der Nationalsozialismus und Exil eine zentrale Rolle spielen. Dass Kinder- und Jugendliteratur des Exils auch noch in anderen argentinischen Verlagen erschienen ist, belegt das Beispiel von Friedrich R. Frankes Tropa und Mate. Südamerikanische Skizzen. Erlebnisse und Zeichnungen (Buenos Aires: Beutelspacher 1941).1355 In Argentinien waren zudem mehrere emigrierte Kinderbuchillustratorinnen für verschiedene einheimische Verlage tätig, wie die beiden 1938 aus Wien geflüchteten Agi Lamm und Susi Hochstimm. Agi Lamm (Magdalena Agnes Lamm, Ps. Agi; 1914 Budapest – 1996 Buenos Aires) hatte zuerst in Belgrad Bildhauerei, dann 1930 bis 1932 in der Modeklasse der Kunstgewerbeschule in Wien studiert und war danach als Bühnenbildnerin für literarische Kabaretts tätig gewesen.1356 1938 flüchtete sie nach Frankreich, 1939 weiter nach Bolivien, 1940 gelangte sie schließlich nach Argentinien. In Buenos Aires arbeitete sie als Illustratorin für mehrere Kinderbuchverlage; 1945 wurde ihr der Erste Preis des »Festivals Nacional Infantil« für die Illustration von Hans Christian Andersens Kleiner Meerjungfrau zugesprochen. Die von ihr illustrierten Bücher erschienen in Buenos Aires in der Anfangszeit vor allem beim Musikalienverlag Ricordi (Canciones de Navidad. Recopiladas, armonizadas y transcriptas para piano por Rita Kurzmann Leuchter, 1940; Canciones infantiles europeas. Para piano (con letra). Recopiladas por Rita Kurzmann Leuchter, 1941; Ljerko Spiller: El pequeño violinista. Rondas, canciones y danzas populares argentinas, 1943), danach in der Editorial Abril, wie etwa die Märchen der Brüder Grimm Hansel y Gretel (1948) und Los 7 cabritos (1950), beide in der »Colección Cuentos de Abril«. Agi Lamm schrieb selbst die Texte zu Una aventura entre las flores (1946) und Yo soy la familia Quiquiriqui (1949), beide in der »Colección Yo soy« der Editorial Abril erschienen. Seit Beginn der 1950er Jahre arbeitete sie mit Susi Hochstimm (Ps. Susi) zusammen, mit der sie u. a. 1950 in der »Colección Yo soy«
1354 Nach den Angaben in der in einer Auflage von 2.000 Exemplaren erschienenen Zeitschrift des Verlags Literatura, Ano II., Enero 1944, No. 1, S. 3. Aufgrund der großen Nachfrage entschloss sich Friedmann, die Serie weiter auszubauen. 1355 Das Buch, in welchem ein junger Mann als Ich-Erzähler über seine freiwillige Auswanderung nach Südamerika und seine dort erlebten Enttäuschungen berichtet, ist unter dem Titel Das waren noch Zeiten. Keine Dichtung, sondern Wahrheit. Südamerikanisches Skizzenbuch als erweiterte Neuauflage 1954 erschienen in Buenos Aires im Verlag der Zeitschrift Südamerika. 1356 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 181; Fuss Phillips: German Children’s and Youth Literature in Exile, S. 21–24; Kleine Verbündete, S. 67 f., 139 f.; ein Teilnachlass Lamms befindet sich in der Österreichischen Exilbibliothek, Literaturhaus Wien.
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Abb. 45: In ihrer Kundenzeitschrift Literatura warb die Editorial Cosmopolita für ihre Märchenbuchproduktion – und ihre »unzerreissbaren Bilderbuecher«.
der Editorial Abril die Titel Yo soy el indiecito und Yo soy el osito de juguete herausbrachte. Bekannt war Agi Lamm auch für ihre Stoffpuppen und Tapisserien, in denen sie auf das Schicksal der Indios im Norden Argentiniens Bezug nahm. Susi Hochstimm (geb. 1920 Wien) hatte in Wien an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt studiert; ihr Emigrationsweg führte sie 1939 nach Brasilien, 1940 nach
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Bolivien und 1941 nach Argentinien.1357 Nach Tätigkeiten im Bereich Produktdesign übernahm sie 1943 die typographische Betreuung der Produktion des Verlags Editorial Abril, trat aber zunehmend mit eigenen Kinderbuchillustrationen und als Kinderbuchautorin hervor, auch in Kooperation mit Agi Lamm. Von ihr stammen u. a. die Illustrationen zu Märchenbüchern (Grimm: El rey cuervo, 1947; Andersen: Pulgarcita, 1949; Perrault: El gato con botas, 1950), daneben zu anderen Büchern wie Oscar Wildes El gigante egoista (1946), César A. Lón: La aventura del atomo (1947) oder Inés A.: Rondo de los chiquitos (1952). Alle genannten Bücher sind in der Editorial Abril erschienen.
Palästina Lea Goldbergs Kinderbuchserie Ankorim Für das Kinderbuch in Palästina hat Lea Goldberg (1911 Königsberg – 1970 Jerusalem) besondere Leistungen vollbracht. Goldberg hatte mit einer Arbeit über semitische Sprachen an der Universität Bonn promoviert, konnte aber aufgrund »rassischer« Verfolgung nicht an der Universität bleiben. 1935 wanderte sie nach Palästina aus und wurde später Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Hebrew University von Jerusalem. Zunächst aber war sie seit 1936 als Literaturredakteurin bei der Zeitschrift Davar li-Yeladim tätig und entwickelte damals ein besonderes Interesse an Kinderliteratur; seit 1937 erschienen von ihr zahlreiche, in Sprache und Konzept innovative Kinderbücher. 1943 entschloss sie sich, als Lektorin in den Verlag Sifriat Paolim einzutreten und begründete dort unter dem Namen Ankorim (Spatz) eine Kinderbuchserie, in welcher sie mehr als dreißig Kinderbuchklassiker und nicht weniger als 65 eigene Kinderbücher veröffentlichte. Die zentrale Zielgruppe bildeten die Kinder, die im Kibbuz aufwuchsen. Einige der Bücher, wie Dirah Lehaskir von 1959, wurden vielfach neu aufgelegt. Goldberg war zudem als Übersetzerin tätig und übertrug Kinderbücher aus dem Russischen oder Märchen von Hans Christian Andersen und den Brüdern Grimm ins Hebräische. Auch als Wissenschaftlerin galt ihr Augenmerk der Kinderliteratur; 1978 erschien ihre Untersuchung über den Kinderbuchautor und seine Leser. Goldberg ist heute in erster Linie als herausragende hebräischsprachige Dichterin bekannt.1358 Hauptsächlich Schul- und Lesebücher illustrierte Ilse Daus (geb. Kantor, 1911 Wien ‒ 2000 Israel).1359 Ausgebildet als Zeichnerin und Graphikerin, hatte sich die Schwester des Schriftstellers Friedrich Torberg vor 1939 hauptsächlich in Prag aufgehalten; nach ihrer Flucht nach Palästina war sie zwei Jahrzehnte lang an dem in Kirjat Tirwon in der Nähe von Haifa gelegenen Oranim-Teacher’s Seminar als Kunsterzieherin tätig. Einen überragenden Erfolg erzielte sie mit ihren Illustrationen zu Fania Bergsteins Bo elai, parpar neḥmad, erschienen erstmals 1945 in Tel Aviv bei Hotsaʼat ha-Ḳibuts ha-
1357 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 172; Veronika Pfolz: Gillar / Guillard, Knirr et al. Österreicher im argentinischen Verlagswesen. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich 2016–1, S. 39–49. 1358 Siehe Mashiach: Childrenʼs Literature in Hebrew [online]; Weiss: Lea Goldberg. 1359 Kleine Verbündete, S. 69, 74; Douer: Neuland. Israelische Künstler österreichischer Herkunft, S. 110 f.; Buchgestaltung im Exil, S. 152.
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meʼuḥad. Die für Kleinkinder gedachten Bildergeschichten über Tiere und Dinge in einem Landwirtschafts-Kibbuz erzielten in einer Vielzahl von Auflagen eine Gesamtverkaufszahl von über einer halben Million Exemplaren. Angesichts der überwältigenden Vielfalt und Individualität der hier in Autoren-, Illustratoren- und Verlegerfunktion vorgestellten Vertreter der Kinder- und Jugendliteratur im Exil erscheint es nicht möglich, die Wirkungsaspekte dieser Gruppe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ohne Zweifel hat es einen massiven Export von in Deutschland und Österreich entwickelten KJL-Konzepten gegeben, sowohl was die textlichen und bildlichen wie auch pädagogischen Traditionen und Stile betrifft – man denke nur an die zahlreichen Bücher, in denen deutsche bzw. europäische Märchen und Sagen in alle Welt verbreitet wurden. Dieser Export mag den Zielländern der Emigration manchen Impuls gegeben haben. Ebenso aber ist es im Kontakt mit den hochentwickelten KJL-Kulturen in Großbritannien und den USA zu folgenreichen interkulturellen Amalgamierungen gekommen, die im Gesamtergebnis, quantitativ wie qualitativ, zu einem globalen Aufschwung dieses so wichtigen Literaturfeldes beigetragen haben.
5.3
Zeitschriften und Zeitungen des Exils
Mit Zeitungen und Zeitschriften sind im deutschsprachigen Exil nach 1933, von Prag bis Mexiko, von Paris bis Shanghai, von Haifa bis Montevideo Räume medialer Kommunikation entstanden, die über ihre Informationsfunktion hinaus der räumlich zersplitterten Emigration eine interne Verständigung über die politische Situation und ihre eigene Lage ermöglichten. Somit kann ihnen eine vielfältig gemeinschaftsbildende Wirkung zugesprochen werden, vor allem auf lokal / regionaler Ebene, zugleich aber übten sie eine formierende Wirkung auch in dem Sinne aus, dass sie als Sprachrohre bestimmter Gruppierungen zur politisch-ideologischen Differenzierung und Abgrenzung und so auch zur Dissoziierung der Emigration beitrugen. Jedenfalls aber haben diese mehr als 400 Periodika – bei sehr unterschiedlicher Reichweite und Lebensdauer – in ihrer Gesamtheit eine bemerkenswerte Leistung bei der Herstellung jener Gegenöffentlichkeit erbracht, in deren Rahmen die Welt über die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus aufgeklärt, aber auch das geistige und literarisch-kulturelle Erbe des »anderen Deutschland« weitergepflegt werden sollte. Zeitungen und Zeitschriften haben jedoch nicht nur den politischen Diskursen ein das gesamte weltanschauliche Spektrum abdeckendes Forum geboten, sie haben – was im gegenständlichen Zusammenhang besonders interessiert – elementare Bedeutung auch für die Entstehung eines eigenständigen Literaturbetriebs und Buchmarktes im Exil gewonnen. Das Pressewesen des deutschsprachigen Exils ist gut erschlossen; sowohl im Osten wie im Westen Deutschlands ist dazu schon früh Grundlagenforschung betrieben worden. Horst Halfmann hat für die Deutsche Bücherei Leipzig ein Bestandsverzeichnis veröffentlicht, das in der 2. Auflage 1975 bereits 369 Exil-Zeitschriften nachwies;1360 das von Lieselotte Maas für die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main erarbeitete
1360 Halfmann: Zeitschriften und Zeitungen des Exils 1933‒1945.
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und zwischen 1976 und 1990 in vier Bänden vorgelegte Handbuch der deutschen Exilpresse 1933‒1945 informierte über rund 430 Exilperiodika.1361 Einige Jahre später ist dann mit Angela Huß-Michels Realienbändchen Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945 eine kompakte Zusammenschau mit Einzelporträts von 59 der wichtigsten Blätter erschienen. Exilzeitschriften wurden auch erfasst in dem von Thomas Dietzel und Hans-Otto Hügel zusammengestellten Repertorium Deutsche literarische Zeitschriften 1880‒1945.1362 In einzelbibliographischer Hinsicht sind insbesondere die in der DDR erstellten analytischen Bibliographien zu einzelnen wichtigen Zeitschriften hervorzuheben, die seit 1973 in insgesamt zehn Bänden herausgekommen sind.1363 Solche analytischen Bibliographien sind aber auch in der Bundesrepublik entstanden, etwa zur Presse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Exil 1933‒1939 oder zu der »antifaschistischen Wochenschrift« Der Gegen-Angriff.1364 Auch wurden von zahlreichen Exilzeitschriften Reprints veranstaltet, teils in der DDR, teils im Rahmen des großen Kraus-Reprint-Programms.1365 Inzwischen sind, nach Überwindung urheberrechtlicher Schwierigkeiten, im Rahmen des vom Deutschen Exilarchiv 1933‒1945 der Deutschen Nationalbibliothek realisierten Projekts »Exilpresse digital« 30 Exilzeitschriften und -zeitungen online zugänglich.1366 Auch liegt zu dem Thema eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen vor, etwa mit dem 1979 erschienenen Sammelband Presse im Exil,1367 der Beiträge zur Exilpublizistik in verschiedenen Ländern, aber auch zu einzelnen Blättern und Themen enthält,1368 vor allem aber mit Hans-Albert Walters Band Exilpresse,1369 der 1978 im Rahmen seiner Gesamtdarstellung Deutsche Exilliteratur 1933‒1950 erschienen ist und zwar nur zwölf der wichtigsten Organe berücksichtigt, diese aber mit beachtlicher Tiefenschärfe be-
1361 Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933‒1945. 1362 Dietzel / Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880‒1945. 1363 Analytische Bibliographien deutschsprachiger literarischer Zeitschriften. Hrsg. v. d. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik. 10 Bde., Berlin 1973 ff., u. a. zu Das Wort (Moskau), Die Sammlung (Amsterdam), Maß und Wert (Zürich), Freies Deutschland (Mexiko), Orient (Haifa), Neue deutsche Blätter (Prag), Internationale Literatur (Moskau). Die einzelnen Titel werden jeweils im Darstellungszusammenhang mit genauem Titel zitiert. 1364 Die Presse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Exil 1933‒1939. Zum Gegen‒Angriff siehe weiter unten im entsprechenden Abschnitt. 1365 Bibliographische Angaben werden jeweils zu den einzelnen Zeitschriften gegeben. 1366 Exilpresse digital [online]. Das Projekt umfasst neben zentral wichtigen Organen wie Aufbau (New York) oder Internationale Literatur (Moskau) auch weniger bekannte Periodika aus Südamerika und namentlich aus Shanghai. 1367 Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933‒1945. 1368 So etwa zur Beobachtung der Exilpresse durch die NS‒Behörden: Greiser: Das Leitheft »Emigrantenpresse und Schrifttum«. In: Presse im Exil, S. 435‒442. (Ein weiterer Artikel in dem Band Presse im Exil betrifft die Publikation der Ausbürgerungslisten im Dritten Reich; die Länderartikel beziehen sich auf die Schweiz, auf Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, Großbritannien, Skandinavien und die USA.) 1369 Vgl. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (dieser 1978 erschienenen, umfassenden Darstellung war 1974 bei Luchterhand vorausgegangen: Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 7: Exilpresse 1).
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schreibt und analysiert. Angesichts der günstigen Forschungslage kann sich hier der Überblick über das Pressewesen des Exils auf das Notwendigste beschränken; fokussiert werden soll dabei auf den Fall des Pariser Tageblatts bzw. der Pariser Tageszeitung, um daran in exemplarischer Weise die aus buchhandelsgeschichtlicher Sicht besonders relevanten Funktionen der Exilpresse zu demonstrieren. Im Anschluss daran sollen die wichtigsten Zeitschriften vorgestellt werden, in der Hauptsache auch wieder als Orte, an denen Essays, Erzählungen, Gedichte und andere kürzere literarische Texte erscheinen konnten, ebenso (Vor-)Abdrucke aus Büchern und Broschüren. Vorgestellt werden sollen sie desgleichen als Orte der Literaturkritik und nicht zuletzt als Werbeträger, von denen die Exilverlage und Exilbuchhandlungen Gebrauch machten, um ihre Neuerscheinungen bzw. ihr Bücherangebot anzuzeigen. Die Bedeutung der Exilpresse für die Herausbildung eines literarischen Marktes liegt auf der Hand: Da es in der Mehrzahl der größeren Zeitschriften und Zeitungen einen Feuilletonteil gab, der neben Journalisten auch den freien Literaten offen stand, verschafften sie diesen die Möglichkeit zur Unterbringung kleinerer Arbeiten und damit zusätzliche, stetigere Einkommensmöglichkeiten. Auch wenn die gezahlten Honorare meist niedrig waren: viele Schriftsteller konnten nur auf dieser Grundlage umfangreichere Werkpläne (hauptsächlich Romane) über Jahre hinweg verfolgen und realisieren. Schon unter materiellem Gesichtspunkt sind die Presseerzeugnisse daher als ein unverzichtbarer Nährboden für die Literaturproduktion zu betrachten. Verschiedentlich – wie von der in Moskau erscheinenden Zeitschrift Das Wort – wurden Honorarzahlungen auch dazu genutzt, um in der nichtkommunistischen Schriftstellerschaft politische Terraingewinne zu erzielen. Relativ lukrativ, wenngleich nicht vergleichbar mit der Zeit vor 1933, waren die Romanvorabdrucke oder -teilabdrucke; hier wurden im Literaturbetrieb des Exils Momente eines Medienverbundes und einer »Verwertungskette« sichtbar, wie man sie, besonders virtuos bei Ullstein in Berlin, bereits in den 1920er Jahren und z. T. schon früher entwickelt und praktiziert hatte. Im Rahmen der Exilpresse konnte sich auch ein reichhaltiges Rezensionswesen etablieren – ebenfalls ein wichtiges Element in der Konsolidierung der literarischen Binnenkommunikation. In mancher Hinsicht gestaltete sich dieses Zusammenwirken von Buch- und Pressesektor sogar noch enger als dies in Deutschland vor 1933 der Fall gewesen war. Denn aufgrund der räumlichen Dislokation und des Wegfalls von Informationsmitteln wie dem Börsenblatt waren die Buchverlage mehr denn je darauf angewiesen, dass ihre Neuerscheinungen angezeigt, besprochen oder wenigstens erwähnt wurden. Vielfach waren dies die einzigen Möglichkeiten, einem Buch, möglichst über die Grenzen eines Landes hinweg, Aufmerksamkeit zu verschaffen. Darüber hinaus haben Zeitschriften ganz gezielt die Aufgabe übernommen, in eigenen Rubriken wie »Literarische Ausbeute 1938« (so im Neuen Tage-Buch, ähnlich auch in Das Wort) über das aktuelle Bücherangebot zu informieren.
Die Presselandschaft des Exils Die Neuformierung eines geistigen Lebens im Ausland gelang erstaunlich rasch: Mit politisch-kulturellen Zeitschriften wie Die Neue Weltbühne (seit April 1933), Das Neue Tage-Buch (seit Juli 1933) setzte sich die kritisch-publizistische Tradition der Weimarer Republik im Exil ganz direkt und fast bruchlos fort. Schon in der Beibehaltung ihres Namens unterstrichen diese Blätter demonstrativ ihre Absicht, nicht klein beizugeben
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und dem Angriff auf das freie Wort nun vom Ausland aus entgegenzutreten. Kontinuitäten waren vielfach auch personell gegeben, indem herausragende Publizisten der Weimarer Zeit wie Leopold Schwarzschild oder (in der Tagespresse) Georg Bernhard zu Wortführern der Exilpublizistik wurden.1370 Georg Bernhard war es auch, der die Chefredaktion der seit Dezember 1933 erscheinenden größten Tageszeitung des Exils übernahm, des Pariser Tageblatts. Bereits im September 1933 war die erste Nummer der von Klaus Mann in Amsterdam gegründeten Sammlung herausgekommen, fast zeitgleich in Prag die Neuen deutschen Blätter; zahlreiche weitere Zeitschriften folgten, wobei es mit die prominentesten Vertreter der Exilliteratur waren, bis hin zu Thomas Mann, die sich als Herausgeber oder Redakteure hinter diese Gründungen stellten. Im Blick auf die Gesamtentwicklung der Presselandschaft ließe sich sogar behaupten: Noch in größerer Menge und Vielfalt als in der Zeit vor 1933 standen im Exil Zeitschriften für den kritischpolitischen und literarisch-kulturellen Diskurs zur Verfügung: Hinsichtlich einer systematischen Gliederung der Szene gibt es unterschiedlichste Ansätze; das einfachste Konzept verfolgt Angela Michel-Huß mit fünf (ungleich großen) Rubriken: »Politisch-Kulturelle Zeitschriften«, »Kulturell-literarische Zeitschriften«, »Die Politische Emigration und ihre Zeitschriften«, »Kirchliche Opposition« und »Wissenschaft«.1371 Aufschlussreich auch die Binnengliederung der Kapitel 1 und 3: Die »Politisch-Kulturellen Zeitschriften« sind differenziert nach »Unabhängig sich definierende Organe«, »Zeitschriften von Gruppen / Organisationen«, »Zeitschriften der jüdischen Emigration« und »Tageszeitungen«; die »Zeitschriften der Politischen Emigration« nach Sozialdemokraten, Sozialistischen Gruppen, Kommunisten, Anarcho-Syndikalisten und Gewerkschaften. Obwohl dieser letztere Bereich, gerade im Zeichen des zeittypischen »Primats der Politik«, gut ausgebaut war, soll er aufgrund seiner beschränkten Relevanz für Verlag und Buchhandel im Weiteren unberücksichtigt bleiben, ebenso wie die Presse der »Kirchlichen Opposition«. Im Folgenden wird daher eine flexibel gehandhabte Auswahl aus diesen Rubrizierungen Michel-Hußʼ Anwendung finden. Ohnehin sind im Rahmen einer buchhandelsgeschichtlichen Darstellung spezifischere Gesichtspunkte zu beachten als in der allgemeinen Exilforschung oder in der Publizistikgeschichte. Beispielsweise ist es von besonderem Interesse, wenn Zeitschriften so eng an Buchverlage angeschlossen waren, dass sie als deren Hauszeitschriften gelten konnten, wie das im Exil mit der Sammlung des Querido Verlags, teilweise auch bei den Neuen deutschen Blättern und dem Malik / Faust Verlag, ganz entschieden bei Maß und Wert von Oprecht und in Ansätzen auch beim Verlag Sebastian Brant mit Die Zukunft der Fall war; im überseeischen Exil gab es in Mexiko eine Nähe der Zeitschrift Freies Deutschland / Alemania Libre zum Verlag El Libro Libre. Hauszeitschriften oder mit einem Verlag
1370 Siehe dazu auch Deutsche Publizistik im Exil 1933‒1945. Personen – Positionen – Perspektiven. 1371 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945. Teilweise ähnlich die von Hans-Albert Walter praktizierte Kategorienbildung; er unterteilt in »politischkulturelle Exilzeitschriften« (Die Neue Weltbühne, Das Neue Tagebuch, Die Zukunft, Freies Deutschland / Neues Deutschland, Deutsche Blätter), »kulturell-literarische Exilzeitschriften« (Internationale Literatur / Deutsche Blätter, Die Sammlung, Neue Deutsche Blätter, Das Wort, Maß und Wert) und »politisch-kulturelle Zeitschriften der jüdischen Massenemigration« (Aufbau, Orient), vgl. Walter: Exilpresse (1978).
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Abb. 46: Auch die Presselandschaft des Exils wurde vom Sicherheitshauptamt in Berlin aufmerksam beobachtet – hier in einer Momentaufnahme aus dem Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum vom Beginn des Jahres 1937.
assoziierte Blätter gaben die Möglichkeit, Autoren an den Buchverlag zu binden bzw. Autoren zu gewinnen, für Verlagswerke mit Teilveröffentlichungen zu werben oder die Zeitschrift als Informations- und Werbeplattform zu nutzen. Aber auch wo eine solche Nähe nicht gegeben war, konnte die Exilpresse eine wichtige Funktion als Resonanzraum für die Literatur des Exils ausüben, wobei hier unter Literatur auch die politische Sachbuch- und Diskussionsliteratur zu verstehen ist. Wenn bisher fast durchgehend von Zeitschriften die Rede war – die in der Tat für Breite und die enorme Vielfalt der Presselandschaft verantwortlich waren – so muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass das deutschsprachige Exil 1933‒1945 auch eine Tagespresse kannte, allen voran das bereits erwähnte Pariser Tageblatt, ab 1935 als Pariser Tageszeitung fortgeführt, nachdem es unter undurchsichtigen Umständen von einer Redakteursgruppe im Handstreich übernommen wurde; Näheres dazu weiter unten. Es gab keine zweite auch nur annähernd so bedeutende Tageszeitung des Exils, aber mindestens erwähnt werden soll, dass in Saarbrücken 1933‒1935 mit der von der Saar-SPD herausgegebenen Zeitung Deutsche Freiheit ein rein politisches Blatt herauskam und dass in London 1941‒1945 Die Zeitung erschien, allerdings nur bis zur Nr. 251 täglich, danach (1942‒1945) wöchentlich; da sie dem Foreign Office unterstand, handelte es sich hier nur eingeschränkt um eine Zeitung der Emigration.1372 Verschie1372 Die Zeitung erschien im Auftrag der Europaabteilung des Informationsministeriums, unter indirekter politischer Kontrolle des Foreign Office. Hauptzweck war – nach einer Idee von Raimund Pretzel (später bekannt unter seinem Pseudonym Sebastian Haffner) – die
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dentlich verwandelten sich bereits früher bestehende Tageszeitungen in Sprachrohre der Emigration, so das bereits 1889 gegründete Argentinische Tageblatt,1373 das sich klar gegen Hitlerdeutschland stellte und exilierten Schriftstellern (Balder Olden, August Siemsen, Paul Zech u. a.) mit literarischen Beiträgen und Gedichten oder auch Auszügen aus größeren Werken1374 Möglichkeiten zur Mitarbeit bot, im Feuilleton, in der Sonntagsbeilage oder in der wöchentlichen Zusammenfassung, dem Argentinischen Wochenblatt.1375 Ähnlich die Deutsche Zentralzeitung (1925–1939) in Moskau, die sich – im Verlag Meshdunarodnaja Kniga erscheinend – den emigrierten Schriftstellern öffnete, hauptsächlich mit dem von Hugo Huppert redigierten Kulturteil.1376 Beiträge lieferten vor allem Mitglieder der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbandes wie Johannes R. Becher, Willi Bredel, Andor Gábor, Georg Lukács, Adam Scharrer oder Erich Weinert. Im Blattinhalt spiegeln sich die veränderlichen Positionen in (Volksfront-)Politik und Literaturtheorie, ebenso Trotzkistenverfolgung und sonstige für den Stalinismus typische interne Kämpfe, bis im Februar 1938 der gesamte Redaktionsstab verhaftet, teils auch liquidiert wurde.1377 Hervorhebung verdienen ein Überblick Willi Bredels über Vier Jahre deutscher Literatur in der Emigration (Nr. 1 vom 1. Januar 1937) oder Romanauszüge aus Lion Feuchtwangers Der falsche Nero und Geschwister Oppermann.
Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung Beim Pariser Tageblatt, das vom 12. Dezember 1933 bis 14. Juni 1936 (PTB) und in der Fortsetzung als Pariser Tageszeitung vom 12. Juni 1936 bis 18. Februar 1940 (PTZ) erschienen ist, handelt es sich um einen der besterforschten Bereiche des deutschsprachigen Exils überhaupt.1378 Dies verdankt sich dem glücklichen Umstand, dass sich das
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Rekrutierung von Kriegsfreiwilligen unter den Emigranten. Chefredakteur war bis Januar 1944 Johannes Lothar, vor 1933 geschäftsführender Direktor der Frankfurter Zeitung. Die Zeitung selbst verstand sich allerdings als unabhängig. Mehr als hundert Autoren kamen in ihr zu Wort, im relativ umfangreichen Feuilletonteil waren das u. a. Bruno Frank, Martin Beheim-Schwarzbach, Erich Fried, Peter de Mendelssohn, Hilde Spiel oder Ludwig Winder. Walter Trier und Richard Ziegler steuerten Zeichnungen und Karikaturen bei. Vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 87‒90. Siehe Huß-Michel, S. 90‒92; sowie: Groth: Das Argentinische Tageblatt. Beispielsweise aus Heinz Liepmanns Roman Vaterland, Ferdinand Bruckners Theaterstück Die Rassen, oder Emil Ludwigs Roosevelt-Biographie. Gedichte stammten u. a. von Schalom Ben-Chorin, Max Herrmann-Neiße oder Alfred Wolfenstein. Vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 92. In der Druckerei des Argentinischen Tageblatts wurde auch das Mitteilungsblatt der Bewegung »Das andere Deutschland« gedruckt. Vgl. Huß-Michel, S. 93‒97; mit weiteren Literaturangaben. Nach Huß-Michel, S. 95. Zu PTB und PTZ ist eine Fülle von Forschungsbeiträgen erschienen; genannt seien hier nur die wichtigsten Einzelaufsätze und Sammelbände in chronologischer Reihenfolge: Maas: Kurfürstendamm auf den Champs-Elysées? Der Verlust von Realität und Moral beim Versuch einer Tageszeitung im Exil; Peterson: The Berlin Liberal Press in Exile; Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung. Konzepte und Praxis der Tageszeitung der deutschen Emigranten in Frankreich; Roussel / Winckler: Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung: Gescheitertes
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Redaktionsarchiv der Zeitung erhalten hat und dass es insbesondere mit der von Michaela Enderle-Ristori erstellten Studie Markt und intellektuelles Kräftefeld. Literaturkritik im Feuilleton von Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung (1933‒1940) eine Arbeit gibt, die das zur Verfügung stehende Quellenmaterial unter explizit literaturökonomischen Gesichtspunkten ausgewertet hat.1379 Ihr Hauptinteresse gilt dem Beitrag der Exilpresse für das Funktionieren des literarischen Marktes im Exil, ein Ansatz, der es ermöglicht, ihre durchwegs faktengestützte Untersuchung als aussagekräftige »Modellanalyse« aufzufassen. Zunächst aber zu den Entstehungsumständen der Zeitung: Gründer und Verleger des PTB war Wladimir Poliakov (1864‒1938), der im zaristischen Russland erfolgreicher Geschäftsmann und Zeitungsverleger gewesen war, 1920 vor den Bolschewiki nach Paris geflüchtet war und dort mehrere Presse-und Inseraten-Unternehmungen aufgebaut hatte. Als er im Blick auf die Fluchtwelle aus Deutschland eine deutschsprachige Zeitung gründen wollte, war daher bereits ein Apparat vorhanden, auf den sich das im Dezember 1933 erstmals erscheinende Pariser Tageblatt stützen konnte. Poliakov stellte zum Aufbau des Blattes ein Startkapital von 250.000 Francs zur Verfügung, davon 100.000 in bar, 150.000 als Kredit, wobei er das Kapital bald um ein Fünftel reduzierte.1380 Es handelte sich somit um ein in Privathand befindliches, parteiunabhängiges Blatt. Als Chefredakteur wurde Georg Bernhard verpflichtet; aus seiner Person ergab sich eine klare Kontinuität zur liberalen Presse der Weimarer Republik. Bernhard war von 1920 bis 1930 Chefredakteur der Vossischen Zeitung gewesen, die zum Ullstein-Konzern gehörte.1381 Dabei handelte es sich nicht nur um die älteste Berliner Zeitung, sondern auch um ein Aushängeschild liberaler Publizistik in Deutschland, das in dieser Hinsicht im Wettbewerb mit dem von Theodor Wolff geleiteten Berliner Tageblatt stand. Bernhard hatte in Berlin seinen Posten als Chefredakteur nach einem Konflikt mit der Eigentümerfamilie verlassen müssen; in letzter Instanz ging es dabei um die Abwehr von Eingriffen in die Arbeit der Redaktion. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand nach Paris geflüchtet, wurde er dort, nach einem kurzen Intermezzo bei der deutschen Emigrantenzeitung die aktion, von Poliakov als Chefredakteur engagiert. An der Zeitung arbeiteten noch andere, z. T. prominente Berliner Journalisten als Redakteure mit, wie etwa Kurt Caro,1382 und auch wenn der politische Kampf gegen den
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Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?; Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933‒1940 (darin zahlreiche aufschlussreiche Beiträge, wie Roussel: Das deutsche Exil in den dreißiger Jahren und die Frage des Zugangs zu den Medien, S. 15‒35. Siehe auch die folgende Fußnote). Zur bibliographischen Erschließung siehe Raßler: Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung 1933‒1940. Eine Auswahlbibliographie. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 28. – Teilhaber und Mitfinancier war Isaak Grodzenski, der aus Polen stammende Herausgeber der Pariser jiddischen Zeitung Pariser Haynt (Paris Heute). Georg Bernhard war außerdem 1928 bis 1930 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Kurt Caro, vor 1933 Chefredakteur der Berliner Volks-Zeitung, war im PTB stellvertretender Chefredakteur.
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Nationalsozialismus in einem allgemeinen, freiheitlichen Sinn die politische Blattlinie bestimmte,1383 so hatte das PTB doch alle Merkmale eines großstädtischen Boulevardblattes an sich. Ohnehin galt in Frankreich ein (gut überwachtes) behördliches Verbot politischer Betätigung für Emigranten, besonders die Einmischung in französische Innen- und Außenpolitik betreffend; Zensur wurde aber bis Kriegsbeginn nicht geübt. Die Zeitung erschien täglich, ab der ersten Ausgabe am 12. Dezember 1933 im Umfang von vier Seiten,1384 seit Januar 1934 sonntags mit einer zweiseitigen Beilage. Auf der ersten Seite brachte sie politische Kommentare, Leitartikel, Berichte aus Deutschland, auf der zweiten Seite Pressestimmen des Auslands, auf der dritten Seite Aktuelles aus Paris und auf der vierten Seite einen Fortsetzungsroman und einen Veranstaltungskalender »Heute in Paris«. Je nach Wochentag enthielt das Blatt unterschiedliche Rubriken: am Freitag einen Filmüberblick, am Samstag eine Sportvorschau, am Montag Musikkritiken und den »Blick ins Reich«. Die erwähnte Sonntagsbeilage wurde gefüllt mit einer von Alfred Kerr (seit 1935 von London aus) verfassten Kolumne »Theater und Film« sowie Beiträgen zu Kunst, Reise und Literatur. Weitere feste Mitarbeiter waren der Kunstkritiker Paul Westheim und Kurt Grossmann als Korrespondent in Prag. Zu den ständigen ausländischen Mitarbeitern zählten Upton Sinclair und Henry Wickham Steed. Die Zahl freier und gelegentlicher Mitarbeiter war sehr groß und wechselte auch, nicht zuletzt in Abhängigkeit von den Ereignissen um das PTB; die Liste umfasste einen Robert Breuer, Manfred Georg, Berthold Jacob, Hellmut von Gerlach ebenso wie Oskar Maria Graf, Gertrud Isolani, Rudolf Leonhard, Heinrich Mann, Carl Misch, Rudolf Olden, Alexander Roda Roda, Joseph Roth, Joseph Wechsberg, Alfred Wolfenstein oder den ehemaligen Nationalsozialisten Otto Strasser, mithin nicht nur Liberale, sondern Konservative ebenso wie Sozialdemokraten und KP-Sympathisanten. Einige Jahre lang schrieb der aus Deutschland stammende, seit 1919 in Frankreich lebende und dort u. a. als Abgeordneter der Nationalversammlung tätige Salomon Grumbach1385 unter wechselnden Pseudonymen über Deutschland und die deutsch-französischen Beziehungen sowie, in dieser Hinsicht eine Ausnahme, über die politischen Verhältnisse in Frankreich. Im PTB kamen aber auch Henri Barbusse oder der tschechoslowakische Außenminister Edvard Beneš zu Wort. Das PTB blieb weder von Finanzkrisen verschont noch von internen Konflikten. Beteiligt daran waren sowohl Chefredakteur Bernhard, der die Auffassung eines »geistigen Mitbesitzrechts der Redakteure« vertrat, als auch der Verleger Poliakov, der zwar »als Israelit zweifellos ein aufrichtiger Hitlergegner, doch kein militanter Antifaschist war«.1386 Seit seiner Flucht aus Sowjetrussland war er gegenüber kommunistischen Bestrebungen ablehnend eingestellt, aber genau dieser Richtung entstammte 1935/1936 die
1383 In seinem Leitartikel zur allerersten Nummer formulierte Bernhard das Programm der Zeitung, das Lutz Winckler in drei Punkte zusammenfasst: »1. Repräsentation des politischen und kulturellen Exils, des anderen Deutschland, 2. Praktische Hilfestellung und Ratgeber für die Exilanten, 3. Transfer der Kultur des Gastlands Frankreich.« (Lutz Winkler: Zum Paris-Mythos im Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung, S. 261). 1384 Später auch als sechsseitige Ausgabe, gelegentlich nur mit zwei Seiten. 1385 Siehe Badia: Salomon Grumbach – ein anonymer Interpret französisch‒deutscher Politik. 1386 Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 29.
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Volksfrontpolitik, für die sich die PTB-Redakteure engagieren wollten; Bernhard selbst war Mitglied ihres inneren organisatorischen Kerns, des »Lutetia-Kreises«. In diese Spannungssituation zwischen Blatt und Verleger hinein wurde am 11. Juni 1936 im PTB eine Meldung oder vielmehr ein Gerücht veröffentlicht, »Verleger Poliakov habe das Blatt an die Nazis verkaufen wollen. Politische Tageslosungen übernehmend, rief die Redaktion zur ›Einheitsfront gegen den Verrat‹ auf und lancierte anderntags unter dem Namen Pariser Tageszeitung ein neues Organ, das nach zwei Notausgaben des PTB vom 12. und 13. Juni jenes ablöste. Die neue PTZ erntete Zuspruch und Solidaritätsadressen für die geglückte Abwehr eines ›nationalsozialistischen Anschlags‹, Poliakov die Missbilligung der gesamten Exilöffentlichkeit«.1387 Die Herkunft des auf reiner Erfindung beruhenden Gerüchtes ist bis heute nicht abschließend geklärt.1388 Deutlich ist aber, dass es sich um einen Putsch der Redaktion gehandelt hat, die den Machtkampf gegen den politisch allzu moderat erscheinenden Verleger auf diese Weise für sich entscheiden wollte und auch für sich entscheiden konnte; Poliakov musste der Gewalt weichen (die Redaktionsräume waren verwüstet worden) und das Blatt aufgeben.1389 Im Hintergrund wirksam waren allerdings auch politische Begehrlichkeiten der kommunistischen Emigration, die auf der Suche nach einem »Zentralorgan der deutschen Volksfront-Bewegung« war; bereits im Frühjahr hatte Willi Münzenberg ein Angebot zum Kauf des PTB vorgelegt.1390 Eine zentrale Rolle in diesen Wirrungen spielte, zunächst im Hintergrund, dann ganz offen Fritz Wolff (1897 Graudenz / Westpr. – 1946 London), ursprünglich Graphiker, im Exil Herausgeber des KP-nahen Informationsdienstes Inpress und Geschäftsführer des Pariser Hilfskomitees Comité Allemand, mit engen Verbindungen zu Geldgebern wie dem emigrierten Bankier Hugo Simon und einer gewissen Nähe jetzt zur SAP. Wolff trat als Vertreter eines weiteren kaufwilligen Konsortiums auf, hatte dem Blatt zuvor auch schon verdeckt Geldsummen zukommen lassen und ging aus der Umbruchsituation nun plötzlich als juristischer Eigentümer des nunmehr als Pariser Tageszeitung (PTZ) an neuer Adresse firmierenden Blattes hervor. Wessen Interessen er tatsächlich vertrat, gehört ebenfalls zu den bislang nicht befriedigend geklärten Fragen.1391 Fest steht, dass die Affäre absolut desaströse Wirkung auf die gesamte deutschsprachige Emigration in Frankreich und darüber hinaus hatte, indem sie Misstrauen, Spaltung und den Niedergang der Volks-
1387 Enderle-Ristori, S. 31. 1388 Zu diesen Vorgängen vgl. Enderle-Ristori, ab S. 31; Langkau-Alex: Von den Moskauer Prozessen zu den Pariser »Prozessen«, S. 38 f.; Langkau-Alex: »… von entscheidender Bedeutung ist, ob Münzenberg die Zeitung hat oder wir«, S. 77 f. Als zeitgenössische Quelle siehe: Konrad Heiden: »Der Prüfungsfall der Emigration«. In: NTB 1937/12, vom 20. März 1937. 1389 Poliakov wurde von einem Untersuchungsausschuss rehabilitiert; Bernhard von einem französischen Gericht verurteilt. 1390 Enderle-Ristori, S. 32. 1391 Wolff stand auch in Verbindung mit Karl Retzlaw, den er aus der gemeinsamen Zeit als Spartakisten kannte; Retzlaw (nunmehr dem Trotzkismus zuneigend) war möglicherweise im Hintergrund eine Schlüsselfigur in den politischen Manövern Wolffs jener Zeit. Zu den verlegerischen Aktivitäten Retzlaws siehe Kap. 5.2.2 Politische Verlage.
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frontbewegung förderte; Lion Feuchtwanger hat sie in seinem Roman Exil, 1939 erschienen bei Querido, literarisch verarbeitet. Fritz Wolff fungierte bis zur Einstellung der PTZ im Februar 1940 als deren Verleger, dabei im Streit mit Chefredakteur Bernhard liegend, bis dieser am 12. Januar 1938 ausschied und, nach einer Interimsphase, von Joseph Bornstein ersetzt wurde, einem persönlichen und politischen Feind Bernhards, mit dem das Blatt augenblicklich einen strikt antikommunistischen Kurs steuerte (Bornstein kam von Leopold Schwarzschilds Neuem Tage-Buch). In all der Zeit seit dem Eigentümerwechsel 1936 blieb die PTZ für verschiedene Gruppen ein Objekt der Begierde: zunächst für die KPD, die hinter den Kulissen monatelang über einen Kauf verhandelte, der dann aber doch platzte, nicht zuletzt aus dem Grund, dass auch Willi Münzenberg seine Versuche, die Tageszeitung zu übernehmen, nicht aufgegeben hatte – inzwischen agierte er allerdings nicht mehr im Auftrag der KPD, sondern in eigener Sache, um nämlich selbst ein wirkungsvolles publizistisches Organ für seinen politischen Kampf gegen die KPD zur Verfügung zu haben. Obwohl er der hoch verschuldeten PTZ den sehr hohen Betrag von 600.000 Francs als Überbrückungshilfe verschafft hatte, ging auch er leer aus, zumal nun seine eigenen Geldmittel versiegten.1392 Im Übrigen spielten in die Auseinandersetzung zwischen KPD und Münzenberg ebenso zeitungsinterne Konflikte hinein, u. a. trickreiche und in der Wahl der Mittel wenig zimperliche Versuche Bernhards, Wolff wieder loszuwerden. Das Tauziehen um die PTZ erscheint aber – besonders nach den Quellenfunden, auf die sich Enderle-Ristori stützt – so verworren, dass der Versuch, es an diesem Ort in extenso darzustellen, als verfehlt gelten müsste. Tatsache bleibt, dass es Mitte / Ende 1938 zu einem radikalen redaktionellen Kurswechsel kam, dessen Hintergrund das Scheitern der Volksfrontbewegung in Paris war, möglicherweise aber auch weitere Verkaufsbemühungen Wolffs (diesmal an einen tschechoslowakischen Interessenten), und selbst eine direkte Einflussnahme der französischen Regierung kann nicht ausgeschlossen werden.1393 Es ist jedenfalls zutreffend, dass die PTZ sich in dieser letzten Phase nicht mehr als Organ aller Gruppen der deutschsprachigen Emigration verstand und dies de facto auch nicht mehr war.
PTB und PTZ: Auflage und Verbreitung »Mit ihren zwischen Dezember 1933 und Februar 1940 erschienenen über 2.000 Ausgaben und einer täglichen Durchschnittsauflage von 10.000 Exemplaren stellt die Zeitung das bedeutendste publizistische Textensemble des deutschen Exils dar«.1394 Durch die günstige Quellenlage und die darauf aufbauende Forschung sind wir sehr gut über die Entwicklung der Auflagenzahl und Verbreitung der Zeitung informiert. Demnach belief sich die Startauflage im Dezember 1933 auf 6.000 Exemplare, mit stark steigender Tendenz: im Frühjahr 1936 gelangten 13.000 Exemplare in den freien Verkauf, zudem hatte man bis dahin 1.100 Abonnenten gewonnen.1395 1937 hielt sich die Auflage bei
1392 1393 1394 1395
All dies nach Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 32‒41. Enderle-Ristori, S. 40. Vgl. Lutz Winkler: Zum Paris-Mythos im Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung, S. 261. Diese und die nachfolgend genannten Zahlen nach Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 46.
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11.000‒12.000 Exemplaren; 1938 ging sie zurück auf 8.000‒9.500, 1939 waren es wieder mehr als 10.000. Eine Unternehmensprüfung durch die am Kauf interessierte KPD über die ersten vier Monate des Jahres 1937 ergab eine durchschnittliche Auflagenhöhe von 11.360 Exemplaren, wovon 1.315 oder 11,6 % an Abonnenten gingen. Der Rest schlüsselte sich auf wie folgt: Freiexemplare 300 (2,6 %), Pariser Straßenhandel 2.618 (23 %), Metro- und Bahnhofsbuchhandlungen 1.212 (10,7 %), Provinz 1.782 (15,7 %), Ausland 2.729 (24 %), Sonstige 1.404 (davon 500 Ex. en bloc nach Spanien, 130 nach England; 12,4 %). Von der Gesamtauflage wurden nur durchschnittlich 55 % verkauft, 45 % kamen als Remittenden zurück. Damit war die Auflagenzahl in etwa so hoch wie jene der großen Wochenschriften des Exils, Neues Tage-Buch und Münzenbergs Zukunft.1396 Der Vertrieb erfolgte durch die international agierende Firma Hachette, teils auch durch Eigenvertrieb. Über den Zeitraum bis Anfang 1938 betrachtet, wurde die Zeitung (mindestens) zu 55 % in Paris und Frankreich (im März 1938 wurde der Provinzvertrieb wegen Unrentabilität eingestellt, ausgenommen die Abonnements) und zu (höchstens) 40 % im Ausland abgesetzt, v. a. in der Schweiz, den Niederlanden und Österreich, auch Belgien, Luxemburg, England, Tschechoslowakei, Rumänien.1397 Der Verkaufspreis von PTB / PTZ war relativ hoch angesetzt: im Straßenverkauf kostete sie 1934 50 Centimes, 1937 75 Centimes, 1938 bereits 1 Franc. Eine solche tägliche Ausgabe konnten viele Emigranten nur mit Mühe leisten. Das Jahresabonnement belief sich 1934 noch auf 145 Francs, 1936 wurde es zu Werbezwecken auf 100 Francs herabgesetzt, 1937 wieder auf 185 Francs erhöht. Das Auslandsabonnement war aufgrund der Versandkosten entsprechend teurer und kostete 1934 265 Francs und 1936 300 Francs. Die Zeitung finanzierte sich aber nicht allein über den Verkaufspreis, sondern auch über den Anzeigenteil, der bis zu eineinhalb Druckseiten einnahm. Dem Verlag Pariser Tageszeitung war zusätzlich ein Buchvertrieb angegliedert, der allerdings wenig abgeworfen haben dürfte. Die Gesamtzahl der deutschen Emigranten in Frankreich lag 1938 bei rund 40.000; damit war ein Hauptabsatzmarkt definiert.1398 Gemessen an den ca. 5.600 (1937) im Inland vertriebenen Exemplaren wurde dieses Publikum in einem beachtlichem Maße erreicht. Die tatsächliche Zahl der Leser ist ja noch deutlich höher zu veranschlagen, da Emigranten-Cafés, Bibliotheken (wie die Deutsche Freiheitsbibliothek) und andere Einrichtungen des Exils eine Multiplikatorfunktion entwickelt haben; auch wurde das Blatt vielfach unter Emigranten zur Lektüre weitergereicht. PTB und PTZ boten in zunehmendem Maße v. a. über den Lokalteil 1399 ein alltags- und asylpraktisches Wissen und offerierten ein umfassendes Serviceangebot, sodass sich für die Exilanten nicht nur ein Informations-, sondern auch ein hoher Nutzwert ergab.1400 Enderle-Ristori weist
1396 Enderle-Ristori, S. 47. 1397 Enderle-Ristori, S. 47. 1398 Zur Leserschaft des PTB / der PTZ siehe Enderle-Ristori, S. 42‒50; zu der Zahl der Emigranten bes. S. 43. 1399 Es gab eine eigene Lokalrubrik unter wechselnden Bezeichnungen; Lokales wurde aber auch noch auf anderen Seiten gebracht. 1400 Siehe hierzu Kapitza / Labude: Helfer und Mittler im Exilalltag: Der Lokalteil [von PTB / PTZ]. So war mit dem Zeitungsabonnement auch ein kostenloser Unfallversicherungsschutz und das Recht zur Gratis-Insertion verbunden, ebenso die Inanspruchnahme einer
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darauf hin, dass die aufmerksamsten Leser wohl in der französischen Polizei, den Spionagediensten und in der Deutschen Botschaft Paris zu finden waren.1401
Das Feuilleton Trotz des relativen Absatzerfolges waren bei PTB und PTZ die Finanzen immer knapp, und die festen Mitarbeiter des Blattes waren daher, mit Ausnahme des Chefredakteurs Bernhard, schlecht bezahlt; auch erfolgte die Entlohnung der Dienste höchst unregelmäßig. Da ihre Tätigkeit für sie als exilierte Journalisten faktisch alternativlos war, waren sie genötigt, diese Bedingungen hinzunehmen. Die freien Mitarbeiter mussten gleichfalls sehr niedrige Honorarsätze akzeptieren:1402 für Feuilletonbeiträge gab es zwischen 10 und 100 Francs, je nach Renommee des Autors (Alfred Döblin und Heinrich Mann erhielten 100, Hermann Kesten und Joseph Roth 75, Rudolf Leonhard 30 Frs.). Das Durchschnittshonorar betrug 30 Francs pro Spalte; insgesamt hatte die Redaktion um 1934 ein monatliches Honorarbudget von 3.000 Francs zu vergeben, Ende 1936 waren es 5.000 Francs. Ein ums andere Mal beklagten die Autoren die (durch chronischen Geldmangel bedingte) schleppende Zahlungspraxis bei den Honoraren. Das Feuilleton von PTB und PTZ spielte trotz der bescheidenen Honorare für die Veröffentlichungs- und Einkommensmöglichkeiten der Exilschriftsteller zwischen 1933 und 1940 eine wichtige Rolle, allein schon aufgrund des in Summe hohen Publikationsvolumens, das sich aus der täglichen Erscheinungsweise ergab. Nur einige wenige Exilzeitschriften standen hier in ernsthafter Konkurrenz »nicht nur um Leser bzw. Auflagenzahlen, sondern auch um privilegierte Verlagsbeziehungen (Inserate, Abdruckgenehmigungen für Feuilletontexte, Fortsetzungsromane) und um die Mitarbeit renommierter Autoren, die zu Aushängeschildern der jeweiligen Zeitungen wurden«.1403 Am ehesten ein Konkurrent war auf Pariser Boden die von Leopold Schwarzschild herausgegebene Wochenschrift Das Neue Tage-Buch. Immerhin fast 30 % des Gesamtumfangs (rund 2.600 von 8.750 erschienenen Druckseiten1404) umfasste der Feuilletonteil von PTB / PTZ, mit dem – in diesem Umfang, in dieser Stetigkeit und Qualität mehr oder minder einzigartig in der Exilpublizistik – Traditionen der Weimarer Republik fortgesetzt wurden. Das Feuilleton umfasste wie gewohnt mehrere Rubriken bzw. Bereiche.1405 An die 40 von exilierten Autoren stammende Romane, Novellen oder sonstige Erzähltexte wurden zwischen 1933/1934 und 1939 im Fortsetzungsmodus gebracht, von Irmgard Keun, Anna Gmeyner und Maria Leitner ebenso wie von Klaus Mann, Balder Olden und Paul Westheim; allein Joseph Roth konnte bis zu seinem Tod 1939 neben dem Roman Tarabas und drei Novellen in Fortsetzungen noch zahlreiche kleinere Einzelveröffentlichungen in PTB und PTZ
1401 1402 1403 1404 1405
juristischen Sprechstunde und – wichtig im Exil – eines Reisebüros, das nicht nur Visa und »verbilligte Spezialpassagen« vermittelte, sondern auch in Passfragen beriet (S. 280 f.). Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 51. Enderle-Ristori, S. 88. Enderle-Ristori, S. 107. Enderle-Ristori: Literaturkritik, S. 207. Siehe zum Folgenden Roussel: Die Fortsetzungsromane und -erzählungen im Zeitungsraum von »Pariser Tageblatt« und »Pariser Tageszeitung«.
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unterbringen, fünf Erzählungen, vier Teilabdrucke aus Romanen sowie 54 Artikel, Glossen und sonstige Feuilletonbeiträge.1406 Die folgende, nur die Beiträge deutschsprachiger Schriftsteller umfassende Aufstellung zeigt, dass die oft punktgenau einander ablösenden Fortsetzungsromane und -geschichten unterschiedlichste Lesererwartungen zu erfüllen suchten, mit aktuell-zeitpolitischer Literatur, aber bisweilen auch mit eher leichtgewichtiger Unterhaltungslektüre. Erschienen, aber hier nicht aufgenommen sind ferner Werke nichtdeutscher Autoren; als ein Beispiel sei genannt Georges Simenons Der Mann aus London, der in der Übersetzung der Exilantin Hilde Barbasch als Fortsetzungsroman in den Nrn. 163–195 des PTB im Mai / Juni 1934 gebracht worden ist. Romane, Novellen und sonstige Erzählprosa in Fortsetzungen im Pariser Tageblatt und in der Pariser Tageszeitung 1934‒19391407 Pariser Tageblatt: 1934 Anna Gmeyner: Mary-Ann wartet [Erzählung in 14 Fortsetzungen], 11. Januar – 25. Januar; Joseph Roth: Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde [Vorabdruck in 48 Fortsetzungen], 26. Januar – 16. März; Leo Lania: Gräfin Henckel-Donnersmarck. Der phantastische Aufstieg der Païva [Prosa in 7 Fortsetzungen], 17. März – 24. März; Balder Olden [Anbruch der Finsternis.] Roman eines Nazi [Roman in 55 Fortsetzungen], 25. März – 19. Mai;1408 Joseph Roth: Triumph der Schönheit [Vorabdruck der Novelle in 8 Fortsetzungen], 6. Mai – 14. Mai; Arnold Hahn: Attentat auf den Präsidenten von Pan-Europa [Vorabdruck d. Romans in 53 Fortsetzungen], 26. Juni – 18. August (Buchausgabe Paris 1935); Joseph Roth: Die Büste des Kaisers [Novelle in 5 Fortsetzungen], 27. Juli – 1. August; Leo Lania: Wanderer ins Nichts [Roman in 66 Fortsetzungen], 11. August – 16. Oktober; Klaus Mann: Flucht in den Norden [Roman in 65 Fortsetzungen], 10. Oktober – 14. Dezember; Max Hochdorf: Der Lakai Herbekhoven [Prosa in 11 Fortsetzungen], 15. Dezember – 26. Dezember. 1935 Gertrud Isolani: Flucht in den Mord [Roman in 10 Fortsetzungen], 27. Februar – 9. März;
1406 Vgl. Prutsch: »Prophetischer Pessimismus«. Joseph Roths Exilpublizistik, S. 75. 1407 Erstellt nach den Angaben bei Raßler: Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung 1933‒1940. 1408 Der Roman war zuerst als Buchausgabe in englischer Sprache in Großbritannien u. d. T. Dawn of darkness (London: Jarrolds 1933) und in den USA u. d. T. Blood and tears (New York: Appleton‒Century 1934) erschienen.
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Balder Olden: Die schöne Provençalin [Novelle in 14 Fortsetzungen], 15. Mai – 29. Mai; Rudolf Leonhard: Wenn … [Novelle in 3 Fortsetzungen], 14. Dezember – 17. Dezember; Paul Westheim: Heil Kadlatz. Der Lebensweg eines alten Kämpfers [Roman in 71 Fortsetzungen], 17. Dezember – 26. Februar 1936. 1936 Fabian Stietencorn (wohl Ps.): Reichslager Dachau 1936. Bericht eines, der es kürzlich erlebte [Tatsachenbericht in 24 Fortsetzungen], 4. März – 28. März.1409 Pariser Tageszeitung: Rudolf Leonhard: Der Pankreas-Konflikt [Novelle in 4 Fortsetzungen], 12. Juni – 16. Juni; Stephan Lackner: Nordsturm [Novelle in 4 Fortsetzungen], 17. Juni – 21. Juni; Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere [Roman in 93 Fortsetzungen], 21. Juni – 22. September; Hans Siemsen: Der Fall Cochran [Kriminalnovelle in 9 Fortsetzungen], 23. September – 2. Oktober; Gertrud Isolani: Verfehlte Liebesreise. Eine Novelle aus den zwanziger Jahren [in 7 Fortsetzungen], 19. Oktober – 26. Oktober; Irmgard Keun: Nach Mitternacht [Roman in 38 Fortsetzungen, unabgeschlossen], 26. Oktober – 3. Dezember.1410 1937 Max Hochdorf: Die ewigen Schatten [Roman in 84 Fortsetzungen] 7. Januar – 1. April; Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Roman der deutschen Jugend [Roman in 52 Fortsetzungen], 22. April – 14. Juni; Rudolf Leonhard: Der Kaiser der Sahara [Prosa in 4 Fortsetzungen], 14. Juni – 18. Juni; Fritz Bondy: Tommy Barbox macht Revolution [Prosa in 43 Fortsetzungen], 5. August – 17. September;
1409 In der Nr. 866 des PTB vom 26. April erschien eine redaktionelle Erklärung zu der von Balder Olden in der NWB erhobenen Anschuldigung, Stietencorn sei nie in Dachau gewesen. 1410 Der Abdruck erfolgte in der PTZ ab 26. Oktober 1936, wurde aber am 3. Dezember 1936 abgebrochen, »da der Redaktion die Fortsetzung des Manuskriptes nicht zugegangen sei« (Raßler: Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung 1933‒1940, S. 209 f.). Die Buchausgabe erschien Amsterdam 1937.
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Ludwig Renn: Vor großen Wandlungen [Roman in 14 Fortsetzungen], 4. Oktober – 18. Oktober;1411 Gabriele Ekkehard [d. i. Lucy H. Domke]: Wer bist du? [Prosa in 3 Fortsetzungen], 2. November – 6. November. 1938 Fritz Bondy: Don Juans Familie [Prosa in 4 Fortsetzungen], 11. Januar – 15. Januar; Balder Olden: Die weiße Dame. Traum eines Pflanzers [Prosa in 15 Fortsetzungen], 25. Februar – 15. März; Paul Zech: Die häßliche Krankheit. Eine indianische Geschichte [Prosa in 3 Fortsetzungen], 4. Mai – 7. Mai; Gabriele Ekkehard [d. i. Lucy H. Domke]: Auf Wiedersehen ‒ in vierzehn Tagen [Prosa in 48 Fortsetzungen], 8./9. Mai –3./4. Juli; Oskar Maria Graf: Dreimal ist einmal. Die Geschichte eines Mannes und einer Brieftasche [Prosa in 6 Fortsetzungen], 5. Juli – 12. Juli; Joseph Roth: Der Leviathan [Novelle in 9 Fortsetzungen], 23./24. Oktober – 3. November (Buchausgabe 1940); Max Hochdorf: Die Schatulle [Prosa in 15 Fortsetzungen], 26. Dezember – 10. Januar 1939. 1939 Stephan Lackner: Das Leben ein Sport [Prosa in 3 Fortsetzungen], 15. Februar – 18. Februar; Bodo Uhse: Angriff auf Wyst. Ein Roman aus Deutschland [Vorabdruck in 72 Fortsetzungen], 26./27. März – 18./19. Juni; [Alexander] Roda-Roda: Polo [Novelle in 17 Fortsetzungen], 11. Juli – 1. August; Hermynia Zur Mühlen: Zwölf Gäste [Roman in 25 Fortsetzungen], 5. August – 3. September. Die Zahl der in PTB / PTZ (vor)abgedruckten Auszüge aus größeren Werken, vornehmlich Romanen, aber auch Sachbüchern, ist sehr groß und entzieht sich einer genaueren Aufschlüsselung. Um dies aber doch mit einigen Beispielen zu illustrieren: Aus Arnold Zweigs Bilanz der deutschen Judenheit 1933, erschienen in der Buchausgabe in Amsterdam 1934, war bereits am 26. Dezember 1933 ein Ausschnitt zu lesen, zwei Tage später eine Szene aus Ferdinand Bruckners Drama Die Rassen; am 7. Januar 1934 ein Auszug »Der sterbende Tribun« aus Jakob Wassermanns Roman Joseph Kerkhovens dritte Existenz, der später im Jahr in Amsterdam erschien, und wieder vier Tage später ein Vorabdruck aus der Carrefour-Publikation Nazi-Führer sehen dich an! 33 Biographien aus dem Dritten Reich. Romanauszüge aus Vicki Baums Werken, aus Das große Einmaleins (»Abschied«, am 26. Mai 1935) oder Der große Ausverkauf (»Schon ging sein Herz
1411 Abgedruckt wurden nur Ausschnitte des Romans; die letzte Folge erschien mit dem Hinweis, dass die Buchausgabe soeben im Verlag Oprecht & Helbling in Zürich erschienen sei.
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spazieren«, 9. Juli 1937) wurden ebenso gebracht wie solche von Lion Feuchtwanger (u. a. »Claudia Acte«, aus Der falsche Nero, 6. Januar 1937). Insbesondere die beiden großen Amsterdamer Exilverlage scheinen den auszugsweisen Vorabdruck als Instrument der Aufmerksamkeitsökonomie sehr gut genutzt zu haben. Dies lässt sich etwa an Alfred Neumann und seinem Roman Der Neue Cäsar demonstrieren, der bei Allert de Lange 1934 in der außergewöhnlich hohen Erstauflage von 7.000 Exemplaren herauskam und von dem noch vor Jahresende eine 2. Auflage mit dem 8.‒12.Tausend gedruckt werden musste. Der Erfolg war wohl nicht zuletzt durch Vorabdrucke von Textauszügen in den Exilperiodika gefördert worden: Ein Kapitel daraus wurde nicht nur in einer Sonntagsbeilage des Pariser Tageblatts abgedruckt,1412 sondern erschien auch in der von Klaus Mann im Querido-Verlag (!) herausgegebenen Zeitschrift Die Sammlung1413 und ebenso in den Europäischen Heften.1414 Das Feuilleton von PTB / PTZ enthielt darüber hinaus ungezählte Einzelveröffentlichungen von Novellen und kurzen Prosastücken, Heinz Liepmanns Haie und sechzehn Mann (4. Februar 1934) oder Ernst Weißʼ Die Herznaht (10. Januar 1937) sind nur zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele. Ebenso häufig wurden Verse gebracht (von Brecht über Herrmann-Neiße bis Alfred Wolfenstein) oder verschiedene literarische Kleinformen, etwa satirische Texte und Grotesken (z. B. Hermann Kesten: Dr. Schatte. Eine Groteske, 2./3. April 1939). Kurz, das Pariser Tageblatt und die Pariser Tageszeitung waren als Publikationsort für literarische Texte aller Art ein integraler Bestandteil des Literaturbetriebs im Exil, unverzichtbar auch als Informationsbörse zum aktuellen Literaturgeschehen, wobei diese Funktion in ganz besonderer Weise von dem ebenfalls gut ausgebauten Besprechungswesen der Zeitung wahrgenommen wurde.
Die Literaturkritik Gerade im Exil war das (Absatz-)Schicksal der Bücher in beträchtlichem Maße davon abhängig, ob sie – möglichst in weit verbreiteten – Presseorganen besprochen wurden, wobei die Zeitungen und Zeitschriften des Auslands, nicht nur jene in der Schweiz oder Österreichs, in der Regel für wichtiger gehalten wurden als die Exilpresse.1415 Zusätzlich lieferte die Literaturkritik schon damals mit positiven Bewertungen jene Stichwörter, mit denen die Verlage Werbung betreiben konnten, freilich war allein die Durchbrechung der Wahrnehmungsschwelle unter den gegebenen Umständen von immenser Bedeutung. PTB und PTZ waren über ihre gesamten Erscheinungsjahre betrachtet die wichtigsten Plattformen des Exils für die Rezension von Büchern. Eine eindringliche Analyse dazu liefert Enderle-Ristori, die entsprechend ihrem methodischen Ansatz die literaturkritische Praxis des Blattes in unterschiedlichen Kontexten betrachtet. Literaturkritik wird dabei einmal als Ware, einmal als Diskurs aufgefasst. Unter ersterem Aspekt wird
1412 »Letizia Bonaparte«. In: Pariser Tageblatt, Nr. 271, 9. September 1934, Sonntagsbeilage, S. 3. 1413 Die Sammlung 1 (1934), S. 30‒33. 1414 »Louis verführt Paris«. In: Europäische Hefte. Wochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, 25, 4. Oktober 1934, S. 19. 1415 Vgl. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 126.
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das Feuilleton der PTB / PTZ im pressegeschichtlichen Zusammenhang untersucht und nach den institutionellen Beziehungen (zu Verlagen, Druckereien, Buchhandlungen, anderen Exilorganen) sowie nach dem Einfluss durch den literarischen Markt (Vertrieb, Anzeigenaufkommen etc.) befragt; unter letzterem werden die einzelnen Faktoren (die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen, die »Kräftefelder« der Exilliteratur und der französischen Literatur) herausgestellt, die bei der Herausbildung eines literaturkritischen Diskurses konstitutiv gewirkt haben.1416 Immerhin standen PTB / PTZ in Frankreich in Konkurrenz zu zahlreichen weiteren Exilzeitungen und -zeitschriften, auch betrachteten sie sich gegenüber Frankreich als eine wichtige Vermittlungsinstitution in Sachen Literaturtransfer. Den Erhebungen Enderle-Ristoris zufolge sind in PTB / PTZ von 100 bis 110 Rezensenten (davon ein Drittel Redakteure und Angestellte des Blattes) in 658 Rezensionen insgesamt 758 Titel besprochen worden.1417 Davon sind 513 oder 68 % den im engeren Sinn literarischen Textformen (also mit primär ästhetischer Funktion) zuzurechnen, 245 oder 32 % nichtliterarischen Textformen mit primär pragmatischer Funktion. Die nichtliterarischen Textformen lassen sich im Rahmen einer Sachgruppengliederung weiter aufschlüsseln. Demnach sind 40,8 % den Sozialwissenschaften zuzuordnen, 20,4 % Geschichte und Geographie sowie 14,3 % Philosophie und Psychologie. Bei den literarischen Textformen ist mit 47 % eine starke Vorherrschaft der Romane zu beobachten; es folgen mit 12,9 % Reportageliteratur, mit 11,7 % Biographien, mit 11,1 % Epische Kurzformen und mit 7,2 % Autobiographien; zurück liegen mit 4,7 % lyrische Werke, 2,3 % Werkausgaben und Anthologien, 1,9 % Kinder- und Jugendliteratur; abgeschlagen mit 1 % sind dramatische Werke. Zu fragen ist, ob sich in diesen Verhältniszahlen die Strukturen der literarischen Produktion des Exils widerspiegeln oder eher doch die Selektionsmechanismen der Zeitungsredaktion.1418 Ersteres wird man schon deshalb nicht behaupten können, weil nicht nur Werke von Exilautoren, sondern in vielen Fällen solche französischer oder anderer ausländischer Autoren rezensiert wor-
1416 Auf der Grundlage einer Auswertung sämtlicher Rezensionen der Zeitung hat EnderleRistori verschiedene Verzeichnisse erstellt (sämtlich im Anhang ihrer Arbeit): der rezensierten Titel, der Verfasser der rezensierten Titel, der Verlage der rezensierten Titel, schließlich der Verfasser der Rezensionen, soweit bekannt. Im Darstellungsteil werden Analysen unterschiedlichster Art vorgenommen, etwa quantitative Analysen zur zeitlichen Verteilung der Rezensionen (S. 117), zum Umfang (Zeilenanzahl) der Rezensionen (S. 118), zu den Verlagen, deren Bücher am häufigsten rezensiert wurden (S. 121), die Liste der häufigsten Rezensenten unter den freien Mitarbeitern (S. 188) u. a. m. Eine zusammenfassende Darstellung hat Enderle-Ristori gegeben in dem Beitrag Literaturkritik. In: Rechts und links der Seine, S. 208‒218. In diesem Band findet sich auch je ein Beitrag zur Filmkritik des PTB / der PTZ (Asper: Filmseite / Filmkritik / Filmberichte, S. 219‒234), zur Theaterkritik (Villard: Theaterkritik, S. 235‒250), zur Musikberichterstattung (Mävers: Kontinuität und Diskontinuität in der Musikberichterstattung – Paul Bekker und danach, S. 251‒260) und zum Kunstkritiker P. Westheim (Ines Rotermund: Auf den Spuren des Kunstflaneurs Paul Westheim. Pariser Kunstgalerien der dreißiger Jahre, S. 261‒267). 1417 Vgl. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 192‒203. 1418 Enderle-Ristori, S. 199.
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den sind.1419 Eine genauere Aufschlüsselung zeigt, dass insgesamt nur 63,6 % deutschsprachige Werke besprochen wurden und der Anteil der aus Deutschland emigrierten Autoren nur 40,1 % betrug, dazu kamen 19,3 % Übersetzungen ins Deutsche und auch – im Sinne einer »Gegnerbeobachtung« – 4,2 % von reichsdeutschen oder auch dezidierten NS-Autoren. 36,4 % der Rezensionen betrafen fremdsprachige Werke; unter diesen machen die französischen Autoren mit 26,9 % erwartungsgemäß den größten Teil aus, bei 7,7 % englisch / amerikanischen und 1,8 % sonstigen Autoren.1420 Aus buchhandelsgeschichtlicher Sicht besonders aufschlussreich ist die Frage, aus welchen Verlagen die besprochenen Bücher stammten. Kam es hier zu einer Bevorzugung oder umgekehrt zur Boykottierung einzelner Häuser? In der von Enderle-Ristori über die Jahre 1933‒1940 vorgenommenen Analyse der Rezensionen wurden 758 Titel berücksichtigt. Das Ergebnis zeigt, dass von diesen 758 besprochenen Titeln rund 400, mithin mehr als die Hälfte, auf nur 24 Verlage entfiel, während sich der etwas kleinere Rest von rund 360 Titeln auf mehr als 200 Verlage aufteilte, von denen somit im Durchschnitt nur ein bis zwei Bücher rezensiert wurden.1421 Die Produktivität der einzelnen Verlage spiegelte sich darin aber nur sehr bedingt, denn es wurde seitens der Redaktion z. T. sehr selektiv vorgegangen: der Sebastian Brant-Verlag etwa wurde konsequent boykottiert, eine klare Folge der damaligen politischen Gegnerschaft zwischen Willi Münzenberg und dem PTZ-Herausgeber Fritz Wolff. Generell waren kommunistische Exilverlage unterrepräsentiert, sicherlich auch wegen ihrer teilweise nur an Parteimitglieder gerichteten Produktion. Bei den Exilverlagen führt erwartungsgemäß Querido das Ranking an mit 48 Titeln vor Allert de Lange mit 40; es folgen die Éditions du Carrefour und Malik mit je 23, der Oprecht Verlag mit 22 und der Europa Verlag mit 20, J. Kittls Nachf. mit 17, Herbert Reichner (Wien, als Verleger Stefan Zweigs) und die VEGAAR mit je 14 und Humanitas mit 12. Éditions Prométhée war mit 9 Titeln und Bermann Fischer nur mit 7 Titeln vertreten, die Büchergilde Gutenberg und der Verlag Europäische Merkur mit jeweils 6. Bei den Nicht-Exilverlagen hatte Gallimard mit 32 Titeln einen großen Vorsprung vor den Éditions Sociales Internationales (der frz. KP) mit 19, Albin Michel mit 18 und Grasset mit 15; Denoël und Plon kamen auf 13, Flammarion auf 12. Als einziger englischer Verlag taucht auf dieser Liste Viktor Gollancz auf mit 12 Titeln. Interessanterweise wurden im Jahr 1936 (und nur in diesem) gleich 7 Titel des reichsdeutschen Verlages Langen-Müller besprochen.1422
1419 Diesbezüglich ist auch keine Konstanz über den gesamten Zeitraum festzustellen; die Besprechung der Werke deutscher Autoren nimmt ab zugunsten der französischen. 1420 Genauere, auch absolute Zahlen dazu Enderle-Ristori, S. 201. 1421 Enderle-Ristori, S. 120. Auf S. 121 liefert die Verfasserin eine präzise Übersicht in Tabellenform. 1422 Die besprochenen Langen-Müller-Bücher waren Das Dorf an der Grenze von Gottfried Rothacker (d. i. Bruno Nowak); Werdendes Volk. Die Romane der Niederdeutschen und Die grosse Fahrt. Ein Roman von Seefahrern von Hans Friedrich Blunck; Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland von Hanns Johst; Pferdemusik und Sankt Blehk oder die grosse Veränderung von Ludwig Tügel, sowie von Ernst Wiechert das Schauspiel Der verlorene Sohn.
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An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob es auch im Exil einen Zusammenhang gegeben hat zwischen der Bereitschaft von Verlagen, für Werbeanzeigen zu bezahlen, und der Bereitschaft der Blätter, Bücher dieser Verlage bevorzugt zu besprechen. Für PTB / PTZ hat Enderle-Ristori das Anzeigenaufkommen genauer untersucht und zunächst festgestellt, dass das Blatt während seiner gesamten Erscheinungszeit von Instanzen des literarischen Marktes (Exilverlagen, Buchhandlungen, Zeitschriften) als Werbeträger genutzt worden ist.1423 Bei der Verlagswerbung ging es hauptsächlich um die Anzeige neu erschienener Bücher und Broschüren im Feuilleton oder auf der im Herbst 1936 eingeführten Literaturseite »Das neue Buch«. Die quantitative Auswertung der Inserate zeigt, dass es im Exil zwar die typische ökonomische Interessengemeinschaft von Buchverlagen und Presse gegeben hat, eine direkte Abhängigkeit (im Zeichen eines »Anzeigentauschwerts«) der Rezensionspraxis und -frequenz von der Insertionstätigkeit der Verlage aber nicht nachweisbar ist. Belege dafür lieferten die großen Amsterdamer Verlage: Querido setzte in PTB / PTZ nur bescheidene Werbeaktivitäten (rund 10 Anzeigen, ähnlich wie die kleinen Verlage Europäischer Merkur und Humanitas, Basel), Allert de Lange verzichtete überhaupt auf Anzeigen in diesem Blatt,1424 trotzdem aber hatten beide dort die meisten Rezensionen.1425 Ähnliches lässt sich auch für andere Verlage feststellen. Es gibt jedoch auch Beispiele für eine umgekehrte Disproportionalität: Die (KP-eigenen) Éditions Prométhée schalteten immerhin 20 Inserate, dennoch wurden insgesamt nur neun Titel rezensiert. Allerdings eignete sich die stark parteigebundene Prométhée-Produktion nicht in gleicher Weise für Buchbesprechungen wie etwa jene des Malik-Verlags, der ebenfalls 20 Inserate schaltete, aber 23 Buchbesprechungen vermerken konnte.1426 Die meisten Inserate schalteten die Éditions du Carrefour (rund 60) und Emil Oprechts Züricher Verlage, Oprecht & Helbling (ebenfalls rund 60) und der Europa-Verlag (rund 80). Echte Werbekampagnen leisteten sich die Éditions du Carrefour u. a. für Das Braune Netz (1935) und für Willi Münzenbergs Propaganda als Waffe (1937) und der Europa-Verlag für Hermann Rauschnings Revolution des Nihilismus sowie Ignazio Silones Schule der Diktatoren (jeweils 1938).1427 Rund 30 Annoncen platzierten die in Paris angesiedelten Exilverlage Éditions du Phénix und Éditions Météore, wobei der Phénix-Verlag einen Ausnahmetatbestand repräsentierte, da er offensichtlich eng mit dem Buchvertrieb von PTB / PTZ zusammenarbeitete. Die Kosten der Inserate waren besonders für kleinere Verlage durchaus ins Gewicht fallend; die Druckzeile kostete 1937 immerhin 8 Francs, 20 Zeilen also 160 Francs.1428 Im Anzeigenaufkommen spiegelt sich nicht zuletzt die Buchmarktentwicklung: Nach einem bis Ende 1937/Anfang
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Zur Analyse des Anzeigenaufkommens vgl. Enderle-Ristori, S. 114‒117. Allert de Lange konzentrierte sich mit seiner Werbung auf das Neue Tage-Buch. Enderle-Ristori, S. 122. Enderle-Ristori zieht daraus den Schluss, dass sich die Rezensionspraxis von PTB / PTZ zwar den vordergründigen Mechanismen des Warenverkehrs entzog, aber auch nicht gänzlich außerhalb der Marktprinzipien stattfand. Diese Beziehungen stellten sich komplexer dar und müssten im Zusammenhang mit anderen redaktionellen und verlegerischen Vorgangsweisen, auch im Feuilletonteil, betrachtet werden (S. 123). 1427 Enderle-Ristori, S. 115 f. 1428 Vgl. Enderle-Ristori, Markt, S. 116, mit genauer Quellenangabe. Die Verfasserin verweist darauf, dass gelegentlich Rabatte oder auch Gratisinserate gewährt wurden.
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1938 währenden Aufschwung des Exilverlagswesens war im Laufe des Jahres 1938 eine deutlich rückläufige Tendenz zu konstatieren; damals wurde es immer schwieriger, Büchern und Zeitschriften Absatz zu verschaffen.1429 Sehr wohl dürfte es aber Gefälligkeitsrezensionen gegeben haben. Einen besonderen Fall stellte das »Stillhalteangebot« dar, das Bertolt Brecht im Dezember 1933 Hermann Kesten zukommen ließ: Nach dem Zeugnis Kestens sollten er und Brecht sich durch mündliche Vereinbarung verpflichten, trotz weltanschaulicher Vorbehalte (oder sogar eines »objektiven Feindschaftsgefühls«) von den Werken des jeweils anderen nur »mit Respekt zu sprechen«. Brecht habe angegeben, solche Pakte bereits mit Feuchtwanger und Döblin abgeschlossen zu haben.1430 Enderle-Ristori interpretiert das an den Lektor des Allert de Lange-Verlags gerichtete Angebot als einen Versuch Brechts, die Annahme seiner Werke bei Allert de Lange zu sichern (dort war von den kommunistischen Autoren nur Egon Erwin Kisch untergekommen): »Kurzum: Es war der Versuch, per Literaturkritik den Wettbewerb unter Autoren zu unterlaufen und mit Kestens Hilfe ein regelrechtes Kartell durchzusetzen.«1431 Auch wenn der Versuch scheiterte, spiegelte sich darin doch das Bewusstsein einer geschichtlichen Ausnahmesituation, die auch ungewöhnliche Bündnisse oder sogar moralisch anfechtbares Paktieren gerechtfertigt erscheinen ließ. Verhältnismäßig harmlos wirken dagegen die gelegentlich erhobenen Bitten, angesichts der bedrängten Situation keine literaturkritischen »Hinrichtungen« vorzunehmen; nicht zu Unrecht gab es Ängste vor einer Selbst-Kannibalisierung des literarischen Exils. Eine solche hätte dem gemeinsamen politischen Feind, dem NS-Regime, in die Hände gespielt. Dazu kam noch eine andere, exilinterne Problematik: Da sich im Verhältnis zur Weimarer Republik die literaturkritischen Publikationsmöglichkeiten drastisch vermindert hatten und also »strukturelle Knappheit der Kritik herrschte«, konnte negative Kritik doppelt marktschädigend wirken, für Autoren ebenso wie für Verlage und den Buchhandel.1432 Gleichwohl wurden auch im Exil Auffassungsunterschiede über der Zeit angemessene Schreibweisen anhand von Werkbesprechungen offen ausgetragen; namentlich die literaturpolitischen Debatten in Zeitschriften wie Das Wort (Moskau) oder Das Neue Tagebuch (Paris) haben deutlich Einfluss auf die Rezensionspraxis, nicht nur bei PTB / PTZ, genommen. In ihrer regen Rezensionstätigkeit entfaltete die Zeitung eine bedeutsame kommunikative Funktion innerhalb des sich im deutschsprachigen Exil herausbildenden Literaturlebens und Buchmarktgeschehens, denn jenseits der Informations- und Werbezwecke unterstützte dieser Diskurs auch die Herausmodellierung literarästhetischer Positionen des Exils.1433 So etwa reflektierte die Literaturkritik des Blattes neben der Realismusund Formalismusdebatte auch Fragen des historischen Romans, vor allem aber förderte sie die Rezeption ausländischer Literatur, besonders gegenüber dem Gastland Frank-
1429 Was die Buchproduktion in Frankreich betrifft, so wurden 1936 und 1937 jeweils rund 80 Titel, 1938 noch 70, 1939 aber nur noch 50 Titel veröffentlicht (vgl. die Angaben bei Roussel / Kühn-Ludewig: Deutschsprachige Bücher und Broschüren im französischen Exil). 1430 Dies nach Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 183. 1431 Enderle-Ristori, S. 183. 1432 Enderle-Ristori, S. 180. 1433 Vgl. Enderle-Ristori: Literaturkritik. In: Rechts und links der Seine, S. 207‒218.
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reich. Dadurch entstand ein (wenn auch stark ideologisch instrumentalisierter) Literaturtransfer, ein »Experiment publizistischer Akkulturation« der Pariser Emigranten,1434 nicht zuletzt auch ein Kontakt zur Literatur der europäischen Moderne, in genauem Gegensatz zu NS-Deutschland, wo dies zu diesem Zeitpunkt am allerwenigsten möglich war. Wenn auch PTB / PTZ als eine viele Jahre lang wirkungsvoll tätige Tageszeitung eine Sonderstellung für sich beanspruchen können, so trugen insgesamt die Wochenund Monatszeitschriften nicht weniger zur Ausgestaltung einer lebendigen exilpublizistischen Szene bei. Die wichtigsten von ihnen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Politisch-kulturelle Exilzeitschriften Über Wien nach Prag war die Weltbühne ins Exil gegangen,1435 allerdings ohne ihren Herausgeber Carl von Ossietzky, der sich weigerte zu emigrieren und diesen Entschluss, dem ihm 1935 verliehenen Friedensnobelpreis zum Trotz, nach Haft und Folter mit seinem Leben bezahlte. Die Neue Weltbühne (NWB), wie sich die »Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft« seit 14. April 1933 nannte, gehörte zu den bedeutendsten Organen des Exils; allerdings hatte der unter Willi Schlamm anfänglich eingeschlagene Kurs der NWB, der noch von entschiedener Kritik am Versagen der Linken gekennzeichnet war, zunächst zu sinkenden Auflagen geführt. Nach Kauf des Verlags von Edith Jacobsohn und Übernahme der Redaktion durch den Linkssozialisten Hermann Budzislawski im April 1934 nahm die Zeitschrift mit einer KP-nahen, aber auch linksbürgerliche Positionen berücksichtigenden Linie wieder einen Aufschwung – als Plattform des linksintellektuellen politischen Meinungsaustausches, aber auch auf literarischem Gebiet.1436 In ihrem Feuilletonteil brachte die NWB neben literarischen Texten und Essays sowie gelegentlichen (Vor-)Abdrucken aus Büchern1437 auch relativ umfang-
1434 Vgl. Roussel / Winckler: Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation. 1435 Ein Ableger der 1919‒1933 in Berlin erschienenen Weltbühne war bereits 1932 in Wien ins Leben gerufen worden; die damit einsetzende Exilgeschichte der Zeitschrift und insbesondere ihre Eigentümergeschichte sind außerordentlich verwickelt; vgl. auch Madrasch-Groschopp: Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 23‒71. Vgl. ferner Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 22‒26; Heintz: Index der »Neuen Weltbühne« von 1933‒1939. – Ein Nachdruck der Originalausgabe Prag / Paris 1933‒1939 erschien 1992 in 14 Bänden und zwei Registerbänden in München im Verlag K. G. Saur. 1436 Vgl. Teuber: Ein Stratege im Exil. Hermann Budzislawski und »Die neue Weltbühne« (mit erstmaliger Auswertung von Unterlagen aus dem Redaktionsarchiv der NWB, bei höchst unausgewogener Bewertung der Person H. B.). Eine Steuerung oder Finanzierung durch die KPD oder Komintern ist lt. Teuber nicht nachweisbar. 1437 Typisch für den Stil der NWB: Als von Arnold Zweig ein Kapitel (stark gekürzt) von Einsetzung eines Königs am 10. Juni 1937 abgedruckt wurde, wurde dies von der redaktionellen Anmerkung begleitet, dieses stamme aus dem Roman, »an dem Sie gegenwärtig arbeiten« und der »demnächst im Verlag Allert de Lange erscheinen wird«.
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reiche Rezensionen: In der in einer Auflage von 5.000–6.000 Exemplaren1438 verbreiteten NWB wurden 1933‒1939 insgesamt 186 Bücher rezensiert, davon 80 % aus dem Bereich der deutschen Exilliteratur, vor allem aber war die Zeitschrift an fast allen literaturtheoretischen Kontroversen jener Jahre beteiligt, an der Expressionismusdebatte ebenso wie an den Diskussionen über literarische Avantgarde, den Sozialistischen Realismus und das Kulturerbe.1439 Die Beiträgerschaft war übers Ganze betrachtet eine sehr gemischte; Heinrich Mann, der mit 70 Artikeln einer der wichtigsten Autoren des Blattes war, zählte ebenso dazu wie Hermann Kesten, Werner Türk ebenso wie Balder Olden, F. C. Weiskopf ebenso wie Alfred Polgar. Mit Juni 1938 übersiedelte die NWB nach Paris, wo sie Ende August 1939, wie alle kommunistischen Organe, eingestellt werden musste.1440 Für die Entwicklung der politisch-kulturellen Exilpublizistik gewann das Konkurrenzverhältnis von NWB und Das Neue Tage-Buch (NTB) entscheidende Bedeutung. Die von Leopold Schwarzschild 1441 1933‒1940 in Paris herausgegebene Wochenschrift Das Neue Tage-Buch stieg zu einem über die Emigration hinaus beachteten, journalistisch anspruchsvollen, parteiideologisch unabhängigen, tendenziell auf ein liberalkonservatives Publikum ausgerichteten Organ auf, das inhaltlich einen Schwerpunkt in der kritischen Beobachtung der NS-Wirtschaftspolitik und der Kriegsvorbereitungen Hitlers hatte.1442 Das NTB war zwar überwiegend auf politische und ökonomische Analysen orientiert, wies aber auch einen durchschnittlich sechs Seiten umfassenden Kulturteil auf, der literarische Essays, Abdrucke aus Büchern und Broschüren sowie Rezensionen brachte.1443 Nach den Beobachtungen von H. A. Walter wurden literarische Originalbeiträge [im] NTB meist in Form von Vorabdrucken aus der Produktion der Exilverlage veröffentlicht. Bruno Franks Der Reisepaß, Siegfried Kracauers Offenbach-Biographie, Feuchtwangers Falscher Nero, Döblins November 1918, Schickeles Roman Die Flaschenpost, Ödön von Horváths Ein Kind unserer Zeit, Leonhard Franks Mathilde, Valeriu Marcus Machiavelli, Joseph Roths Kapuzinergruft, Tollers Drama Nie wieder Friede und andere Werke sind so in Ausschnitten vorgestellt worden. Paul Zech lieferte einige Beobachtungen aus Südamerika mit stark autobiographischem Gehalt, Werfel war mit essayistischen Devotionalien,
1438 Teuber: Ein Stratege im Exil, S. 9. Vielfach werden höhere Auflagenzahlen genannt, die aber nicht nachweisbar sind. 1439 Vgl. Grünewald: Literaturkritik in Exilzeitschriften: Die neue Weltbühne, S. 136. 1440 Budzislawski wurde 1939 interniert, konnte sich aber befreien und flüchtete 1940 über Lissabon nach New York. 1441 Zu Schwarzschild siehe Behmer: Von der Schwierigkeit, gegen Illusionen zu kämpfen. Der Publizist Leopold Schwarzschild. 1442 Vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 17‒21; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 72‒127. – 1975 ist Das Neue Tage-Buch im fotomechanischen Nachdruck erschienen in Nendeln / Liechtenstein als Kraus Reprint. 1443 Erschienen vom 1. Juli 1933 bis 11. Mai 1940; die Auflage betrug lt. H.-A. Walter höchstens 15.000‒16.000, durchschnittlich wohl um einige tausend weniger (Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 73).
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l Egon Erwin Kisch mit neuen Reportagen vertreten. Von der politischen Literatur der Exilierten druckte das NTB u. a. Kapitel der Hitler-Biographien von Heiden und Rudolf Olden, der Roosevelt-Biographie Emil Ludwigs und von Arnold Zweig ein Kapitel aus Bilanz der deutschen Judenheit. Max Herrmann-Neiße und Walter Mehring waren wohl die vom NTB am häufigsten veröffentlichten Lyriker.1444
Besondere Akzente setzten außerdem die Nachrichten über die NS-Kulturpolitik (in der Rubrik »Miniaturen«) und die Hinweise auf Veranstaltungen der Emigration (in der Rubrik »Abseits von der Reichskulturkammer«). Fest angestellt war neben Schwarzschild als Herausgeber und einigem Büropersonal nur der Chefredakteur Joseph Bornstein (der oft unter dem Pseudonym Erich Andermann publizierte); als freie Mitarbeiter im Kulturteil kamen hauptsächlich jene Exilautoren in Frage, die keine zu große Nähe zur politischen Linken, namentlich zur KP hatten. Diese Bedingung erfüllten u. a. Ludwig Marcuse, Walter Mehring, Alfred Polgar, Joseph Roth oder der Kunstkritiker Paul Westheim. Viele NTB-Autoren schrieben, wenigstens gelegentlich, auch für die PTB und PTZ, einige wurden dabei wechselseitig abgeworben, wie Alfred Döblin, der seit 1935 regelmäßiger Mitarbeiter bei PTB / PTZ war, aber 1937 zum NTB ging und 1938 zu Münzenbergs Zukunft; umgekehrt wechselte Joseph Roth, der bis 1938 zahlreiche Artikel im NTB untergebracht hatte, 1939 zur PTZ.1445 Klaus Mann, der zunächst in der von ihm selbst herausgegebenen Sammlung publizierte, danach mehrfach im PTB, gab 1937 ein »Gastspiel« im NTB; danach ging diese Verbindung in Brüche, zumal er von Schwarzschild als »Sowjetagent« beschimpft wurde. Der Skandal um das Pariser Tageblatt von 1936 hatte gravierende Konsequenzen auf die Presselandschaft und konkret auch auf den Inhalt des NTB. Schwarzschild, nunmehr ein persönlicher Feind des PTZ-Chefredakteurs Georg Bernhard, baute die Zeitschrift, auch unter dem Eindruck der Moskauer Schauprozesse, immer entschiedener zu einer Plattform des Antikommunismus aus, und 1938 lieferte ihm der Hitler-Stalin-Pakt die letzte Rechtfertigung für seinen antistalinistischen Kreuzzug. In Verbindung mit dem von ihm gegründeten Bund Freie Presse und Literatur vollzog sich eine Scheidung der Geister. Bücher kommunistischer oder mit dem Kommunismus sympathisierender Autoren wurden nach 1937 – bis auf einen Verriss von Lion Feuchtwangers Moskau 1937 – im NTB nicht mehr besprochen.1446 Nachdem sich die literarische Emigration in großen Teilen in das überseeische Exil geflüchtet hatte, kam es in den neuen Fluchtländern wiederholt zu publizistischen Anläufen. So in Mexiko, wo unter Führung der KPD-Gruppe (Alexander Abusch, Paul Merker, auch Anna Seghers und Walter Janka) zunächst ein Bund »Freies Deutschland« und dann eine gleichnamige Zeitschrift Freies Deutschland ‒ Alemania Libre ins Leben gerufen wurde.1447 Das vom 15. November 1941 bis 6. Juni 1946 in einer Auflage von bis
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Walter, S. 126. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 108. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 127. Siehe Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933‒1945, Bd.1, S. 248 f.; Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 52‒56; auch Kießling: Alemania Libre in Mexiko, Bd. 1; Freies Deutschland. México 1941‒1946. Bibliographie einer Zeitschrift. – Auch vom Freien Deutschland liegen Reprints vor, erschienen 1975 in
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Abb. 47: Die Deutschen Blätter konnten, trotz ihres entlegenen Erscheinungsortes, zahlreiche bedeutende Exilautoren für Beiträge gewinnen, unter ihnen O. M. Graf, Hermann Kesten, Thomas Mann oder Stefan Zweig.
zu 3.500‒4.000 Exemplaren erschienene Organ verdankte seine Entstehung dem Versuch einer Erneuerung des Volksfrontgedankens; der Literaturteil spiegelt daher, auch in der Zusammensetzung der insgesamt 200 Namen umfassenden Beiträgerschaft, die Bestrebungen, auf dieser kommunistisch dominierten Plattform alle antifaschistischen Kräfte zu sammeln, auch bürgerliche Sympathisanten – soweit es diese nach Moskauer Prozessen, Hitler-Stalin-Pakt und anderen Vorkommnissen noch gab – und unabhängig davon, ob sie in Mexiko Asyl gefunden hatten. Das Freie Deutschland (FD) agierte somit auf der Linie von Das Wort und Internationale Literatur; von letzterer übernahm die Zeitschrift auch mehrfach Berichte und Erzählungen kommunistischer Autoren, von Willi Bredel, Adam Scharrer oder Friedrich Wolf.1448 Vor allem aber brachte FD häufig Vorabdrucke aus Werken des Verlags El Libro Libre, der im Grunde von der gleichen Personengruppe geleitet wurde wie die Zeitschrift: »FD hatte somit praktisch auch die Funktion einer Verlagszeitschrift, und es war nur legitim, wenn sie die Werke des, sage man: eng befreundeten Buchverlags besonders propagierte, sei es im Rezensionsteil, sei es durch
vier Bänden in Leipzig (auch Nendeln: Kraus [in Komm.]) sowie 2004 in vier Bänden in Offenbach a. M. 1448 Zum Kulturteil des FD siehe auch Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 295‒305.
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Vorabdrucke.«1449 Im Grunde wurden nur von Heinrich Manns Lidice und Ernst Sommers Revolte der Heiligen keine Vorabdrucke veranstaltet, ansonsten war die gesamte El Libro Libre-Produktion vertreten, von Theodor Balks Das verlorene Manuskript und Lion Feuchtwangers Unholdes Frankreich über Ludwig Renns Adel im Untergang und Bodo Uhses Leutnant Bertram bis Theodor Pliviers Stalingrad und Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz. In rund 140 Rezensionen wurden, jeweils in einer eigenen, von Bodo Uhse redigierten Rubrik »Das Buch in unserer Zeit« zusammengefasst, sowohl politische wie literarische Neuerscheinungen besprochen, vorzugsweise solche des Exils, und natürlich wurden hier auch alle El Libro Libre-Bücher angezeigt. Andere Schwerpunkte bildeten Auszüge, die aus in anderen Verlagen erschienenen Werken der Verlagsautoren stammten, oder literarische Originalarbeiten, auch Gedichte, so dass also auch in dieser Hinsicht der Autorenkreis um El Libro Libre »die eigentliche Stütze des literarischen Teils von FD gewesen ist«.1450 Beachtliche überregionale Bedeutung gewann auch die von Udo Rukser und Albert Theile in Santiago de Chile herausgegebene Exilzeitschrift Deutsche Blätter, erschienen 1943 bis 1946 in einer Auflage von 2.000–5.000 Exemplaren.1451 Rukser, der in Berlin erfolgreicher Rechtsanwalt und Kunstsammler gewesen war, finanzierte die Zeitschrift (Untertitel: »Für ein europäisches Deutschland. Gegen ein deutsches Europa«) größtenteils durch den Verkauf seiner Kunstsammlung.
Kulturell-literarische Exilzeitschriften Eine führende Stellung behauptete in der Anfangszeit des Exils die vom September 1933 bis August 1935 von Klaus Mann im Amsterdamer Querido Verlag herausgegebene und redigierte Monatsschrift Die Sammlung, deren Entstehung zu einem der größten Skandale der literarischen Emigration geführt hat, weil sich einige der als Beiträger angekündigten Autoren unter Druck ihrer Verleger öffentlich davon distanzierten, um das damals noch mögliche Erscheinen ihrer Bücher in Deutschland nicht zu gefährden; unter ihnen der Vater des Herausgebers, Thomas Mann.1452 Die zwei Jahrgänge mit 24 Heften der Sammlung repräsentierten, dem programmatischen Titel der Zeitschrift entsprechend, eine bemerkenswerte, von völlig unpolitischen Autoren über bürgerliche Demokraten bis zu Parteikommunisten reichende weltanschauliche Breite und zeigten mit Beiträgen u. a. von Brecht, Döblin, Feuchtwanger, Lasker-Schüler, Joseph Roth einen hohen literarischen Anspruch.1453 Im Übrigen wurden auch prominente ausländische Schriftsteller mit einbezogen wie André Gide, Ernest Hemingway, Aldous Huxley, Boris Pasternak,
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Walter, S. 296. Walter, S. 297. Maass: Deutsche Exilpresse in Lateinamerika, S. 143. Vgl. dazu Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; auch Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒ 1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 426 f. 1453 Zur Sammlung siehe Walter, S. 424‒445; sowie Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 101‒104. Ein Neudruck der Sammlung ist 1986 im Verlag Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins in zwei Bänden erschienen mit einem Vorwort von Fritz H. Landshoff und einer Bibliographie von Reinhardt Gutsche.
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Abb. 48: Klaus Mann verstand die von ihm redigierte Monatszeitschrift Die Sammlung nicht als Kampforgan mit politischem Auftrag, sondern als »Forum für das grosse deutsche Schrifttum, das heute in Deutschland nicht mehr zu Worte kommt«. (Werbeblatt des Querido Verlags, 4 S., hier S. 3).
Stephen Spender oder André Maurois, dessen Aufsatz über Proust et Ruskin in französischer Sprache abgedruckt wurde (Heft III, S. 153‒158). In der in einer durchschnittlichen Auflage von 5.000 Exemplaren erschienenen Sammlung wurden 1934/1935 rund 20 Vorabdrucke von größeren Werken veröffentlicht, die kurz darauf in Buchform auf den Markt kamen – vorzugsweise aus der Produktion des Querido-Verlags, von den oben genannten Autoren, weiters von Bruno Frank, Egon Erwin Kisch oder Arnold Zweig. Einmal mehr wird hier ein Element des Medienverbundes sichtbar, wie man ihn schon etwa in den 1920er Jahren bei Ullstein in sehr effizienter
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Weise entwickelt hatte. Neben der Verwertung der verlagseigenen Ressourcen und der absatzfördernden Wirkung spielten Gesichtspunkte der Autorenbindung eine Rolle; Klaus Mann hatte als Herausgeber der Sammlung immer auch die Interessen des Querido Verlags im Auge. Die Zeitschrift rezensierte aber genauso Neuerscheinungen aus anderen Verlagen und nahm Verlagsanzeigen z. B. auch des Zürcher Europa-Verlags, des Verlags Oprecht & Helbling oder des Malik-Verlags auf. Die Sammlung wurde nach dem 2. Jahrgang eingestellt, da sich nicht mehr als 400 Abonnenten fanden.1454 Klaus Mann gründete Anfang 1941 im US-Exil noch einmal eine – in diesem Fall englischsprachige – Zeitschrift, Decision. A review of free culture, mit der er zur Überprüfung und Erneuerung der moralischen Grundbegriffe beitragen wollte und die er in diesem Zusammenhang einer breit gestreuten internationalen Beiträgerschaft öffnete, die dort u. a. Entwürfe für eine Nachkriegsordnung diskutieren konnte.1455 Das bedeutet, dass es sich in diesem Fall nicht mehr um eine Exilzeitschrift im engeren Sinn gehandelt hat, und so haben auch im Literaturteil der an sich auf politische Debatte zentrierten Zeitschrift emigrierte deutschsprachige Schriftsteller wie Bruno Frank, Berthold Viertel oder Franz Werfel nur noch einen geringen Anteil. Eine Besonderheit stellt die breite Aufnahme des Themas zeitgenössische Kunst dar, mit zahlreichen Abbildungen von Werken der Druckgraphik und Malerei, und die Einrichtung einer Leserbriefspalte »Decisions and Revisions«. Eine Anbindung oder Nähe zu einem Buchverlag war in keiner Weise gegeben; Decision musste aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nach etwas mehr als einem Jahr im Januar / Februar 1942 aufgegeben werden. Nur drei Wochen nach dem Eröffnungsheft der Sammlung erschien im Herbst 1933 in Prag die erste Nummer der Neuen Deutschen Blätter, mit Wieland Herzfelde als tatsächlichem Herausgeber1456 und einer Redaktion, der neben Herzfelde noch Anna Seghers, Oskar Maria Graf und Jan Petersen angehörten; den Anstoß dazu hatte Johannes R. Becher als Vertreter der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS) gegeben.1457 Durch eine Parteianschubfinanzierung war es möglich, gleich die erste Nummer am 20. September 1933 in einer Auflage von 6.600 Exemplaren herauszubringen; für Dezember 1933 wurde die Zahl der Abonnenten bereits mit kaum glaublichen 5.300 angegeben.1458 Zusammenfassung aller gegen Hitler-Deutschland gerichteten Kräfte lautete das gleichsam in Vorwegnahme der kommunistischen Volksfrontpolitik formulierte Programm; Literatur von Bedeutung könne heute nur antifaschistisch sein. Dementsprechend groß war die Bandbreite der Mitarbeiter, deren Beiträge vielfach auf
1454 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 240. 1455 Vgl. hierzu Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 105‒109; Klaus Mann: Der Wendepunkt, S. 398 f. 1456 Um den tschechoslowakischen Rechtsvorschriften zu genügen, mussten »Strohmänner« mit ČSR‒Staatsbürgerschaft vorgeschoben werden (Guido Lagus, ab Nr. 9 Margarete Weiskopf). Aus dem gleichen Grund erschien die Zeitschrift bis Nr. 11 des 1. Jahrgangs in einem fingierten »Faust Verlag«; danach entfiel die Nennung eines Verlagsnamens. 1457 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 114‒118; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 446‒460; Neue Deutsche Blätter, Prag 1933‒1935. Bibliographie einer Zeitschrift. 1458 Siehe Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 448; Neue deutsche Blätter, Prag 1933‒1935. Bibliographie einer Zeitschrift, S. 18.
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die Beobachtung der Vorgänge in Deutschland und das Verhalten der in Deutschland verbliebenen Schriftsteller gerichtet waren, aber auch auf eine Berichterstattung zu aktuellen Ereignissen wie dem Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris. Der auszugsweise Abdruck von Werken Bertolt Brechts (Dreigroschenroman) oder Arnold Zweigs (Erziehung vor Verdun), O. M. Grafs (Der Abgrund, Anton Sittinger), Willi Bredels (Die Prüfung) oder Friedrich Wolfs (Drama Floridsdorf ) lässt – ebenso wie die Aufnahme von Gedichten J. R. Bechers, Erich Weinerts und Walter Mehrings – erkennen, dass die Neuen Deutschen Blätter der Entstehung der deutschen Exilliteratur in diesem Anfangsstadium nachhaltige Impulse geben konnten. Von den insgesamt rund 50 Rezensionen sind nur drei den Neuerscheinungen des Malik-Verlags gewidmet;1459 Wieland Herzfelde hat offenbar nicht versucht, zwischen seinem Verlag und der Zeitschrift eine enge Verbindung herzustellen. Nachdem schon 1934 die Erscheinungsweise immer unregelmäßiger geworden war, gerieten die Neuen Deutschen Blätter Anfang 1935 durch Absatzrückgänge in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Da jede finanzielle Hilfe ausblieb, mussten sie im August 1935 aufgegeben werden. Von Anfang an als Volksfrontorgan geplant war die von Juli 1936 bis März 1939 in Moskau erscheinende Zeitschrift Das Wort, zu deren Redakteuren oder eigentlich Herausgebern mit nur postalischer Anbindung Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger, in wirklich aktiver Funktion aber der in der Sowjetunion lebende Willi Bredel und seit 1937 Fritz Erpenbeck gehörten.1460 Die als repräsentatives Organ der gesamten Exilliteratur gedachte Zeitschrift erschien in einer zwischen 5.000 und 12.000 Exemplaren schwankenden Auflage und beruhte als defizitäres Unternehmen auf Subventionen aus sowjetischen Quellen, konkret auch der herausgebenden Verlage (bis Jg. 3, H. 6 Jourgaz, danach Meshdunarodnaja Kniga); als »Pate« des Unternehmens fungierte Michail Kolzow. Das Vorhaben, nichtkommunistische Autoren als Beiträger zu gewinnen, konnte nur bedingt gelingen, zumal sich an der Diskussion der Volksfrontparolen in der Hauptsache KP-nahe Schriftsteller beteiligten, ebenso an der in Das Wort gezielt und heftig geführten Expressionismus-Debatte. Vor allem aber wurde die programmatische Linie in dem Maß fragwürdiger, in welchem in Moskau der stalinistische Terror zunahm. Bezeichnend für diese Problematik war, dass in den Rezensionen zu insgesamt 160 Werken die bürgerlichen Schriftsteller auffällig verständnisvoll behandelt wurden, während sich kommunistische Autoren untereinander nicht selten vernichtend beurteilten. Der beachtliche Literaturteil brachte in den vier Jahrgängen 169 Gedichte von 48 Autoren (darunter auch Lieder und Sonette), 92 Erzählungen und Kurzprosastücke von 53 Auto-
1459 Zu Adam Scharrers Maulwürfe, Awdejenkos Ich liebe, Willi Bredels Die Prüfung. Ein Großteil der Besprechungen galt Büchern aus den Verlagen Querido, Allert de Lange und Carrefour, bemerkenswerterweise aber auch solchen aus NS-konformen deutschen Verlagen. 1460 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 118‒123; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 461‒502; Das Wort. Moskau 1936‒1939. Bibliographie einer Zeitschrift. – Eine aufschlussreiche Quelle für die redaktionellen Interna der Zeitschrift Das Wort bildet die kommentierte Briefedition: Prag – Moskau. Briefe von und an Wieland Herzfelde 1933‒1938. – Von Das Wort liegt auch ein fotomechanischer Nachdruck vor, erschienen in 11 Bänden 1968 im Verlag Rütten & Loening.
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ren, 32 Romanauszüge und 20 Dramenauszüge.1461 Als Bedingung für eine Aufnahme genügte offensichtlich eine antifaschistische, anti-militaristische oder wenigstens sozialkritische Tendenz des Werks. Eine Art Auffangbecken für die kommunistische Autorenschaft bildete nach Einstellung von Das Wort das bereits 1931 in Moskau gegründete, sich in den Jahren nach 1933 und besonders nach 1935 zur Exilzeitschrift wandelnde Organ der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller Internationale Literatur (IL).1462 Die Zeitschrift war in ihrer Ausrichtung an der Komintern-Linie wesentlich dogmatischer und teilweise ein Verlautbarungsorgan sowjetischer Literaturpolitik, teilweise aber auch ein Ort eindringlicher kulturpolitischer und literaturtheoretischer Diskussion. Sie hatte ein breites, durchaus internationales Spektrum an Beiträgern und war innerhalb des gesetzten Rahmens auch ein wichtiger Publikationsort für Exillyrik: Allein 1936‒1939 erschienen dort 280 Gedichte von 49 Lyrikern, ein Fünftel davon stammte allerdings von J. R. Becher, der zeitweise auch Redakteur der deutschen Ausgabe1463 war. Der Literaturteil brachte ebenso zahlreiche Erzählwerke, häufig von sowjetischen Schriftstellern, teilweise auch von international bekannten Autoren wie Hemingway, Henri Barbusse oder André Malraux. Vorabdrucke erschienen in der Internationalen Literatur u. a. von Heinrich Manns Die Jugend des Henri Quatre; Lion Feuchtwangers Roman Exil erschien 1939 in Fortsetzungen, bevor er Ende 1939 bei Querido in Amsterdam in Buchform und 1940, kurz nach der Originalausgabe, in Übersetzung unter dem Titel Paris Gazette bei Viking Press in New York herauskam. Der Hitler-Stalin-Pakt bedeutete auch für die IL eine Zäsur, insofern sich unter den deutschsprachigen Beiträgern der Kreis auf in der Sowjetunion lebende parteilinientreue Emigranten verengte und auch die Inhalte sich in den Kriegsjahren auf Unverfängliches oder auf die Schilderung der militärischen Erfolge der Sowjetunion reduzierten.1464 Im Grunde hatte die IL, obwohl bis 1945 weiter existierend, ihre Bedeutung für das literarische Exil seit Herbst 1939 weitgehend verloren, wenngleich dort Theodor Pliviers Roman Stalingrad seit November 1943, faktisch also parallel zur Niederschrift, in Fortsetzungen abgedruckt worden ist und zu Kriegsthemen Kurzgeschichten von Willi Bredel, Adam Scharrer und Friedrich Wolf sowie Tagebuchaufzeichnungen Erich Weinerts erschienen sind. Allerdings erweiterte sich der Beiträgerkreis ab 1944 wieder, indem Artikel aus dem in Mexico City erscheinenden Freien Deutschland übernommen oder Ausschnitte aus Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt und Thomas Manns Rundfunkreden gebracht wurden.1465 Wenn im linken Spektrum des Exils, durch planmäßige Förderung und Finanzierung vor allem im kommunistischen Bereich, ein deutliches Übergewicht bei den Zeitschrif-
1461 Zahlen nach Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 121. 1462 Huß-Michel, S. 124‒128; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 377‒423; Internationale Literatur. Moskau 1931‒1945. Bibliographie einer Zeitschrift. Siehe auch Huß-Michel: Die Moskauer Zeitschriften »Internationale Literatur« und »Das Wort« während der Exil-Volksfront (1936‒1939). 1463 Die Zeitschrift erschien in vier parallelen Ausgaben in russischer, französischer, deutscher und englischer Sprache. 1464 Vgl. dazu Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 404‒414. 1465 Walter, S. 414.
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tengründungen entstanden war, so gab es doch auch Bestrebungen im bürgerlich-konservativen Lager, publizistisch dagegenzuhalten. Thomas Mann war, gemeinsam mit dem allerdings weitgehend inaktiven Konrad Falke, Herausgeber der seit Herbst 1937 im Verlag Oprecht in Zürich in drei Jahrgängen und insgesamt 18 Heften erscheinenden »Zweimonatsschrift für freie deutsche Kultur« Maß und Wert, deren Programm schon im Titel zum Ausdruck kommen sollte; Mann selbst stellte aller politisch-revolutionären Propaganda kunstautonomistische Vorstellungen vom Sieg des Schöpferischen über alle Barbarei entgegen.1466 Unter der Redaktion von Ferdinand Lion, seit Jg. 3, Heft 1 von Golo Mann und Emil Oprecht, setzten sich die politischen Beiträge u. a. mit dem Totalitarismusproblem auseinander, der relativ schmale Literaturteil brachte neben einem TeilVorabdruck von Thomas Manns Lotte in Weimar u. a. ein Kapitel aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder ein Romanfragment Hermann Brochs; im Rezensionsteil spiegelte sich einmal mehr die programmatisch antilinke Ausrichtung der Zeitschrift, die sich als Alternative zu Das Wort oder Internationale Literatur verstand. Maß und Wert sollte allerdings, schon in Rücksicht auf die behördlichen Vorschriften der Schweiz, kein reines Emigrantenorgan sein. Dass es sich bis zu einem gewissen Grade auch um eine »Verlagszeitschrift« handelte, zeigte sich in den Tendenzen der Autorenauswahl im Bereich der essayistischen Beiträge (Erich von Kahler, Hermann Rauschning, Ignazio Silone, Otto Braun) und in gewissen Korrespondenzen mit dem Programm der Oprechtschen Buchverlage, in sehr zurückgenommener Weise auch an den Rezensionen, indem hauptsächlich von Golo Mann und Alexander Moritz Frey geschriebene Besprechungen von Titeln des Europa Verlags aufgenommen wurden. Maß und Wert war die letzte große Exilzeitschrift in Westeuropa; nachdem die Auflage von 6.000 auf 2.000 (1.500 Abonnenten) absank, wurde sie – auch unter Berücksichtigung der politischen Lage – im September / Oktober 1940 eingestellt.
Politische Organe Der wichtigste Erscheinungsort für Exil-Periodika insgesamt war bis 1940 Frankreich, für das 167 unterschiedlich bedeutende Pressemedien registriert wurden, davon 137 in Paris und Umgebung.1467 Dies war der Tatsache geschuldet, dass Paris der zentrale Ort des politischen Exils war: Es erschienen dort u. a. Organe der 1933 mit ihren Führungsgremien ins Ausland geflüchteten politischen Parteien, von KPD, KPO, ISK, SAP, Neu Beginnen und (ab 1938) der Sopade, und noch weitere Blätter mit politischer, teils auch überparteilicher Zwecksetzung, entsprechend dem überaus differenzierten Kräftefeld der in Paris angesiedelten Gruppierungen. Diese Presseorgane erlangten Bedeutung haupt-
1466 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 110‒114; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 503‒539; Maß und Wert. Zürich 1937‒1940. Bibliographie einer Zeitschrift. – Eine Anschubfinanzierung wurde durch eine »reiche und literaturfreundliche Dame«, die luxemburgische Stahlmagnatenwitwe Aline Mayrisch de St. Hubert geleistet; an der Gründung beteiligt waren auch Jean Schlumberger und der Schriftsteller Joseph Breitbach als »Pariser Vertrauensmann« (Vorwort Hermsdorf, S. 5 f.). – Maß und Wert ist 1970 in Nendeln / Liechtenstein als Kraus Reprint erschienen. 1467 Nach Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 35.
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sächlich als länderübergreifende Diskussionsplattformen,1468 hatten aber manchmal auch einen Kultur- bzw. Literaturteil. Auf sozialdemokratischer Seite wurde seit Juni 1933 mit dem Neuen Vorwärts die Tradition der 1891 gegründeten Parteizeitung Vorwärts fortgesetzt; das Blatt wurde zum Schauplatz der internen ideologischen Richtungskämpfe der verschiedenen Fraktionen. Im kommunistischen Bereich gewann, ebenfalls in Fortsetzung aus der Weimarer Zeit, Die Rote Fahne (seit 1935 unter der redaktionellen Leitung von Alexander Abusch) eine spezifische Funktion als Organ, das in jenen unübersichtlichen Jahren die KP-Mitglieder, auch die Literaten unter ihnen, über die gerade gültige Parteilinie informierte. Kurzlebig und letztlich wenig bedeutend blieben die Kulturorgane politischer Splitterparteien wie die trotzkistischen Cahiers d’Europe oder die Blätter der Volksfront-Bewegung, die oft nur in maschinenschriftlich erstellter und hektographierter Form erscheinen konnten wie die von Alfred Kantorowicz redigierten Mitteilungen der deutschen Freiheitsbibliothek, die anfänglich auch literarische Themen aufnahmen, ehe sie ab Juli 1935 zum Infoblatt der deutschen Volksfront mutierten. Ebenso maschinenschriftlich vervielfältigt erschien die von Wolf Franck auf privater Basis in zwölfseitigen Heften herausgebrachte »Wochenschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur« Heute und Morgen Aujourd’hui et Demain (von September 1934 bis Oktober 1936) oder das von Paul Westheim herausgegebene Mitteilungsblatt des Deutschen Kulturkartells Freie Kunst und Literatur (1938/39) und das KP-finanzierte Nachrichtenblatt Deutsche Informationen.1469 Die Fülle kleinerer und größerer politischer Organe lässt umso deutlicher das Faktum hervortreten, dass es in Paris nie zur Gründung einer großen, leistungsfähigen Literaturzeitschrift gekommen ist. Erwähnung verdienten aber doch auch die zahlreichen kleineren Exil-Periodika, die in Summe zur Vielfalt und Lebendigkeit der publizistischen Szene beitrugen. Als willkürlich gewählte Beispiele sei auf das kurzlebige Blatt Das blaue Heft (Untertitel: »Theaterkunst – Politik – Wirtschaft«) verwiesen, das sich mit seinen 32 Seiten starken Ausgaben auf Theater-, Film- und Literaturkritiken spezialisiert hatte,1470 oder die ebenfalls kurzlebige, von Emil Szittya und Paul Ruhstrat herausgegebene Kulturzeitschrift Die Zone.1471 Der oft als »roter Medienzar« apostrophierte Willi Münzenberg organisierte, wie schon vor 1933 in Berlin, auch im Pariser Exil weite Teile der KP-Publizistik.1472 Er war an einer Reihe von Zeitschriftengründungen in Paris, Prag und in der Schweiz beteiligt, so durch finanzielle Garantiegewährung an der Entstehung des Gegen-Angriff (GA).1473 Diese in Prag sehr früh, nämlich bereits im April 1933 von Bruno Frei gegrün1468 Vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, Kap. 3: Die Politische Emigration und ihre Zeitschriften, S. 132‒197. 1469 Vgl. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 111 f. 1470 Das blaue Heft, gegründet bereits 1920 von Max Epstein, erschien am Beginn der 1930er Jahre im Bergis Verlag in Wien, im April 1933 wurde der Redaktionssitz nach Paris verlegt, wo das letzte Heft bereits am 1. Januar 1934 herauskam. Die 14‒täglich erscheinenden Hefte wurden in einer Auflage von 6.000 gedruckt (so bei Enderle-Ristori: Markt, S. 110). 1471 Erschienen bis zum 31. Juli 1934. Siehe auch Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 1472 Siehe hierzu Roussel: Zu Willi Münzenbergs verlegerischer Tätigkeit im Kontext seines Umgangs mit den Medien in der Weimarer Republik und im französischen Exil. 1473 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 26‒30. – Von der »Antifaschistischen Wochenschrift« Gegen-Angriff (1933‒1936) ist 1982 in Leipzig ein Reprint erschienen.
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dete und geleitete Wochenschrift kam in achtseitigen Heften, in hoher, zwischen 8.000 und 12.000 Exemplaren schwankender Auflage heraus, zu der von Oktober 1933 bis Januar 1935 eine von Münzenberg-Mitarbeitern für Frankreich und das Saarland in Materndruck erstellte Mantelausgabe in Paris hinzukam.1474 Der Feuilletonteil der dezidiert gegen die Goebbel’sche Propaganda gerichteten »antifaschistischen Wochenschrift« beschränkte sich auf wenige Seiten mit literarischen Kurzbeiträgen, Essays, Reportagen oder Buchbesprechungen, von Büchern Gustav Reglers, Walter Schönstedts oder Anna Seghersʼ. Als Beiträger traten neben Bruno Frei hauptsächlich kommunistische oder KP-nahe Autoren in Erscheinung, wie Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Kurt Kersten, Rudolf Leonhard, auch Hans Günther, Franz Leschnitzer, Ernst Ottwalt, Erich Weinert und Franz Carl Weiskopf.1475 Abgelöst wurde der Gegen-Angriff von der Deutschen Volkszeitung unter dem Chefredakteur Lex Breuer in Prag, ab November 1937 in Paris. Nach seinem Bruch mit der Partei schuf sich Willi Münzenberg im Herbst 1938 mit der Wochenzeitung Die Zukunft ein neues Organ.1476 Das von Oktober 1938 bis Mai 1940, ab Mai 1939 mit dem Untertitel »Organe de lʼUnion franco-allemande« erschienene, in Opposition zur KPD stehende großformatige Blatt kam in einer zwischen 8.000 und 11.000 Exemplaren schwankenden Auflage heraus und hatte ein auf zwei von insgesamt 12 Seiten beschränktes Feuilleton, das bis Ende März 1939 von Ludwig Marcuse redigiert wurde und nach dessen Ausscheiden vom Chefredakteur Werner Thormann mit übernommen wurde.1477 Unterstützt wurde er dabei hauptsächlich von KP-Dissidenten, zunächst von Arthur Koestler, danach von Hans Siemsen und Manès Sperber. Das Feuilleton brachte Ausschnitte aus Büchern und Broschüren, so etwa Kapitel aus Alfred Döblins November 1918 als Fortsetzungsroman, darüber hinaus kulturkritische Glossen, Buchbesprechungen, Anzeigen von Neuerscheinungen und Verlagsinserate. Eine Besonderheit in Münzenbergs Medienimperium stellte die 1921 auf Veranlassung Lenins gegründete Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) dar, deren Redaktion 1933 in die Tschechoslowakei verlagert wurde und von Prag aus nur noch einen sehr eingeschränkten Leserkreis erreichte; die Auflage schrumpfte von bis zu 500.000 Exemplaren in der Berliner Zeit auf 12.000.1478 Das einzige illustrierte Blatt des deutschsprachigen Exils erlangte einen bis heute fortwirkenden Nimbus durch die spektakulären Fotomontagen John Heartfields, die den Titelblättern das Gepräge gaben, wie durch die bildästhe-
1474 Krämer / Müller: Der Gegen-Angriff (Prag / Paris 1933‒36), S. 10. 1475 Zum Gegen-Angriff vgl. auch Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 108 f. 1476 Vgl. hierzu Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 67‒70; Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 128‒184. Vgl. ferner Droz, Jacques: Die Zukunft – Wochenzeitung Willi Münzenbergs (Oktober 1938 ‒ Mai 1940), S. 117‒122; sowie Langkau-Alex: Die Zukunft der Vergangenheit oder Die Zukunft der Zukunft? – Ein Reprint der Zukunft (1938‒1940) ist 1978 in Vaduz erschienen. 1477 Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 109. Für Genaueres zur Redaktionsgeschichte der Zukunft verweist Enderle-Ristori hier auf Schlie: »Alles für die Einheit«, S. 89‒102. 1478 Vgl. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 30‒32; Willmann: Geschichte der Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ) 1921‒1938.
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tischen Fotoreportagen im Innern der im Tiefdruckverfahren produzierten Hefte. In der Berichterstattung standen die politischen Ereignisse (NS-Terror, Februarkämpfe in Österreich 1934) sowie die Entwicklungen in der Sowjetunion im Vordergrund, doch gab es neben »Humor und Satire« auch eine Kinderseite, betreut von Grete Weiskopf (Alex Wedding) sowie Literarisches: Gedichte (Erich Weinert, Johannes R. Becher), Erzählungen und Fortsetzungsromane, z. B. Willi Bredels Die Prüfung. Auch Walter Schönstedts Auf der Flucht erschossen, der Aufsehen erregende erste SA-Roman, erschien hier in Fortsetzungen. Wie prägend das Thema Volksfront auf den Zeitschriftensektor einwirkte, lässt sich einmal mehr an der AIZ demonstrieren, die 1936 programmatisch umbenannt wurde in Volks-Illustrierte (VI),1479 um die Öffnung gegenüber breiteren Leserkreisen im Zeichen einer parteiübergreifenden antifaschistischen Front kenntlich zu machen. Im politischen Milieu des Exils gab es noch unzählige kleinere periodische Publikationen, herausgegeben von diversen Parteiabspaltungen oder ideologischen Splittergruppen, die einige Relevanz auch für Buchmarkt und Literaturbetrieb gewannen. So erschien zwischen Frühjahr 1938 und März 1940 in unregelmäßigen Abständen in insgesamt neun Nummern,1480 herausgegeben vom Parteiverlag Éditions Nouvelles Internationales, die Literaturzeitschrift des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK) Das Buch, die aber – obwohl die Hefte meist 50 Seiten Umfang hatten – hauptsächlich Rezensionen, Buch- und Zeitschrifteninserate sowie Bibliographien enthielt. In politischen Propagandazusammenhängen wichtig, unter Marktgesichtspunkten aber irrelevant war beispielsweise das Organ des Schutzverbands deutscher Schriftsteller im Exil Der [deutsche] Schriftsteller mit insgesamt drei Nummern 1934, 1937 und 1938.1481
Politisch-kulturelle Zeitschriften der jüdischen Massenemigration Eine Besonderheit stellt die Zeitschrift Aufbau dar, die erstmals am 1. Dezember 1934, damals noch als monatliches Vereinsblatt des »German Jewish Club« in New York erschien und im Grunde bis heute existiert, seit 2005 allerdings in Zürich als Aufbau. Das jüdische Monatsmagazin erscheint.1482 Seit 1936 eine vierzehntägliche Zeitung mit Abonnement und Inseraten, seit 1939 eine Wochenzeitung, entwickelte sich der Aufbau unter dem 1939 bis 1965 als Chefredakteur fungierenden Manfred George rasch zum Sprachrohr der jüdischen Massenemigration und fand in einer Auflage von bis zu 30.500 Exemplaren weltweite Verbreitung.1483 Der Aufbau fungierte in erster Linie als
1479 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 33‒35. 1480 Heft 1 der Zeitschrift war identisch mit der von Ernest Strauss 1938 im Selbstverlag herausgegebenen Broschüre Fünf Jahre freies deutsches Buch 1933‒1938; vgl. hierzu das Kap. 5.1 Typologie, Produktion, Kalkulation. 1481 Näheres dazu im Kap. 3 Autoren. 1482 Siehe hierzu Schrag: The World of Aufbau: Hitler’s Refugees in America. – Der Aufbau erscheint seit 2005 als Hochglanzmagazin, seit 2014 zweimonatlich. 1483 Huß-Michel, S. 73‒77. Huß-Michel macht zu der Auflagenentwicklung folgende Angaben: 500/1934, 1.000/1935, 3.000/1936, 4.000/1937, 4.000–8.000/1938, 8.000–10.000/1939, 10.000–14.000/1940, 15.000–25.000/1941, 25.000–30.500/1943, bei einem im gleichen Zeitraum von 6 auf 30 Seiten steigenden Blattumfang. – Siehe auch die ausführliche Darstellung bei Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 543‒
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Nachrichtenorgan und war als solches in der jüdischen Emigration von überragender Bedeutung, bot aber ebenso Raum für die Diskussion des jüdischen Selbstverständnisses und des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Im Aufbau, der mit Lokalteil, Frauenseite, Börsenberichten, Verbraucher- und Freizeittipps, Schachecke und erweitertem Annoncenteil fortlaufend ausgebaut wurde, wurden immer wieder auch Neuerscheinungen aus den Exilverlagen besprochen, sowohl im belletristischen wie im Sachbuchbereich. Außerdem wurden Gedichte und Erzählwerke bekannter Exilautoren, teilweise in Fortsetzungen, abgedruckt, ebenso Interviews oder Berichte über Klubabende mit Schriftstelleremigranten gebracht. Nur kurzlebig (1942/1943) war die in Palästina erschienene Zeitschrift Orient, die von Wolfgang Yourgrau herausgegeben und von Arnold Zweig unterstützt wurde.1484 Die Zeitschrift, die mit Zensur und anderen Pressionen (Brandanschläge der ultranationalistischen Haganah auf Druckereien, Versammlungssprengungen etc.) zu kämpfen hatte, erschien zeitweise mit maschinenschriftlich vervielfältigten Heften und Seiten; ihre Auflage lag meist unter 1.000.1485 Insbesondere der Versuch, im Rahmen der virulenten Integrationsproblematik die Interessen der intellektuellen »westjüdischen«, nichtzionistischen Emigration zu vertreten, begegnete so vehementem Widerstand, dass die Zeitschrift nach Zerstörung der vierten Druckerei mit dem 7. April 1943 aufgegeben werden musste. Der Kulturteil hatte sich bis dahin kritisch mit der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte (von Fichte über Richard Wagner bis Stefan George) auseinandergesetzt, des Weiteren Exillyrik und literarische sowie kultur- und zeitkritische Essays – von Arnold Zweig und Wolfgang Yourgrau, aber auch von Franz Goldstein (»Frango«), Sally Grosshut, Kathinka Küster, Manfred Vogel und Walter Zadek – gebracht. In den Buchbesprechungen wurden speziell in Palästina erschienene Bücher berücksichtigt.1486 Ein hochinteressantes Phänomen ist an entlegenem Ort, in Shanghai zu beobachten, insofern dort teils nebeneinander, teils nacheinander eine ganze Anzahl von jüdischen Tages- und Wochenzeitungen entstand.1487 Seit März 1939 erschien dort ein Acht-UhrAbendblatt, anfangs wöchentlich, seit 1940 täglich, im Werbeverlag Philipp Kohn unter der Chefredaktion von Wolfgang Fischer. Das Blatt brachte u. a. – passenderweise – Vicki Baums Roman Hotel Shanghai als Fortsetzungsroman in mehr als 270 Folgen und zeigte gelegentlich auch literarische Neuerscheinungen an wie die im Bermann-Fischer Verlag Stockholm erschienene Romanbiographie Madame Curie. Das Acht-Uhr-Abendblatt musste im August 1941 eingestellt werden. Parallel dazu und mit noch größerer
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678. Für eine Quellenedition siehe Will Schaber: Aufbau. Reconstruction. Dokumente einer Kultur im Exil. Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 77‒82; ausführlich Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 4: Exilpresse (1978), S. 679‒733. Zum Inhalt siehe: Orient. Haifa 1942‒1943. Bibliographie einer Zeitschrift. Nach Angaben Yourgraus schwankte sie zwischen 800 und 3.000 Exemplaren; siehe Orient. Haifa 1942‒1943, S. 14. Für ein weiteres Beispiel aus Südamerika siehe Schirp: Die Wochenzeitung »Seminario Israelita«. Sämtliche nachfolgend genannten Shanghaier Periodika sind über »Exilpresse digital« online zugänglich; siehe dort auch unter »weiterführende Informationen«. Zusätzliche Angaben zu den einzelnen Gazetten bei Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945.
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Ausdauer kam seit 5. Mai 1939 das Shanghai Jewish Chronicle heraus, zunächst wöchentlich, ab 9. Juni 1939 als Tageszeitung. Das Chronicle bestand bis Ende 1945 und fand mit Anfang 1946 eine Fortsetzung mit dem Shanghai Echo (»Tägliches Nachrichtenblatt. Daily Newspaper«), weiterhin unter der Herausgeberschaft und Chefredaktion von Ossi Lewin. Das Shanghai Echo wurde bis September 1947 fortgeführt. Daneben gab es noch einige Wochenzeitungen wie The Jewish Voice of the far East / Jüdisches Nachrichtenblatt, von 1940 bis 1946 von Philipp Kohn herausgegeben und redigiert. Im Jahr 1939, genauer vom 14. September 1939 bis zum 29. Dezember 1939, erschien auch ein Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde Shanghai und 1940 eine – kurzlebige – Wochenschrift Die Tribüne mit ebenfalls jüdischem Gepräge, herausgegeben von der Centurion Printing mit den verantwortlichen Redakteuren Kurt Lewin und Heinz Petzall. Bedeutsam war auch die Initiative von Albert (bis 1938: Adolf) Storfer* (1888 Botoschani, Siebenbürgen – 1944 Melbourne), der in Wien als Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlags u. a. die Gesammelten Schriften Sigmund Freuds, aber auch drei Zeitschriften der psychoanalytischen Bewegung herausgebracht hatte.1488 Nach dem »Anschluss« auf verschlungenen Wegen ins fernöstliche Exil entkommen, erreichte er Shanghai am 31. Dezember 1938; bereits am 1. Mai 1939 erschien die erste Nummer der von ihm begründeten Zeitschrift Gelbe Post. Ostasiatische illustrierte Halbmonatsschrift.1489 Die aus privaten wie finanziellen Gründen im September 1940 eingestellte Zeitschrift setzte auf eine bemerkenswerte Themenmischung: es finden sich in ihr neben Reportagen Aufsätze zu asiatischer Kultur ebenso wie zu europäischer Psychoanalyse und Linguistik.
Wissenschaftliche Zeitschriften Wissenschaftliche Zeitschriften sind im deutschsprachigen Exil 1933‒1945 nur in geringem Maße zustande gekommen. Ein positives Beispiel gibt die von Max Horkheimer herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung, die 1933‒1939 im Pariser Verlag Felix Alcan als Organ des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung erschien; seit Jahrgang 8 1939/1940, Heft 3, wurde sie unter dem Titel Studies in Philosophy and Social Science bis 1941 in New York am Institute of Social Research fortgeführt.1490 Immerhin brachte sie neben den Arbeiten der Mitglieder des Instituts ausführliche Besprechungen zu Büchern aus den Forschungsgebieten Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geschichte und Ökonomie und trug so zur Bekanntmachung auch von in diese Themenbereiche fallenden Exilpublikationen bei.1491 Die von der Freien deutschen 1488 Siehe dazu Hall: The Fate of the Internationaler Psychoanalytischer Verlag; Marinelli: Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags; Scholz-Strasser: Adolf Joseph Storfer: Journalist, Redakteur, Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlags 1925‒1932; Windgätter: »Zu den Akten«. Verlags- und Wissenschaftsstrategien der frühen Wiener Psychoanalyse (1919‒1938). 1489 Ein auszugsweiser Reprint der Gelben Post erschien 1999 in Wien. 1490 Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils 1933‒1945, S. 209. 1491 Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 109 f.; vgl. auch die Darstellung von Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung. – Die Jahrgangszählung wurde seit dem Gründungsjahr 1932 in Frankfurt bis 1941 in New York beibehalten. Die Zeitschrift für Sozialforschung ist auch als fotomechanischer Nachdruck erschienen (München: Kösel 1970; dtv reprint 1980).
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Hochschule in Paris herausgegebene Zeitschrift für Freie deutsche Forschung gewann in dieser Hinsicht, trotz des Abdrucks fundierter Aufsätze von prominenten Beiträgern wie Albert Einstein, Alfred Stern, Hugo Sinzheimer, Siegfried Marck, Hans Mühlestein, Julius E. Lips oder Wolfgang Hallgarten, keine nachhaltige Bedeutung, da von ihr im Verlag Science et Litterature 1938/1939 insgesamt nur drei Hefte erschienen.1492
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Literarische Agenturen
Literaturagenten: Schlüsselfiguren auf den Buchmärkten des Exils Ein spezifisches Phänomen des Exils zeigt sich in der enorm gestiegenen Bedeutung der Literarischen Agenturen. Zwar existierte der Beruf des Literaturagenten schon seit geraumer Zeit;1493 die erste Literarische Agentur überhaupt wurde 1875 in London von A. P. Watt gegründet. Das Agenturwesen hat sich nachfolgend besonders in den USA ausgebreitet und in der Zwischenkriegszeit einen Schub erhalten.1494 In Deutschland kannte man zwar schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Typus der Manuskriptvermittlungsagentur; der klassische Typus des Literarischen Agenten, der bestimmte Autoren vertraglich an sich band und deren Rechte gegenüber Buchverlagen vertrat, blieb vorerst jedoch eine Domäne des englischsprachigen Raumes.1495 Sehr wohl gab es aber in Deutschland und Österreich Agenten, die in der Welt von Film und Theater mit Rechten handelten und dabei naturgemäß auch mit der Verwertung literarischer Werkrechte befasst waren. Daher gab es auf diesem Feld eine Anzahl von Emigranten, die bereits als erfahrene Agenten ins Exil gegangen sind und in ihren Gastländern, besonders in den USA, meist rasch in einflussreiche Stellungen aufgestiegen sind. Ohnehin hat sich speziell im US-amerikanischen Exil das Betätigungsfeld auch für die eigentlichen Literaturagenten immer weiter ausgedehnt; die Bemühungen um die Verwertung literarischer Stoffe durften sich nicht auf den Buchverlag beschränken, sondern mussten Film und Theater mit einbeziehen – Bereiche, die ohne die Dienste von Agenten für Autoren überhaupt nicht zugänglich waren.
1492 Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933‒1945, Bd. 2, S. 227 f. – Eine online-Version ist über das Archiv des Leo Baeck Institutes, New York, abrufbar (https://archive.org/stream/ zeitschriftfrfre1119frei#page/n3/mode/2up). Zum Verlag Science et Litterature siehe das Kap. 5.2.4 Wissenschafts- Fach- und Reprintverlage. 1493 Näheres bei Thompson: The Rise of the Literary Agent. 1494 »During the interwar period, many new publishing firms were founded, and the trade embraced profitable relationships with other industries in the fields of entertainment and information, including theater, radio, magazines, and films, a phenomenon that enhanced the role of the literary agent as an instrument for negotiating the complexities of the new opportunities.« (Hench: Books as Weapons, S. 11). 1495 Zum Thema allgemein siehe Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb?, mit einer Skizze zur Geschichte der Literarischen Agenturen in der Einleitung und weiterführenden Literaturhinweisen im Anhang. Im Band enthalten ist der im Folgenden mehrfach herangezogene Beitrag von Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration 1933‒1945.
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Der ständig wachsende Bedarf an solchen Vermittlungstätigkeiten verlangte geradezu nach Neuzugängen in dieses Metier. Hier schlug die Stunde jener Emigranten, die – bis dahin meist selbst als Schriftsteller tätig – im Exil mit dem Agenturwesen in Kontakt kamen und begriffen, dass sich ihnen hier die Chance bot, aus der praktischen Anwendung ihrer guten Sprach-, Literatur- und spezifischen europäischen Marktkenntnisse, ev. auch ihrer guten Kontakte innerhalb der Kollegenschaft, einen Beruf zu machen, der ihnen den Lebensunterhalt sichern konnte. Vom Schicksal zwischen die Kulturen gestellt, waren sie für literarische Vermittlungsdienste geradezu prädestiniert. All jene, die erst in der Emigration zum Beruf des Literaturagenten gefunden haben, bildeten eine zweite, sehr beachtliche Gruppe, wobei noch unterschieden werden kann zwischen jenen, die sich in den 1930er und 1940er Jahren auf die Betreuung von Exilschriftstellern spezialisiert haben, und jenen, die besonders nach 1945 das Literarische Agenturwesen zu einem »global business« umgeformt haben, wie das besonders die in Zürich angesiedelten Agenturen für sich in Anspruch nehmen dürfen. Eine weitere Untergruppe bilden die Agenten und Agentinnen der zweiten Exilgeneration, deren Tätigkeit oft noch bis in den Beginn des 21. Jahrhunderts hineinreicht. Zunächst aber richtet sich der Blick auf Schriftsteller, die sich unter den besonderen Bedingungen des Exils dazu entschlossen haben oder entschließen mussten, die Dienste von Agenten in Anspruch zu nehmen. In der Bedrängnis, in der sich viele von ihnen nach ihrer Flucht und speziell nach ihrer Weiterflucht nach Übersee befunden haben, waren sie darauf angewiesen, durch Verwertung ihrer Autorenrechte materielle Überlebensgrundlagen zu schaffen. Dies konnte ihnen, gestrandet in Mexiko oder anderen Ländern fernab der großen Literaturmärkte, selten aus eigener Kraft gelingen.1496 Zwangsläufig avancierten Literaturagenten – amerikanische, britische oder in diesem Bereich tätige Mitemigranten aus Deutschland oder Österreich – jetzt zu Schlüsselfiguren des Literaturbetriebs, denn zumal nach dem kriegsbedingten Ende der kontinentaleuropäischen Exilverlage konnten sich die Autoren immer weniger selbst die notwendigen Verbindungen verschaffen.1497 Die Autoren waren nicht nur heimatvertrieben, sondern auch verlegerisch unbehaust – wenn sich ein Fritz Landshoff oder Walter Landauer bis 1939, durchaus im Verlagsinteresse, noch für den Verkauf von Rechten in andere Länder eingesetzt hatten, so war auch diese verlegerische Unterstützung weggefallen. Allerdings: Die Erwartungen, die seitens der von Existenzängsten befallenen Schriftsteller auf den Agenten ruhten, waren vielfach zu hoch; dies führte zu Konflikten und ungerechten Beurteilungen. In dieser schwierigen Situation bewährten sich einige Agentenpersönlichkeiten wie etwa Barthold Fles, der viele Autoren an die ihnen noch wenig geläufige Praxis der agenturgesteuerten Verwertungspraxis heranführte.
1496 Als ein Beispiel von vielen sei Paul Zech erwähnt, der in Buenos Aires mangels verlegerischer Verbindungen seine Bücher teilweise im Selbstverlag herausbrachte und sich konsequenterweise in den USA von einem Agenten vertreten ließ, von Andrew Kertesz, der Zechs Roman Deutschland, dein Tänzer ist der Tod an die American Guild for Cultural Freedom vermittelte. Vgl. Stefan Zweig – Paul Zech. Briefe 1910‒1942, S. 149, 296. 1497 Das galt auch für jene Autoren, die in den USA »lecture-tours« unternahmen; siehe zu diesem Thema das Kap. 3 Autoren.
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Exilschriftsteller und ihre Einstellung zum Agenturwesen In den Jahren des Exils nahm der Bedeutungsgewinn von Agenturen exponentiell zu. Wie sich in diesem Zeitraum die Einstellung der Autoren gegenüber solchen Dienstleistungen geändert hat, lässt sich schon daran beobachten, dass die Namen von Agenten im Briefwechsel von Autoren untereinander in jenen Jahren eine zunehmend häufigere Nennung erfahren und vermehrt Gegenstand von gegenseitigen Tipps, von positiven oder negativen Erfahrungsberichten werden. Ein anschauliches Beispiel liefert die Korrespondenz zwischen Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig.1498 Der zuerst in Südfrankreich, danach in Kalifornien lebende, auch im Exil erfolgreiche Feuchtwanger und der im damals zivilisatorisch unterentwickelten Palästina ein bescheidenes Leben fristende Zweig kannten einander bereits seit 1922. Sie waren ein ungleiches schriftstellerisches Freundespaar, aber gerade deshalb ist es so aufschlussreich, wenn der vom literarischen Geschehen fast völlig isolierte und geschäftlich nicht sonderlich bewanderte Zweig sich an den als Schriftsteller höchst professionell agierenden Feuchtwanger wendet, um Rat und Hilfe zu erbitten, die dieser auch kollegial gewährt. Feuchtwanger selbst rückt für Zweig immer wieder in die Position eines Agenten ein, indem er konkrete Anstrengungen unternimmt, dessen Manuskripte in englischen und amerikanischen Verlagen unterzubringen. Der Briefwechsel stellt eine anschauliche Quelle zum literarischen Leben im Exil dar, zumal auch das Thema Literaturagenten nicht ausgespart bleibt. Von 1934 stammen Äußerungen von Feuchtwanger, die noch von Bedenken und Distanz zeugen. Er schreibt am 5. Juni dieses Jahres aus Sanary-surMer an Zweig: Herr Alexander war hier. Er hat für Bruno Frank einen recht guten englischen Vertrag zuwege gebracht, aber Franks amerikanische Angelegenheiten reichlich verwirrt. Den Mann, mit dem er in Amerika zusammenarbeitet, glaube ich zu kennen; er gefällt mir gar nicht. (Aber das bleibt unter uns). Es ist übrigens der gleiche Mann, der die Interessen des Drei Masken Verlags in Amerika wahrnimmt.1499 Feuchtwanger war damals offenbar nicht rundweg überzeugt von den positiven Effekten der Agententätigkeit. Als einen Nachteil sah er die für den Autor nicht immer überblickbare Situation an. Am 11. Oktober 1935 schrieb er an Zweig: Meine verlegerischen Dinge sehen nicht übermäßig befriedigend aus. Hutchinson zahlt pünktlich, aber mein Verkehr mit ihm geht über den Agenten, so daß ich faktisch keine Ahnung habe, was mit meinen Büchern los ist […]. Was Ihre englischen Verlagsangelegenheiten betrifft, so weiß ich nicht, ob ich Ihnen zuraten soll, mit Agenten zu arbeiten. Auf die Frage, ob man den Römern bei der Verzollung
1498 Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel 1933‒1958. 1499 Gemeint ist Elias Alexander, der für die Agentur European Books Ltd. in London tätig war; er hat Franks Cervantes-Roman 1934 bei Cassell und 1935 in New York bei Viking Press untergebracht. Bei dem Mann, mit dem er in den USA zusammenarbeitete, handelte sich um den (unseriösen) Agenten Jacques Chambrun. Zu E. Alexander s. weiter unten.
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5 Ve r l ag s bu c hh a n de l sagen soll, ob man Verzollbares bei sich hat oder nicht, antwortet der Talmud: ›Weh dem, der ja sagt, weh dem, der nein sagt.‹1500
Tage später warnte er Zweig: »Ich würde keinem Agenten einen längeren Vertrag geben. Schon eine Bindung auf ein Jahr scheint mir viel zu lang.« Auf längere Sicht gesehen kam aber Zweig nicht umhin, seine Geschäfte in größerem Umfang einer Agentur anzuvertrauen. Im Mai 1939 schloss er mit James B. Pinker in London ab, kriegsbedingt blieb er aber immer wieder längere Zeit ohne jede Nachricht, und was er dann erfuhr, begeisterte ihn nicht immer. Am 6. Februar 1944 schrieb er an Feuchtwanger, um seinen Vertrag mit dem Agenten müsse sich jetzt in seinem Auftrag der Schriftstellerkollege Robert Neumann kümmern, »weil ja, wie Sie wissen, der Londoner Pinker seinem New Yorker Bruder auch im Unfug des Agententums nichts nachgeben wollte. Aber ein Vertrag bleibt ein Vertrag […].«1501 Arnold Zweig wurde damals in den USA von dem Agentenehepaar Ruth und Maxwell Aleys vertreten, die vom Autor gelegentlich als tüchtig, gelegentlich auch als Hemmschuh empfunden wurden. Denn natürlich durfte er den Verlagen nicht seinerseits die Rechte anbieten, mit deren Vertretung Agenten beauftragt waren. Wenn aber nun die Agenten nicht zeitnah einen Abschluss melden konnten, entstand der Eindruck der Untätigkeit, entstand Misstrauen, wobei die Möglichkeiten für Abschlüsse von den Autoren regelmäßig überschätzt wurden. Feuchtwanger selbst hatte inzwischen schon bessere Erfahrungen gemacht und daher eine positivere Einstellung gewonnen. Als er sich 1944 erbötig machte, Zweigs Roman Das Beil von Wandsbek entweder an Landshoff / Fischer oder an den schwedischen Ljus-Verlag (Bestandteil des Esselte-Konzerns) zu verkaufen (in welchem sich der emigrierte Lektor Max Tau als Verleger betätigte), fügte er hinzu: »Die Abschlüsse lasse ich machen durch den Agenten Klement, der sich in der Filmsache und in den Abschlüssen über die europäischen Rechte meiner Bücher sehr bewährt hat.«1502 Otto Klement hat außer Feuchtwanger auch noch Thomas und Heinrich Mann sowie Erich Maria Remarque vertreten.1503 1947 sieht Zweig das Agenturproblem schon deutlich anders, wie sein Brief an Feuchtwanger vom 23. März verrät: Das Wichtigste ist aber, daß mich Robert Neumann, der agentenscheue, mit Dr. Jan van Loewen in Verbindung gebracht hat, den ich nach einigen Briefen zum Generalagenten mache, da ich ja meinen Sitz in absehbarer Zeit von hier kaum nach U[nited] K[ingdom] verlegen dürfte. Erst als ich diesen gescheiten und, wie es scheint, versierten Mann meine gesamten Verlags- und Vertragsverhältnisse Punkt für Punkt darlegte, erschrak ich selbst über den Zustand dieser wichtigsten Basis eines Schriftstellerlebens, hervorgerufen durch Augen, Unfall und Abgeschnittenheit in Palästina. Ich weiß noch nicht, was er mir vorschlagen wird, aber ich gebe ihm plein
1500 Brief Feuchtwanger an Zweig, 11. Oktober 1935, in: Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel 1933‒1958, Bd. 1, S. 97 f. 1501 Feuchtwanger an Zweig, 6. Februar 1944, in: Briefwechsel, Bd. 1, S. 285. 1502 Feuchtwanger an Zweig, 29. April 1944, in: Briefwechsel, Bd. 1, S. 297. 1503 Zu Otto Klement siehe weiter unten.
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pouvoir auch zur Verhandlung mit Ljus, dessen Verlagsdirektor Dr. Berg im April nach London kommen wird.1504 Feuchtwangers agentenskeptische Haltung und vor allem Zweigs »Lernprozess« können als paradigmatisch angesehen werden; viele ihrer Schriftstellerkollegen und -kolleginnen mussten sich erst daran gewöhnen, nicht mehr direkt mit den Verlagen zu verkehren und Verträge auszuhandeln, sondern dies versierten Mittelsmännern zu überlassen.
Barthold Fles und sein Einsatz für die Exilschriftstellerschaft Namentlich in den USA konnten sich manche Exilschriftsteller (keineswegs alle) nur mit Mühe an die aus ihrer Sicht hyperkommerzialisierten Formen des amerikanischen Buchmarktes gewöhnen, zumal hierzu auch ungewohnte Praktiken gehörten wie z. B. starke Eingriffe des Verlags in das Manuskript, um es »marktgängiger« zu machen. Auch waren die Schriftsteller mit den spezifischen Erwartungen und Vorlieben des USamerikanischen Publikums nicht genügend vertraut. Die andersartige Buchkultur erwies sich als ein Problem, das genauso groß war wie das Sprachproblem.1505 Alle diese Erfahrungen trugen dazu bei, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Literaturagenten wachsen zu lassen. Es gab dabei auch Helfer. Einen beträchtlichen Anteil daran, dass sich die exilierten deutschen Schriftsteller mit dem Agenturgeschäft zunehmend anfreunden konnten, hatte Barthold Fles, ein Niederländer, der selbst kein Hitler-Emigrant, aber mit der deutschsprachigen Emigration aufs Engste verbunden war. Seine Persönlichkeit und seine Arbeit sind gut dokumentiert, v. a. durch Publikationen von Madeleine Rietra, die Fles noch persönlich kennengelernt hat und seinen Nachlass bearbeiten und teilweise edieren konnte, insbesondere was Flesʼ Kontakte zu Heinrich Mann und Joseph Roth betrifft.1506 Von seiner beruflichen Laufbahn her hatte Barthold Fles (1902 Amsterdam – 1989 Laren, Niederlande)1507 beste Voraussetzungen für ein Agieren in der deutschen Emigrantenszene: nach einem Volontariat in der Importabteilung des Verlags Allert de Lange und einer Ausbildung zum Buchhändler in London und Leipzig war er 1923 in die USA
1504 Zweig an Feuchtwanger, 23. März 1947, in: Briefwechsel, Bd. 1, S. 424. Das Buch kam zuerst in deutscher Sprache im Neuen Verlag von Max Tau heraus, der von Ljus finanziert wurde. 1505 Siehe dazu in Kap. 3 Autoren den Abschnitt über Lion Feuchtwanger: Arbeitsprobleme des Schriftstellers. 1506 Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles 1942‒1949; Rietra: »Muss man dann immer postwendend Geld senden, um überhaupt mit ihnen verkehren zu können?« Joseph Roth und Barthold Fles in Briefen; Rietra: Heinrich Mann / Barthold Fles: Autor /Agent. 1507 Deutsches Exilarchiv / DNB: Teilnachlass Barthold Fles, EB 89/21 (Briefe); weitere Bestände mit Briefen von und an Fles im Heinrich Mann-Archiv der Akademie der Künste zu Berlin und im Lion Feuchtwanger-Archiv der University of Southern California; Cazden: German Exile Literature, S. 147, 197. Vgl. ferner Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1423, 1444; Rietra: Der New Yorker Literaturagent Barthold Fles als Vermittler zwischen der alten und neuen Welt (1933‒1945); Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration, bes. S. 109 f.; Joseph Roth: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit, u. a. S. 238 f.
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gegangen mit dem Ziel, eine Anstellung als Verlagslektor zu finden. Er wurde freier Mitarbeiter bei New Yorker Verlagen wie Harper & Bros., Appleton & Co. oder Smith & Haas. 1933 kehrte er im Auftrag von Smith & Haas als Literaturscout nach Europa zurück, um Lizenzrechte zu erwerben (u. a. von Jakob Wassermann und Ignazio Silone). Aufgrund seiner guten Kontakte wagte Fles 1933 den Schritt in die Selbständigkeit, eröffnete in der Fifth Avenue in New York eine eigene Agentur und erhielt von Allert de Lange und der Uitgeversmaatschappij von Emanuel Querido die Alleinvertretung der deutschen Abteilung für Exilliteratur. 1935 besuchte Fles im Auftrag des Bostoner Verlagshauses Little, Brown & Comp. den XV. Internationalen PEN-Kongress in Paris und nahm als Mitglied der niederländischen Delegation am Zweiten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Spanien teil. Auch dort lernte er zahlreiche prominente Vertreter des deutschsprachigen Exils kennen. 1936 heiratete er die ein Jahr zuvor emigrierte Ruth Grünwald, mit der zusammen er bis zur Scheidung 1958 die Agentur gemeinsam führte. Fles wurde damals zum wichtigsten Vermittler der von ihm betreuten Schriftsteller für das amerikanische Lesepublikum: er vertrat Ödön von Horvath, Irmgard Keun, Heinrich Mann, Thomas Mann, Joseph Roth, auch Bruno Frank, Leo Lania, Klaus und Erika Mann, Robert Neumann, Leo Perutz, Theodor Plivier, Arnold Zweig, nicht zuletzt Hans Natonek, der durch Heirat von Ruth Grünwalds Mutter der Schwiegervater Flesʼ wurde. Seiner Funktion entsprechend regte er viele Autoren zum Schreiben an, wieder andere hat er übersetzt, so Heinrich Mann, Ernst Krenek, Hans Natonek und Felix Salten, und auch als Verleger hat er sich betätigt.1508 Insgesamt gelang es ihm bis 1942, über 60 von Emigranten verfasste Titel bei Verlagen unterzubringen. Madeleine Rietra charakterisiert die Leistung Flesʼ in dieser Weise: Von den amerikanischen Agenten hat Barthold Fles sich zweifellos am intensivsten für das Schicksal der Emigranten engagiert. Dies befremdet nicht, war er doch, selbst Jude und Sozialist, mit seinen guten Sprachkenntnissen und hervorragenden Kenntnissen des europäischen und amerikanischen Buchmarktes der richtige Mann, die Interessen der deutschen Schriftsteller zu vertreten. Für Neuankömmlinge organisierte Fles literarische Abende mit Referaten von bekannten Verlegern, Rezensenten und Literaten zur Buchkultur in Amerika. Solche Veranstaltungen, die monatlich stattfanden, waren kein Luxus. Die meisten Emigranten waren mit Vorstellungen angereist, die nicht im geringsten der Wirklichkeit entsprachen. So meinten viele von ihnen, daß das geistige Leben Europas in Amerika wenigstens ebenso bekannt sei und in seinen Leistungen verbreitet, wie das umgekehrt der Fall gewesen sei,
1508 Die mit dem Impressum Barthold Fles gedruckten Gedichtbände der deutschen Exilschriftsteller Hans Sahl (Die hellen Nächte, 1942), Berthold Viertel (Fürchte dich nicht!, 1941) und Max Herrmann-Neiße (Letzte Gedichte; Mir bleibt ein Lied, beide 1942) können allerdings als im Selbstverlag erschienen gelten, insofern sie von den Autoren selbst oder von deren Freunden (mit)finanziert wurden. Rietra berichtet, dass Fles gerne auch Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil (später erschienen bei Kurt Wolffs Pantheon Books in New York) verlegt hätte, zu seinem lebenslangen Bedauern aber die Mittel dazu nicht hatte auftreiben können (Rietra: Heinrich Mann / Barthold Fles, S. 157).
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und es deshalb einfach sein müßte, materielle Sicherheit zu erlangen. Sie erfuhren das Gegenteil.1509 Fles war auch organisatorisch und publizistisch um das literarische Exil bemüht: er war Mitbegründer des europäischen PEN-Klubs in den USA und betätigte sich als Artikelschreiber und Rezensent u. a. für The New York Times Book Review, The Forum, The Nation, The New Republic, San Francisco Chronicle, auch für Fachblätter wie Publishers Weekly, The Screenwriter, Story, The Writer,1510 nicht zuletzt für Exilblätter wie Das Neue Tagebuch oder den Aufbau (N.Y.). Die Idee zum Preisausschreiben der AmGuild 1511 stammte von ihm. Nach Kriegsende verlor Fles’ Agentur die spezielle Bedeutung für die deutsche Exilliteratur; er führte sein Büro mit hauptsächlich amerikanischen und englischen Klienten bis 1985 weiter, und kehrte dann in die Niederlande zurück, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Fles war bei den Exilautoren mit seinen Bemühungen nicht immer auf Dankbarkeit und Kooperationsbereitschaft gestoßen, wie etwa das Beispiel Heinrich Manns veranschaulicht. H. Mann war nach seiner Ankunft in New York am 13. Oktober 1940 nach Kalifornien weitergereist und war dort durch einen einjährigen Vertrag mit Warner Brothers zunächst ausreichend versorgt. Nach Auslaufen des Vertrags begannen die Schwierigkeiten: Verhandlungen mit Knopf blieben ergebnislos, nur von El Libro Libre und dem Freien Deutschland in Mexiko kamen einige Zahlungen. Außerdem gab es monatlich einen Scheck von Bruder Thomas (über den European Film Fund). Es war dann Thomas Mann, der sich für seinen Bruder nach einem Agenten umsah ‒ Barthold Fles, von dem er sich schon mehrfach hatte beraten lassen. Fles war Heinrich Mann wohl bereits auf einem der Schriftstellerkongresse in Europa begegnet, 1937 hatte er ihn um einen Beitrag für die Anthologie The German Exile Speaks gebeten (die dann nicht zustande kam).1512 Auf die Intervention Thomas Manns hin hat Fles viele Verhandlungen für ihn geführt; er war daher enttäuscht, dass ihn dieser nicht exklusiv als Agenten engagieren wollte. »Autorisiert wurde Fles schließlich nur für die Romane bei Creative Age Press und das autobiographische Werk Ein Zeitalter wird besichtigt bei Dutton.«1513 Dutton stoppte aber die Produktion der amerikanischen Ausgabe des Zeitalters, woraufhin Heinrich Mann keine weiteren Ausgaben seiner Werke in Amerika wünschte. Tatsächlich war er kaum zu Konzessionen an das Gastland bereit und büßte dadurch viel an Wirkungsmöglichkeiten ein; immerhin zwei seiner älteren Romane waren in englischer Übersetzung erschienen. Wenn er sich in einem Brief vom 3. Februar 1949 an Wolfgang Bartsch beklagte, er sei in Amerika weitgehend unbekannt geblieben, so war dies weder völlig zutreffend noch war er an dem für ihn unbefriedigenden Resultat ganz unschuldig: Immer wieder hatte er Ratschläge von Fles
1509 Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles, S. 157. 1510 Barthold Fles: The Literary Agent. In: The Writer 64 (1951), Nr. 10, S. 319‒323, und Nr. 11, S. 361‒365, abgedruckt in Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles 1942‒ 1949, S. 181‒199. 1511 Siehe dazu den Abschnitt zu den Literarischen Preisausschreiben im Kap. 3 Autoren. 1512 Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles, S. 158. 1513 Heinrich Mann: Briefwechsel mit Barthold Fles, S. 161.
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missachtet und ohne dessen Wissen noch weitere Agenten hinzugezogen (Alfredo Cahn, Franz Horch und Otto Klement) bzw. direkt mit Verlagen verhandelt.
Elias Alexanders Londoner Agentur European Books Ltd. In London vertrat die Agentur von Elias Alexander, der selbst kein Hitler-Emigrant war, eine ganze Reihe exilierter Autoren und suchte deren Werke auf dem englischsprachigen Buchmarkt zu platzieren, unter ihnen Robert Neumann, Joseph Roth, Bruno Frank, Bertolt Brecht und Gina Kaus.1514 Brecht ließ sich von Alexander hinsichtlich der Publikation seines Dreigroschenromans beraten und wurde von ihm auch an Allert de Lange vermittelt; den definitiven Vertrag mit dem Verlag handelte Brecht aber letztlich selbst aus.1515 Alexanders Tätigkeit scheint gerade im Falle von Gina Kaus aufgrund von Eigenmächtigkeiten nicht immer konfliktfrei verlaufen zu sein,1516 er dürfte aber für die Autorin doch auch Beachtliches geleistet haben. Seine Agentur hatte aufgrund des großen Erfolgs der Romane Die Überfahrt und Morgen um Neun die Vertretung Kausʼ gegenüber ausländischen Verlagen übernommen und vermittelte in der Folge zahlreiche Lizenzausgaben in verschiedene Länder, auch für die nachfolgend in Exilverlagen erschienenen Werke der Autorin. Um das eindrucksvollste Beispiel zu nennen: Die 1935 bei Allert de Lange publizierte Romanbiographie Katharina die Große erschien als Katherine La Grande 1936 bei Grasset, aber noch im gleichen Jahr auch in einem britischen (Cassell), amerikanischen (Viking, auch in The Literary Guild in New York), dänischen (Jespersen), norwegischen (Aschehoug) und slowenischen (Založba) Verlag; zudem 1936 in portugiesischer (Livraria do Globo), 1943 in isländischer (Leiftur) und 1944 in finnischer Übersetzung (Tammi). Eine solche internationale Rechteverwertung kann nicht von einem Autor bzw. einer Autorin selbst, sondern nur von einer Agentur geleistet werden, allenfalls von einer gut ausgebauten Rechteabteilung eines Verlages, die aber gerade im Falle der Exilverlage nicht vorhanden war. Auch bei anderen Werken Gina Kausʼ war die internationale Resonanz dank Alexanders Bemühungen beachtlich: Die 1933 bei Allert de Lange veröffentlichten Schwestern Kleh kamen noch 1933/1934 unter dem Titel Dark Angel in Großbritannien bei Cassell und in den USA / Kanada bei Macmillan heraus; in Frankreich erschienen sie als Les Soeurs Kleh 1937 zunächst als Fortsetzungsroman in der Nouvelle Revue Francaise und erreichten als Buchausgabe im selben Jahr bei Gallimard innerhalb weniger Monate vier Auflagen. Der 1932 in München erschienene Roman Die Überfahrt war schon 1934 als The Luxury Liner bei Macmillan erschienen und kam 1937 bei Allert de Lange unter dem geänderten Titel Luxusdampfer. Roman einer Überfahrt noch einmal in deutscher Sprache heraus und erlebte danach Übersetzungen ins Französische (Paquebot de Luxe, Édition du Siècle 1935) sowie ins Dänische (Gyldendal 1942). Auch andere, ältere und neuere Werke wie Mor-
1514 Vgl. Schoenberner / Kesten: Briefwechsel im Exil 1933‒1945, S. 296. – Siehe auch die Firmenakte im Bestand Börsenverein im Sächsischen Staatsarchiv, F 02486, 1934‒1941. 1515 Siehe Brecht-Handbuch: Bd. 3: Prosa, Filme, Drehbücher, hrsg. von Jan Knopf, S. 192; Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). 1516 Vgl. Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch‒deutschen Beziehungsgeflecht, S. 36 (Beschwerdebrief des Verlags Allert de Lange vom 27. Januar 1934).
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gen um Neun (1936 bei Gallimard u. d. T. Demain neuf heures), Die Verliebten (zuerst 1928; u. a. auch London 1936, New York 1937) oder Der Teufel nebenan (Amsterdam 1940, aber im gleichen Jahr auch in englischer und schwedischer Übersetzung, Melanie, New York: Modern Age Books sowie Stockholm: Skoglund) fanden internationale Verbreitung.1517 Selbst wenn nicht in allen Fällen die Tantiemen die Erwartungen erfüllten: Mit einer so effektiven Betreuung durch eine Agentur konnten Autoren auch im Exil in materieller Hinsicht gut zurechtkommen. So bat der österreichische Autor Paul Frischauer, Verfasser zahlreicher historischer Romane und bereits 1934 ins Exil nach Großbritannien (später Brasilien) gegangen, schon 1933 seinen Verleger Paul Zsolnay, sich mit European Books Ltd. in Verbindung zu setzen (die Zsolnays Agentur für den englischen Markt war), um dieser eine Option für seinen erst in Arbeit befindlichen GaribaldiRoman zu gewähren; Alexander hatte zuvor brieflich Kontakt mit Frischauer aufgenommen und ihm Erfolg zugesichert, wenn das neue Buch »an die richtigen Auslandsverleger komme«.1518 Anfang 1934 gelang es Alexander, die amerikanischen Rechte an Frischauers Prinz Eugen-Roman um 750 $ dem New Yorker Verlag Morrow & Comp. zu verkaufen; im selben Jahr erschien der Roman auch bei der Éditions Attinger in Paris und bei Bonnier in Stockholm.
Die Maxim Lieber Literary Agency und Anna Seghers Ein bemerkenswertes Beispiel für den Lernprozess, dem die Autoren durch die beruflichen Erfahrungen im Exil unterlagen, lieferte auch Anna Seghers. Als KP-Mitglied war sie nicht unbedingt prädestiniert für eine Zusammenarbeit mit Literaturagenten, deren Hauptaufgabe ja darin lag und liegt, in gut kapitalistischer Manier für ihre Klienten eine »Profitmaximierung« aus der Rechteverwertung zu erzielen. Tatsächlich aber hat sie sich zeitweise gleich von zwei Literaturagenten vertreten lassen, nach 1945 in Paris von Bronislaw Buber (der auch als Übersetzer tätig war), schon seit Beginn der 1940er Jahre aber von dem in New York mit seiner Literary Agency in der Fifth Avenue residierenden Maxim Lieber.1519 Lieber (1897 Warschau – 1993 East Hartford, Connecticut), der schon als Kind 1907 in die USA gekommen war, zählte in den 1930er und 1940er Jahren einige renommierte Autoren zu seinen Klienten, darunter Nathan Asch, Erskine Caldwell, John Cheever, Carson McCullers u. a. m. Nach 1933 unterhielt er auch Kontakte zu deutschsprachigen Exilschriftstellern: Mit F. C. Weiskopf war er befreundet, und Weiskopf war es auch, der für Lieber den Kontakt zu Anna Seghers und Bodo Uhse hergestellt hat.1520 Die auf den ersten Blick verwunderlich wirkende Verbindung gerade zu diesen Autoren findet ihre Erklärung nicht zuletzt darin, dass Lieber ein »Agent« auch in einem anderen Wortsinne gewesen ist, nämlich als Spion für die Sowjetunion.
1517 Vgl. dazu auch Atzinger: Gina Kaus: Schriftstellerin und Öffentlichkeit, S. 194. 1518 Zit. in Prutsch / Zeyringer: Die Welten des Paul Frischauer, S. 97. 1519 Andringa: Deutsche Exilliteratur im niederländisch‒deutschen Beziehungsgeflecht, S. 317. – Vgl. auch Danzer: Zwischen Vertrauen und Verrat: deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918‒1960); dort einiges zu Willi Bredel, Wieland Herzfelde und Anna Seghers im Exil (S. 198 f.), zum Tabuthema Geld u. a. m. 1520 Vgl. hierzu Stephan: Anna Seghersʼ »The Seventh Cross« in den USA, bes. S. 247‒249, Fn. 6.
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Als er 1950 als ein solcher enttarnt wurde, flüchtete er nach Mexiko und 1954 weiter nach Polen, konnte aber 1968 in die USA zurückkehren. Als Literaturagent von Anna Seghers hatte Maxim Lieber keine leichte Aufgabe. Die Schriftstellerin litt unter drückenden finanziellen Sorgen und wusste oft nicht, wie sie mit ihrer Familie über die Runden kommen sollte. 1941 ruhten ihre größten Hoffnungen auf baldige Honorarzahlung aus der Veröffentlichung ihres Romans Das siebte Kreuz in den USA – den Vertrag dazu hatte ihr Lieber auf Ellis Island zur Unterschrift vorgelegt. Da ihr die Einreise in die USA nicht gestattet worden war, musste sie nach Mexiko gehen. Von dort schrieb sie Lieber immer wieder Briefe, in denen sie auf Informationen über den Stand der Übersetzungsarbeiten und den Zeitpunkt des Erscheinens drängte. Auch Weiskopf wurde in dieser Sache mehrfach von ihr vorgeschickt. 1942 erschien The Seventh Cross im Verlag Little, Brown & Co.; der »Book of the MonthClub« wählte den Roman zum Buch des Monats Oktober 1942; 1943/1944 wurde er von Fred Zinnemann bei Metro-Goldwyn-Mayer verfilmt und Anna Seghers damit weltberühmt. Nachträglich ließ Weiskopf Seghers wissen, dass er über das Misstrauen, das sie Lieber entgegenbrachte, wenig glücklich war: He [Lieber] is not my friend only, he is yours in a much higher degree. Without him you would possibly still look for a publisher. As I have also a little share in the placing of your book, I am able to judge the immense effort Lieber put into the work of your book. He has earned you about 20,000 $. There are taxes, of course, to be deducted.1521
Emigrierte Theater- und Literaturagenten in den USA: Max Pfeffer, Edmond Pauker und Hans Bartsch Unter den Hitler-Emigranten, die sich in der »Neuen Welt« aufgrund ihrer vor 1933 bzw. 1938 innerhalb der deutschen und österreichischen Literaturszene ebenso wie in der Film- und Theaterbranche erworbenen Kontakte als Agenten betätigten, lassen sich höchst unterschiedliche, auch sehr erfolgreiche Berufskarrieren beobachten: Wer bereits Erfahrungen auf dem Gebiet der Vermittlung literarischer Werkrechte hatte, konnte rasch in einflussreiche Stellungen aufsteigen oder als selbständiger Agent reüssieren. Ein Beispiel dafür gibt Max Pfeffer* (1884 Krakau – 1964 New York), der schon in seinem Wiener Bühnen- und Musikverlag in den 1920er und 1930er Jahren in der Vermittlung zwischen Theaterautoren und Bühnen recht erfolgreich war. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde sein Verlag »arisiert«, wobei der vereinbarte Verkaufspreis von der Vermögensverkehrsstelle so heruntergesetzt wurde, dass Pfeffer, der am 30. Juni 1938 nach Paris ins Exil ging, davon keine einzige Reichsmark erhielt. Von Paris konnte er noch rechtzeitig vor dem Einmarsch der deutschen Truppen im Frühsommer 1940 in die USA emigrieren. In New York betätigte sich Pfeffer, wie schon zuvor in Paris, als Literaturagent; zu den von der Agentur Max Pfeffer Literary Agency vertretenen Autoren zählten Stefan Heym, Fritz Zorn und Oskar Maria Graf. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bewirkte Pfeffer mit einem Prozess gegen den »Ariseur« die Restitution
1521 Zit. n. Stephan, S. 354.
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seines Verlags; 1949 verkaufte er diesen an den 1948 gegründeten Bühnen- und Musikverlag Hans Pero; er selbst blieb weiterhin in den USA als Literaturagent aktiv.1522 Schon seit 1922 unterhielt in New York der gebürtige Ungar und Jurist Edmond (urspr. Eduard) Pauker* (1888–1962) ein Büro;1523 bei seiner Agentur, die bereits vor 1933 auf dem deutschen, europäischen und amerikanischen Buchmarkt im Lizenzhandel tätig gewesen war, handelte es sich also nicht eigentlich um eine Exilgründung, doch musste Pauker nach 1938 aufgrund seiner jüdischen Herkunft sein auf Österreich und Ungarn ausgerichtetes Tätigkeitsfeld aufgeben und vertrat in New York und Hollywood Autoren wie Vicki Baum, Ferenc Molnár und Jacques Deval, wobei er in erster Linie mit Aufführungsrechten handelte. Noch früher hatte Hans Bartsch* (gest. Juli 1952) als internationaler Agent für die Aufführungsrechte an Theaterstücken, Operetten und Musicals in den USA Fuß gefasst.1524 Sein erstes Vermittlungsprojekt war 1907 die New Yorker Erstinszenierung von Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe. Als Jude war ihm nach 1933 eine Tätigkeit als Theateragent in Deutschland verboten, weshalb er den Lizenzhandel auf Österreich, Ungarn und die USA einschränken musste; 1938 flüchtete er in die USA und führte von seinem New Yorker Büro seine Geschäfte fort. Zu seinen Klienten zählten neben Lehár u. a. Ferenc Molnár und Oscar Strauss. Ähnlich wie sein Kollege Pauker hatte auch Bartsch gegenüber anderen Exilanten einen beruflichen Vorsprung, weil er auf bereits vorhandenen Geschäftsbeziehungen aufbauen konnte. Dennoch dienten beide gleichsam als »Pioniere«, indem sie »in gewissem Ausmaß den Weg für jene bereiteten, die ihnen nachfolgten.«1525
Franz Horch, Hilde Walter und Friderike Maria Zweig als »Newcomer« im Beruf des Literaturagenten Ausschließlich als internationale Agentur für Buchrechte arbeitete die Franz J. Horch Agency in New York. Aufgebaut von dem österreichischen Emigranten Franz Horch* (1901 Wien – 1951 New York), errang sein Unternehmen rasch Ansehen und beträchtliche Bedeutung.1526 Ursprünglich Journalist, hatte Horch seit 1925 an Produktionen von Max Reinhardt am Deutschem Theater in Berlin mitgewirkt und war dort beim »Deutschen Lichtspiel-Syndikat« tätig; von 1933 bis 1938 arbeitete Horch beim Zsolnay-Verlag in Wien als Leiter der Theater- und Filmabteilung, gleichzeitig als Dramaturg am Theater in der Josefstadt. 1938 flüchtete er über Zürich nach New York und begann sogleich mit einer Tätigkeit als Literaturagent, indem er Werkrechte von im amerikanischen Exil lebenden deutschen Autoren (u. a. Thomas Mann, Franz Werfel, Erich Maria Remarque,
1522 In der »Literary Market Place 1960‒1961 Edition« firmierte die Max Pfeffer Literary Agency an der Adresse 1004 Tenth St, Miami Beach 39, Florida. 1523 Vgl. Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1353. Paukers Nachlass verwahrt die Yale University. 1524 Vgl. Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1352 f. 1525 Macris, S. 1352. 1526 Siehe Deutsches Exilarchiv, DNB EB 96/107, Korrespondenz mit Franz Horch im Nachlass des Schriftstellers Wilhelm Speyer (1887‒1952); Stern: Hertha Pauli, S. 755; Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1355 f.; Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 321 f.
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Abb. 49: Der Brief Franz Horchs an seinen Klienten Raoul Auernheimer vom 12. Februar 1945 kann als exemplarisch dafür gelten, was Literaturagenten den exilierten Schriftstellern immer wieder vermitteln mussten: Dass der US-amerikanische Markt nach anderer Ware verlangte als »kleinen Meisterwerken«, die »in schoener, unbeirrbarer Europaeischer Technik geschrieben« sind.
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Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Alfred Polgar, Klaus Mann, Hertha Pauli), aber auch von amerikanischen Schriftstellern (u. a. Upton Sinclair, John Dos Passos, James Thurber, Erskine Caldwell, nachfolgend auch F. Scott Fitzgerald, J. D. Salinger, Harper Lee oder Sherwood Anderson) in Europa zu vermitteln suchte, nach Holland, Skandinavien, in die Schweiz, nur ausnahmsweise auch an deutsche Verlage. Horch starb bereits 1951, gerade als er im Begriff war, eine Spezialabteilung zur Vertretung von deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit in den USA aufzubauen. Die Agentur in Manhattan wurde von Horchs Witwe Maria Hirschmann-Horch (gest. 1963 in Zürich) und seiner Sekretärin Roslyn Targ weitergeführt; Targ übernahm die Franz J. Horch Agency Associates 1969 und betrieb sie nun als Roslyn Targ Literary Agency. Die Agentin, Ehefrau eines prominenten Verlegers (Bill Targ war Verlagschef bei Putnam und World Publishing) vertrat u. a. Italo Calvino, Henry Roth, Samuel Beckett, Harold Robbins oder Norman Mailer, schränkte sich später altersbedingt in ihrem Aktionsradius nach und nach ein und konzentrierte sich schließlich auf den Verkauf von Rechten des Verlags Simon & Schuster auf spanisch- und portugiesischsprachigen Buchmärkten. Roslyn Targ starb 2017 im Alter von 92 Jahren. Zwischen 1941, als sie mit »emergency visa« aus Südfrankreich in die USA einreisen konnte, und ihrer Rückkehr nach Deutschland 1952 war in New York auch die Journalistin Hilde Walter* (1895 Berlin – 1976 Berlin / West) als Literaturagentin tätig; sie vermittelte Werkrechte von bzw. für deutsche Exilschriftsteller. Ihre als Mitarbeiterin der Weltbühne erworbenen Kontakte hatte sie im Pariser Exil weiter gepflegt; als Mitbegründerin des »Bundes freie Presse und Literatur« und Mitinitiatorin der Kampagne für Carl von Ossietzky hatte Walter wesentlich Anteil daran, dass diesem der Nobelpreis zuerkannt wurde.1527 Ähnlich gut vernetzt war Friderike Maria Zweig* (1882 Wien – 1971 Stanford, CT). Sie war aus dem Pariser Exil mit einem Notvisum 19140/1941 über Spanien und Portugal in die USA gelangt und richtete in New York im Januar 1943 das »Writers Service Center« ein, das eine literarische Agentur besonderer Art repräsentierte.1528 1938 von Stefan Zweig geschieden, selbst schriftstellerisch und als Übersetzerin tätig, war ihr Service Center gelegentlich auch als Verlag tätig, u. a. mit Alfred Faraus Das Trommellied vom Irrsinn. Gedichte aus dieser Zeit (1943).1529 Zu Zweigs Klienten zählten Hertha Pauli, Gina Kaus, Adrienne Thomas und Roda Roda; durch Zusammenarbeit mit Alfredo Cahn erzielte sie beachtliche Vermittlungserfolge in Südamerika, auch mit Werken Heinrich Manns, Annette Kolbs, Hermann Kestens und René Fülop-Millers. Das Spezifische der Agentur lag darin, dass Zweig nicht so sehr einen materiellen Gewinn erzielen
1527 Eine Sammlung Hilde Walter befindet sich im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam; zu Walters Rolle in der Ossietzky-Kampagne siehe Trapp / Bergmann / Herre: Carl von Ossietzky und das politische Exil. 1528 Dazu die Autobiographie von Friderike Maria Zweig: Spiegelungen des Lebens. Wien: Hans Deutsch 1964. Ferner: Zohn: Friderike Maria Zweig; Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 726 f. 1529 Außerdem sind per Subskription im New Yorker Verlag des Writers Service Center erschienen: Lola Boerner: Unzeitgemäße Gedichte, 1943; Lessie Sachs: Tag- und Nachtgedichte. Ausgewählt und eingeleitet von Heinrich Mann, 1944; William Nussbaum: Überfahrt. Gedichte, o. J. [1953].
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als vielmehr den exilierten Schriftstellern Unterstützung für eine Fortsetzung der literarischen Arbeit anbieten oder die Umstellung auf amerikanische Marktverhältnisse erleichtern wollte, in »Fortsetzung der mit Stefan Zweig jahrelang geleisteten Hilfsarbeit für Rat und Hilfe suchende Kameraden« (Harry Zohn, 1989).1530 Es handelte sich insofern mehr um eine Vermittlungs- und Betreuungsstelle als um eine klassische professionelle Agentur.
Emigranten als Agenten in Hollywood: Liesl Frank und der »European Film Fund«, Hertha Pauli, Paul Kohner, Otto Klement und Ladislaus Szücs Mit »Weimar am Pazifik« wird jene heute legendäre Exilkultur deutscher Schriftsteller und Gelehrter, Filmschaffender und Musiker bezeichnet, die sich ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Südkalifornien herausgebildet hat. Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Werfel, Bertolt Brecht, Arnold Schönberg, Theodor Adorno, Billy Wilder und viele andere setzten an der amerikanischen Westküste ihre Arbeit fort, dabei stets mit der Frage konfrontiert, ob und wie man sich hier eine Existenz aufbauen könne. Eine bedeutsame gesellschaftliche Rolle spielte in diesem Milieu das Ehepaar Bruno und Liesl Frank. Liesl (Elisabeth) Frank* (1903 Wien – 1979 München), Tochter der berühmten Operettendiva Fritzi Massary und Adoptivtochter des Schauspielers Max Pallenberg, hatte Deutschland mit ihrem Ehemann, dem im Literaturbetrieb der Weimarer Republik hoch anerkannten Schriftsteller Bruno Frank (1887‒1945), noch am Tag nach dem Reichstagsbrand verlassen. Zunächst pendelten sie zwischen London und Österreich, ehe sie im Oktober 1937 endgültig in die USA emigrierten. In Los Angeles trafen die Franks auf die mit ihnen eng befreundeten Kollegen Lion Feuchtwanger und Thomas Mann, das von ihnen in Beverly Hills erworbene Haus wurde zu einem beliebten Treffpunkt. Auf Initiative von Paul Kohner wurde unter Beteiligung von Liesl und Bruno Frank sowie Charlotte Dieterle der »European Film Fund« (EFF) gegründet, ein Fonds, der Gelder für hilfsbedürftige Emigranten in Hollywood sammelte, Visa besorgte und nicht wenigen die Finanzierung der Schiffspassage in die USA ermöglichte.1531 Zu den deutschen Exil-Schriftstellern, denen durch den EFF annähernd das Existenzminimum gesichert wurde, zählte auch Leonhard Frank, der 1940 als Drehbuchautor bei Warner Bros. ähnlich frustrierende Erfahrungen machte wie Heinrich Mann oder Walter Mehring.1532 Was Liesl Frank betrifft, so übersiedelte sie nach dem Tod Bruno Franks nach New York und heiratete dort den aus Wien stammenden Regisseur Leo Mittler. Anfang der 1950er Jahre kehrte sie als Agentin für die deutschsprachigen Rechte amerikanischer
1530 Zohn: Friderike Maria Zweig, S. 1677 f. – F. M. Zweig war außerdem Mitbegründerin der American European Friendship Association und engagierte sich für körperlich Behinderte. 1960 wirkte sie bei der Gründung der Stefan-Zweig-Gesellschaft mit. 1531 Lexikon der österreichischen Exilliteratur (2000), S. 462 [Art. Jan Lustig]; Jan Lustig: Ein Rosenkranz von Glücksfällen. Protokoll einer Flucht. Bonn: Weidle Verlag 2001; Kirchner: Der Bürger als Künstler. Bruno Frank (1887‒1945). 1532 Dazu Russell Taylor: Fremde im Paradies. Emigranten in Hollywood 1933‒1950, S. 196: »Keiner der Einjahresverträge wurde erneuert. Im Oktober 1941 waren Leonhard Frank und Heinrich Mann ohne Stellung und buchstäblich mittellos – wie auch Alfred Döblin, der vom 8. Oktober 1940 bis zum 7. Oktober l941 für MGM gearbeitet hatte.«
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Bühnenautoren nach Deutschland zurück, zunächst nach Hamburg. In dritter Ehe heiratete sie 1965 den Autor Jan Lustig (1902‒1979), der 1933 nach Paris, 1940 in die USA emigriert und lange Jahre als Drehbuchautor für MGM in Hollywood tätig gewesen war; seine Drehbücher für Filme von Billy Wilder waren über Vermittlung von Liesl Frank zustande gekommen. Mit Hilfe des legendären Varian Fry war Hertha Pauli* (1909 Wien – 1973 New York),1533 zusammen mit Walter Mehring, im September 1940 in die USA gelangt. In Hollywood tippte sie als Brotarbeit Science-Fiction-Manuskripte und arbeitete für MetroGoldwyn-Mayer als Literaturagentin. Einschlägige Berufserfahrung hatte sie zuvor schon in Wien mit der »Österreichischen Korrespondenz« gesammelt, die sie seit 1933 gemeinsam mit Karl Frucht* (1911 Brünn – 1991 Wien)1534 betrieben hatte. Diese literarische Agentur hatte hauptsächlich kleinere literarische Arbeiten an Zeitschriften und Zeitungen vermittelt, wobei die Autorenliste immerhin von Alfred Polgar, Egon Friedell und Walter Mehring, Franz Werfel und Carl Zuckmayer bis Theodor Kramer, Guido Zernatto, Franz Theodor Csokor oder Annemarie Selinko reichte; außerdem vergab sie auch die Auslandsrechte für Kurt Schuschniggs Dreimal Österreich. Seit 1934 waren Pauli und Frucht mit Walter Mehring befreundet, dessen Die Nacht der Tyrannen durch Vermittlung der Agentur noch vor dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland bei Oprecht in Zürich erscheinen konnte. Hertha Pauli selbst war in diesen Jahren auch als Schriftstellerin erfolgreich: 1936 erschien im Paul Zsolnay Verlag ihr erster Roman Toni, 1937 folgte im Wiener Zeitbild Verlag von Rolf Passer ihr zweiter Roman Nur eine Frau (über Bertha von Suttner), der in Deutschland schon nicht mehr ausgeliefert werden durfte. 1938 emigrierte sie wie auch Karl Frucht nach Paris, wo sie im Kreis um Joseph Roth und Ödön von Horvath verkehrten; auch in Paris arbeitete Pauli bis Juni 1940 als Literaturagentin. Später in Hollywood konnte sie mit dieser Tätigkeit allerdings nicht wirklich Fuß fassen; 1941 ließ sie sich als freie Schriftstellerin in New York nieder, 1942 erschien bei L. B. Fischer in New York ihre Biographie über Alfred Nobel in englischer Sprache (Alfred Nobel, dynamite king, architect of peace), es folgten zahlreiche Jugendbücher, Biographien und zeitkritische Romane, zum Teil in Co-Autorschaft mit ihrem Mann, dem Münchner Hitleremigranten Ernst Basch, der unter dem Pseudonym E. B. Ashton überwiegend als Übersetzer arbeitete. Als Produzent und Schauspieleragent hat sich Paul Kohner* (1903 Teplitz-Schönau – 1988 Los Angeles) in die Filmgeschichte eingeschrieben. In Hollywood war er der ideale Ansprechpartner vor Ort, auch für viele emigrierte Schriftsteller, denn Kohner war bereits 1920 als 18jähriger aus der Tschechoslowakei in die USA gegangen und zunächst in New York für die Universal Studios als Leiter der Abteilung für Auslands-
1533 »Eine Brücke über den Riß der Zeit…«. Das Leben und Wirken der Journalistin und Schriftstellerin Hertha Pauli (1906‒1970). Wien: Praesens 2012. Vgl. ferner die autobiographischen Schilderungen in Hertha Pauli: Der Riß der Zeit geht durch mein Herz. 1534 Siehe Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 229 f., und vor allem die Autobiographie von Karl Frucht: Verlustanzeige. Ein Überlebensbericht. Wien: Kremayr & Scheriau 1992. Frucht kehrte 1960 nach Wien zurück und war im Alter um die Ordnung des literarischen Nachlasses von Hertha Pauli bemüht, der sich heute im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek befindet.
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werbung tätig, seit 1927 lebte er in Hollywood als Produzent.1535 Seit 1931 war er allerdings wieder in Berlin, wo er in der europäischen Niederlassung der Universal Pictures als Produktionsleiter arbeitete. 1933 verließ Kohner Deutschland und nahm in Österreich die Arbeit an der Filmproduktion Brennendes Geheimnis nach der Erzählung von Stefan Zweig wieder auf, die auf Befehl von Joseph Goebbels abgebrochen werden musste. Nach seiner Rückkehr in die USA 1934/1935 war Kohner wieder als Produzent tätig, nun für MGM und Columbia, bis er sich 1938 als Filmagent in Hollywood selbständig machte. Schon bald nutzte er seine vielfältigen Kontakte zu den Filmstudios für die Hitler-Emigranten, von denen sich hunderte hilfesuchend an ihn gewandt hatten. Zu seinen großen Verdiensten gehören sowohl die persönlichen finanziellen Bürgschaften, die er für mehr als sechzig Flüchtlinge übernahm, wie auch die von ihm bei Filmgesellschaften initiierten 100-Dollar-Wochenverträge (u. a. für Heinrich Mann und Alfred Döblin). Kohner vermittelte und erteilte Aufträge für Drehbücher, Treatments, Exposées, in seiner Agentur richtete er eine eigene Abteilung für den Vertrieb von Drehbüchern ein.1536 Kohner hat vor allem, aber nicht nur im Filmzusammenhang eine große Zahl prominenter deutscher Autoren vertreten, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Alfred Polgar, Carl Zuckmayer, Erich Maria Remarque, Ernst Toller, Alfred Döblin, Alfred Neumann u. a. m. In demselben Autorenpool suchte auch Otto Klement (1891 Mährisch-Ostrau – 1983 Beverly Hills) als Agent tätig zu werden. Klement hatte bereits zuvor in Berlin als Agent für Theater- und Filmschauspieler gearbeitet, bis er 1933 aus Deutschland flüchten musste. Er produzierte in England zwei Filme, und immigrierte 1941 in die USA, wo er aber als Produzent in Hollywood nicht richtig Fuß fassen konnte. Einzig die Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman Triumphbogen wurde von ihm geleitet, da er Remarque auch als Literaturagent vertrat. Klement gründete noch Anfang der 1940er Jahre die American Copyright and Management Corporation und war auf dieser Grundlage als Agent tätig. In dieser Eigenschaft hat er nicht nur Remarque, sondern zeitweise auch die Brüder Mann und noch andere Autoren vertreten. Ebenfalls aus dem Berliner Filmbusiness kam Ladislaus Szücs* (in den USA Laszlo Szucs; 1901 Budapest – 1944 Los Angeles); er war Inhaber und Geschäftsführer des 1930 von ihm gegründeten Filmmusikverlags Beboton gewesen,1537 der 1935 von der Cautio Treuhand GmbH »arisiert« wurde. Szücs flüchtete nach Wien und gründete dort 1936 den Cineton Verlag GmbH. Nach dem »Anschluss« Österreichs wurde 1938 auch der Cineton Verlag durch die Cautio Treuhand GmbH und Hans C. Sikorski »arisiert«, so dass Szücs über Frankreich ins Exil in die USA ging, wo er aber nicht mehr verlege-
1535 Vgl. Cazden: German Exile Literature, S. 147; Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1353 f.; Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration, S. 113 f. 1536 Noch in den dreißiger Jahren hatte ihm Joseph Roth einen Drehbuchentwurf geschickt – Roth, der so sehr gegen den Film als Menetekel des Untergangs der Kultur eingestellt war, dass er in seiner Schrift Der Antichrist den Namen Hollywood zu »Hölle-Wut« umformte. Dieser Drehbuchentwurf hat sich im Nachlass Paul Kohners in Berlin wiedergefunden. Der äußerst umfangreiche Nachlass mit den gesamten Geschäftsunterlagen (Manuskripte, Verträge, Abrechnungen, Notizen etc.) und großen Teilen der Privatkorrespondenz aus den Jahren 1938‒1955 befindet sich seit 1988 im Archiv der Deutschen Kinemathek, Berlin. 1537 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 505; LexM [online].
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risch tätig wurde, sondern in Hollywood als Agent der Howard-Line-Agency Autoren an Filmproduktionsfirmen vermittelte.
Georg Marton und seine »Playmarket Agency« Aus der Gruppe der Exilierten, die bereits vor 1933/1938 den Beruf eines Literaturoder Künstleragenten ausgeübt hatten, ragt Georg(e) / György Marton* (1900 Budapest – 1979 Hollywood, Kalifornien) hervor. Er selbst war schon familiär einschlägig vorbelastet: Sein Vater Alexander (Sandor) Marton, ein Copyright-Anwalt, hatte 1906 in Budapest einen Theaterverlag gegründet und in den 1920er Jahren seinen Sohn Georg, der in Berlin und an der Sorbonne in Paris studiert hatte, mit der Gründung weiterer Verlagsbüros in Wien, London, Paris und New York beauftragt. Die Wiener Niederlassung des Bühnen- und Musikverlags Georg Marton avancierte bald zur Zentrale: sie vertrat zahlreiche österreichische und ungarische Autoren (darunter Ödön von Horvath, Alexander Lernet-Holenia, Franz Molnar, Fritz Habeck), hatte gute Beziehungen zu Theaterleuten wie Gustav Gründgens oder Max Reinhardt und war bald eine sehr gut laufende, international agierende Theater- und Literaturagentur: »Als die Nationalsozialisten Georg Marton aus Österreich vertrieben, war er einer der führenden literarischen Agenten im deutschsprachigen Raum.«1538 1938 sollte der Georg Marton Verlag »arisiert« werden, was vermieden werden konnte, indem sich der Schriftsteller Georg Fraser (Pseudonym für August Hermann Zeiz*, siehe unten), einer der erfolgreichen Verlagsautoren, zur treuhänderischen Übernahme bereit erklärte. Macris, der viele Interviews mit den Emigranten oder ihren Nachkommen geführt hat, berichtet über diese Phase: »Im letzten Monat vor seiner Abreise aus Wien diente sein [Martons] Büro einer großen Anzahl von rassisch oder ideologisch ›unerwünschten‹ Autoren als Zufluchtsstätte und Treffpunkt, unter ihnen Walter Hasenclever, Hans José Rehfisch, Felix Joachimsohn, Bertolt Brecht, Georg Fraser, Robert Thoeren, Friedrich Torberg, Gina Kaus sowie Otto und Egon Eis.«1539 Über Paris, wo er 1938/1939 ein Büro Les Éditions Georges Marton mit engen geschäftlichen Kontakten nach London und auch schon nach Hollywood unterhielt und vielen der eben erwähnten Exilanten behilflich war, sobald sie Paris oder London erreichten, setzte Marton seine Flucht fort und ging in die USA, wo er, unterbrochen durch Armeedienst, in Hollywood u. a. als Agent für Bertolt Brecht und für MGM als Dramaturg arbeitete.1540 In Los Angeles gründete Marton 1940 gemeinsam mit dem
1538 Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1350‒1363. Macris konzentriert sich in seiner Bestandsaufnahme auf jene Agenten, »welche die Veröffentlichungs- und Aufführungsrechte von hauptsächlich deutschsprachigen Werken für den amerikanischen Markt betreuten, bzw. dieselbe Aufgabe auch umgekehrt für amerikanische Werke in den deutschsprachigen Ländern Europas wahrnahmen«, und hebt in diesem Zusammenhang 16 Namen hervor. 1539 Macris, S. 1356. 1540 Marton hat in seiner (ungedruckt gebliebenen) Autobiographie für sich in Anspruch genommen, zwei Massenverträge mit Metro-Goldwyn-Mayer und mit Columbia Pictures abgeschlossen zu haben, die zwölf exilierten deutschen und österreichischen Schriftstellern für zwei Jahre ein Gehalt garantierten. Die Urheberschaft Martons für diese Initiative ist aber nicht verbürgt, vgl. Macris, S. 1357.
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ebenfalls emigrierten, im internationalen Copyright-Filmgeschäft versierten österreichischen Anwalt Dr. Paul Koretz, der seit den 1920er Jahren der »Twentieth Century Foxʼs man in Vienna«1541 gewesen war, die »Playmarket Agency«, die bis 1944 existierte. Nach 1945 übergab Fraser den Wiener Verlag wieder an Georg Marton, der eine neue Geschäftsführung einsetzte, während er selbst seit 1949 in Paris als Dramaturg für Twentieth Century Fox tätig war. In seiner eigenen Agentur setzte er sich für eine stärkere Repräsentanz amerikanischer Autoren wie Art Buchwald in Europa ein, war aber auch für Eugene Ionesco, Françoise Sagan oder Jean-Paul Sartre tätig.1542
Bühnenagenturen in Österreich und in der Schweiz 1938‒1945 Als Geschäftsführer und nach Georg Martons Emigration 1938 als Leiter von dessen Wiener Bühnenverlag spielt der der deutsche Schriftsteller, Theaterautor und Journalist August Hermann Zeiz* (Ps. Georg Fraser, 1893 Köln – 1964 Berlin) eine bemerkenswerte Rolle im politischen Zeitgeschehen.1543 Trotz »Rassenverrats« und seiner Mitgliedschaft in der SPD konnte Zeiz nach 1933 weiter literarisch tätig bleiben; bis Juli 1944 war er im Besitz einer Sondergenehmigung der Reichsschrifttums- und Reichsfilmkammer. Vermutlich verdankte er dies der Protektion von Hans Hinkel, der als Sonderbeauftragter im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda für »Kulturpersonalien« zuständig war. 1935 wurde Zeizʼ Aufenthalt im »Dritten Reich« dennoch prekär: er ging mit seiner Frau nach Wien, wo er bis 1938 als Chefdramaturg des Scala-Theaters wirkte und seine Karriere als Bühnenautor fortsetzen konnte; u. a. wurde 1936 am Wiener Deutschen Volkstheater das Schauspiel Wasser für Canitoga uraufgeführt, das Zeiz gemeinsam mit Hans José Rehfisch verfasst hatte und das zwischen 1936 und 1939 in Deutschland von Dutzenden Bühnen gespielt und mit Hans Albers verfilmt wurde. In seiner 1938 aufgenommenen Tätigkeit als Verleger und Bühnenagent wurde er unterstützt von seinem Sohn Thomas (siehe unten), der als »Mischling ersten Grades« aus der RSK und RPK ausgeschlossen worden war, im Untergrund den Roten Nachrichtendienst herausgegeben hatte und im Oktober 1935 über die ČSR nach Wien geflüchtet war. Eine »Arisierung« des Verlages konnte Zeiz dadurch verhindern, dass er die Konzession zurücklegte und das Unternehmen unter der Bezeichnung »Agentur Georg Fraser« weiterführte. Diese gesetzlich nicht gedeckte Schließung wurde mit einer Gefängnisstrafe
1541 Thomas Doherty: Basslerʼs Letter: How Hollywoodʼs Man in Vienna escaped the Nazis. In: Tablet, 25 März 2014 [online]. 1542 Näheres bei Fetthauer: Musikverlage, S. 488; Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1356 f.; Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 472 f. Später verkaufte Marton den Georg Marton Verlag an den Sohn von Georg Fraser / A. H. Zeiz, seinen Freund Thomas Sessler*, der schon zuvor die Interessen des Georg Marton Verlages in Deutschland vertreten hatte. In den 1960er und 1970er Jahren schrieb und publizierte George Marton in der Schweiz Spionageromane und Erzählungen, die z. T. auch verfilmt wurden. 1543 Fetthauer: Musikverlage, S. 508; Engel: »…das Ende jener Herrschaft anzustreben«. August Hermann Zeiz im österreichischen Widerstand; Ulrike Oedl: Das Exilland Österreich zwischen 1933 und 1938 – August Hermann Zeiz [online]; Karin Gradwohl-Schlacher: Gestern wurde Frieden gemacht. August Hermann Zeiz alias Georg Fraser im Dritten Reich. Universität Graz [online].
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geahndet, die Zeiz von Dezember 1938 bis März 1939 abbüßte, danach leitete er den Georg Marton Verlag als Treuhänder weiter und führte gleichzeitig eine riskante Doppelexistenz: auf der einen Seite die eines geduldeten Mitläufers, auf der anderen Seite war er seit 1938 KPD-Mitglied. Es gelang ihm, mehreren jüdischen Schriftstellerkollegen zur Flucht zu verhelfen (darunter Rudolf Lothar und Fred Heller). Im Februar 1943 wurde Zeiz wegen »Verbindung zu jüdischen Kreisen in Ungarn und Unterstützung der illegalen Einwanderung« erneut verhaftet und im Juli 1943 in das KZ Dachau eingeliefert. Aus Dachau entlassen, nahm Zeiz erneut seine Widerstandstätigkeit auf und engagierte sich in der »Österreichischen Freiheitsbewegung 05«, der viele ehemalige Dachau-Häftlinge angehörten. In dem im Dezember 1944 gebildeten »Provisorischen Österreichischen Komitee« war Zeiz Mitglied des »Siebener-Ausschusses«; die Verlagsräume dienten als Tarnadresse für organisatorische Arbeit.1544 1945 übergab Zeiz den Verlag wieder dem in Paris und in den USA lebenden Georg Marton; er selbst arbeitete in den 1950er Jahren vor allem als Übersetzer. Wie sein Vater war auch Thomas Zeiz, später Thomas Sessler* (1915 Berlin – 1995 Dietersburg) ein mutiger Kämpfer gegen den Nationalsozialismus.1545 Schon in jungen Jahren bei verschiedenen kommunistischen Verbänden und Zeitungen engagiert, floh er nach der nationalsozialistischen »Machtübernahme« vor einer drohenden Verhaftung nach Frankreich, kehrte aber im Herbst 1933 in seine Heimatstadt Berlin zurück, nachdem ein sozialdemokratischer Beamter im Polizeipräsidium eine belastende Akte hatte verschwinden lassen. Als die von ihm fortgeführte Untergrundarbeit und Fluchthilfetätigkeit von der Gestapo entdeckt wurde, flüchtete er zu seinem Vater nach Wien, arbeitete im Georg Marton Verlag mit und setzte seine Tätigkeit als Journalist fort. Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 emigrierte er in die Schweiz, führte in Zürich die Zweigstelle des Georg Marton Verlags und gründete dort 1939 den Neuen Bühnenverlag Miville und Zeiz. Auch dieser Verlag diente als Deckadresse für getarnte Widerstandsaktivitäten und war Treffpunkt zahlreicher österreichischer Emigranten, u. a. Hans Weigel und Fritz Hochwälder. Als er aufgrund seiner Tätigkeit als Mitherausgeber der illegalen Zeitschrift Der freie Österreicher in der Schweiz Schwierigkeiten bekam, wich er mit Hilfe seiner Verbindungen zum US-Geheimdienst im Februar 1945 nach Frankreich aus. Nach Kriegsende kam er nach Wien zurück; 1947 erfolgte die Änderung seines Namens nach Adoption durch die Baronin Sessler-Herzinger. 1952 gründete er in München eine Presseagentur und den Thomas-Sessler-Verlag München-Wien; 1967 kehrte er nach Wien zurück, kaufte den Georg Marton Verlag, die Wiener Verlagsanstalt und die Neue Edition, d. i. die Theaterabteilung des Musikverlags Universal Edition. Auch der Theaterverlag, den Kurt Reiss* (1901 Pforzheim – 1974 Basel) 1936 in Basel eröffnet hat, übte über die Verwaltung und Verwertung von Aufführungsrechten
1544 Die Leistungen der Mitglieder dieser Organisation, die Kontakte zum Oberkommando der vorrückenden Roten Armee unterhielt, wurden 1977 von der Republik Österreich gewürdigt. 1545 Vgl. Fetthauer: Musikverlage, S. 499 f.; Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 587 f. Vgl. auch Schulenburg: Sie werden lachen, alles ist wahr. Anekdoten eines Glücksritters. Ulrich N. Schulenburg ist seit 1984 Miteigentümer und Geschäftsführer des Thomas Sessler-Verlags; er hat das Unternehmen durch diverse Zukäufe und die Übernahme der österreichischen Vertretung des Londoner Verlags Boosey & Hawkes weiter ausgebaut.
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teilweise Agenturfunktionen aus. Reiss war im Jahr zuvor in die Schweiz emigriert, nachdem er 1924‒1931 als PR-Fachmann für den Theaterkonzern Max Reinhardts, Victor Barnowskys und der Gebrüder Rotter in Berlin tätig gewesen war. In seinem neugegründeten Verlag Theaterverlag Reiss A. G. veröffentlichte Reiss Stücke u. a. von Friedrich Dürrenmatt, Paul Claudel, Carl Sternheim, Federico Garcia Lorca und Jean Anouilh. Reiss war Mitglied und Vizepräsident der Gesellschaft Schweizer Theaterverleger.
Südamerika Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires spielte, trotz zunehmenden Rechtsrucks der Regierung und Unterwanderung der Exilkolonie durch Nationalsozialisten, eine wesentliche Rolle bei der Etablierung der deutschen Exilliteratur auf dem spanischsprachigen Buchmarkt Südamerikas. Die entscheidende Vermittlerfunktion übernahmen auch hier Emigranten aus Österreich und Deutschland, die teils einschlägige berufliche Erfahrungen hatten, aber auch aufgrund bestehender freundschaftlicher Kontakte zu prominenten Erfolgsschriftstellern wie Stefan Zweig oder Vicki Baum mit einer Agententätigkeit eine Existenzgrundlage für sich schaffen konnten. Eine günstige Voraussetzung bot hierfür das relativ dichte Netzwerk aus Emigrantenclubs, Exilzeitschriften, emigrierten Buchhändlern sowie die vorhandenen Verbindungen in die USA; zudem ergaben sich aus der gelungenen Naturalisation der Immigranten Möglichkeiten, auch die lateinamerikanische Literatur auf dem internationalen Buchmarkt zu platzieren.
Alfredo Cahn Dem gebürtigen Schweizer Alfredo Cahn* (1902 Zürich – 1975 Córdoba / Argentinien) fiel hierbei eine gewisse Pionierrolle zu: er war kein Flüchtling der NS-Zeit, aber nach 1933 mit der deutschsprachigen literarischen Emigration eng verbunden.1546 Nach kurzer beruflicher Tätigkeit in Spanien war er 1924 nach Argentinien ausgewandert, ohne seine Schweizer Staatsbürgerschaft aufzugeben. Schon in seiner Schulzeit hatte er außerordentliches Interesse an der Literatur entwickelt und war in Kontakt zu Schriftstellern wie Hermann Hesse, Thomas Mann und Stefan Zweig getreten. In Buenos Aires war Cahn als Redakteur, Kritiker und Übersetzer tätig, seit Mitte der 1930er Jahre betätigte er sich auch als Literaturagent und spezialisierte sich auf die Vermittlung von Exilliteratur, darin begünstigt durch den Spanischen Bürgerkrieg, der Buenos Aires zum Zentrum der spanischsprachigen Buchproduktion werden ließ. In dieser Funktion und auch als Publizist machte er sich um die Vermittlung der deutschsprachigen Literatur in Lateinamerika hoch verdient. Herausragend war seine enge Beziehung zu Person und Werk Stefan Zweigs, von dem er insgesamt 16 Bücher übersetzte und ihn dadurch sowie durch eine 1940 von ihm organisierte Lesereise in Südamerika berühmt machte. Auch
1546 Cahns Nachlass wurde vom Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main angekauft: Nachlass / Teilnachlass EB 2001/66 (Korrespondenz mit zahlreichen Exilschriftstellern; Übersetzungen; Lebensdokumente, Verlagsverträge, Manuskripte bzw. Typoskripte; mit umfangreicher Sammlung zu Stefan Zweig). Vgl. dazu: Eckert: Das Archiv des Kulturvermittlers Alfredo Cahn.
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veranlasste Cahn 1942 den Erstdruck von Zweigs letztem Werk Schachnovelle in Lili Lebachs Pigmalíon-Buchhandlung (siehe Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel) und gewann damit in der Erstpublikation den Wettlauf gegen Ben Huebsch (Viking Press) in New York; bis 1948 hatten sich, nach eigenen Angaben, bereits 900 Autoren seiner Dienste als Agent bedient. Damals geriet das Verlagswesen allerdings in die Krise, wodurch Cahn seine Tätigkeit einschränken musste. Auch stand er inzwischen in Konkurrenz zu Hugo und Anna Lifczis, die ebenfalls in Argentinien tätig geworden waren, und zu Franz Horch, der mit dem Agentenpaar kooperierte. Zu Friderike Maria Zweig und deren Writers Service Center in Nordamerika unterhielt Cahn enge geschäftliche Kontakte. Auch neben seiner Tätigkeit als Professor für deutsche bzw. französische Literatur an der Universidad Nacional de Córdoba blieb er nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre als Literaturagent transkontinental aktiv, sowohl was die Vermittlung lateinamerikanischer Literatur nach Europa betraf als auch jene von Schweizer Autoren wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt nach Lateinamerika.
Anna und Hugo Lifczis: die International Editors Co. (IECO) Der Wiener Rechtsanwalt Hugo Lifczis* (ca. 1895 – 1970 Barcelona)1547 hat vielen illegal aus Hitlerdeutschland entkommenen Emigranten zu neuen Dokumenten verholfen. Nach dem »Anschluss« Österreichs floh er gemeinsam mit seiner Frau Anna* (1902 Wien – 1987 Wien) im Juli 1938 über die Schweiz und Frankreich nach Argentinien. In Buenos Aires gründete er mit dem ebenfalls emigrierten berühmten Wiener Parfumeur M. E. Meyer eine Parfumfabrik, die eineinhalb Jahre später bankrott ging. Erfolg hatte er aber mit der zusammen mit seiner Frau betriebenen, 1939 gegründeten Literaturagentur International Editors Co. Anna Lifczis war zehn Jahre lang bis 1931 im Wiener Theaterverlag ihres Onkels Otto Eirich beschäftigt gewesen, wo sie den Verlagsbuchhandel von Grund auf erlernt hatte; seit Ende der 1920er Jahre war sie auch als Übersetzerin unter dem Namen Annie Reney tätig, u. a. für den Herbert-Reichner-Verlag und die Büchergilde Gutenberg. Die literarische Agentur International Editorsʼ Co. (IECO) konnte sich, u. a. durch Kooperation mit dem in New York niedergelassenen Literaturagenten Franz Horch (siehe oben) rasch etablieren: Zu den Autoren, für deren Platzierung auf dem spanischsprachigen Buchmarkt sich das Ehepaar besonders einsetzte, gehörten u. a. Franz Werfel, Vicki Baum und Joseph Roth, darüber hinaus versuchten sie Rechte an Werken Arthur Schnitzlers und Sigmund Freuds zu verkaufen. Besonders erfolgreich waren sie bei Leo Perutz, mit dem das Ehepaar Lifczis eng befreundet war; Perutzʼ Romane wurden auf ihre Vermittlung bei den Verlagen Editorial Élan und Editorial Argonauta herausgebracht, Der Marques de Bolibar wurde dabei von Anna Lifczis,
1547 Der Nachlass von Anna Lifczis befindet sich im Österreichischen Literaturarchiv, ÖNB, ein Teilnachlass auch im Deutschen Exilarchiv Frankfurt am Main: Teilnachlass EB 87/70 (Korrespondenz, Manuskripte und Übersetzungen); Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 445 f.; Roček: Mittlerin zwischen den Welten ‒ Anna Lifezis (Lifczis); Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration, S. 107 f.; Adolf Engel: Verdienstvolle Österreicher. Dr. Hugo Lifezis – ein kultureller Geschäftsträger Österreichs. In: Der Auslandsösterreicher. Zürich H. 2, Zürich (1953).
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in Zusammenarbeit mit Elvira Martin, ins Spanische übersetzt. In Konkurrenz stand International Editorsʼ Co. vor allem zur Agentur von Alfredo Cahn und auch zu Friderike Maria Zweig. In Argentinien, wo sie bereits 1942 die Staatsbürgerschaft erhielten, schrieben sie ihren Namen »Lifezis«, um ihn der spanischen Phonetik anzupassen. Nach 1945 arbeiteten die Eheleute am Aufbau einer Österreichisch-Argentinischen Kulturgesellschaft mit. 1960 übersiedelten sie mit dem Hauptsitz der Agentur nach Barcelona, wo sie bereits Jahre zuvor eine Filiale eröffnet hatten. Nach dem Tod ihres Mannes führte Anna Lifzcis noch für eine Zeit die Agentur alleine weiter, bis sie sie 1973 verkaufte und nach Wien zurückkehrte. Die IECO ist heute noch eine bedeutende, weltweit operierende Literarische Agentur mit Sitz in Barcelona.1548 Ebenfalls in Buenos Aires suchte Lifzcisʼ Landsmann Charles J. Riegler* 1943/44 als »Carlos Riegler« ein berufliches Standbein als Literaturagent aufzubauen, doch mit einer weitaus geringeren Erfolgsbilanz.1549 Er war in Wien seit 1927 Miteigentümer der renommierten Universitätsbuchhandlung R. Lechner gewesen. Nach dem »Anschluss« Österreichs enteignet, war er nach Argentinien geflüchtet, da seine Frau von dort stammte und er selbst im Besitz der argentinischen Staatsbürgerschaft war. Riegler war in Buenos Aires Gründungsmitglied der Emigrantenorganisation »Austria Libre«, über seine Tätigkeit als Literaturagent ist nichts Näheres bekannt. In jedem Fall stand er in brieflichem Kontakt mit dem britischen Verlag Chatto & Windus. Nur gelegentlich als Literarischer Agent betätigte sich Rudolf (Rolf) Simon* (geb. 1913 Berlin).1550 Vor 1933 Schriftsetzer beim Berliner Verlag Rudolf Mosse, hatte ihn sein Fluchtweg über Brasilien nach Buenos Aires geführt, wo er 1938‒1946 Redakteur des 1933 gegründeten Argentinischen Tageblatts war, das sich für die jüdischen Emigranten einsetzte und, nach Aussage Simons, zwischen 1935 und 1945 mindestens 80 exilierte Mitarbeiter beschäftigte.1551 In den folgenden zehn Jahren arbeitete Simon als Journalist, Übersetzer und Literaturagent; 1951 bis 1955 fungierte Simon als Verleger und Herausgeber der Zeitschrift Libros de Hoy (»Bücher von heute«); 1956 übersiedelte er nach Kalifornien und beschränkte sich dort im Weiteren auf journalistische Tätigkeit.
Literarische Agenturen nach 1945 Kalifornien: Felix Guggenheim Eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im internationalen Agenturwesen nach 1945 war Felix Guggenheim* (1904 Konstanz – 1976 Beverly Hills).1552 Der an den Universi1548 Homepage der IECO http://www.internationaleditors.com/literary-agency/ieco/ 1549 Materialien zu Riegler befinden sich an der University of Reading, The Archive of British Publishing and Printing, Chatto & Windus CW 103/6 Carlos Riegler (http://www.reading. ac.uk/adlib/Details/archiveSpecial/110119231). 1550 1989 lebte Simon in San Francisco; 1985 hat er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten. Siehe dazu EXIL, 1989, Nr. 1, S. 100. 1551 Nach Kathrin Marlen Konrad: Presse in Argentinien unter Präsident Menem. Dipl. Arbeit an der Universität Wien, 2008, S. 44 [online]. 1552 Siehe u. a. Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger, S. 1431; Jaeger: »Luxus-Bändchen« des Exils; Jaeger: Pazifische Presse; Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration, S. 121 f.
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täten München, Hamburg, Zürich und Leipzig ausgebildete Jurist war im Bankwesen tätig, bis er Vorstandsmitglied und Generalbevollmächtigter der Druckerei Seydel AG und der Deutschen Buch-Gemeinschaft wurde. Obwohl der Konzern schon 1933 »arisiert« wurde, gelang es ihm, in dieser Position zu verbleiben. Erst 1938 emigrierte Guggenheim, zuerst in die Schweiz, dann nach England, und weiter nach Kanada. Im Sommer 1940 gelangte er über Seattle in die USA. Die 1942 gemeinsam mit seinem Freund Ernst Gottlieb gegründete Pazifische Presse führte ihn, nach Gründung gewerblicher Unternehmen, erneut an literarische Kreise heran.1553 Nach dem Krieg knüpfte er seine alten Beziehungen zu Verlegern und Druckereien in Deutschland wieder an und baute als Rechts- und Finanzsachverständiger einen regen Austausch von deutschen und amerikanischen Copyrights auf, übernahm also gleichsam Funktionen eines literarischen Agenten. Zudem wurde er als Berater und Vertreter von Autoren ‒ zu seinen zahlreichen Klienten zählten vor allem die in Kalifornien lebenden Exilschriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Curt Goetz oder Erich Maria Remarque ‒ und Verlagen für Übersetzungs- sowie Filmverwertungsrechte tätig; außerdem organisierte er die Herausgabe international betreuter, in mehreren Sprachen erschienener Bücher: Guggenheim’s business opportunities in the literary sector flourished and his trips to Europe and the East Coast often lasted several months. His experience in the literary field and his longtime contacts with many of the prominent writers of the time made Guggenheim a trusted and highly valued advisor. He did not exactly act as a literary agent, as the writers he worked for were successful and established already. His role was rather that of a consultant and negotiator for international affairs who was valued by publishers and authors alike for his expertise in the literary field and his knowledge of legal affairs on both sides of the Atlantic.1554 Eine aufschlussreiche Charakterisierung des Literaturagenten Guggenheim ergibt sich aus den Erinnerungen der Bestsellerautorin Vicki Baum, einer seiner zahlreichen Klientinnen. Sie hatte sich zuvor von Edmond Pauker (siehe oben) vertreten lassen, wechselte aber schließlich zu Guggenheim, weil sie in diesem nach vielen Jahren endlich einen Agenten und »Berater« gefunden [hatte], der es in Sachen Witz, Schlagfertigkeit und Geschäftssinn mit ihr aufnehmen konnte. Sie vertraute dem ehemaligen Verleger und Vorstand der deutschen Buchgemeinschaft bald blind und sagte vor Freunden über den Mann, der auch Erich Maria Remarque gegenüber Kiepenheuer & Witsch vertrat, er sei »grundehrlich« und »so effizient und so enthusiastisch wie ein Kampfhahn«.1555
1553 Zur Pazifischen Presse siehe den entsprechenden Abschnitt in Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 1554 Michaela Ullmann: Felix Guggenheim (1904‒1976). In: Immigrant Entrepreneurship. German-American Business Biographies, Eintrag Juni 2012 (online: https://www.immigranten trepreneurship.org/entry.php?rec=114). 1555 Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum, S. 349.
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Guggenheim schloss für seine Klientin nicht nur viele lukrative Verträge mit deutschen, österreichischen und schweizerischen Buchgemeinschaften ab, er handelte für sie auch eine guten Vertrag mit Kiepenheuer & Witsch aus, der ihr ab 1953 eine monatliche Garantie-Vorauszahlung von 400 Dollar auf ihre deutschen und ausländischen Tantiemen zusicherte.1556 Offenbar agierten Autorin und Agent als eingespieltes Team; während sie den Verlegern freundliche Briefe schickte und so tat, als würde sie vom Geschäftlichen nichts verstehen, stellte der »mit allen Wassern gewaschene Guggenheim« durchaus harte Forderungen.1557 Allerdings blieb auch dieses Verhältnis nicht ungetrübt, denn Baum machte Guggenheim dafür verantwortlich, dass sie immer noch im gleichen Ruf stand wie in der Ullstein-Zeit vor 1933, nämlich Verfasserin reiner Unterhaltungsliteratur zu sein. In der Tat war das eine natürliche Folge der »(mit ihr abgestimmten) Verkaufspolitik Guggenheims […]. Je mehr hoch dotierte Buchgemeinschaftsverträge er für sie abschloss, je mehr billige Vicki Baum-Ausgaben auf den Markt kamen, desto stärker wurde sie als Autorin entwertet«.1558 Das änderte aber nichts daran, dass sie bei schlechter werdender Gesundheit Guggenheim damit beauftragte, alle ihre Nachlassangelegenheiten und Rechtefragen in Europa zu vertreten.1559
New York: Robert Lantz Ltd. Nach Ende des Kriegs nahm die Bedeutung von New York als Umschlagplatz für den Lizenzhandel auf dem internationalen Buchmarkt zu, und nach wie vor mischten Emigranten in dem Business mit: Ein Beispiel dafür repräsentiert Robert Lantz* (1914 Berlin – 2007 Manhattan); er betrieb zwar eine Künstleragentur und hielt engen Kontakt mit den Studios in Hollywood, stand aber doch auch mit einer Reihe exilierter deutscher Schriftsteller in Verbindung.1560 Der Sohn eines Bühnenschriftstellers hatte seine Berufslaufbahn als Dramaturg beim Drei Masken Verlag in Berlin gestartet, und war dann bei der Ufa, bis ihm nach 1933 aus »rassischen« Gründen die Weiterführung seiner Tätigkeit verboten wurde. 1935 gelang Lantz die Flucht nach London, wo er Anstellungen bei großen amerikanischen Filmfirmen erhielt. 1946 immigrierte er mit einer Green Card in die USA und arbeitete für mehrere Agenturen zunächst in New York, danach für die Hollywood-Studios, bevor er für Bert Allenberg das New Yorker Büro von dessen Künstleragentur übernahm. Bald darauf machte er sich mit seiner eigenen Agentur Robert Lantz Ltd. in New York City selbständig; zu seinen ersten Autorenklienten gehörten Erich Maria Remarque und die außerordentlich erfolgreiche Carson McCullers, später kamen noch zahlreiche weitere hinzu wie Fritz Hochwälder, Hans Habe, Romain Gary oder auch Leonard Bernstein (dessen Nachlass er verwaltete) mit seinen Memoiren. Als Broadway- und Filmproduzent (gemeinsam mit Joseph L. Mankiewicz gründete er Figaro Productions) gelang ihm nicht der Durchbruch, darauf widmete er sich wieder ver-
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Nottelmann, S. 349 f. Nottelmann, S. 350. Nottelmann, S. 351. Nottelmann, S. 387. Vgl. Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1357 f.; Robert Lantz, 93, Agent to the Stars, Dies. In: The New York Times, 20. Oktober 2007 [online].
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stärkt seiner Agententätigkeit. In den 1980er und 1990er Jahren war seine unabhängige Firma unter dem Namen The Lantz Office Inc. eine der führenden Autoren- und Künstleragenturen mit Niederlassungen in New York und Hollywood; zu Lantzʼ Klienten gehörten Schauspieler und Schauspielerinnen wie Elizabeth Taylor, Bette Davis, Yul Brynner, Richard Burton, Liv Ullmann, Lilli Palmer, Maria Schell oder Hanna Schygulla. Lantz war so ein eindrucksvoller Repräsentant jener Gruppe von aus Deutschland und Österreich stammenden Emigranten, die als Agenten zentrale Positionen in der Unterhaltungsindustrie und im künstlerischen Leben der USA einnahmen und denen dabei das Etikett anhaftete, vor allem progressiv-liberale Künstler zu vertreten.1561
Die »zweite Generation«: Phänomen Literaturagentinnen Konnten schon in der eigentlichen Exilperiode mit Friderike Zweig, Anna Lifczis, Hertha Pauli oder Liesl Frank einige Beispiele für weibliche Betätigung im Agentenberuf genannt werden, so stellt in der Nachkriegszeit die stark steigende Zahl von Literaturagentinnen ein auffälliges Phänomen dar, zumal einige von ihnen vorderste Positionen in diesem Metier eingenommen haben. Ihr bemerkenswerter Erfolg hat wohl nicht zuletzt mit den besonderen Anforderungen dieses Berufszweigs zu tun: im Umgang mit Autoren und Autorinnen ist neben Fachkompetenz auch ein hohes Maß an sozialer und emotionaler Intelligenz gefragt. Zu der Gruppe der Exilagenturen der »zweiten Generation«, also jener Emigranten und Emigrantinnen, die sich erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in dieser Branche profilierten, zählen einige in New York agierende Literaturagentinnen: Elisabeth Marton* (1902 Budapest – 1992 Manhattan, N.Y.), die Schwester des Verlegers und Literaturagenten Georg(e) Marton (siehe oben) hatte vor dem Krieg als Copyright-Anwältin im Budapester Theaterverlag ihres Vaters Sandor Marton mitgearbeitet und diesen 1938 auch übernommen, durch die in Ungarn 1939 erlassenen Rassengesetze aber ihre Arbeitserlaubnis verloren. 1940 von der Gestapo verhaftet, war sie in ein Konzentrationslager in der Nähe von Budapest gebracht worden, das sie überlebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte sie ihren Bruder bei seiner Tätigkeit in Paris, bis sie 1953 nach New York ging und dort selbst in der Agenturbranche Fuß fasste. Zu ihren Erfolgsautoren zählten Upton Sinclair und Thornton Wilder, später spezialisierte sich ihr Büro auf den weltweiten Verkauf von Aufführungsrechten an amerikanischen Theaterstücken und Musicals; zu ihren größten kommerziellen Erfolgen zählten die Broadway-Hits Man of La Mancha und La Cage aux Folles.1562 Noch bevor sie eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, war Ellen Neuwald (-Sherman)* (1916 Berlin – 1990 Laguna Hills, CA) als 23-Jährige in die USA gekommen; sie arbeitete zunächst in Hollywood als persönliche Sekretärin u. a. von Irene Selz-
1561 So Macris, S. 1358. 1562 Vgl. Lexikon der österreichischen Exilliteratur (2000), S. 472; Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1359 f.; William H. Honan: Elisabeth Marton, Theater Agent, 90, In U. S. and Abroad. In: The New York Times, 20 May 1992 [online]. – Elisabeth Martons Lebensgeschichte diente David Schechter zur Vorlage für sein Stück Hannah Senesh.
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nick, George Cukor und Ingrid Bergman.1563 Mit dem Agenturgeschäft befasste sie sich erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei sich ihr Aktionsradius keineswegs nur auf den deutschsprachigen Markt beschränkte. Ihr Büro in New York führte sie später gemeinsam mit James Bohan als Bohan-Neuwald Agency, Inc. Auch Helen Merril* (1918 Köln – 1997 New York)1564 gehörte jener Generation an, die als Jugendliche aus Deutschland flüchten musste. Merril, die als Studentin im Widerstand gegen Hitler gekämpft hatte, arbeitete in New York zunächst als Theaterfotografin, später betrieb sie mit Unterstützung des Filmschauspielers Anthony Perkins die Osgood Gallery in Manhattan. Den Beruf als unabhängige Theateragentin ergriff sie erst 1973 mit Gründung ihres Büros Helen Merril Ltd., und hier war sie vor allem für Nachwuchsautoren des Off-Off-Broadway wichtig. Zu den von ihr vertretenen amerikanischen Bühnenautoren zählten u. a. Christopher Durang, Albert Innaurato, Richard Greenberg, Paul Rudnick und David Henry Hwang. Noch wesentlich jünger war Bridget Aschenberg* (1928 Hamburg – 2002 New York), die 1938 mit einem Transport jüdischer Kinder nach England gelangt war,1565 mit ihren Eltern 1949 in die USA immigrierte und 1959 an der Columbia University ihren Master of Arts in englischer Literatur machte. Bald darauf trat sie als Mitarbeiterin in eine Unterabteilung der Music Corporation of America (MCA Inc.) ein, die sich als Bühnen- und Filmagentur mit Nachwuchstalenten befasste. Nach deren Auflösung im Zusammenhang mit der Übernahme durch Universal Pictures war Aschenberg in den Nachfolgefirmen beschäftigt, bis sie 1975 vom ICM (International Creative Management) übernommen wurde, dessen New Yorker Büro sie bis 2000 angehörte. Als Theateragentin dieser Firma vertrat Aschenberg insbesondere die ausländischen Rechte von amerikanischen Theaterautoren (darunter Arthur Miller und Tennessee Williams) und Musicals, aber auch einige deutschsprachige Schriftsteller wie Jakov Lind und Gert Hofmann. Die alles in allem bedeutendste Vertreterin dieser Gruppe der deutschstämmigen Literaturagentinnen in New York war Joan Daves* (1919 Berlin – 1997 Bedford Hills, New York).1566 Lieselotte Davidson, wie Daves mit Geburtsnamen hieß, war die Tochter eines Berliner Bankiers, der – nach Zwangsarbeit bei Siemens – in Auschwitz ermordet wurde. Sie selbst war rechtzeitig außer Landes gebracht worden, hatte ein Studium in Paris aufgenommen, war von dort 1938 weiter emigriert nach London, und 1940 in die
1563 Vgl. Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1361; Ellen Neuwald Sherman, Literary Agent, 74. In: The New York Times, 7 January 1990 [online]. 1564 Vgl. Mel Gussow: Helen Merrill, Theatrical Agent, Dies at 79. In: The New York Times, 20 August 1997 [online]; Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1361. 1565 Vgl. Macris: Literatur- und Theateragenten, S. 1361 f.; Bridget Aschenberg. Playwright’s Agent. In: Variety, 11. 4. 2002 [Nachruf; online]. 1566 Genaueres zu Joan Daves bei Altenhein: Joan Daves, Berlin / New York. Spuren einer Literaturagentin. Vgl. auch die in Fischer: Handbuch verzeichneten Nachrufe sowie Macris: Deutschsprachige Literatur- und Theateragenten in den USA, S. 1360 f., sowie Writers House. A literary Agency, History of the House: http://writershouse.com/content/history.asp
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USA gelangt. Hier arbeitete sie in New York für Interscience Publishers,1567 danach im Verlag Harper & Brothers, für den sie »Harper’s Art Library« entwickelte. 1952 gründete Daves, die mit dem literarisch äußerst versierten deutschen Emigranten Joe (ursprgl. Joachim) Kirchberger* verheiratet war,1568 in New York eine eigene Agentur im Flatiron Building, die Joan Daves Literary Agency, mit der sie ‒ »fiction only« ‒ vor allem Lizenzen zwischen den USA und dem deutschen Sprachraum vermittelte. Aufgrund des Schicksals ihres Vaters wollte sie mit Deutschland eigentlich nichts mehr zu tun haben, aber da nach ihrem Empfinden in dieser Situation etwas »Unverdautes« lag, kam es schließlich doch zu einem Besuch in ihrem Geburtsland, der sie in Verbindung mit deutschen Verlagen, besonders Kiepenheuer & Witsch, und mit Heinrich Böll und anderen Vertretern der Nachkriegsgeneration brachte; mit Böll war sie in weiterer Folge gut befreundet. Sie besuchte Deutschland in Folge regelmäßig jährlich, trat in Kontakt mit Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die sie in den USA dann ebenso vertrat wie Alfred Andersch, Siegfried Lenz oder auch z. B. Willy Brandt im Bereich des politischen Sachbuchs. Zu weiteren von ihr vertretenen Autoren zählten neben Böll und Brandt noch andere Nobelpreisträger wie Hermann Hesse, Elias Canetti, Nelly Sachs, Gabriela Mistral oder Martin Luther King. Zu ihren Klienten außerhalb Deutschlands gehörten auch Federico Fellini oder Isaak Babel. Besonderes Gespür bewies sie für die tschechische Dissidenten-Literatur nach 1968 (sie machte Autoren wie Vaclav Havel, Pavel Kohout oder Ivan Klima in den USA bekannt) und die Literatur der DDR. Daves zählte jahrzehntelang zu den international führenden Literaturagenten, sie vertrat auch die amerikanischen Rechte mehrerer deutscher Verlage wie dtv, Diogenes Verlag, R. Piper & Co. und Verlagen der Holtzbrinck-Gruppe. In den 1980er Jahren geriet die Agentur in Schwierigkeiten, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Anerkennung ausländischer Literatur in Nordamerika, und so musste Daves 1989 eine Fusion mit der größeren Agentur Writers House eingehen, die einen Teil ihrer Autoren übernahm.
Emigranten als Literaturagenten in Europa nach 1945 Deutschland: Heinz und Ruth Liepman in Hamburg In Deutschland spielten im Beruf des Literaturagenten Remigranten nur vereinzelt eine Rolle. Richard Landauer* (1881 Augsburg – 1960 Tutzing) beispielsweise kann allen-
1567 Zu diesem Unternehmen siehe Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage. 1568 Kirchberger war Jurist, war aber nach der NS-»Machtergreifung« nicht in den Staatsdienst übernommen worden und hatte daher in einer großen Berliner Buchhandlung gearbeitet, bis er sich, nicht lange vor Kriegsausbruch, zur Emigration entschloss. In den USA war er zunächst als Vertreter tätig, nahm dann aber eine schriftstellerische Tätigkeit auf. Er verfasste eine Reihe von Sachbüchern zu historischen und kulturgeschichtlichen Themen, die gewöhnlich zeitgleich sowohl in englischsprachigen wie deutschsprachigen Ausgaben erschienen (u. a. The French Revolution and Napoleon; Great Women of the Bible in Art and Literature; The Civil War and Reconstruction: an eyewitness history). Vgl. Störig: Splitter. Umrisse einer Biographie, S. 189 f.
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falls als »Gelegenheitsagent« bezeichnet werden.1569 Der Gründer und Leiter des Münchener Delphin Verlags hatte sich 1938 mit seiner Familien nach London geflüchtet und war dort seit 1941 im Verlag Allen & Unwin tätig, zunächst nur als Bürokraft, nach 1945 jedoch einige Jahre im Foreign Rights Department. 1954 nach Deutschland zurückgekehrt, suchte er von München aus für Allen & Unwin Übersetzungsrechte an deutsche Verlage zu vermitteln. Der von den Nationalsozialisten verfolgte und »verbrannte« Schriftsteller Heinz Liepmann (später Liepman; 1905 Osnabrück – 1966 Agarone, Tessin) war über Amsterdam und Paris in die USA emigriert, wo er im New Yorker Exil für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften als Beiträger arbeitete; 1947 kehrte er als Korrespondent des Time-Magazins nach Deutschland zurück. 1949 gründete er in Hamburg gemeinsam mit seiner Frau Ruth Stock, geb. Lilienstein, eine literarische Agentur. Denn Liepman hatte im Auftrag seiner amerikanischen Agentin Ann Elmo eine Liste von Autoren mitgebracht, die in Deutschland nach Verlegern suchten, darunter Arthur Miller und Norman Mailer. Liepman bekam die Exklusivvertretung für eine Reihe amerikanischer Häuser, darunter Doubleday. In umgekehrter Richtung suchten US-amerikanische Verlage nach für sie interessanten deutschen Autoren; diesbezüglich arbeiteten die Liepmans mit Rowohlt, Hoffmann & Campe, S. Fischer und Claassen zusammen. Die Agentur war die erste ihrer Art im Nachkriegsdeutschland; bald hatte sie auch englische, israelische, holländische oder französische Autoren unter Vertrag. Als Liepman sich wieder ausschließlich dem Schreiben widmen wollte, übernahm seine Frau die Geschäftsführung der Agentur; große Namen wie J. D. Salinger, Vladimir Nabokov und Stephen King kamen dazu. 1961 verlegten die Liepmans den Sitz der bereits weltweit geschätzten Agentur nach Zürich (siehe unten), was Heinz Liepman wiederholt als seine »zweite Emigration« bezeichnete.1570
Großbritannien: Kalmer Literary Agency Besonders um die Vermittlung der österreichischen Nachkriegsliteratur in England hat sich verdient gemacht der Journalist und Schriftsteller Joseph (Josef) Kalmer* (1898 Nehrybka, Galizien – 1959 Wien). Kalmer hatte sich schon vor seiner Emigration nach England als Literaturagent betätigt.1571 Zum Zeitpunkt des »Anschlusses« Österreichs an Hitlerdeutschland war er Chefredakteur des »Central European Newspaper Service« in Wien; über Prag gelang Kalmer 1939 die Flucht nach London. Im Mai 1940 als »enemy alien« interniert, gab er im Lager auf der Isle of Man die Zeitung Mooragh Times heraus und wurde darauf beim Ministry of Information als Science Editor der in 30 Sprachen verbreiteten »European Correspondence« angestellt. Er pflegte seine Kontakte zur Literaturszene der österreichischen Emigration, u. a. zu Erich Fried, und veröf-
1569 Materialien in The Publishersʼ Archive, University of Reading, AUC 91/7, AUC 116/15, AUC 419/9. Siehe ferner Schier: Der Delphin-Verlag Dr. Richard Landauer. 1570 Weinke: Ich werde vielleicht später einmal Einfluß zu gewinnen suchen … Der Schriftsteller und Journalist Heinz Liepman (1905–1966). 1571 Nachlass im Österreichischen Literaturarchiv, ÖLA 45/96. Siehe auch Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 360 f.; Kaiser: Nicht fremde Weite. Der Lyriker, Journalist, Übersetzer Joseph Kalmer; Gausterer: Der Literaturvermittler Joseph Kalmer.
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fentlichte in Exilanthologien eigene Gedichte. Nach Kriegsende betrieb Kalmer, inzwischen britischer Staatsbürger, gemeinsam mit seiner Frau Erica geb. Ehrenfest (1913‒ 1986) die Kalmer Literary Agency; zu den von ihnen vertretenen Autoren zählten u. a. Günther Anders, Fritz Brügel, Hans Flesch-Brunningen, Erich Fried, Marlen Haushofer, Hilde Spiel und Hermynia Zur Mühlen. Kalmer arbeitete eng mit dem Wiener Europa Verlag zusammen, für den er auch als Übersetzer aus mehreren Sprachen tätig war. Im Weiteren engagierte sich Kalmer als Literarischer Agent wie auch als Übersetzer für die Verbreitung asiatischer Literatur im deutschsprachigen und englischsprachigen Raum.
Niederlande: Hein Kohn und das Internationaal Literatuur Bureau In dritter Generation wird heute das Internationaal Literatuur Bureau (ILB) geführt, das 1951 der Emigrant Hein Kohn* (ursprgl. Heinz K., 1907 Augsburg – 1979 Hilversum) in Hilversum gegründet hat. Kohn hatte in der Weimarer Zeit u. a. als Lektor für die Büchergilde Gutenberg gearbeitet und ist für den sozialdemokratischen Verlag Volksstimme, Bremerhaven, als Vertreter tätig gewesen.1572 Ab 1926 hatte er gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Oetinger, dem späteren Kinderbuchverleger, die HeinrichHeine-Buchhandlung in Hamburg geleitet. Im Mai 1933 war Kohn vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Exil in die Niederlande geflüchtet, wo er zunächst in Hilversum als Lektor beim Arbeiterradio VARA unterkam, für das er dann ab 1934 eine monatlich erscheinende Schriftenreihe mit Übersetzungen deutscher Autoren herausgab; außerdem übernahm er die Vertretung der inzwischen nach Zürich ausgewanderten Büchergilde Gutenberg für Holland. Bereits im Herbst 1933 hatte er nach deren Vorbild eine eigene Buchgemeinschaft mit Verlag gegründet, die Boekenvrienden Solidariteit. In dieser, ab dem Jahr 1936 unter dem Namen Het Nederlandsche Boekengilde firmierenden Gemeinschaft erschienen vor allem die Werke verfolgter deutscher Schriftsteller, auch in Koproduktion mit niederländischen Verlagen (Querido, Meulenhoff).1573 Während der Okkupation der Niederlande blieb Kohn in Holland und war ab 1940 vor allem im Untergrund aktiv. Nach dem Krieg fand Kohn eine Anstellung als Verlagsleiter bei Van Ditmar in Amsterdam, die er bis 1950 innehatte. 1951 nutzte Kohn seine guten Branchenkenntnisse und seine Kontakte zu Exilschriftstellern1574 wie beispielsweise Thomas Mann und Bertolt Brecht zur Gründung einer Literaturagentur, des Internationaal Literatuur Bureau, das anfänglich den Kurt Desch Verlag, dann auch die Verlage Suhrkamp, Rowohlt und Piper in Holland vertrat; Kohn vermittelte deutsche Schriftstel-
1572 Ein Teilnachlass von Hein Kohn befindet sich im Deutschen Exilarchiv der DNB Frankfurt a. M. EB 94/294, Bestand 0078. Siehe ferner Uri Benjamin (d. i. Walter Zadek): Die Rolle der Emigration als Brücke zwischen Kulturen. In: Bbl. (Ffm) Nr. 25 vom 28. 3. 1972, S. 585‒589; Skalicky: Literaturagenten in der literarischen Emigration, S. 122; Linda Kohn: Cross-Over Literature. 55 jaar Internationaal Literatuur Bureau. Soesterberg 2003; Koch: Literarischer Spürsinn und Diplomatie. Der Literaturagent Hein Kohn. Ergänzend: Schmidinger / Schoeller: Transit Amsterdam: Deutsche Künstler im Exil 1933‒1945. 1573 Näheres dazu im Kap. 6.4 Buchgemeinschaften. 1574 Kohns Sammlung von Exilliteratur wird in der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn verwahrt; er war auch Mitherausgeber der »Bibliothek der verbrannten Bücher«, erschienen im Konkret Literatur-Verlag Hamburg.
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ler wie Rolf Hochhuth, Willi Heinrich oder Heinz G. Konsalik in die Niederlande und führte niederländische Autoren wie Ly Corsary oder Jan de Hartog in die deutsche Literaturszene ein. Mitte der 1970er Jahren wurde die Agentur von seinem Sohn Menno Kohn* (geb. 1945) übernommen,1575 der eine buchhändlerische Ausbildung im Verlag Meulenhoff in Amsterdam erhalten hatte. Im ILB betreute er zunächst die englische Abteilung; als Leiter der Firma erweiterte er dann den Lizenzhandel für Übersetzungen in das Niederländische mit Autoren aus der englischen, amerikanischen und lateinamerikanischen Literatur (u. a. Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, John Fowles und Stephen King) und brachte u. a. Harry Mulisch und Cees Nooteboom an deutsche Verlage. 2003 übergab Menno Kohn das ILB seiner Tochter Linda, die zuvor ein Journalistikstudium sowie ein Studium der Buch- und Informationswissenschaft an der Universität von Amsterdam absolviert und danach u. a. in der Kinderbuchabteilung des Verlags Gottmer (Haarlem) gearbeitet hatte. Sie verlegte die Agentur von Hilversum nach Amsterdam und setzt die Tradition der nunmehr ältesten literarischen Agentur der Niederlande fort.
Schweden: Grete Berges, »litterær agent« Die Vorgeschichte der Agentur, die Grete (Gretchen) Berges* (1895 Hamburg – 1957 Stockholm) in Schweden betrieb, kann in ihren exilspezifischen Aspekten als durchaus exemplarich gelten.1576 Berges hatte als Fremdsprachenkorrespondentin und als Privatsekretärin des Verlegers Richard Hermes gearbeitet, ehe sie nach dem Ersten Weltkrieg schriftstellerische Ambitionen entwickelte; seit 1928 war sie außerdem bei der Hamburger Rundfunkanstalt »Norag« in verschiedenen Abteilungen tätig. 1932 gelang ihr mit dem Kinderbuch Liselott diktiert den Frieden, erschienen in der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart, ein schöner Erfolg; es wurde noch im gleichen Jahr mehrfach aufgelegt. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft 1933 bei der »Norag« entlassen, und nach gescheiterten Bemühungen nach New York zu emigrieren, kam Berges 1936 als Touristin getarnt nach Kopenhagen. Allerdings durfte sie in Dänemark als Ausländerin nicht arbeiten, sie lebte von Unterstützungen und bemühte sich weiter um ein US-Einreisevisum. Als sie sich in dieser Angelegenheit an Selma Lagerlöf wandte, vermittelte ihr diese im Sommer 1937 eine Aufenthaltsgenehmigung für Schweden. In Stockholm baute Berges ihr literarisches Büro »Press Service ‒ Book Service ‒ Translation« (so der Briefkopf ihres Geschäftspapiers)1577 auf, gab sich bereits 1938 die Berufsbezeichnung »litterær agent« und war seither bestrebt, literarische Texte und auch Fotomaterial aus Schweden ins Ausland zu vermitteln. Diesen Beruf der literarischen Agentin hat Berges nach eigenem Bekunden nicht freiwillig gewählt: »es ist ein Emigrationsberuf, er unterstand den damals noch sehr strengen Arbeitsgesetzen für Ausländer nicht.«1578 Die schwedische Sprache hat Berges rasch erlernt, sodass sie neben ihrer Agenturtätigkeit
1575 Siehe Art. Hein Kohn in Fischer: Handbuch, sowie die Homepage des Internationaal Literatuur Bureau Linda Kohn ILB [online]. 1576 Zu Bergesʼ Lebensgeschichte siehe Weinke: Die Kinderbuchautorin, Übersetzerin und Literaturagentin Grete Berges. 1577 »Der Weg zurück ist mir unmöglich«. Die Kinderbuchautorin, Übersetzerin und Literaturagentin Grete Berges. In: Hamburger Persönlichkeiten [online]. 1578 »Der Weg zurück ist mir unmöglich«.
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auch Rundfunkvorträge halten, für Zeitungen schreiben und als Übersetzerin arbeiten konnte. Als Publizistin und als Agentin, die sowohl schwedische wie deutschsprachige Autorinnen vertrat, wurde sie eine der wichtigsten Kulturvermittlerinnen in Skandinavien. Eine Rückkehr nach Hamburg war für die inzwischen entschieden kosmopolitisch eingestellte Emigrantin undenkbar, zumal auch ihre Wiedergutmachungsansprüche viele Jahre lang verschleppt wurden.
Zürich als Zentralort des internationalen Agenturgeschäfts In der »Kernzeit« des Exils 1933‒1945 waren in der Schweiz keine nachhaltigen Gründungen von Literaturagenturen zu verzeichnen. Immerhin einen Versuch unternahm der aus Deutschland vertriebene Verleger Julius Marx (1888 Freudenthal – 1970 Littenheid, Schweiz); sein 1937 ins Leben gerufener THEMA Filmstoff-Vertrieb in Zürich, der mit Paul Kohner kooperierte, sollte besonders Exilschriftstellern die Möglichkeit geben, ihre Ideen gewinnbringend zu vermarkten. So versuchte Marx als Theateragent damals Stücke von Georg Kaiser unterzubringen; das mit Hilfe des bekannten Theaterkritikers Bernhard Diebold betriebene Projekt blieb aber erfolglos und wurde bald wieder aufgelöst.1579 Ganz anders stellte sich die Situation nach Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Zürich avancierte seit Beginn der 1950er Jahre zur Hochburg des globalen Rechtehandels. Die Namen Ruth Liepman oder Lothar Mohrenwitz stehen für die überragende Bedeutung, die dieser typische Emigrantenberuf nach 1945 für literarische Brückenschläge über den Atlantik, für den transkontinentalen Austausch von Lizenzrechten, für die internationale Vernetzung des Literaturgeschehens gewonnen hat, wobei die dort entstandenen Agenturen weniger den Typus der Autorenagentur repräsentieren, die sich im Dienste des Schriftstellers um die optimale Verwertung von dessen Werken bemüht, sondern mehr noch den Typus der »Subagentur«, die ihrer missverständlichen Bezeichnung zum Trotz die vergleichsweise größere Bedeutung gewonnen hat, insofern es ihre Aufgabe ist, Werk- und Übersetzungsrechte auf dem internationalen Markt bestmöglich zu verwerten. Subagenturen arbeiten dabei nicht direkt mit dem Autor zusammen, sondern im Auftrag einer anderen Agentur oder eines Verlags. Die drei großen kontinentaleuropäischen, in Zürich angesiedelten Unternehmen Mohrbooks und Liepman sowie das (nicht aus der Hitleremigration heraus entstandene) Unternehmen von Paul & Peter Fritz, die bis zu 80 % der Übersetzungsrechte aus dem englischsprachigen Raum in den deutschsprachigen vermitteln, sind solche Subagenturen, wiewohl sie zusätzlich auch Funktionen einer Autorenagentur wahrnehmen.
Liepman AG Nach dem Tod ihres Mannes Heinz Liepman (siehe oben) nahm Ruth Liepman* (ursprgl. Ruth Lilienstein; 1909 Polch in der Eifel – 2001 Zürich), die vor 1933 ihr Jurastudium in Hamburg und Berlin abgeschlossen und sich während ihrer Studienzeit im illegalen Widerstand der KPD engagiert hatte, so dass sie nach Holland ins Exil
1579 Mittenzwei: Exil in der Schweiz, S. 234‒243.
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gehen musste,1580 zwei Partnerinnen in ihre seit 1961 in Zürich firmierende Agentur auf, Eva Koralnik und Ruth Weibel. 1981 wurde die Agentur in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, nach dem Tod Liepmans waren Koralnik und Weibel Alleininhaberinnen der Agentur, die in großem Maßstab internationale Autoren weltweit sowie viele ausländische Verlage und Agenturen für das deutsche Sprachgebiet vertritt. Zu den Nachlässen und ihren Übersetzungsrechten, die von Liepman verwaltet werden, zählen auch heute noch Autoren des Exils wie Anne Frank, Elias Canetti, Robert Neumann oder Erich Fromm. 2013 erfolgte der letzte Generationenwechsel: nunmehriger Alleininhaber ist Marc Koralnik, »nach 45 Jahren in diesem an- und aufregenden Beruf, dem wir mit Liebe und Leidenschaft gefrönt haben«, so Eva Koralnik und Ruth Weibel, »ziehen wir uns über die nächsten Monate aus dem Geschäft zurück, wobei wir unseren Nachfolgern weiterhin beratend zur Seite stehen.«1581
Mohrbooks Die 1950/1951 in Zürich von Lothar Mohrenwitz* (1886 Frankfurt a. M. – 1960 Zürich) gegründete Agentur Mohrbooks ist heute und schon lange ein »global-player« im Agenturgeschäft. Der studierte Kunstwissenschaftler Mohrenwitz war von 1919 bis 1924 Leiter des Münchner Hyperion-Verlags, der 1921 dem Kurt Wolff Verlag angeschlossen wurde. 1934 emigrierte Mohrenwitz nach London, wurde dort Mitarbeiter der berühmten Agentur Curtis Brown und handelte als »Literary and Dramatic Agent« mit deutschen und englischen Buchrechten; u. a. vermittelte er Hermann Brochs Schlafwandler-Roman an den Londoner Verlag Martin Secker und an den Bostoner Verlag Little, Brown & Co.; auch vertrat er die deutschen Verlagsrechte für Agatha Christie. Während der Kriegsjahre blieb vom deutschsprachigen Buchmarkt nur noch die Schweiz übrig, und so lag es nach Ende des Krieges für Mohrenwitz nahe, seine eigene Agentur in der Schweiz zu gründen, wohin schon gute Kontakte bestanden und von wo aus sich der internationale Zahlungsverkehr am unproblematischsten abwickeln ließ. Er gab seiner Agentur den Namen seiner alten Londoner Telegrammadresse Mohrbooks und gewann als Kompagnon Rainer Heumann (1923 Chemnitz – 1996 Zürich).1582 Mohrenwitz vertrat zunächst hauptsächlich britische Autoren und regte damit in der Schweiz sogar Verlagsgründungen an, so im Falle des Berner Scherz-Verlags, dem er einträgliche Titel u. a. von Agatha Christie, Winston Churchill und A. J. Cronin vermittelte. Seit Mohrenwitzʼ Tod leitete Heumann die Agentur und baute sie weiter aus; sie kontrollierte nicht nur die Weltrechte
1580 Siehe hierzu die Autobiographie: Liepman: Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall; ferner: Weinke: Ruth Liepman: Anwältin und Agentin der Autoren; Homepage Liepman Agency [online]. 1581 Börsenblatt, 21. Juni 2013 [online: https://www.boersenblatt.net/artikel-literary_agency_ liepman.626844.html] 1582 Heumann war nach dem Krieg aus Ostdeutschland geflüchtet und hatte in München u. a. in der Werbeagentur seines Onkels gearbeitet. Er ging dann nach Zürich und beteiligte sich an Mohrbooks; sein Haus in Küsnacht war bekannt nicht nur aufgrund der dort gesammelten Kunstschätze, sondern auch wegen der Gastfreundlichkeit seines weltgewandten Besitzers. In The Independent hieß es in einem Nachruf am 18. März 1996: »Rainer Heumann was the most powerful literary agent in Europe and possibly in the world«.
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(unter Einschluss aller Film- und sonstigen Nebenrechte) von erfolgreichen Exilschriftstellern wie Vicki Baum und Erich Maria Remarque, sondern war auch Schaltstelle für die Vergabe der Rechte von zahllosen berühmten Bestsellerautoren aus dem englischsprachigen Raum, von H. G. Wells, Graham Greene und George Orwell bis Mary McCarthy und Truman Capote. Nach Heumanns Tod 1996 wurde Sabine Ibach Geschäftsführerin, später Vorsitzende des Aufsichtsrates der Mohrbooks AG. Das Unternehmen, das sich als Importeur angloamerikanischer Literatur profiliert hat, gilt mit mehr als tausend Abschlüssen pro Jahr als größte literarische Agentur im deutschsprachigen Raum. Diese beiden großen Züricher Agenturen sind ein letzter Beleg dafür, wie sehr das Exil 1933–1945 mit seinen Folgewirkungen bis in unsere Gegenwart hereinreicht. Schon zuvor war an zahlreichen Beispielen deutlich geworden, in welchem Maße die Tätigkeit der Literaturagenten in und seit jener Epoche eine neue Intensität und Bedeutung gewonnen hat und was ihr Beitrag war zu jenen einschneidenden Veränderungen und nachhaltigen strukturellen Wandlungsprozessen, die zu einer fortschreitenden transnationalen Verflechtung der Märkte und letztlich zur Entstehung eines globalen Buchmarkts geführt haben. Wenn auf der Frankfurter Buchmesse das Lizenzgeschäft schon seit Jahrzehnten den wichtigsten Sektor des Messegeschehens darstellt und wenn sich heute bereits Nachwuchsautoren unter die Fittiche einer Literaturagentin begeben,1583 so kann dies als Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung betrachtet werden, zu der die Gruppe der Literaturagenten im Exil wichtige Impulse beigesteuert hat.
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Das Übersetzungswesen
Die literarische Emigration in der Übersetzungsstatistik Eng verbunden mit dem Tätigkeitsfeld der Literaturagenten ist das Übersetzungswesen, ein Thema, das in der Exilforschung lange Zeit wenig Beachtung gefunden hat.1584 Erst 1989 hat Harry Zohn in einem kurzen Aufsatz die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass für Exilschriftsteller die Möglichkeit, zu publizieren und in der neuen Lebenswelt literarische Wirkung zu erzielen, in hohem Maße davon abhing, ob es gelang, geeignete
1583 Siehe dazu diverse Beiträge in: Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb? 1584 Inzwischen ist die Diskussion in Gang gekommen, u. a. mit dem 2007 erschienenen Band: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 25: Übersetzung als transkultureller Prozess. Eine Fortsetzung erfuhr sie in Frankreich mit Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Die Translationswissenschaft hat das Thema erst vor kurzem entdeckt: Eine Konferenz »Übersetzer im Exil« fand als 4. Germersheimer Symposium »Übersetzen und Literatur« im November 2015 statt, wobei allerdings das Exil 1933‒1945 nur einen relativ kleinen Teil des Themenspektrums einnahm. Einige wenige Vorträge sind in den Band Übersetzerforschung: Neue Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Übersetzens aufgenommen worden, einschlägig ist allerdings nur der Beitrag von Hans Peter Neureuter zu Bertolt Brecht als Übersetzer; andere Beiträge haben Eingang in das Germersheimer Übersetzerlexikon [online] gefunden.
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Übersetzer zu finden – und Verlage, die bereit waren, die Übersetzungsarbeiten zu bezahlen.1585 Die Chancen dafür waren höchst unterschiedlich verteilt; viele der Schriftstelleremigranten waren im Ausland unbekannt und daher kaum gefragt, während die Autoren, die sich schon vor 1933 international einen Namen gemacht hatten wie etwa Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque oder Vicki Baum, sich in diesem Punkt kaum je vor Probleme gestellt sahen. Walter A. Berendsohn hat schon 1947 in seiner Dokumentation Die humanistische Front darauf hingewiesen, dass in der Übersetzungsstatistik des Index Translationum für die Jahre 1933‒1938 aus Deutschland und Österreich emigrierte Autoren Spitzenstellungen einnahmen.1586 In der Tat belegt der Index, dass die Literatur der Emigranten – trotz ihrer vergleichsweise ungünstigen Ausgangsposition – die im nationalsozialistischen Deutschland anerkannte oder geduldete Literatur auf dem Weltmarkt deutlich überflügelt hatte. Zwar war es Hedwig Courths-Mahler, die den ersten Platz mit 134 Übersetzungen (davon 59 in Ungarn und 40 in Polen) belegte, schon an zweiter Stelle folgte aber Stefan Zweig mit 111 Übersetzungen, und auch auf den weiteren Plätzen finden sich Exilautoren und -autorinnen: Vicki Baum mit 87, Lion Feuchtwanger mit 80 Übersetzungen, Thomas Mann mit 74, Emil Ludwig mit 60, als Sonderfall Erich Kästner mit 59 (hier war zwar nicht der Autor emigriert, aber ein Teil seiner Bücher) und der 1934 verstorbene Jakob Wassermann mit 57 Übersetzungen. Erst an neunter Stelle folgt wieder ein Nicht-Emigrant, der sich an die Zeit anpassende, aber durchaus nicht NS-begeisterte Hans Fallada mit 49 Übersetzungen. Die zehnte Position nimmt mit Franz Werfel (40 Übersetzungen) erneut ein Exilschriftsteller ein, gefolgt von B. Traven (34) und den Hitleremigranten Gina Kaus (30), Joseph Roth und Arnold Zweig (jeweils 28). Berendsohn schließt aus dieser Bilanz (in Summe handelt es sich lt. Index Translationum um 688 Übersetzungen exilierter Autoren in sechs Jahren1587), dass »die nationalsozialistische Literatur […] eine innerdeutsche Angelegenheit geblieben« ist, eine provinzielle Erscheinung, die man im Ausland allenfalls zur Kenntnis nahm, um an ihr die »Zeichen des geistigen Niedergangs« zu studieren.1588 Dagegen könne die Exilliteratur für sich in Anspruch nehmen, heute »überall als die repräsentative deutsche Literatur« zu gelten; sie habe, so Berendsohn schon im Vorwort zu seiner Dokumentation, »im Wettbewerb um das Interesse der Kulturwelt einen vollständigen Sieg über die Literatur der Heimat davon getragen.«1589
1585 Zohn: »Eine Hand im Handschuh«. Exilschriftsteller und Übersetzungen. 1586 Vgl. Berendsohn: Die humanistische Front, Bd. I, S. 155 f. Berendsohn verweist darauf, dass nicht alle in Frage kommenden Länder erfasst würden, die Verhältniszahlen aber doch aussagekräftig seien. Berücksichtigt waren: Deutschland, Dänemark, Spanien, USA, Frankreich, England, Ungarn, Italien, Norwegen, Polen, Rumänien, Schweden, Tschechoslowakei, seit 1934 auch die Sowjetunion, seit 1937 die Niederlande. 1587 Diese Zahlen sind durch neuere bibliographische Hilfsmittel überholt und müssten nach oben korrigiert werden. 1588 Berendsohn, S. 159. Felix Stiemer beklagte im Januar 1935 im Börsenblatt ganz offen die Dominanz der Emigrantenliteratur im Ausland, durch die »das Bild des deutschen Schaffens jenseits unserer Grenzen […] eine ununterbrochene Niederlage unserer wesentlichen Dichtung dar[stellt]: sie wird meist kaum dem Namen nach bekannt.« Zit. nach Joos: Trustees for the Public?, S. 141. 1589 Berendsohn: Die humanistische Front, Bd. I, S. 5.
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Verdienstchancen durch Übersetzungen und Übersetzen Über diese Konkurrenzthematik hinaus lenken Berendsohns Hinweise die Aufmerksamkeit auf die überragende Bedeutung des Übersetzungswesens für die literarische Emigration, und dies in mehrfacher Hinsicht: Dass es einige international bemerkenswert erfolgreiche Autoren gegeben hat, die durch Übersetzungshonorare zu hohen Einkünften kamen, ist aus den Zahlen des Index Translationum bereits indirekt hervorgegangen. In welchem Maße ein Autor von »marktgängiger Ware« damals von der Vergabe von Lizenzen profitieren konnte, mag ein Ausschnitt aus einem Brief Alfred Neumanns an Alexander Moritz Frey aus dem Jahr 1935 verdeutlichen. Neumann stellt dort zufrieden fest, dass sein Roman Neuer Cäsar (nicht zuletzt aufgrund zusätzlicher Verbreitung im Dritten Reich durch eine E. P. Tal-Titelausgabe1590) das 12. Tsd. erreichen könnte, und fügt hinzu: Die gleichzeitig erschienene englische Ausgabe ging gut, von der tschechischen hörte ich noch nichts; dagegen ist die kürzlich erschienene amerikanische Ausgabe scheinbar ein ganz grosser Erfolg, da sie dort schon die dritte Woche die best-sellerListe anführt. Jetzt kommt die französische Ausgabe, auf die ich sehr gespannt bin, dann die italienische und die übrigen, im ganzen zehn. In England erschien jüngst von mir so etwas wie eine Mumie, nämlich meine gute alte Christine-Biographie, geschrieben 22/23, bisher noch nicht erschienen. Sie sieht englisch-fürstlich aus, mit wunderbaren Bildern, und kostet auch 18 Schilling! Jetzt lasse ich sie auch deutsch bei de Lange erscheinen, der ausserdem eine Volksausgabe vom Teufel veranstaltet. Dadurch dürfte ich für dieses Jahr geldlich einigermaßen gesichert sein.1591 Auch für die weniger prominenten ins Ausland geflüchteten Schriftsteller wurden Übersetzungen zunehmend zu einer Existenzfrage: Wie schon im Zusammenhang mit dem Agenturwesen erwähnt, ergaben sich nach 1933 bei einem radikal geschrumpften und v. a. seit 1938 rasch weiter schrumpfenden Absatzmarkt für deutschsprachige Veröffentlichungen nennenswerte Einkommensmöglichkeiten immer mehr und in der letzten Phase des Exils fast nur noch mit Übersetzungen in fremde Sprachen.1592 Insbesondere einige amerikanische Verleger gewannen hier besondere Bedeutung, namentlich jene, die selbst deutschstämmig waren, wie Alfred A. Knopf oder Ben Huebsch1593 mit dem
1590 Siehe dazu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage den Abschnitt über die Kooperation Allert de Lange / E. P. Tal. 1591 Alfred Neumann aus seinem Exilort Florenz an A. M. Frey am 3. März 1935, Leo Baeck Institute, Alfred Neumann Collection AR 4983, Autographs 2 [online; http://www.archive. org/stream/alfredneumannf004#mode/1up]. 1592 Rietra: Heinrich Mann / Barthold Fles, S. 154: »Es ist 1933, und in Deutschland hat Hitler gerade die Macht ergriffen. Eine Reihe von Autoren verläßt das Land, um sich in Skandinavien, Holland, Großbritannien, Frankreich, Österreich und in der Tschechoslowakei oder der Schweiz niederzulassen. Ab dann bilden für viele von ihnen die Übersetzungsrechte oft nur noch die einzige Erwerbsquelle, und man muß sich nach neuen Verlegern umsehen.« 1593 Vgl. Sándor: Ein amerikanischer Verleger und die Exilautoren. [Benjamin Huebsch / Viking Press].
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Viking Verlag, aber auch Doubleday (z. B. für Vicki Baum).1594 Knopf hatte schon vor 1933 damit begonnen, Werke deutschsprachiger Autoren in Übersetzung herauszubringen, ab 1933 verstärkt sich im Prinzip diese Bereitschaft, auch wenn die Liste der abgelehnten Werke (118) mehr als doppelt so lang ist wie jene der angenommenen (49).1595 Bei den angenommenen stammten allerdings allein 15 von Thomas Mann; gut vertreten waren auch Alfred Neumann und Robert Neumann, F. C. Weiskopf, mit je zwei Titeln Heinrich Mann und Anna Reiner. Durch das Fehlen leistungsfähiger Exilverlage und die Unerreichbarkeit eines deutschlesenden Publikums in der zweiten Exilphase kam es immer öfter vor, dass eine Übersetzung noch vor der originalsprachlichen Ausgabe erschien. Somit waren diese Publikationen nicht mehr als »windfall profits«, als eine Zusatzeinnahme zu verstehen, sondern als Haupteinkommensquelle. Ein exemplarischer Fall ist Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz, das ursprünglich in Paris in den Éditions du 10 Mai erscheinen sollte, aber nicht rechtzeitig fertig war.1942 wurde der komplette Roman in den USA in englischer Sprache und erst danach in Mexiko im Exilverlag El Libro Libre in deutscher Sprache veröffentlicht. Ebenfalls 1942 wurde in den USA eine graphic-version des Romans (als »pictorial novel« gezeichnet von dem emigrierten Karikaturisten Leon Schleifer unter dem Pseudonym William Sharp) veröffentlicht, die, in zahlreichen Zeitungen abgedruckt, Millionen Leser erreicht hat. Anna Seghers war damit ihrer (notorischen) finanziellen Schwierigkeiten enthoben. Viele ihrer Schriftstellerkollegen und -kolleginnen, die ihre Werke in englischen oder amerikanischen Verlagen unterbringen konnten, sicherten sich so wenigstens das Existenzminimum. Während bis 1936 nur einige wenige englischsprachige Erstveröffentlichungen von Exilautoren zu finden sind, stieg deren Zahl ab 1937 stetig an und erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1944/1945.1596 Nicht nur für die Autoren, sondern auch für die Exilverlage waren die aus dem Verkauf von Übersetzungsrechten lukrierten Beträge von Anfang an überlebenswichtig. Als ein Beispiel kann der Verlag Allert de Lange dienen; Kerstin Schoor hat im Anhang ihrer einschlägigen Darstellung eine Liste mit Übersetzungen beigegeben, die deklarierterweise unvollständig ist, aber immerhin den Verkauf von 92 Übersetzungslizenzen von zwanzig Autoren anzeigt. Nur so konnte sich der Verlag für die Verluste schadlos halten, die er in der Regel mit den Originalausgaben erlitten hat.1597 Walter A. Berendsohn erhielt 1938 vom Querido Verlag auf Nachfrage die Auskunft: »Etwa 80 % unserer Produktion wird nach England und Amerika für Uebersetzungen verkauft, von den meis-
1594 Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger, S. 1425; Koepke: Die Exilautoren und der amerikanische Buchmarkt. 1595 Vgl. Thunecke: Deutschsprachige Exilveröffentlichungen in Übersetzungen beim New Yorker Knopf Verlag. Thunecke bringt im Anhang zu seinem Aufsatz eine »Bibliografie deutschsprachiger belletristischer Werke in englischer Übersetzung beim Alfred A. Knopf Verlag, New York (seit 1933)«, S. 143‒145; eine »Bibliografie deutschsprachiger Sachliteratur in englischer Übersetzung beim Alfred A. Knopf Verlag, New York (seit 1933)«, S. 145 f.; sowie eine »Bibliografie vom Alfred A. Knopf abgelehnter deutschsprachiger Werke (seit 1932)«, S. 146‒152. 1596 Strickhausen: Schreiben in der Sprache des Anderen, S. 369. 1597 Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 261 f.: Verzeichnis der von Allert de Lange zwischen 1933 und 1940 vertriebenen Übersetzungsrechte deutschsprachiger Bücher.
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ten Büchern liegen Uebersetzungen in vielen fremden Sprachen vor.«1598 Umgekehrt mussten viele Verlage Übersetzungen bzw. Übersetzungsrechte einkaufen, wenn sie ihr Publikationsprogramm gezielt ausbauen wollten. Exilverlage, die in besonderer Weise als Auftraggeber für Übersetzungsarbeiten hervortraten, waren die Büchergilde Gutenberg in Zürich, der Steinberg-Verlag in Zürich, auch Oprecht (inkl. Europa Verlag), die Verlage Gottfried Bermann Fischers, in gewissem Maße auch Allert de Lange und Querido, und nicht zuletzt die Verlage in der Sowjetunion. Nicht minder bedeutsam waren unter den Bedingungen des Exils die Verdienstchancen, die sich für literarisch Tätige oder literaturaffine, in Fremdsprachen versierte Exilanten durch Übersetzungsaufträge eröffneten. Das war wichtig für jene, die schon vor ihrer Vertreibung als Übersetzer tätig gewesen waren und so ihre Arbeit fortsetzen konnten, es war aber mindestens ebenso wichtig für alle, die im Exil im beruflichen Abseits gelandet waren und in der Übernahme von Übersetzungsaufträgen die einzige Möglichkeit fanden, zu Einkünften zu kommen und den Lebensunterhalt zu sichern. Über Fremdsprachenkenntnisse verfügten viele der aus gebildeten Schichten stammenden Exilanten.1599 Allerdings war Übersetzungsarbeit meist schlecht bezahlt; abgesehen davon fehlte es an Anerkennung für die Leistung, in nicht wenigen Fällen wurde der Übersetzer gar nicht erst genannt. Auch gab es zahlreiche Klagen, dass übersetzte Bücher häufig durch den Rost des Rezensionswesens fielen; sie fanden grundsätzlich viel weniger Beachtung als Originalveröffentlichungen. Ein zusätzliches, absolut exilspezifisches Problem ergab sich daraus, dass die Übersetzungsarbeit mit einem vielschichtigen Identifizierungsprozess zwischen Sprache, Kultur und Menschen verbunden war. Aus der doppelten, oft noch unklaren Beziehung eines Exilierten zu seiner Herkunfts- bzw. Aufnahmekultur konnte sich sehr leicht ein innerer Ambivalenzkonflikt ergeben. Noch stärker von dieser psychologischen Problematik betroffen waren die Schriftsteller selbst. Einerseits waren viele darauf eingestellt, als Vertreter des »Anderen Deutschland« (oder auch »Anderen Österreich«) an der ihre Identität ganz entscheidend prägenden deutschen Sprache festzuhalten,1600 andererseits war ihnen bewusst, dass sie in vielen Fällen nur mittels Übersetzung ein Publikum finden konnten, das über die relativ kleine Gruppe der Mitemigranten hinausging.1601 Dass die Übersetzungskosten durchaus ein Hindernis für eine Veröffentlichung darstellen konnten, mussten die Autoren und Autorinnen immer wieder zur Kenntnis nehmen. Diese Schwierigkeit zu umgehen, indem sie selbst begannen, in fremden Sprachen zu schreiben, schafften nur ganz
1598 Brief Querido Verlag an Walter Berendsohn vom 11. 2. 1938; Deutsches Exilarchiv, TLN Berendsohn, EB 54b/7,1283‒1288. 1599 Die beiden Bände des gedruckten Katalogs des Deutschen Exilarchivs in Frankfurt am Main verzeichnen in der Rubrik »Von Emigranten übersetzte Bücher« insgesamt 370 Titel, ohne aber Vollständigkeit zu beanspruchen (Deutsches Exilarchiv 1933‒1945. Katalog der Bücher und Broschüren, S. 713; Deutsches Exilarchiv 1933‒1945 und Sammlung ExilLiteratur 1933‒1945. Katalog der Bücher und Broschüren, S. 613 f.). Generell werden in diesem Kapitel diese beiden Kataloge zur Ermittlung und Identifizierung der übersetzten Literatur herangezogen, ohne dass dies im Einzelnen ausgewiesen wird. 1600 Zu der »Sprachbewahrungstendenz« der exilierten Schriftsteller vgl. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 32: Sprache(n) im Exil, insbesondere die Einleitung. 1601 Hierzu und zum Folgenden vgl. Zohn: »Eine Hand im Handschuh«.
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Abb. 50: Die Problematik nicht-professioneller Übersetzung wird in dem Brief des Literaturagenten Franz J. Horch an Raoul Auernheimer vom 26. Juni 1945 sehr deutlich angesprochen.
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wenige: Klaus Mann, Robert Neumann, Arthur Koestler, Joseph Wechsberg oder Hans Natonek. Von diesen erreichten zwar nur Koestler (Darkness at Noon, 1940) und Robert Neumann hohe, d. h. für Exilromane hohe Verkaufszahlen; alle hatten jedoch bessere Chancen auf Veröffentlichung, »weil dem britischen Verlag neben dem Risiko der Etablierung eines bis dahin wenig oder gar nicht bekannten Autors nicht auch noch die Übersetzungskosten ins Haus standen. Dies galt auch für Sachbuchautoren wie Peter de Mendelssohn, Sebastian Haffner oder Heinrich Fraenkel. Das Schreiben in der fremden Sprache war für sie jedoch einfacher als für Romanschriftsteller […].«1602 Klaus Manns auf Englisch geschriebener Lebensbericht The Turning Point war 1942 in New York herausgekommen, später fertigte er selbst eine deutsche Version an, die 1952 bei S. Fischer in Frankfurt am Main unter dem Titel Der Wendepunkt erschien. Sich selbst als Übersetzer eigener Werke in fremde Sprachen zu betätigen, führte oft genug zu desaströsen Ergebnissen, denn z. B. das Schulenglisch oder andere früher oder im Exil kurzfristig erworbene Sprachkenntnisse konnten niemals hinreichen, um eine marktfähige Übersetzung herzustellen. In der Regel war also die literarische Emigration auf die Arbeit von Übersetzern angewiesen.
Problem Übersetzungsqualität Eine weitere Schwierigkeit entstand daraus, dass es zwar in allen größeren Fluchtländern einheimische Übersetzer gab, die in der Lage waren, deutschsprachige Texte ins Englische, Amerikanische, Französische etc. zu übersetzen, dass aber selbst diese professionellen Übersetzungen qualitativ recht unterschiedlich gerieten: In einigen Fällen gelangen hervorragende Übertragungen, viel öfter aber fielen diese gegenüber dem Original ab und konnten sich dann sogar ruinös auf den Ruf eines Autors auswirken. Übersetzer, die Quell- und Zielsprache auf völlig gleichem Niveau beherrschten, gab es nur sehr wenige. Manche Autoren wechselten daher, meist aus Unzufriedenheit, häufig den Übersetzer, wie etwa Lion Feuchtwanger,1603 andere arbeiteten über lange Zeit mit der gleichen Übersetzerin zusammen wie etwa Thomas Mann.1604 Geteilte Aufnahme fanden z. B. die Übersetzungen der Henri IV-Romane Heinrich Manns, die von Eric Sutton erstellt wurden. Sutton, der sich als Übersetzer zahlreicher deutscher Exilschriftsteller profilierte (Arnold Zweig, Max Brod, Hans Habe, Vicki Baum), hatte für englische und amerikanische Verlage Young Henri of Navarre (1937) sowie Henri Quatre, King of France (1938/1939) für Secker & Warburg in London und A. Knopf in New York ins Englische übertragen und für seine Arbeit teils hohe Anerkennung (v. a. von Robert
1602 Siehe Joos: Trustees for the Public?, S. 152. 1603 Den Angaben Zohns zufolge wurden Feuchtwangers Werke übersetzt von Willa und Edwin Muir, Caroline Oram, Moray Firth, Helen Tracy Lowe-Porter, Frances Fawcett, Irene Josephy, G. A. Hermann, Ernst Kaiser und Eithne Wilkins, Elisabeth Abbot, Phyllis Blewitt und H. A. Basilius (Zohn: »Eine Hand im Handschuh«, S. 1348). 1604 Zu dessen »Leibübersetzerin« Helen Tracy Lowe-Porter stellt Zohn allerdings fest, sie sei »ihrer schweren Aufgabe nur sehr bedingt gewachsen« gewesen (Zohn, S. 1348). In Italien war es Lavinia Mazzucchetti; sie arbeitete im Verlag Mondadori als Agentin für deutsche Literatur und war Übersetzerin von Thomas Mann, dessen Gesamtausgabe sie auch dort herausgab.
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Neumann und Lion Feuchtwanger), teils aber auch Kritik, u. a. seitens des amerikanischen Verlegers Ben Huebsch, erfahren. Einige Übersetzer spezialisierten sich geradezu auf die deutschsprachige Exilliteratur; Harry Zohn nennt hier aus den USA das Beispiel des Ehepaars Richard und Clara Winston, mit dem er persönlich bekannt war. Er bezeichnet sie als »die wohl fruchtbarsten und gediegensten amerikanischen Übersetzer aus dem Deutschen«; von den mehr als 150 deutschsprachigen Büchern, die sie ab den späten 1930er Jahren übersetzt haben, dürften mehr als 30 von US-Immigranten stammen,1605 unter ihnen von René Fülöp-Miller 13 Titel, von Heinrich Eduard Jacob vier Titel, weitere von Walter Mehring (The Lost Library, 1951), Hans Sahl (der allerdings die Bemühungen der Winstons um bessere Lesbarkeit für das amerikanische Publikum nicht zu schätzen wusste) oder auch Carl Zuckmayer (Als wär’s ein Stück von mir / A Part of Myself, 1970). Vom Ehepaar Winston stammt auch die amerikanische Übersetzung von Thomas Manns Die Entstehung des Doktor Faustus (The Story of a Novel, 1961). Finanziell rentabel dürfte, nach Einschätzung der Winstons, allenfalls ein Zehntel davon gewesen sein, zumal übersetzte Bücher nicht nur durch zusätzliche Kostenbelastung – kalkulatorisch für den Verleger, aber auch für den Autor, bei dem in solchen Fällen das Honorar gedrückt wurde – ein Problem waren, sondern vielfach auch in intellektueller Hinsicht: Das europäische Geistesleben ließ sich nicht ohne Schwierigkeiten in das amerikanische Umfeld transferieren. Als ein weiteres Beispiel für amerikanische Übersetzer, die sich um die deutschsprachige Emigration verdient gemacht haben, lässt sich Heinz Norden nennen, der – geboren in London – seit 1924 in den USA lebte und Mitbegründer der American Translators Association war; er übersetzte (teilweise in Zusammenarbeit mit seiner Schwester Ruth Norden Lowe) u. a. Werke von Konrad Heiden (The New Inquisition, 1939), Heinz Pol (Suicide of a Democracy, 1940), Erika und Klaus Mann (The Other Germany, 1940), Martin Gumpert (First Papers, 1941), Emil Ludwig (The Germans, 1942) oder F. C. Weiskopf (Dawn Breaks, 1942; Children of Their Time, 1948). Ralph Manheim, dessen jahrzehntelange fulminante Karriere 1943 mit der Übersetzung von Hitlers Mein Kampf startete, übersetzte daran anschließend Konrad Heidens Manuskript Der Führer. Hitler’s Rise to Power (1944) ‒ das Buch fand große Verbreitung über den Book of the Month Club in den USA und über den Left Book Club in England ‒; es folgten viele Werke namhafter Exilanten wie Sigmund Freud, Bertolt Brecht oder Hermann Broch (The Guiltless, 1974). Der in Berlin geborene amerikanische Erzähler und Kritiker Ludwig Lewisohn übersetzte Soma Morgenstern, Jacob Picard, vor allem aber Franz Werfels The Song of Bernadette (1942), und trug so zu einem herausragenden Bestsellererfolg bei. Einige Übersetzer entwickelten besonderes Engagement; repräsentativ dafür sind die Beispiele von Jean Starr Untermeyer, die für Hermann Brochs Tod des Vergil intensive Studien betrieb (The Death of Virgil, 1945) oder von dem Universitätsprofessor Gustave O. Arlt, dem Übersetzer von Franz Werfel.1606 Über deren enge Zusammen-
1605 Winston: »Second-Class Refugees«: Literary Exiles from Hitler’s Germany and Their Translators. 1606 Zohn erwähnt an dieser Stelle Alexander Gode, der für seine Übersetzung von Fritz von Unruhs Der nie verlor eigens einen Verlag gründete; das Buch erschien unter dem Titel
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arbeit an Werfels postum bei Bermann Fischer in Stockholm erschienenem Roman Stern des Ungeborenen (Star of the Unborn, 1946) heißt es: »Wie Arlt erzählt, saßen die beiden Herren im Hotel Mirasol in Santa Barbara Zimmer an Zimmer, und während Werfel ein Romankapitel schrieb, übersetzte Arlt schon das vorhergehende. Die Übersetzung wurde dann gründlich durchgesprochen, wobei sich Werfel, wie Arlt sagt, als ein guter Kenner der Nuancen des Englischen erwies. Die letzten Kapitel wurden nach Werfels Tod von Arlt allein übertragen.«1607
Verlagsaufträge Selbst in den Exilverlagen in England erschienen deutschsprachige Titel nur in Ausnahmefällen.1608 Dazu zählten bei Lincolns-Prager Die Deutsche Walpurgisnacht von Dosio Koffler (1941; ein Jahr später in Englisch: The German Witchesʼ Sabbath: a satire in five scenes), bei Imago Theodor Reik: Aus Leiden Freuden (1940) und Sigmund Freuds Schriften aus dem Nachlass, herausgegeben von Anna Freud (1941). Robert Neumanns An den Wassern von Babylon ist bei East and West Library in einer Auflage von nur 500 Stück erschienen, nachdem es zuvor bereits in englischer Sprache vorlag. In dieser Konzentration auf englischsprachige Ausgaben drückt sich die verlegerische Notwendigkeit aus, von vornherein nicht nur die Emigranten-Community, sondern ein größeres Publikum anzusprechen. Damit einher ging auch das Signal zu einer größeren Integrationsbereitschaft im Gastland. Erst recht erschienen in den etablierten britischen Verlagen nur wenige deutschsprachige Titel; ein prominentes Ausnahmebeispiel sind Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit (London: Bell 1938), ansonsten kam in deutscher Sprache hauptsächlich nur politische Sachliteratur heraus. Andererseits wiesen viele Verleger auf Englisch eingereichte Werke zurück, weil diese den geforderten sprachlichen Standard nicht erreichten.1609 Übersetzungen, zumal gute, waren ein nicht zu vernachlässigender Kostenfaktor in der Verlagskalkulation. Manche Verleger übersetzten daher selbst, wie z. B. der bedeutende amerikanische (deutschstämmige) Verleger Ben Huebsch für seine Viking Press Werke von Stefan Zweig (Die Welt von gestern / The World of Yesterday, 1943; Schachnovelle / The Royal Game, 1944); der Lektor von Harcourt Brace Denver Lindley übersetzte einzelne Werke von Erich Maria Remarque, Thomas Mann oder Alfred Kubin. Ungeachtet des Kostendrucks gab es aber auch Exilverleger, die es sich in besonderer Weise angelegen sein ließen, Übersetzungsaufträge zu vergeben und entweder die Verbreitung der Exilliteratur oder aber das Be-
The End is not Yet im Verlag Storm Publishers (Zohn: »Eine Hand im Handschuh«, S. 1342); vgl. hierzu auch Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 1607 Foltin / Spalek: Franz Werfel, S. 648. 1608 Joos: Trustees for the Public?, S. 154 f., zu der Reihe »Deutsche Bücher«, die in Zusammenarbeit mit Bermann-Fischer bei Hamish Hamilton erschien (Franz Werfel: Das Lied von Bernadette, 1941; Stefan Zweig: Die Welt von gestern, 1941; Hans Habe: Ob Tausende fallen, 1943; Lion Feuchtwanger: Die Brüder Lautensack, 1944; Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, 1946). In den Kriegsjahren konnte Jakob Hegner bei Barnard & Westwood Werke von Richard Friedenthal, Toni Sussmann und Albin Stuebs in deutscher Sprache herausbringen. 1609 Vgl. Joos: Trustees for the Public?, S. 153.
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kanntwerden des deutschsprachigen literarischen Kanons zu fördern. Ein Beispiel für ersteres lieferte Kurt Wolff, der für seine Pantheon Books nicht nur den Brochʼschen Vergil-Roman aufwändig übersetzen ließ, ein Beispiel für letzteres Frederick Ungar, »dessen Verlag eine unübertroffene Anzahl von Übersetzungen aus dem Deutschen publizierte.«1610 Es gab allerdings auch Verlage, die recht willkürlich mit den eingelieferten Übersetzungsarbeiten umgingen. Ein markantes Beispiel dafür stellt die von Isak Grünberg (1897–1953) angefertigte Übersetzung von Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht dar; es war dies die erste Übertragung des nachmals so berühmten Romans überhaupt. Der aus Österreich stammende Grünberg war allerdings mit der Übersetzung, wie sie im Dezember 1933 bei Kittl in Mährisch-Ostrau erschien (die Rechte waren vom Piper Verlag in München, der die Übertragung eines Juden nicht mehr publizieren wollte), nicht einverstanden, weil er sie kaum noch als seine Arbeit wiedererkannte.
Emigranten als Übersetzer ins Deutsche Eine erste Gruppe innerhalb der Übersetzerschaft bilden jene Emigranten, die schon vor 1933 bzw. 1938 als Übersetzer in ihre Muttersprache tätig gewesen waren und in der Fremde diese Tätigkeit fortzusetzen suchten. Ein repräsentatives Beispiel für diese Gruppe stellt Paul Baudisch (1899 Wien – 1977 Dalarö/Schweden) dar, der zunächst als expressionistischer Dichter hervorgetreten war, sich aber schon seit den 1920er Jahren als Übersetzer einen Namen gemacht hatte. Aus Wien stammend, aber 1926‒1933 in Berlin lebend, hat er insbesondere mit seiner 1927 erschienenen Übersetzung von John Dos Passosʼ Manhattan Transfer (Berlin: S. Fischer) Beachtung gefunden und war zeitweise Vorsitzender des Bundes Deutscher Übersetzer.1611 1933 ging er zurück nach Österreich und übersetzte dort u. a. für den Malik Verlag aus dem Englischen (Upton Sinclair: William Fox, 1936). 1938 musste er auch aus Wien flüchten, hielt sich bis April 1939 in Frankreich auf, und nahm danach dauerhaft seinen Wohnsitz in Schweden. Dort war er als Drehbuchautor (zusammen mit Adolf Schütz) und als Schlagertexter tätig, immer wieder aber auch als Übersetzer, in besonderem Maße für den Bermann-Fischer Verlag in Stockholm (Harold George Nicolson: Ist der Krieg unvermeidlich?, 1939; Schalom Asch: Der Nazarener, 1940; Hemingway: Wem die Stunde schlägt, 1941; Roosevelt spricht: Die Kriegsreden des Präsidenten, 1945 u. a. m.). Die vielsprachig aufgewachsene Hermynia Zur Mühlen (1883 Wien – 1951 Radlett, Grafschaft Hertfordshire) hatte bereits 1917 mit dem Übersetzen von Romanen begonnen, da sie nach ihrer Scheidung von dem baltischen Gutsbesitzer Viktor von Zur Mühlen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen musste. In der Auswahl der Texte und Verlage ließ sie sich von ihrer entschieden sozialistischen Einstellung leiten; eine ihrer Entdeckungen war der amerikanische sozialkritische Autor Upton Sinclair, den sie – ein Ange-
1610 Zohn: »Eine Hand im Handschuh«, S. 1342. Zu Ungar und dessen eigener Übersetzungstätigkeit siehe den entsprechenden Abschnitt im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 1611 Vgl. Germersheimer Übersetzerlexikon [online], Lemma: Bund deutscher Übersetzer 1928– 1933.
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bot des Verlags Kurt Wolff ausschlagend – an den Malik Verlag Wieland Herzfeldes vermittelte. Für den Verlag war das ein ausgesprochener Glücksgriff, denn die Bücher von Upton Sinclair erwiesen sich als Verkaufsschlager und trugen ganz wesentlich zur Finanzierung des Verlagsbetriebs bei. Malik brachte bis 1938 nicht weniger als 32 SinclairTitel heraus, 24 davon in einer Übersetzung von Hermynia Zur Mühlen. Sie veranlasste auch, ebenfalls im Malik-Verlag, die Herausgabe der Gesammelten Werke in Einzelausgaben, deren Bände in zahlreichen Auflagen erschienen.1612 Die Zusammenarbeit mit Herzfelde und Sinclair verlief allerdings seit den ausgehenden 1920er Jahren nicht störungsfrei, bis hin zur Beendigung der Kooperation.1613 1933 ging die engagierte Antifaschistin (die sich allerdings zunehmend von der KP distanzierte) aus Berlin nach Wien zurück, wich 1938 zunächst nach Bratislava aus, und flüchtete 1939 über mehrere Länder nach Großbritannien. Zu den von Hermynia Zur Mühlen übersetzten Autoren gehörten neben Sinclair auch Henri Guilbeaux, Nathan Asch, John Galsworthy, Hugh Seymour Walpole sowie mehrere russische Autoren. Insgesamt stammen wohl mehr als 200 Roman- und Erzählungsübersetzungen aus dem Russischen, Amerikanischen, Englischen und Französischen aus ihrer Werkstatt, wobei ca. ein Viertel davon im Exil entstanden ist.1614 Sie arbeitete mit unterschiedlichen Verlagen zusammen, u. a. mit dem Züricher Steinberg-Verlag, für den sie von Nevil Shute Streng geheim (1946) und von Edna Ferber Saratoga (1947) und Die großen Söhne (1950) aus dem Englischen übersetzte. Für den ebenfalls in Zürich ansässigen Diana-Verlag übertrug sie zwei Bücher von Walpole (Der Turm am Meer, 1948; Der grüne Spiegel, 1950).1615 Im Übrigen ist in ähnlich produktiver Weise auch Stefan I. Klein (1889 Wien – 1961 London), der Lebensgefährte und (seit 1938) Ehemann Hermynia Zur Mühlens als Übersetzer tätig gewesen; er hat sich besondere Verdienste um die Vermittlung ungarischer Literatur erworben.1616 Im Exil konnte er im Verlag Allert de Lange insgesamt drei Romane von Jolán Földes unterbringen, darunter 1937 den Roman Die Straße der fischenden Katze, der mit dem vom »SDS im Exil« vergebenen Heine-Preis ausgezeichnet worden war. Wie seine prominentere Ehefrau war auch Klein durch lange Krankheit und im englischen Exil durch Verarmung eingeschränkt. Zu dieser Gruppe der erfahrenen Übersetzer zählte auch Carl Ehrenstein* (1892 Wien – 1971 Bromley / Kent), der jüngere Bruder des Dichters Albert Ehrenstein. Er war
1612 Vgl. Schulz: Upton Sinclair. Bibliografie seiner Werke in deutscher Sprache. – Weitere Werke Sinclairs wurden u. a. von Paul Baudisch sowie auch von Elias Canetti ins Deutsche übertragen. 1613 Vgl. die Korrespondenz in »Werter Genosse, die Maliks haben beschlossen.« Upton Sinclair, Wieland Herzfelde, Hermynia zur Mühlen. Briefe 1919‒1950. 1614 Einmal verwendete Zur Mühlen als Übersetzerin auch ein Pseudonym; als »Franziska Maria Tenberg« trat sie auf, um dem Benziger Verlag in Einsiedeln und Köln die Verbreitung von Ringuets Dreißig Morgen Land. Ein kanadischer Roman auch in Deutschland zu ermöglichen. 1615 In all diesen Jahren ist die »rote Gräfin« auch selbst als Schriftstellerin in unterschiedlichsten Genres hervorgetreten, darunter autobiographisch ausgerichteten Romanen; ihre 1924 erschienene linkspropagandistische Erzählung Schupomann Karl Müller hatte ihr sogar eine Anklage wegen Hochverrats eingebracht, von der sie aber 1926 freigesprochen wurde. 1616 Germersheimer Übersetzerlexikon [online].
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Ende der zwanziger Jahre im Auftrag von Adalbert Droemer, dem Inhaber des Knaur Verlags, als »Literaturscout« nach London gegangen, um englische Bestseller für die Serie »Romane der Welt« zu finden und zu übersetzen; seit 1929 arbeitete er auch für den Londoner Verlag Putnam als Übersetzer.1617 Carl Ehrenstein nahm seinen Bruder eine Zeit lang bei sich in London auf, bevor dieser nach New York emigrierte. Der Briefwechsel der beiden Brüder dokumentiert anschaulich die verzweifelten Anstrengungen, denen die aus Hitlerdeutschland geflüchteten Autoren und Verleger ausgesetzt waren, wenn sie auf dem englischsprachigen Buchmarkt ihre Existenz zu sichern versuchten.1618 Ehrenstein war Übersetzer u. a. von Werken E. A. Poes, Arnold Bennetts und P. C. Wrens. Auch übertrug er gemeinsam mit John Dorman den Alcibiades-Roman von Hans Flesch-Brunningen für Putnam (Forsaken by Gods and Men, 1936). Für Schweizer Exilverlage spielte Klaus Lambrecht als Übersetzer eine nicht unbedeutende Rolle. Geboren 1912 in Weimar, Schwiegersohn des Verlegers Georg Müller, hatte er bereits vor seiner Emigration John B. Priestleys Faraway, die ferne Insel für einen deutschen Verlag übersetzt (Berlin: Wegweiser-Verlag 1933; 1939 bei Büchergilde Gutenberg in Zürich neu aufgelegt). Für die Büchergilde Gutenberg in Zürich lieferte er Übersetzungen u. a. von John Dos Passos (Der große Schatten, 1938), H. G. Wells (Der heilige Terror, 1940) und John B. Priestley (Lasst das Volk doch singen, 1941).1619 Ebenso stand er in Verbindung mit Simon Menzels Humanitas Verlag in Zürich, für den er eine ganze Reihe von Romanen aus dem Englischen übersetzte: von Sinclair Lewis (»… König sein dagegen sehr!«, 1938; Die verlorenen Eltern, 1939), John Steinbeck (Die [!] Früchte des Zornes, 1940), Howard Spring (Künstler und Vagabunden, 1940), Christopher Morley (Kitty, 3. Aufl., 1941). Viele dieser Übersetzungen wurden nach 1945 von verschiedenen Verlagen neu aufgelegt. Als Übersetzer eines Großteils der in der Büchergilde Gutenberg erschienenen Romane von Jack London hatte sich in der Weimarer Zeit Erwin Magnus (1881 Hamburg – 1947 Kopenhagen) einen Namen gemacht; einige dieser Titel wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder neu aufgelegt.1620 Magnus flüchtete 1933 aus Berlin nach Dänemark und anschließend nach Schweden. Ohne Arbeitserlaubnis und ohne Tantiemen aus seinen bisherigen Übertragungen befand er sich in prekärer Lage und suchte seinen Lebensunterhalt zu sichern, indem er zum einen unter dem Pseudonym »Eleonore Voeltzel« Übersetzungen für den 1932 in Wien gegründeten Zinnen-Verlag1621 anfertigte, von Halldor Laxnessʼ Der Freisasse (1936) sowie einigen Romanen von Hakon Mielche (Wollen mal sehen, ob die Erde rund ist. Sorglose Segelfahrt durch sieben Meere, 1934; Reise ans Ende der Welt, 1938; Im Reiche des Kondors, 1939), die teilweise nach dem Krieg im Verlag von Kurt Desch1622 neu aufgelegt worden sind. Zum
1617 Zu C. Ehrenstein siehe auch Flesch-Brunningen: Die verführte Zeit, S. 80 f. 1618 Albert Ehrenstein: Werke. Bd. 1, Briefe. 1619 Vgl. auch: Büchergilde. Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg. (Zürich): Büchergilde Gutenberg, 1940. Mit Texten von und über Klaus Lambrecht, Ernst Preczang, Ricarda Huch, Anna Siemsen, Hermynia Zur Mühlen, Jakob Bührer, Erwin Magnus, Jonny G. Rieger u. a. 1620 Friedrich: Erwin Magnus. Der Mann, der das professionelle Übersetzen erfand. 1621 Vgl. hierzu die Skizze bei Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918‒1938 [online]. 1622 Kurt Desch war während des Kriegs im Wiener Zinnen Verlag (der 1935 eine Leipziger Scheinfirma gründete und den Firmensitz, nach der Flucht der jüdischen Inhaber, August
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anderen arbeitete Magnus im Exil weiter für die Büchergilde Gutenberg und brachte dort unter seinem wahren Namen Übersetzungen von Werken des dänischen Autors Peter Freuchen heraus (Der Nordkaper, Wien 1935; Meine grönländische Jugend, Zürich 1937; Das Leben geht weiter, Zürich 1941). Magnus starb verarmt im dänischen Exil. Der SPD-Politiker und nachmalige bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner musste sich im Schweizer Exil mit literarischen Arbeiten über Wasser halten und brachte nebst einem politisch-satirischen »Reisebericht« Wodans Wiederkunft (Zürich: JeanChristophe-Verlag 1936) – aufgrund der strengen Fremdengesetze unter dem Pseudonym »Wilhelm Ritter« – bei der Zürcher Büchergilde Gutenberg einige Übersetzungen aus dem Englischen heraus: Dickensʼ David Copperfield (1938), von Alice Tisdale Hobart Petroleum für die Lampen Chinas (1940), von Cronin Die Zitadelle (1940) und James Brodie (1941), von Louis Bromfield Der große Regen (1941) sowie von Walter Dumaux Edmonds Chad Hanna (1944). 1945 kam, ebenfalls in der Büchergilde, unter seinem wahren Namen eine Übersetzung von Alice Tisdale Hobarts Roman Becher und Schwert heraus. Als einer der aktivsten Übersetzer im Exil kann Rudolf Frank gelten, der rund 60 Übersetzungen von Romanen, Sachbüchern und Theaterstücken erarbeitet hat, überwiegend aus dem Englischen ins Deutsche.1623 Es handelte sich dabei durchwegs um Werke bekannter oder sogar berühmter Autoren, wie John Steinbeck, James Aldridge, Pearl S. Buck oder Sinclair Lewis. Dabei hatte Frank vor seiner 1936 erfolgten Emigration nur ganz vereinzelt Übersetzungsarbeiten geleistet (u. a. bei zwei Stücken Molières), er hatte aber seit Beginn der 1930er Jahre in Berlin für die Tobis-Polyphon Film AG zahlreiche amerikanische Filme synchronisiert und dabei einschlägige sprachliche Erfahrungen gesammelt. In der Schweiz, in die er sich geflüchtet hatte, hinderte ihn allerdings das Berufsverbot für Emigranten, offiziell eine Übersetzertätigkeit aufzunehmen, sodass er gezwungen war, diese Arbeiten unter verschiedenen Decknamen zu leisten. So kommt es auch, dass seine umfangreichen Aktivitäten erst spät in vollem Umfang wahrgenommen wurden. Frank arbeitete somit illegal für verschiedene Schweizer Verlage, darunter für den Leuenverlag, den die Schweizerin Charlotte Leuenberger gemeinsam mit dem Emigranten Hanno Zeiz 1939 ins Leben gerufen hatte, und zwar sowohl als Lektor wie als Übersetzer, wobei die Verlegerin sich als Übersetzerin ausgab. Zwischen 1941 und 1943 erschienen sechs Übersetzungen Franks im Alfred Scherz Verlag in Bern, darunter Emily Hahns Chinas drei große Schwestern (1941), Pearl S. Bucks Drachensaat (1942) sowie – in diesem Fall unter dem Namen eines befreundeten Professors Ernst Reinhard – Thomas Wolfes Es führt kein Weg zurück (1942). Danach wurde, bis in die späten 1950er Jahre, der Steinberg Verlag der Hauptauftraggeber Franks (alles in allem hat er 35 von Frank übersetzte Titel herausgebracht); dort erschienen seine Übersetzungen (u. a. von Frauenromanen der Bestsellerautorin Rachel Field) unter dem Namen einer Röntgenärztin aus Zürich, Olga Becker. Dies waren exiltypische Problemkonstellatio-
Amonesta und Leo Schidrowitz, nach München verlagerte) als Geschäftsführer tätig gewesen, hatte ihn nach Kriegsende und Erhalt der Verlagslizenz wiederbelebt und in den Kurt Desch Verlag überführt, siehe auch Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt, ab S. 100. 1623 Vgl. zum Folgenden Anne Benteler: Rudolf Frank als Übersetzer im Exil [online].
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nen, und dazu gehörte auch, dass Franks Verstoß gegen die Schweizer Fremdengesetze aufflog und er in Flüchtlingslager gebracht wurde; ein gegen ihn ausgesprochener Landesverweis konnte nicht exekutiert werden, da sich kein Aufnahmeland fand. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Frank seine Übersetzertätigkeit in der Schweiz fortsetzen, bis ihn 1957 aus Deutschland erhaltene Entschädigungszahlungen von der Fron des »Brot-«Übersetzens soweit befreiten, dass er nur noch besser bezahlte Aufträge annehmen konnte. Da sich die Arbeitsregelungen in der Schweiz nicht sofort änderten, kamen seine Übersetzungen noch einige Zeit unter Pseudonymen heraus.1624 Nach Aussagen von zeitgenössischen Beobachtern betrieb Herberth E. Herlitschka* (1893 Wien – 1970 Bern) in London, ab 1945 an seinem neuen Wohnsitz in der Schweiz eine Art »Literaturfabrik«.1625 Herlitschka war seit Beginn der 1930er Jahre mit Übersetzungen u. a. für den Wiener Verlag E. P. Tal (D. H. Lawrence: Lady Chatterley und ihr Liebhaber) und den Leipziger Insel Verlag bekannt geworden; nach seiner Flucht nach Großbritannien 1938 fertigte er zahlreiche Übersetzungen bedeutender englischer und amerikanischer Autoren an. Dabei war er für den Wiener Bermann-Fischer Verlag tätig (Vincent Sheean: Sanfelice, 1937), hauptsächlich aber für Züricher Verlage: Bei Rascher erschien 1939 Ann Bridge: Der gelbe Greif, bei Humanitas Ann Bridge: Gesang in Peking (1942) und Charles Morgan: Die Lebensreise (1943); bei Steinberg Charles Morgan: Das leere Zimmer (1943), Nigel Balchin: Mein eigener Henker (1948) sowie vier Titel von Aldous Huxley: Nach vielen Sommern (1945), Wissenschaft, Freiheit und Frieden (1947), Die graue Eminenz. Eine Studie über Religion und Politik (1948) und Zeit muß enden (1950). Im Verlag der Arche erschienen seine Übersetzungen von Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey (1945) und Katherine Mansfield: Ihr erster Ball. Vier Erzählungen (1948). Einen Sonderfall stellt die ebenfalls in Zürich im ApolloVerlag 1945 herausgebrachte deutsche Fassung von Benjamin Brittens Oper Peter Grimes dar. 1949 erschien in Amsterdam bei Bermann-Fischer / Querido Herlitschkas Übersetzung von Thornton Wilders Die Iden des März.1626
Exilschriftsteller als Übersetzer Für Bertolt Brecht gewannen Übersetzungsarbeiten im Exil besondere Bedeutung,1627 wobei er sich bei diesen Arbeiten meist der Hilfe seiner Mitarbeiterinnen bediente. Über
1624 Anne Benteler nennt nicht weniger als acht Pseudonyme: Frank C. Ruddy, Ernst Moser, Hanna Ricker, Ernst Reinhard, René Ruffener, Olga (Johanna) Becker, William G. Frank und H. Rosbaud. Insgesamt sei knapp ein Drittel von Franks Übersetzungen unter wechselnden Pseudonymen und einige weitere ohne Namensnennung erschienen. Neben den oben genannten Verlagen sind Übersetzungen auch im Zürcher Albert Müller Verlag und noch in anderen Verlagen in der Schweiz und Deutschland herausgekommen. 1625 Vgl. Erich Fried in: Zwischenwelt 1: »Über Kramer hinaus und zu ihm zurück«. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 1990, S. 84. 1626 Die University of Reading bewahrt in ihren Special Collections eine Sammlung von Manuskripten und Briefen Herlitschkas auf (https://www.reading.ac.uk/web/files/special-collec tions / HerlitschkaHandlist.pdf). Zuletzt war Herlitschka als Übersetzer auch im Bereich internationaler TV-Produktionen aktiv. 1627 Vgl. zum Folgenden den Artikel im Germersheimer Übersetzerlexikon [online].
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zehn Jahre, davon acht Jahre im gemeinsamen Exil, war Margarete Steffin in der »BrechtWerkstatt« als Co-Übersetzerin tätig (siehe dazu weiter unten); in Dänemark arbeitete Brecht im Zusammenhang von Übersetzungen eng mit Ruth Berlau (sie half ihm bei der Übersetzung von Gedichten ins Dänische) und Margarete Steffin zusammen. Brecht selbst dürfte vor allem 1940/1941 in Finnland, wo er auf das US-Visum wartete, intensiv mit Übersetzungsarbeit beschäftigt gewesen sein. Auch hier hatte er eine »Vorarbeiterin«, die estnisch-finnische Schriftstellerin Hella Wuolijoki, die ihm den Stoff für das Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti beschaffte und, selbst perfekt deutsch sprechend, bei den Übertragungen ihrer eigenen Dichtungen die Hauptarbeit geleistet haben dürfte. Vorübersetzungen zu finnischer Lyrik stammten auch von anderen Zuarbeitern; Brecht selbst dürfte nur Bearbeitungen davon vorgenommen haben. Bemerkenswerterweise befasste sich Brecht damals auch mit der Teilredaktion der von dem Altphilologen August Oehler erstellten Übersetzung einer altgriechischen Anthologie Der Kranz des Meleagros. Auch im US-amerikanischen Exil 1941 bis 1947 beschäftigte Brecht sich immer wieder mit Übersetzungsarbeiten, etwa von mährischen Volksliedern oder Schallplattensongs afroamerikanischer Sänger, um daraus Lieder für seine Stücke (Schweyk; Kaukasischer Kreidekreis) zu gewinnen; auch die übersetzerische Arbeit mit chinesischer Dichtung gewann damals wieder an Bedeutung. Besonders im Bereich der Lyrik taten sich die emigrierten Dichterinnen und Dichter hervor, etwa mit Übertragungen amerikanischer Dichtungen ins Deutsche, wie das bei Ernst Waldinger, Claire und Yvan Goll oder dem späteren Germanistikprofessor Heinz Politzer der Fall war. In den Niederlanden bildete sich ein Schwerpunkt der Lyrik-Übersetzung im Zeichen der Stefan-George-Nachfolge aus. Ernst Morwitz, der in Deutschland dem innersten Kreis um George angehört hatte, erarbeitete gemeinsam mit Carol North Valhope eine Übertragung von dessen Gedichten in englische Sprache (Stefan George: Poems. Rendered into English. New York: Pantheon Books 1943, auch London: Paul 1944). Einige Jahre später publizierte Morwitz sogar eine Werkausgabe (The Works of Stefan George. Rendered into English by Olga Marx and Ernst Morwitz. Chapel Hill: Univ. of North Carolina 1949) und gemeinsam mit Carol North Valhope auch Karl Wolfskehls 1933. A poem sequence, erschienen 1947 im Schocken Verlag New York.1628 Ebenso hatte sich Wolfgang Cordan (Ps. für Wolfgang Horn) als junger Mann an der Dichtung Stefan Georges begeistert; er stand im niederländischen Exil nicht nur dem Widerstand, sondern auch dem Kreis um Wolfgang Frommel nahe, der sich als Gralshüter der Georgeschen Tradition verstand. Cordan legte in den 1940er Jahren neben eigenen Werken mehrere Übersetzungen vor, die bei Stols (Eduard Hoornik: Geburt. Ein lyrischer Cyclus. Maastricht 1941), hauptsächlich aber in der Akademischen Verlagsanstalt Pantheon erschienen, die sich in den Zeiten der Besetzung unter der fingierten Angabe »Amsterdam, Leipzig: Tiefland-Verlag« tarnte (Spiegel der Niederlande. Die niederländische Dichtung seit der achtziger Bewegung, 1941; Der vlämische Spiegel. Die vlämische Dichtung von Guido Gezelle bis zur Gegenwart, 1944).
1628 Gemeinsam mit Olga Marx übersetzte Morwitz auch Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums für Kurt Wolffs Pantheon Books (Gods & heroes. Myths and Epics of ancient Greece, 1946); auch die »Autobiographie« des ehemaligen Leibarztes des Reichsführers SS Heinrich Himmler The Memoirs of Doctor Felix Kersten (Garden City: Doubleday 1947, mit Vorwort von Konrad Heiden) erschien in der Übersetzung Morwitz’.
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Ebenso in Verbindung zum George-Kreis gestanden hatte vor seiner Emigration Edwin Maria Landau* (1904 Koblenz – 2001 Zürich). Er hatte 1931 in Berlin zusammen mit Wolfgang Frommel den Verlag Die Runde gegründet; auch war er schriftstellerisch tätig.1629 Als er 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft auf Anordnung der RSK den Verlag aufgeben musste, war er zunächst in die Schweiz, 1938 dann nach England emigriert. Bei Kriegsausbruch auf einer Reise in Frankreich interniert, erhielt er erst 1943 offiziell politisches Asyl in der Schweiz, wo er nach Kriegsende blieb und als Essayist sowie als Übersetzer hauptsächlich aus dem Französischen ins Deutsche tätig war (Corneille, Racine, Molière, Voltaire, Mallarmé, Cocteau), von Paul Claudel veranstaltete er eine Werkausgabe.1630 Auf dem Gebiet der Theaterliteratur hat sich Ferdinand Bruckner (d. i. Theodor Tagger) aus dem US-amerikanischen Exil heraus Verdienste erworben, indem er 1949 Arthur Millers Death of a Salesman / Tod eines Handlungsreisenden übersetzte, ebenso Berthold Viertel, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Wien Anfang der 1950er Jahre die Stücke von Tennessee Williams (Die Glasmenagerie, Endstation Sehnsucht u. a. m.) in eigenen Übersetzungen inszenierte. Einen Sonderfall bilden nach 1945 die Übertragungen von amerikanischen Musicals ins Deutsche, die von Robert Gilbert (eig. David Robert Winterfeld; 1899 Berlin – 1978 Minusio / CH) erstellt wurden: Der bis 1933 erfolgreiche Textdichter, Komponist und Kabarettist war nach der NS-»Machtergreifung« zunächst nach Wien, 1938/1939 über Paris in die USA geflüchtet und erlangte, 1949 nach Zürich und München zurückgekehrt, mit deutschen Fassungen von mehr als zwanzig Musicals, darunter My Fair Lady, Hello Dolly!, Annie Get Your Gun, Man of La Mancha oder Cabaret zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Musiktheaters im deutschsprachigen Raum. Der deutsche Schriftsteller und Lyriker Ferdinand Hardekopf (1876 Varel – 1954 Zürich) gehörte nicht eigentlich der Hitler-Emigration an, denn er war bereits 1922 nach Paris umgezogen und dort hauptsächlich als Übersetzer tätig; 1946 übersiedelte er in die Schweiz. Schon um 1930 hatte er begonnen, die Werke André Gides zu übersetzen; seine Übertragung von Jean Gionos Erzählungen Einsamkeit des Mitleids erschienen bei S. Fischer 1934 noch in Berlin. 1937 kamen im Züricher Jean-Christophe-Verlag zwei (umstrittene) Bücher von André Gide in der Übersetzung Hardekopfs heraus (Zurück aus Sowjetrußland sowie Retuschen zu meinem Rußlandbuch); für Willi Münzenbergs Edition Sebastian Brant in Strasbourg übersetzte er René Schickeles Heimkehr (1939). In den eigentlichen Exiljahren arbeitete Hardekopf aber vorzugsweise für die Büchergilde Gutenberg in Zürich und suchte seinen Lebensunterhalt mit deren Übersetzungsaufträgen zu bestreiten. Bei der Büchergilde kamen heraus von Henry Poulaille Das tägliche Brot 1903‒1906 (1938), von Robert de Traz Vom Bündnis der Könige zur Liga der
1629 Das Portrait: Edwin Maria Landau. In: Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung Nr. 3, Juli 1994, S.19 f.; Mahnmalkoblenz ‒ Familie Edwin Landau [online]. 1630 1977 erhielt Landau, der lange Zeit (bis 1973) Präsident des Internationalen Schutzverbands deutschsprachiger Schriftsteller (ISDS) in der Schweiz war, »für seine von großem Einfühlungsvermögen zeugenden Übertragungen schwieriger Texte der französischen Bühnenliteratur« den Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
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Menschheit (1938), von Charles-Louis Philippe Marie Donadieu (1942), von Émile Zola Germinal (1947), von Anatole France Crainquebille (1947), drei Titel von André Malraux (Der Kampf mit dem Engel, 1948; Conditio humana, 1948; Die Eroberer. Der Königsweg. Die Lockung des Westens, 1950) und ein weiteres Hauptwerk von André Gide Die Falschmünzer (1950). Von Charles Ferdinand Ramuz übersetzte Hardekopf 1949 Maß des Menschen für die Büchergilde; 1950 erschien als Neuauflage im Züricher Steinberg Verlag das gemeinsam mit Elisabeth Ihle übersetzte Tagebuch 1896‒1942 des nämlichen Autors. Insgesamt sind wohl rund 50 Übersetzungen Hardekopfs in Buchform erschienen; Thomas Mann hielt ihn für einen der besten Übersetzer aus dem Französischen. Seine Übertragungen ins Deutsche lagen weit über seinen Tod hinaus noch zahlreichen neuaufgelegten Werken französischer Schriftsteller zugrunde, von Alexandre Dumas und Balzac über Prosper Mérimée bis zu Colette. Die Anzahl der Schriftsteller, die sich gelegentlich auch als Übersetzer betätigten, ist kaum überschaubar: Von Franz Hessel stammt die Übersetzung von Julien Greens Roman Der Geisterseher, die unter der Ortsangabe »Leipzig, Mährisch-Ostrau« 1934 bei Kittl herauskam. Balder Olden übertrug Upton Sinclairs Auf Vorposten. Erinnerungen aus dem Amerikanischen (»Berlin, z. Zt. Prag Malik 1934«). Annette Kolb übersetzte von Jean Giraudoux das Schauspiel in zwei Akten Kein Krieg in Troja, das bei Bermann-Fischer 1936 in Wien erschien. F. C. Weiskopf lieferte für den Malik Verlag 1937 eine Übertragung heimatlicher Dichtung mit Das Herz – ein Schild. Lyrik der Tschechen und Slowaken. Ernst Weiß erhielt Übersetzungsaufträge vom Amsterdamer Querido-Verlag und übertrug für diesen, ebenfalls aus dem Amerikanischen, James Mallahan Cain: Serenade in Mexico (1938), Alfred Wolfenstein übersetzte Emily Brontes Umwitterte Höhen (1938) und Flauberts Madame Bovary (1941), beides für die Büchergilde Gutenberg in Zürich. Hermann Kesten übersetzte John Gunther: So sehe ich Asien! (erschienen 1940) für den Verlag Allert de Lange in Amsterdam ins Deutsche, außerdem Stephen Vincent Benét: Amerika (New York: Overseas Editions 1945). Yvan Goll übersetzte im New Yorker Exil Franz Werfels Bernadette-Roman in französische Sprache (Le chant de Bernadette. Roman d’une destine merveilleuse. New York: Editions de la Maison Francaise 1942). Als lyrischer Übersetzer wurde Michael Hamburger hoch anerkannt, u. a. aufgrund seiner Poems of Friedrich Hölderlin (London: Nicholson & Watson 1943) und Charles Baudelaires Twenty Prose Poems (London: Editions Poetry 1946). Hans Flesch(-Brunningen) brachte William Somerset Maughams Erzählung Macchiavelli in Imola, oder Damals und heute ins Deutsche (Zürich: Steinberg 1947), Klaus Mann übersetzte nach Kriegsende sein 1943 in New York erstveröffentlichtes Buch André Gide and the Crisis of Modern Thought für den Züricher Steinberg-Verlag selbst (André Gide. Die Geschichte eines Europäers, 1948). Die Liste wäre noch lange fortsetzbar; ergänzend sollen aber einige besondere Fälle genannt werden. Dazu gehört Martin Beheim-Schwarzbach aufgrund des überragenden Erfolgs, den seine Übersetzung von Margaret Mitchells Roman Vom Winde verweht 1937 für den noch jungen Verlag H. Goverts erzielte. Aus Sorge vor politischer Verfolgung unter dem nationalsozialistischen Regime emigrierte Beheim-Schwarzbach zwei Jahre später nach London, wo er sich u. a. als Übersetzer von A. J. Cronin (Die Dame mit den Nelken, 1940) und Cecil Scott Forester betätigte (Das verlorene Paradies, 1941), beide Titel erschienen in Bern im Scherz Verlag. Den Fall eines stärker spezialisierten Übersetzers verkörpert Siegfried Schmitz (1886 Neutitschein – 1941 Jerusalem); der zionistisch orientierte Journalist übertrug vor-
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zugsweise aus dem Jiddischen.1631 Für Allert de Lange übersetzte er mehrere Werke Schalom Aschs ins Deutsche, so Kinder in der Fremde (1935), Der Krieg geht weiter und Gesang des Tales (1938). Dass Emigranten aufgrund ihrer Sprach- und Kulturkenntnisse mit Übersetzungsaufgaben unterschiedlichster Art betraut worden sind, zeigt das Beispiel von Carl Brinitzer, der nach 1938 im Londoner Exil im Deutschen Dienst der BBC vom einfachen Übersetzer zum Leiter der deutschen »Ansager- und Übersetzer-Abteilung« aufstieg, als Übersetzer von Sachbüchern, Rex Stout-Kriminalromanen und noch anderen Werken aber erst nach 1945 in Erscheinung trat.1632 Albert Vigoleis Thelen machte es sich zur Aufgabe, das Werk des portugiesischen Dichters Teixeira de Pascoaes ins Deutsche bzw. ins Niederländische zu übertragen (Hieronymus, der Dichter der Freundschaft. Amsterdam, Leipzig: Tiefland-Verlag [vielmehr: Amsterdam: Akademische Verlagsanstalt Pantheon] 1941 und Zürich, Leipzig: Rhein-Verlag 1942; Paulus, de Dichter Gods. Amsterdam: Meulenhoff 1937; Paulus, der Dichter Gottes. Zürich: Rascher 1938; Verbum obscurum, aphorismen. Amsterdam: Meulenhoff 1946; Napoleon, spiegel van de antichrist. Amsterdam: Meulenhoff 1950). Zeit seines Lebens hat Stefan Zweig im Übersetzen eine immens wichtige Vermittlungsarbeit zwischen den Kulturen gesehen; er hat dazu auch im Exil Beiträge geliefert, so mit einer Übersetzung des Stücks von Luigi Pirandello Man weiß nicht wie, erschienen 1935 in Wien bei Reichner, oder einige Jahre später, gemeinsam mit Richard Friedenthal mit Irwin Edmans Ein Schimmer Licht im Dunkel (Stockholm: Bermann-Fischer 1940). Bemerkenswert, dass ihm damals in der sprachlichen Fremde sein eigenes Schreiben problematisch wurde: Er rechnete nicht mehr damit, dass neu entstehende Werke in der Originalsprache Deutsch erscheinen würden, und spürte, wie ihm in dieser Situation die Sorgfalt des Formulierens abhanden kam: »Zuweilen werde ich etwas nachlässig, weil ich doch nur für den Übersetzer schreibe.«1633 Dass ihn gerade die Übersetzungen seiner Werke weltberühmt gemacht hatten, bedeutete ihm in dieser letzten Phase seines Lebens offensichtlich wenig. Hans Sahl, der 1953‒1958 wieder in Deutschland lebte (und sich hier endgültig erst wieder 1989 niederließ), bewies eine ungewöhnlich große Offenheit für das geistigliterarische Leben in seinem letzten Exilland, den USA, und rückte so in die Rolle eines engagierten Kulturvermittlers ein.1634 Es begann damit, dass Thornton Wilder aufgrund der bis dahin unbefriedigenden Übersetzungen seiner Stücke ins Deutsche auf der Suche nach einem Übersetzer von Niveau war und seine Wahl auf Hans Sahl fiel. Sahl übertrug nicht nur die nachfolgend in Deutschland und Österreich so oft gespielten Stücke Our Town / Unsere kleine Stadt (1950) und The Skin of our Teeth / Wir sind noch einmal davongekommen (1960) ins Deutsche, sondern noch einige weitere Stücke sowie den Roman Theophilus North oder Ein Heiliger wider Willen (1974). Sein Motto dabei war:
1631 Siehe Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950 [online]. 1632 Vgl. Germersheimer Übersetzerlexikon [online]. 1633 Stefan Zweig in einem Brief an Richard Friedenthal vom 19. September 1941, in: Stefan Zweig: Briefe an Freunde, S. 333. 1634 Vgl. Köpke: Hans Sahl als Übersetzer. Vgl. ferner die thematisch einschlägigen autobiographischen Berichte Sahls, bes. Das Exil im Exil, S. 181‒194.
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»Ich übersetze nicht Thornton Wilder, […] ich schreibe, wie Thornton Wilder schreiben würde, wenn er Deutsch schriebe.«1635 Obwohl sich Sahl nicht als professioneller Übersetzer fühlte, übertrug er noch zahlreiche weitere Werke bedeutender amerikanischer Autoren ins Deutsche: von Tennessee Williams (Cat on a Hot Tin Roof /Die Katze auf dem heißen Blechdach (1956), Suddenly last Summer / Plötzlich letzten Sommer (1960), Sweet Bird of Youth / Süßer Vogel Jugend (1962), A Streetcar named desire / Endstation Sehnsucht (1966) u. a. m.), von Arthur Miller (After the Fall / Nach dem Sündenfall (1964), Incident in Vichy / Zwischenfall in Vichy (1965)), und von Arthur Kopit (Oh Dad, poor Dad, Mamma’s Hung You in the Closet and I’m Feelin’ So Sad / Oh Vater, armer Vater, Mutter hängt dich in den Schrank und ich bin ganz krank (1965)), aber auch solche des britischen Autors John Osborne (u. a. Look Back in Anger / Blick zurück im Zorn, (1958)). Dass er für all diese Vermittlungsleistungen 1979 den Thornton Wilder Prize for Distinguished Translations of American Literature des Translation Centers der Columbia University erhielt,1636 erscheint mehr als gerechtfertigt: »Ein beträchtlicher Teil der Kenntnis des neuen amerikanischen Theaters der 1950er Jahre und 1960er Jahre in Deutschland ist somit Hans Sahl zu verdanken.«1637 Als ein Dichter-Übersetzer trat nach seiner Rückkehr in die DDR auch Erich Arendt mit Übersetzungen hervor, die im kolumbianischen Exil entstanden waren und maßgeblich zur Rezeption der lateinamerikanischen Lyrik und der politischen Dichtung Spaniens im deutschen Sprachraum beitrugen.1638 In ganz ähnlicher Weise hat auch Nelly Sachs im Exil in Stockholm durch ihre Übersetzungen Wesentliches für die Vermittlung schwedischer Lyrik in den deutschen Sprachraum geleistet, wobei auch in diesem Fall die Auseinandersetzung mit modernen schwedischen Dichterinnen und Dichtern in den Exiljahren begann, die Veröffentlichungen aber erst nach Kriegsende erfolgten.1639
Das Sachbuch in Übersetzung Eine fast unüberschaubare Menge an Übersetzungen ist in der Epoche des Exils auch im Sachbuch-Bereich entstanden, insbesondere beim politischen Sachbuch. Im Folgenden sollen nur einige Beispiele für zeitcharakteristische, auflagenstarke Sachbücher genannt werden. Fritz Heymann, der bis zu seiner Flucht 1933 ins Saarland und 1935 weiter nach Amsterdam Journalist gewesen war, übersetzte für den Verlag Allert de Lange vorzugsweise politische Sachbücher aus dem Englischen, wie Winston Churchills Große Zeitgenossen (1938), John Gunthers So sehe ich Europa! (1937), Walter G. Krivitskys Ich war in Stalins Dienst! (1940). Für den Querido Verlag übersetzte er Stephen Henry Roberts: Das Haus, das Hitler baute (1938). Als Schriftsteller arbeitete Heymann an seinem Hauptwerk Der Chevalier von Geldern. Eine Chronik vom Abenteuer der Juden, das 1937 im Amsterdamer Querido Verlag erschien.1640 1635 1636 1637 1638 1639 1640
Zit. n. Köpke: Hans Sahl als Übersetzer, S. 211. Vgl. Zohn: »Eine Hand im Handschuh«., S. 1348. Köpke: Hans Sahl als Übersetzer, S. 209. Vgl. Germersheimer Übersetzerlexikon [online]. Vgl. Germersheimer Übersetzerlexikon [online]. Nach der Besetzung der Niederlande lebte Heymann im Untergrund, wurde aber aufgegriffen und in ein Konzentrationslager deportiert; 1944 wurde er im KZ Auschwitz ermordet.
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Eva Röpke, Ehefrau des zunächst in die Türkei und dann nach Genf emigrierten Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Röpke, eines der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft, übersetzte Friedrich August von Hayeks Der Weg zur Knechtschaft (Erlenbach-Zürich: Rentsch 1944; bis in die 1990er Jahre immer wieder neu aufgelegt) sowie von Allan G. B. Fisher Fortschritt und soziale Sicherheit (Bern: Francke 1947). Der emigrierte deutsche Soziologe Kurt H. Wolff übersetzte im US-amerikanischen Exil Georg Simmel (The sociology of Georg Simmel. Glencoe, Ill.: Free Press 1950). Selbstverständlich kam im Exil auch Ratgeberliteratur in Übersetzungen heraus; als ein typisches Beispiel sei hier genannt die Übersetzung Robert Lohans von W. Tasker Withams Americans as they speak and live (So spricht und lebt man in Amerika), erschienen in New York bei Frederick Ungar 1945; Lohan war vor dem »Anschluss« Österreichs in der Verlagsbranche tätig gewesen (1927 bis 1929 Direktor des Wiener Spiegel-Verlages, danach literarischer Leiter des Münchner Kulturverlages), im US-amerikanischen Exil arbeitete er als Literaturlehrer am Hatwick College in Oneonta, Bundesstaat N.Y. Aus dem ethnographischen Bereich sei genannt das Werk von Arthur Ramosʼ Die Negerkulturen in der neuen Welt, das 1946 bei Rentsch in Erlenbach-Zürich herauskam, übersetzt von dem nach Brasilien emigrierten deutschen Reiseschriftsteller Richard Katz. In umgekehrter Richtung, aus dem Deutschen ins Amerikanische, übersetzte Heinrich Hauser; er machte das Publikum bekannt mit Max Picards beachtenswerter Schrift Hitler in ourselves und Leonhard von Muralts From Versailles to Potsdam (beide Hinsdale, Ill.: Regnery 1947 bzw. 1948).
Emigrierte Verlagsmitarbeiter als Übersetzer Eine eigene Gruppe lässt sich bilden aus den als Übersetzer tätigen Emigranten, die vor 1933 in großen deutschen Verlagshäusern in leitender Funktion tätig gewesen waren und nach ihrer Flucht aus Deutschland ihre im Beruf erworbenen Kenntnisse zur Existenzsicherung einzubringen versuchten. Zu diesen zählt Max Krell* (1887 auf Hubertusburg in Wermsdorf – 1962 Florenz), der seit 1925 bis zu seiner Emigration 1936 die Leitung der Romanabteilung im Ullstein Verlag innegehabt hatte und dort u. a. die Werke von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller sowie Erich Maria Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues betreut hatte. Er war 1936 über die Schweiz nach Italien emigriert und lebte als freier Schriftsteller und Übersetzer (vor allem H. de Balzacs) in Florenz.1641 Der aus einer streng orthodoxen jüdischen Gelehrtenfamilie stammende Jonas Lesser* (1895 Czernowitz, Bukowina – 1968 London) kann als Repräsentant der Bukowiner jüdischen Intelligenz gelten. Er war 1925 auf Empfehlung von Arthur Schnitzler in den Paul Zsolnay Verlag als Lektor eingetreten und hatte diese Tätigkeit 13 Jahre lang ausgeübt und dabei, zuletzt als Cheflektor, Werke von John Galsworthy, Heinrich Mann, Franz Werfel oder Max Brod betreut. Ende 1938 flüchtete Lesser nach London, wo er sich nur schwer in den neuen Verhältnissen zurechtfand. Er lieferte Beiträge zu der Zeitschrift German Life and Letters, arbeitete an seinem literaturwissenschaftlichen Hauptwerk
1641 Siehe auch die 1961 erteilten autobiographischen Auskünfte in Krell: Das alles gab es einmal.
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Thomas Mann in der Epoche seiner Vollendung1642 (erschienen bei Desch, München 1952) und übersetzte für den deutschen Buchmarkt englische bzw. amerikanische Literatur (Graham Greene Orientexpress. Wien, Hamburg: Zsolnay 1950, Die Erziehung des Henry Adams, von ihm selbst erzählt. Zürich: Manesse 1953).1643 Mehrgleisige Berufserfahrung im Verlagswesen hatte der promovierte Jurist Justinian Frisch (1879 Kritzendorf b. Wien – 1949 Cambridge) vor seiner Emigration erworben. Er hatte nach dem Studium noch eine Ausbildung zum Buchdrucker absolviert und war in Wien in großen Druckunternehmen tätig; 1930 gründete er ein Studio für künstlerische Reklame.1644 Als Gottfried Bermann Fischer seinen Verlag nach Wien transferierte, trat Frisch 1936 als Buchhersteller in den Verlag ein, gab dort 1937 gemeinsam mit seiner Frau Martha als Übersetzer Briefe Vincent van Goghs an den Maler Anthon van Rappard heraus und folgte dem Verlag auch in das Exil nach Schweden, wo er weiterhin als Hersteller und gelegentlich als Buchgestalter, aber auch als Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen tätig wurde, u. a. bei Werken von Ben Ames Williams (Die fremde Frau, 1942), Wendell Lewis Willkie (Unteilbare Welt, 1943; in der Bücherreihe »Neue Welt« in New York 1945), William Saroyan (Menschliche Komödie, 1943), Etta Shiber (Nacht über Frankreich, 1944), Schalom Asch (Der Apostel, 1946) oder Pearl S. Buck (Die Frauen des Hauses Wu, 1948). Ebenfalls für den Wiener Bermann-Fischer Verlag tätig war Hans Meisel (1900 Berlin – 1991 Bellevue, Washington, USA); er hatte zunächst als Journalist gearbeitet und als Schriftsteller mit seinem Romanerstling (Torstenson, 1932) Beachtung gefunden (Kleistpreis), konnte seine literarische Karriere aber in Deutschland nicht fortsetzen. 1934 ging er nach Italien, 1936 dann nach Österreich, wo er als Lektor im BermannFischer Verlag arbeitete, bis er 1938 erneut fliehen musste. In den USA war Meisel bis 1940 Sekretär von Thomas Mann, später Professor für Politische Wissenschaft. Als Übersetzer war er u. a. für Querido (Sinclair Lewis: Das ist bei uns nicht möglich, 1936) tätig; gemeinsam mit Justinian Frisch übertrug er von G. A. Borgese Rußland. Wesen und Werden für den Bermann-Fischer Verlag in Amsterdam 1950.
Übersetzen im Teamwork Auffällig ist, dass im Bereich der Übersetzungen, sowohl unter den Exilanten wie auch unter den einheimischen Übersetzern in den Fluchtländern, viele Aufträge partnerschaftlich ausgeführt worden sind. Das hat wohl mit der Eigenart der Übersetzungsarbeit zu tun, zunächst schon mit der Möglichkeit, sich bei gemeinsamer Arbeit über Formulierungsvarianten auszutauschen; auch konnten eilige Aufträge nur auf diese Weise termingerecht erledigt werden. Als ein Beispiel für Nichtexilanten kann das bereits kurz erwähnte schottische Ehe- und Übersetzerpaar Edwin und Willa Muir dienen, das seit 1926 mehrere Romane von Lion Feuchtwanger übersetzte; in der Exilzeit waren das
1642 Die umfangreiche Korrespondenz des außerordentlich werkkundigen Interpreten Lesser mit Thomas Mann wurde 2006 veröffentlicht: Thomas Mann: Briefe an Jonas Lesser und Siegfried Trebitsch 1939‒1954 (zur Person Lessers siehe S. 19‒24). 1643 Siehe auch den Privatdruck Jonas Lesser 1895‒1968. Zum Gedächtnis. 1644 Vgl. die Angaben bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 89 f.
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Söhne / The Jew of Rome 1935, Der falsche Nero / The Pretender 1937, und nicht zuletzt der aufschlussreiche zeitgeschichtliche Roman Exil / Paris Gazette 1940 über die Vorgänge beim Pariser Tageblatt bzw. der Pariser Tageszeitung. Außerdem erarbeitete das Paar Übersetzungen von Werken Hermann Brochs. Bereits erwähnt wurde die gemeinsame Übersetzungsarbeit von Martha und Justinian Frisch. Zu nennen wäre auch das Ehepaar Ernst Basch (1909 München – 1983 Suffolk County, NY) und Hertha Pauli (1906 Wien – 1973 Long Island, NY).1645 Die beiden heirateten 1943 im US-amerikanischen Exil, Basch arbeitete unter dem Namen E. B. Ashton überwiegend als Übersetzer von Werken der Philosophie (Kant, Karl Jaspers, Hans Kades; später auch von Ernst Bloch und Theodor W. Adorno) oder der Politik (Joseph Buttinger); auch war er an der Übersetzung von Otto Zoffs The Huguenots. Fighters for God and human freedom (gem. mit Jo Mayo; New York: L. B. Fischer 1942) und von Hermann Kestens Copernikus und seine Welt (Copernicus and his world (gem. mit Norbert Gutermann, New York: Roy 1945) beteiligt. Für den von Hermann Kesten und Klaus Mann herausgegebenen Sammelband Heart of Europe. An Anthology of Creative Writing, 1920‒1940 (New York: L. B. Fischer 1943) steuerte Ashton mehrere Prosaübersetzungen bei, zu Texten von Annette Kolb, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Heinrich Mann und Carl Zuckmayer. Für den New Yorker Schocken Verlag fertigte er eine Übersetzung von Heinrich Heines Erzählung Der Rabbi von Bacharach an (New York: Schocken 1947). Die enge Zusammenarbeit mit seiner Frau, an deren eigenen Schriften ebenso wie an Übersetzungen, ist verbürgt (u. a. Alfred Nobel. Dynamite King, Architect of Peace. New York: L. B. Fischer 1942). Für Gottfried Bermann Fischer hat auch das Ehepaar Ruth und Walter Gerull-Kardas mehrere Bücher übersetzt: von Jean Giono Taube Blüten (Vier Novellen) und Bleibe, meine Freude (beide Wien: Bermann-Fischer 1937) sowie Bergschlacht (Stockholm: Bermann-Fischer 1939). Für die Büchergilde Gutenberg Zürich übersetzten sie Jean Giono Vom wahren Reichtum (mit 112 Fotos von W. Gerull-Kardas, 1937), im Jahr zuvor erschienen dort ihre Übersetzungen von Romain Rolland Johann Christofs Jugend sowie Johann Christof am Ziel.1646 Peter de Mendelssohn und Hilde Spiel, seit 1936 verheiratet und im gleichen Jahr nach London emigriert, erarbeiteten gemeinsam eine Übertragung von Mendelssohns in englischer Sprache geschriebenem Werk Fortress in the skies ins Deutsche, erschienen als Festung in den Wolken (Zürich: Amstutz, Herdeg & Co. 1946), aber auch von James M. Cains Rechnung ohne den Wirt (Hamburg 1950).1647 Hilde Spiel, die auf diese Weise 1645 Zu Basch und Pauli siehe Stern: Hertha Pauli. 1646 Von Walter Gerull-Kardas sind weitere Übersetzungen aus der Exilzeit bekannt, darunter Pearl S. Buck: Land der Hoffnung, Land der Trauer (Zürich: Scientia 1940); aus dem Französischen Werke von Maria Borrély (Mistral. Zürich: Scientia 1939; Das Dorf ohne Sonne. Zürich: Scientia 1940). Biographische Daten waren nicht zu ermitteln; bekannt ist nur, dass Walter Gerull-Kardas nach 1945 in der Ostzone als Referent für Literatur in der Deutschen Verwaltung für Volksbildung arbeitete und später »ehrenamtlich« für die SED in oppositionellen Kreisen in den Westsektoren tätig war, vgl. Michael Kubina: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg: das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906‒1978). Hamburg: LIT 2001, S. 191. 1647 Zum Folgenden siehe die Wiener Dissertation von Lakner: Translation in »Exile« [online; http://othes.univie.ac.at/44063/], die sich am Beispiel Peter de Mendelssohns (unter Berück-
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neben ihrer Tätigkeit als Literaturkritikerin und Schriftstellerin auch in die berufliche Schiene des Übersetzerberufs hineinfand, übertrug später noch zahlreiche Stücke und Romane vom Englischen bzw. Amerikanischen ins Deutsche, u. a. von James Saunders, Joe Orton, Tom Stoppard, W. H. Auden, Angus Wilson, Mary McCarthy und Graham Greene. Erna Grautoff übersetzte, unterstützt von ihrem Ehemann, dem Kunsthistoriker Otto Grautoff (der allerdings bereits 1937 im Pariser Exil starb), für die Zürcher Büchergilde Gutenberg Bücher von Romain Rolland; 1936 erschien dort Meister Breugnon, 1947 kam dann aber noch Rollands Hauptwerk Johann Christof in einer Übersetzung des Ehepaars heraus. Schon 1934 war die gelernte Buchhändlerin Ruth Ratcliff* (Geburtsname Michaelis-Jena; 1905 Detmold – 1995) nach Schottland emigriert und hatte in Edinburgh in der Universitätsbuchhandlung James Thin eine Anstellung gefunden, wo sie bis 1952, zuletzt als Leiterin der Auslandsabteilung, tätig war. Danach arbeitete sie auf ihrem Wohnsitz in East Lothian, zum Teil in Gemeinschaft mit ihrem Mann Arthur Ratcliff, als freischaffende Übersetzerin insbesondere deutscher und englischer Märchenliteratur und als Schriftstellerin. Sie stiftete den Michaelis-Jena Ratcliff-Preis für englische und irische Volkskunde. Voneinander unabhängig, aber doch im gleichen Beruf arbeiteten Fega Frisch (ursprgl. Feiga Lifschitz; 1878 Grodno in Weißrussland, damals zu Österreich-Ungarn gehörend – 1964 Ascona) und ihr Ehemann Ephraim Frisch. Das Paar hatte vor 1933 in Berlin gelebt und war 1934 in die Schweiz geflüchtet, wo es in Ascona seinen Wohnsitz nahm.1648 Fega Frisch arbeitete, wie zuvor in Berlin (erste Übersetzung: Iwan Gontscharow Eine alltägliche Geschichte für den Verlag Bruno Cassirer, 1909) als Übersetzerin aus dem Russischen (Michail Lermontov, Leo Tolstoi, Anton Tschechow, Iwan Turgenjew, Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski) und war insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg für verschiedene Züricher Verlage tätig wie Oprecht (Maxim Gorki: Erinnerungen an Tolstoi, 1945), die Büchergilde Gutenberg (Tolstoi: Anna Karenina, 1946) oder auch für den Bühl-Verlag Herrliberg-Zürich (u. a. Puschkin: Briefe, 1945). Von Ephraim Frisch stammt die Übertragung aus dem Französischen von Albert Mathiez: Die französische Revolution, erschienen 1940 bei der Büchergilde Gutenberg in Zürich. Ein Arbeitsteam bildeten Max Knight* (Geburtsname Max Eugen Kühnel, 1909 Pilsen – 1993 Berkeley, CA) und Joseph Epstein (1909‒1999; später Joseph Fabry). Ihre schriftstellerische Zusammenarbeit hatte in Wien während ihres Jurastudiums begonnen und sollte die beiden über alle Etappen ihres späteren Lebensweges begleiten; über diese Koautorschaft berichteten sie 1988 in ihrer »duography« One and One makes Three: Story of a Friendship.1649 Am 11. März 1938 flüchtete Kühnel / Knight aus Österreich,
sichtigung Hilde Spiels) mit den Auswirkungen der Exilerfahrung auf die Übersetzungstätigkeit befasst. 1648 Eine Fega Frisch Collection befindet sich im Leo Baeck Institute, New York. Siehe auch Riggenbach: Fega Frisch. Russische Übersetzerin im Schweizer Exil; sowie Schulz: Die Schweiz und die literarischen Flüchtlinge (1933‒1945), S. 52. Ferner: https://www.kritikatur. de/Fega_Frisch. 1649 Max Knight Papers 1909‒1993 (GER-050), University at Albany, M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, The German and Jewish Intellectual Émigré Collection; Nachlass Max Knight N1.EB-7, Literaturhaus Wien, Österreichische Exilbiblio-
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konnte in London aber wieder journalistisch tätig werden. Seinen Plan, in die USA zu emigrieren, konnte er erst 1940/1941 nach einem Umweg über Shanghai und einem mit Hilfe von Epstein / Fabry erlangten Visum verwirklichen; während des Krieges arbeitete er in San Francisco im Pressebüro des Office of War Information und fand 1950, nach einem Studienabschluss in Politologie in Berkeley, eine Anstellung in der University of California Press. Dem Verlag, in dem Max Knight als Lektor, Leiter des Übersetzungsprogramms und Chefredakteur wirkte und für den er auch viele Übersetzungen aus dem Deutschen anfertigte, darunter Werke von Brecht, Morgenstern, Benn und dem Staatsrechtler Hans Kelsen, blieb er bis zu seinem Ruhestand 1976 verbunden.1650
Übersetzen: ein Frauenberuf ? Es ist statistisch nicht erwiesen, aber manches deutet darauf hin, dass es im Exil bei Übersetzungen zu einem signifikanten Anstieg der »Frauenquote« gekommen ist.1651 Mögliche Gründe dafür liegen auf der Hand: Der Existenzdruck nahm bei vielen Flüchtlingen dramatische Formen an, und wer für seinen Lebensunterhalt sorgen oder zum Familienunterhalt beitragen musste, sah sich genötigt, Arbeit und Aufträge anzunehmen, wo sie sich boten. Übersetzungsarbeiten werden in der Regel im häuslichen Rahmen geleistet, und Frauen mit guter sprachlicher Bildung brachten die nötigen Qualifikationen mindestens im gleichen Maße auf wie Männer. Dabei ist in diesem Bereich mit einer gewissen Dunkelziffer zu rechnen: Wenn heute Übersetzerinnen und Übersetzer immer noch darüber klagen, dass ihre Arbeit zu wenig beachtet oder sogar systematisch verschwiegen wird, so gilt das erst recht für die Zeit des Exils und namentlich auch für die zahlreichen Vertreterinnen dieses Berufs. Ein Hindernis für die adäquate Wahrnehmung ihrer Leistung liegt nicht zuletzt auch in der Verwendung von Pseudonymen, zumal männlichen Pseudonymen. In der Tat gibt es unter den in den Bibliographien und Bestandskatalogen aufgeführten Übersetzernamen zahlreiche noch nicht oder nur unvollständig aufgelöste Pseudonyme, gerade in der Schweiz, wo die Verweigerung einer Arbeitserlaubnis viele Exilantinnen dazu zwang, unter falschem Namen aufzutreten. Ein Beispiel dafür liefert der Übersetzername »Lino Rossi«, hinter dem sich die ungemein produktive Übersetzerin Lucy von Jacobi verborgen hat.1652 Lucy von Jacobi (geb. als Lucy Goldberg 1887 in Wien, gestorben 1956 in Locarno-Minusio; ihr Ehemann Bernhard von Jacobi war bereits im Ersten Weltkrieg gefallen) war zunächst Schauspielerin und Dramaturgin, dann im Rundfunk und als Redakteurin im Ullstein Verlag (Zs. Tempo); nach ihrer zunächst ziellosen Flucht landete sie 1936 in Italien und
thek. Siehe ferner Die Zeit gibt die Bilder, S. 84 f.; Max Knight. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 4, Bibliographien, S. 940‒951; Evelein: Max Knight. 1650 Für seine Übersetzungen der Werke von Johann Nestroy und Karl Kraus wurde Knight mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. 1651 Von der genderorientierten Exilforschung (»Arbeitsgemeinschaft Frauen im Exil«) sind zur Erhellung dieser Frage noch einige Impulse zu erwarten. 1652 Vgl. zum Folgenden: Lucy von Jacobi: Journalistin; sowie Schippel: Für eine Kartographie der Übersetzung im Exil. Lucy von Jacoby. Zur Biographie: http://www.fembio.org/biogra phie.php/frau/biographie/lucy-von-jacobi/ (mit Werkverzeichnis).
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gelangte 1938 in die Schweiz, wo sie (wie gelegentlich schon früher1653) als Übersetzerin arbeitete. Als »Lino Rossi« übersetzte sie aus dem Englischen für die Büchergilde Gutenberg: Von Yutang Lin Peking. Augenblick und Ewigkeit (2 Bde., 1943) und den Roman Blatt im Sturm (1944), von Kylie Tennant Zieh weiter Fremdling. Ein Roman aus dem Australien unserer Tage (1944), von Taiyi Lin Das Leben ist stärker (1945), von George Millar Maquis. Deutscher Widerstandskämpfer im besetzten Frankreich (1946) und Der gehörnte Tauber (1947) sowie von Erskine Caldwell Gottes kleiner Acker (1948). Bemerkenswert: 1942 brachte die Büchergilde Lucy von Jacobis bereits 1922 für den Kurt Wolff Verlag angefertigte Übersetzung von Zolas Nana unter ihrem wahren Namen heraus – in diesem Fall waren fremdenrechtliche Komplikationen nicht zu befürchten! Ebenfalls als »Lino Rossi« übersetzte von Jacoby Agatha Christies N or M, erschienen 1946 unter dem Titel Das Haus der Mrs. Perenna im Berner Scherz Verlag. Dort ist 1948 von ihr auch Marcia Davenports Die große Karriere herausgekommen. Im Oprecht Verlag in Zürich erschienen ist 1945 ihre Übersetzung von Storm Jamesons Ein Herrenhaus im Elsass; aus Geldnot übersetzte sie, immer noch als »Lino Rossi«, zwei Reiseführer von André Beerli (Zentralschweiz, 1949; Tessin, 1956) für den Touring-Club der Schweiz. In den allermeisten Fällen machte Lucy von Jacobi also von dem männlichen Pseudonym Gebrauch. Sie verwendete aber noch weitere Pseudonyme wie »Elisabeth Alzey« und, geschlechtsneutral, »L. Humm« oder lieh sich gelegentlich auch die Namen von Freundinnen aus, so bei Marie Elisabeth Kähnert (u. a. im Fall von Kathrene Pinkertons Wilderness wife, erschienen u. d. T. Einsames Blockhaus. Fünf Jahre im kanadischen Busch im A. Müller Verlag Zürich 1941 u. ö.), woraus sie dann als ein weiteres Pseudonym »E[mma] v. Kähnel« ableitete, als welche sie zwei Bücher von Louis Blomfield übersetzte (Nacht in Bombay und Traum in Louisiana; beide bei Scherz 1941 und 1943 erschienen, beide mehrfach aufgelegt). Unter »L. Humm« trat sie auf, indem sie eine verkürzte Form von Lola Humm-Sernau,1654 der Sekretärin Lion Feuchtwangers benutzte, als sie John Moores Wits End übersetzte, erschienen unter dem Titel Das gleiche Ziel. Roman eines Staffelführers aus Englands dunkelsten Tagen (Zürich: Oprecht 1943). Insgesamt zeigt das Schicksal Lucy von Jacobis, die in der Weimarer Republik noch der kulturellen Führungsschicht angehört hatte, eine Vielzahl von Problemkonstellationen auf, die für das Exil und namentlich für das weibliche Exil charakteristisch waren, neben materieller Not der auf sich allein gestellten hochbegabten und hochgebildeten Frau und dem Angewiesensein auf schlecht bezahlte Brotarbeit auch das Versinken im Dunkel der Geschichte und die späte Wiederentdeckung. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete im Schweizer Exil auch die Reformpädagogin und Friedensaktivistin Elisabeth Rotten (1882 Berlin – 1964 London) als Übersetzerin. Sie war bis 1934 in der Gartenstadt Hellerau tätig gewesen und auch in mehreren
1653 Hauptsächlich aus dem Französischen, u. a. Bücher von Rolland, Barbusse, Gautier, Zola, Balzac, Renard. 1654 Lola Humm-Sernau war selbst als Übersetzerin aktiv; von ihr stammt u. a. die Übertragung aus dem Amerikanischen von Friedelin Wagners und Page Coopers Nacht über Bayreuth. Die Geschichte der Enkelin Richard Wagners (Bern: Hallwag 1946), sowie aus dem Englischen von Ruth Feiners Bist du bereit, Caroline?, erschienen 1949 im gleichen Verlag.
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internationalen Vereinigungen aktiv, v. a. in Montessori-Gesellschaften.1655 1934 ging sie in die Schweiz (wo ihre Eltern herstammten und von der sie die Staatsbürgerschaft besaß) und legte im Sinne ihrer pazifistischen Überzeugungen Übersetzungen vor u. a. von Edward Hallett Carr (Grundlagen eines dauernden Friedens, 1943) und Joseph E. Davies (Als USA-Botschafter in Moskau. Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjet-Union bis Oktober 1941, 1943). Von ihren Roman-Übersetzungen sind hervorzuheben Upton Sinclair (Welt-Ende, 1942) und John Steinbeck (Die wunderlichen Schelme von Tortilla Flat, 1944). Sämtliche ihrer Übersetzungen sind im SteinbergVerlag in Zürich erschienen, bis auf den Roman von Upton Sinclair, der in Bern im Scherz Verlag herausgekommen ist. Die Schriftstellerin und Dramatikerin Lola Lorme (eig. Lola Nadel, 1883 Wien – 1964 Bern) war 1938 nach Florenz geflüchtet und nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1947 nach Bern übersiedelt, wo zahlreiche Stücke in ihrer Bearbeitung aufgeführt wurden. Im Exil trat sie als Übersetzerin aus dem Italienischen hervor, 1941 mit Georgette Pisanis Elizabeth und Robert. Die Geschichte einer Liebe (Basel: Schwabe 1941) und 1943 mit der Übertragung eines Werks von Laura Orvieto (Florence Nightingale: »Ich bin Deine Magd und Du bist mein Herr«) für den Züricher Oprecht Verlag. Später machte sie sich vor allem mit einer Übertragung der Dramen Goldonis einen Namen (4 Bände, 1957–1959). Im britischen Exil betätigte sich Lilo Linke, 1930 an der Gründung der Radikaldemokratischen Partei in Berlin beteiligt, seit 1932 SPD-Mitglied,1656 als Übersetzerin aus dem Deutschen ins Englische. Ihre Übertragung von Wolfgang Langhoffs Moorsoldaten, erschienen mit einem Vorwort von Lion Feuchtwanger in London bei Constable 1935 (u. d. T. Rubber truncheon 1935 auch in New York bei Dutton) machte sie in Emigrantenkreisen bekannt. Auch Grete Fischer* (1893 Prag – 1977 London), bis 1933 als Lektorin bei den Verlagen Paul Cassirer und Ullstein (als Betreuerin von Vicki Baum) tätig, fand im Londoner Exil in späteren Jahren zum Beruf der Übersetzerin (aus dem Englischen u. a. Wie nett, Herrn Lear zu kennen. Reime u. Geschichten von Edward Lear, 1965; aus dem Jiddischen u. a. Mottl, der Kantorssohn von Scholem-Alejchem, 1965).1657 Käthe Rosenberg (1883‒1960), eine Cousine von Katia Pringsheim und der Familie Mann im Exil eng verbunden, hatte sich schon in den 1920er Jahren einen Namen als Übersetzerin gemacht; u. a. arbeitete sie für den S. Fischer Verlag und die Insel Bücherei (Übersetzungen von Vita Sackville-West, Iwan Bunin, Grigol Robakidse). Seit 1939 im Londoner Exil, war sie für den Bermann-Fischer Verlag als Literaturscout und als Übersetzerin tätig (Jean Giono, Der Berg der Stummen).1658 Grete Berges (1895 Hamburg – 1957 Stockholm) wurde bereits in ihrer Eigenschaft als Literaturagentin näher vorgestellt (siehe das vorangegangene Kapitel). Als Überset-
1655 Zur Biographie vgl. Dietmar Haubfleisch: Elisabeth Rotten (1882‒1964) ‒ eine (fast) vergessene Reformpädagogin [online]. 1656 Dazu: Holl: Lilo Linke (1906–1963). 1657 Siehe die Lebenserinnerungen: Grete Fischer: Dienstboten, Brecht und andere Zeitgenossen in Prag, Berlin, London. 1658 Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren, S. 27; S. Fischer, Verlag [Katalog], S. 533; de Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, 3. Bd., S. 280‒289; Inge Jens: Frau Thomas Mann, S. 61.
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zerin machte sich Berges im schwedischen Exil verdient um die Übertragung von Werken der skandinavischen Literatur, wie 1951 mit Schwedische Dichter unserer Zeit. Ein literarischer Querschnitt (Stockholm: Schwedisches Institut 1951). In den Jahren zuvor war Berges überwiegend für den Züricher Europa-Verlag tätig, so mit Übertragungen aus dem Schwedischen des Militärhistorikers Torsten Holm: Krieg und Kultur. Entwicklung aus historischer Perspektive, 1942, und von Carl-Adam Nycop: Die großen Kanonen, 1944. 1948 erschien Pipaluk Freuchens Kinderbuch Ivik der Vaterlose im Züricher Speer-Verlag. Ihre finanziellen Probleme konnte sie mit diesen Übersetzungsarbeiten nicht beheben. Einige Exilübersetzerinnen drohen im Schatten ihrer vergleichsweise prominenteren Ehemänner, Väter oder Geliebten zu verschwinden. Das gilt etwa für Alexandra Pfemfert, geb. Ramm (1883 Starodub, Rußland – 1963 West-Berlin), die vor 1933 hauptsächlich als Trotzki-Übersetzerin hervorgetreten war.1659 Sie arbeitete bereits seit 1909 als Übersetzerin und übertrug in dieser Eigenschaft seit 1929 für den Verlag S. Fischer eine Reihe von Schriften Trotzkis, darunter die Geschichte der russischen Revolution und seine Autobiographie Mein Leben, und fungierte auch als dessen Literaturagentin. Daneben baute sie einen Buchladen in Berlin auf, der zum Treffpunkt linker Intellektueller und russischer Emigranten der Weimarer Zeit wurde. Sie und ihr Ehemann Franz Pfemfert, die der undogmatischen Linken zuzurechnen waren, flüchteten unmittelbar nach der NS-Machtübernahme 1933 nach Karlsbad, wo Franz Pfemfert ein Fotostudio eröffnete, und 1936 weiter nach Paris. Nach Internierung und erneuter Flucht gelang den beiden die Einreise nach Mexiko. Dort betrieb Pfemfert erneut eine Fotostudio, bis er 1954 an Leberkrebs verstarb; seine Ehefrau ging 1955 nach (West-)Deutschland zurück. Im Exil suchte Alexandra Ramm-Pfemfert mit Übersetzungen aus dem Russischen das völlig unzureichende Einkommen aufzubessern, erhielt aber nur sehr wenige Aufträge und war dann in Mexiko völlig isoliert. Zwei ihrer Übersetzungen erschienen in der Büchergilde Gutenberg in Zürich (Alexej S. Nowikow-Priboj: Tsushima, 1935; Vladimir Arsenjew Dersu Usula: Abenteuer in den Steppen Asiens. Für die reifere Jugend, 1946), eine im Züricher Jean Christophe Verlag (Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, 1937). Ellen Walden (geb. Borg, 1912 Berlin ‒ ?), die (vierte) Ehefrau des Publizisten und Galeristen Herwarth Walden, führte ihre Arbeit als Übersetzerin im Moskauer Exil weiter und übertrug dort aus dem Russischen u. a. die Erzählung von Alexej N. Tolstoj Brot. Die Verteidigung von Zaryzin und von Wassilij Grossman die Erzählungen In der Stadt Berditschew / Der Sicherheitsinspektor, beide erschienen 1939 in Moskau bei Meshdunarodnaja Kniga. Sie stellt aber einen Spezialfall dar, insofern sie sich entschloss, nach Verhaftung ihres Mannes, der 1941 im Gefängnis starb, und nach Ablehnung der von ihr beantragten Sowjetbürgerschaft, noch im gleichen Jahr nach Deutschland zurückzugehen. Wie bereits erwähnt, profitierte Brecht nicht nur für seine eigenen Stücke, sondern auch für seine Übersetzungen von der Mithilfe seiner weiblichen Entourage; vor allem die Rolle Margarete Steffins (1908‒1941), seiner engen Mitarbeiterin über fast zehn Jahre hinweg, wird seit dem Erscheinen ihrer Nachgelassenen Texte (1991) und der Briefe (1999) in hellerem Licht gesehen. Brecht und dessen Familie über mehrere Statio-
1659 Ranc: Alexandra Ramm-Pfemfert. Ein Gegenleben.
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nen des Exils, von Paris nach Dänemark, Schweden, Finnland folgend, bis sie, an Tbc erkrankt, in Moskau starb, war sie dem Dichter in einem Liebes- wie auch Arbeitsverhältnis verbunden; sie hat seine Korrespondenz geführt, ihm durch Recherchen für seine Vorhaben zugearbeitet und seine Manuskripte verwaltet, und nicht zuletzt hat sie auch in vielen Fällen Quellentexte vorübersetzt. Für ihre eigenen Übersetzungsarbeiten fand sie kaum noch Zeit bzw. immer erst, wenn sie sich krankheitshalber in ein Sanatorium zurückziehen musste. Tatsächlich übersetzte Steffin aus nicht weniger als sieben Sprachen, aus dem Dänischen, Russischen, Norwegischen, Schwedischen, Finnischen, Estnischen und Englischen. Nachdem sie sich das Dänische im Exil autodidaktisch angeeignet hatte, erlernte sie auf dieser Grundlage auch das Norwegische und Schwedische; Russischkenntnisse hatte sie bereits in den ausgehenden 1920er Jahre erworben und diese bei Besuchen in der Sowjetunion vertieft; 1934 übersetzte sie dann für eine Aufführung in einem georgischen Sanatorium die von Karl Valentin geschriebene Farce Die G’spusi der Zenzi ins Russische. Mit dem Finnischen und Estnischen wurde sie durch die Zusammenarbeit mit Hella Wuolijoki vertraut, als sie gemeinsam deren Stück Niskavuoren nuori emäntä (Die junge Herrin von Niskavuori) ins Deutsche übertrugen – ihre letzte Übersetzungsarbeit. Generell entsprach es Steffins Auffassung vom Wesen des Übersetzens, dass sie dies gerne in Kooperation mit anderen unternahm. Dabei erhielt sie nur selten Aufträge von Verlagen oder Autoren, es sei denn durch Vermittlung Brechts, auch wurden nur wenige ihrer Arbeiten veröffentlicht. Zu diesen gehörten die Erinnerungen Martin Andersen-Nexös Die Kindheit, eine Gemeinschaftsarbeit mit Brecht, die 1940 in Moskau bei Meshdunarodnaja Kniga in zwei Bänden und noch einmal 1945 in Basel im Munus Verlag erschien. Die Tochter Felix Saltens, Anna Katharina Rehmann-Salten (1904 Wien – 1977 Zürich), in den 1920er Jahren hauptsächlich als Schauspielerin tätig, war seit 1928 mit dem Schweizer Schauspieler Hans Rehmann verheiratet und lebte schon seit Anfang der 1930er Jahre in der Schweiz, wo sie auch die Staatsbürgerschaft erwarb.1660 Nach 1938 war sie ihren Eltern bei der Flucht aus Wien und der Einreise in die Schweiz behilflich; da ihr Vater dort Arbeitsverbot hatte, suchte sie für den Lebensunterhalt auch ihrer Eltern aufzukommen und betätigte sich journalistisch sowie als Übersetzerin. Aus dem Englischen bzw. Amerikanischen übertrug sie für den Züricher Pan-Verlag zwei Werke John B. Priestleys (Verdunkelung in Gretley, 1944; Drei Männer, 1946) sowie von Erna Barschak (Erlebnisse in USA, 1947) und Ethel Wilson (Lilly, 1952). Für Humanitas lieferte sie Übertragungen von John Steinbeck (Der Mond ging unter, in 6. Aufl. erschienen 1943) und Richard Aldington (Himmel selbst, 1946). Weiters übersetzte sie für den Scherz Verlag in Bern mehrere Kriminalromane von Agatha Christie (Die Tote in der Bibliothek, 1943; Die Schattenhand, 1944; Letztes Weekend, 1944) sowie von Jan Struther (Mrs. Miniver erlebt die Vorkriegszeit, Bern: Scherz 1943), Eric Knight (Wer verliert, gewinnt, 1944) und Rhoda Truax (Joseph Lister. Vater der modernen Chirurgie, 1947). Ein krasses Beispiel für im Exil geleistete weibliche »Schattenarbeit« repräsentiert schließlich Veza Canetti (1897 Wien – 1963 London), die sich – bezeichnend für das ungleiche Verhältnis, dem sie sich als intellektuelle Persönlichkeit gegenüber ihrem do-
1660 Siehe Blumesberger: Rehmann-Salten.
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minanten Ehemann Elias Canetti ausgesetzt sah – mit einem ihrer Pseudonyme »Veza Magd« nannte (ein anderes lautete »Veronika Knecht«).1661 Sie lektorierte die Texte ihres Mannes; ihre eigenen literarischen Arbeiten (Romane, Erzählungen und Stücke) konnten dagegen zu ihren Lebzeiten nicht erscheinen. Als Übersetzerin erstellte sie die 1947 in London als »Paul-Zsolnay-Ausgabe« im Verlag Heinemann & Zsolnay erschienene Ausgabe von Graham Greenes Die Kraft und die Herrlichkeit.
Übersetzer im Bereich der kommunistischen Literatur Als eine eigenständige Gruppe können die Übersetzer und Übersetzerinnen im Umkreis der Kommunistischen Partei betrachtet werden, insofern hier weniger das freie Spiel von Angebot und Nachfrage die Auswahl der übersetzten Texte bestimmte, sondern die Planwirtschaft in den Verlagen. Bei den Exilverlagen in der Sowjetunion beruhten Übersetzungsarbeiten auf Beauftragungen durch die Verlagsleitung, die in manchen Fällen sicherlich auch der Beschäftigung bzw. Versorgung der Parteigenossen und -genossinnen dienen sollten. Ein Beispiel dafür lässt sich in der aus Ungarn stammenden Olga Halpern (1887‒1967) erkennen, die vor 1933 überwiegend in Berlin lebte und mit dem KPFunktionär Andor Gábor verheiratet war. Im Moskauer Exil übertrug sie Bücher aus dem Russischen ins Deutsche, hauptsächlich für die VEGAAR (A. O. Awdejenko: Ich liebe, 1934,1662 Fjodor Gladkow: Energie, 1935; im gleichen Jahr auch erschienen im RingVerlag in Zürich) und für Meshdunarodnaja Kniga (Michail Scholochov: Die MG-Kompanie, 1941; Alexander Fadejew: Vögelchen. Das Erdbeben, 1939). Ähnlich wie Ernst Weinert, der u. a. Eugène Pottiers Gedichte (Kiew: Staatsverlag der Nationalen Minderheiten 1939) und Michail Lermontovs Der Dämon (Moskau: Meshdunarodnaja Kniga 1940) übersetzte, gehörte auch Alfred Kurella (1895‒1975) zum innersten Kreis der linientreuen KP-Schriftstellergruppe. Schon vor 1933 einer der wichtigsten Kulturfunktionäre der KPD, war Kurella 1934/1935 persönlicher Sekretär des Komintern-Leiters Georgi Dimitroff und hielt sich auch in den folgenden Jahren hauptsächlich in Moskau auf. Dort betätigte er sich immer wieder als Übersetzer aus dem Französischen – er hatte 1924‒1926 als Leiter einer Komintern-Schule in Frankreich gelebt – und aus dem Russischen. Aus dem Französischen übersetzte er Louis Aragon (Die Glocken von Basel. Moskau: VEGAAR 1936, auch Paris: Carrefour 1936), Henri Barbusse (Stalin. Eine neue Welt. Paris: Carrefour 1935, auch Basel: UniversumBuchgemeinschaft 1937) und André Malraux (Die Zeit der Verachtung. Paris: Carrefour 1936); aus dem Russischen Sergej Tretjakow (Den Schi-Hua. Ein junger Chinese erzählt sein Leben. Moskau: VEGAAR 1933) sowie Ausgewählte philosophische Schriften von
1661 Dazu: Veza Canetti. 1662 Typisch für die Mehrfachverwertung der Buchrechte im kommunistischen Exil war, dass der Roman Awdejenkos nicht nur in der VEGAAR, sondern sowohl im Malik Verlag Wieland Herzfeldes als auch im Züricher Ring-Verlag (1935) und etwas später in Basel in der Universum-Buchgemeinschaft (1938) erschien. Für den Malik Verlag hatte Olga Halpern 1935 die Übersetzung des dritten Bandes von Michail Scholochovs Der stille Don geliefert, nachdem die Bände 1 und 2 noch in der Weimarer Zeit dort erschienen waren; eine dreibändige Ausgabe des von ihr übersetzten Stillen Don kam auch 1943 in Zürich in der Büchergilde Gutenberg heraus.
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Alexander Herzen und von Vissarion Belinskij (beide Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1949 bzw. 1950). Eine etwas undurchsichtige Rolle in Moskau in der Phase der Stalin’schen Säuberungen spielte der aus Österreich emigrierte Hugo Huppert. Selbst Lyriker, übersetzte er Wladimir Majakowski, mit dem er befreundet war (Zwei Dichtungen. Nachdichtungen von Hugo Huppert. Moskau: Meshdunarodnaja Kniga 1940). Übersetzt wurde in den Moskauer Verlagen auch im Kollektiv, erkennbar aus Angaben wie »Aus dem Russischen übertragen unter der Redaktion von Otto Bork«, die u. a. zu finden sind bei Alexander Serafimowitschs Der eiserne Strom oder Maxim Gorkis Erzählungen, Skizzen, Erinnerungen (beide VEGAAR 1935 bzw. 1937); Bork war der Leiter der deutschen Abteilung der VEGAAR. Als weitere Beispiele können dienen Frida Rubiner, die Ivan Turgenjews Väter und Söhne in Übersetzung vorlegte, und Franz Leschnitzer mit Marietta Schaginians Auf des Fünfjahrplans Bahnen. Skizzen (beide Titel Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1946 bzw. 1950). Selbstverständlich sind Übersetzungen nicht nur in sowjetischen, sondern auch in französischen1663 oder mexikanischen1664 Verlagen erschienen, die Parteiverlage waren oder unter kommunistischem Einfluss standen.
1663 So Romain Rolland: Valmy. Paris: Éditions Prométhée 1939, in der Übersetzung von Hilde Wertheim. 1664 Etwa Bodo Uhse: Vicente Lombardo Toledano: Johann Wolfgang von Goethe. Mexico: Bewegung Freies Deutschland 1944.
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Verbreitender Buchhandel
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Distributionsstrukturen
In dem seit dem 19. Jahrhundert zu hoher Leistungsfähigkeit entwickelten System des deutschen Buchhandels war es der gut organisierte Zwischenbuchhandel, der dafür gesorgt hat, dass die Bücher nach ihrer Herstellung möglichst rasch und ökonomisch rationell an ihren Verkaufsort gelangten. Einen solchen Zwischenbuchhandel hat es im deutschsprachigen Exil 1933 bis 1945 nicht gegeben und konnte es auch aus Gründen, die auf der Hand liegen, nicht geben. Der Aufbau von Strukturen der Bücherdistribution musste von Grund auf neu erfolgen und fand auf zwei Ebenen statt: Zum einen wurden Vertriebswege eingerichtet, auf denen die Exilverlage ihre Produktion länderübergreifend verbreiten konnten, zum anderen sind im Zeichen des Exils zahlreiche stationäre Buchhandlungen errichtet worden, die als Stützpunkte des internationalen Bücherverkehrs dienten und Aufgaben des Zwischenbuchhandels nicht nur für die Exilverlage, sondern weit darüber hinaus, im Import und Export der nationalen Bücherproduktionen, übernommen haben. Dass diese neuentstandenen Strukturen des internationalen Bücherverkehrs nach 1945 auch der deutschen Buchwirtschaft zugutegekommen sind, gehört zu den paradoxen Wirkungen des Exils.
Die Einrichtung von Vertriebsnetzen seitens der Exilverlage Bücherdistribution war selbst unter den Bedingungen eines annähernd perfekt organisierten Buchhandelssystems, wie es in Deutschland vor 1933 mit den Barsortimenten und Kommissionären auf dem Zentralplatz Leipzig, mit Bestellanstalten und Abrechnungsgenossenschaften, mit einer den Geschäftsverkehr regulierenden Verkehrs- und Verkaufsordnung, mit Neuerscheinungsinformation über das Börsenblatt oder die periodisch erscheinende Deutsche Nationalbibliographie u. a. m. bestanden hat, eine schwierige Aufgabe. Um wie viel mühevoller war es nun für die Exilverlage, die von ihnen produzierten Bücher auf einen Markt zu bringen, der alle diese praktischen Einrichtungen nicht kannte und darüber hinaus nicht ein Land umfasste, sondern verschiedenste europäische Länder, dazu auch überseeische Gebiete. In der Tat waren in der Zeit vor 1939/1940 die Absatzmärkte nicht auf die Länder Mittel- und Westeuropas eingeschränkt, vielmehr wurde ein nicht unerheblicher Teil der Exilverlagsproduktion in osteuropäischen Ländern wie Polen und Rumänien verkauft, in denen deutschsprachige Volksgruppen lebten. Auch Palästina galt es zu berücksichtigen, nicht zuletzt auch Nordund Südamerika, sodass es zur wirkungsvollen Verbreitung der Exilliteratur weitgespannter Distributionsnetze bedurfte. Zwar existierte schon seit längerem auch eine weltweit funktionierende Vertriebsstruktur für deutsche Bücher, aber diese stand nur dem sich zum nationalsozialistischen Deutschland bekennenden, an den »gleichgeschalteten« Börsenverein angeschlossenen deutschen »Auslandsbuchhandel« offen, nicht aber dem Exilbuchhandel.1 Der Verleger 1
Allerdings agierte der auslandsdeutsche Buchhandel nicht völlig lückenlos auf NS-Linie; einige Buchhandlungen haben auch die Emigrantenliteratur unterstützt.
https://doi.org/10.1515/9783110303353-007
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Abb. 1: Auch Exilzeitschriften wie die Neuen Deutschen Blätter (hier aus der Nr. 1 des 2. Jahrgangs 1934) richteten sich von Anfang an auf europa- oder sogar weltweite Verbreitung ein.
Wieland Herzfelde sprach 1937 in seinem Aufsatz David gegen Goliath diese Problematik direkt an: Der Auslandsbuchhändler kann alle seine Bücher aus Deutschland bequem und billig über Leipzig durch seinen Kommissionär in Sammelsendungen beziehen. Der Bezug bei unseren Verlagen dagegen, die ja kein Lager in Leipzig unterhalten können, verzehrt einen erheblichen Teil des Buchhändlerverdienstes infolge der hohen Auslandsportis, Überweisungskosten und der vielverzweigten Korrespondenz.2 Abgesehen von diesen in der Tat gravierenden Kostennachteilen: Die größte Herausforderung für die im Exil neugegründeten Verlage bestand erst einmal darin, funktionierende Vertriebsnetze aufzubauen. Die Voraussetzungen dafür waren durchaus unterschiedlich. Klar ist, dass alle, die wie die Abteilungen von Querido oder Allert de Lange an bereits vor 1933 bestehende Verlage angedockt hatten oder wie Emil Oprecht ihren existierenden Verlag in den Dienst der Exilliteratur stellten, im Vorteil waren gegenüber echten Neugründungen, die in diesem Punkt ganz von vorne beginnen mussten. Aber selbst Oprecht stand 1933 vor dem Problem, für seine Züricher Verlage ein von Grund
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Herzfelde: David gegen Goliath. Vier Jahre deutsche Emigrationsverlage, S. 55.
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auf neues, viele Länder umspannendes Distributionsnetz zu spinnen: »Schon kurz nach seiner Gründung schuf sich der Europa Verlag Auslieferungslager in fast allen demokratischen Ländern Europas, so in Frankreich und den Niederlanden, in der Tschechoslowakei, Österreich, Polen, Rumänien, Jugoslawien, schließlich auch in Palästina«.3 1938 errichtete Oprecht in New York einen von Friedrich Krause geleiteten Vertriebsstützpunkt, der dem Europa Verlag für heikle Titel auch als Ausweich-Verlagsort dienen konnte.4 Von Querido haben sich keine Unterlagen erhalten, die einen detaillierten Einblick in die Vertriebsaktivitäten des Verlags erlaubten, doch hat Fritz Landshoff gelegentlich seinen Autoren darüber briefliche Auskünfte erteilt und auch in seinen Erinnerungen Anmerkungen dazu gemacht.5 Danach waren die Hauptabsatzgebiete die Niederlande, die Schweiz, Österreich, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Palästina, daneben wurden Querido-Bücher »in bescheidener Anzahl« auch in Frankreich, England, Belgien, Polen, Skandinavien und Südamerika abgesetzt. Der Distributionsbogen war weit gespannt; die von Landshoff beschäftigten Verlagsvertreter (siehe dazu weiter unten) konnten dagegen nur innerhalb eines hauptsächlich auf Mitteleuropa eingeschränkten Radius tätig werden. Da Einzel- oder Kleinbestellungen, die oft wochenlang unterwegs waren, ohnehin nicht kostendeckend zu bewerkstelligen waren, musste versucht werden, in den absatzträchtigeren Ländern Auslieferungen zu installieren; im Mai 1934 dürfte Querido bereits »15 große Auslieferungsgebiete« abgesteckt haben.6 Als weitere Hindernisse im Vertrieb verwies Landshoff auf Versandprobleme, resultierend aus der Beschlagnahme von Paketen in Deutschland: wir konnten so die Sendungen vom Amsterdam nach Wien, Prag, Budapest, Bukarest, Warschau etc. nicht auf direktem Wege über Deutschland leiten, sondern mußten sie über Belgien, Frankreich und die Schweiz schicken. Der Umweg, zu dem wir also gezwungen waren, kostete Zeit und Geld. Trotzdem war der Eingang der Bestellungen ganz befriedigend.7 Bestellungen waren eines, die Bezahlung aber ein anderes: Besonders schwierig war die finanzielle Seite des Verkaufs. Fast alle Länder unterlagen Devisenbeschränkungen und konnten nur aufgrund spezieller Genehmigungen in fremder Währung bezahlen – ein weiterer zwingender Grund, eine Buchhandlung als Zentralstelle in jedem Lande einzurichten. Diese Firmen mußten finanziell stark und zuverlässig sein und den nötigen Einfluß genießen, um bei den offiziellen Stellen die Devisengenehmigungen zu erhalten. Sie durften auch keine Bedenken haben,
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Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 115. Zu Krause als Verleger siehe das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Siehe Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 82‒85. Mit Aspekten der Distribution setzt sich auch Hans-Albert Walter auseinander (Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag, S. 95‒103). So Walter, S. 97. Walter verweist darauf, dass es bei den Vertriebspartnern eine hohe Fluktuationsrate gab. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 83.
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l Antinaziliteratur zu fördern, auch nicht auf die Gefahr hin, einen Teil der Kundschaft zu verängstigen oder zu verärgern.8
Damit sind bereits einige typische Problemkonstellationen benannt, mit denen sich auch andere Verlage herumschlagen mussten. Auch im gut eingeführten Amsterdamer Allert de Lange-Verlag sah sich die neu errichtete Exilabteilung vor Vertriebsprobleme gestellt, zumal sich jetzt erst der bisher weitgehend auf die Niederlande beschränkte Aktionsradius international erweiterte. Aufgrund der außergewöhnlich günstigen Quellen- und Forschungslage lässt sich an Allert de Lange exemplarisch das Vertriebssystem aufzeigen, wie es für einen größeren Exilverlag in der ersten, europäischen Exilphase als charakteristisch gelten kann.9 In der Anfangszeit, 1933 und 1934, nahm die Exilabteilung von Allert de Lange die Dienste einer Weltvertriebsorganisation in Anspruch, des Departement Etranger Hachette in Paris, das eigene Zweigstellen von Athen bis Warschau, von Barcelona bis Buenos Aires unterhielt und zusätzlich in anderen Ländern Beziehungen zu einzelnen Auslieferungsfirmen pflegte, etwa zu AZED in Basel (ab Juli 1934 das Schweizer Vereinssortiment in Olten), Béla-Somló in Budapest oder Cernauti in Bukarest. Ausgenommen von dieser Vereinbarung waren die Niederlande, Österreich (dort hatte man Beziehungen zur Fa. Heidrich), die ČSR (Andréʼsche Buchhandlung, Prag), die USA (Van Riemsdijk, N.Y.), Palästina (Ernst Popper, danach Biblion / Walter Zadek in Tel Aviv) und Ägypten. Diese Übernahme der Generalvertretung für das deutschsprachige Programm durch Hachette war für Allert de Lange sehr praktisch, weil der Verlag damit Transport und Abrechnung ausgelagert hatte. Die Nachteile zeigten sich dennoch bald: Hachette konnte oder wollte sich diesem speziellen Sektor der deutschsprachigen Exilliteratur nicht so intensiv widmen, wie man das in Amsterdam erwartet hatte; das französische Unternehmen hatte keine weiteren deutschsprachigen Exilverlage unter Vertrag, sodass dieser Sektor eher vernachlässigt wurde. Dabei musste Allert de Lange die Bücher an Hachette mit 50 %igem Rabatt abgeben, also zu (damals) doch sehr ungünstigen Konditionen. Walter Landauer kam als Leiter der Abteilung zu dem Schluss, dass mit vor Ort ansässigen und agierenden Auslieferungsfirmen bessere Resultate bei günstigeren Rabattbedingungen, maximal 47 ½ %, erzielbar wären. Der Verlag erreichte 1934 in Verhandlungen zunächst die Freigabe einzelner Länder wie Großbritannien und Italien und ging danach zu einem System von Auslieferungsfirmen in den einzelnen Ländern über. Diese Form des Vertriebs war von anderen Exilverlagen von vorneherein praktiziert worden. Die Vertriebsfirmen – meist Bestandteil einer größeren Buchhandlung – übernahmen für eine Spanne von 2 bis 3 % den örtlichen Vertrieb der Bücher. Im Normalfall bezogen sie den größeren Teil als Festbestellungen, orderten daher eher vorsichtig, den kleineren Teil als Kommissionslieferungen; in weniger absatzträchtigen Ländern war das Verhältnis allerdings umgekehrt. Allert de Lange räumte meist auch für die Festbestellungen Umtauschrecht ein (Umtausch nur innerhalb der eigenen Verlagsproduktion), in Ausnahmefällen wurde auch ein teilweises Rückgaberecht gewährt. Die Verlage waren genötigt,
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Landshoff, S. 84. Vgl. zum Folgenden das Kapitel Herstellung und Vertrieb in Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 68‒84.
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sich sehr kulant und flexibel zu zeigen, ansonsten wäre dieses feingesponnene und nicht sehr belastbare Netz schnell zerrissen. Abgerechnet wurde üblicherweise vierteljährlich, mit dem nicht sonderlich günstigen Effekt, dass man im Verlag wenig Überblick über die tatsächlich verkauften Exemplare hatte und schlecht disponieren konnte, was den Druck neuer Auflagen betraf. So konnten öfters Bestellungen nicht ausgeführt werden, weil man zu spät feststellte, dass eine Auflage vergriffen war. Andererseits konnte man nicht auf den bloßen Verdacht hin neu drucken lassen, wenn dann doch viele unverkaufte Exemplare gemeldet wurden bzw. remittiert wurden. Die häufig nicht gut funktionierenden Postverbindungen taten dabei ein Übriges. Oft vergingen viele Wochen, bis einzelne Bestellungen ausgeführt waren – was wieder Unstimmigkeiten mit den Sortimentern erzeugte. Auch lehnten die Sortimenter es im Allgemeinen ab, an den ständig steigenden Transportkosten beteiligt zu werden, was wiederum auf die Gewinnspanne des Verlages drückte. Dabei trug der Verlag ohnehin auch das Valutarisiko und verlor durch Kursverfall verschiedener Währungen immer wieder beträchtliche Summen, zumal sich die grenzüberschreitenden Überweisungsvorgänge oft schwierig und zeitraubend gestalteten. Auch häuften sich die Fälle, in denen bei den Verlagen überhaupt keine Zahlungen eingingen. Als sich die Amsterdamer Verlage entschlossen, kleine Firmen, die man nicht näher kannte, nur gegen Vorauskasse zu beliefern, führte dies mehr oder weniger zum Verlust dieser Abnehmerkreise. Die Unzufriedenheit mit dieser zu teuren und ineffizienten Vertriebspraxis ließ um 1938 Überlegungen aufkommen, wie man durch gemeinschaftliche Vorgangsweise das Vertriebsproblem lösen könnte.
Die »Zentralauslieferung« In der Tat wurde die aussichtsreichste Initiative zur Überwindung der die Gewinnmargen drückenden Vertriebsprobleme von Allert de Lange (Walter Landauer), Querido (Fritz Landshoff) und Gottfried Bermann Fischer gesetzt, indem die drei Verlage 1938 im Rahmen einer breiter angelegten Zusammenarbeit eine gemeinsame Vertriebsgesellschaft, die Zentralauslieferung errichteten.10 Sie war im Allert de Lange Verlag angesiedelt, auch als Unterfirma von Allert de Lange ins Handelsregister eingetragen, und stand unter der Leitung Landauers. Die Zentralauslieferung sollte für alle drei Verlage11 den Vertrieb übernehmen, den Vorrat in der Höhe eines Jahresverkaufs lagern, verpacken und versenden, mit getrennten Konten die Verrechnung durchführen, auch kassieren
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Vgl. zum Folgenden Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 79‒82, sowie Nawrocka: Verlagssitz, S. 111‒115; und Nawrocka: Kooperationen im deutschsprachigen Exilverlagswesen, S. 60‒ 83. Zur Zusammenarbeit der Verlage, die auch die Produktion der Forum-Bücher umfasste, siehe auch Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Diskutiert wurde auch eine Beteiligung niederländischer Verlage an dem Vertriebsnetz; tatsächlich kam eine solche Zusammenarbeit ansatzweise zustande, vor allem mit dem Verlag De Gemeenschap, der seit 1936 auch Werke von Exilschriftstellern wie Joseph Roth oder Franz Theodor Csokor herausbrachte; von letzterem wurden drei Bücher in den Vertrieb genommen (Nawrocka: Kooperationen, S. 111). Man erhoffte sich von der Zusammenarbeit mit einem dezidiert katholischen Verlag einen gewissen Schutz vor propagandistischen Angriffen aus Deutschland; die Einbeziehung des Elsevier Verlags dagegen lehnte Walter Landauer als nicht nützlich ab (Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 83).
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und mahnen, Zoll- und Clearingfragen erledigen (d. h. die Währungsumrechnungs- und Devisenprobleme bearbeiten), den Prospektversand durchführen und für Bermann Fischer in Stockholm auch die Bindeaufträge in Holland weiterleiten.12 Landauer betreute daneben die Reisenden und versorgte sie mit Reisemustern und Werbematerial. Außerdem schloss die Zentralauslieferung im Namen der Verlage Auslieferungsverträge mit einzelnen ausländischen Firmen ab, die in ihren jeweiligen Ländern als Unterauslieferungen fungierten. Meist wurden diesen Partnern Exklusivrechte eingeräumt. Für die Schweiz, das Hauptabnehmerland, war dies das Vereinssortiment Olten, in Frankreich (und Kolonien) Au Pont de l’Europe,13 in Großbritannien Martin Secker & Warburg, in Rumänien Cernâuti, in Jugoslawien die Fa. Nakladna Knjizara Breyer in Zagreb, in Italien die Libreria Littoria, Triest, in Ungarn die Hungária Zeitungsdruckerei AG, in Palästina Pales Press, Tel Aviv. In Dänemark arbeiteten Allert de Lange und BermannFischer (nicht Querido) mit B. T.s Boghandel Børge Boesen in Kopenhagen zusammen, in Schweden hatte Bermann-Fischer (für ganz Skandinavien und Finnland) ein Abkommen mit Importbokhandeln in Stockholm, während de Lange und Querido mit der Fa. Fritze kooperierten. Die Vereinbarungen mit allen diesen Buchimportfirmen enthielten jeweils ganz unterschiedliche Bestimmungen, sowohl was die Rabattsätze, die Übernahme bestimmter Nebenkosten oder die Frage betraf, was in Kommission oder mit Remissions- bzw. Umtauschrecht und was in fester Rechnung übernommen wurde.14 Von den Kunden, d. h. den Buchhandlungen, sollten – auch von den Unterauslieferungen – stets nur Festbestellungen akzeptiert werden. Finanziert wurde die Zentralauslieferung durch eine 8 %ige (Schweiz 6 %ige) Provision vom Umsatz. Die Marktbearbeitung sollte auf der Basis einer umfangreichen, auch Privatpersonen miteinschließenden Adressenkartei erfolgen, zu der Bermann Fischer substanziell beitragen konnte, denn ihm wurde im Juli 1938 die Kartei des Wiener Verlages mit 8.000 bis 10.000 Adressen (ohne Deutschland und Österreich) von einer ehemaligen Verlagsmitarbeiterin zugesandt. In diesem Zusammenhang erwies es sich als vorteilhaft, dass er bereits in Wien energisch mit der Erschließung der Auslandsmärkte begonnen hatte. Diese Bearbeitung eines so weitgespannten Absatzgebietes verursachte auch für die Zentralauslieferung einen ungeheuren bürokratischen Aufwand, allein schon durch die Korrespondenz in so viele Länder mit unterschiedlichen Handelsbräuchen, aber auch durch die Notwendigkeit, Daten und Zahlen von drei (mit den ForumBüchern: vier) Verlagen koordinieren zu müssen, zumal jeder Verleger eine monatliche Gesamtaufstellung zur Kontrolle des Absatzgeschehens erhalten sollte. Mehr noch: Zweimal in der Woche sollte die Zentralauslieferung durch Abschriften der Fakturen
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Für die USA gab es eine Sonderregelung; dort wurden von der Verlagsgemeinschaft innerhalb des US-Verlags Longmans, Green & Co. ein Verlag Alliance Book Corporation, New York gegründet, dem die Alleinauslieferungsrechte und exklusive Vertretung aller drei Verlage übertragen wurde. Dieser Verlag sollte auch jeweils eine Teilauflage von in Europa gedruckten und für den amerikanischen Markt interessanten Büchern erwerben und als Imprint der Alliance Book Corporation herausbringen (vgl. Schoor, S. 83). Siehe hierzu das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Ausgenommen die Forum-Bücher, die von Gaulon (Paris) in Vertrieb genommen wurden. Genaueres hierzu bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 111 f. oder, noch übersichtlicher, bei Schoor: Verlagsarbeit, S. 80‒82.
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über die Bestellungen und deren Ausführung informieren; zweimal jährlich war eine Lagerinventur geplant. Doch schon nach zwei Monaten teilte Bermann Fischer mit, dass er »auf die bisherige Weise […] nicht arbeiten« könne: Er verlangte vielmehr tägliche Nachricht über den Lagerbestand und die ausgeführten Lieferungen.15 Da nur knapp bemessene Auflagen gedruckt werden konnten, benötigte er tagesaktuelle Informationen, um rechtzeitig Druck- und Bindeaufträge erteilen zu können. Da sein Hauptlager sich jetzt in Amsterdam befand, wurde auch ein Großteil dieser Aufträge jetzt in den Niederlanden ausgeführt, wobei die Auftragserteilung und -überwachung immer öfter von Landauer vorgenommen wurde. Die geographische Entfernung ließ in Produktion und Vertrieb doch mancherlei Probleme entstehen, die nur durch ausgefeilte Logistik überwunden oder minimiert werden konnten – und durch den persönlichen Einsatz von Landauer und Landshoff auch für die Bücher des Stockholmer Vertragspartners. Dabei wurde ein gewisser Teil der Herstellungsarbeiten in osteuropäische Länder (Ungarn, Tschechoslowakei) vergeben, nicht allein wegen der geringeren Kosten, sondern weil die dort erzielten Umsätze gleich zur Bezahlung dieser Arbeiten verwendet und dadurch Schwierigkeiten mit den Devisenkontrollen vermieden werden konnten.16 Allerdings fiel die Tschechoslowakei als Herstellungsort und Absatzmarkt durch deren Annexion sehr bald weg. In anderen Ländern wie Jugoslawien und Rumänien, auch Polen und Ungarn war es laufend zu Schwierigkeiten im Geldverkehr gekommen – Schwierigkeiten, die in Bruno Franks Roman Die Tochter, 1943 bei El Libro Libre in Mexiko erschienen, eine literarische Spiegelung erfuhren. Die (jüdische) Protagonistin Elisabeth hatte in Polen eine Buchhandlung eingerichtet, in welcher sie auch Exilliteratur führte: Aus Amsterdam gelangte die gehetzte Literatur auf Elisabeths Regale am Ringplatz. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, dass nichts davon fehlte. Aber die Bücher verkauften sich schwer. Dieselbe Welt, die sich die Augen zuhielt vor der deutschen Gefahr – sie begann sich die Ohren zuzuhalten vor der deutschen Sprache, auch dort, wo die Sprache ein Instrument des Grams und der Auflehnung war. Der Versand der Bücher aus Holland nach Polen war keineswegs einfach. Er geschah unter Umgehung des Pferchs; immer neue Umwege mußten ersonnen werden. Zahlungen zu bewerkstelligen, war ein Problem. Das machte Briefaustausch nötig, besonders mit einer dieser Verlagsfirmen – der, die am meisten wagte und galt. Angenehme Äußerungen kamen von dort, frei und humoristisch im Ton. Der Mann, der sie zeichnete, hieß Auerbach.17 Mit Kriegsbeginn musste die Belieferung vieler dieser Länder eingestellt werden, sodass sich am Ende des Jahres 1939 die meisten Vertriebsvereinbarungen erledigt hatten und das Absatzgebiet auf die Schweiz, Skandinavien und Amerika beschränkt war. Mit der
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Brief an Walter Landauer vom 30. September 1938, hier zit. n. Nawrocka: Verlagssitz, S. 113. Dazu: Nawrocka: Verlagssitz, S. 114 f. Bruno Frank: Die Tochter. Hrsg. und mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin. München: Nymphenburger 1985, S. 300 f. In der S. 301‒312 vorgestellten Figur Auerbach ist ein Porträt Fritz H. Landshoffs zu vermuten.
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Besetzung der Niederlande im Mai 1940 musste die Zentralauslieferung, wie auch die Amsterdamer Verlage, ihre Tätigkeit beenden.
Distributionsnetze der kommunistischen Verlage Für die der kommunistischen Partei nahestehenden Verlage wie Carrefour oder Malik mag ein gewisser Startvorteil darin bestanden haben, dass es ein sich über viele Länder Europas erstreckendes Netz von Parteibuchhandlungen und sonstigen Einrichtungen gegeben hat, die als Distributionsorte für die weltanschaulich einschlägige Exilliteratur dienen konnten. In der Tat begann Willi Münzenberg sehr rasch nach seiner Flucht aus Deutschland mit einer Sondierung der Vertriebssituation, wobei ihm seine Lebensgefährtin Babette Gross behilflich war, die auf mehreren Reisen in die Schweiz, nach Österreich und in die Tschechoslowakei überprüfte, wieweit die bisherigen Stützpunkte des Neuen Deutschen Verlags in Basel, Wien und Liberec / Reichenberg sowie die 28 Vertriebsstellen der »Universum-Bücherei für Alle« für seinen Pariser Carrefour-Verlag nutzbar gemacht werden könnten.18 Von den gebotenen Möglichkeiten wurde denn auch Gebrauch gemacht, zusätzlich wurde in Zürich die Buchhandlung Oprecht & Helbling für die Auslieferung der Carrefour-Bücher gewonnen, in Prag Michael Kácha. Bis in die USA wurde das Vertriebswegenetz ausgebaut: In New York war es Andrew Kertesz, der 1933 bis 1938 im Auftrag von Willi Münzenberg als Repräsentant der Éditions du Carrefour sowie der Universum-Bücherei Basel und ab 1938 des Verlags Sebastian Brant fungierte.19 Die Bücher der kommunistischen Verlage sollten nach Möglichkeit ebenso über den allgemeinen Buchhandel Verbreitung finden. Daher brachten auch sie Verlagskataloge heraus, die als Bestellgrundlage dienen konnten. So gab die VEGAAR, die ja bereits einige Jahre vor 1933 gegründet worden war und deren Programm nicht auf Exilliteratur eingeschränkt war, 1934 einen Katalog heraus, der 72 Seiten Umfang hatte.20 Auch die Éditions Prométhée stellten als Vertriebsmittel ein Verlagsverzeichnis Bücher – Broschüren – Zeitschrift Winter 1938/39 zusammen, das immerhin rund 40 Seiten stark war. Eine Liste von Verlagsauslieferungen war allerdings nicht enthalten; stattdessen stand vermerkt: »Bestellungen bitten wir bei den ortsansässigen Buchhandlungen aufzugeben. Wo keine Buchhandlung am Platze, wende man sich direkt an den Verlag. Die angegebenen Preise gelten für Frankreich und die Kolonien, für das Ausland wird in der jeweiligen Währung fakturiert« (S. 3). Was Frankreich betraf, so hatten die Éditions Prométhée – wie die meisten Verlage des kommunistischen Lagers, vor allem die sowjetischen – der Buchhandlung C. Mayer & Cie den Exklusivvertrieb für ihre Bücher übertragen.21 Bessere Voraussetzungen als die meisten anderen Exilverlage hatte Wieland Herzfeldes Malik-Verlag in Prag – zunächst allein dadurch, weil er von Auslandskontakten Gebrauch machen konnte, die er schon in der Zeit vor 1933 aufgebaut hatte. Auch
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Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil. Cazden: The Free German Book Trade, S. 360; Cazden: German Exile Literature, S. 176; Stefan Zweig – Paul Zech. Briefe 1910‒1942, S. 216. Bücher der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, Deutsche Sektion. Die Bücherdistribution aus der Sowjetunion nach Westeuropa lief über den Buchvertrieb der Meshdunarodnaja Kniga (Das internationale Buch). Vgl. Prag – Moskau. Briefe, S. 61.
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war der Verleger so umsichtig gewesen, seinem Sohn George eine Liste mit Geschäftsadressen ins Gepäck zu stecken, als dieser 1932 zu den Großeltern nach Salzburg verschickt wurde; diese Adressen sollten sich – nachdem der Verlag in Berlin beschlagnahmt und verwüstet worden war – für den Neuanfang als wichtig erweisen.22 Zusätzlich konnte Herzfelde in den neuerrichteten Exilbuchhandlungen Stützpunkte finden, so bei der Librairie Ernest Strauss in Paris, die für ihn als Auslieferung tätig wurde.23 Und auch wenn es sich bei Malik nicht um einen KP-Verlag im engeren Sinn handelte, so konnte er vertrieblich doch mit dem internationalen Netz von Parteibuchhandlungen zusammenarbeiten. Dass sich dieser Vorteil allerdings rasch als ein bloß scheinbarer entpuppte, lassen die Klagen von Wieland Herzfelde erkennen. So etwa schrieb er am 7. August 1936 aus Prag in einem Brief an Willi Bredel: Der ewige Geldmangel ist überhaupt ekelhaft. Jetzt zahlen mal zur Abwechslung wieder die Schweizer Parteibuchhandlungen nicht. Infolgedessen verkauft man schlechter, das wird sich beim »Spitzel« [Roman Bredels] unangenehm auswirken, denn der bürgerliche Buchhandel wird nicht viel Interesse daran haben, [die Zürcher Buchhandlung] Oprecht strengt sich natürlich für uns nicht an.24
Abb. 2: Verlagsverzeichnisse wie jenes der Éditions Prométhée vom Winter 1938/39 waren Vertriebs- und Werbemittel, auf die auch viele Verlage im Exil nicht verzichten wollten.
Über die Situation seines Verlages berichtete er Bredel ein halbes Jahr später, dass diese sich insofern verschlechtert habe, als durch das Interesse für Spanien sich das Interesse für Deutschland herabgemindert hat, zudem in verschiedenen demokratischen Ländern die Lage sich sehr versteift hat, insbesondere in der Schweiz, wo die Buchhändler kaum noch etwas zu bestellen wagen. Früher war der Hauptabsatz dort. Dafür haben sich Ungarn und Österreich wieder ein wenig verbessert. Verschlechtert wiederum Rumänien und ganz Skandinavien (dort weiß ich nicht, warum), wesentlich verbessert Belgien. So gut wie ausgefallen ist Nordamerika, unsere dortige Buchhandlung schuldet mir sehr viel Geld und bestellt gar nichts mehr, antwortet überhaupt nicht mehr auf meine Briefe. Immer das alte Lied.25 22 23 24
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Siehe Wyland-Herzfelde: Glück gehabt. Erinnerungen 1925‒1949, S. 63. SStAL, BV, F 13.321 Malik-Verlag. Prag – Moskau. Briefe, S. 92 f. – Vgl. auch S. 96: Dort wird von Herzfelde ein (Prager) Buchvertrieb Melantrich genannt, der allerdings die (Prager) Parteibuchhandlung mit nur 20 % Rabatt belieferte. Brief Wieland Herzfeldes an Willi Bredel vom 27. Februar 1937, in: Prag – Moskau. Briefe, S. 141 f.
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Für kleinere, von Parteien unabhängige Exilverlage war es allein schon aufgrund des fehlenden Handelsvolumens viel schwerer, von sich aus länderumspannende Vertriebsnetze aufzubauen. Ihnen kam der Umstand zu Hilfe, dass sich in vielen Ländern teils bestehende ortsansässige Firmen, teils auch von Emigranten gegründete Unternehmen auf Buchimport spezialisierten bzw. Buchimport als Zusatzgeschäft betrieben, wobei die Exilverlage häufig einzelnen Firmen das Alleinvertretungsrecht im jeweiligen Land übertrugen. Damit wurde die Distributionsstruktur insgesamt immer engmaschiger und konnte auch kleinteiliger, d. h. mit Einzelbestellungen betrieben werden.
Stützpunkte des Buchvertriebs für Exilverlage in den einzelnen Ländern In Zürich war es in der Hauptsache die Buchhandlung von Emil und Emmie Oprecht, die für eine Reihe von Verlagen Auslieferungsfunktionen in der Schweiz übernahm, so für die Éditions du Carrefour oder den Pariser Verlag von Bernhard Rosner bzw. den Verlag Météore, durchaus auch für den Prager Malik-Verlag, besonders aber für die sozialdemokratische Verlagsanstalt Graphia in Karlsbad in der Tschechoslowakei.26 Ein Stützpunkt für die Exilliteratur war aber auch Theo Pinkusʼ »Bücherdienst«: Von Anfang an versuchten wir mit unserem Geschäft, »linke«, antifaschistische und fortschrittliche Bücher aus Emigrationsverlagen zu verbreiten. […] Nach Kriegsende verhalfen uns zudem Buchsendungen aus Mexiko mit Erzählbänden und Romanen von Anna Seghers und Heinrich Mann, mit politisch-historischen Büchern von Egon Erwin Kisch und Alexander Abusch, die Tätigkeit vom Antiquariat auch auf das neue Buch zu erweitern.27 Theo Pinkus beobachtete in der Schweiz nach 1933 das stapelweise Einlangen und die Verramschung der vom Nationalsozialismus verfemten Literatur, so beim Warenhaus »Rheinbrücke« in Basel (von Arnheim Film als Kunst, die Hefte Versuche von Brecht, de Costers Ulenspiegel mit den Illustrationen von Frans Masereel).28 Die Genfer Buchhandlung Kündig hatte »Wagenladungen Kafka in Prag gekauft, aus dem Mercy Verlag. Die Gesamtausgabe, herausgegeben von Max Brod in acht Bänden«; die Buchhandlung bot sie zum Wiederkauf um 18 Franken, für den privaten Buchkäufer um 25 Franken an. »Einmal holte Kündig eine Riesenladung aus dem Lager des Phaidon-Verlags in Österreich, der nach der Besetzung gezwungen war, sein Lager abzustoßen«.29 Auch der Sammler und Antiquar Hans Bolliger erinnerte sich an die Verramschung von in Deutschland verbotenen Büchern in Zürich in den Jahren 1934/1935 auf anschauliche Weise: Ich arbeitete damals in der Buchhandlung Dr. Oprecht & Helbling an der Züricher Rämistraße, in jenem Laden, der zum geistigen Zentrum werden sollte im Kampf
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Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 114 f. Lüscher / Schweizer: Amalie und Theo Pinkus-De Sassi. Leben im Widerspruch, S. 258. Lüscher / Schweizer, S. 251. Lüscher / Schweizer, S. 251.
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gegen den Nationalsozialismus, zum Treffpunkt von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen auf ihrer Flucht vor der tödlichen Verfolgung. […] Und dort sah ich die aus Deutschland eintreffenden Kisten mit den Büchern der Verlage Cassirer, Malik, Kurt Wolff, die alle ›arisiert‹ worden waren und deren Bücher in die Schweiz billigst abgestoßen, verramscht wurden, Bücher, die in Deutschland dem Scheiterhaufen ausgesetzt wurden. Ich hatte die Kisten auszupacken, die Preise auszuzeichnen und die Bücher in die Gestelle einzuordnen. […] Mein täglicher Weg zur Arbeit führte durch die Froschaugasse, wo Theo Pinkus und Selma Bührer ihre legendäre Buchhandlung und ihr Antiquariat hatten: ein weiteres Zentrum des Widerstandes gegen den Ungeist. Hier stapelten sich wieder die Bücher, die es in Deutschland nicht mehr geben durfte. Und ich half, nach Arbeitsschluß in der Bibliothek, die Stapel von expressionistischen und avantgardistischen Büchern zu sichten und zu bewerten.30 In Österreich gewannen in den Jahren 1933 bis 1938 einige Wiener Buchhandlungen beträchtliche Bedeutung als Verlagsauslieferungen der in Amsterdam, Zürich, Paris oder der Tschechoslowakei angesiedelten Exilverlage, so die Firmen Dr. Hain, Leopold Heidrich, Löwit und vor allem Josef Kende. Die Fa. Kende dürfte zeitweise der Hauptstützpunkt für die Verlage des deutschsprachigen Exils gewesen sein; er fungierte als österreichische Auslieferung für Humanitas (Zürich), Allert de Lange (Amsterdam), Querido-Verlag (Amsterdam), Éditions du Carrefour (Paris), Europa Verlag (Zürich), Europäischer Merkur-Verlag (Paris), Malik-Verlag A. G. (Prag), außerdem für den Schocken Verlag (Berlin).31 Zudem hat Kende bemerkenswerte Anstrengungen unternommen, die Bücher der Exilverlage von Wien aus auch ins Dritte Reich zu verkaufen. So etwa verschickte er Prospekte des Amsterdamer Querido-Verlags, woraufhin zahlreiche Bestellungen deutscher Buchhändler eingegangen sind, die der Wiener Buchhändler nun über Koehler & Volckmar beliefern wollte. Da inzwischen bereits das Propagandaministerium auf Kende aufmerksam geworden war, verzichtete das Leipziger Unternehmen auf die Durchführung des Auftrags. Aufschlussreich aber eine Aktennotiz des Auslandsreferenten des Börsenvereins Willy Max Schulz vom August 1934 zu diesen Vorgängen: Wie vorauszusehen war, verweigerte Direktor Gartmann von Koehler & Volckmar gestern Abend die Nennung der Firmen, die Querido-Bücher von Kende bestellt haben. Er sei kein Polizist; die Pakete seien zurückgeschickt worden, man wisse nicht mehr für wen sie bestimmt gewesen seien. […] Ich halte diese Antwort für unzutreffend und geeignet, schärfere Überwachungsmaßnahmen, die bekanntlich vorgeschlagen sind, auszulösen. Allem Anschein nach wollen Koehler & Volckmar
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Bolliger: Erinnerungen eines Sammlers und Bibliographen, S. 43 f. ‒ Zu den Büchern des Kurt Wolff Verlags merkte Bolliger an: »Zu meinen Lieblingsbüchern, die ich in den Kisten mit verfemter Literatur bei Oprecht gefunden hatte, gehört die von Ernst Ludwig Kirchner mit 47 Holzschnitten illustrierte Ausgabe von Georg Heyms Umbra Vitae. Das Buch war im Rahmen der ›Arisierung‹ des Kurt Wolff-Verlages in die Schweiz verramscht worden und wurde in Buchhandlungen und Warenhäusern zum Preis von 5.− Fr.! angeboten (heutiger Preis um 7000 bis 9000.− Fr.)« (S. 44). Hall: Österreichische Verlagsgeschichte [online].
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l die Empfänger der Querido-Bücher schützen. Nach meiner Ansicht hat auch der Börsenverein die Pflicht, die Besteller der Querido-Bücher zu ermitteln.32
In Reaktion auf diese Misshelligkeiten legten Koehler & Volckmar die Vertretung Kendes nieder. Dieser ließ sich aber nicht entmutigen, sondern wechselte zum Leipziger Kommissionär C. Zschäpe und versandte im Oktober 1934 ein Zirkular an Buchhändler in NS-Deutschland, in denen er die Lieferung »leicht verkäufliche[r] Werke« u. a. von Vicki Baum, Alfred Döblin, Bruno Frank, Joseph Roth, Jakob Wassermann und Arnold Zweig über die Fa. C. Zschäpe anbot.33 Kendes Liste, in der er die Nennung von Verlagsnamen geflissentlich vermied, umfasste ausnahmslos Titel der Amsterdamer Verlage Querido und Allert de Lange; einige davon waren auch getarnt als Titelauflage mit der Verlagsangabe Josef Kende, Wien, erschienen. Das Angebot zog erneut eine Welle von Anfragen und Stellungnahmen im Börsenverein und im Propagandaministerium nach sich. Kende verteidigte sich Zschäpe gegenüber mit dem Hinweis, keines der angebotenen Bücher sei ausdrücklich verboten, und versicherte ihm am 26. November 1934, »daß es nur böswillige Verleumdung ist, wenn man mir zumutet, verbotene Bücher nach Deutschland zu liefern. Ich bin schon 50 Jahren im Buchhandel, und weiss nur zu gut, daß man mit solchen Geschäften niemals auf einen grünen Zweig kommt.«34 Der vor den Börsenverein vorgeladene Zschäpe brach nun ebenfalls die Verbindung mit Kende ab. Der Wiener Buchhändler, der auch »große Ausstellungen des antifaschistischen deutschen Buches in den Schaufenstern seiner Buchhandlung am Opernring«35 veranstaltete, büßte nach dem »Anschluss« Österreichs für sein offensives Eintreten für die Exilliteratur mit seinem Leben.36 Ähnlich wie Kende scheint in Wien Max Mayer Präger von der Firma Löwit verfahren zu sein; nach einem in der Berliner Zeitschrift Das Schwarze Korps veröffentlichten Artikel versandte er nach Deutschland eine Sonderliste mit Büchern, deren Vertrieb – so der Begleittext – »in Deutschland unerwünscht ist. Es handelt sich durchweg um Autoren, die sehr gesucht sind und sich nach wie vor guten Absatzes erfreuen«.37 Auch
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Aktennotiz vom 25. August 1934. SStAL, BV, F 4704. Vgl. hierzu auch Thomas Keiderling: Der Zwischenbuchhandel. In: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Band 3: Drittes Reich, Teil 1, S. 259‒294, bes. S. 266–269. Danach handelte es sich bei Felix Gartmann um einen Parteigänger der NSDAP, der aber im vorliegenden Fall sich gegenüber seinem Unternehmen loyal verhielt. Enthalten in SStAL, BV, F 4704. Abschrift eines Schreibens von Josef Kende an die Fa. C. Zschäpe. Leipzig. vom 26. November 1934. SStAL, BV, 4.704. Vgl. in dieser Akte auch die an Dr. Heß gerichtete Aktennotiz von Willy Max Schulz vom 5. Dezember 1934 mit einer Überblick über die Vorgänge. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 79. Vgl. außerdem Spring: Verlagstätigkeit im niederländischen Exil, S. 78‒83. Siehe dazu auch den Abschnitt Verlagskooperationen im Kap. 5.1 Verlage: Typologie, Produktion, Kalkulation; sowie Hopp: Kunsthandel im Nationalsozialismus. Das letzte Kapitel bei Hopp informiert über die »Arisierung« der Buchhandlung Kende. (An.) Liste D. In: Das Schwarze Korps Nr. 18, 30. April 1936; zit. n. einem Zeitungsausschnitt in SStAL, BV, F 5875. Im Zeitungsartikel namentlich genannt werden u. a. Nathan Asch, Hugo Bettauer (»den größten Pornographen, den Wien je hervorgebracht und dessen ›dichterisches‹ Können ihm eine Kugel aus jenen jugendlichen Reihen eintrug, die er syste-
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in diesem Fall war eine Auslieferungsstelle in Leipzig genannt. Wie Kende gehörte auch Präger im März 1938 zu den vorrangigen Zielen und Opfern der Verfolgungs- und Vergeltungsmaßnahmen der in Wien einmarschierten Nationalsozialisten; er wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Dass auch die Wiener Buchhandlung Leopold Heidrich als Auslieferung von Exilverlagen, speziell des Verlags Allert de Lange fungierte, geht nicht zuletzt aus der anonymen Denunziation eines »überzeugten Verfechters des nationalen Gedankens« vom 11. November 1933 hervor.38 Allerdings scheint Heidrich diese Rolle nur bis März 1934 wahrgenommen zu haben; einer Distanzierung des eingeschüchterten und um seine Geschäftsverbindungen nach Deutschland fürchtenden Buchhändlers folgte der Bruch. Danach übernahm bis zum »Anschluss« im März 1938 die Firma Halm & Goldmann bzw. deren Geschäftsnachfolger Josef Kende die Aufgabe, die Produktion von Allert de Lange, von Querido und einer Reihe anderer Exilverlage auszuliefern. In der Tschechoslowakei war es hauptsächlich die von Arthur Heller geführte K. André’sche Buchhandlung in Prag, die als Auslieferung für den Verlag Allert de Lange und wohl auch für Querido fungierte – ein wichtiger Stützpunkt, denn die ČSR gehörte generell zu den ergiebigsten Absatzgebieten der Exilliteratur: »Als Abnehmer deutschsprachiger Publikationen bedeutsam erschienen Allert de Lange außerdem die in Prag ansässigen Firmen Calvé, Taussig und Taussig und die Bücherstube Steinler [recte: Steindler] sowie die Firmen Witzek [recte: Brüder Wltžek], in Brünn, Julius Kittls Nachf. und Buxbaum [recte: Ignaz Buchsbaum, Verlags-, Versand-, Reise- und Musikalienhandlung, gegr. 18. 7. 1901] in Mährisch-Ostrau«.39 In Frankreich avancierte die Buchhandlung von Ernest Strauss40 rasch zum wichtigsten Stützpunkt des Exilverlagsvertriebs in Paris: Im Januar 1936 hatte sie Exklusivvertretungen für 14 und in der Folge für bis zu zwanzig deutschsprachige Exilverlage, darunter aus Frankreich die Éditions du Carrefour, die Éditions Météore und den Verlag des Europäischen Merkur, aus der Schweiz Oprecht & Helbling, den Europa-Verlag und Vita Nova, aus der Tschechoslowakei Malik und Julius Kittls Nf.41 Ernest Strauss warb denn auch in den in Exilzeitschriften erschienenen Anzeigen damit, dass seine Buchhandlung Hauptdistributor des »Freien deutschen Buches« und örtlicher Hauptlieferant des deutschen Auslandsbuchhandels sei.42 Darüber hinaus erbrachte Strauss für den gesamten Exilbuchhandel eine wichtige Leistung mit der 1938 im Selbstverlag erschienenen Zusammenstellung Fünf Jahre freies deutsches Buch ‒ Gesamtverzeichnis der freien
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matisch zu vergiften suchte«), Max Brod, Ilja Ehrenburg, Anton Kuh, Ludwig Marcuse, Joseph Roth und Arnold Zweig. Schoor: Verlagsarbeit, S. 77. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 74. Die im Zitat eingefügten Korrekturen zu den Verlagsnamen stammen von Hall: Böhmische Verlagsgeschichte – Gustav Neugebauer Verlag (Verlag Martin Feuchtwanger), Prag [online]. Genaueres zu der Firma im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. Zur Exilbücherdistribution in Frankreich vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil, S. 48‒ 53. Siehe auch Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 96, 164. Siehe hierzu die Liste bei Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 102, Fn. 200. Vgl. die Werbeanzeige im NTB 7. Jg., H. 14 v. 1. April 1939, S. 314.
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Abb. 3: Der Wiener Buchhändler Josef Kende bot im Oktober 1934 Buchhändlern im Dritten Reich verdeckt die Lieferung der Querido- und Allert de Lange-Produktion an – mit schlimmen Folgen für ihn selbst.
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Abb. 4: Die Buchhandlung Dr. Ernest Strauss bot vielfältige Dienstleistungen an, auch im Bereich der internationalen Bücherdistribution (Anzeige aus: Das Buch, 4. Heft, Dezember 1938).
deutschen Literatur 1933‒1938, die auf einer ersten, im September 1936 in der Zeitschrift Das Wort erschienenen fragmentarischen Bibliographie beruhte, die exakt den im Sortiment von Straussʼ Firma geführten Verlagsprogrammen entspricht. Die Buchpublikation war innerhalb weniger Wochen vergriffen und bildete die Grundlage für die im April 1938 erstmals erschienene, als »Forum für den gesamten unabhängigen Buchhandel« gedachte Zeitschrift Das Buch, die von der Pariser Gruppe der ISK herausgebracht wurde und sich in Konkurrenz zum stark kommunistisch geprägten Pariser Literaturmarkt stellte.43 Die bereits erwähnte Buchhandlung C. Mayer fungierte in Paris als Auslieferung nicht nur für die Éditions Prométhée, sondern auch für zahlreiche sowjetische Verlage und bot in ihren Prospekten dementsprechend auch Ausgaben von Karl Marx, Lenin oder Gorki an, wobei allerdings auf die Nennung von Verlagen verzichtet wurde; offenbar versprach man sich bessere Aufmerksamkeits- und Verkaufserfolge, wenn die sowjetische Herkunft der Bücher nicht an die große Glocke gehängt wurde. C. Mayer diente zudem als Vertriebsplattform für in Moskau erscheinende antifaschistische Exilzeitschriften wie Das Wort oder Internationale Literatur. In Großbritannien baute David Yaskiel* (1900 Kaminitz / Schlesien – 1979 London), vor 1933 in Berlin unter der Namensform Jaskiel als Kaufmann tätig, in London eine
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Siehe hierzu das Kap. 5.1 Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation.
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Abb. 5: Vorwort von Walter Hammer zu dem von ihm für die sozialdemokratische Buchhandlung H. P. Poulsen erstellten Bücherverzeichnis.
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British International News Agency auf, die als Vertriebszentrale für Exilliteratur fungierte. Die Agentur lieferte Bücher des Amsterdamer Querido-Verlags, des Pariser Verlags Europäischer Merkur und des Prager Malik-Verlags aus, außerdem die Exilorgane Der Gegen-Angriff, Neue deutsche Blätter und Neuer Vorwärts.44 Der am 11. Juni 1935 aus Deutschland ausgebürgerte Yaskiel wurde im April 1937, offenbar aufgrund einer Denunziation durch den Nazi-Spion Hans Wesemann, als unerwünschter Ausländer für zwei Monate inhaftiert; die Bemühungen der britischen Behörden um Abschiebung nach Deutschland scheiterten jedoch an der Ablehnung durch das Auswärtige Amt in Berlin.45 In England fungierten auch inländische Buchhandlungen als Stützpunkte der ExilBücherdistribution: 1937 errichtete das Kaufhaus Selfridge’s in London »eine prächtig ausgestattete fremdsprachige Buchabteilung«, die eine »grosse Auswahl von Werken international bekannter Emigranten-Schriftsteller, wie: Feuchtwanger, Baum, Neumann, Ludwig, Mann, Bruno Frank, Heiden etc.« anbot.46 Ebenfalls in London, allerdings erst nach dem Krieg, hat Oswald Wolff* (1897 Berlin – 1968 London) die Buch-ImportExport-Gesellschaft Interbook Ltd. errichtet. Es ging hier nicht mehr um die Verbreitung von Exilliteratur, aber Wolff selbst war Emigrant: Nach zwei abgeschlossenen Studiengängen hatte er in Deutschland 1933 bis 1939 jüdische Auswanderer in Wirtschaftsangelegenheiten beraten, bis er selbst im August 1939 nach Großbritannien flüchtete, wo er die Arbeit als Wirtschaftsberater wieder aufnahm und daneben mehrere kleinere Unternehmen ins Leben rief, darunter 1949 die Interbook Ltd., die er zehn Jahre führte, um dann 1959 den Grundstein für den Verlag Oswald Wolff Ltd. zu legen, in dem vor allem Titel zu deutscher Literatur und Kultur sowie Bücher zur europäischen Geschichte und Nationalökonomie erschienen.47 Nach Wolffs Tod 1968 führte seine zweite Frau Ilse R. Wolff* (geb. Zorek; 1908 Glatz / Schlesien – 2001 London), zuvor Chefbibliothekarin an der Wiener Library, die Geschäfte des Unternehmens weiter. 1985 fusionierte der Verlag mit Berg Publishers. In Dänemark fand die deutschsprachige Exilliteratur einen engagierten Stützpunkt in der 1934 von dem Sozialdemokraten Hans Peter Poulsen in Kopenhagen errichteten Fa. H. P. Poulsen’s Boghandel. Der Buchhändler arbeitete mit dem nach Dänemark
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Yaskiel dürfte auch mit Willi Münzenberg und Babette Gross in Verbindung gestanden und dafür gesorgt haben, dass 1934 in London bei John Lane, The Bodley Head, eine englischsprachige Ausgabe vom Braunbuch II: Dimitroff contra Göring unter dem Titel The Reichstag Trial. The second Brown book of the Hitler Terror mit einer Einleitung von Denis N. Pritt herauskam. Vgl. Barnes / Barnes: Nazi Refugee Turned Gestapo Spy, S. 36‒38. – Yaskiel stand dann 1940 auf der »Sonderfahndungsliste G.B.« des Reichssicherheitshauptamtes (online). Nach einer Anzeige im Neuen Tage-Buch vom Dezember 1937. Bei Joos: Trustees of the Public?, S. 181, findet sich der Hinweis darauf, dass der nach Prag exilierte Malik Verlag seine (zum Schein vorgenommene) britische Registrierung über die Abteilung für ausländische Bücher des Kaufhauses Selfridgeʼs erhalten habe. Zu Selfridgeʼs »International Book Supply« gibt es auch eine Firmenakte des Börsenvereins: SStAL, BV, F 12092. Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 207. – Oswald Wolff war Mitglied im Club 1943, in der Publishers Association, in der Booksellers Association, in der Anglo-German Association; außerdem war er Gründungsmitglied der Independent Publishers Group.
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emigrierten ehemaligen Inhaber des Fackelreiter-Verlags Walter Hammer* zusammen, der 1938 ein Bücherverzeichnis zusammenstellte, das auf acht Seiten 97 kundig ausgewählte antinazistische Titel aufweist. Fast alle davon waren in Exilverlagen erschienen, doch hat Hammer auf Verlagsangaben verzichtet, um keine Fährten zu legen, vielleicht auch, um sicherzustellen, dass Bestellungen über die Buchhandlung liefen. Dafür war das Verzeichnis mit einem Register ausgestattet, das eine detaillierte Suche nach Themen und Sachgebieten ermöglichte.48 Hammer selbst diente das Verzeichnis als Hilfsmittel bei seiner in Kopenhagen mit großem Einsatz geleisteten Arbeit im Widerstand. In Schweden, in Stockholm, war es Fritzes Kungl. Hovbokhandel, der sich für die deutschsprachige Exilliteratur einsetzte.49
Die Sonderstellung von Palästina / Israel im Bereich der Bücherdistribution Die Rahmenbedingungen für die Büchereinfuhr in das britische Mandatsgebiet Palästina waren durchaus wechselhafte: Während 1933 bis 1939 das Importvolumen, begünstigt vor allem durch das Haavara-Abkommen, eine beachtliche Höhe erreichte (1935 stammte rund die Hälfte der aus dem Ausland eingeführten Bücher aus Deutschland), war das Land nach Beginn des Zweiten Weltkriegs von den Einfuhrmöglichkeiten aus allen europäischen Ländern weitgehend abgeschnitten.50 Für die erste Phase aber gilt, dass namentlich durch Bonifikationszahlungen der Haavara das Importgeschäft profitabel gestaltet werden konnte. Zu den Besonderheiten des Buchmarkts von Palästina gehörte allerdings auch die erstaunlich große Zahl von Unternehmen, die sich mit Verlagsauslieferung und Buchimport befassten; ihr stand ein relativ kleiner Kundenkreis für deutschsprachige Bücher gegenüber, auch wenn es in dem Einwanderungs- und Entwicklungsland durchaus eine Nachfrage namentlich nach Fachliteratur, weniger nach Belletristik gab. Aus dieser Konstellation resultierten intensive Konkurrenzverhältnisse und eine hohe Firmen-Fluktuation. Um 1937 waren die vier wichtigsten Zwischenbuchhändler in Palästina Pales, E. J. Herzfelder und Biblion in Tel Aviv, sowie Rubin Mass in Jerusalem.51 Dazu kamen aber noch eine Reihe teils gleichzeitig bestehender oder später entstandener Distributoren (Max Baender, Erich Hecht, Rolf Schuster, Lonnie Kahn, Erwin Rotter). Die hohe Dichte führte zwangsläufig dazu, dass die meisten dieser Firmen eher
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Schlüsselwörter waren z. B. Christentum, Hitler, Italien, 30. Juni 34, Konzentrationslager, Krieg, Rassenwahn, Reichstagsbrand, Rüstung, Spanien, Kriegsschauplatz Innerdeutschland u. a. m.; das Verzeichnis war in zwei Kategorien »Romane, Dramen Jugendbücher« bzw. »Zeitgeschichtliches« gegliedert und verwies eigens auf jene Bücher, von denen Übersetzungen ins Dänische vorlagen (insgesamt 14). Siehe die Grossoliste Lagerförteckning över tysk litteratur. Nr. 14 (vervielfältigtes Typoskript), im Bestand des Deutschen Exilarchivs Frankfurt am Main. Einen guten Überblick über diese wechselnden Buchimportbedingungen in Palästina liefert Jessen: Kanon im Exil, S. 63‒70. Das Haavara-Abkommen war eine im August 1933 zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der Jewish Agency (der Zionistischen Vereinigung für Deutschland) geschlossenen Vereinbarung, die die Emigration deutscher Juden nach Palästina erleichtern und gleichzeitig den deutschen Export fördern sollte. Damit schloss sich die Jewish Agency dem internationalen Boykott deutscher Waren nicht an. Deutsches Exilarchiv, NL Zadek EB 87/089.
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geringe Umsätze machten und sich auch – beispielsweise mit deutscher Exilliteratur – nur in Nischen behaupten konnten, während einige andere mit Literatur aus Verlagen in NS-Deutschland vergleichsweise gute Geschäfte machten. Eine zeitweilig beherrschende Stellung nahm die 1933 von Paul Arnsberg* (1899 Frankfurt a. M. – 1978 ebd.) gegründete Firma Pales (Palestine Economic Service) ein.52 Sie war zunächst auf Wirtschaftsberatung und -publizistik ausgerichtet, doch bald entwickelte sich aus ihr die Pales Press Company, die mit bis zu 900 Angestellten zur größten Zeitungs- und Zeitschriftenvertriebsorganisation und, durch Einrichtung von Filialen u. a. in Jerusalem und Haifa, auch zur bedeutendsten Buchimportfirma im Mittleren Osten aufstieg. Der in Frankfurt a. M. in zionistischen Organisationen aktive Jurist Paul Arnsberg war im April 1933 über Triest nach Palästina gelangt, wo er, unterstützt von dem schon seit längerem dort wohnhaften Schriftsteller Eliahu ben Chorin, in Tel Aviv als Unternehmensgründer hervortrat. Mit Pales war Arnsberg seit 1935 bemüht, der ständig im Wachsen begriffenen Anzahl deutscher Emigranten in Palästina insbesondere die Produktion deutscher Verlage – natürlich nur soweit sie nicht Nazi-Literatur produzierten – zugänglich zu machen. Hierzu schloss er Alleinauslieferungsverträge u. a. mit Rowohlt, List, Knaur, S. Fischer, Langenscheidt ab und bemühte sich, seinem Unternehmen durch vielfältige Kontakte zu Repräsentanten des Börsenvereins die Möglichkeit der Einfuhr deutscher Bücher nach Palästina zu sichern.53 Daran hatten auch die Verlage großes Interesse, und so hätte diese Handelsverbindung für alle Beteiligten ein gutes Geschäft werden können, wenn sie nicht nach vielversprechenden Anfängen vom Vorsteher des Börsenvereins Wilhelm Baur unterbunden worden wäre. Der Konflikt zwischen ökonomischen Interessen und rassistischer Ideologie wurde zugunsten der Ideologie entschieden: Mit einem jüdischen Generalimporteur Verträge abzuschließen, während gleichzeitig in den buchhändlerischen Mitteilungsblättern Verbindungen mit jüdischen Emigranten untersagt wurden, hätte man der Buchbranche nicht verständlich machen können. Da man umgekehrt in Palästina einen »arischen« Importeur nicht finden konnte, durften die deutschen Verlage grundsätzlich nicht mehr nach Palästina liefern. Nicht zuletzt wurden Arnsbergs Bestrebungen von geschäftlichen Konkurrenten in Palästina behindert, die (wie etwa Lipa Bronstein) Briefe in denunziatorischer Absicht nach Leipzig sandten, was zum Abbruch der Verbindungen nach Deutschland entscheidend beigetragen hat – einer der problematischen Aspekte des Exils. Arnsberg, der zur Verfolgung seiner Ziele und als Plattform des Interessensausgleichs die Bildung einer Vereinigung Associated Booksellers of Palestine vorangetrieben hatte, orientierte Pales nunmehr um auf die Produktion der Verlage des deutschsprachigen Exils wie Querido, Allert de Lange oder Bermann-Fischer sowie auf Exilzeitschriften, konkurrierte hierin allerdings vor allem mit Walter Zadeks Firma Biblion. Arnsberg leitete das Unternehmen bis 1956 und kehrte 1958 nach Frankfurt am Main zurück, wo er journalistisch tätig und 1966 bis 1969 Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland
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Siehe Arnsberg: Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 3; Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 1, S. 198‒201. Vgl. hierzu die Börsenvereins-Firmenakte SStAL, BV, F 12.321; außerdem: Vertrauliche Mitteilungen für die Fachschaft Verlag, Nr. 40 vom 29. April 1939, S. 5.
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war. In Palästina geriet Pales um 1960 in finanzielle Schwierigkeiten und wurde aufgelöst. Unter den Firmen, die Bücher aus den Exilverlagen bezogen und an den Sortimentsbuchhandel weitervermittelten, nahm in Palästina Walter Zadeks Buchimportfirma Biblion eine herausgehobene Stellung ein, allerdings nur für eine begrenzte Zeit. Walter Zadek* (1900 Berlin – 1992 Holon / Israel)54 war nach Verhaftung und einem Monat Zuchthaus im April 1933 nach Amsterdam geflüchtet und von dort aus nach Belgien, Frankreich, Schweiz und Großbritannien gereist, um buchhändlerische Geschäftsverbindungen anzuknüpfen und sich die Alleinvertretungsrechte mehrerer Exilverlage für Palästina zu sichern.55 Dies gelang ihm, da insbesondere der Leiter des Querido-Exilverlags Fritz Landshoff und der Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Allert de Lange Walter Landauer den Namen Walter Zadeks seit seiner Zeit als Redakteur des Berliner Tageblatts sehr gut kannten und daher bereit waren, ihm die Alleinvertretung ihrer Verlage anzuvertrauen. Zudem erledigte Zadeks (erste) Frau Helene (1893 Görlitz – 1976 New York) damals Büroarbeiten im Querido-Verlag. Im Dezember 1933 emigrierte Zadek mit einem »Arbeiter-Zertifikat« nach Palästina, wo er zunächst den Auftrag annahm, für die Tageszeitung Davar eine illustrierte Beilage ins Leben zu rufen. Als das Projekt drucktechnisch scheiterte, wurde er als freier Journalist und Pressefotograf tätig, suchte sich aber gleichzeitig eine buchhändlerische Existenz zu schaffen: 1934 gründete er Biblion, eine Verlags- und Importbuchhandelsfirma, spezialisiert auf deutschsprachige Exil-Literatur. Die Firma florierte zunächst und konnte auch in personeller Hinsicht ausgebaut werden.56 Die Basis dafür bildeten die besagten Exklusiv-Auslieferungsverträge, von denen sich die zwischen Querido und der Grossobuchhandlung Biblion als Nachfolgerin der zuvor belieferten Fa. Ernst Popper mit Wirksamkeit von 1. Januar 1935 abgeschlossene Vereinbarung im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main erhalten hat und exemplarischen Einblick in die in diesem Bereich üblichen Bedingungen gewährt.57 Daraus geht hervor, dass der Grundrabatt 45 % betrug und auf 47,5 % und 50 % anstieg, wenn sich die Order auf mindestens 50 bzw. 100 Exemplare eines Titels belief; die Versandkosten wurden hälftig geteilt, wobei es Zadek freistand, seine Fracht- und Portokosten an das Sortiment weiterzugeben. Der dem Sortiment gewährte Rabatt durfte aber nicht geringer als 30 % sein; an Private durfte keinesfalls verkauft werden. Die Zahlungsziele waren variabel: je größer die Bestellung, desto kürzer; nachträglich wurde jedoch ein einheitliches Zahlungsziel von drei Monaten vereinbart, zum Ausgleich aber eine Bankbürgschaft über 100 palästinensische Pfund gefordert. Ein wichtiger Punkt des Vertrags: Immerhin 25 % der Erstbestellung durften remittiert werden (das sollte zweifellos zu mutigen Orders verleiten), mit der
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Zu Zadeks Biographie, seinen Zeitzeugenberichten und seiner Antiquarstätigkeit siehe Kap. 6. 3 Antiquariatsbuchhandel. Zadek hatte sich sogar die Vertriebsrechte für das gesamte Programm des von Wilhelm Reich nach Kopenhagen verlegten Sexpol.Verlags für Palästina gesichert. Kurzfristig war als Lehrling auch Stephan Hermlin (d. i. Rudolf Leder) tätig, ehe er nach Spanien ging, um sich den Internationalen Brigaden anzuschließen. Der Vertrag ist in Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag, S. 99 f., vollständig reproduziert.
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Einschränkung, dass durch jede Nachbestellung die Erstlieferung in eine Festlieferung verwandelt wird (diesen Paragraph konnte Zadek durch Nachverhandlung zu seinen Gunsten verändern). Entscheidend an solchen Verträgen war die Ausbalancierung des Risikos: Der Verlag hatte zumeist mit ihm noch wenig bekannten Firmen zu tun, deren Liquidität und Verlässlichkeit er kaum beurteilen konnte, und musste sich daher absichern, ohne die Einsatzbereitschaft des Partners zu beeinträchtigen; der Grossist musste für die Erlangung eines Alleinvertretungsrechts auch weniger günstige Bedingungen in Kauf nehmen. Dazu kam, dass Palästina nicht nur in den Augen Landshoffs, sondern ganz objektiv ein besonderes schwieriges Pflaster gewesen ist. Zwei Jahre später hat denn auch Querido den Vertrag mit Zadeks Biblion gekündigt und die Auslieferung der Bücher der Fa. Pales übertragen. Zadek war zwar Querido gegenüber seinen Verpflichtungen nachgekommen, aber Landshoff reagierte hier auf Gerüchte einer drohenden Zahlungsunfähigkeit Biblions; das Risiko drohte aus seiner Sicht für den Verlag (der schon einen Schaden von 4.000 Gulden beim Konkurs einer italienischen Vertretung erlitten hatte)58 zu groß zu werden. Es ist nun durchaus aufschlussreich, die Verhältnisse im palästinensischen Buchhandel auch aus der Sicht Walter Zadeks zu beleuchten. In einem Interview hat er seine Tätigkeit und die Probleme, denen er sich gegenübersah, auf anschauliche Weise geschildert: Ich kam also mit meinen Büchern rüber und hatte die Alleinvertretung der großen Exilverlage, auch Edition Carrefour von Münzenberg in Paris, dazu gehörte auch der Europa Verlag Oprecht in Zürich, ich konnte also versuchen, mich wieder mit Bücherkoffern, aber diesmal in einem heißen Klima, durchzubringen. Ich lief von Buchhandlung zu Buchhandlung, und die Leute nahmen auch etwas; ich fuhr nach Jerusalem, ich fuhr nach Tiberias, ich fuhr nach Haifa und versuchte wieder, Bücher abzusetzen, und die Leute nahmen auch etwas, was ich aber nicht wusste: die zahlten nicht! Ich musste dem Geld hinterherlaufen, zigmal. Und Leute wie die große Firma von Steimatzky, vor dem ich gewarnt worden war bei Secker und Warburg in London (denn ich war auch dort vorher herumgefahren und hatte Vertretungsrechte beschafft), er sei ein schwieriger Kunde, der gab mir dann, als er nicht zahlen konnte, Wechsel für zwei, drei Monate. Diese Wechsel konnte ich ja gerieren lassen, da hätte ich etwas Geld, aber sie platzten alle, die ich von Herrn Steimatzky bekam,
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Nach Walter, S. 102 f., haben in Vertriebszusammenhängen auch die weltanschaulichen Positionierungen der Geschäftspartner eine Rolle gespielt: Arnold Zweig, Landshoffs wichtigster Gewährsmann in Palästina, riet von einem Geschäftsverhältnis mit Pales dringend ab, weil dessen Eigentümer Paul Arnsberg zionistischer Revisionist sei. Landshoff verwies aber darauf, dass man oft gezwungen sei, von den eigenen politischen Vorstellungen zu abstrahieren; so sei der (damalige) Querido-Reisende Friedrich Krause »kein Gesinnungsgenosse von uns« (Walter charakterisiert ihn als Schwarmgeist vom äußersten rechten Flügel des Exils), verkaufe aber die Bücher Zweigs in Österreich sehr gut, während der Verlagsvertreter Friedrich Sussmann »an der Tür herausgeschmissen« würde, »wovon weder er noch die Autoren noch wir etwas haben«. (S. 103)
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l und dann ging ich zu meinem Anwalt und der sagte, ja, da sind Sie reingefallen, Herr Steimatzky hat gar keinen Besitz, das ist alles seiner Frau überschrieben.59
Zadek berichtete auch von Konkurrenzgründungen (u. a. Literaria), die auf dem Zusammengehen von vorgeblich versierten Buchhändlern mit Geldgebern beruhten, die von den tatsächlichen Verhältnissen in Palästina keine Vorstellung hatten und die Absatzmöglichkeiten für importierte deutschsprachige Bücher weit überschätzten – mit der Folge, dass die Firmen bald aufgeben mussten: Bei mir aber passierte folgendes (ich sage Ihnen das, um die Schwierigkeiten der Exilanten aus meiner buchhändlerischen Erfahrung zu schildern): Ich hatte mit Mühe und Not, schweißtriefend, meine Koffer rumgetragen, schweißtriefend versucht, meine Gelder zusammenzubekommen ‒ wir gingen alle in Khaki in kurzen Hosen, und die Hemden klebten einem auf der Brust ‒, und da bekam ich einen Brief von Landshoff: Herr Zadek, wir hören, dass Sie als Grossist direkt Bücher an Private verkaufen, dass Sie mit Rabatt Bücher verkaufen, dass die Buchhändler infolgedessen bei Ihnen nichts mehr beziehen wollen; wir bitten Sie um sofortige Stellungnahme. Ich schrieb sofort zurück: Herr Landshoff, was ist denn los, keine Rede davon, wer hat Ihnen das geschrieben? ‒ Das kann ich Ihnen nicht mitteilen, die Briefe sind vertraulich, es ist von mehreren Stellen gekommen. – Dasselbe kam von Oprecht, dasselbe kam, ich weiß nicht, wer es noch war, es waren mehrere. Was mache ich bloß? Ich arbeite, schufte mich hier ab und über mich werden Verleumderbriefe herumgeschickt, von denen kein Wort wahr war.60 Offensichtlich herrschte also ein scharfer, bisweilen mit unlauteren Methoden geführter Konkurrenzkampf im palästinensischen Import- und Zwischenbuchhandel. Einen indirekten Beleg dafür liefert beispielsweise ein mit dem 28. Januar 1938 datierter Zettel aus dem Nachlass von Walter Zadek, aus dem hervorgeht, dass er sich von jeder einzelnen Buchhandlung das exklusive Belieferungsrecht mit der Produktion bestimmter Verlage schriftlich bestätigen ließ: »Hiermit erklären wir uns bereit, die Werke der Langenscheidtschen Verlagsbuchhandlung ausschliesslich von der Firma BIBLION zu beziehen, falls sie uns zu den Originalpreisen geliefert werden«. Das Blatt trägt Stempel und Unterschrift des Liberty Bookstore, Allenby Road, Tel Aviv, H. A. Stein, Jan. 1938 sowie die Stempel zwölf weiterer Buchhandlungen (Spitz, Eshkol, u. a. m.).61 Das Dokument belegt darüber hinaus, dass auch Zadek längst dazu übergegangen war, neben den Büchern der Exilverlage solche aus reichsdeutschen Verlagen auszuliefern; bereits im Mai 1936 hatte Biblion den Alleinvertrieb des Wilhelm Goldmann Verlags Leipzig übertragen bekommen. Und eine Nachfrage des Buchhändlers Eli Rothschild von der Fa. Heatid in Jerusalem vom 18. Juli 1938, ob die dringend benötigten militärwissen-
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Interview des Verf. mit Walter Zadek, geführt am 20. und 23. Oktober 1992 in Holon, Israel. Ein Transkript des Interviews befindet sich im Oral History-Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Interview des Verf. mit Walter Zadek. Deutsches Exilarchiv, NL Walter Zadek.
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schaftlichen Bücher, die sein Chef Ulrich Salingré vor einem Monat aus der Schweiz bestellt habe, angekommen seien, lässt erkennen, dass Zadek jede Möglichkeit zur Umsatzvermehrung wahrnehmen musste, wenn er sich auf diesem schwierigen Terrain halten wollte. Da durch Devisenknappheit und in den Kriegsjahren die Einfuhr von Büchern aus Europa zum Erliegen kam, war eine Weiterführung von Biblion aussichtslos geworden. Zadek errichtete daher 1940 die Antiquariatsbuchhandlung Logos Bookshop in Tel Aviv, die er bis 1973 führte. Vertriebsaufgaben übernahm in Palästina auch der Verleger Rubin Mass* (1894 Wischtinetz / Litauen – 1979 Jerusalem), der in Deutschland 1926 die Jalkut GmbH Verlag und Buchhandlung erworben hatte. Nach der NS-Machtübernahme 1933 flüchtete er nach Palästina und gründete noch im gleichen Jahr in Tel Aviv den Verlag Rubin Mass Publishing House; Mitte 1934 übernahm er zusätzlich auf der Basis eines Kommissionsvertrags den Vertrieb sämtlicher Verlagswerke des Berliner Schocken Verlags, der in NS-Deutschland unter den Bedingungen des »jüdischen Ghettobuchhandels« produzierte.62 Volker Dahm berichtet in seiner Darstellung Das jüdische Buch im Dritten Reich Genaueres über die Entstehung und Handhabung dieser Geschäftsverbindung, die nicht unproblematisch verlief.63 Der erwähnte Vertrag, der erst zustande kam, nachdem man Mass die Alleinvertretungsrechte zuerkannte, sah die Führung eines Kommissionslagers franko Jerusalem bei vierteljährlicher Abrechnung vor. Die ursprünglich vereinbarten Rabatte von 40 bis 50 % vom Ladenpreis bei einem fiktiven Umrechnungskurs von 20 RM für ein Palästinapfund statt des amtlichen 12 :1-Verhältnisses waren für den Verlag so nachteilig, dass er nach einem Jahr höhere Verkaufspreise und niedrigere Rabattsätze festsetzte. Zwar trat wenig später die Buchexportförderung des Reichswirtschaftsministeriums in Kraft, mit der auch der Schocken Verlag die Preise seiner Bücher im Ausland um 25 % hätte senken können. Durch Intervention der jüdischen Transferagentur Paltreu-Haavara, die ihre eigenen Exporte und Geldtransfers schützen wollte, wurde aber die Exportprämie für Palästina-Ausfuhren nach zwei Wochen wieder aufgehoben – zur Empörung der Buchhändler im britischen Mandatsgebiet, die nun von Haavara in Tel Aviv eine Ausgleichszahlung forderten. Tatsächlich »bonifizierte« die Agentur den Buchimport aus Deutschland im Umfang von 25 % durch eine Gutschrift, die entweder für eine Preisermäßigung genutzt oder als zusätzlicher Gewinn verbucht werden konnte. Der Schocken Verlag nutzte diese Bonifikationen zum Aufbau eines verdeckten Devisenguthabens, indem Rubin Mass die Vergütungen an das Sekretariat des Schocken Verlags in Jerusalem abführte; Salman Schocken selbst suchte den Rückfluss von Geld nach Deutschland möglichst gering halten. Zugleich errichtete er im Zuge des Ankaufs der Tageszeitung Haaretz die Chajim Publishing, eine Gesellschaft, die er zum Großkommissionär in eigener Sache ausbauen wollte. Rubin Mass rückte daher in die Position eines Subkommissionärs ein. 1933 entstand in Tel Aviv die Verlagsvertretung und Importbuchhandlung Literaria. Einer ihrer Miteigentümer war Herbert Olschowsky*, der vor seiner Auswanderung nach Palästina als Reisender für Wieland Herzfeldes Malik-Verlag tätig gewesen war.64 62 63 64
Näheres dazu mit weiteren Quellenhinweisen im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Das folgende nach Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich, S. 417‒419. Briefliche Auskunft von Abraham Frank an den Verf. vom 10. Oktober 2010; SStAl, BV, F 12321 (Brief Kedem / Lipa Bronstein v. 11. Oktober 1938); Adressbuch des deutschen
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Die Literaria ging allerdings nach zwei Jahren in Konkurs; Olschowsky wurde danach Leiter der Buchabteilung in Paul Arnsbergs Pales Press Company, später war er in der Buchhandlung von Leo Blumstein* in Tel Aviv angestellt. Ein anderer Mitinhaber der Literaria war der immigrierte Breslauer Buchhändler Max Baender* (später auch Bender, 1905 Rozan – 2006 Tel Aviv);65 nach der Schließung des Buchhandelsgrossos Literaria beteiligte er sich einige Zeit an der Firma E. J. Herzfelder.66 E. J. Herzfelder* errichtete nach seiner Ankunft in Palästina in Tel Aviv am 1. Februar 1936 eine Import- / Exportbuchhandlung und Verlagsvertretung unter seinem eigenen Namen. In dem Unternehmen waren zahlreiche weitere Einwanderer aus Deutschland tätig, nach Max Baender auch Erich Hecht und Rolf Schuster, später auch Abraham Frank*. Das Unternehmen führte BüAbb. 6: Die »Literaria« vertrat um cher aus aller Welt ein und war besonders auf 1935 u. a. Carrefour und Malik in Kunst- und Geisteswissenschaften sowie wissenPalästina, wurde aber kurze Zeit schaftliche Reproduktionen spezialisiert.67 Die später insolvent (Anzeige im Almanach das freie deutsche Buch, Prag 1935). Fa. E. J. Herzfelder betätigte sich zusätzlich als Pressegrosso und als Verlagsvertretung, ab Anfang der 1950er Jahre dann auch verlegerisch. So erschienen 1951 von L(udwig) F(ritz) Toby Hebrew artistic lettering in hebräischer und englischer Sprache und im darauffolgenden Jahr Odd corners of Jerusalem, eine Publikation mit Zeichnungen von Gabriella Rosenthal mit Texten ihres (Ex-)Ehemanns Schalom Ben-Chorin. Der bereits erwähnte Erich Hecht* war in München Inhaber der
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Buchhandels 1955, S. 774; Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration I (1971), S. 2908. Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration I (1971), S. 2908. Baenders Wirken im israelischen Buchhandel war nach seinem Ausscheiden bei Herzfelder noch lange nicht beendet: Nachdem er seinen Namen in Ephraim Ben-Dor hebräisiert hatte, war er 1952, ebenfalls in Tel Aviv, an der Gründung des Verlags Ben-Dor Israel Publishing Co. führend beteiligt und leitete ihn mindestens bis gegen Ende der 1960er Jahre. 1961 erschien bei Ben-Dor, herausgegeben von Max Baender, The Children of Israel / Die Kinder Israels mit einem Vorwort von Eleanor Roosevelt; die Bildauswahl besorgte Eva Baender. Baender selbst war bis 2004 als Vorsitzender der Yachdav United Publishers Co. Ltd. in der Carlebach St. in Tel Aviv tätig. Darüber hinaus war er Vorsitzender der Rozan Association, die das Gedenken an diesen polnischen Ort und seine jüdische Bevölkerung wachhalten wollte; ein Rozhan Memorial Book ist 1977 unter maßgeblicher Mitarbeit Baenders erschienen (siehe: We remember Jewish Rozhan! http://www.zchor.org/ rozan/ rozan.htm). Brief von Felix Daniel Pinczower an den Verf. vom 12. Dezember 1991; Adressbuch für den deutschsprachigen Buchhandel 1955, S. 773.
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1897 gegründeten Firma Verlagsbuchhandlung und Antiquariat Erich Hecht, außerdem Geschäftsführer des 1919 errichteten Musen-Verlags an derselben Adresse.68 Beide Unternehmen wurden 1933 im Adressbuch des Deutschen Buchhandels gestrichen. Hecht wanderte nach Palästina aus und wurde in Tel Aviv Mitarbeiter, später Nachfolger von Max Baender / Bender in der Buchimportfirma E. J. Herzfelder. Sein Kollege bei Herzfelder Rolf Schuster* war erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus Argentinien nach Palästina gekommen.69 1969 gründete Schuster zusammen mit Erich Hecht in Tel Aviv ein bis ca. 1980 bestehendes gemeinsames Unternehmen Cosmopolite Ltd., das sich auf den Import von Kunstbüchern und Kunstdrucken besonders aus dem deutschsprachigen Raum spezialisierte. Schuster war gelegentlich auch verlegerisch tätig; noch 1987 erschien L. F. Tobys Art of Hebrew Lettering unter seinem Namen. Eine bedeutende Persönlichkeit im palästinensisch-israelischen Buchhandel war Saul Klier* (geb. 1898 Czernowitz – 1955 Tel Aviv). Er hatte nach einem Universitätsstudium in Wien seit 1918 im rumänisch gewordenen Czernowitz / Cernăuţi ein Presseunternehmen betrieben,70 bis er 1935 nach Palästina auswanderte und dort 1938 in Tel Aviv in der Allenby Street den A. B. C. Library & Book Store errichtete, der sich auf die Einfuhr deutschsprachiger Bücher v. a. aus der Schweiz spezialisierte. Angeschlossen war auch eine gut ausgestattete Leihbibliothek. Der promovierte Saul Klier stand in engem Kontakt mit deutschsprachigen Autoren in Palästina / Israel wie Arnold Zweig, Max Brod und Schalom Asch, darüber hinaus war er jahrelang Vorsitzender der Foreign Book Trade Association. Nach Kliers Tod übernahm zunächst seine Ehefrau Honora und dann der bisherige Mitarbeiter Zeev Flatow* (er hatte als Lehrling im A.B.C.Bookstore begonnen) die Leitung der Firma, die später in das Großunternehmen Steimatzky eingegliedert wurde.71 Die erwähnte Foreign Book Trade Association war eine um 1950 entstandene, kurzlebige Organisation der israelischen Importbuchhändler, die von dem zuvor als Leihbuchhändler (Leihbücherei Mendele in Tel Aviv)72 tätigen, aus Königsberg stammenden Rechtsanwalt Erwin Lichtenstein* juristisch betreut wurde. Als Angestellte im A. B. C. Library & Book Store tätig war bis 1943 auch die 1936 aus Königsberg nach Palästina eingewanderte Lonnie Kahn*. In diesem Jahr erhielt sie eine eigene Gewerbeberechtigung und errichtete in der Yehuda Halevi St. in Jerusalem die Buchimportfirma Lonnie Kahn. 1948 verlegte sie den Sitz der Firma nach Tel Aviv und spezialisierte sich dort sehr erfolgreich auf die Einfuhr englischsprachiger Literatur (Schwerpunkt Lehrbücher). Rasch entwickelte sich Lonnie Kahn & Co. Ltd. zu einem führenden Unternehmen des israelischen Zwischenbuchhandels. Später kamen verlegerische Aktivitäten hinzu, vor allem im Bereich der Kunst- und Designliteratur; die Firma wurde von Kahns Sohn Itamar Karlinski und ihrer Schwiegertochter Aviva weitergeführt.
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Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration I (1971), S. 2908. Uri Benjamin, S. 2908. Klier war einer der Geschäftsführer der Eminescu G. m. b. H., Reise- und Versandbuchhandlung in Czernowitz (SStAL, BV, F 02378, 1937‒1942). Die Akte enthält u. a. ein denunziatorisches Schreiben der Auslandsabteilung des Börsenvereins sowie eine Stellungnahme der Firma Eminescu. Brief von Felix Pinczower an den Verf vom 12. Dezember 1991; briefliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993. Näheres im Kap. 6.5 Leihbuchhandel, mit weiteren Literaturhinweisen.
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Im Zwischenbuchhandel engagiert war auch die 1943 von Arnold Czempin* (1887 Berlin − 1974 New York) ins Leben gerufene Lepac (Levant Publishing Company), die mit Unterstützung der Kommunistischen Partei Palästinas der Aufgabe nachkam, die kulturellen Beziehungen zur Sowjetunion zu pflegen.73 Bei der Lepac erschienen deutsch- und hebräischsprachige Zeitschriften; ihr Hauptgeschäft bestand jedoch im Import von Büchern und Zeitschriften aus dem Ausland, insbesondere aus der Sowjetunion, die an Mitglieder des von ihr organisierten Buchklubs (»Kreis der Bücherfreunde«) zu Sonderpreisen verkauft wurden. Auf medizinische und naturwissenschaftliche Fachliteratur spezialisiert war die Import- und Großbuchhandlung, die 1938 von dem aus Brandenburg an der Havel stammenden Hans Heiliger gegründet wurde. Neben der Zentrale in Jerusalem Medical Books & Periodicals errichtete er Zweigstellen in Haifa und Tel Aviv. Die HeiligerFiliale in Tel Aviv wurde 1947 von Shalom Miron* (fr. Siegfried Butterkle 1904 Wien – 2008 Tel Aviv) errichtet, wobei er in den Anfängen die Buchhandelsgeschäfte vom eigenen Wohnzimmer aus führen musste – nicht ohne Schwierigkeiten, denn seine Ehefrau arbeitete als Miedermacherin und empfing ihre Kundinnen im selben Raum.74 Erst 1951 eröffnete Miron ein Ladengeschäft, das er bis zu seiner Pensionierung 1969 mit gutem Erfolg leitete. Das Unternehmen Heiliger & Co. wurde später von neuen Inhabern fortgeführt. Eine im Aufbauland Palästina durchaus gewichtige Nische besetzte Shlomo Suchodoller* als Inhaber der Tevel Publishing Co. Ltd., Tel Aviv, die von 1936 bis 1939 das Journal of the Association of Engineers & Architects in Palestine (in hebräischer Sprache) herausbrachte. Die Firma fungierte in der Hauptsache jedoch als Alleinauslieferer für englische und deutsche Verlage, unter ihnen S. Fischer und Rowohlt.75 Wie sich in Palästina die Bezugsbedingungen v. a. für ausländische Bücher aus der Sicht des Sortimentsbuchhandels darstellten, davon hat 1938 der damals als Buchhandelslehrling im Liberty Bookstore tätige Ernst Loewy* in einem Brief an seine Eltern einen detaillierten Bericht gegeben: So sehr viele Bücher beziehen wir übrigens gar nicht aus Deutschland. Am meisten beziehen wir von holländischen, Schweizer oder tschechischen Verlagen, die alle hier am Platze ein eigenes Kommissionslager haben, so daß wir mit den Firmen selber gar nicht arbeiten. Aus Deutschland beziehen wir nur einige wissenschaftliche und technische Sachen. Die größeren Verlage wie Ullstein,76 Zsolnay etc. sind ebenfalls hier vertreten. Die englischen Sachen dagegen beziehen wir fast durchweg aus England. Die Sachen, die wir aus Deutschland beziehen, beziehen wir ebenfalls nicht von den Verlagen selbst, sondern über Köhler & Volckmar, das große Versand-
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Zur Lepac und zu Czempin siehe das Kap. 6.4 Buchgemeinschaften, mit Quellen- und Literaturhinweisen. Interview des Verf. mit Shalom Miron am 22. Oktober 1992 in Tel Aviv. Näheres zur buchhändlerischen Tätigkeit Shalom Mirons in Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel im Abschnitt zu den spezialisierten Buchhandlungen in Tel Aviv. Mdl. Auskunft von E. Lichtenstein an den Verf. am 22. Oktober 1992 in Kfar Shmajarhu / Isr.; Adressbuch 1955, S. 774; Israel Book Trade Directory 1977. Damals bereits »arisiert« und in »Deutschen Verlag« umbenannt.
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lager. Nur mit Springer und Hoffmann arbeiten wir selbst, weil wir von dort recht viel benötigen.77 Der Bericht ist aufschlussreich, weil daraus hervorgeht, dass in Palästina bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs der Bücherverkehr mit Deutschland – sei es über die gut ausgebauten Strukturen des Zwischenbuchhandels, über den Direktbezug bei deutschen Verlagen, aber auch über den Kommissionsbuchhandel von Köhler & Volckmar – eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat.
Buchimport und Zwischenbuchhandel nach der Gründung des Staates Israel In den Kriegsjahren waren dann die Möglichkeiten des Buchimports nach Palästina stark eingeschränkt und zeitweise auch nicht vorhanden. Umso größer erschienen die Chancen, nach Ende des 2. Weltkriegs und nach der 1949 erfolgten Gründung des Staates Israel ausländische Bücher ins Land zu bringen. Ein Beispiel für die zahlreichen, auf bestimmte Warengruppen spezialisierten Neugründungen lieferte der aus Wien stammende Buchhändler Erwin Rotter* (gest. nach 1980).78 Er war nach seiner Ankunft in Palästina zunächst Mitarbeiter des Buch- und Pressegrosso Pales; 1952 gründete er eine eigene Buchimportfirma NER, die auf die Einfuhr von technischer und naturwissenschaftlicher Literatur, aber auch von Kunstbüchern und Reproduktionen sowie Globen spezialisiert war. Ähnlich verlief die berufliche Laufbahn Itzhak Bronfmans (geb. 1902 in Kishinev).79 Er hatte an Hochschulen in Bonn und Berlin studiert und war 1933 nach Palästina gelangt, wo er eine Anstellung in Paul Arnsbergs Zeitschriften- und Buchimportfirma Pales fand. Selbständig machte er sich als Grossist im Jahre 1956 mit der Firma Bronfman’s Book Distribution Agency, z. T. mit ehemaligen Mitarbeitern von Pales. Das Unternehmen war spezialisiert auf den Import und Großvertrieb von ausländischen Journalen sowie von amerikanischen und englischen Taschenbüchern; auch nahm es die Vertretung der Verlage Ullstein und dtv in Israel wahr. Nach Bronfmans Tod entstanden mehrere Nachfolgebetriebe im Zeitungswesen; die Buchhandelsfirma Bronfman Nachf. wurde schließlich Anfang 1980 von dem Großunternehmen Steimatzky übernommen. Spät erst nahm Shlomo Erel* (geb. 1916 Neustadt / Posen) eine Funktion im israelischen Zwischenbuchhandel wahr. Er war nach seiner Auswanderung nach Palästina zunächst im diplomatischen Dienst tätig gewesen und hatte sich als Beauftragter der Jewish Agency 1948 bis 1951 in den USA und in Kanada und 1955 bis 1957 in Argentinien und Uruguay aufgehalten. Nach seiner Rückkehr übernahm er die Stelle eines Managing Directors beim Am Oved Taschenbuchverlag. In den 1970er Jahren wurde Erel schließlich Direktor des »Israel Book & Printing Center«, eines privaten Zusammenschlusses israelischer Verleger, zuständig für die Auslandskontakte des israelischen
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Loewy: Jugend in Palästina, S. 161 f. Mündliche Auskunft W. Zadek an den Verf. am 19. Oktober 1991 in Holon / Isr.; Benjamin, Uri (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration I (1971), S. 2908. Schriftliche Auskunft von Ilse Blumenfeld an den Verf. vom 12. November 1993; Brief Felix Daniel Pinczower an den Verf. vom 12. Dezember 1991; Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration I (1971), S. 2908.
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Import- und Exportbuchmarktes.80 Diese Position übte er bis 1981 aus; in dieser Eigenschaft gehörte er auch viele Jahre dem Direktorium der Internationalen Buchmesse in Jerusalem an und knüpfte zahlreiche Verbindungen zu deutschen Verlagen.81 Einen besonderen Fall stellt das Unternehmen dar, mit dessen Aufbau Ezekiel Steimatzky* (1900 Moskau – 1983 Tel Aviv) bereits Mitte der 1920er Jahre begonnen hat. Steimatzky war nach der bolschewistischen Revolution nach Deutschland geflüchtet, hatte Jura in Berlin studiert und war daneben für den Ullstein Verlag tätig gewesen. Dieser Kontakt zur Welt des Buches sollte sich als bestimmend erweisen: Zunächst war er 1923/1924 am Gescher Verlag beteiligt, der sich der literarischen Vermittlung zwischen mittel- und osteuropäischer Kultur widmen wollte, aber in seiner kurzen Bestandszeit keine nennenswerte Produktion entfaltet hat. Mitte der 1920er Jahre kam Steimatzky anlässlich der Eröffnung der Hebräischen Universität nach Jerusalem und beschloss, nach Palästina, damals schon englisches Mandatsgebiet, auszuwandern, wo sein Halbbruder Tzvi Steimatzky bereits seit 1920 in Tel Aviv einen Buchladen betrieb. 1925 eröffnete Ezekiel Steimatzky in Jerusalem an der Kreuzung Jaffa Road / Zion Square seine erste (bis heute existierende) Buchhandlung, der noch im gleichen Jahr ein Geschäft in Haifa und ab 1927 Filialen in Tel Aviv und mehreren größeren Städten des Nahen Ostens folgten. Nach der Gründung des Staates Israel verlor Steimatzky die Niederlassungen in den arabischen Ländern, z. B. in Kairo, Bagdad oder Beirut, Steimatzky Agency Ltd. wurde jedoch zum größten Buchhandelsunternehmen Israels, als Sortimentsbuchhändler, aber auch als wichtigster Importeur ausländischer Bücher und Zeitschriften, als Vertreter und Auslieferung großer Verlage aus aller Welt. Das Unternehmen war zudem verlegerisch tätig mit Publikationen über Israel und das Heilige Land, politischer und religiöser Literatur, Reiseführern, Wörterbüchern und Taschenbüchern. 1963 trat Ezekiel Steimatzkys 1942 in Jerusalem geborener Sohn Eri M. Steimatzky in die Geschäftsleitung ein. 1990 übernahm Steimatzky Ltd. die zweitgrößte Buchhandelskette Israels Sifri Bookstores, sodass im Jahr 2010 rund 160 Buchhandlungen in unterschiedlichen Formaten und auch mit Non-book-Angeboten zur Firmengruppe gehörten. Das Unternehmen deckt bis heute ca. 40 % des gesamten hebräischen Buchmarktes ab und beschäftigt weltweit 700 Mitarbeiter. 2004 fusionierte Steimatzky mit dem Verlag Keter Publishing House und expandierte weiter international; so unterhielt »Steimatzky USA« in Los Angeles ein Ladengeschäft und operiert für die US-amerikanische Kundschaft im Internet-Versandbuchhandel. Das mit modernstem Management geführte, zeitweise in finanziellen Schwierigkeiten befindliche Unternehmen wurde mehrfach von Investorengruppen übernommen, 2005 von Markstone Capital Partners und 2014 von Yafit Greenbergs G Group. Steimatzky hat in Israel nur einen ernsthaften Konkurrenten, die 1981 gegründete Buchhandelskette Tzomet Sfarim.82
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Emet Jazir: »Nachhilfestunden für Anfänger«. Jede Hilfe für ausländische Verleger in Israel. Das »Israel Book & Printing Center«. In: Bbl. (Ffm) Nr. 69 vom 29. August 1978, S. 1762. Erel: Neue Wurzeln. 50 Jahre Immigration deutschsprachiger Juden in Israel; Jeckes erzählen. Aus dem Leben deutschsprachiger Einwanderer in Israel. ‒ Erel hat auch als Buchautor Anerkennung gefunden; sein Interesse galt hier u. a. der Rolle der zentraleuropäischen Juden und der Bedeutung der deutschsprachigen Immigration für Israel. Gerhard Kurtze: Steimatzky 80. In: Bbl. (Ffm) 3 v. 11. Januar 1980, S. 60 (gekürzte Fassung in: Europäische Ideen, H. 49, 1981, S. 26 f.); Bbl. (Ffm) 76/1983, S. 1956; K. Gutzmer: Art.
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Buchvertrieb im überseeischen Exil nach 1939 Auch für den Zwischenbuchhandel im Exil bedeuteten die Jahre 1938–1940 eine entscheidende Zäsur: Zunächst gingen durch die Annexion Österreichs und die Besetzung großer Teile der Tschechoslowakei wichtige Absatzgebiete verloren; seit 1939 führten die Gebietseroberungen der deutschen Wehrmacht dazu, dass in rascher Folge die Niederlande, Belgien, Frankreich, auch Dänemark und Norwegen als Asylländer und als Buchmärkte wegfielen. Dazu kam, dass die Verlagerung des Exils nach Übersee von den in die USA emigrierten deutschen Verlegern eine radikale Umstellung auf ein anderes System des Buchhandels und auf eine durchaus andere Buchkultur erforderte. Während der Umgang mit den Druckereien problemlos war, weil es dort (nicht selten deutschstämmige) Produktionsberater gab, die dem Verleger alle Herstellungsprobleme abnahmen,83 war der Vertrieb deutlich anders organisiert.
USA Selbst Gottfried Bermann Fischer musste sich in einem Lernprozess erst einmal mit den Besonderheiten des US-Buchmarktes vertraut machen, als sich 1940 sein Tätigkeitsfeld dorthin verlagerte. Wie er in seiner Autobiographie Bedroht – bewahrt beschreibt, betrafen diese Lernprozesse ganz besonders die Strukturen des Buchvertriebs: Die Leitung eines kleinen amerikanischen Verlages ist kein Ruhekissen. Die musterhafte Organisation eines über das ganze Land verbreiteten Sortimentsbuchhandels, wie wir sie in Deutschland gekannt hatten, existiert in den Vereinigten Staaten nicht. Es gab ein paar hundert reguläre Buchhandlungen, die zum Teil auch noch Papierwaren verkauften. Etwa sechzig Prozent des Gesamtverkaufs an Büchern war in den Händen von zwei oder drei Grossisten, die für die Verteilung an die kleinen Buchverkaufsstände, und vor allem an die über das ganze Land bis in die kleinsten Orte verbreiteten öffentlichen Büchereien, die Leihbibliotheken und die Universitätsbibliotheken sorgten. Von der Gunst ihrer Einkäufer hing unser Schicksal ab. Sehr viele Möglichkeiten, diese großmächtigen Herren für uns einzunehmen, hatten wir nicht.84 Diese Macht der Grossisten-Einkäufer gehörte zu den Charakteristika des US-amerikanischen Buchmarktes, die sich im Wesentlichen zwischen den beiden Kriegen herausgebildet hatten, mit Strukturproblemen, die bereits in einer 1930 von der National Association of Book Publishers bei dem Banker O. H. Cheney in Auftrag gegebenen Studie aufgezeigt wurden.85 Der Cheney-Report wies insbesondere auf die Schwäche des Distribu-
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Steimatzky Ltd. In: LGB2, Bd. 7, S. 227; Kühn-Ludewig: Jiddische Bücher aus Berlin, S. 185 f., 224. Vgl. Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 234. Bermann Fischer schildert kurz zuvor die herablassend-überlegene Art, in der er von drei Vertretern behandelt worden war, die für ihn das Land bereisen sollten (Bedroht ‒ bewahrt, S. 234). Vgl. zum Folgenden Hench: Books as Weapons, S. 311.
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tionssystems hin: in den gesamten USA gebe es nur 4.053 Buchverkaufsstellen, der größte Teil von ihnen von geringer Größe und mit nur sehr kleinem Sortiment. Dazu kam eine ungleiche Verteilung: die meisten von ihnen befanden sich an der Ost- und der Westküste sowie in einigen größeren Städten des Hinterlands oder in solchen mit Colleges und Universitäten. Zwei Drittel der Landbevölkerung und die Hälfte aller Bewohner von Städten zwischen 5.000 und 100.000 Einwohnern hätten keinen Zugang zu einer Buchhandlung. Darüber hinaus gab es in den USA damals kaum einen Festverkauf; fast alles musste mit Remissionsrecht geliefert werden. Und selbstverständlich kannte man keinen festen Ladenpreis; eine Preisbindung durch den Verleger war in dem von schrankenlosem Marktliberalismus beherrschten Wirtschaftssystem der Vereinigten Staaten schlicht nicht vorstellbar. Dass es, trotz des hohen deutschstämmigen Bevölkerungsanteils, für das deutschsprachige Buch schwierig war, auf diesem Markt Fuß zu fassen, war im Grunde bekannt: Die USA bildeten einen von deutschen Verlagen und dem deutschen Exportbuchhandel seit langem mit großen Erwartungen bearbeiteten und speziell nach dem Ersten Weltkrieg mit großen Enttäuschungen verbundenen Markt.86 Auch die dort ansässigen buchimportierenden Buchhandelsfirmen, viele und die größten davon wie Stechert oder Steiger deutsche Gründungen des 19. Jahrhunderts, waren im Prinzip daran interessiert, den Absatz deutschsprachiger Bücher zu steigern. Erst 1932 war es durch Gründung einer »Working Association of German Booksellers in New York« zu einem weiteren Versuch gekommen, »sich mit vereinten Kräften um größere Verbreitung des deutschen Buches in Amerika zu bemühen«.87 Der im Anschluss an einen »Deutsch-Amerikanischen Kongreß« gegründeten Vereinigung schlossen sich 14 Firmen an, darunter Brentano’s, A. Bruderhausen, German Books Imp. Co., G. Stechert & Co., E. Steiger & Co. und Westermann. Eine Buchausstellung wurde als erster Erfolg bewertet, und welche Möglichkeiten man für die geplante »gemeinsame Propaganda« sah, wurde vom Vorsitzenden Ernst Eisele (Westermann & Co.) in einem Kongressreferat Das deutsche Buch und seine Aufgabe in Amerika näher ausgeführt. Dass die Initiative als ein »Neuerwachen des Deutschtums im Lande« begrüßt worden ist, lässt aber schon erkennen, dass man seitens der in der Association zusammengeschlossenen Buchhändler überwiegend einem rechtsnationalistischen Begriff von Deutschtum huldigte und deshalb in allererster Linie mit dem regulären Buchhandel in Deutschland zusammenarbeiten wollte, auch als dieser wenig später vom NS-Regime auf Linie gebracht worden war.88
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Vgl. Fischer: Export- und Auslandsbuchhandel. In: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 2: Weimarer Republik, Teil 2, S. 620‒624. Egon Eisenhauer: Zusammenschluß der deutschen Buchhändler von New York. In: Bbl. (1932) Nr. 296, S. 905 f. Dazu auch Cazden: The Free German Book Trade, S. 354. Die alteingesessenen amerikanischen Buchimportformen mussten allerdings erleben, dass Bücher aus Nazi-Deutschland immer weniger gefragt waren und dass mit dem Weltkrieg dieser Handel völlig zum Erliegen kam. Zuvor schon war die Büchereinfuhr aus Hitlerdeutschland von der Regierung mit einem 25 %igen Strafzoll belegt worden; die renommierte Firma Westermann musste 1942 geschlossen werden. Dazu Cazden: The Free German Book Trade, S. 355.
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Sozialistischer und kommunistischer Buchvertrieb in New York Diese Entwicklungen brachten es mit sich, dass die seit 1933 und vermehrt nach 1939 entstehenden Exilverlage für den Vertrieb ihrer Produktion in den USA keine offenen Türen vorfanden. Im Gegenteil: Statt von den gewohnten Distributionskanälen des deutschen Buches in den Vereinigten Staaten Gebrauch machen zu können, mussten sie Alternativen finden. Einzig für die sozialistisch oder kommunistisch ausgerichteten Verlage gab es in New York einige Sortimentsbuchhandlungen, die eine Buchimportfunktion übernehmen konnten,89 so die bereits 1932 von Herman Kormis* gegründete Moderne Deutsche Buchhandlung,90 die eine nicht parteigebundene sozialistische Spezialbuchhandlung war, und von 1935 bis 1941 die ihr entgegengestellte orthodox-kommunistische Deutsche Zentral-Buchhandlung, die ganz dezidiert dem Vertrieb der von kommunistischen Verlagen in Europa produzierten Bücher dienen sollte und zu diesem Zweck spezielle Kataloge herausbrachte.91 Auch startete sie den Versuch eines Buchklubs für deutschsprachige antifaschistische Literatur.92 Ende 1939 kam dann aber schon das Ende aller kommunistischen Buchhandelsaktivitäten in den USA; erst ab 1942, als die USA gemeinsam mit der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland kämpften, gelang wieder die Einrichtung von Vertriebsstrukturen für Literatur aus dem kommunistischen Bereich, z. B. über die Zeitschrift German American, über die man u. a. die Bücher von El Libro Libre aus Mexiko beziehen konnte, oder über den 1944 von Wieland Herzfelde eröffneten Seven Seas Bookshop.93 Alle anderen, politisch ungebundenen, dabei meist weitaus bedeutenderen Exilverlage hatten vor 1938 keine solche zentrale Vertretung; deren Titel mussten im Normalfall von den US-Buchhändlern oder Buchkäufern direkt in Amsterdam, Zürich oder Paris bestellt werden. Erst Ende 1938 kam es zu zwei – unterschiedlich erfolgreichen – Versuchen, diesem Übelstand abzuhelfen, mit der Alliance Book Corporation und Friedrich Krauses »Zentrale freier deutscher Bücher«.
Henry Koppells Alliance Book Corporation (ABC) Die Alliance Book Corporation (ABC), von Henry Koppel* 1938 gegründet auf der Basis eines Kooperationsverhältnisses mit dem New Yorker Verlag Longmans Green & Co., war als ein spartenübergreifendes Unternehmen angelegt, zu dessen ersten und wichtigsten Aufgaben es gehörte, für die Produktion der Verlage Bermann-Fischer, Querido, Allert de Lange und teilweise auch Oprecht 94 in den USA als Alleinauslieferung
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Cazden, S. 357 u. 360 f.; Anti-Nazi Bookstores in N. Y. In: Publishers Weekly vom 3. Juni 1939, S. 2947. Siehe dazu das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. Ein 28 Seiten starkes Verzeichnis Deutsche Bücher in U. S. A. von 1936 ist nachweisbar. Cazden: The Free German Book Trade, S. 360 f.; Nawrocka: Verlagssitz, S. 144. – Näheres zur Deutschen Zentral-Buchhandlung und zu ihrem mutmaßlichen Geschäftsführer Karl Seidenberg in Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel im Abschnitt USA. Zu den Buchklubaktivitäten siehe Kap. 6.4 Buchgemeinschaften. Cazden: The Free German Book Trade, S. 360. Um ruinöse Konkurrenz auf dem so kleinen deutschsprachigen Markt zu vermeiden, arbeitete die ABC auch mit Oprechts New Yorker Repräsentanten zusammen, Friedrich Krause.
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zu fungieren.95 Dazu wurden ihm von der »Zentralauslieferung« der Verlage die Bücher mit 55 % Rabatt in Kommission überlassen, die Forum-Bücher zum Preis von 0,50 fl. in fester Rechnung, mit der Verpflichtung eines Mindestbezugs von 100 bis 250 Exemplaren je Titel. In dieser Zusammenarbeit scheint aber einiges schiefgelaufen zu sein: Koppell gab zwar im Oktober 1938 eine große Bestellung über 3.950 Forum-Bücher und 2.450 Bände aus der sonstigen Produktion der drei Verlage auf, durch Verzögerungen in der Produktion erhielt er aber nur einen Teil der Bestellung und diesen so spät, dass er das – aufwändig beworbene – Weihnachtsgeschäft 1938 verloren geben musste.96 Ihren Kunden gegenüber präsentierte sich die ABC damals als zentrale Verlagsauslieferung für die »freie deutsche Literatur«, wie aus dem Alliance-Katalog 1938/1939 hervorgeht, der 266 Titel zum Vertrieb anbot und der Hoffnung Ausdruck verlieh, damit eine empfindliche Lücke zu füllen: »For the first time the millions in America who speak and read German have the opportunity to procure all books of Free German literature from a central source in the U. S. A. Our catalog includes the works of the most famous German poets and younger, still unknown talents in exile«.97 1939 war das Unternehmen in das Publishers’ Trade List Annual eingetragen mit der umfassenden Zielgruppenbeschreibung »Books in German for schools, colleges, libraries, exiles, refugees, students and teachers«.98 Obwohl die ABC eine Unzahl von Reisenden beschäftigte und auch noch weitere Kataloge herausbrachte, dürfte das Angebot nur in geringem Maße in Anspruch genommen worden sein. Im Grunde kam die zwischenbuchhändlerische Tätigkeit der Alliance Book Corporation bereits mit Kriegsbeginn zum Erliegen, und da auch die deutschsprachigen Imprintausgaben und der geplante Buchklub nicht gefragt waren,99 beschränkte sie sich darauf, als Verlag Werke deutscher Exilschriftsteller in amerikanischsprachigen Übersetzungen zu publizieren.
Friedrich Krauses »Zentrale freier deutscher Bücher« Den alles in allem wichtigsten Stützpunkt für die Bücherdistribution von Exilverlagen in den USA baute Friedrich Krause* (1897 Leipzig – 1964 Lausanne) auf.100 Krause war bis 1932 als Lokalredakteur der Neuen Leipziger Zeitung tätig gewesen; 1933 flüchtete er nach Österreich, 1937 in die Schweiz, wo er als Korrektor und Lektor in den Verlagen Emil Oprechts arbeitete und auch eine Teilhaberschaft am Europa Verlag erwarb. Als
Ein Anfang 1939 geschlossenes Abkommen zur Mitarbeit Krauses in ABC brachte aber keine befriedigenden Ergebnisse, und Krause machte sich mit einer eigenen Vertriebszentrale selbständig; siehe den nachfolgenden Abschnitt. 95 Siehe dazu die Basisinformationen im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage, sowie Nawrocka: Verlagssitz, S. 115‒120, und Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 83 f. 96 Nach den Angaben bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 117. 97 Zit. n. Cazden: The Free German Book Trade, S. 361 f. 98 Cazden, S. 362. 99 Näheres dazu im Kap. 6.4 Buchgemeinschaften. 100 Siehe Cazden: The Free German Book Trade, S. 352, 355 f., 363; Cazden: German Exile Literature, S. 82 f., 147, 176; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1412.
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Oprecht im November 1938 eine New Yorker Filiale errichtete, übernahm Krause deren Leitung, war aber nicht nur Repräsentant der beiden großen Zürcher Verlage, sondern fungierte mit der am 16. Dezember 1938 errichteten »Zentrale freier deutscher Bücher« auch selbständig als Auslieferung und Agent für andere Exilverlage. Publishersʼ Weekly meldete unter der Überschrift »Europa Verlag Has N. Y. Branch«: Europa Verlag, Zurich publisher since 1933 of books on the problems raised by Nazism and Fascism, has established a branch in New York City, to be known as Friedrich Krause, Publisher, of 231 West 96th Street. Several other German emigré publishers are joining with Europa Verlag to make the latter’s American branch their distributor in the United States. The cooperating publishers include Oprecht Verlag, Humanitus [gemeint: Humanitas] and Jean Christophe all of Zurich, Vita Nova, of Luzern, and Kittls Nachfolger Maehrisch-Ostrau. Mr. Krause is an expert on German literature published outside the Third Reich. His office has some 500 to 600 titles in stock, and a catalog is available covering about 250 leading titles. He will supply any German book published outside of Germany. Translation rights, film rights and other subsidiary right to the books of cooperating publishers are held by Friedrich Krause, Publisher.101 Mit seiner »Zentrale freier deutscher Bücher« (auch »Zentrale freier deutscher Literatur« oder »Free German Literature Center«) wurde Krause in den folgenden Jahren zu einem der »leading importers and publishers of Free German books in the United States«.102 Allein die Benennung seines Unternehmens drückte bereits aus, dass er ganz gezielt für die Exilliteratur tätig werden wollte, und in der Tat nahm Krause in einer Anzeige in The German Quarterly vom März 1941 für sich in Anspruch, »jetzt das groesste Lager der Welt an freier deutscher Literatur« zu haben. Im Dezember 1941 erschien ein Artikel Krauses in der Zeitschrift Aufbau, in welchem er die Lage des »freien deutschen Buches in den USA« nicht so negativ beurteilte wie jene, die den vor drei Jahren begonnenen Aufbau seines »Free German Literature Center« als verfehltes Unternehmen betrachtet hatten. Es sei ja die Konkurrenz des reichsdeutschen Buches weggefallen: Die verschärfte britische Blockade und vor allem der deutsch-russische Krieg haben dafür gesorgt, dass kein unfreies Buch aus Nazi-Deutschland mehr U. S. A. erreicht. Schließlich verbot die Schweiz auf Druck der englischen Regierung die Ausfuhr reichsdeutscher Bücher auch nach Amerika. / Auf Grund von Feststellungen während meiner Reisen durch die Vereinigten Staaten, der Mitteilungen von Kollegen, der Absatzziffern meiner Firma und von Angaben grosser Bibliotheken darf man annehmen, dass jetzt jährlich 100.000 freie Bücher in Amerika abgesetzt werden. […] Natürlich sind die Absatzziffern angesichts der vielen Millionen Menschen, die in Amerika deutsch lesen können, gering. Aber ich bin überzeugt, dass es möglich ist,
101 Nach einer Abschrift aus: The Publishersʼ Weekly, Vol. CXXXV, Nr. 3, vom 21. Januar 1939, in der Börsenvereins-Firmenakte im Staatsarchiv Leipzig, F 12503. 102 Cazden: The Free German Book Trade, S. 201.
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l Bücher in deutscher Sprache in USA zu drucken und in solcher Anzahl abzusetzen, dass die Rentabilität gesichert ist. Allerdings: grosse Geschäfte sind mit der freien Literatur nicht zu machen. Ihr Druck und Vertrieb erfordern Idealismus.103
Seinen eigenen Idealismus bewies Krause nicht nur als Verlagsauslieferer, sondern einige Jahre später auch als Verleger, als der er aber bis 1946 nicht mehr als zehn Titel herausbrachte.104 Sein finanzielles Standbein blieb doch das »Free German Literature Center«, das nicht nur die örtliche Emigration und die Bibliotheken von amerikanischen Colleges und Universitäten mit deutschsprachigen Büchern belieferte und zu diesem Zweck im Laufe der Jahre insgesamt zwölf Verkaufskataloge herausbrachte, sondern nach 1942 auch in großem Stil deutsche Kriegsgefangene in US-amerikanischen Camps mit Büchern versorgte. Außerdem baute Krauses »Zentrale für freie deutsche Literatur« in den Weltkriegsjahren im Zwischenbuchhandel einen internationalen Aktionsradius auf. In einem Artikel im Aufbau vom Dezember 1943 hieß es von der »Zentrale«: Sie hat trotz oder vielleicht gerade wegen des Krieges Weltbedeutung erlangt. Jede Woche gehen Bücherpakete nach sämtlichen Staaten Mittel- und Südamerikas, nach Australien, Neuseeland und Hawai[!], nach England, Russland, Palästina und Südafrika, und selbst in der Negerrepublik Liberia in Westafrika ist Bedarf an freier deutscher Literatur.105 Nach 1945 verlagerte sich Krauses Tätigkeit zunehmend auf die eines Literaturagenten, vor allem aber engagierte er sich im Rahmen der Reeducation-Programme der Westalliierten für den Wiederaufbau der Demokratie in Deutschland; so beriet er das Office of Military Government for Germany (OMGUS) und schickte Fachbücher zur deutschen Geschichte und Publikationen des deutschen Exils in die amerikanische Besatzungszone.
103 Friedrich Krause: Das freie deutsche Buch in U. S. A. In: Aufbau, 7. Jg., Nr. 49 vom 5. Dezember 1941, S. 19. In seinem Artikel brachte Krause auch eine außerordentlich aufschlussreiche Liste der »von den Amerikanern am meisten verlangten« Schriftsteller: »An der Spitze steht Thomas Mann. Dann folgen Werfel, Hofmannsthal, Goethe, Stefan Zweig, Rilke, Karl Kraus, Schiller, Lessing, Kant, Nietzsche, Schnitzler, Schopenhauer, Hölderlin, Georg Kaiser, Rauschning, Otto Strasser, Fallada, Arnold Zweig, Joseph Roth, Feuchtwanger, Zuckmayer, Sigmund Freud, Heinrich Mann, Gerhart Hauptmann, Klabund, Wilhelm Busch, Flake, Stefan George, Emil Ludwig, Bruno Frank, Alfred Neumann, Adrienne Thomas, Annette Kolb, O. M. Graf, Heinrich Heine, Leonhard Frank, Robert Neumann, Oswald Spengler. Obwohl diese Liste nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, erkennt man mit Sicherheit, dass die gebildeten Amerikaner einen sehr guten Geschmack entwickeln und die in der freien deutschen Literatur verborgenen Schätze zu heben wissen. Weitaus die meisten Träger oben aufgezeichneter Namen sind Emigranten; nur wenige der viel verlangten Autoren leben noch in Deutschland.« (Vgl. dazu auch Cazden: The Free German Book Trade, S. 364). 104 Siehe dazu die Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage und 5.2.2 Politische Verlage. 105 10 Jahre Zentrale freier deutscher Literatur. In: Aufbau – Reconstruction, 9. Jg., Nr. 50 vom 10. Dezember 1943, S. 16. Die »10 Jahre« beziehen sich auf das Gründungsdatum des Europa Verlags; in New York bestand die »Zentrale« erst seit fünf Jahren, seit 16. Dezember 1938.
Abb. 7: In seinem Catalogue 35 von 1946/47 bot Friedrich Krause die Beschaffung von Büchern aus Deutschland und Österreich an, wo nun die Buchproduktion wieder angelaufen sei, wenn auch »on a rather small scale«.
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Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1952 war Krause Inhaber des sozialdemokratisch ausgerichteten Bollwerk Verlags Offenbach a. M. und des Brückenbauer Verlags in Köln, in dem u. a. die Zeitschrift Die andere Seite: Ein unabhängiges Diskussionsorgan für Gewerkschafter (1955 ff.) erschien.
Weitere Stützpunkte der Bücherdistribution in den USA vor und nach 1945 In New York entstand besonders in den Jahren nach 1939 eine Reihe von Exilbuchhandlungen, die selbst Bücher importierten und so das Angebot an »freier« Literatur erweiterten. Beispiele dafür sind die Firmen Arthur Adler und Helen Gottschalk, nach 1946 auch Peter Thomas Fisher. Schon länger existierte Schoenhof’s Foreign Books in Cambridge, Mass.; die Buchhandlung (»Die einzige Buchhandlung Amerikas spezialis[iert] in 37 Sprachen«)106 gewann unter der Leitung Paul Muellers* besondere Bedeutung für die literarische Emigration. Im Bereich der Hebraica und Judaica gab es von emigrierten orthodoxen oder ultraorthodoxen Juden gegründete Buchhandlungen wie Feldheim oder Ziegelheim, die eine Import / Export- bzw. eine Wholesale-Funktion wahrnahmen.107 Insofern waren in den USA oder jedenfalls in New York theoretisch alle Voraussetzungen für einen Zugang zu der Produktion von Exilverlagen gegeben – allein, seit 1939/1940 gab es kaum noch europäische Exilverlage: Oprecht konnte noch aus der Schweiz liefern, Bermann-Fischer aus Stockholm. Von diesem Engpass betroffen war auch Walter Goldstein*, der sich nach seiner Emigration in die USA seit 1942 oder 1943 als Importeur und Grossist betätigt hat. Erst einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs besserte sich für ihn die Situation: Goldstein übernahm die Auslieferung für den S. Fischer Verlag in den USA.108 Erich Drucker* (ursprgl. Harpuder, 1905 ‒ nach 1980),109 der sich als Sozialdemokrat im Widerstand betätigt hatte und wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu zweieinhalbjähriger Haft im KZ Oranienburg verurteilt worden war,110 suchte sich nach Ende des Kriegs mit Erich Drucker Books, einem deutsch-amerikanischen Buchvertrieb mit angeschlossener Buchhandlung, beruflich eine neue Existenz aufzubauen. Sein Nachlass spiegelt eindrucksvoll Druckers lebenslang starkes Interesse an Philosophie und Literatur;111 eigene literarische Arbeiten blieben größtenteils unveröffentlicht.112 Aus Österreich stammte
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Aufbau, Jg. 8, Nr. 43 vom 23. Oktober 1942, S. 8. Zu diesen Buchhandlungen siehe das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. Mitteilung von Gerhard Kurtze vom 20. September 1993 an den Verf. Schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze vom 20. September 1993. Nach seiner Entlassung aus dem KZ war Drucker zunächst in den Untergrund, 1938 nach Prag und dann weiter nach Frankreich gegangen, wo er 1941 auf Seiten der Alliierten als »Prestataire« kämpfte. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich schlug Drucker sich in den unbesetzten Süden durch, von wo aus es ihm gelang, sich in die USA zu retten. 111 Siehe etwa: Erich Drucker: Aus fernen Ländern Wir. 24 Sonette um Deutschland. Verlag für Socialistische Dichtung, New York 1945. 112 Erich Drucker Collection. 1921‒1980 Leo Baeck Institute Digital Collections AR 3176 (Online); [Erinnerungen 1933‒1941] Paris und Lissabon 1938‒1941. 255 S. Ms. Kurzbeschreibung in: Leo Baeck Institute New York. Bibliothek und Archiv. Katalog Bd. 1, hrsg. von Max Kreutzberger. Tübingen: Mohr Siebeck 1970, S. 399.
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Walter Grossmann* (1919 Wien – 1992 Conway / Mass.); er hatte in Wien eine Lehre im Bermann-Fischer Verlag absolviert und nach dessen Schließung noch für kurze Zeit eine Anstellung in der jüdischen Buchhandlung Löwit gefunden, bis deren Inhaber Max Mayer Präger von der Gestapo verhaftet wurde. Nach schwieriger Flucht gelang es ihm, in die USA zu emigrieren, wo er nach dem Krieg gemeinsam mit seiner Frau begann, Kontakte zu europäischen Verlegern aufzubauen. Das Ehepaar gründete eine Buchimportfirma, ERGA Foreign Books, und arbeiteten zunächst von seiner Wohnung in Cambridge (Massachusetts) aus. Den thematischen Schwerpunkt legten die Grossmanns auf ihre Interessensgebiete, klassische und mittelalterliche Studien, Theologie sowie deutsche und französische Literatur, und gaben ab Februar 1947 gedruckte Kataloge heraus, die die Bücher nach den genannten Themen und nach Sprachen (englisch, französisch, deutsch, italienisch, niederländisch, schwedisch und dänisch / norwegisch) geordnet auflisteten. 1951 beendeten sie diese Tätigkeit; beide Eheleute waren mittlerweile in Harvard promovierte Historiker.113 Am 17. Mai 1946 erschien in der New Yorker Emigrantenzeitschrift Aufbau die Meldung: Unter dem Namen Transbook Co., Inc., hat sich in New York eine neue Firma etabliert, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, einen Austausch von Geistesgut zwischen den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern zu bewerkstelligen. Naturgemäss liegt auch der Erwerb bzw. die Vermittlung von Uebersetzungsrechten im Arbeitsgebiet der Firma. Die Leiter sind Eric Kaufmann (früher Karl Block, Berlin und Buchhandels-Aktien-Gesellschaft Zürich, Schweiz) und Frederick Sussmann (fr. im Kiepenheuer Verlag und in der Auslandsabteilung des Querido-Verlags).114 Der genannte Eric(h) Kaufmann* war in der Tat von 1920 an als Prokurist, dann als Kompagnon und seit 1929 als alleiniger Inhaber in der Berliner Reise- und Versandbuchhandlung Karl Block tätig gewesen, bis er 1935 die Firma verkaufen musste; Friedrich Sussmann hatte als Verlagsvertreter für Querido gearbeitet.115 Offenbar hatten die beiden die Idee, insbesondere mit den Büchern des Querido-Verlags aus jenen Lägern, die nach der Besetzung der Niederlande von den Nazis nicht aufgespürt worden waren und nun nach dem Krieg wieder aufgetaucht waren, internationalen Handel zu betreiben. Denn in der gleichen Nummer des Aufbau (S. 10) erschien ein großes Inserat, in welchem die Transbook Company explizit »Bücher aus dem Querido-Verlag, Amsterdam« anbot; vier Titel als »soeben eingetroffen« und weitere 18 Titel als »demnächst lieferbar«. Die
113 Grossmann übernahm eine Stellung in der Harvard University Library, seine Frau in der Andover-Harvard Theological Library. Von 1969 bis 1984 war Grossmann Direktor der Bibliothek der University of Massachusetts in Boston und bis zu seiner Emeritierung 1987 dort auch als Professor tätig. Siehe dazu die autobiographische Schrift von Walter Grossmann: Abschied von Österreich. Ein Bericht. 1975 [Privatdruck]. Ferner: Brief von Walter Grossmann an den Verf. vom 24. Dezember 1991; Kataloge v. ERGA Foreign Books (Febr. u. Nov. 1947). 114 Aufbau 12. Jg., Nr. 20 vom 17. Mai 1946, S. 12. 115 Zum Verlagsvertreter Sussmann siehe in diesem Kapitel weiter unten.
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Transbook verkaufte nicht direkt an Einzelkunden, die Bücher waren »beziehbar nur durch Ihren Buchhändler«.116 In den 1950er Jahren trat ein Verlag Transbook in New York mit hochwertigen Kunstbüchern hervor, die z. T. mit anderen Verlagen, u. a. in Italien, koproduziert wurden. Als New Yorker Repräsentant der Büchergilde Gutenberg betätigte sich Hans Felix Kraus*, ein österreichischer jüdischer Künstler, der als Buchillustrator für die nach Zürich ins Exil gegangene Büchergilde gearbeitet hatte. In den USA stieg er in Tenafly, N.Y. in den Buchhandel ein und fungierte seit 1946 hauptsächlich als Agent der Büchergilde, vertrat aber auch andere Schweizer Verlage. Einige Titel der Büchergilde erschienen damals als Imprint von Hans Felix Kraus.117
»Findall, New York«: Mary S. Rosenberg Zu einer Legende wurde nach dem Krieg Mary S. Rosenberg* (1900 Fürth – 1992 New York). Sie hatte sich nach ihrer Ankunft in den USA Ende 1939 in verschiedenen Sparten betätigt, als Antiquarin,118 gelegentlich als Verlegerin, aber auch mit einem Importsortiment. Ein spezifisches Betätigungsfeld ergab sich zunächst aus dem Vertrieb von Büchern aus Exilverlagen: So fungierte Rosenberg an der amerikanischen Ostküste als Auslieferung für die Pazifische Presse, dem von Ernst Gottlieb und Felix Guggenheim an der Westküste gegründeten Verlag, der Werke bedeutender exilierter Schriftsteller wie Franz Werfel oder Lion Feuchtwanger als bibliophile Drucke herausgebracht hat.119 Auch für den von einer Schriftstellergruppe unter Führung Wieland Herzfeldes in New York ins Leben gerufenen Aurora Verlag hat Rosenberg Vertriebsarbeit geleistet. Nach Kriegsende verlagerte sich dann der Schwerpunkt auf den nun wieder möglich gewordenen Buchimport aus Europa, zunächst auf den Import französischer Bücher. Bereits 1947 kam Mary S. Rosenberg zum ersten Mal wieder nach Deutschland und knüpfte Kontakte zum deutschen Buchhandel, die sie kontinuierlich ausbaute;120 unter der bezeichnenden Telegrammadresse »Findall, New York«121 wurde Rosenberg zu einem wichtigen Stützpunkt des deutschen Buchexports in die USA. In zahlreichen Katalogen und Listen (bis 1980 waren es rund 320) bot Rosenberg die von ihr aus Deutschland importierten Bücher in Nordamerika und darüber hinaus an.122
116 Cazden: German Exile Literature, S. 177. 117 Cazden, S. 86, 176, 201. 118 Zu Mary S. Rosenberg siehe auch den entsprechenden Abschnitt im Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 119 Siehe dazu Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 120 Fischer: Rückkehr nach Deutschland. Die Rolle der Emigranten und Remigranten bei der Internationalisierung der Frankfurter Buchmesse. 121 Georg Ramseger: »Findall New York«. Mary S. Rosenberg. 40 Jahre Publishers, Booksellers, Importers. In: Bbl. (Ffm) Nr. 10 vom 1. Februar 1980, S. 223 f. 122 Zu Mary S. Rosenberg und zu ihren regelmäßigen Besuchen der Frankfurter Buchmesse siehe das Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive.
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Vertriebsnetze und -stützpunkte in Südamerika Walter Janka, Leiter des Verlags El Libro Libre in Mexiko City, bekannte im Rückblick: »Der Aufbau eines [internationalen] Vertriebsnetzes war neben allen anderen Schwierigkeiten eine der schwersten Aufgaben«.123 Der Verlag verkaufte zwar auch an einzelne private Besteller, entscheidend war aber doch, den Buchhandelsvertrieb in möglichst viele Ländern auszudehnen: »In ganz Lateinamerika, USA, Kanada, Südafrika, China, Palästina und England mußten Vertreter gewonnen werden«. Erschwerend wirkten sich natürlich die Kriegsverhältnisse aus: »Trotz des verheerenden U-Boot-Krieges erreichten etwa neunzig Prozent unserer Auslandssendungen die Besteller. Und fast alle bezahlten die erhaltenen Sendungen mit US-Dollar-Schecks«. Letzteres war, angesichts der notorischen Devisen- und Umrechnungsprobleme die für den Verlag vorteilhafteste Zahlungsform. Unter den Vertriebsstützpunkten finden sich auch zahlreiche Emigrantengründungen. So etwa konnten die Bücher des Verlags am Produktionsort Mexiko City entweder direkt im Verlag oder in der von dem österreichischen sozialistischen Politiker Rudolf Neuhaus errichteten Librería Internacional erworben werden. In den USA wurde der Vertrieb an Friedrich Krause in New York vergeben, der dafür sorgte, dass die El Libro Libre-Produktion in faktisch allen Buchhandlungen mit fremdsprachiger Literatur bestellt werden konnte. In Großbritannien war es der Londoner International Bookstore von Hans Preiss*, ab 1943 auch die Continental Publishers & Distributors Limited, eine Schwestergesellschaft des französischen Großdistributors Librairie Hachette. In Lateinamerika wurde versucht, möglichst alle Länder in das Vertriebsnetz mit einzubeziehen: in Argentinien, in Buenos Aires, geschah dies nicht nur durch die Librería Pigmalion von Lili Lebach, sondern später auch durch die große antifaschistische Buchhandlung von Alejandro Barna e Hijo, die eine Abteilung für fremdsprachige Literatur mit eigenen Katalogen unterhielt, und die Buchhandlung von Barbara Herzfeld, der Ehefrau John Heartfields.124 Stützpunkte des Vertriebs hatte der Verlag El Libro Libre im März 1943 auch in Bolivien, Brasilien, Chile, Kuba, Ecuador, Honduras, Peru, El Salvador, Uruguay und Venezuela, einige Monate später in Kolumbien, Guatemala, Haiti und Panama, ab 1944 in Costa Rica und der Dominikanischen Republik. Dabei übernahmen auch Einzelpersonen, Organisationen wie das Lateinamerikanische Komitee der Freien Deutschen mit seinen angeschlossenen Vereinigungen oder Zeitungen und Zeitschriften wie das Volksblatt in Argentinien die Aufgabe, Bestellungen anzunehmen. Ähnliche Lösungen wurden für andere Länder wie Kanada oder Südafrika bzw. den australischen Kontinent gefunden. In Palästina war der A. B. C. Book Store Saul Kliers in Tel Aviv Partner von El Libro Libre. Über die Umsätze in den einzelnen Ländern ist nichts Näheres bekannt; in jedem Fall aber handelte es sich hier um das verzweigteste Vertriebsnetz eines Exilverlags in der Phase des überseeischen Exils. Gerade in Südamerika, wo sich in den meisten Ländern moderne Buchhandelsstrukturen noch kaum ausgebildet hatten, gab es zahlreiche von Exilierten gegründete Buch-
123 Janka: Spuren eines Lebens, S. 195. 124 Die Ergänzungen nach Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 424 f. Vgl. auch Díaz Pérez: El Libro Libre, S. 162.
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Abb. 8: Der Prospekt des Verlags El Libro Libre (der sich in der Werbung für den englischsprachigen Raum »The Free Book« nannte) zeigt das maximale Verbreitungsgebiet für Exilliteratur in den Kriegsjahren 1942 bis 1945: neben Mittel- und Südamerika nur noch die USA, Palästina, Südafrika und – wenig realistisch – die UdSSR.
handlungen, die neben dem eigentlichen Sortimentshandel auch zwischenbuchhändlerische Funktionen wahrnahmen. Beispiele dafür geben Werner Guttentag* mit seiner 1945 in Cochabamba gegründeten und rasch expandierenden Librería Los Amigos del Libro; er war ebenso als Grossist tätig wie etwa Carlos G. Liebmann mit dem 1942 in Quito gegründeten allgemeinen und wissenschaftlichen Sortiment Libreria Carlos G. Liebmann, das innerhalb Ecuadors auch als Versandbuchhandlung und als Grossobuchhandlung fungierte und mit Ecuadoriana zudem im Buchexport engagiert war. Ein Importun-
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ternehmen Distribuidora Europea de Impresos schloss Leo Zuckermann 1956 in Mexico City seiner zwei Jahre zuvor gegründeten internationalen Buchhandlung Libreria Europea an; es war auf die Einfuhr ausländischer Zeitschriften, Taschenbücher und Briefmarken spezialisiert.125 In Argentinien fungierte die Editorial Libreria Cosmopolita in Buenos Aires, der auch eine Buchhandlung, Antiquariat und Leihbibliothek angeschlossen waren, als »Auslieferungsstelle freier deutscher Verleger«. Als argentinischer Stützpunkt der europäischen Exilverlage ist hier noch einmal die bereits erwähnte Buchhandlung Alejandro Barna e Hijo hervorzuheben, die schon seit Mitte der 1930er Jahre die Bücher von Querido, Allert de Lange, Carrefour, Météore sowie Malik und Julius Kittls Nachf. auslieferte und außerdem Zeitschriften des Exils wie die Arbeiter Illustrierte Zeitung (A.I.Z.) vertrieb.126 In Uruguay war es Heinrich Gütermann* (1888 Bamberg – 1963 Montevideo, Uruguay), der 1944 in der Hauptstadt Montevideo eine internationale Grossobuchhandlung ins Leben rief. Gütermann blickte auf eine lange Tätigkeit im deutschen Fach-, Belletristik- und Kunstverlag zurück, als er, nach Internierung in Frankreich, im März 1942 in Uruguay anlandete.127 Die von ihm gegründete Grossobuchhandlung führte etwa zur Hälfte deutschsprachige Literatur, hauptsächlich Belletristik. Sigfred Taubert fand 1961 auf seiner im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels unternommenen Südamerikareise, Gütermann sei ein »sehr versierter Fachmann, der im Buchhandel Montevideos eine wichtige Rolle spielt«; allerdings gab es auch Klagen: »offenbar betreibt er aber auch den Detailverkauf, was verschiedentlich zu Klagen des Importbuchhandels von Montevideo geführt hat«. Taubert bescheinigte dem Unternehmen, das auch die Vertretung ausländischer Verlage übernahm, eine überzeugende Zusammenstellung des Sortiments: »Das Lager bietet einen Hinweis auf den guten literarischen Geschmack des Inhabers der Firma«.128 Eine besondere Bedeutung hatte nach Ende des Zweiten Weltkriegs die nun wieder möglich gewordene Einfuhr deutscher Wissenschaftsliteratur nach Lateinamerika. Eine aufschlussreiche Stichprobe ergibt sich aus dem Blick auf die Vertriebsstützpunkte, deren sich der damals bedeutendste wissenschaftliche Verlag der Bundesrepublik, der Springer Verlag, bediente, bevor er nach 1970 den Versuch unternahm, eine eigene Vertretung in Südamerika aufzubauen. Heinz Götze berichtete dazu: »Vorher hatten wir uns auf direkte Kontakte mit Buchhandlungen wie Carlos Hirsch in Buenos Aires, Canuto / Wolff in São Paulo, Triangulo / Ernesto Reichmann in São Paulo, Ao Livro Tecnico / Reynaldo Bluhm in Rio und Kosmos Geyerhahn in Rio gestützt«.129 Es handelt sich hier ausnahmslos um Gründungen von Exilanten – ein schlagender Beleg dafür, dass die deutschen und österreichischen Buchhändleremigranten im Aufbau globaler Vertriebsnetze nach 1945 eine zentrale Rolle gespielt haben. Fast alle der genannten Buchhandlungen werden in diesem Band im Kapitel Sortimentsbuchhandel genauer vor-
125 Näheres zu diesen Firmen in Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 126 Siehe die entsprechenden Anzeigen der Firma in der Neuen Weltbühne im Dezember 1935. 127 Fliedner: Die Judenverfolgung in Mannheim, Bd. 2, 1971; Udo Leuschner: Neue Badische Landes-Zeitung (1856‒1934) [online]; http://www.udo-leuschner.de/zeitungsgeschichte/spd/ nblz.htm 128 Alle Zitate aus Taubert: Lateinamerika, S.138. 129 Sarkowski: Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte 1945‒1992, S. 206.
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gestellt; zu der von dem Rechtsanwalt und Bibliophilen Carlos Hirsch* 1940 in Buenos Aires gegründeten Grossobuchhandlung ist ergänzend zu bemerken, dass sie für deutsche Verlage, insbesondere Wissenschaftsverlage, zu den bedeutendsten Importbuchhandlungen in Südamerika zählte. Seit Ende der 1950er Jahre unterhielt das Unternehmen auch eine Filiale in London Carlos Hirsch Ltd. Hirsch, der über weitgespannte internationale Beziehungen verfügte, war auch im Verband des argentinischen Verlagswesens und Buchhandels Cámara Argentina del Libro an zentraler Stelle für Fragen des Buchimports verantwortlich tätig.130 In dieser Hinsicht ist noch die Rolle Walter Geyerhahns* von der als Vertriebspartner für deutsche Verlage ebenfalls sehr bedeutenden Livraria Kosmos in Rio de Janeiro hervorzuheben, denn neben zahlreichen weiteren Verbandsfunktionen war er auch Mitglied der International Association of Retail-Booksellers und leistete Abb. 9: Mit Ankurbelung des einen gewichtigen Beitrag zur Einbindung des brasibrasilianischen Buchexports volllianischen Buchhandels in internationale Strukturen. brachte Susanne Bach-Eisenberg Begrenzte Bedeutung erlangte dagegen die von eine Pionierleistung. Heinz Hochheimer* (1911 Steinheim, Westfalen – 1980 São Paulo) in São Paulo errichtete Grossobuchhandlung Importadora Flamingo Ltda., über die der Börsenverein 1937/1938 ein Belieferungsverbot verhängte. Die Firma hatte aber zweifellos auch mit der in São Paulo besonders spürbaren Konkurrenz durch andere Exilgründungen wie Canuto und Triangulo zu kämpfen.131 Bereits zu den Nachwirkungen des Exils gehört die Buchexportfirma, die in den 1950er Jahren von Susanne Bach(-Eisenberg)* (1909 München – 1997 München) in Brasilien betrieben worden ist und in der Antiquariatshandel und Buchexport auf vielfältige Weise miteinander verknüpft gewesen sind.132 Bach hatte seit 1948 vor Ort in der Importabteilung einer großen Buchhandlung gearbeitet, bis sie 1954 in Rio de Janeiro mit dem Susan Bach Comercio de Livros die erste brasilianische Buchexportfirma mit angeschlossenem Versandantiquariat gründete. Die Anfänge waren überaus bescheiden: Bach agierte zunächst von ihrem Wohnzimmer aus und versandte zu Beginn an Biblio-
130 Memoirs of Kurt Enoch, S. 102 [Enoch war mit Hirsch in Frankreich interniert]; Taubert: Lateinamerika, S. 126; Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 325; Sarkowski: Der Springer-Verlag, S. 206. 131 SStAL, BV, F 12.016; F 11.763 (denunziatorisches Schreiben von Frederico Will); Pg. Diário Oficia do Estado de São Paulo 23/02/1941 (online); Genealogie Familie Hochheimer aus Steinheim (online). 132 Zur Biographie Bachs und zu ihrer Tätigkeit als Antiquarin siehe den entsprechenden Abschnitt in Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel, mit Angaben zu Quellen und Forschungsliteratur zu Susanne Bach, insbesondere auch zu ihren autobiographischen Werken.
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theken, die ihr aus früheren Tätigkeiten heraus bekannt waren, eine Liste mit nicht mehr als 24 Titeln. Doch die Initiative hatte Erfolg: »Die paar angezeigten Bücher gingen alle weg und nun konnte ich weiter einkaufen und größere Listen versenden«.133 Bald musste ein Geschäftslokal gefunden werden, und von diesem Firmensitz und Lager in der Cosme Velho unter dem Corcovado lieferte Susanne Bach in den folgenden Jahrzehnten die Buchproduktion Brasiliens, später ganz Lateinamerikas, nach Europa und Nordamerika. Zu ihren Großkunden gehörten Bibliotheken in den USA, die British Library in London, die Bibliothèque Nationale in Paris und die Bayerische Staatsbibliothek in München.134 Neben ihren Antiquariatskatalogen zu lateinamerikanischer Völkerkunde, Literatur etc. gab sie regelmäßig Bulletins zu Neuerscheinungen südamerikanischer Literatur heraus. Ab 1978 firmierte Bachs Geschäftsbetrieb an neuer Adresse in Rio de Janeiros Stadtteil Botafogo; 1983 kehrte sie aus Altersgründen nach Deutschland zurück, ihr Unternehmen in Rio wurde von ihrem Geschäftspartner Patrick Lévy weitergeführt.135 In der Tätigkeit von Susanne Bach ist ein charakteristisches Beispiel dafür zu sehen, was Buchhändleremigranten mit der Einrichtung interkontinentaler Vertriebskanäle geleistet haben: Dass in vielen nordamerikanischen und europäischen Bibliotheken brasilianische Bücher stehen, ist in erheblichem Maße auf ihr Wirken zurückzuführen. Der Überblick zeigt, dass sich in den Jahren des Exils (und nachfolgend auch in der Zeit nach 1945) vielfältige Elemente einer länderüberspannenden Bücherdistributionsstruktur herausgebildet haben, eines nicht zentral geplanten, vielmehr wildwüchsigen und lückenhaften Netzwerks, das aber trotz seiner Defizite eine transnationale Verbreitung von Büchern sicherstellte. Voraussetzung für dessen Funktionieren war, dass alle Marktteilnehmer über Anzeigen, Prospekte und Rundschreiben nicht nur über Neuerscheinungen, sondern auch über die Auslieferungsstützpunkte informiert wurden; damit gewannen diese Werbemittel, die vielfach Angaben über Bezugsquellen enthielten, über die Titelinformation hinaus zusätzliche Bedeutung.
Verlags- und Buchhandelswerbung Die Voraussetzungen, unter denen Verlage im Exil agierten, waren nicht dazu angetan, größere Summen in Buchwerbung zu investieren; zu unübersichtlich waren die Marktund Publikumsverhältnisse, um in diesem Bereich gezielte Maßnahmen setzen zu können. Trotzdem suchten Verlage an bestimmten Gepflogenheiten festzuhalten, an der Herausgabe von Verlagskatalogen und Verlagsalmanachen oder an der Erstellung von Sonderprospekten. Die Verteilung von Werbematerial gestaltete sich jedoch schwierig; große Teile der Zielgruppen waren über viele Länder zerstreut. Gottfried Bermann Fischer befand sich in einer absolut privilegierten Situation, als er nach seiner Flucht aus Wien von einer »treuen Angestellten« die Adressenkartei der Privatinteressenten nachgeschickt bekam. So konnte er am 19. Dezember 1938 seinem Autor Thomas Mann die erfreuliche und beruhigende Mitteilung machen: »Ich konnte nach Aussiebung der reichsdeutschen
133 Bach: Karussell, S. 99. 134 Mitgeteilt in dem Gespräch, das der Verf. mit Susanne Bach am 2. Mai 1991 in München geführt hat. 135 Lévy war 1990 bis 1994, als Nachfolger von Walter Geyerhahn, Vorsitzender der brasilianischen Antiquarsvereinigung ABLA.
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Adressen 15.000 Prospekte versenden. Die Zuschriften, die auf den Empfang dieser Prospekte zurückzuführen sind, haben einen überraschend großen Umfang angenommen«.136 Gemeinsam mit Querido und Allert de Lange hat Bermann Fischer 1938/1939 auch eine Gemeinschaftswerbung in größerem Stil betrieben.137 Bei den Werbemedien reichte das Spektrum in technischer Hinsicht von sorgfältig gedruckten (Farb-)Prospekten bis zu hektographierten Zetteln.138 Es versteht sich, dass Verlage wie Oprecht / Europa in Zürich, Carrefour in Paris, die beiden Amsterdamer Verlage, Malik in Prag und Bermann-Fischer in Wien bzw. Stockholm hier weitaus mehr Aufwand treiben konnten, besonders was die Bewerbung von Einzeltiteln mittels Sonderprospekten in Form von Faltblättern o. ä. betrifft. Diese waren offenbar ebenso zur Auslage in Buchhandlungen wie zur Verteilung in Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen gedacht. Auch die periodische Ausgabe von Verlagsverzeichnissen war nur für Verlage sinnvoll, die einen nennenswerten und regelmäßigen Titelausstoß hatten; sie konnten dann wie im Falle der Oprecht-Verlage im Jahr 1939 beachtlichen Umfang erreichen. Die Editorial Libreria Cosmopolita brachte von 1943 an ein Verlagsverzeichnis in Gestalt von Nachrichten für Bücherfreunde heraus, mit einer Rubrik »Neues vom Büchermarkt«. Von der Möglichkeit, durch Anzeigen in Exilzeitungen und -zeitschriften auf ihre Neuerscheinungen und ihr Programm aufmerksam zu machen, haben Verlage immer wieder Gebrauch gemacht. Exemplarisch untersucht hat dies Michaela Enderle-Ristori; die Ergebnisse werden in diesem Band an anderem Ort, im Kapitel 5.3 zu den Zeitschriften des Exils, genauer vorgestellt. Im Dienst der Kundenbindung bzw. Absatzsteigerung standen nicht zuletzt die Verlagsalmanache, wie sie von der Exilabteilung Allert de Langes (Jahrbuch 1934/35) und vom Wiener Bermann-Fischer Verlag (Die Rappen 1937; Zehnjahrbuch 1948) herausgebracht wurden. Ihr Erscheinen unterstrich die Intention, den Geschäftsbetrieb möglichst auf gewohnte Weise fortzusetzen und von allen schon bisher üblichen Werbemitteln auch im Exil Gebrauch zu machen.139 Wie schon in anderen Zusammenhängen erwähnt, war es in der Situation der exilären Zerstreuung besonders wichtig, auf Neuerscheinungen in geeigneter Weise aufmerksam zu machen, weil es keine zentralen Informationsmittel gab. Ebenso wichtig war es, in der Verlagswerbung Hinweise auf Bezugsmöglichkeiten unterzubringen. Zusätzlich brachten Sortimentsbuchhandlungen des Exils Prospekte und Sortimentskataloge heraus; in einigen Fällen als Zusammenstellungen von Einzelprospekten zu Konvoluten. So etwa stellte die Pariser Buchhandlung C. Mayer & Cie. (»Importation et Exportation de Livres, Modernes Antiquariat«) für ihre Kunden ein Mäppchen mit Verlagsprospekten zusammen.140
136 Bermann Fischer: Bedroht ‒ bewahrt, S. 191. 137 Vgl. etwa die Prospektabbildungen bei Walter: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag 1933‒1950, S. 168 f. 138 Das Deutsche Exilarchiv Frankfurt am Main besitzt eine Sammlung von Verlagsprospekten, die diese Variationsbreite abbildet. Der Verf. hat in verschiedensten Kapiteln dieser Darstellung dankbar davon Gebrauch gemacht. 139 Vgl. hierzu auch Erber-Bader: Bibliographie der Verlagsalmanache im 20. Jahrhundert. 140 »Bücher, Broschüren, Zeitschriften«. [Mäppchen der Buchhandlung C. Mayer & Cie., Paris 6e, 148, rue des Rennes, mit diversen kleinen Verlagsprospekten.] Deutsches Exilarchiv, Frankfurt am Main.
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Verlagsvertreter Die Tätigkeit von Verlagsvertretern (auch von nicht-angestellten, auf Provisionsbasis entlohnten) lässt sich als Aufgabenfeld in der Vertriebsabteilung eines Verlages auffassen, sie kann aber auch als Element des Zwischenbuchhandels betrachtet werden. Den Sortimentsbuchhandel mit Reisenden zu betreuen, wie dies in Deutschland üblich gewesen war, kam im Exil verständlicherweise nur für die größeren Verlage in Frage; da sich die Hauptabsatzgebiete nun über eine Vielzahl von Ländern erstreckten, musste auch der Radius der Verlagsvertreter ein entsprechend großer sein. Sicherlich war eine Rentabilität dieser Reisen nur bedingt gegeben. Aber ein Fritz Landshoff oder Walter Landauer konnten sich offenbar nicht vorstellen, auf die Dienste der Verlagsvertreter zu verzichten, die zwei- oder dreimal im Jahr die bedeutenderen Buchhandlungen besuchten, sie für die Neuerscheinungen interessierten, Bestellungen aufnahmen und nach der Rückkehr im Verlag über die Situation »draußen« auf dem Markt berichteten. Nach Möglichkeit wurden daher die bisherigen Vertreter weiterbeschäftigt. Das traf z. B. zu auf den schon seit (mindestens) 1926 für Wieland Herzfeldes Malik-Verlag als selbständiger Verlagsvertreter in Deutschland tätigen Robert Goldschmidt; 1936, als sich der Verlag bereits in Prag befand, bereiste Goldschmidt auch das Ausland, u. a. die Schweiz, Frankreich und die Niederlande.141 Ebenfalls für den Malik-Verlag, aber auch für andere Verlage unterwegs war Rudolf Fleischmann; er reiste 1936 durch Österreich, die Schweiz und Italien, sodass also durch die Tätigkeit der beiden weite Teile Europas abgedeckt waren.142 Dass es damals nicht einfach war, befriedigende Aufträge zu schreiben, dokumentiert ein Brief Herzfeldes an seinen in Moskau lebenden Verlagsautor Willi Bredel vom 19. Oktober 1936, in welchem der Verleger sich gegen den Vorwurf wehrt, seinen Autoren keine Vorschüsse zahlen zu wollen: […] richtig ist, dass ich keinen Vorschuß zahlen will, weil ich es nicht kann. Übrigens zahlen, soviel ich weiß, die anderen Verlage auch nur in Einzelfällen Vorschüsse, in vielen Fällen lassen sie sich bezahlen, bzw. Absatz garantieren. (Das trifft auf E. Bloch zu, und auf andere). Das ist auch gar kein Wunder. Viele der deutschen Bücher der Emigrationsverlage erreichen ja nicht einmal eine Auflage von 1000 Expl. Als die »Prüfung« [Bredels] erschien, waren die Verhältnisse schlecht. Heute sind sie viel schlechter. Seit der Abwertung ruht das Geschäft fast ganz. Ich zitiere Dir aus einem Brief vom 17. 10. meines Reisenden Dr. Fleischmann. Er hat Österreich, die Schweiz und Italien bereist. Er schreibt: »Ich habe meine Geschäftstour leider ganz durchführen müssen, da ich schon im voraus meine Eisenbahnbilette[!] hatte. Kann Ihnen aber natürlich infolge der Abwertungskatastrophen nur das Allerschlimmste berichten. Die Leute haben vielfach erteilte Orders abbestellt und sind furchtbar zurückhaltend, so daß ich überhaupt nicht weiß, welchen Zweck meine Reisen dzt. haben können.« Nun, das ist natürlich in Depression geschrieben. Tatsächlich lagen dem Brief 3 ganze Aufträge bei auf insgesamt 12 Bücher. Mein zweiter Reisender, Robert Gold-
141 Prag ‒ Moskau. Briefe, S. 104, 178. 142 Prag ‒ Moskau. Briefe, S. 104, 176.
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l schmidt, der schon über 10 Jahre für Malik in Deutschland gereist ist und die Kundschaft in den umliegenden Ländern genau kennt, hat im vorigen Monat die Schweiz, Frankreich und Holland bereist. In Holland hat erʼs aufgegeben, obwohl er noch nach Skandinavien wollte, weil es gänzlich unrentabel war. Dabei hat er natürlich ebenso wie Fleischmann eine Reihe ausgezeichneter Verlage. Ich zweifle nicht daran, daß, wenn die Währungsfragen halbwegs geklärt sind, doch wieder bestellt wird. Aber wieviel, das ist die Frage!143
Als Verlagsvertreter des Querido Verlags, zugleich aber auch des holländischen Verlags De Gemeenschap und des Schocken Verlags in Deutschland, fungierte in den Niederlanden und in Belgien Hermann Igersheimer* (1900 Heilbronn – 1978 New York). Der Cousin von Max Horkheimer lebte bereits seit 1924 in Amsterdam und betrieb dort eine Buchimportfirma. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs flüchtete er nach New York und baute dort erneut ein Buchimportunternehmen auf.144 Flächenmäßig den größten Teil deckte als Querido-Reisender Friedrich Sussmann* ab. Sein Schicksal war durchaus exiltypisch: In Wien war er nominell Inhaber einer Versandbuchhandlung mit Reisevertrieb (und betätigte sich dort 1936–1938 auch verlegerisch); tatsächlich aber war er schon seit den ausgehenden 1920er Jahren als Verlagsvertreter des Berliner Gustav Kiepenheuer Verlags unterwegs. Nach dessen Schließung 1933 bereiste er für den Querido Verlag die Länder Schweiz, Tschechoslowakei, Italien, Österreich, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien: »In jedem der von ihm bereisten Länder richtete er eine Zentralstelle ein, an die die jeweiligen Sendungen geschickt und von denen sie schnellstens an die einzelnen Buchhandlungen weitergeleitet wurden«.145 Auf seinen Reisen suchte er u. a. auch die Bücher Joseph Roths zu verkaufen, die im Verlag De Gemeenschap erschienen. Sussmanns Bemühungen waren durchaus erfolgreich, allerdings wurde sein Tätigkeitsfeld aufgrund von Hitlers Annexionspolitik immer kleiner. 1939 flüchtete er von Prag nach Amsterdam; spätestens seit diesem Zeitpunkt, vermutlich aber schon seit 1938, war er auch für die »Zentralauslieferung« der Verlage Querido, Allert de Lange und Bermann-Fischer tätig. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande konnte er, ebenso wie der mit ihm befreundete Allert de Lange-Verleger Walter Landauer, zunächst untertauchen, wurde aber, wie dieser, entdeckt. Die beiden trafen 1943 im Straflager Westerbork wieder zusammen; sie hatten beide inzwischen die ecuadoriani-
143 Brief Herzfeldes an Bredel, Prag, 19. Oktober 1936, in: Prag – Moskau. Briefe, S. 103‒105; hier S. 104 f. – Nach der Weltwirtschaftskrise hatten sich viele Länder vom Goldstandard gelöst, mit der Folge einer (wirtschaftlich heilsamen) Geldentwertung (Großbritannien 1931, USA 1933 u. a. m.); die Länder, die am Goldstandard festhielten, bildeten unter Führung Frankreichs einen »Goldblock« (weitere Mitglieder: Niederlande, Belgien, Schweiz, Italien und Polen), der aber bald gezwungen war, Währungsabwertungen vorzunehmen (Frankreich, Schweiz und ČSR mit 25 bis 35 % im September / Oktober 1936). Diese Abwertungsspirale führte nicht nur zu wirtschaftlicher Unsicherheit, sondern verteuerte in den betroffenen Ländern auch die Importe. 144 Siehe u. a. Aufbau 29. September 1978, S. 24 [Todesanzeige]; Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333 (1991), S. 51, 82, 318, 329, 332, 372‒374; Dahm: Das jüdische Buch (1993), S. 117, 420, 456, 461; Horkheimer: A Life in Letters, S. 384. 145 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 82.
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sche Staatsbürgerschaft erwerben können, was sie zunächst vor der Deportation in ein Vernichtungslager schützte; im Januar 1944 wurden sie in das KZ Bergen-Belsen gebracht. Im Gegensatz zu Landauer überlebte Sussmann, und wurde 1945 mit seiner Familie nach Nordafrika ausgetauscht, wo sie sich im UNRA-Lager Philipsville bei Algier erholten. Von dort aus meldete sich Sussmann noch am 16. April 1945 brieflich bei Landshoff. 1946 tauchte er in New York auf, wo er als Frederick Sussmann gemeinsam mit Eric Kaufmann* die Transbook Company gründete, die ursprünglich als Verlagsvertretung für den nach dem Krieg in Amsterdam wieder in Gang gebrachten Querido Verlag fungieren sollte. Nach 1950 trat das Unternehmen mit der Publikation von hochwertigen Kunstbüchern hervor, die z. T. in Koproduktion mit europäischen Verlagen hergestellt und vertrieben wurden.146 Auch die deutsche Abteilung des Verlags Allert de Lange arbeitete mit Verlagsvertretern; bis 1938 waren zeitweilig drei Reisende für sie tätig:147 der Emigrant Joseph Lang* in der ČSR, der Schweiz, in Österreich und Ungarn;148 John Heldring in Skandinavien149 und Alfred Kaufmann im Saargebiet, Luxemburg, Paris und Elsass-Lothringen. Ihr Gehalt ergab sich aus einer 10 %igen Provision vom Nettobetrag aller von ihnen aufgenommenen Bestellungen, wobei die über sie bestellten Bücher mit 40 %igen Rabatt geliefert wurden, bei größeren Partien auch mit noch höherem Rabatt. Aus dem überlieferten Material geht hervor, dass die Vertreter einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlagsleiter Landauer ausübten, indem sie ihre Erfahrungen, die Aufnahme einzelner Titel oder auch die Gestaltung einzelner Titel 150 betreffend an ihn weitervermittelten. Gerade unter Exilbedingungen, aufgrund der Neuheit und Unübersichtlichkeit der Lage, waren die Verleger in besonderer Weise auf die Erfahrungsberichte der Reisenden angewiesen. Daher haben Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer an dem Reisenden-System auch nach Gründung der gemeinsamen »Zentralauslieferung« festgehalten, doch ergaben sich ab Beginn 1939 einige Umorganisationen: Joseph Lang reiste jetzt für Allert de Lange und Bermann-Fischer,151 Friedrich Sussmann für die ForumBücher in der Schweiz, Hermann Igersheimer für Querido, Bermann-Fischer und Forum in den Niederlanden.152 In der ČSR war für die »Zentralauslieferung« schon seit Anfang 1938 (bis zur Annexion 1939) Friedrich Sugdol tätig, im Elsaß, den Niederlanden und
146 Siehe Cazden: German Exile Literature, S. 177; Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 82, 373, 368‒370, 497; Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 82, 246 f. 147 Schoor, S. 72‒75. 148 Joseph Lang reiste offenbar auch für die Verlage Emil Oprechts. 149 In Skandinavien waren allerdings Verlagsvertreter nicht in gleichem Maße üblich wie etwa in den Niederlanden oder in der Schweiz, wo sie einen Großteil der (Vor-)Bestellungen aufnahmen und dadurch den Verlag bei der Auflagenkalkulation unterstützten. 150 Vgl. Schoor, Verlagsarbeit, S. 67: »Häufig konsultierte man bei diesen Entscheidungen [über Schutzumschlag und Ausstattung eines Buches] zudem einen der reisenden Vertreter des Verlages, Josef Lang, der Landauer über die potentielle Auswirkung der Buchausstattung auf die Verkaufschancen eines Bandes orientierte«; vgl. auch Schoor, S. 73. 151 Bei Joseph Lang ergab sich in der Schweiz das typische Problem, dass ihm bis Dezember 1941 die Berufsausübung wegen »Belastung des Arbeitsmarktes« verwehrt wurde; für ihn sprang der Schweizer Verlagsvertreter Franz Bödler ein (Schoor, S. 82). 152 Schoor, S. 82.
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den skandinavischen Ländern Fritz Caspary, allerdings nur für Allert de Lange: »In der Regel besuchten diese Vertreter viermal jährlich das betreffende Gebiet und waren mit einem vertraglichen Anteil – so in der Schweiz mit 3 ½ Prozent und in der ČSR mit 6 Prozent – am Gesamtumsatz der Auslieferung des jeweiligen Landes beteiligt«. Aus diesen Maßnahmen geht hervor, dass die Amsterdamer Verlage und Bermann-Fischer in der Arbeit der Verlagsvertreter unverändert einen unabdingbaren Bestandteil des Vertriebssystems sahen. Klarerweise verursachte dies auch Kosten, dennoch dürften sich die Unternehmen damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber jenen Exilverlagen verschafft haben, die sich einen solchen teuren Vertriebsapparat nicht leisten konnten. Nicht für einen deutschen Exilverlag, sondern für Van Ditmar’s Importboekhandel war der aus Österreich stammende Richard Bing* (1901 Wien – 5. 9. 1944 NL) tätig. Er handelte außerdem mit Ramschexemplaren großer Verlage, die er aus dem In- und Ausland auf eigene Rechnung bezog, u. a. auch mit Restbeständen verbannter und »verbrannter« Literatur aus dem deutschen Buchhandel vor 1933, die von den NS-Literaturbehörden ins Ausland verkauft wurden. Bing lernte noch vor 1935 Hein Kohn kennen und gründete mit diesem gemeinsam einen Versandbuchhandel mit angeschlossenem Antiquariat De Boekenvriend. Bing war zudem beteiligt an (unberechtigten) Übersetzungen u. a. von Hermann Hesses Steppenwolf oder Friedrich Gundolfs Anfängen der deutschen Geschichtsschreibung. Der illegale Nachdruck dieses Buches entfachte im Sommer 1944 eine Debatte in der deutschen Fachpresse; Bing hatte viele Exemplare an deutsche Wehrmachtsbibliotheken verkauft. Im Sommer 1944 wurde er inhaftiert und am 5. September 1944 erschossen.153 Auch in den USA waren Reisende für Exilverlage unterwegs, so Fred G. Blau* (1908 Berlin – 2007 Brookline, MA), der 1938 in die USA emigriert war und nach verschiedenen Gelegenheitsjobs in der von Paul Müller geleiteten Buchhandlung Schoenhofʼs Foreign Books in Cambridge, Massachusetts, tätig wurde.154 Von 1950 bis 1975 war Blau als »freelance publishers representative« für rund 20 Verlage an der Ostküste tätig, u. a. für die Exilverleger Theodore Schocken, Frederick A. Praeger, Frederick Ungar, für Béla Horovitz’ und Ludwig Goldscheiders Phaidon Verlag sowie für Walter und Eva Neuraths Verlag Thames & Hudson. Dass im US-Buchmarkt Verlagsvertreter eine wichtige Funktion erfüllten, war auch Landshoff und Bermann Fischer klar: Nach Gründung der L. B. Fischer Publishing Corporation engagierten sie drei Verlagsvertreter, um mit ihrer Hilfe den neuen Verlag und seine Produktion im Buchhandel bekanntzumachen.155
153 Koch: Literarischer Spürsinn und Diplomatie. Der Literaturagent Hein Kohn. 154 1990 remigrierte Blau nach Deutschland und nahm seinen Wohnsitz in Frankfurt a. M.; siehe Brief Fred G. Blau an den Verf. vom 14. Februar 1995; Gespräch Ulrich Bach mit Fred G. Blau am 29. März 1995 in Frankfurt a. M. 155 Siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 153.
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Sortimentsbuchhandel
Zur Vertreibungs- und Fluchtgeschichte Während den Exilverlagen immer schon einige Aufmerksamkeit zugewendet worden ist, stand der Sortimentsbuchhandel im Schatten des Interesses – obwohl auch er sich in beachtenswerten und für das geistig-kulturelle Leben der deutschsprachigen Emigration keineswegs unwichtigen Einrichtungen manifestiert hat. Es war dies aber ein schwer zu überblickendes Themenfeld: Sortimentsbuchhandlungen wurden im Exil zum einen von Vertretern dieses Berufsstands errichtet, die sich nach ihrer Flucht aus Deutschland in ihren – über alle Kontinente verstreuten – Asylländern im angestammten Gewerbe neu zu etablieren suchten. Zum anderen entschlossen sich in zahlreichen Fällen Angehörige unterschiedlichster Berufe, ihr Glück als Sortimenter zu wagen, weil sie keine Chance hatten, ihren angestammten Beruf im Gastland auszuüben. Wer in Deutschland eine Buchhändlerausbildung durchlaufen, fachliches Knowhow und berufliche Praxis gesammelt hatte, war natürlich gegenüber den »Quereinsteigern« deutlich im Vorteil; auch diese waren aber vielfach in der Lage, örtlich oder regional bedeutende Buchhandlungen aufzubauen. Nun gelang es keineswegs allen vertriebenen »zünftigen« Buchhändlern, im Exil noch einmal beruflich Fuß zu fassen. Ein tragisches Beispiel repräsentiert Alfred Bodenheimer*, der in Darmstadt seit 1925 aus seiner »Bücherstube« einen Brennpunkt der Stadtkultur gemacht hatte, indem er prominente Künstler und Literaten zu Lesungen und Vorträgen einlud, daneben auch Kunstausstellungen veranstaltete. Dieser hochambitionierte Buchhändler, der seine Firma noch bis Mitte 1937 als »Jüdischen Buchvertrieb« weitergeführt hatte, ehe er sie an Robert und Marianne D’Hooghe verkaufen und damit in gute Hände legen konnte,156 gelangte nach kurzer KZ-Haft 1938 als 40-Jähriger über England in die USA, wo er in Baltimore den Lebensunterhalt für sich und seine Familie als Bürstenverkäufer verdienen musste; erst später wurde er Angestellter einer Bibliothek. Die erste Fluchtwelle im Bereich des Sortimentsbuchhandels entstand bereits in den ersten Wochen nach der »Machtergreifung« durch die Zerschlagung des politischen Buchhandels, konkret durch die Auflösung des Parteibuchhandels sowohl im Bereich der Sozialdemokratie wie der kommunistischen Partei. Eine Reetablierung dieser Strukturen ist im Ausland nur in Einzelfällen gelungen, im Grunde nur in Paris. Eine weitaus größere und über einen längeren Zeitraum andauernde Welle wurde verursacht durch die in mehreren Phasen verlaufene »Entjudung« des deutschen Kulturlebens, wobei insbesondere die Zeit kurz vor und während der Olympischen Spiele sowie die Entstehung eines jüdischen »Ghettobuchhandels« in den Jahren 1937/38 ein retardierendes Moment bedeuteten. 1938, nach dem »Anschluss« Österreichs, kam es zu einer vehement verlaufenen Vertreibungswelle v. a. aus Wien, wo fast der gesamte Innenstadtbuchhandel »arisiert« oder geschlossen wurde, und dies weitaus rascher und aggressiver, als dies im
156 Siehe dazu: Robert d’Hooghe: Alfred Bodenheimer (1898–1966). In: Juden als Darmstädter Bürger. Hrsg. von Eckhart G. Franz. Darmstadt: Roether 1984, S. 289–292; Marianne d’Hooghe: ›Mitbetroffen‹. Darmstadt: Agora / Darmstädter Bücherstube 1969, bes. S. 98.
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»Altreich« der Fall gewesen war. Aber auch dort kam es noch im gleichen Jahr, unmittelbar nach der »Reichspogromnacht« im November, durch Gewaltakte und Auflösung des »Ghettobuchhandels« zu einer mehr oder minder finalen Vertreibungswelle. Für Sortimentsbuchhändler waren die Voraussetzungen für geordnete Emigration und Wiederetablierung in einem Gastland im Prinzip ungünstiger als für Verleger oder Antiquare. Während erstere oft noch Autorenverträge oder wenigstens Autorenbeziehungen für einen Neustart nutzbar machen konnten und letztere manche wertvolleren Stücke außer Landes bringen, vor allem aber auf Verbindungen zu einem internationalen Kundenstock setzen konnten, hatten Sortimenter, die ja stets lokal und regional verankert waren, keine Möglichkeit, ihr Lager zu transferieren; ihr Stammpublikum blieb in jedem Fall zurück. Der Aufbau eines Ladengeschäfts erforderte ein gewisses Startkapital, darüber hinaus mussten neue Bezugskanäle erkundet und eingerichtet werden, und wenn alles dies gelang, dann wollten die laufenden Miet- bzw. Betriebskosten erst einmal erwirtschaftet werden. Die Voraussetzungen für eine (Neu-)Etablierung als Buchhändler mit einem deutschsprachigen Sortiment waren in den einzelnen Ländern klarerweise höchst unterschiedliche, abhängig vom jeweiligen Umfang der deutschsprachigen bzw. deutschlesenden Emigrations- oder Bevölkerungsgruppen, abhängig aber auch von den äußeren Gegebenheiten und dem Entwicklungsstand des Buchhandels und der Buchkultur. So konnte es einerseits zu einer Häufung der Gründungen in Paris, London und New York kommen, wo ein ausreichend großes potentielles Publikum vorhanden war, während etwa die Überfüllung des Buchhandels in Palästina keineswegs Ausdruck üppiger Absatzmöglichkeiten gewesen ist, sondern der Vielzahl an Einwanderern geschuldet war, die für sich keine andere Betätigungsmöglichkeit sahen als den Buchhandel. Wieder andere Verhältnisse lagen in Südamerika vor, wo sich die Buchhandelsstrukturen noch in einem Entwicklungsstadium befanden, das von den deutschsprachigen buchhändlerischen Immigranten, die viel fachliche Kompetenz mitbrachten, entscheidend vorangetrieben werden konnte. Nicht selten hatten Buchhandlungen in Süd- und Mittelamerika anfänglich eine spezifische kulturelle Funktion für die Emigrantenkolonien, und gewannen im Laufe der Zeit eine noch wichtigere für die einheimische Bevölkerung. Gründung und Führung einer Sortimentsbuchhandlung im Exil stellten die Akteure vor besondere Herausforderungen. Es fehlten ja zunächst einmal alle Strukturen, in die der Handel in Deutschland eingebettet gewesen waren: der hochentwickelte Zwischenbuchhandel mit zentralisierten Verlagsauslieferungen bzw. Kommissionären und Barsortimenten, wie sie insbesondere der Leipziger Platz zu bieten hatte, die eingespielten Transport- und Verrechnungsroutinen, die Informationsmöglichkeiten über Neuerscheinungen bzw. über das Angebot lieferbarer Bücher u. a. m.157 Dazu kamen zusätzliche Liefer- und Beschaffungsprobleme wie Zoll- und Devisenschwierigkeiten, verursacht durch die in der Regel über mehrere Länder gespannten Bezugswege. Und dann galt es vor allem, ein Publikum zu finden: unter den Mit-Emigranten, aber doch auch darüber hinaus, denn trotz der Massenvertreibung aus Deutschland waren die örtlichen Exilgemeinschaften oft nicht groß genug, um einer Buchhandlung das Auskommen zu sichern. In dieser Situation mussten sich viele Betreiber von Exilbuchhandlungen entschließen,
157 Siehe dazu auch das Kap. 6.1 Distribution.
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daneben auch Antiquariats- oder Leihbuchhandel zu betreiben, Papier- und Schreibwaren zu verkaufen oder sonstwie zusätzliche Waren oder Dienstleistungen anzubieten, wobei sich diese Problematik der Mischbetriebe in den einzelnen Ländern oder auch Kontinenten jeweils sehr unterschiedlich darstellt. In manchen Fällen erschien auch die Profilierung als Fachbuchhandlung, die Spezialisierung nicht nur auf deutschsprachige, sondern allgemein fremdsprachige Literatur aus den Bereichen Recht, Medizin, Technik u. a. m. als aussichtsreich. Was aber viele im Exil gegründete Buchhandlungen bei aller Verschiedenheit verbindet, ist die Funktion, die sie als Treff- und Anlaufpunkt für Exilanten entwickelten, gerade auch für exilierte Schriftsteller und Künstler. Die Buchläden dienten als Informationsbörsen, und nicht wenige ihrer Betreiber nahmen diese Kommunikationsaufgabe überaus engagiert wahr, indem sie Veranstaltungen unterschiedlicher Art organisierten, Lesungen, Vorträge, Ausstellungen, auch Kurse und (politische) Versammlungen. Auf diese Weise wurden die Buchhandlungen nicht nur zu Zufluchtsorten, sondern auch zu Zentren des geistigen, literarischen und gesellschaftlichen Lebens im Exil, und blieben es oft weit über 1945 hinaus.
Konkurrenz zum deutschen Auslandsbuchhandel Theoretisch kamen als Käufer für deutschsprachige Bücher alle Personen in Frage, die in den Fluchtländern zu deutschstämmigen Minderheiten oder deutschsprechenden Bevölkerungsschichten gehörten. Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Zahl der Deutschen bzw. Deutschstämmigen im Ausland auf 40 Millionen geschätzt (bei rund 55 Millionen im Deutschen Reich); zählt man das deutschlesende ausländische Publikum und vor allem noch die Bibliotheken und wissenschaftlichen Einrichtungen im Ausland hinzu, die am deutschsprachigen Buch Interesse hatten, dann ergibt sich daraus ein Markt von höchst beachtlicher Dimension.158 Ein solcher Markt war allerdings, aus einer Vielzahl von Gründen, reine Fiktion. Zudem standen die neu gegründeten Exilbuchhandlungen auch in Konkurrenz zu den Buchhandlungen des deutschen Auslandsbuchhandels, also zu jenen Sortimenten, die in den »Nexus« des deutschen Buchhandels einbezogen waren und ein relativ dichtes Netz über die gesamte Welt gespannt hatten, wie das 1926 erschienene Adressbuch des Ausländischen Buchhandels dokumentiert, das immerhin rund 5.000 solcher Firmen nennt.159 Dieses System des deutschen Auslandsbuchhandels hatte bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Bedeutung entwickelt, für deutsche Wissenschaftsverlage, aber auch für andere Verlagssparten. Im Kern zielte der Begriff Auslandsbuchhandel auf im Ausland ansässige Firmen, die mit deutschsprachigen Büchern handelten, also auf Sortimente, die entweder von Deutschen geführt wurden oder deutsche Abteilungen hatten oder sich sonstwie mit der Verbreitung deutscher Bücher befassten und deshalb mit dem deutschen Buchhandel in Verbindung standen.
158 Vgl. auch die Berechnungen von Wieland Herzfelde in Herzfelde: David gegen Goliath. 159 Adressbuch des Ausländischen Buchhandels 1926, Vorwort, (S. 2). – Siehe hierzu auch die Beiträge zu den Themen Buchexport und Auslandsbuchhandel in den Bänden 2/2 und 3/2 dieser Buchhandelsgeschichte.
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Woher bezogen diese Auslandssortimente ihre Ware? Wenn man von Österreich und der Schweiz absieht, die in einem so engen Konnex zum deutschen Buchhandel standen, dass sie nicht in gleicher Weise als Auslandsbuchhandel betrachtet wurden wie die übrigen Länder, dann stammte der allergrößte Teil der Ware aus Verlagen des Deutschen Reichs und wurde von diesen entweder über Kommissionäre oder direkt bezogen. Die Bezugswege waren abhängig v. a. von Umsatz und Leistungsfähigkeit der Sortimente; von den im Adressbuch des Ausländischen Buchhandels 1926 genannten überseeischen Firmen stand nur wenig mehr als ein Fünftel mit einem deutschen, in der Regel Leipziger Kommissionär bzw. mit der Abteilung Ausland von Koehler & Volckmar in Verbindung (186 von 831 auf den vier Kontinenten Afrika, Amerika, Asien und Australien).160 Auslandssortimente mit deutschem Bücherangebot konnten sich aber nur dort halten, wo in Städten oder Siedlungskolonien ein genügend großes Einzugsgebiet gegeben war (wenigstens 10.000 Deutsche bzw. Deutschstämmige wurden veranschlagt, um eine solche Buchhandlung rentabel führen zu können). Für die verstreut in Kleinsiedlungen lebenden Auslandsdeutschen in Übersee gab es noch ein anderes Versorgungssystem, das Exportsortiment, das sich darauf spezialisiert hatte, von Deutschland, meistens einer Hansestadt aus, sein Publikum mit belletristischer und Sachliteratur zu versorgen. Die bekannteste dieser Firmen war Halem in Bremen, die ihren zehntausenden Kunden ständig aktualisierte Bücherkataloge als Bestellgrundlage zuschickte und außerdem das »System Halem« anbot, ein Bücherabonnement, einen Buch-Club, in Form einer unverlangten Zusendung von Novitäten, und zwar abgestimmt auf die in der Kartei gespeicherten individuellen Vorlieben jedes einzelnen Abonnenten. Für die Belieferung wissenschaftlicher Institute und Bibliotheken hatten sich in Deutschland Spezialexportsortimente gebildet; verschiedentlich werden aber auch örtliche Importsortimente in diesem Bereich tätig geworden sein. All dies muss in Betracht gezogen werden für das Verständnis der Situation, wie sie sich seit 1933 herauskristallisierte, dass nämlich an vielen Orten eine Konkurrenzsituation entstand zwischen dem schon länger bestehenden, in der Regel »staatstreuen« Auslandsbuchhandel einerseits und den von Exilanten neu gegründeten Buchhandlungen, die nicht nur, aber meist vorrangig die in Deutschland verbotenen Bücher der vertriebenen Autoren bzw. der Exilverlage anboten, andererseits. In der Tat sind im Zuge der deutschsprachigen Emigration nach 1933 bzw. 1938 Buchhandlungen entstanden, die von den alteingesessenen Auslandsbuchhändlern als ernsthafte, jedenfalls aber unerwünschte Konkurrenz empfunden wurden. Dementsprechend haben sie Versuche von Exilbuchhändlern, zur Ergänzung ihres Sortiments auch Ware aus dem Dritten Reich zu beziehen, immer wieder durch Denunziation an die deutschen Behörden zu unterbinden gesucht. Beispiele solch kollegialer Missgunst werden mehrfach zu nennen sein. Für den freien deutschen Buchhandel bedeutete dies, dass es für ihn schwierig war, jenseits der Emigration zusätzliche deutschsprachige Käuferschichten zu erschließen. Diese waren meist fest in der Hand des regulären Auslandsbuchhandels. Dazu kam, dass namentlich in Nord- und Südamerika die deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen, soweit sie noch deutsche Bücher lasen, überwiegend hitlerfreundlich eingestellt waren und die Exilbuchhandlungen boykottierten.
160 Des Deutschen Buches Wert und Wirkung für das Ausland-Deutschtum, S. 150.
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Frankreich Paris als ein Hauptschauplatz der ersten Exilphase war selbstverständlich auch Ort von Sortimentsgründungen.161 Im Folgenden werden sechs Buchhandlungen näher vorgestellt, die von deutschen Exilanten, teils auch (als Teilhaber oder Angestellte) im Zusammenwirken mit Einheimischen, errichtet worden sind: die im März bzw. Mai 1933 gegründeten Librairie Au Pont de l’Europe, die »internationale Buchhandlung« Biblion, im Pariser Handelsregister eingetragen im August 1934, die im Februar 1935 entstandene Librairie Franco-Allemande und die im November dieses Jahres nachfolgende Agence de Librairie Française et Étrangère von Ernest Strauss sowie die im September 1937 ins Leben gerufene Buchhandlung Science et Littérature. Als Teilhaber oder Angestellte wirkten Emigranten auch an einigen französischen Unternehmen mit, so zum Beispiel an der kommunistischen Buchhandlung C. Mayer & Cie. Es handelt sich um Buchhandlungen unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher Ausrichtung, insofern manche von ihnen einen politischen Hintergrund hatten und wieder andere zusätzliche Funktionen wahrnahmen, indem sie als Vertriebszentralen für Exilverlage fungierten. Die Pariser Exilbuchhandlungen standen sowohl untereinander in einem Konkurrenzverhältnis, wie auch zu alteingesessenen Buchhandlungen mit fremdsprachiger Abteilung. Von diesen gab es eine ganze Anzahl: »Mit einem Bücherangebot in deutscher Sprache warben zum Beispiel die Buchhandlung Gibert Jeune und die Verlagsbuchhandlungen Stock und Fischbacher oder die (heute nicht mehr existierenden) Librairie-Bibliothèque Universelles und Librairie Universum«.162 Dazu kamen jene Buchhandlungen, die auf einzelne Sachgebiete spezialisiert waren und wie etwa die Librairie Internationale des Lettres, Arts et Sciences deutschsprachige Wissenschaftsliteratur anboten. Problematisch waren insbesondere die Fälle, in denen Verlage Exklusivverträge mit einzelnen, als Vertrieb agierenden Firmen abgeschlossen hatten, »die ihre Grosshändlerrabatte eifersüchtig verteidigten oder – wie im Fall der Messageries Hachette – seit Ende des 19. Jahrhunderts eine quasi Monopolstellung für den Buch- und Zeitschriftenvertrieb zwischen Paris und der Provinz wie für einen Teil der Auslandsimporte hatten aufbauen können.«163 Wenn sich also ein Verlag vertraglich an die Messageries Hachette gebunden hatte, so konnten die Pariser Exilbuchhandlungen ihre Bücher nicht direkt und günstiger bei diesem Verlag beziehen und für sie auch keine Auslieferungsfunktionen übernehmen.
Au Pont de l’Europe Eine herausgehobene Position im Pariser Exilbuchhandel nahm Au Pont de l’Europe ein, nicht nur als früheste, sondern als die wohl bedeutendste Gründung ihrer Art.164 161 Über die Situation des Sortimentsbuchhandels im französischen Exil informieren die außerordentlich gründlichen Forschungen von Michaela Enderle-Ristori; vor allem Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch« im französischen Exil; sowie Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld. Enderle-Ristori macht zu den Buchhandlungen auch genaue Adressenangaben, die hier nicht wiederholt werden. 162 Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 44. 163 Enderle-Ristori, S. 44. 164 Vgl. dazu Thöns / Blank: Librairie Au Pont de lʼEurope. Mit dieser über Jahre erarbeiteten, informationsreichen Darstellung repräsentiert Au pont de l’Europe die am eindringlichsten
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Als eine deutsch-französische Gemeinschaftsgründung trat die Buchhandlung bereits Mitte März 1933 in die Öffentlichkeit; bemerkenswert erscheint dabei ein Bericht, wonach das Geschäft »in Gegenwart des französischen Unterrichtsministers und Sektionsrates Dr. Kühn von der Deutschen Botschaft in Paris eröffnet worden« ist.165 Es wurde also nicht sofort als typisches Emigrantenunternehmen wahrgenommen, und in der Tat hatte es nicht nur französische Teilhaber, sondern auch einen Geschäftsführer, der sich bereits seit zwei Jahren in Paris aufhielt: Ferdinand Ostertag* (1893 in Glogau / Schlesien – 1963 New York),166 der zusammen mit seinem jüngeren Kompagnon Otto Wittenborn und mit Jacques, Claude und Arnold Naville als Geldgebern167 die Buchhandlung in einer Seitenstraße zwischen Madeleine und Opera errichtete, war bereits 1931 auf der Suche nach einer Anstellung nach Frankreich gegangen. Nach der NS-»Machtergreifung« nach Deutschland zurückzukehren, war für ihn keine Option: Ostertag war jüdischer Herkunft und hatte sich mit seiner 1919 in Berlin gegründeten Buch- und Kunsthandlung Ferdinand Ostertag & Co. GmbH, an der zeitweise auch Alexander Melnik* beteiligt war, zunächst auf Judaica und Orientalia spezialisiert gehabt und sich auch verlegerisch betätigt, u. a. 1923 mit einer bedeutenden Pessach-Haggadah-Ausgabe mit Holzschnitten von Jakob Steinhardt.168 Obwohl die Firma ihr Sortiment bald verbreiterte, musste sie 1928 aus wirtschaftlichen Gründen aufgegeben werden – was Ostertag veranlasste, sich aufgrund der großen Arbeitslosigkeit in Deutschland um eine Stelle im französischen Buchhandel umzusehen. Auch sein Mitstreiter Otto Wittenborn* (1905 Hamburg – 1974 New York) war schon vor der »Machtergreifung«, im Juli 1932, nach Paris gegangen, nachdem er zuvor im Familienunternehmen G. M. L. Wittenborn, einer Buch- und Papierhandlung in Hamburg, sowie zuletzt in der bekannten Buch- und Kunsthandlung von Karl Buchholz am Berliner Kurfürstendamm tätig gewesen war. Ihn hatte der Kampf der Nationalsozialisten gegen die »entartete Kunst« zutiefst empört.
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erforschte Buchhandlung des deutschsprachigen Exils. Die Dokumentation, die das faksimilierte und kommentierte Pariser Gästebuch enthält, gibt Auskunft auch über die New Yorker Buchhandlungen Ferdinand Ostertags und seines zeitweiligen Kompagnons Otto Wittenborn. Nach der Firmenakte im Bestand Börsenverein, SStA, F 7251 Au Pont de lʼEurope (Schreiben von Junker u. Dünnhaupt 22. Mai 1933. Dem gleichen Bericht zufolge soll sich die »Deutsche Abteilung von Au pont […] gut eingespielt haben«. Biographische Information ist enthalten in Thöns / Blank: Librairie Au Pont de lʼEurope. Die Familie Naville unterstützte die Neugründung auch noch in vielfältig anderer Weise, u. a. durch Knüpfen von Verbindungen. Jacques war offiziell auch als Geschäftsführer eingetragen und wurde 1933 als Mitglied des Börsenvereins aufgenommen (SStA, BV, F 7251 Au Pont de lʼEurope); er engagierte sich im Unternehmen somit deutlich stärker als sein Vater Arnold; sein Bruder Claude verstarb bereits 1935. Wie sein anderer Bruder, der ehemalige Surrealist Pierre Naville, stand auch Jacques zunächst dem Trotzkismus nahe, orientierte sich dann aber mehrfach neu. Vgl. dazu die Ausführungen bei Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 46 und S. 57, Fn. 95. Ferdinand Ostertag hatte eine Lehre in der Buch- und Musikalienhandlung seines Vaters Georg Ostertag (gest. 1914) in Glogau absolviert und danach in Sortimenten in Breslau und Heidelberg gearbeitet. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kam er nach Berlin. Zu seiner Buchhandlung siehe Jaeger: Autorenlesungen und Bauhaus-Produkte: Die Buchhandlung Ferdinand Ostertag in Berlin, 1919 bis 1927.
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Wittenborn schied bereits 1936 aus Au Pont de l’Europe aus und ging mit seiner Frau, der englischen Schriftstellerin und Übersetzerin Joyce Phillips, die er in Paris kennengelernt hatte, über Portugal in die USA, wo er nach einigen Zwischenstationen in New York die Buchhandlung Wittenborn & Comp. gründete.169 Die Buchhandlung Au Pont de l’Europe, die im Handelsregister als »Centre d’information artistique et littéraire francoallemand« eingetragen war, entwickelte sich rasch zu einem Treffpunkt emigrierter sowie französischer Künstler und Schriftsteller. Enderle-Ristori zufolge war sie Ideenlaboratorium und Ort des intellektuellen Austauschs und hatte auf Bücherfreunde eine ähnliche Anziehungskraft wie Adrienne Monniers bekannter französischer Buchladen La Maison des Amis du Livre: Bei Au Pont de l’Europe kreuzten sich Walter Benjamin und André Gide, diskutierten Klaus Mann und Alfred Döblin. Zugleich fand sich ein Stück Berliner Literaturszene hier konserviert, denn Döblin und Heinrich Mann hatten schon vor 1933 zu Ostertags Kunden gezählt.170 Zusätzlich zu zwei Ladenräumen und einem Büro im Oberstock standen zeitweise ein Vortragsraum sowie, in nächster Nähe, eine elegante Galerie zur Verfügung; 1938 wurde die Buchhandlung noch um eine Leihbücherei für französische und deutsche Literatur erweitert. Bemerkenswert: Aufgrund der französischen Mitinhaber konnte das Unternehmen noch bis 1938 beim Leipziger Börsenverein als Auslieferer für Frankreich firmieren171 und zugleich Kommissionär für Exilverlage wie Allert de Lange werden. Als Wittenborn 1936 sich aus der Firma zurückzog, geriet diese in eine prekäre ökonomische Lage; die Firma musste umstrukturiert werden. Ostertag blieb zwar (wie Jacques Naville) nominell Mitgeschäftsführer,172 de facto aber war er seither Angestellter der Firma. Denn Mehrheitseigentümer und Hauptgeschäftsführer wurde damals, im November 1936, der polnisch-deutsche Emigrant Adolf Klapholz (geb. 1904 in Krakau), der zuvor als Buchhalter ausgeholfen hatte und sich nun mit einem von den Quäkern gewährten Darlehen in das Unternehmen einkaufte.173
169 Siehe auch das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage, und in diesem Kapitel weiter unten. 170 Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 46 f. 171 Leipziger Kommissionär war bis 1938 R. Streller, ab 1939 die Fa. Fleischer (SStA, BV, F 7251 Au Pont de lʼEurope). 172 Vgl. die Eintragung im Adressbuch des Deutschen Buchhandels 1938, I. Abt., S. 450, wo Jacques Naville, Ferdinand Ostertag und Adolphe Klapholz als Geschäftsführer angegeben wurden. 173 Vgl. die Angaben bei Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 58, Fn. 100: »Die Buchhandlung war mit einem Firmenkapital von 40.000 Francs gestartet, das nach Wittenborns Weggang auf 26.000 Francs schrumpfte. Am 2. 3. 1936 wurde Francis Kellerton, geb. 30. 5. 1912 in Périgueux, neuer Teilhaber. Doch erst Klapholz, geb. 2. 12. 1904 in Krakau, konnte durch seinen Eintritt am 24. 11. 1936 das Kapital auf 61.000 Francs erhöhen. Bei der Sequestrierung des Unternehmens im Mai 1940 verfügten folgende Personen über Firmenanteile zu je 1000 Francs: Ostertag (3 Anteile), Wittenborn (3), Arnold Naville (3) und Klapholz (53)«.
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Am 6. September 1939 wurden Klapholz und Ostertag interniert, wobei letzterer bereits im Oktober aus dem Lager Sourioux (Cher) wieder freikam. Im November 1940 erneut verhaftet und im Juli 1941 vom Internierungslager Gurs nach Les Milles verlegt, erlangte Ostertag schließlich ein Visum in die USA.174 Klapholz überschrieb nach seiner Entlassung aus dem Lager im August 1940 das Unternehmen seiner »arischen« Ehefrau Emmy, doch hatte bereits im Mai 1940 die französische Polizei das Geschäft sequestriert und einem kommissarischen Verwalter unterstellt; das Pariser Handelsregister vermerkt im April 1942 die Enteignung des »jüdischen Unternehmens«. Der Verkauf zugunsten der Okkupanten wurde im Oktober 1943 von Ferdinand Niedermeyer vorgenommen,175 der in Frankreich das Vermögen deutscher Juden verwaltete. Da die Gestapo schon im Januar 1941 den Großteil des Bücherlagers abtransportiert hatte, bestand das Sortiment zu diesem Zeitpunkt nur mehr aus deutschen Klassikerausgaben sowie englischer und französischer Literatur. Firmenname, Restlager und Ladeneinrichtung wurden Anfang Oktober 1943 für 230.000 Francs an Joseph Marcillac verkauft; im August 1947 wurde die Buchhandlung handelsgerichtlich aufgelöst.176
Librairie internationale Biblion In der Nähe des von Exilschriftstellern gern besuchten Café du Dome etablierte sich die internationale Buchhandlung Biblion, hauptsächlich auf Initiative von Paul Günzburg* (1887 Frankfurt a. M. – 1974 Israel), der bis Ende März 1933 in Frankfurt am Main Mitinhaber und Geschäftsführer der Buchhandlung Volksbildungsheim Günzburg und Baumann gewesen war. Als Mitbegründer traten der Emigrant Joachim Schmidt (geb. 1907 in Eisleben) und die aus den Niederlanden stammende Alida Fontaine (geb. 6. Oktober 1909 in Amsterdam) auf. Der Ladengründung ging seit Mai 1933 eine am Montparnasse, vermutlich ambulant, betriebene Leihbibliothek voraus;177 in der Geschäftstätigkeit der Buchhandlung fand Günzburg dann Unterstützung durch weitere Emigranten, unter ihnen Käthe Hirsch (geb. am 26. Januar 1892 in Berlin) und vor allem die ebenfalls aus Berlin geflüchtete Schriftstellerin Ruth Rewald, die bis zum Herbst 1936 in der Librairie Internationale Biblion mitarbeitete.178 Die Buchhandlung mit angeschlossener
174 Im November 1941 ging er in die USA, wurde 1947 amerikanischer Staatsbürger und lebte Mitte der 1950er Jahre als Astrologe in New York City. 175 Nach einer Notiz in der Firmenakte des Börsenvereins wurde die Buchhandlung am 29. November 1943 »aufgelöst, weil sie ein Hetzunternehmen war« (SStA, F 7251 Au Pont de lʼEurope). 176 Vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 58, Fn. 102: »Der Schätzwert des Bücherlagers betrug im Februar 1943 noch 90.000 Francs […]. Das französische Judenkommissariat und Niedermeyer stritten sich um den Verkaufserlös; Niedermeyer wollte das Geld anstatt auf ein französisches Sperrkonto an die Winterhilfe abführen«. 177 Nach Enderle-Ristori erfolgte die offizielle Eintragung als »internationale Buchhandlung« in das Pariser Handelsregister am 1. August 1934 (Das »freie deutsche Buch«, S. 57, Fn. 82). 178 Die Jugendbuchautorin gab damals ihrer politischen Tätigkeit für die KPD den Vorrang; 1937 ging sie nach Spanien, wo ihr Mann, der Rechtsanwalt Hans Schaul, bei den Internationalen Brigaden kämpfte. 1938 kehrte sie nach Frankreich zurück, wurde 1940 von der Gestapo verhaftet und 1942 in Auschwitz ermordet. Vgl. auch Krüger: Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald.
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deutsch-französischer Leihbibliothek und (modernem) Antiquariat existierte auf bescheidener finanzieller Grundlage, ein Umstand, der im Dezember 1936 zu einem Wechsel in der Unternehmensführung führte – unter »Beibehaltung von Geist und Richtung der Buchhandlung«.179 Es ist ungeklärt, ob Günzburg, der bis zur nationalsozialistischen Okkupation in Paris lebte und 1940 nach Israel ging, an der bis Sommer 1939 existierenden Firma noch beteiligt war.180
Librairie Franco-Allemande (Lifa) Der Berliner Rechtsanwalt Wilhelm Leo* (1888 Magdeburg – 1945 Paris), Mitglied der SPD, hatte 1927 einen Verleumdungsprozess gegen den späteren Reichspropagandaminister Joseph Goebbels geführt und gewonnen; in der Nacht des Reichstagsbrandes wurde er von SA-Leuten blutig geschlagen und als einer der ersten Schutzhäftlinge Hitlerdeutschlands mehrere Monate im Konzentrationslager Oranienburg inhaftiert.181 Nach seiner vorläufigen Entlassung mit seiner Familie im August 1933 nach Frankreich geflohen, eröffnete er in der Rue Meslay in Paris die Buch- und Papierhandlung Librairie Franco-Allemande (Lifa). Das Geschäft in der Nähe der Place de la République konnte sich nur durch finanzielle Unterstützung eines französischen Industriellen, eines Cousins Leos, halten. Das Bücherangebot umfasste neben deutsch- und französisch- auch englisch- und italienischsprachige Bücher und Zeitschriften; nach einem Umzug 1938 fungierte die Lifa hauptsächlich als deutsche Leihbibliothek, während Bücher, Zeitungen und Papeteriewaren in den Hintergrund traten. In den Jahren zuvor allerdings erfüllte die Lifa im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine antifaschistische Volksfront eine wichtige Funktion als eine »Stätte der Begegnung zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Emigranten«.182 Darüber hinaus diente die Buchhandlung als Vortragsraum der Deutschen Volkshochschule und als Unterrichtsraum für Sprachkurse (u. a. für Hebräisch) von verschiedenen Institutionen der deutschen Emigration.183
179 Aus einem Werbeinserat in der PTZ, Jg. 1, No. 185 u. 188 vom 13. u. 16. Dezember 1936, S. 4; hier zit. n. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 105. 180 Im Handelsregister wurde die Firma bereits am 10. März 1937 gelöscht, doch existierte sie zumindest bis 1939 weiter, wie Inserate in der PTZ belegen; vgl. Enderle-Ristori, S. 106. 181 Zum Folgenden siehe v. a. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 45; und EnderleRistori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 106. 182 Gerhard Leo: Feuerproben, S. 92. Wilhelm Leos 1923 in Berlin geborener Sohn Gerhard Leo schloss sich 1942 der Résistance an; nach dem Krieg ging er zurück nach Deutschland, zunächst nach Düsseldorf, 1954 in die DDR; von 1974 bis 1983 war er Korrespondent des Neuen Deutschland in Paris. Er hat später noch einmal auf die Pariser Buchhandlung seines Vaters Bezug genommen und berichtet, dass in ihr Johann Lorenz Schmidt (d. i. Lászlo Radványi, der Ehemann von Anna Seghers), Egon Erwin Kisch und andere Emigrantenprominenz verkehrt hätten (Gerhard Leo: Un Train pour Toulouse, S. 102‒104). 183 Leo war im Exil auch als juristischer Berater seiner Partei in der »Union des Immigrés Allemands Anti-Nazis« tätig; später tauchte er im unbesetzten Süden Frankreichs unter und wurde im Oktober 1943 zum Vizepräsidenten des »Komitees Freies Deutschland für den Westen« ernannt. Er starb wenige Tage vor seiner geplanten Rückkehr nach Deutschland.
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Agence de Librairie Française et Etrangère Ernest Strauss Eine besondere Stellung nahm im Pariser Exil die Agence de Librairie Française et Etrangère Ernest Strauss ein, insofern sie unterschiedliche Funktionen nicht nur in der örtlichen Literaturversorgung der deutschsprachigen Emigration, sondern auch im Distributionssystem der Exilverlage wahrnahm. Ihr Gründer Ern(e)st Strauss* (1907 Frankfurt am Main – 1940?) war promovierter Jurist; er konnte ab 1933 seinen Beruf aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze nicht mehr ausüben.184 Nachdem am 30. März 1933 gegen ihn ein Haftbefehl ergangen war, weil er in der Nacht des Reichstagsbrandes die Flucht eines Nazigegners in die Schweiz organisiert hatte, flüchtete Strauss am 1. April über Saarbrücken nach Frankreich. Vermutlich Mitglied des sozialdemokratischen Reichsbanner-Bündnisses, stand er in Paris mit Emigranten wie Hellmut von Gerlach, Helmuth Klotz und Ruth Fischer in Kontakt; im »Deutschen Klub« hielt er im Oktober 1933 einen Vortrag.185 Möglicherweise versuchte Strauss zunächst, als Associé eines Pariser Rechtsanwaltes tätig zu werden, entschloss sich aber im Spätherbst 1935 zur Gründung einer Buchhandlung. Ab 1. November 1935 firmierte er, nunmehr mit französisiertem Vornamen, als Inhaber der Kommissions- und Versandbuchhandlung Agence de Librairie Française et Etrangère. Die Buchhandlung im XV. Arrondissement, Square Léon-Guillot, baute rasch ein komplexes Vertriebssystem auf: bereits im Januar 1936 hatte sie Exklusivvertretungen für 14, später für bis zu zwanzig deutschsprachige Exilverlage, darunter aus Frankreich die Éditions du Carrefour, die Éditions Météore und den Verlag des Europäischen Merkur, aus der Schweiz Oprecht & Helbling, den Europa-Verlag und Vita Nova, aus der Tschechoslowakei Malik und Julius Kittls Nf. u. a. m. Dabei gestalteten sich die Geschäftsbedingungen durchaus schwierig. So kämpfte Strauss mit den bestehenden vertraglichen Bindungen bspw. zwischen Allert de Lange und der französischen Auslieferung Messageries Hachette, die ihn zwangen, Allert de Lange-Titel über Hachette zum normalen Buchhändlerrabatt von 33 Prozent zu beziehen, während Hachette die Bücher vom Verlag zum Kommissionärsrabatt von 50 Prozent bezog.186 Dennoch trat Ernest Strauss mit selbstbewusster Werbung auf; in den in verschiedenen Exilzeitschriften erscheinenden Anzeigen bezeichnete er seine Buchhandlung als Hauptdistributor des »Freien deutschen Buches« und örtlicher Hauptlieferant des deutschen Auslandsbuchhandels.187
184 Zum Folgenden siehe v. a. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 48‒53. 185 Vgl. die aktion vom 19. Oktober 1933, mit der Ankündigung eines Vortrags von »Rechtsanwalt Dr. Strauss« im »Deutschen Klub« am 21. Oktober 1933. 186 Enderle-Ristori greift hier auf Dokumente im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, Verlagsarchiv Allert de Lange zurück. 187 Vgl. die Werbeanzeige im Neuen Tage-Buch 7. Jg., H. 14 v. 1. April 1939, S. 314. – Dass die Pariser Exilbuchhandlungen untereinander durchaus im Verhältnis geschäftlicher Konkurrenz standen, beleuchtet eine im Allert de Lange-Archiv überlieferte Episode: »Als Strauss einmal ein Schnäppchen gelungen war – er hatte 200 Exemplare guter Remittenden zu 75 Prozent Rabatt erstanden, die er teils an Ernst Heidelberger (Science et Littérature), teils an Auslandskunden weiterverkaufen wollte –, drohte Allert de Lange-Kommissionär Au Pont de l’Europe mit Gerichtsklage wegen Geschäftsschädigung, falls Heidelberger die Remittenden unter Ladenpreis verkaufe!« (Strauss an Allert de Lange, 6. Juli 1938; IISG, AdL, Akte 32, Bl. 220 f.; hier zit. n. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 48 f.).
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In der Tat erlangte Straussʼ Buchhandlung, allen finanziellen Schwierigkeiten zum Trotz, eine führende Rolle in der Pariser Emigrantenszene: er pflegte Kontakt zu den hier ansässigen Exilorganen, half beim Aufbau des Buchvertriebs der Pariser Tageszeitung und belieferte bzw. initiierte Buchausstellungen der Deutschen Freiheitsbibliothek und des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller.188 Der vom Pariser Tageblatt im Sommer 1935 eingerichtete und bis Herbst 1937 existierende Buchvertrieb, der über die als Verlagskommissionär fungierende Buchhandlung von Strauss beliefert wurde, spielte in der Literaturversorgung der deutschsprachigen Emigration eine nicht unerhebliche Rolle.189 Die Zeitung wollte mit dieser Serviceeinrichtung ihren Lesern »die zeitgenössische Literatur zugänglich zu machen, vor allen Dingen die im Dritten Reich verbrannten und verbotenen Bücher. Wir halten die wichtigsten Bücher vorrätig und können jedes andere Buch in jeder beliebigen Sprache auf Wunsch beschaffen, auch wissenschaftliche und sonstige Fachliteratur.«190 Wie aus anderen Anzeigen hervorging, richtete sich das Angebot des PTB insbesondere an die »von den Zentren des Auslandsdeutschtums isolierten Leser« bzw. »die Leser in der Provinz und im Ausland«.191 Der Service des Buchvertriebs konnte mit individuellen Bücherwünschen und -bestellungen in Anspruch genommen werden, die Zeitung veröffentlichte aber auch Bücherlisten – insgesamt an die zwanzig im Verlauf des zweiten Halbjahres 1935; danach erschienen nur noch Hinweise auf Einzeltitel. Die Listen hatten lektürelenkenden Charakter, insofern sie thematisch gegliedert waren: »Aus deutschen Konzentrationslagern«, »Zum 30. Juni 1934«, »Geschichte und Politik«, »Kinderbücher«, »Marx und Engels« u. a. m. In der Tat stammten die meisten der angebotenen Titel aus Exilverlagen (Éditions du Carrefour, Malik Verlag, Europäischer Merkur, Oprecht, Europa-Verlag sowie Julius Kittl Nachf.) und von linksgerichteten bzw. linksbürgerlichen Schriftstellern wie Willi Bredel, Egon Erwin Kisch, Theodor Plivier, Anna Seghers bzw. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Rudolf Olden. Werke von Ilja Ehrenburg, Michail Scholochow und André Malraux wurden in Übersetzungen angeboten. Damit war das Titelangebot des Buchvertriebs deutlich linkslastiger als der redaktionelle Kurs des Pariser Tageblatts. Ernest Strauss kann auch als einer der ersten Bibliographen192 der deutschen Exilliteratur gelten: Er war bereits an einer ersten, im September 1936 in der Zeitschrift Das Wort erschienenen fragmentarischen Bibliographie beteiligt, die fast genau den in seinem Sortiment geführten Verlagsprogrammen entsprach.193 Das Wort ging danach aber, zur Wahrung der literaturpolitischen Interessen der KP, eigene Wege und brachte April / Mai 1937 das Sonderheft »Vier Jahre freie deutsche Literatur« mit bio-bibliographi-
188 Genaueres dazu bei Enderle-Ristori, S. 49 f.; zu den Buchausstellungen siehe auch das Kap. 2 Exilbuchhandel und Drittes Reich. 189 Vgl. zum Folgenden Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, Kap. Der Buchvertrieb von PTB und PTZ, bes. S. 113 f. 190 Buchvertrieb des »Pariser Tageblatts« [Inserat]. In: PTB Jg. 3, N° 593 v. 28. Juli 1935, S. 4. Hier zitiert nach Enderle-Ristori, S. 113. 191 Der Buchvertrieb des »Pariser Tageblatts« [Inserat], PTB Jg. 3, N° 663 v. 6. Oktober 1935, S. 5, zit. n. ebd., S. 113. 192 Siehe hierzu das Kap. 5.1 Verlage: Typologie, Produktion, Kalkulation. 193 Das Wort, 1. Jg. (1936), H. 3 (September), S. 107‒110.
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schen Notizen zu 103 deutschen Schriftstellern heraus. Strauss zog daraus die Konsequenzen und publizierte Ende 1937 (datiert 1938) unter dem Titel Fünf Jahre freies deutsches Buch im Selbstverlag ein Gesamtverzeichnis der freien deutschen Literatur 1933‒1938.194 Das Verzeichnis war innerhalb weniger Wochen vergriffen und bildete den Ausgangspunkt für die im April 1938 erstmals erschienene Zeitschrift Das Buch: Zeitschrift für unabhängige deutsche Literatur, die von der Pariser Gruppe der ISK im Verlag Éditions Nouvelles Internationales bis 1940 unregelmäßig herausgebracht wurde und sich in Konkurrenz zum stark kommunistisch geprägten Pariser Exilliteraturmarkt stellte. Alle diese Aktivitäten und auch die Agence de Librairie Française et Etrangère Ernest Strauss selbst fanden mit Kriegsbeginn ein jähes Ende. Seine latente Opposition zur kommunistischen Emigrantenszene schützte Strauss nicht davor, bereits am 27. September 1939, einen Tag nach dem Verbot aller Organisationen der III. Internationale, von den französischen Behörden verhaftet und im Stadion Rolland Garros interniert zu werden. Sein Name stand auf einer Liste von 68 Personen zur besonderen Polizeiüberwachung, wie auch jene der KP-Funktionäre Franz Dahlem und Paul Merker. Und wie diese wurde auch Strauss in Le Vernet interniert; danach verliert sich seine Spur. Seine Buchhandlung wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris am 26. Juni 1941 zur »Arisierung« gestellt.195 Zu diesem Zeitpunkt standen die Räume der Buchhandlung und das erst kurz zuvor in der Rue de Tournon eingerichtete Büro bereits leer, sodass das von Ferdinand Niedermeyer durchgeführte Verfahren mangels Masse eingestellt wurde.
Science et Littérature 1937 wurde die Exilbuchhandelsszenerie in Paris mit der Buchhandlung Science et Littérature nahe der Sorbonne um eine Nuance reicher. Gegründet wurde sie von Ernst Heidelberger* (1908 Bad Mergentheim – nach 1982 Colombes),196 der zu diesem Zeitpunkt bereits ein wechselvolles Emigrantenschicksal hinter sich hatte: 1933 als Gymnasiallehrer wegen KP-Nähe mit einem Berufsverbot belegt, war er im Juni nach Frankreich emigriert und hatte sich dort in Kreisen der politischen Emigration bewegt.197 Im Frühjahr 1935 emigrierte Heidelberger nach Palästina und eröffnete in Ramat-Gan, einem Vorort von Tel Aviv, eine Buchhandlung, verkaufte sie aber aufgrund mangelnden wirtschaftlichen Ertrags Mitte 1937 wieder198 und kehrte zurück nach Frankreich, wo er sich in der Volksfrontbewegung engagierte.
194 Zu den Entstehungsumständen vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 50 f. 195 »Der Verwalter Pierre Lesage zeigte keine Eile, Strauss dem Judenkommissariat als deutschen Juden anzuzeigen. Als dies unumgänglich wurde, fiel Strauss’ Unternehmen – trotz dessen Ausbürgerung am 23. August 1939 – ins Ressort von Ferdinand Nie[der]meyer, der das Arisierungsverfahren noch im Folgemonat ›mangels Masse‹ wieder einstellte.« (Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 52). 196 Siehe hierzu den von Hélène Roussel aufgezeichneten Lebensbericht: Heidelberger: Une vie en tranches. Außerdem: Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 45 f. 197 So Palmier: Weimar in Exile, S. 747, Fn. 144. 198 Genaueres im Abschnitt über Palästina in diesem Kapitel weiter unten.
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Im September 1937 eröffnete er mit Hilfe eines Freundes, des Schriftstellers André Chennevière, im Quartier Latin die Buchhandlung Science et Littérature, die zunächst als französische Buchhandlung und Leihbücherei angelegt war, aufgrund der örtlichen Konkurrenzverhältnisse sehr bald aber auch Emigrantenzeitschriften und Bücher von Exilverlagen führte. Johann Lorenz Schmidt (d. i. Lászlo Radványi) veranlasste Heidelberger, als offizieller Herausgeber und als Vertriebsstelle der Zeitschrift für freie deutsche Forschung der »Freien deutschen Hochschule« zu fungieren, deren erste Nummer im Juli 1938 erschien. Die von Radványi geleitete »Freie deutsche Hochschule« veranstaltete in den Räumlichkeiten der Buchhandlung auch Abendkurse. In weiterer Folge trat Heidelberger auch als Buchverleger hervor und brachte in der Reihe Schriften zu dieser Zeit 1938 Essaybände von Alfred Döblin und Manès Sperber heraus. Nach Kriegsbeginn 1939 musste Heidelberger, der vorübergehend im Stadion von Colombes interniert wurde, seine Buchhandlung verlassen; er gelangte über Marseille nach Algerien, wo er sich der Fremdenlegion anschloss. Seit September 1940 wieder in Südfrankreich, beteiligte er sich am Widerstandskampf der Résistance. Bemühungen, nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf juristischem Weg die Pariser Buchhandlung zurückzuerhalten, blieben erfolglos.199
C. Mayer & Cie. Noch später, im Januar 1938, wurde die kommunistische Buchhandlung C. Mayer & Cie. gegründet. Ihr Inhaber war der Franzose Camille Mayer (geb. 1911 in Paris);200 Mitinhaber wurde im September 1938 der österreichische Emigrant Johannes Wertheim* (1888 Wien – Auschwitz 1942), der im kommunistisch kontrollierten Verlagswesen in Österreich und Deutschland bereits vor 1933 eine Schlüsselfigur gewesen war (Verlag für Literatur und Politik, Agis-Verlag).201 Erst recht galt dies für die Zeit des Exils, als er als Beauftragter der Komintern für die Reorganisation der Parteiverlage in allen nichtfaschistischen Ländern Europas unter dem Tarnnamen Bertrand in zahlreichen verdeckten Operationen unterwegs war. In diesem Zusammenhang entstand wohl auch die Buchhandlung C. Mayer & Cie., die in Paris den Alleinvertrieb für die Bücher der Éditions Prométhée202 innehatte, in der Wertheim als Komintern-Funktionär ebenfalls eine wichtige Stellung eingenommen haben dürfte. Ein Katalog der bei C. Mayer & Cie. erhältlichen Bücher listet 1.800 Titel auf, neben der Produktion der Éditions Prométhée auch zahlreiche Werke, die teils schon vor 1933 in den von Wertheim betriebenen oder initiierten Verlagen erschienen waren.203 Im Gefolge des in Frankreich verhängten 199 Zur Biographie Heidelbergers und zu seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Verleger in Paris siehe den entsprechenden Abschnitt in Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage. 200 Vgl. Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 42 und S. 56, Anm. 73. Nach diesen Angaben erhöhte Wertheim das Firmenkapital der GmbH von 25.000 auf 50.000 Francs. 201 Vgl. Schütte: Der Agis-Verlag, Berlin und Wien. 202 Siehe Kap. 5.2.2 Politische Verlage. 203 Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 107. Dort die Quellennachweise zu dem genannten Katalog wie auch zu einer Mappe mit Buchprospekten, die von der Buchhandlung an die PTZ versandt worden waren. Diese Materialien befinden sich im Archiv der PTZ im Bundesarchiv Potsdam.
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Verbots kommunistischer Parteien wurde die Buchhandlung am 26. September 1939 aufgelöst.204 Es gab in Paris noch einige weitere von Emigranten betriebene Buchhandlungen,205 darunter einige kurzlebige Gründungen wie jene von Arthur M. Adler*, der nach seiner Ausweisung aus Spanien 1936 bis zur Besetzung von Paris durch die deutsche Armee im Sommer 1940 wieder eine Buchhandlung führte.206 Über deren Größe und Ausrichtung ist allerdings nichts Näheres bekannt. Adler wurde bis 1941 interniert und diente anschließend in der französischen Armee als »Prestataire«; Ende 1941 konnte er sich mit seiner Frau Margot Eschwege, einer gelernten Buchhändlerin, in die USA in Sicherheit bringen und gründete in New York 1942 Adler’s Foreign Books Inc. Darüber hinaus gab es in Paris auch Unternehmen, die ihren Schwerpunkt weniger auf den Sortimentshandel als auf den Leihbuchhandel legten, wie die Firma Eda.207 Die erst nach 1945 in Paris eröffneten und nachmals berühmt gewordenen Buchhandlungen von Martin Flinker und Fritz Picard (»Calligrammes«) werden später vorgestellt.208
Schweiz Der Begriff Exilbuchhandel schließt in erweitertem Verständnis auch Buchhandlungen mit ein, die nicht Gründungen von Exilanten waren, aber für diese eine wichtige Funktion gewonnen haben. Dies gilt in überragender Weise von der Buchhandlung, die von Emil Oprecht (1895–1952) und seiner Frau Emmie (1899–1990) in Zürich betrieben wurde. Diese war eine zentrale Anlaufstelle für emigrierte Autoren – übrigens nicht nur aus Deutschland; so z. B. wurde Ignazio Silone als Anführer der kommunistischen Untergrundbewegung im faschistischen Italien von den Oprechts mit Geldmitteln versorgt. Obwohl im Lande heftig angefeindet, haben die Oprechts exilierte Autoren in vielfältigster Weise unterstützt, hauptsächlich durch das Verlegen von Büchern und die Organisation von Lesungen, sie halfen aber auch im Umgang mit den schweizerischen Behörden, und wer mit alltäglichen Versorgungsproblemen zu kämpfen hatte, konnte ebenfalls mit ihrer Hilfe rechnen.209
204 Wertheim wurde mehrfach interniert, setzte aber seine politische Tätigkeit, z. T. auch in den Lagern, fort, bis er im September 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Vgl. Georges Wertheim: Die Odyssee eines Verlegers. 205 So etwa verweist Enderle-Ristori auf ein Werbeinserat im PTB (3. Jg. Nr. 733 v. 15. Dezember 1935, S. 3), demzufolge unter der Adresse »22, rue Wilhem, Paris 16e« eine deutsche Buchhandlung und Leihbücherei unter der Bezeichnung L’Horizon bestanden hat. Nähere Angaben dazu konnten nicht ermittelt werden. (Enderle-Ristori: Das »freie deutsche Buch«, S. 56, Fn. 72). 206 Zu Adlers Biographie und seinen Buchhandlungen in Madrid und den USA siehe weiter unten. 207 Näheres im Kap. 6.5 Leihbibliotheken. 208 Im Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive. 209 Dazu: Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 104. Siehe dazu auch die ausführlicheren Informationen im Abschnitt über die Oprechts im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Die Buchhandlung wurde erst 2003 geschlossen.
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Keine günstigen Rahmenbedingungen fanden in der Schweiz jedoch jene Emigranten vor, die sich mit dem Gedanken trugen, eine Buchhandlung zu gründen. Der Schweizerische Buchhändlerverband suchte seine Mitglieder nicht nur vor der Konkurrenz von Exilverlegern zu bewahren, sondern schützte auch das einheimische Sortiment. Tatsächlich ist aus der Schweiz von keinen nennenswerten Bemühungen um die Errichtung einer Sortimentsbuchhandlung zu berichten.210
Großbritannien Im Unterschied zur Schweiz konnten in Großbritannien Buchhandlungen ohne jede Einschränkung gegründet werden. Man musste dafür auch keine bestimmten Qualifikationen nachweisen, und dies umso weniger, als es eine Buchhändlerausbildung faktisch nicht gegeben hat, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie das in Deutschland mit einschlägigen Fachschulen seit langem üblich war: »der Hauptunterschied zwischen den englischen und kontinentalen Buchhändlern liegt wohl darin, dass diese ihre Bildung mit in den Beruf bringen, während jene sie z. T. erst aus der Praxis gewinnen.«211 Dessen ungeachtet gab es doch, vor allem in London und den Universitätsstädten, Buchhandlungen, die einen hohen Standard repräsentierten. Unter diesen relativ günstigen Umständen ist es bemerkenswert, dass kaum ein Emigrant in Großbritannien ein reines Sortimentsgeschäft eröffnete. Demgegenüber ist die Zahl der nach Großbritannien geflüchteten Antiquare erheblich.
Der International Bookstore von Hans Preiss In der Kernzeit des Exils war es der International Bookstore von Hans Preiss* (1891 Berlin – 1946 London) in der Museum Street, der besondere Bedeutung gewann.212 Der ausgebildete Jurist Preiss war bereits Anfang 1933 nach London emigriert und hatte dabei einen Teil des Lagers seines von ihm seit 1920 in Berlin geführten Sortiments und Antiquariats Dr. Hans Preiss mitgebracht. Das hoch angesehene, auf Geisteswissenschaften, Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften spezialisierte Geschäft in der Dorotheenstraße 4, dessen Entstehung auf das Jahr 1912 datierte, ging in die A. Harnach & Co. GmbH Berlin über. Über die Gründungsumstände von Preissʼ Bookstore berichtet Stanley Unwin in seiner Autobiographie, dass er die Londoner Buchhandlung W. J. Bryce aus einer finanziellen Schieflage gerettet habe, u. a. indem er ihr eine Ecke seines Verlagsgebäudes günstig vermietete, und dass es eben diese Buchhandlung Bryce war, die dem emigrierten deutschen Buchhändler Hans Preiss, »der eine der herrlichsten Buchhandlungen Unter den Linden in Berlin besessen hatte«, dadurch half, dass sie ihm
210 Anders als im Antiquariatsbuchhandel; siehe dazu Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 211 Suschitzky: »Libris (London) Ltd.«, S. 204. 212 Vgl. dazu u. a. Fritz Gross: Kleine deutsche Chronik: England. In: Das Wort 3. Jg, H.10 (Oktober 1938), S. 134 f.; Fritz Homeyer: Antiquar und Wissenschaft. In: Bbl. (Ffm) Nr. 72a vom 9. September 1957, S. 30‒33, hier S. 32; Völker: Max Herrmann-Neiße, S. 195; Bach / Biester: Exil in London (2002), S. A259.
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Abb. 10: Die Londoner Buchhandlung von Hans Preiss war auf Recht, Wirtschaft und Philosophie spezialisiert, zugleich aber beliebter Treffpunkt der Exilliteraten.
»einen Teil ihres Ladens einräumten, bis er sich genügend Verbindungen geschaffen hatte, die die Übernahme größerer Räume rechtfertigten.«213 Der Hans Preiss International Bookstore war, wie in Berlin, auf Rechts- und Wirtschaftsliteratur spezialisiert, aber auch auf Philosophie- und Pädagogik-Literatur. Als
213 Unwin: Ein Verleger erzählt, S. 160. – Unwin hatte Preiss bereits bei einem seiner Deutschland-Aufenthalte kennengelernt; in seinen Erinnerungen erzählt er über den Emigranten Preiss, dieser habe sich aus Deutschland kein Geld mitnehmen können, habe sich aber dann in London durch Freunde regelmäßig den Völkischen Beobachter zuschicken lassen, immer mit einem darin eingelegten Zwanzigmarkschein, mit dem er sein Einkommen aufbessern konnte. (Ebd., vgl. auch die Parallelstelle in Unwin: The truth about a publisher, S. 242 f.).
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international agierende Buchhandlung vertrieb sie mit Erfolg deutschsprachige Bücher auch in den USA: Aus Akten im Verlagsarchiv von Allen & Unwin geht hervor, dass Preiss damit 1937 immerhin eine Exportsumme von £ 1.359 und im Jahr 1938 von £ 1.030 erzielte. Unwin kommentierte diese Zahlen klar positiv: »Bearing in mind that it is a one man business – just starting – this is an appreciable amount.«214 Ein anderes wichtiges wirtschaftliches Standbein ergab sich aus der Belieferung britischer Ministerien, darunter des nach Kriegsbeginn gegründeten Informationsministeriums. Diese Verbindungen und einmal mehr auch jene zu Stanley Unwin erwiesen sich als hilfreich, als Preiss als »enemy alien« interniert wurde: Unwin bescheinigte ihm mit Unterstützung des Board of Trade, dass er einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft leiste, sodass das War Office noch während Preiss’ Inhaftierung dessen Exporterlaubnis erneuerte und damit die Voraussetzung für seine frühzeitige Entlassung im September 1940 schuf.215 Große Verdienste um die Emigrations-Community und um den kulturellen Austausch mit dem Gastland erwarb sich Preiss aber auch durch Fortsetzung einer schon in Berlin gepflegten Tradition: Sein Bookstore zeichnete sich durch ein bemerkenswertes Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen und Lesungen aus. Preiss unterhielt in diesem Zusammenhang enge Beziehungen zu deutschen Exilschriftstellern in London, unter ihnen Max Herrmann-Neiße, zu dessen 50. Geburtstag er am 26. Mai 1936 einen Abend veranstaltete, auf dem Stefan Zweig die Begrüßungsworte sprach und Ernst Toller eine Rede hielt. In seinem Laden verkaufte er auch die Produktion deutscher Exilverlage, wie etwa die Bücher von El Libro Libre. Mitarbeiterin im Hans Preiss International Bookstore war Edith Loewenberg* (1903 Berlin – 1991 London), die ihre Ausbildung noch in Preissʼ Berliner Buchhandlung erhalten hatte und nach ihrer Emigration ihre Mitarbeit in London fortsetzte.216 Nach dem Krieg, über den Tod von Hans Preiss hinaus, war Erwin Saenger* (1907 in Berlin – 1979 Forest of Dean, Gloucestershire) bis 1949 im Hans Preiss International Bookstore beschäftigt. Mit Saengers Name eng verknüpft ist die Geschichte einer traditionsreichen Berliner Firma von Weltruf, der von dem jüdischen Gelehrten Moritz Poppelauer 1860 gegründeten hebräischen Buchhandlung, die 1894 von dessen Schwiegersohn Jacob Saenger (1866‒1939) übernommen worden war. Nach der NS-»Machtergreifung« 1933 war sein Sohn Erwin Saenger, der nach Jurastudium und Gerichtspraxis seinen Beruf nicht ausüben durfte, in das Unternehmen eingetreten, das sich mit Verlag, Sortiment und Antiquariat von Hebraica und Judaica sowie dem Verkauf von Ritualgegenständen befasste. Die Firma M. Poppelauer gehörte zu jenen Buchhandlungen, die nach dem Juli 1937 als »jüdischer Buchvertrieb« weiter tätig sein durften. Dennoch
214 Diese Angaben und das Zitat aus dem in The Publishers’ Archives, University of Reading, aufbewahrten Verlagsarchiv nach Joos: Trustees for the Public?, S. 174, Fn. 564. 215 Vgl. Joos, S. 174. 216 Nach dem Tod Preissʼ und der Schließung des International Bookstore nahm sie 1954 eine Stelle im Musikantiquariat von Otto Haas an. Dort war sie bis in ihr hohes Alter eine geschätzte Mitarbeiterin und beendete ihre Tätigkeit erst 1990. Mit Erika Mann befreundet, hatte sie mit ihr regelmäßig Ferienwochen in Thomas Manns Villa in Kilchberg bei Zürich verbracht. Vgl. den Nachruf im ABA Newsletter no. 200 vom Oktober 1991, S. 26.
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bemühte sich Erwin Saenger, einen Teil der Verlagswerke und das komplette wissenschaftliche Antiquariat im Werte von geschätzten 50.000.− RM nach London zu überführen. Nachdem sich Pläne einer Partnerschaft mit dem britischen Unternehmen B. H. Blackwell Ltd., Oxford, zerschlagen hatten, prüfte er verschiedene Möglichkeiten, sich in London selbständig zu machen. Sein Vorhaben, die Firma M. Poppelauer in London weiterzuführen, wurde zwar 1937 vom britischen Home Office genehmigt, scheiterte jedoch am Verbot deutscher Behörden, das Bücherlager auszuführen. Erwin Saenger verließ unmittelbar nach der Pogromnacht des 9. November 1938 Deutschland und ging nach London, wo er zunächst 1939/1940 eine Anstellung in The Linguistʼs Bookshop fand.217 Nach der Zeit der Internierung als »enemy alien« und Verwendung im Krieg war Saengers Berufstätigkeit für den Hans Preiss International Bookstore und nachfolgend seine Arbeit als »Cataloguer« an der British Library bis 1960 noch eng mit dem Buchmetier verknüpft, doch gleichzeitig orientierte Saenger sich mit der Ausbildung zu einem Psychotherapeuten beruflich neu.
Libris Ltd., Joseph Suschitzky Seit 1946 gab es in London eine Buchhandlung mit Antiquariat, die vor allem für die deutschsprachige Emigrantengruppe einen besonderen Anziehungspunkt darstellte: In seiner Buchhandlung Libris, seit 1951 in der Boundary Road, pflegte Joseph Suschitzky nicht nur mit bis zu 60.000 Titeln das umfangreichste Lager an deutschsprachigen Büchern in ganz Großbritannien, sondern unterhielt auch bis zum Beginn der 1970er Jahre jeden Samstag einen literarischen Salon, der sich großer Beliebtheit erfreute. Auch im buchhändlerischen Kollegenkreis war Suschitzky wohlgelitten. Den geschichtlichen Hintergrund bildete die Wiener Buchhandlung Brüder Suschitzky, gegründet 1902 von Wilhelm und Philipp Suschitzky, die auch Antiquariat und Leihbücherei betrieben und nachfolgend den Anzengruber Verlag Brüder Suschitzky ins Leben riefen.218 Das dezidiert linksorientierte Unternehmen219 – die Buchhandlung befand sich im »Arbeiterbezirk« Favoriten, der Verlag brachte sozialkritische Literatur heraus220 – war immer wieder Schikanen seitens der Behörden ausgesetzt, namentlich
217 Im Dezember 1938 ordnete Reichskulturwalter Hinkel im Sonderreferat im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda die Auflösung von M. Poppelauer an. Die antiquarischen Werke mußten zur Abholung durch das Sonderreferat Hinkel bereitgestellt werden, alle anderen Lagerbestände von Sortiment und Verlag sowie die Ritualgegenstände wurden an den Jüdischen Kulturbund überstellt. Jacob Saenger verstarb am 14. Februar 1939 in Berlin an einer Herzattacke. 218 Vgl. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 2, ab S. 41; Lechner: Die Wiener Verlagsbuchhandlung »Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky«; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 202‒205. 219 Die Volksbuchhandlung war zugleich Geschäftsstelle des Monistenbundes und des Arbeiterabstinentenbundes, beides Vorfeldorganisationen der österreichischen Sozialdemokratie. 220 Der Anzengruber Verlag Brüder Suschitzky brachte in seiner beinahe 40jährigen Bestandszeit rund 150 Titel zu sozialdemokratischen, sexualwissenschaftlichen und pazifistischen Themen heraus (z. B. von Rosa Mayreder und Josef Popper-Lynkeus), aber auch belletristische Werke u. a. von Alfons Petzold, Hugo Bettauer oder Hermann Hakel.
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im österreichischen »Ständestaat«. Nach Wilhelm Suschitzkys Freitod 1934 trat dessen Witwe Adele Suschitzky* (1878 Brünn – 1980 London)221 als Gesellschafterin ein und führte die Firma in den schwierigen Jahren des Austrofaschismus zwischen 1934 und 1938 gemeinsam mit ihrem Schwager Philipp Suschitzky (1876‒1942) und dessen Sohn Joseph. Mit der Annexion Österreichs an Hitlerdeutschland war das Schicksal des Familienbetriebes besiegelt. Eine »interne Arisierung«, der Verkauf der Buchhandlung an den »arischen« ehemaligen Buchhandelsgehilfen Johann Heger, wurde von den NS-Behörden verweigert. Karl Zartmann von der RSK Landesleitung Österreich lieferte dafür die ideologische Begründung: »Bei diesem Unternehmen handelt es sich um einen jüdischen-marxistisch-pornographischen Betrieb, dessen Arisierung höchst bedenklich wäre.«222 Daraufhin wurde über den Verlag und die Buchhandlung ein Konkursverfahren eröffnet; die Lagerbestände wurden, sofern die Bücher überhaupt noch angeboten werden durften, versteigert. Die Liquidierung der Firma fand mit der amtlichen Löschung am 9. Dezember 1941 ihr Ende. Die Mitglieder der Familie Suschitzky hatten sich zuvor in verschiedene europäische Länder in Sicherheit zu bringen gesucht. Adele Suschitzky gelang die Flucht nach London, wo ihre Tochter schon seit 1933 mit ihrem Mann, dem englischen Arzt Alex Tudor-Hart, im Exil lebte.223 Auch Philipp und Olga Suschitzky wähnten sich in Frankreich bereits gerettet, bis sie im Zuge der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen festgenommen wurden. 1942 aus dem Sammel- und Durchgangslager Drancy deportiert, wurden sie in Auschwitz ermordet. Joseph Suschitzky* (1902 Wien – 1975 London), der bereits während seiner Schulzeit als Lehrling im Anzengruber-Verlag mitgearbeitet und anschließend ein Jurastudium mit der Promotion bei dem renommierten Wiener Staatsrechtler Hans Kelsen abgeschlossen hatte, war wie sein Bruder Willy Suschitzky* (1904 Wien – 1978 London) ein Jahr lang in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert gewesen und nach seiner Freilassung, »völlig mittellos« und ausgerüstet nur mit dem englischen Langenscheidt Taschenwörterbuch, gemeinsam mit seinem Bruder am 20. August 1939 nach England gelangt.224 Dort verdiente er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs seinen Lebensunterhalt; die geplante Weiteremigration in die USA wurde durch den Kriegsausbruch verhindert; 1940 wurde er als »enemy alien« auf der Isle of Man interniert. Nach der Freilassung fand Joseph Suschitzky eine Anstellung als Leiter des Rare Book Department bei der Buchhandlung Foyles in der Charing Cross Road. Über seine Arbeitsbedingungen schrieb Joseph Suschitzky später: »Die Abteilung führte ich so, als ob es mein
221 Sie war die Mutter des nachmals in Großbritannien sehr bekannten Fotografen und Kameramanns Wolf Suschitzky (Wien 1912 – London 2016) und der ebenfalls als Fotografin tätigen Edith Tudor-Hart (1908‒1973). Vgl. wolf suschitzky films. Hrsg. von Brigitte Mayr, Michael Omasta, Ursula Seeber. Wien: Synema Verlag 2010. 222 Zit. n. Hall: Jüdische Buchhändler und Verleger im Schicksalsjahr 1938 in Wien, S. 5 f. [online]. 223 Hall: Österreichische Verlagsgeschichte, Bd. 2, S. 41 [auch online]; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 204. 224 Hierzu und zum Folgenden vgl. als zentrale Quelle v. a. den persönlichen Bericht von Joseph Suschitzky: »Libris (London) Ltd.«. Vgl. ferner Timms: Libris (London) Ltd. A Refugee Bookshop and its Legacy.
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eigenes Geschäft wäre. Während des Krieges war es nicht schwer, Bücher zu verkaufen. Der Umsatz stieg von Woche zu Woche. Es kam oft vor, dass meine Verkaufskommission (three pence in the £) größer war als mein Gehalt.«225 Bald nach Kriegsende eröffnete Joseph Suschitzky noch 1945 seine eigene Firma Libris Ltd.,226 die Sortiments- und Antiquariatsbuchhandel betrieb. Durch Kataloge und ständige Annoncen in englischen und deutschen Fachblättern machte er auf seine Firma, die zunächst an seiner Wohnungsadresse ihren Sitz hatte, aufmerksam. Seine Preise waren so kalkuliert, dass Kollegen bei ihm günstig einkaufen konnten. Er widmete sich dabei fast ausschließlich dem Handel mit deutschsprachigen Büchern, die er in England preisgünstig erwarb; so konnte er im Laufe der Jahre die Bibliotheken und Nachlässe u. a. von Friedrich Gundolf, Mechtilde Lichnowsky, Robert Wendriner oder Sir Alexander Korda erstehen. Zu einem erfolgreichen Start trug auch eine Sammlung von englischen Pressendrucken bei (der Kelmscott-, Doves-, Eragny-, Golden Cockerel- und Ashendene-Press, teilweise auf Pergament), deren Verkauf ihm anvertraut wurde. Wieder andere Absatzmöglichkeiten ergaben sich durch ein völlig unerwartetes Ereignis, das die Zukunft meiner Firma massgeblich beeinflussen sollte: ich erfuhr, dass die deutschen Kriegsgefangenenlager von Amerika nach England verlegt würden und die Kriegsgefangenen für einen Teil ihrer Löhnung Bücher kaufen dürften. Das war natürlich ein grosser Glücksfall. Als es dann wirklich dazu kam, schmolz unser Lager bald zusammen. Der Verkauf erfolgte ausschliesslich durch Listen. Da alles brieflich erledigt wurde, bekamen wir in all den Jahren nie einen Kriegsgefangenen zu Gesicht. Auch neue deutsche Bücher, die ein findiger Importeur aus grossen Prager Beständen eingeführt hatte, wurden bestellt. Von der Grösse der Camps hatten wir allerdings gar keine Vorstellung. Einmal erhielten wir einen Auftrag mit uns astronomisch anmutenden Ziffern, die mir eine schlaflose Nacht bereiteten: 560 Langenscheidt Wörterbücher, 380 Duden – und das ging so zwei Seiten lang weiter! Natürlich waren wir uns darüber im Klaren, dass dieses Geschäft zeitlich begrenzt war. Indessen galt es, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war!227 1951 zog Libris Ltd. in ein Haus in der Boundary Road, N.W. 38, das mit einem Geschäftslokal mit einer großen Auslage und sieben Räumen, aber auch voll genützten Gängen, Stiegen und Kellern ausreichend Platz bot für das Lager an deutschsprachigen Büchern, das nach und nach auf rund 60.000 Titeln anwuchs und damit das umfangreichste in Großbritannien war; es umfasste alle Wissensgebiete. Wichtiger Mitarbeiter in der Firma Joseph Suschitzkys war schon seit 1946 sein Bruder Willy, der im Zuge
225 Suschitzky: »Libris (London) Ltd.«, S. 201. 226 Dazu erwarb er für wenig Geld den Mantel eines formell bereits bestehenden Unternehmens. Nach dem Bericht J. Suschitzkys handelte es sich um eine Firma, die 1944 von einem tschechoslowakischen Staatsbürger gegründet worden war, »damit seine Frau [eine Frau Simon], die Romane schrieb, eine Papierquota bekäme. Die Firma, eine G.m.b.H., hiess Libris (London) Ltd. und war aus der Schreibtischlade nie herausgekommen.« (Suschitzky, S. 202). 227 Ebd., S. 202 f.
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Abb. 11: »German books in seven rooms« – Buchhandlung und Antiquariat ›Libris‹ von Joseph Suschitzky im Londoner Stadtteil Hampstead.
der Internierung 1940 mit einem Flüchtlingstransporter nach Australien in ein Lager gebracht worden war und erst nach Kriegsende wieder nach London zurückkehrte. Mit der Zeit kristallisierten sich klare Zuständigkeiten heraus; über die Aufgabenverteilung berichtete Joseph Suschitzky: »Er hat das große Lager und die Expedition übernommen. An Montagen und Donnerstagen ist er besonders stark beschäftigt, da macht er die Börsenblatt-Suchlisten (unser einziges Verlustgeschäft). Er bewohnt den 2. Stock des Hauses 38A, Boundary Road, London NW8, hat also nicht weit ›ins Geschäft‹«.228 Mit seinen ebenfalls nach England emigrierten Kollegen pflegte Joseph Suschitzky von Anfang an guten Kontakt; diese schätzten die herzliche Art, die er im Umgang mit den Menschen an den Tag legte. Dass er in seiner Eigenschaft als Antiquar mit dem
228 Ebd., S. 206. Erwähnt werden als weitere Mitarbeiterinnen, teils aus späterer Zeit, Kamilla Weidmann, Hanna Cahn (Suschitzkys Sekretärin), Günter Fuchs, Lieselotte Sperl (aus Wien), Susanne Friedburg und Ida Armstrong.
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Verkauf der Reference-Library von Ernst Weil an eine kanadische Bibliothek betraut wurde, kann als ein Zeichen dieser besonderen Wertschätzung betrachtet werden. Die Buchhandlung bzw. das Antiquariat hatte einen Kundenstamm nicht nur in London, wo sie insbesondere die hier lebenden und arbeitenden Deutschen und Österreicher mit Literatur versorgte (»hauptsächlich Studenten, Professoren, Ärzte, Bibliothekare, Sammler, Schauspieler, Autoren und viele Herren der deutschen und der österreichischen Botschaft«), sondern auf der ganzen Welt: Unsere besten Kunden sind Buchhändler aus aller Herren Ländern, die uns mengen und wertmässig am meisten abkaufen. In vielen Fällen konnten wir die von den Kollegen gekauften Bücher direkt in die mitgebrachten Autos laden, vor kurzem sogar in ein von Deutschland herübergebrachtes, gemietetes Lastauto. Die Ersparnis an Porto und Arbeitszeit war beachtlich.229 Stammgäste unter den Privatkunden waren u. a. Schalom Asch, Karl Otten, Alfred Wiener (der Gründer der »Wiener Library«, die viel Material von Libris bezog, ebenso wie das von Walter Laqueur geleitete Institute of Contemporary History und in Frankfurt der Exil-Bibliograph Wilhelm Sternfeld), Richard Friedenthal, Martin Esslin, nicht zuletzt auch Elias Canetti. Selbstverständlich wurde aber nicht nur im Laden, sondern über weltweit verschickte Listen verkauft; Suschitzky berichtete hierzu: Die in England gekauften deutschen Bücher exportieren wir in die ganze Welt; Hauptabsatzgebiete sind Deutschland, Schweiz, U. S. A. und Japan. Unsere Preise sind absichtlich niedrig gehalten; aus unseren vervielfältigten Listen, die relativ billig herzustellen sind – obwohl genug Arbeit drinsteckt – verkaufen wir im Durchschnitt 80 Prozent, was in unserem Beruf als ein ungewöhnlich hoher Prozentsatz anzusehen ist.230 Noch in den 1960er-Jahren beurteilte der Buchhändler die Zukunftsaussichten des antiquarischen Geschäftszweigs als durchaus positiv, jedenfalls was die Beschaffung guten Materials betraf: »Man darf nicht vergessen, dass tausende deutscher Refugees, die seit 1933 nach England kamen, ihre z. T. wertvollen Bibliotheken mitbringen konnten; viele dieser Privatsammlungen werden früher oder später auf den Markt kommen.«231 Besondere Hervorhebung verdient aber die Rolle, welche Libris als örtliches Kulturund Kommunikationszentrum spielte: Joseph Suschitzky veranstaltete an den Samstagvormittagen eine Art literarischen Salon, der sich bei seiner Kundschaft, unter denen sich noch zahlreiche Emigranten befanden, großer Beliebtheit erfreute: Am Samstagvormittag geht es in 38A meistens recht gemütlich zu. Da finden sich die »Stammgäste« ein; sie bekommen Tee oder Kaffee, die Neueingänge werden besichtigt, und es wird eifrig debattiert. Den Nukleus dieser SamstagVormittagGe-
229 Suschitzky, S. 211. 230 Suschitzky, S. 207. 231 Suschitzky, S. 207 f.
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sellschaft bilden unsere Kunden und Freunde: Dr. F. Hajek (ein Polyhistor, den ich um sein Gedächtnis sehr beneide und dessen Angaben immer hieb- und stichfest sind), H. Raumann (trotz seiner Jugend ein Österreicher vom alten Schlag im besten Sinne des Wortes), Ernst Pories (ein grosser Bücherfreund und Karl Kraus-Kenner), Martin Esslin (dessen Lob ich schon früher gesungen habe) und in letzter Zeit auch Dr. Wolfgang Fischer, der junge, begabte Autor von Wohnungen… Nun müssen wir uns von diesen Herren auch noch Vorwürfe anhören, weil sie nicht wissen, wohin sie am Samstagvormittag gehen werden!232 Diese gesellige Funktion übte Libris noch bis an den Beginn der 1970er Jahre aus. Nach der durch den Abbruch des Hauses erzwungenen Räumung des Geschäftes verkaufte Joseph Suschitzky 1971/1972 sein riesiges Lager – zum Großteil, zehn Tonnen, an eine kanadische Universität – und zog sich aus dem Buchhandel fast gänzlich zurück; nach 26 Jahren erfolgreicher Tätigkeit schien ihm die Weiterführung des auf erschwinglicher Miete und preisgünstigem Bücherangebot aufgebauten Geschäftsmodells nicht länger möglich. Seine Absicht, in kleinerem Rahmen von seiner Wohnung aus eine Tätigkeit als Antiquar weiterzuführen, dürfte er bis zu seinem Tod krankheitsbedingt nur eingeschränkt verwirklicht haben. In seinem aus Anlass der Geschäftsschließung geschriebenen Erinnerungsbericht zeigte sich Joseph Suschitzky gerührt von der Anhänglichkeit seiner Kunden, die sogar finanzielle Hilfe angeboten hätten: »Man sagt allgemein LIBRIS ist eine ‚Institution‘ (und wenn man das so oft hört, glaubt man es schliesslich selbst), und das einzige deutsche Antiquariat in England darf nicht verschwinden!«233 Das Bild bliebe unvollständig, würden hier nicht auch noch einige Emigranten und Emigrantinnen aus Deutschland und Österreich berücksichtigt, die als Angestellte im britischen Buchhandel tätig gewesen sind und an ihrem Platz Bedeutendes geleistet haben. Von Fritz Homeyer* und Inga Pollak* wird ausführlicher im Supplement-Band berichtet; an dieser Stelle sei aber, stellvertretend für manche andere, hingewiesen auf Herta Haas* (1907 Frankfurt am Main – 2007 Hamburg) die in der akademischen Buchhandlung Blackwell’s in London angestellt war. Herta Doctor, so ihr Geburtsname, war nach abgeschlossenem Romanistik-Studium als Jüdin die angestrebte Anstellung als Bibliothekarin verweigert worden, so dass sie 1934 zunächst nach Italien ging und 1939 nach England emigrierte.234 Wie viele andere weibliche Asylsuchende war sie dort zunächst als Krankenschwester tätig, ehe sie die Stelle bei Blackwell’s erhielt, wo sie die Auslandsbestellungen bearbeitete. Besonders lange Bücherbestelllisten erhielt sie von Willy Haas, dem berühmten Film- und Literaturkritiker und Herausgeber sowie Verleger der Zeitschrift Die literarische Welt, der nach seiner Emigration damals als Soldat der britisch-indischen Armee am Fuße des Himalaja stationiert und als Zensor tätig war. Aus diesem Berufskontakt entstand eine enge Brieffreundschaft, der nach Willy Haas’ Rückkehr nach England 1947 die Heirat folgte. Als ihr Mann ein Jahr später nach Deutschland remigrierte (zunächst als britischer Controller beim Wiederaufbau einer demokratischen Presse), blieb sie – aus innerem Widerstand gegen das Land
232 Suschitzky, S. 216. 233 Suschitzky, S. 216. 234 Vgl. dazu auch Kreis: Frauen im Exil, S. 73‒76 u. 229 f.
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ihrer Vertreiber – in London. Erst 1954 folgte sie ihm nach Hamburg, wo Willy Haas es erneut zu journalistischer Prominenz gebracht hatte; sie selbst arbeitete als Übersetzerin, u. a. der Werke von Henry James.
Niederlande In den Niederlanden haben Hitleremigranten zahlreiche Antiquariate gegründet,235 kaum aber Sortimentsbuchhandlungen. Zu groß war die Konkurrenz der bestehenden Firmen, von denen viele traditionell auch deutschsprachige Bücher führten. Das war auch 1933 bis 1940 der Fall; namentlich die Amsterdamer Exilverlage fanden hier für ihre Bücher gute Absatzmöglichkeiten. Hier gab es also keinen Bedarf an Neugründungen, auch war die nationale Buchhandelsorganisation daran nicht interessiert. Hervorzuheben ist aber die Tätigkeit Einzelner im Bereich des niederländischen Buchhandels, wie etwa von Hans Jacoby* (1904 Salzburg – 2004 Den Haag).236 Jacoby hatte seine Laufbahn als Buchhändler mit einer Lehre in der Münchner Buchhandlung Kaiser am Marienplatz begonnen und nebenbei an der Universität kunstgeschichtliche und philosophische Vorlesungen gehört; 1925 wechselte er nach Bonn in die wissenschaftliche Buchhandlung von Friedrich Cohen, im Juli 1927 trat er als Leiter der deutschen und französischen Abteilung in die Buchhandlung van Stockum in Den Haag ein. 1929 wechselte er auf die Stelle des Leiters der Buchabteilung des Wiener Kunstverlags Wolfrum. Diese musste allerdings nach dem Eintritt der Wirtschaftskrise 1929 Konkurs anmelden, zudem war Jacoby mit starkem Antisemitismus konfrontiert. Im Sommer 1931 folgte er deshalb der Einladung seines früheren Arbeitgebers, wieder in die Niederlande zu kommen, und übte dort bis zur deutschen Besatzung seinen Buchhändlerberuf aus. Seit 1941 lebte er bis Oktober 1944 im Untergrund. Nach Gelegenheitsarbeiten, u. a. als Journalist bei der Tageszeitung De Avondster, die noch im November 1944 seinen Erlebnisbericht Wij Joodse Onderduikers und damit wohl den ersten Artikel eines jüdischen Verfassers im befreiten Gebiet der Niederlande brachte, konnte Jacoby im September 1945 in Den Haag an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren. Er machte sich bei van Stockum um den Aufbau einer Exportabteilung verdient und wurde 1949 Direktor der Firma, in den 1960er Jahren schließlich Teilhaber. Jacoby blieb bei dieser renommierten Buchhandlung bis zu seinem Ruhestand 1972; von 1972 bis 1974 war er noch als Berater für den Elsevier Verlag tätig, der die Buchhandlung van Stockum gekauft hatte.237 Wie Jacoby in einem Interview bekannte, sah er sich, auch wenn er bereits vor 1933 in den Niederlanden berufstätig gewesen war, doch immer »auf der Seite der Emigranten« stehend.238
Spanien Spanien bot sich als Fluchtland in der 1933 gegebenen politischen Situation nur bedingt an, noch weniger als Ort für die Gründung von Sortimentsbuchhandlungen. Allerdings 235 Siehe das Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 236 Für weitere Angaben siehe Fischer: Handbuch, sowie Lichtblau: Als hätten wir dazugehört, S. 443‒452. 237 Aufschlußreich sind Jacobys Lebenserinnerungen Ter Herinnering. Memoirs van een boekverkoper und Een Joodse Saga en andere verhalen. 238 Hans Jacoby in einem mit dem Verf. am 3. Oktober 1994 in Den Haag geführten Interview.
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hatte Arthur M. Adler* (1899 Höringhausen – 1975 Lugano) sich mit seiner Buchhandlung in Essen im Export deutscher Bücher nach Frankreich, Portugal und die USA sowie auch nach Spanien betätigt und dorthin entsprechende Beziehungen aufgebaut. Als am 1. April 1933, am »Judenboykott-Tag«, die Scheiben seines Geschäftes eingeschlagen wurden und er sich daraufhin zur Emigration entschloss, war es für ihn durchaus naheliegend, Madrid als Fluchtort zu wählen. Noch im gleichen Jahr begann er dort mit dem Aufbau seiner Librería Adler, in der er neben der Produktion der Amsterdamer Exilverlage Querido und Allert de Lange auch die Blätter der deutschen Exilpresse (darunter das Pariser Tageblatt) vertrieb. Darüber hinaus betätigte Adler sich ab 1934 auch als Nachrichtensprecher für einen deutschsprachigen Untergrundsender. Sein antinazistisches Engagament blieb nicht unbemerkt: Ein regimetreuer Buchhändler-Konkurrent in Madrid, Rudolf Kadner, sandte im März 1935 einen denunziatorischen Brief an den Deutschen Verlegerverein, in welchem es hieß: Eine Firma Arthur Adler gibt es nicht als angemeldeten Buchhändler. Arthur Adler selbst hat sich bei Ausbruch der nationalsozialistischen Revolution schwer kompromittiert und muß unter allen Umständen, selbst wenn er Buchhändler wäre, seitens der Verleger restlos boykottiert werden im Interesse aller im Ausland lebenden Buchhändler.239 Im Januar 1936 wurden denn auch in den Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag alle deutschen Verleger und Buchhändler davor gewarnt, mit Arthur Adler geschäftlich in Verbindung zu treten.240 Ohnehin wurde im Zeichen des spanischen Bürgerkriegs die Lage unhaltbar: 1936 wurde Adler nach Frankreich ausgewiesen und gründete in Paris erneut eine Buchhandlung; nach Internierung 1940/41 flüchtete in die USA und war dort nochmals – und außerordentlich erfolgreich – als Buchhändler tätig.241
USA Einen anschaulichen Bericht über die Struktur des US-amerikanischen Sortimentsbuchhandels lieferte in seinen Erinnerungen der Verleger Gottfried Bermann Fischer, der aus Stockholm flüchtend in die USA kam und dort neuartige Erfahrungen machte. Im Zuge seiner verlegerischen Neuetablierung mit der L. B. Fischer Corporation 1944 hatte er feststellen müssen, dass die aus Deutschland gewohnte »musterhafte Organisation eines über das ganze Land verbreiteten Sortimentsbuchhandels« in den USA nicht existierte, sondern dass es – abgesehen von vielen kleinen Buchverkaufsständen ‒ nur ein paar hundert reguläre Buchhandlungen gab, die zum Teil auch noch Papierwaren verkauften: »Etwa sechzig Prozent des Gesamtverkaufs an Büchern war in den Händen von zwei oder drei Grossisten [..]. Von der Gunst ihrer Einkäufer hing unser Schicksal ab«.242 Seine daraus resultierende Bangigkeit schilderte Bermann Fischer sehr offen:
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Brief vom 9. März 1935, in den Firmenanakten des Börsenvereins, SStAL, BV, F 12.987. Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 8 vom 13. Januar 1936. Siehe dazu in diesem Kapitel weiter unten. Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 234.
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l Den drei Verlagsvertretern, die die Buchhandlungen im ganzen Land besuchen sollten, saßen wir bei unserer ersten Begegnung verschüchtert gegenüber. Es schien eher so, als ob sie vorhätten, uns zu engagieren und nicht umgekehrt. Selten habe ich vor Menschen solche Angst gehabt, wie vor diesen drei smart Americans, die, mit den Hüten auf dem Hinterkopf und der Zigarre im Mund, in schwer verständlichem New Yorker Slang ihre Vorschläge und Forderungen von sich gaben.243
Dazu kam noch ein anderer Umstand: Die Buchhandlungen übernahmen Bücher nur mit Remissionsrecht; Neuerscheinungen hatten in den USA einen vergleichsweise kurzen Lebenszyklus und standen gerade bei den kleineren Buchverkaufsstellen in Konkurrenz zu den Zeitschriften. Die spezifische Organisationsform des verbreitenden Buchhandels in den Vereinigten Staaten war also aus europäischer Sicht gewöhnungsbedürftig. Gleichzeitig bot sie aber den deutschen und österreichischen Emigranten eine gute Chance, sich innerhalb dieses Systems zu etablieren, mit Buchhandlungen, die teils durch ihr europäisches Gepräge, teils durch kluge Spezialisierung, teils auch durch Erfüllung von Nischenfunktionen zu einer Belebung und Erweiterung der Buchhandelslandschaft beitrugen.
New York City New York bot den deutschen und österreichischen Exilanten aus verschiedensten Gründen die vergleichsweise besten Voraussetzungen für die Errichtung von Buchhandlungen. Zum einen war das der zahlenmäßige Umfang der deutschsprachigen Emigration vor und nach 1933, zum anderen auch der nicht sonderlich ausdifferenzierte heimische Sortimentsbuchhandel, der spezialisierten Buchhandlungen wie z. B. Kunstbuchhandlungen, auch politisch ausgerichteten Buchhandlungen und nicht zuletzt Buchhandlungen für ein jüdisch-orthodoxes Publikum gute Entwicklungschancen bot. Dazu kam, dass an den Universitäten Studierende mit deutscher Literatur versorgt werden mussten, und dass auch das deutsche Fachbuch in zahlreichen Disziplinen, von der Philosophie über Medizin bis zu den Naturwissenschaften, immer noch erhebliche Bedeutung in Wissenschaft und Forschung hatte. In allen genannten Bereichen kam es in erster Linie darauf an, sich durch Einfuhr von Büchern hauptsächlich aus Europa (aber nicht allein von Exilverlagen) eine Sonderstellung oder doch wenigstens eine Nische zu sichern. Die Anfänge des New Yorker Exilbuchhandels sind vorerst nur oberflächlich erforscht,244 einzelne Namen lassen sich mit dürren Fakten verorten: Für die Emigranten aus Europa gewann der von Isaac Molho und Vitalis Crespin schon Ende der 1920er Jahre in Manhattan errichtete französische Buchladen Librairie de France einige Bedeutung, als Stätte der Begegnung für Schriftsteller und Intellektuelle – hauptsächlich solche, die aus dem bedrohten und besetzten Frankreich geflüchtet waren, gelegentlich aber auch Repräsentanten der deutschsprachigen Emigration. Molho und Crespin gründeten auch einen Verlag, um die französischsprachigen Leserkreise mit jener Literatur zu versorgen, die in den Kriegsjahren nicht aus Frankreich bezogen werden konnte.245
243 Bermann Fischer, S. 233. 244 Durch Robert Cazden (R. C.: The Free German Book Trade, und R. C.: German Exile Literature). 245 Hench: Books as Weapons, S. 17.
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Herman Kormis’ Moderne Deutsche Buchhandlung und die Deutsche Zentral-Buchhandlung Bei der 1932 in New York gegründeten Modernen Deutschen Buchhandlung, an der Adresse Second Av., später 250 East-fourth Street, handelte es sich um eine Spezialbuchhandlung für sozialistische Literatur; ihr Gründer und Leiter war Herman Kormis* (1895–1969).246 Kormis fungierte auch als Sekretär des Deutsch-Amerikanischen Kulturverbands (DAKV), der 1935 mit Sitz in New York gegründet wurde und in dem prominente exilierte Schriftsteller wie Thomas Mann, Ernst Toller oder O. M. Graf mitarbeiteten. Vor 1935 unterhielt Kormis durchaus gute Kontakte zu deutsch-amerikanischen kommunistischen Gruppierungen; mit der Spaltung der Linken in der Emigration wurde seine Buchhandlung, die bis dahin unangefochten die führende sozialistische Buchhandlung in New York war, bis 1941 konkurrenziert von der in unmittelbarer Nachbarschaft situierten kommunistischen Deutschen Zentral-Buchhandlung. Diese 1935 eröffnete Buchhandlung sollte dem US-Vertrieb der von kommunistischen Verlagen in Europa produzierten Bücher dienen, wie u. a. ein 28 Seiten starkes Verzeichnis Deutsche Bücher in U. S. A. von 1936 erkennen lässt. Die Deutsche Zentral-Buchhandlung startete auch den Versuch eines Buchklubs für deutschsprachige antifaschistische Literatur (Genaueres dazu im Kap. 6.4 Buchgemeinschaften). Dem gesamten Unternehmen dürfte aber kein großer Erfolg beschieden gewesen sein.247
Wittenborn & Schultz, Wittenborn Art Books Distribution Eine von nur drei Kunstbuchhandlungen in New York und vielleicht zeitweise die bedeutendste unter ihnen entstand, als Otto Wittenborn* 1936 aus der gemeinsam mit Ferdinand Ostertag in Paris betriebenen Buchhandlung Au Pont de l’Europe ausschied und mit seiner Frau über Portugal in die USA weiteremigrierte.248 Wittenborn, der seinen Vornamen in George änderte, arbeitete zunächst in der internationalen Abteilung von Brentano’s Bookshop, machte sich aber bald selbständig, indem er die Ostküste bereiste, um die Bücher, die er aus Europa mitgebracht hatte, an Universitäten zu verkaufen. Daraus entstand eine Mail-order-Buchhandlung, bis er sich 1939 entschloss, gemeinsam mit Heinz Schultz* (1904–1954) die Fa. Wittenborn & Schultz zu errichten;
246 Siehe Cazden: German Exile Literature, S. 176. 247 Dazu Nawrocka: Verlagssitz, S. 144, sowie Cazden: The Free German Book Trade, S. 357, 360 f. – Vgl. auch SStAL, BV, F 16239, wo die Firma »Deutsche Zentral Buchhandlung und Freiheits-Bibliothek, Geschäftsführer Karl Seidenberg, New York (USA)« unter Bezugnahme auf einen Artikel in The Publishers Weekly vom 3. Juni 1939 erwähnt wird. Zu Karl Seidenberg (25. 10. 1895 – 1. 9 1974; http://death-records.mooseroots.com/d/n/KarlSeidenberg) konnte nichts Näheres ermittelt werden. Offenbar aber musste er sich als Kommunist später wegen »antiamerikanischer Umtriebe« vor dem McCarthy-Tribunal verantworten. ‒ Zur Deutschen Zentral-Buchhandlung siehe auch im Kap. 6.1 Distributionsstrukturen den Abschnitt Sozialistischer und kommunistischer Buchvertrieb in New York. 248 Zu Wittenborn vgl. weiter oben den Abschnitt zu Au Pont de l’Europe, vor allem aber Thöns / Blank: Librairie Au Pont de lʼEurope, S. 189‒209.
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1941 erfolgte zusätzlich die Gründung der Wittenborn Art Books Distribution.249 Die bestens sortierte Kunstbuchhandlung in Manhattan, East, 57th Street, wurde zu einem Treffpunkt Intellektueller und Künstler, insbesondere emigrierter Expressionisten und Surrealisten. Von dem Anspruch getrieben, stets ein Exemplar von jedem Kunstbuch der Welt und von allen Ausstellungskatalogen vorrätig zu haben, machte dies die Buchhandlung zu einem für alle Kunstliebhaber attraktiven Ort. Zusätzlich betrieb Wittenborn einen eigenen Verlag für Kunstbücher.250 Weniger der kommerzielle Erfolg als die künstlerische Qualität waren für Wittenborn ausschlaggebend; insbesondere widmete er sich der »very new art« und präsentierte in seinem Buchladen in der »One-Wall-Gallery« beispielsweise die erste Einzelausstellung von Hans Haacke. Sein seit 1944 geführtes Gästebuch, das 2007 in einer Ausgabe für den Buchhandel erschienen ist, dokumentiert eindrucksvoll seine Kennerschaft und seinen internationalen Künstlerfreundeskreis, zu dem Leger, Arp, Chagall, Max Ernst, Picasso, Braque ebenso zählten wie Beuys, Warhol oder Roy Lichtenstein.251 Zwei Jahre nach dem Tod von Heinz Schultz übersiedelte Wittenborn 1956 die Kunstbuchhandlung, nunmehr unter dem Namen George Wittenborn Inc., nach 1018, Madison Avenue. Der »Art Publishing Award« der »Art Libraries Society of North America« wurde 1980 umbenannt in George Wittenborn Award, zum Gedächtnis eines der einflussreichsten Kunstbuchhändlers und -verlegers der USA: der Preis wird jährlich an herausragende Verlagsprodukte auf den Gebieten Kunst, Design und Architektur verliehen.
Die Buchhandlung Peter Thomas Fisher: Treffpunkt für Schriftsteller und Künstler Verursacht durch die Annexion Österreichs gelangten im Jahr 1939 mehrere aus ihrem Heimatland vertriebene Buchhändler nach New York. Über Budapest und Prag konnte Peter Thomas Fisher * (1921 Wien – 2004 Englishtown, NJ), mit Hilfe eines Empfehlungsschreibens von Stefan Zweig, in die USA flüchten. In Wien als Sohn des bekannten Buchhändlers Oskar Fischer aufgewachsen, hatte er dort noch von 1936 bis zum »Anschluss« 1938 eine Ausbildung in einem Verlag und einer Buchhandlung absolviert. In New York suchte der erst 18-Jährige, sich eine Existenz als Buchhändler aufzubauen, geriet aber sehr schnell in eine wirtschaftliche Schieflage.252 Nach deren Überwindung
249 Wittenborn kannte Schultz, der 1938 ebenfalls mit einem Büchervorrat in New York eingelangt war, bereits aus gemeinsamer Tätigkeit bei der Kunstbuchhandlung und Galerie Buchholz in Berlin. Karl Buchholz hatte, als der Druck der NS-Behörden auf die jüdischen Angestellten immer größer wurde, im März 1937 in New York eine Galerie gegründet, deren Leitung Curt Valentin übernahm. In der Buchholz Gallery Curt Valentin war auch Heinz Schultz tätig, der den geforderten »Ariernachweis« nicht erbringen konnte und daher über London in die USA emigriert war. 250 Näheres im Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 251 Artist’s Handbook: George Wittenborns’s Guestbook, with 21st Century Additions. Hrsg. Ronny Van De Velde. Ghent: Ludion 2007. 252 Einer an Stefan Zweig gerichteten Bitte um Unterstützung wurde in diesem Falle nicht entsprochen. Fisher blieb aber bis zu Zweigs Freitod 1942 mit ihm in Briefkontakt; in seinem letzten Schreiben bat er den Autor um eine Empfehlung als Buchhändler gegenüber
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betrieb Fisher seine Buchhandlung in der 260 West 71st Street mit Erfolg und setzte sich besonders für den Vertrieb von Büchern österreichischer und deutscher Autoren ein, wie u. a. ein Katalog New Books from Germany and Austria aus dem Jahr 1946/47 dokumentiert; darüber hinaus führte er auch antiquarische Literatur.253 Fisher engagierte sich damals im »Literarischen Forum«, einer Vereinigung von in New York lebenden exilierten Autoren; seine Buchhandlung wurde dementsprechend von namhaften Künstlern und Schriftstellern frequentiert, darunter Rudolf Arnheim, Prof. Erich Auerbach, Julius Bab, Hermann Broch, Ferdinand Bruckner, Marlene Dietrich, Albert Ehrenstein, Dr. Martin Gumpert, Hermann Kesten, Arthur Koestler, Lotte Lenya, Erika und Klaus Mann, Hilde Marx und Harry Zohn. Fisher betätigte sich gelegentlich auch als Verleger und brachte u. a. 1946 von Robert Gilbert meine reime deine reime und 1952 den Lyrikband Inmitten aller Sterne von Ruth Cohn heraus. Doch auf Dauer konnte er sich damit und mit einer auf das deutschsprachige Exil fokussierten Buchhandlung nicht behaupten. 1958 nahm er daher einen Managerposten in der Verkaufs- und Werbeabteilung der New York Graphic Society an; seit 1963 arbeitete er als Manager bei Harcourt, Brace & World Bookstore in New York und bei der Springer Publishing Co. Danach machte er sich im Buchhandel unter dem Namen Pimpernal Books wieder selbständig.
Theo Feldman Books Eine neue Existenz als Buchhändler baute sich in New York auch Theo Feldman(n)* (1891 Wien – 1957 New York) auf.254 Der Laden Theo Feldman Books befand sich in der 609 West 114th Street. Feldmann war in Wien Leiter der »Literarischen Fachgruppe« der Volkshochschule Ottakring gewesen, die mit ihren wöchentlichen Autorenlesungen fast allen bedeutenden österreichischen Schriftstellern jener Jahre ein Podium bot; so trug Hermann Broch dort mehrmals aus seinem noch unveröffentlichen Roman Die Schlafwandler vor und präsentierte den jungen Elias Canetti zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Feldmann war mit Hilfe der American Guild for German Cultural Freedom in die USA geflüchtet und wurde als Inhaber der Buchhandlung Theo Feldman Books in New York eine wirksame Persönlichkeit innerhalb der österreichischen literarischen Emigration. So findet sich sein Name neben denen von Ferdinand Bruckner, Hermann Broch oder Alfred Polgar als Unterzeichner des vom Austro-American-Council initiier-
Franz Werfel. (Quelle: Peter Tumarkin (New York), Catalogue 20. Bibliography A–K (o. J.), S. 96 f., Nr. 479‒81 [Korrespondenz P. Th. F. mit Stefan Zweig]). 253 Vgl. dazu auch das »Interview mit Peter Thomas Fischer, Inhaber eines Buchladens mit deutschsprachiger Literatur in New York«, das im Österreichischen Rundfunk am 29. Mai 1956 gesendet wurde (Interviewer: Arthur Steiner), in der Österreichischen Mediathek [online]. 254 Theo(dor) Feldman(n) war verheiratet mit der Schriftstellerin Anna Feldmann, geb. Peikert; auch Feldmann selbst hat sich immer wieder als Schriftsteller und Literaturkritiker betätigt. Er war in Österreich Mitglied des Verbands Sozialistischer Schriftsteller und in New York Mitglied der German-American Writers Association. In der New York Public Library befinden sich die Theo Feldmann Papers, eine umfangreiche Manuskriptesammlung und die Korrespondenz des Buchhändlers mit einer Vielzahl österreichischer und deutscher Autoren (Quelle: Wikipedia).
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ten Aufrufes »Bücher für die Demokratie« vom 6. August 1946, einer Büchersammelaktion für Österreich. Als Buchhändler hatte Feldmann schon während der Kriegsjahre eine wichtige Rolle bei der Belieferung von amerikanischen Universitätsbibliotheken mit Gegenwartsliteratur und seltenen deutschsprachigen Büchern inne; u. a. half er entscheidend mit beim Aufbau der »German Literature Collection« der Yale University. Als Antiquar widmete er sich erfolgreich dem Handel mit Autographen und bibliophilen Ausgaben, seine Kataloge galten als vorbildlich. 1951 erwarb er Teile der »Wiener Bibliothek« Hermann Brochs ‒ die 2.500 Bücher waren 12 Tage nach dem Tod des Schriftstellers in den USA eingetroffen ‒, und verkaufte sie später an den exilierten Sozialdemokraten Joseph Buttinger, der seine Studienbibliothek inklusive der BrochBibliothek 1971 der Universitätsbibliothek Klagenfurt als Schenkung vermachte.255
Adler’s Foreign Books Auf die Belieferung von Lehr- und Forschungseinrichtungen spezialisiert war auch die von Arthur M. Adler* geführte Buchhandlung. Adler hatte bereits in Madrid und Paris Exilbuchhandlungen geführt,256 ehe er mit seiner Ehefrau Margot Eschwege Ende 1941 New York erreichte und kurze Zeit später eine Importbuchhandlung hauptsächlich für deutsche Bücher gründete, die Adler’s Foreign Books Inc. Es gelang ihm, sein Geschäft zu einer der bekanntesten und bedeutendsten Buchhandlungen für akademische Literatur zu machen; das Unternehmen hatte zuletzt zwölf Angestellte.257 Auf die Frage, ob es etwas gebe, auf das er rückblickend besonders stolz sei, antwortete Adler in einem Fragebogen: »educating post-war USA in the German language by importing books and literature«.258
Helen Gottschalk Foreign Books Auf eine sehr rührige Weise war Helen Gottschalk* (1900 Breslau – 1982 New York) von 1941 an (bis wahrscheinlich 1965) in New York als Buchhändlerin tätig und vertrieb dort »freie deutsche Literatur«.259 In ihrem Geschäft, mit anfänglich eher privat wirkender Adresse 105 E. 24 Str. Room 1-A, das sich danach aber laut Inserat im Aufbau vom 2. Februar 1945 in der 11 East 92nd Str befand und seit Dezember 1946 dauerhaft unter dem Firmennamen Helen Gottschalk Foreign Books in der 1672 Second Ave. (86th– 87th Street), führte sie ein Sortiment mit einem hohen Prozentsatz an leichter Unterhal-
255 Siehe Lützeler: Hermann Broch, S. 368; Amann / Grote: Die Wiener Bibliothek Brochs. 256 Zu Adlers buchhändlerischer Tätigkeit in Spanien und Frankreich siehe in diesem Kapitel weiter oben. 257 Cazden: German Exile Literature, S. 175; R. A.: In memoriam Arthur Adler. In: Aufbau, 3. Oktober 1975. 258 Fragebogen im Biographischen Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München. 1972 ließ sich Adler aus Gesundheitsgründen in Lugano in der Schweiz nieder; er betrachtete dies ausdrücklich nicht als Remigration. 259 Vgl. u. a. Cazden: German Exile Literature, S. 84 u. 176; [Buchhändlermarke Helen Gottschalk Foreign Books, in:] Seven Roads Gallery of Book Trade Labels [online].
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tungsliteratur. Wie Robert E. Cazden in seiner Studie The Free German Book Trade in the United States, 1933‒1945 feststellte, gibt es zu jedem Zeitpunkt Bedarf nach solcher Literatur; damals aber konnte er nicht ohne Weiteres gestillt werden, weil die Buchproduktion reichsdeutscher Verlage in den USA nicht zugänglich war und die Exilverlage Bücher solchen Typs in der Regel nicht herausbrachten. So blieb für den Exilbuchhändler nur der »secondhand«Handel,260 um jenen Publikumsbedürfnissen entgegenzukommen, die Helen Gottschalk auf einer Veranstaltung im Frauen-Unterstützungsverein des deutschjüdischen New World Clubs in New York offen ansprach: »The German-language authors most in demand are Ganghofer, Karl May and the Courths-Mahlers […], for the bookseller there remains little scope for idealism.«261 Cazden setzt kommentierend hinzu: Secondhand fiction (and non-fiction) published before 1933 was therefore a staple of the GermanAmerican book trade. Many such books were brought over by the immigrants themselves, those who were able to transport their private libraries to the United States. But because of economic difficulties and lack of space in their small furnished apartments, they were forced to sell their books, and the farsighted bookseller was quick to take advantage of a temporarily depressed market.262
Abb. 12: Helen Gottschalk legte in ihrer Kundenwerbung den Akzent auf das Angebot an Neuerscheinungen.
Nicht verwandt mit Helen Gottschalk war Fred S. Gottschalk*, der – wohl schon seit 1936 – in New York eine Buchhandlung betrieb. Er führte hauptsächlich moderne englisch-, französisch- und deutschsprachige Literatur sowie eine Leihbücherei.263 Ein
260 In der Tat war Helen Gottschalk, wie so viele ihrer Kollegen und Kolleginnen, auch als Antiquarin tätig: Im Aufbau vom 30. Januar 1942 und 17. März 1944 inserierte sie als Buchhändlerin und Antiquarin, die Bibliotheken und Musikalien »zu besten Preisen« kauft, über ein reichhaltiges Lager verfügt und Kataloge auf Anforderung verschickt. 261 Aufbau, No. 31 (Oktober), 1947, S. 13, hier zitiert nach Cazden: The Free German Book Trade, S. 364. 262 Cazden, S. 365. 263 Im Exilarchiv der Universität Hamburg befindet sich ein Brief von Gottschalk vom 29. Januar 1942, in welchem er Informationen über Bücher erteilt, die über seine New Yorker Buchhandlung erhältlich sind. (Paul Walter Jacob-Archiv, Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Briefe von Fred S. Gottschalk an PWJ [online]). Eine Todesanzeige
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Abb. 13: Momentaufnahme vom 15. Dezember 1950: In der New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau inserierten fünf Jahre nach Kriegsende ausschließlich nach 1933 aus Deutschland und Österreich vertriebene Buchhändler und Antiquare (Ida Dormitzer*, Walter Goldberg*, Helen Gottschalk*, Oskar Neuer*, Rudolf F. Kallir* (International Autographs), Peter Thomas Fisher*, Arthur M. Adler* und Mary S. Rosenberg*).
Schlaglicht auf die mitunter recht prekäre finanzielle Situation der exilierten Literaten wirft der kleine Buch- und Briefmarkenladen, den Wieland Herzfelde 1944 eröffnete. In seinem Seven Seas Stamp & Book Shop an der westlichen 23. Straße, Ecke Broadin der Emigrantenzeitschrift Aufbau vom 9. April 1943 über das Ableben von Franziska Gottschalk ist von ihm unterzeichnet. Siehe auch Cazden: German Exile Literature, S. 176.
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way, wo auch der Aurora Verlag seinen Sitz hatte, verkaufte er Bestände seiner privaten Bibliothek und die seiner Freunde sowie die Briefmarkensammlung seines Sohnes.264 Eine vergleichsweise späte Gründung war die von Gerard J. Fuchs* (1899 Berlin – 1992 New York) errichtete Buchhandlung. In Berlin war er Inhaber einer auf Sprachwissenschaft spezialisierten Versandbuchhandlung mit Antiquariat gewesen und hatte sich damals auch mit Buchimport befasst. Seine 1935 als »Jüdischer Buchvertrieb« angemeldete Firma war 1937 in »arischen« Besitz übergegangen, die Bücherbestände waren vom Jüdischen Kulturbund übernommen worden. Über Shanghai gelangte er schließlich 1947 nach New York, wo er in seiner Neugründung fast ausschließlich deutschsprachige Bücher führte; Fuchs gehörte neben Friedrich Krause, Arthur M. Adler und Mary S. Rosenberg zu den wichtigsten Importeuren deutschsprachiger Literatur in den USA.
Hebräische Buchhandlungen in New York New York erwies sich auch als guter Boden für die Gründung hebräischer Buchhandlungen. Die früheste Buchhandlungsgründung mit Beschränkung auf Judaica scheint jene von Hersch Ziegelheim* (1890–1982 New York) gewesen zu sein.265 Ziegelheim war in Wien Inhaber einer jüdischen Verlagsbuchhandlung gewesen, die auf Gebetbücher und Bibeldrucke spezialisiert war. Das Lager von über 50.000 Büchern wurde 1938 nach dem »Anschluss« Österreichs konfisziert. Ziegelheim konnte noch im gleichen Jahr in die USA flüchten und in Manhattan seine Tätigkeit fortsetzen, sowohl als Buchhändler im »Retail- und Wholesale«-Geschäft, wie auch mit einem auf Gebetbücher spezialisierten Sortiment 266 und als Verleger religiöser Literatur.267 Kommerziell bedeutend erfolgreicher war die von Philipp Feldheim* (1901 Wien – 1990 New York) errichtete Firma, die sich aus kleinsten Anfängen zu einem international agierenden Unternehmen entwickeln sollte.268 Feldheim, der sich in Wien nach Talmudstudien in der jüdisch orthodoxen Agudat Israel-Bewegung engagiert hatte, war 1938 in der Reichspogromnacht verhaftet worden und nach seiner Freilassung über London in die USA mit 30 Dollar in der Tasche emigriert. In New York betätigte er sich zunächst von seiner Wohnung in Brooklyn / Williamsburg aus als Buchimporteur
264 Siehe Wyland-Herzfelde: Glück gehabt, S. 210, und Danzer: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutsche kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918‒1960), S. 380. 265 Einem Zeitungsinserat zufolge befand sich die Firma am Broadway 408 (http://www.he brewbooks.org/pdfpager.aspx?req=27924&pgnum=40). 266 Dies geht aus einer Anzeige hervor in: Aufbau – Reconstruction, 9. Jg., Nr. 50 vom 10. Dezember 1943, S. 16. 267 Siehe die New Yorker Prozessakten in Copyright-Streitsachen aus dem Jahr 1954; dort auch die Selbstauskunft von Ziegelheim zu seiner Immigration in die U. S. A. 1938 (https://www. leagle.com/decision/1954443119fsupp3241367). 268 Zum Folgenden vgl. u. a. Shnayer Z. Leiman zu: Montague Lawrence Marks: In a Jewish Bookstore. In: Tradition 25, No.1 (Herbst 1989); S. 59‒69; At Feldheim They Go »By the Book!« (Interview mit Yitzchak Feldheim). In: Parnassa Connection, Premier Issue [online].
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und vertrieb orthodoxe Literatur im Tür-zu-Tür-Verkauf; 1941 eröffnete er in der Lower Eastside eine jüdische Spezialbuchhandlung, zuerst in Essex Street, dann in der Grand Street, schließlich am East Broadway (»The House of the Jewish Book«). Anfänglich fungierte er auch als amerikanischer Generalvertrieb des Schocken Verlags, Tel Aviv. Die Buchhandlung bot eine große Auswahl an Hebraica und Judaica und gewann rasch besondere Bedeutung als Treffpunkt der (ultra-)orthodoxen Judenschaft in New York. Feldheim, dessen Verlagsgründung269 sich zu einem prosperierenden, von seinen Söhnen weitergeführten Unternehmen entwickelte, erlebte hochbetagt 1988 noch den aufsehenerregenden Schlussverkauf seiner Buchhandlung in der Lower Eastside, 96 East Broadway, die weltweit über eines der größten Sortimente jüdischer Literatur und ein bedeutendes Antiquariat verfügt hatte. Im Rückblick auf Buchhandlungen wie jene Philipp Feldheims bemerkte ein Beobachter: »They did not merely sell books; they proffered sound advice, introduced customers to each other; and, in general, provided a congenial setting for talmidei hakhamim, scholars, collectors, bibliophiles, and ›ordinary‹ Jews to meet and exchange ideas.«270 Eine Buchhandlung für jüdisch-orthodoxes Publikum hatte in der New Yorker East Side auch Lipa Fraenkel* gegründet, allerdings in vergleichsweise sehr bescheidenen Dimensionen.271 Er hatte in Wien im 2. Bezirk zusammen mit seinem Vater, dem Gelehrten Rabbi David Fraenkel, ein Antiquariat mit wertvollen Beständen geführt, das internationale Geschäftsbeziehungen unterhielt. Am 1. Mai 1938 nahm Adolf Eichmann mit Gestapobeamten im Geschäft einen Lokalaugenschein vor und ordnete die Versiegelung der Buchhandlung an. In 56 Kisten verpackt, wurden die Bücher, überwiegend Judaica, nach Berlin in das SD-Hauptamt verbracht. Die Bücher gelten heute als verschollen. Fraenkel konnte mit seinem Vater im Dezember 1938 Wien verlassen und in die USA flüchten; sein Buchgeschäft A. L. Frankel Bookseller272 mit der Adresse 45 Essex Street N. Y. 2 bestand bis 1961. Einen Zionist Bookshop betrieb, wenn auch nur für eine kurze Zeitspanne, in New York der im Dezember 1938 über Großbritannien in die USA geflüchtete Wolf Salles (auch: Sales)* (1894 Dobromil / Galizien – 1984 Los Angeles). Er hatte seit 1920 in Berlin eine Buchhandlung mit ausschließlich hebräischer Literatur und Gebetbüchern sowie Ritualien geführt und war zudem im April 1934 als Gesellschafter in die Buchhandlung Rubin Mass (vormals Jalkut) eingetreten, die Aron Sztejnberg* einen Monat zuvor von seinem ehemaligen Chef Rubin Mass* mit dem Recht der unveränderten Fortführung der Firma übernommen hatte und die nun von beiden als offene Handelsgesellschaft fortgeführt wurde. Beide Buchhandlungen konnten nach dem Juli 1937 als »jüdische Buchvertriebe« weiterbestehen. In der »Reichskristallnacht« wurden beide Buchhandlungen verwüstet. Nachdem seine auf jederzeitigen Widerruf erteilte Aufenthaltsgenehmigung Anfang Dezember 1938 abgelaufen war, entschloss sich Salles, der polnischer Staatsangehöriger war, zur Emigration. Anfang Februar 1939 erreichte er
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Vgl. den entsprechenden Abschnitt im Kap. 5.2.3 Judaica-Verlage. Leiman zu: Montague Lawrence Marks: In a Jewish Bookstore. Zu Fraenkel siehe auch Adunka: Der Raub der Bücher, S. 360. Eine Anzeige in der Jewish Post vom 13. November 1953, S. 11, offerierte Judaica-Kataloge auf Anfrage, mit dem zusätzlichen Vermerk: »We specialize in Rare Books and Manuscripts«. https://newspapers.library.in.gov/cgi-bin/indiana?a=d&d=JPOST19531113-01.1.11
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Boston, und ging von dort weiter nach New York. Dort lebte er zunächst vom Verkauf seiner eigenen geretteten Bibliothek und von der finanziellen Unterstützung seines Bruders. Zum Jahreswechsel 1943/44 eröffnete er den Zionist Bookshop, der wie die Berliner Unternehmen auf Judaica und Hebraica spezialisiert war. Die mangelhafte Ertragslage und der schlechte Gesundheitszustand seiner Ehefrau bewogen ihn schließlich zum Umzug nach Kalifornien. Dort lebte Salles, der 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, von der Vermittlung von Privatbibliotheken.
Buchhändleremigranten in den Bundesstaaten Franz Bader Gallery and Bookshop, Washington D. C. Seit 1951 existierte in Washington, als Buchhandlung und zugleich als erste private Kunstgalerie der Stadt, Franz Bader Gallery and Bookshop. Ihr Betreiber Franz Bader* (1903 Wien – 1994 Washington) war vor seiner Emigration in Wien, gemeinsam mit dem englischen Staatsbürger Max Bardega, Gesellschafter der Firma Wallishausser’sche Buchhandlung, damals die älteste Buchhandlung am Platz, er wurde aber nach der Annexion Österreichs als »Nichtarier« gezwungen, seine Anteile verkaufen. 1939 gelang ihm die Einreise in die USA; in Washington arbeitete Bader sich in Whyte’s Bookstore vom Angestellten zum Teilhaber, danach zum Vizepräsidenten und Generalmanager hoch, ehe er sich 1951 selbständig machte. Unter großer Beachtung der kulturellen Öffentlichkeit organisierte er in seiner Gallery, der eine Kunstbuchhandlung angeschlossen war, die ersten amerikanischen Ausstellungen von in- und ausländischen zeitgenössischen Künstlern. Als einflussreicher Berater in Kunstangelegenheiten erwarb sich Bader höchstes Renommee in den Spitzen der Gesellschaft.273
Schoenhof’s, Cambridge, Mass. Eine bedeutsame Rolle im US-amerikanischen Literaturexil spielte Paul Müller* (in den USA: Mueller; 1899 Wien – 1964 Cambridge, Mass.), als Buchhändler wie auch in verlegerischen Zusammenhängen.274 Müller hatte in Wien die von seinem Vater Wilhelm Müller aufgebaute Buchhandlung geführt, bis er nach dem »Anschluss« im März 1938 verhaftet und kurze Zeit im KZ Dachau interniert wurde. Nach der erzwungenen Zurücklegung seiner Buchhandelskonzession flüchtete er im Februar 1939 nach New York und fand eine Anstellung in der deutschsprachigen Abteilung der größten US-amerikanischen Buch- und Kunsthandlung für fremdsprachige Literatur Schoenhof’s Foreign Books mit Sitz in Boston und Cambridge. Bereits 1941 konnte er deren Leitung übernehmen. Mül-
273 In Washington wurde er an seinem 80. Geburtstag mit einem »Franz Bader Day« geehrt, in Österreich erhielt er 1964 das Goldene Ehrenkreuz für Verdienste um die Republik und 1965 wurde er in Deutschland mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet; außerdem wurden ihm mehrere Ehrendoktortitel verliehen; vgl. auch J. Y. Smith: Franz Bader, Arts Figure In D. C., Dies. In: Washington Post, 15. September 1994 [online]. 274 Vgl. u. a. Thomas Steinfeld: Goethe, Foucault und die anderen. Ein Porträt der einzigen Sortimentsbuchhandlung für Bücher aus Europa in den Vereinigten Staaten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 282 vom 5. Dezember 1989, S. 35.
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ler war in den Folgejahren zusammen mit Friedrich Krause und Mary S. Rosenberg maßgeblich am Vertrieb aller »Free German Publications« in den USA beteiligt. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ihm der Generalvertrieb der Bücher des Aurora-Verlages übertragen, der 1944 nicht zuletzt dank einer großzügigen Anschubfinanzierung durch Müller bzw. Schoenhof’s gegründet worden war (siehe Kap. 5.2.1). Das Absatzpotential der deutschsprachigen Publikationen erwies sich als nur schwach – eine Erfahrung, die auch Müller selbst mit dem von ihm aufgebauten Schoenhof Verlag machen musste.275 Nach Kriegsende konzentrierte er sich erfolgreich auf den ImportBuchhandel; mit Erlaubnis des War Department absolvierte Müller bereits 1947 eine Reise nach Deutschland und Österreich, um für Schoenhof’s Neuerscheinungen des Jahres aus deutschen Verlagen einzukaufen.276 Seit 1961 war er Präsident und Geschäftsführer von Schoenhof’s Foreign Books.
The Book Home (Leo Mohl), Colorado Im Staat Colorado gründete der ebenfalls aus Wien stammende Buchhändler Leo Mohl* (1909 Wien – 2003 Colorado Springs) eine Buchhandlung. Wie Paul Müller wurde auch er nach der Annexion Österreichs im KZ Dachau und Buchenwald festgehalten, in seinem Falle aufgrund gewerkschaftlicher Betätigung als Lehrling und Angestellter in der renommierten »Bukum«-Buchhandlung von Hugo Heller. Nach seiner Freilassung gelang ihm die Flucht nach England. Gemeinsam mit seiner Frau emigrierte Mohl 1941 in die USA, ließ sich in Colorado Springs nieder und gründete die Buchhandlung The Book Home. Das Geschäft konnte seine Inhaber sichtlich nicht ernähren. Mohls Frau betrieb einen Näh- und Stopfservice, zusätzlich pachteten sie Farmland und hielten Rinder. Im Zweiten Weltkrieg diente Mohl in der US-Army. Nach 1945 suchte Mohl erneut im erlernten Metier Fuß zu fassen und erarbeitete für die Firma Ross Auctions Inc. in Colorado Springs tausende Einträge für Buchauktionskataloge.
Pick’s Book & Pen Shop, Kalifornien Eine einfache Buch- und Papierwarenhandlung in Kalifornien betrieb der aus Linz / Österreich stammende Richard Pick* (1903 Linz – 1974 San Bernardino, Cal.). Sein Papiergeschäft war 1938 behördlich liquidiert worden, er selbst in Dachau interniert. Völlig mittellos hatte Pick zusammen mit seiner Ehefrau Grete im Dezember 1938 Österreich in Richtung Shanghai verlassen, um dort auf ein Einreisevisum in die USA zu warten. Im Oktober 1939 gelangten die beiden nach Los Angeles und waren dort auf die Hilfe eines Flüchtlingskomitees angewiesen. Im Zuge der Rückstellungsverhandlungen bezüglich des geraubten Eigentums dokumentiert ein Brief aus dem Jahr 1946, dass Pick zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau in San Bernardino in Kalifornien lebte, wo er Pick´s Book & Pen Shop in der 462 Third Street besaß. Pick kehrte nicht nach Linz zurück; das von ihm angestrengte Rückstellungsverfahren zog sich in skandalöser Weise jahrelang hin.277 275 Zu Paul Muellers verlegerischen Ambitionen siehe Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 276 Agent will go to Europe for Books. In: The Harvard Crimson, August 21, 1947 [online]. 277 Vgl. Hofer: Enteignung und Rückstellung von Buchhandlungen, Verlagen und Druckereien im »Gau Oberdonau«, S. 32, 81‒96.
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Dagobert Sabatzky Ebenfalls über Shanghai in die USA gelangt war Dagobert Sabatzky* (1884 Stolp / Pommern – 1962 St. Louis, Missouri, USA), der in Berlin den Buchhändlerberuf erlernt und seit 1912 in München in der Sortimentsbuchhandlung Heinrich Jaffé in der Briennerstraße ausgeübt hatte; zuletzt in der Position des Geschäftsführers. Aufgrund »jüdischer Rasse«-Zugehörigkeit entlassen, machte er sich im Februar 1933 mit einem Antiquariat selbständig. Dieses musste er im August 1938 schließen, da ihm wegen des Verkaufs nichtjüdischer Schriften die Zulassung als »Jüdischer Buchvertrieb« entzogen wurde. Bereits im Juni 1938 war Sabatzky verhaftet und ins Polizeigefängnis München gebracht worden; von dort wurde er über das KZ Dachau in das KZ Buchenwald überstellt. Nach seiner Entlassung im April 1939 flüchtete Sabatzky nach Shanghai, wo er von 1943 bis 1945 inhaftiert war. Im Mai 1948 wanderte er mit seiner Frau in die USA ein und ließ sich in St. Louis (Missouri) nieder, wo er bis 1956 seinen erlernten Beruf im Hagedorn Bookshop ausüben konnte.
Mittelamerika: Mexiko Etwa 3.000 Hitlerflüchtlinge fanden in Mexiko vor allem in den Jahren zwischen 1940 und 1942 Aufnahme, viele von ihnen waren zuvor zwischen 1933 bis 1940 im Exil in Frankreich. Die Neuankömmlinge hatten dank der ausländerfreundlichen Regierungen unter den Präsidenten Cárdenas und Camacho keine Schwierigkeiten mit der Arbeitserlaubnis oder politischer und kultureller Betätigung, auch konnten sie Unterstützung erwarten von bereits bestehenden Exilorganisationen, der 1938 gegründeten, überparteilichen Liga Pro-Cultura Alemana und der Menora (Vereinigung deutschsprachiger Juden). Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die UdSSR kam es innerhalb der deutschsprachigen Emigration in Mexiko zu einer starken politischen Polarisierung. Die der Kommunistischen Partei nahestehenden Schriftsteller wie Anna Seghers, Bodo Uhse oder Ludwig Renn bauten mit der Zeitschrift Freies Deutschland, der Bewegung Freies Deutschland in Mexiko und dem Heinrich-Heine-Club ein politisch-kulturelles Gravitationszentrum der Emigration auf.
Libreria Internacional, Mexico City Die Libreria Internacional in Mexico City, Sonora 204, deren Anfänge auf das Jahr 1941 zurückgehen, liefert ein Beispiel dafür, wie sich Exil-Buchhandlungen unter günstigen Umständen zu einem wissenschaftlich-kulturellen Aktivposten entwickeln konnten. Gegründet wurde sie von dem aus Österreich über Schweden nach Mexiko emigrierten Rudolf Neuhaus* (1881 Wien – 1969 Perchtoldsdorf b. Wien), der in Wien eine bedeutende Rolle als bildungspolitischer Funktionär der Arbeiterbewegung gespielt hatte, dort aber auch langjährige Erfahrung im Buchhandel erworben hatte als Leiter einer der größten Arbeiterbüchereien des »Roten Wien« und seit Herbst 1934 als Geschäftsführer der Buchhandlung Bukum, die den im Ständestaat unterdrückten Revolutionären Sozialisten Österreichs als illegales Zentrum diente.278 Mitte März 1938 von der Gestapo
278 Vgl. dazu auch seine 1954 veröffentlichte Autobiographie Schreib’s auf, Neuhaus!
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verhaftet, emigrierte Neuhaus nach seiner Freilassung 1939 nach Schweden, und von dort 1941 nach Mexiko. Über die Gründungsumstände der von ihm in Mexico City errichteten Buchhandlung berichtete der spätere Inhaber Robert Kolb: Mitten im Zweiten Weltkrieg, im Sommer 1941, kommt als politischer Flüchtling Robert[!] Neuhaus nach Mexiko. Er ist über 60 Jahre alt und er beginnt das, was im ersten Moment unmöglich erscheint, gerettete Bücher anzubieten und zu verkaufen. Der Sprache des Landes nicht mächtig, unbekannt auf dem zwar kleinen, aber immerhin existierenden Markt, beschränkt sich der Umkreis auf Emigranten und alteingesessene, nicht faschistische Deutsche, Österreicher und Schweizer.279 Die Libreria Internacional führte hauptsächlich ein auf schöngeistige Literatur ausgerichtetes Sortiment, es war ihr aber auch eine wissenschaftliche Abteilung angeschlossen, denn mit der Universität und einer aufstrebenden Industrialisierung bot sich dafür ein ausgezeichneter Markt. Als Neuhaus, der sich als Mitbegründer und Präsident der Accion Republicana Austriaca en México (ARAM) und Vizepräsident der Asociación Pro-Refugiados Políticos de Habla Alemana en México auch politisch engagierte, 1949 nach Österreich zurückkehrte,280 wurde der 1947 aus Österreich nach Mexico eingewanderte Robert Kolb als sein Nachfolger eingearbeitet. Kolb sollte es in den nächsten Jahren gelingen, die Libreria Internacional zur größten, auf fremdsprachige Bücher spezialisierten Buchhandlung von Mexikos Hauptstadt zu machen – wobei nach Sigfred Tauberts Beobachtungen ihr Aktionsradius weit darüber hinaus reichte, denn sie war »auch bedeutend im Versandbuchhandel innerhalb Mexicos und im Exportbuchhandel im mittelamerikanischen Raum. Eine der angesehensten internationalen Buchhandlungen in Mexiko, im wissenschaftlich-technischen Bereich wohl die bedeutendste.«281 Über die besondere Vertriebstechnik berichtete Kolb: Das Buch, der beste Werber für das Buch, kam nun direkt zum Interessenten: Mit Fahrrad, später Motorrad und schließlich Automobil besuchten unsere Verkäufer die Universität – sie war gerade in die prachtvolle »Ciudad Universitaria« übersiedelt –, Spitäler und Industriegebiete. Die Stadt wurde in Zonen unterteilt und diese wiederum nach Medizin, Naturwissenschaften und Technik. Standing orders enthoben uns der Suche nach Auswahl der Ware, jedoch mussten alle Neuigkeiten den Interessensgebieten nach klassifiziert werden.282 Über den Ausbau und die interne Betriebsorganisation heißt es in Kolbs Darstellung: Die Buchhandlung selber, nach einem forcierten Ausverkauf, war inzwischen in das Gebäude Sonora 206 übersiedelt, in dem sie noch heute mehrere Stockwerke belegt.
279 Robert Kolb: Robert [!] Neuhaus, der Gründer der Internationalen Buchhandlung in Mexiko. 280 Neuhaus engagierte sich nach seiner Remigration wieder in der sozialdemokratischen Bildungs- und Kulturarbeit; er erhielt 1961 den Preis der Stadt Wien für Volksbildung und war Träger des Ehrenrings der Büchergilde Gutenberg. 281 Taubert: Lateinamerika, S. 48. 282 Kolb: Robert [!] Neuhaus, der Gründer der Internationalen Buchhandlung in Mexiko.
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Das Unternehmen wurde nun in Zonen und Abteilungen organisiert, und als man 1966 das 25jährige Jubiläum feierte, konnte man stolz auf rund 20 Abteilungen mit etwa 40 Angestellten hinweisen. Medizin, Chemie, Technik, Mathematik, Technologie, Ökonomie und Handel, Psychologie und Soziologie, deutsche und spanische Literatur waren ebenso vertreten wie Kunst und Geschichte. Einen besonderen Platz nahm die Abonnement-Abteilung ein, in welcher die medizinisch-naturwissenschaftlichen Zeitschriften in englischer Sprache dominierten. Die Librería war zu einer Institution geworden, ein geistig-wissenschaftliches Zentrum »al servicio del progreso y de la cultura«.283 Auch das Marketing kam nicht zu kurz, Kolb erwähnt in diesem Zusammenhang eine rege public-relations-Tätigkeit mit »Bücherabenden«, Presse- und Rundfunkarbeit sowie Werbeartikeln: »fast in jedem Büro hingen während vieler Jahre die hübschen Kalender der Librería Internacional, mit Reproduktionen von Bildern mexikanischer Künstler geschmückt. Diese Kalender waren auch im Ausland bei unseren Lieferanten sehr geschätzt«.284 Bereits 1958 war der Buchhandlung der Verlag El Manual Moderno angeschlossen worden, der mit Lange Medical Publishers kooperierte.
Librería Europea, Mexico City Eine späte, aber vom politischen Hintergrund her bemerkenswerte Sortimentsgründung erfolgte in Mexico City im Jahr 1954 in der Avenida Gutenberg 60 mit der Librería Europea. Ins Leben gerufen wurde sie von Leo Zuckermann* (1908 Lublin – 1985 Mexiko),285 der zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine bewegte Exil- und DDR-Biographie zurückblicken konnte: Der Sohn eines jüdischen Kaufmanns war 1928, während seines Jurastudiums, der KPD beigetreten, konnte aber nach der NS-»Machtergreifung« die von ihm angestrebte Anwaltslaufbahn aus politischen wie »rassischen« Gründen nicht ergreifen und emigrierte noch im März 1933 nach Frankreich. In Paris wirkte er im Rahmen der Deutschen Volksfront bei verschiedenen antifaschistischen Initiativen mit, so unter dem Namen Leo Lambert im Verteidigungskomitee für die Angeklagten im Reichstagsbrandprozess und als Sekretär im Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus. Bei Kriegsausbruch wurde Zuckermann interniert und flüchtete im Juni 1940 in den noch nicht besetzten Süden Frankreichs. Von Marseille aus gelang es ihm im Oktober 1941 nach Mexiko zu emigrieren. Hier gehörte Zuckermann zum Kreis um Paul Merker und betätigte sich in mehreren Exilorganisationen; er war Mitglied der Bewegung »Freies Deutschland« und im Heinrich-Heine-Club, außerdem im Redaktionsstab der Zeitschriften Demokratische Post und Alemania Libre. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Zuckermann 1947 nach Deutschland zurück und übernahm Funktionen im SEDParteivorstand. Den im Oktober 1949 angetretenen Posten als Staatssekretär der Präsidialkanzlei des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck musste er Ende 1950 räumen: Als
283 Kolb. 284 Kolb. 285 Siehe Kießling: Absturz in den kalten Krieg; Breitsprecher: Die Bedeutung des Judentums und des Holocaust in der Identitätskonstruktion dreier jüdischer Kommunisten.
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»Westemigrant« und aufgrund seiner Freundschaft zu Paul Merker in Ungnade gefallen, arbeitete er in der Folge als Mitarbeiter des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und wurde im November 1952 zum Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg ernannt. Nach dem SlanskyProzess in Prag als »zionistischer Agent« denunziert, flüchtete Zuckermann Mitte Dezember 1952 nach West-Berlin und von dort über Frankreich erneut nach Mexiko. Dort errichtete er die Librería Europea, eine kleine Buchhandlung mit überwiegend englischsprachigem Sortiment, deren praktische Leitung eine »Frau Dr. Lang« innehatte.286 Zwei Jahre später gründete Zuckermann die Importfirma Distribuidora Europea de Impresos, die sich vor allem der Einfuhr europäischer Zeitschriften, Taschenbücher und Briefmarken widmete, und 1958 die Lehrmittelfirma Interidiom de México, die vor allem mit Schallplatten- und Tonband-Sprachkursen geschäftlich erfolgreich war.
Südamerika Südamerika war im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein bevorzugtes Ziel deutscher Auswanderung. Die Hitler-Flüchtlinge, die nach 1933 in die einzelnen Länder des Subkontinents gelangten und sich als Buchhändler etablieren wollten, fanden somit Verhältnisse vor, die auf den ersten Blick recht günstig wirkten. Die politisch-weltanschauliche Einstellung der deutschsprachigen Kolonien war aber überwiegend eine rechtsgerichtete, dem neuen deutschen Regime gegenüber aufgeschlossene, und nach 1945 kamen die Nationalsozialisten hinzu, die sich in Länder absetzten, in die sie kaum nachverfolgt werden konnten. Wer sich in diesen Milieus als NS-verfolgter Buchhändler betätigte, musste sich entweder dafür entscheiden, ob er seine Zielgruppen allein in der jüdischen oder politischen Emigrantenschaft suchen oder seine Geschäftstätigkeit so offen gestalten wollte, dass er mit seinem Angebot alle deutschsprachigen Kreise ansprach. Umgekehrt werden deutschnationalistisch gesinnte Kreise von sich aus den Bücherkauf in Emigrantenläden vermieden haben – wenn auch nicht in allen Fällen. So wird von der Buchhandlung Henschel in Buenos Aires berichtet, dass zu ihren Kunden nicht nur gleichermaßen Juden und Nichtjuden gehörten, sondern auch »Menschen mit brauner Gesinnung«; Edgardo Henschel habe »Bücher, keine Ideen« verkaufen wollen und daher seien dort Bücher über Burschenschaften (und sogar Ausgaben von Hitlers Mein Kampf) genauso zu finden gewesen wie die Schriften von Karl Marx.287 Als Sigfred Taubert am Beginn der 1960er Jahre im Auftrag des Börsenvereins Lateinamerika bereiste, konnte er noch viele von Emigranten gegründete Buchhandlungen, Antiquariate und Verlage aufsuchen und Zeitzeugengespräche führen; seine Erfahrungsberichte sind eine unverzichtbare Quelle für die Darstellung des Sortimentsbuchhandels im Exil.
286 Taubert: Lateinamerika, S. 46 f. 287 Victoria Eglau: Das deutsche Erbe in Buenos Aires verblasst allmählich. In: Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 29. Dezember 2015 [online].
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Chile: Buchhandlungen in Santiago de Chile und Valparaiso Von den ersten in Santiago de Chile errichteten Emigranten-Buchhandlungen haben sich nur spärliche Zeugnisse, und diese zum Teil nur über Informationskanäle im Dritten Reich, erhalten. Eine Libreria ›Studio‹ wurde in Santiago de Chile von Sascha Adolf Deutsch betrieben. Die Schrifttumsbehörden ließen die Verlage und Buchhandlungen im Reich wissen, dass eine Geschäftsverbindung mit dem »emigrierten Juden«, der sich angeblich auch unter der Firmenbezeichnung »Libreria Jacob« beliefern lasse, unerwüscht sei.288 Der Buchladen dürfte auf aus dem Ausland importierte Bücher, Zeitschriften und Zeitungen spezialisiert gewesen sein und hat jedenfalls bis in die ausgehenden 1950er Jahre unter Deutschʼ Leitung bestanden, möglicherweise (unter neuer Leitung und wechselnden Adressen) auch noch bedeutend länger. Eventuell schon etwas früher, seit 1937, bestand in Santiago de Chile auch eine Libreria Benno Fischer. Benno Fischer* war bis zum Beginn der 1930er Jahre Verleger in Augsburg gewesen. Die Libreria wurde von Taubert als kleine, »aber moderne« Sortimentsbuchhandlung mit angeschlossener Leihbücherei und einem großenteils aus deutschsprachigen Büchern bestehenden Lager beschrieben: Das deutsche Lager macht einen sehr guten Eindruck, es zeugt von einer anspruchsvollen Kundschaft, die man in erster Linie in jüdisch-deutschen Emigrantenkreisen zu suchen hat. Herr Fischer wird von Fräulein Hilda Kohn in seiner schönen Arbeit unterstützt.289 Ebenfalls fast zur Gänze aus fremdsprachigen Büchern bestand das Sortiment der Libreria Pollak, die Oscar (Oskar G.) Pollak* 1940 in Santiago de Chile, Huérfanos 972, eröffnet hatte. Pollak stammte aus Prag, wo er seit 1932 als Buchhändler tätig gewesen war. Seine Libreria Pollak führte allgemeines und wissenschaftliches Sortiment und Antiquariat; auf den von der Firma besonders gepflegten Gebieten (Landwirtschaft, Psychologie, Philosophie, Kunst, Musik) gehörte sie zu den bedeutendsten Buchhandlungen und Antiquariaten des Landes.290 Die in Santiago de Chile von Eduard(o) Albers* (1908 Recklinghausen – 1974 Santiago de Chile) gegründete, auf fremdsprachige – hauptsächlich deutsch-, teilweise auch französischsprachige – Literatur ausgerichtete Buchhandlung wurde zur größten ihrer Art. Das Geschäft befand sich in zentraler Lage auf der Hauptstraße
288 Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 38/9. November 1938 und ebd., 47/15. Februar 1940, S. 4. 289 Taubert: Lateinamerika, S. 103. 290 Schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993; siehe auch Cazden: The Free German Book Trade, S. 354; Taubert: Lateinamerika, S. 105.
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Merced 864, nach 1953/54 an der Adresse Merced 822. Albers hatte nach Absolvierung einer Buchhändlerlehre in Deutschland in Paris gearbeitet und war 1936 nach Chile gegangen, wo er zuerst eine Stelle bei der Buchhandlung La Corona von Guillermo Schulze (»Die Buchhandlung des Deutschen«) annahm. Als diese aufgrund der politischen Entwicklung schließen musste, baute Albers ein eigenes Unternehmen auf. In ihrer Ausrichtung war die Anfang April 1943 eröffnete Libreria Eduardo Albers allerdings nicht ganz eindeutig einzuordnen: sie »pflegte ein wohlsortiertes, im Literarischen konservatives Sortiment allgemeinen und speziellen Charakters. Größe und Art der Auswahl deuteten auf Umfang und Vielschichtigkeit der deutschsprachigen Kreise der Stadt und ihres Einzugsgebietes.«291 In dieser Charakterisierung durch Taubert deutet sich an, dass Albers in der Nachkriegszeit als seine Zielgruppe nicht allein die Emigration anpeilte, sondern ebenso die nach wie vor dem Nationalsozialismus anhängenden Kreise bediente: »Die Buchhandlung genießt einen guten Ruf, gelegentlich hörte man allerdings Einwände gegen die Pflege bestimmter Titel, die offenbar nicht immer die nötige Distanzierung gegen Namen einer dunklen Vergangenheit erkennen lassen.«292 Albers stand damals in Verbindung mit deutschen und Schweizer Verlagen und widmete sich auch dem Vertrieb deutscher Zeitungen und Zeitschriften, seine Libreria war außerdem eine Betreuungstelle des Bertelsmann Leseringes. Die unter der Regierung Allende eintretende Situation empfand er, aufgrund des Rückgangs der Büchereinfuhr, als Bedrohung seines Lebenswerks.293 Dieses wurde durch seine Frau Lieselotte und seine beiden in das Geschäft eingetretenen Söhne Eduardo und Carlos weitergeführt; das Unternehmen, nunmehr als Albers Libros Internacionales firmierend, bestand aus einer Stammbuchhandlung und zwei Filialen.294 In Valparaiso gründete Georg Sander* (gest. 1949/50) 1940 die Libreria Sander; die Buchhandlung wurde nach seinem Tod von Eduard Rosenberg übernommen.295 Rosenberg* (geb. 1897 Münster) hatte in Aachen als Rechtsanwalt gearbeitet; im Mai 1934 war er zunächst nach Kopenhagen geflüchtet und von dort ins Exil nach Chile gegangen.296 Da eine Tätigkeit als Rechtsanwalt dort ausgeschlossen war, orientierte sich Rosenberg um zu einer Tätigkeit als Buchhändler. Die Libreria Sander de Eduardo Rosenberg bezog Anfang der 1960er Jahre den Großteil ihres deutschsprachigen Bücherangebots über die Buchhandlung von Eduardo Albers, Santiago de Chile.297
291 Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 323. – Zur Libreria Eduardo Albers siehe auch Öhlberger: Wenn am Buch der Händler klebt, S. 73. 292 Taubert: Lateinamerika, S. 101. 293 Vgl. hierzu den von Gerhard Kurtze verfassten Nachruf (Zum Tode von Eduard Albers. In: Bbl. (Ffm) Nr. 35 vom 3. Mai 1974, S. 62 und die anschließenden Leserbrief-Reaktionen (in Bbl. (Ffm) Nr. 55 vom 12. Juli 1974, S. 1178 f., und Nr. 60 vom 30. Juli 1974, S. 1251). 294 Die Zentrale befand sich 1989/90 in der Nähe der Universität an der Adresse Dr. Manuel Barros Borgoño 422; die Filialen an der Stammadresse Merced 820 und in der Straße 11 Septiembre 2671; 1995 erfolgte eine neuerliche Verlegung der Geschäfte (11 Septiembre 2671, Vitacura 5648). 295 Taubert: Lateinamerika, S. 196. 296 Siehe hierzu Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht: Schicksale jüdischer Anwälte, S. 197, 199. 297 Taubert: Lateinamerika, S. 106.
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Brasilien: Die Livraria Kosmos in Rio de Janeiro Die bedeutendste Exilbuchhandlung in Rio de Janeiro stellte die – bis heute bestehende – Livraria Kosmos Editôra Rio de Janeiro mit Zweigstellen in São Paulo und Pôrto Alegre dar; ihr war nebst einem Antiquariat auch ein Verlag und Buchvertrieb angeschlossen. Ihre Gründer waren Erich Eichner*298 und Norbert Geyerhahn (1885 Wien – 1943 Rio de Janeiro) sowie dessen Söhne Walter Geyerhahn* (1912 Wien – 1990 Rio de Janeiro) und Stefan Geyerhahn.299 Die Geyerhahns waren in Wien im Kaffee-Importhandel tätig gewesen300 und hatten sich vorausschauend 1935 zur Emigration nach Brasilien entschlossen. Dort trafen sie auf Erich Eichner, auch er gebürtig aus Österreich-Ungarn, der bereits vor 1933 nach Brasilien gegangen war und dort einige Jahre lang in Rio de Janeiro als Buchhändler bei der Fa. Livraria Alemã, Deutsche Buch- und Zeitschriftenhandlung, von Frederico Will gearbeitet hatte. 1935 gründete Eichner ein eigenes Unternehmen, mit den Geyerhahns als Kompagnons, die selbst keine buchhändlerischen Fachkenntnisse hatten, sich in dieser Konstellation aber auf die von Eichner gesammelten Erfahrungen stützen konnten.301 Die Livraria Editôra Kosmos & Cia in der Rua do Rosario 135/137 im Zentrum Rio de Janeiros spielte bald eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des brasilianischen Buchgewerbes, zumal sie auf der Basis ihres Erfolgs auch Filialgründungen in São Paulo (geleitet von Stefan Geyerhahn), später auch in Porto Alegre vornehmen konnte. Wie bereits angedeutet, betätigten sich Eichner und Walter Geyerhahn nicht nur als Buchhändler mit Schwerpunkt auf fremdsprachiger Literatur, sondern auch als Antiquare und als Verleger mit Büchern, die sich in erster Linie auf die Kultur des Landes bezogen; so etwa wurde 1944 der aufwändige Fotobildband Cidade e Arredores do Rio de Janeiro. A Joia do Brasil bei Kosmos Editôra Erich Eichner & Cie. herausgebracht.302 Die Livraria Kosmos war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Geschäftspartner für den Vertrieb deutscher Verlage in Brasilien.303 Taubert hielt in seinem Bericht fest, es handle sich bei der Livraria Kosmos, in der damals insgesamt rund 70 298 Siehe auch die autobiographische Skizze: Erich Eichner: Einerseits und andererseits. In: Bbl. (Ffm) Nr. 81 vom 12. Oktober 1973, S. 1725‒1727. 299 Taubert: Lateinamerika, gibt S. 163 zu den Eigentümerverhältnissen an: »Diese GmbH., eines der führenden und besten buchhändlerischen Unternehmen Brasiliens, wurde 1935 von Erich Eichner und Norbert Geyerhahn gegründet. Teilhaber sind heute nach mehrfacher Kapitalerhöhung Erich Eichner mit 50 % und Walter und Stefan Geyerhahn, Söhne von Norbert Geyerhahn, mit je 25 %.« 300 Der bei der Fa. Hollinda AG als Kaffeeimporteur tätige Norbert Geyerhahn war auch als Autor von Operettenlibretti hervorgetreten; vgl. Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft, Bd. 1, S. 416. 301 Eichners früherer Arbeitgeber Frederico Will war offenbar über die neu entstehende Konkurrenz verärgert; auf der Grundlage eines von ihm an die deutschen Schrifttumsbehörden abgesandten denunziatorischen Briefs (SStAL, BV, F 11 763 Brief Fr. Will) wurde tatsächlich den deutschen Verlagen eine Belieferung der Firma untersagt (Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 163‒186 vom 1. Dezember 1941; S. 1; dort fälschlich: Fichner). 302 1954 gründeten sie zusammen mit der Amsterdamer Firma Meulenhoff & Co. den Verlag Colibris Editôra mit Sitz in Rio de Janeiro und Amsterdam. Hier erschien 1958 das bedeutende Nachschlagewerk Bibliografia Brasiliana. 303 Sarkowski: Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte 1945‒1992, S. 206.
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Angestellte beschäftigt waren, um »eines der führenden und besten buchhändlerischen Unternehmen Brasiliens«.304 Im Sortiment seien alle großen Sprachgebiete vertreten, »mit Vorrang für das Englisch-Amerikanische, gefolgt vom Deutschen, dem Portugiesischen, Spanischen und Französischen. Neben allgemeiner Literatur waren Technik, Naturwissenschaften, Landwirtschaft und Kunst gepflegte Spezialgebiete«. Das angeschlossene »vorzügliche Antiquariat«, das internationales Ansehen genieße, führe »vor allem Bücher über Südamerika, Brasiliana, ältere und moderne Naturwissenschaft, Goetheana, außerdem wissenschaftliche Zeitschriften. Wichtig ist auch die Graphikabteilung«. Das Beispiel der Livraria Cosmos belegte einmal mehr Tauberts Eindruck, dass die vor dem Nationalsozialismus geflüchteten deutsch-jüdischen Buchhändler das Kulturleben des Landes ungemein bereichert hätten: »damit kam ein neues Element ins Land, das, intellektueller als die traditionellen deutschsprachigen Einwanderer und Siedler, eine größere Aufgeschlossenheit für das Buch mitbrachte.«305 Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisteten die Betreiber der Livraria Kosmos für die Entwicklung des brasilianischen Buchhandels selbst: Erich Eichner, der als Mitglied des Brasilianischen Buchhändler- und Verlegerverbandes über Jahrzehnte ständiger Besucher der Frankfurter Buchmesse war, gründete gemeinsam mit den Brüdern Geyerhahn die erste südamerikanische nationale Organisation der International League of Antiquarian Booksellers (ILAB), die Associação Brasileira de Livreiros Antiquários (ABLA), die 1954 der International League of Antiquarian Booksellers (ILAB) beitrat. Walter Geyerhahn war lange Zeit Präsident der ABLA, bis zu seinem Tod 1990. Er gehörte zeitweise auch dem Repräsentantenhaus Guanabara an, war Mitglied der International Association of Secondhand Booksellers, der International Association of RetailBooksellers und im Verband der Antiquare Österreichs, und trug so, durch seine vielfältigen Verbindungen, nicht wenig zur Einbindung des brasilianischen Buchhandels in internationale Strukturen bei.306
Weitere Emigrantenbuchhandlungen in Brasilien In guter Lage, in der Rua Senador Dantas, nahe der Nationalbibliothek von Rio de Janeiro, bestand die Buchhandlung »Le Connaisseur«; sie war von Gerhard (auch Gert, Freitod Februar 1938)307 und seiner Mutter Else Apfel (1878‒1976)308 gegründet und nach 1938 von seinem Bruder Wolfgang Apfel (gestorben 1953) übernom-
304 Dieses und nachfolgende Zitate aus Taubert: Lateinamerika, S. 163 f.; sowie Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 331. 305 Taubert: Lateinamerika, S. 157. 306 Vgl. Associação Brasileira de Livreiros Antiquarios, Homepage [online]. 307 Siehe auch weiter unten zu der von Gerhard Apfel in São Paulo geführten Buchhandlung Livraria Transatlantica. 308 Eine detaillierte Familiengeschichte, in der auch die Biographie des im Pariser Exil als Anwalt und Publizist agierenden Alfred Apfel ihren gebührenden Platz innehat, findet sich online http://www.hans-dieter-arntz.de/spuren_der_juedischen_familie_apfel.html. Alfred Apfel und die Zwillingsbrüder Gerhard und Wolfgang Apfel waren Cousins.
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men worden. Die Apfels waren vermutlich keine Hitleremigranten im engeren Sinn, doch sahen sie sich – wie die Firmenakte des Börsenvereins ausweist 309 – fortgesetzten Belieferungsverboten ausgesetzt; so etwa verbot der Leiter der Fachschaft Zwischenbuchhandel jede Geschäftsbeziehung mit der Buchhandlung »Le Connaisseur«, »da sie in erheblichem Umfange Emigranten- und Hetzliteratur vertreibt«.310 Genährt wurde dieser Boykott auch durch Denunziationen regimetreuer Kollegen; so gab einer der örtlichen Konkurrenten in Rio, Frederico Will, in einem Brief an die reichsdeutschen Behörden Gerüchte über einen »jüdischen Geldgeber, ein[en] Herr Strauss aus Frankfurt / M.« weiter.311 Opfer von Denunziationen wurde auch Paul(o) Emil Bluhm*, der bis 1942 die Buchhandlung mit Verlag Livraria Editôra Paulo Bluhm in Belo Horizonte führte. In diesem Fall war es die Deutsche Gesandtschaft in Brasilien, die in einem Schreiben an den Börsenverein der Deutschen Buchhändler vom Dezember 1935 über Bluhm mitteilte, dass dieser »einige deutsche Emigranten beschäftigt«, und anregte, dass seine Firma unter jene jüdischen Unternehmen und Emigranten eingereiht wird, die von Deutschland »ungeachtet aller Rücksichten auf Ausfuhr- und Devisenaufkommen« nicht beliefert werden sollen.312 Nach Kriegsende, 1946, gründete Paul Emil Bluhm gemeinsam mit seinem Sohn Reynaldo Max Paul Bluhm* in Rio de Janeiro in der Rua Sá Freire 36/40 die Spezialbuchhandlung für technische Literatur Ao Livro Técnico Ltda. Unter der jahrzehntelangen Leitung Reynaldo Bluhms unterhielt das Unternehmen gute Kontakte zu deutschen Wissenschaftsverlagen, insbesondere zum Springer Verlag,313 gliederte sich aber auch selbst einen Verlag an, in welchem ausländische Fachliteratur in brasilianisch-portugiesischer Übersetzung erschien. Darüber hinaus betätigte sich die Firma als Grossist für Taschenbücher. Taubert gewann auf seiner Lateinamerika-Reise 1961 einen äußerst günstigen Eindruck von dem Unternehmen: »Die Firma arbeitet mit eigenen Vertretern, die das ganze Land bereisen. Organisation und Tätigkeit lassen dieses Unternehmen als eines der modernsten des Landes erscheinen«.314 Entsprechend positiv verlief die weitere Entwicklung: Buchhandlung und Verlag bestehen bis heute, letzterer mit einem beachtlich weitgefächerten Programm.
309 Die Akte SStAL, BV, F 11 763 enthält alle nachfolgend genannten Dokumente sowie auch die Kopie eines Briefes von Else Apfel vom 9. Mai 1939. 310 Rundschreiben des Leiters der Fachschaft Zwischenhandel / RSK 25. Februar 1938 [Erneuerung des im Rundschreiben vom 29. Oktober 1935 ausgesprochenen Belieferungsverbots]. Vgl. auch: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 9./11. März 1936, S. 4 [Warnung vor »Georg[!] Apfel«]; sowie Warnung vor Belieferung von »Le Connoisseur« in: Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag, Nr. 42 vom 18. Juli 1939, S. 6/S. 42. 311 SStAL, BV, F 11 763. 312 Schreiben der Dt. Gesandtschaft an den Börsenverein v. 19. Dezember 1935, SStAL, BV, F 11.763. Bemerkenswert, dass in diesem Fall Frederico Will in seinem denunziatorischen Schreiben »Paulo Bluhm, Bello[!] Horizonte«, zu jenen Buchhändlern zählt, die vom deutschen Buchhandel mit Rabatt zu beliefern wären, d. h. er betrachtet Bluhm als nichtjüdische Unternehmung. 313 Vgl. Sarkowski: Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte 1945‒1992, S. 206, sowie South America, Central America and the Carribean 2002. 10th Ed. 2002. Routledge 2001, S. 201. Zu den Bluhms vgl. auch Mario Pontes: Esses Bluhm de Koenigsberg. In: Jornal do Brasil, 17. September 1983, Caderno B [online]; Laurence Hallewell: O livro no Brasil: sua historia. 2. erw. Aufl. Sao Paulo: Edusp 2005, S. 499. 314 Taubert: Lateinamerika, S. 165.
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São Paulo als Zentrum der buchhändlerischen Emigration In São Paulo, der eigentlichen Kernzone des brasilianischen Buchgewerbes, kam es zur Gründung von bemerkenswert zahlreichen Emigrantenbuchhandlungen. Dabei herrschten dort für deutschsprachige Sortimente harte Konkurrenzbedingungen: Schon 1926 verzeichnete das Adressbuch des Ausländischen Buchhandels für São Paulo 18 Firmen, die an das Netzwerk des deutschen Buchhandels angeschlossen waren. Mindestens drei davon führten schwerpunktmäßig deutschsprachige Bücher: die Deutsche Buch- und Papierhandlung Livraria Alemã (gegr. 1921), die Deutsche Buch- und Kunsthandlung Curt Hahmann sowie die Fachliteratur aller Art, aber auch Belletristik, Kunstliteratur und Musikalien führende Livraria Edanee, Will & Cia., gegr. 1919 von Carlos Frischkorn und Friedrich (Frederico) Will,315 mit Filialen in Rio de Janeiro und Santos. Die Hitler-Emigranten, die nach 1933 São Paulo erreichten, fanden also hinsichtlich des deutschen Buchs keineswegs ein unbestelltes Feld vor. Bereits seit 1924 bestand in São Paulo die vom oben erwähnten Gerhard Apfel geführte deutsche Buchhandlung Livraria Transatlantica, die sich nach und nach zu einem lokal bedeutenden Unternehmen und nach 1933 auch zu einem Anlaufpunkt für Hitleremigranten entwickeln sollte. So befand sich unter den Angestellten der vor »rassischer« Verfolgung geflüchtete Marcus Wipper, zuvor Leiter der deutschen Abteilung in der Agencia International von Arrigo Boero, sowie ein Prokurist Reichmann, Vetter von Ernesto Reichmann (siehe weiter unten). 1935 trat ein neuer Teilhaber ein, der damals bereits auf eine bewegte Lebensgeschichte zurückblickte: Ernst (Wilhelm) Viebig [-Cohn]* (1897 Berlin – 1959 Eggenfelden, Bayern), der einzige Sohn aus der Ehe der Erfolgsschriftstellerin Clara Viebig mit dem jüdischen Verleger Friedrich Theodor Cohn.316 Er hatte in Deutschland eine Karriere als Musiker und Komponist begonnen, und sah sich nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« als »Halbjude« Repressalien ausgesetzt und 1934 zur Emigration gezwungen. In Brasilien konnte er in seinem Beruf nicht Fuß fassen, er wurde daher zuerst in Rio, dann in São Paulo Gesellschafter an der Livraria Transatlantica, und stand als solcher unter Beobachtung der deutschen Auslandsbehörden: Die Deutsche Gesandtschaft in Rio de Janeiro stellte Ende 1935 fest, dass Viebig »den Emigranten Dr. Worms[!] als aktiven Teilhaber in seine Buchhandlung aufgenommen« habe.317 Von der Fachschaft Verlag wurde daraufhin der Geschäfts-
315 Frederico Will hat sich 1926 von der Livraria Edanee getrennt und wurde seither im Adressbuch des Deutschen Buchhandels als alleiniger Inhaber der Livraria Alemã geführt. 316 Friedrich Theodor Cohn, der 1903 ein kaiserliches Edikt erwirkt hatte, das den Nachkommen seiner Frau das Recht zusicherte, deren Familiennamen zu tragen, war zunächst Teilhaber am Fontane Verlag, ab 1906 Alleineigentümer des Verlags Egon Fleischel & Co., den er 1921 in die Deutsche Verlags-Anstalt überführte. 317 SStAL, BV, F 11.763 (Schreiben der Dt. Gesandtschaft an den Börsenverein vom 19. Dezember 1935; denunziatorisches Schreiben von Frederico Will). – Vermutlich handelte es sich nicht um eine Teilhaberschaft, sondern um ein Angestelltenverhältnis. Zu Worm* vgl.: Fritz Worm (1887‒1940), Rundfunkredakteur, Verfolgter des NS-Regimes (http://www.rhei nische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/W/Seiten/FritzWorm.aspx). Worm hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Düsseldorf die auf der Königsallee gelegene Ohle’sche Buchhandlung übernommen und sie zu einem Treffpunkt für Intellektuelle und Bibliophile gemacht. Ende der Zwanziger Jahre gelangte er über die freie Mitarbeit im Radio zur Festanstellung als
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verkehr mit der Firma untersagt. Worms Anstellung in der Livraria Transatlantica war offenbar nur von kurzer Dauer; die Filiale wurde bereits im April 1936 geschlossen, möglicherweise infolge des deutschen Belieferungsverbots.318 Seit Mitte der dreißiger Jahre betrieb Kurt Fabian*, der vermutlich aus Berlin stammte, in São Paulo die Agencia Literaria Europaea. Nach Auskunft der Auslandsorganisation der NSDAP vertrieb Fabian hauptsächlich »Hetz- und Emigrantenliteratur«; in den Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag erschien daher die eindeutige Androhung: »Die Lieferung an diese Firmen müßte als politische Unzuverlässigkeit angesehen werden«.319 Tatsächlich hat sich Fabian eng an die Emigrantenkreise angeschlossen, wie seine Mitarbeit an der Exilzeitschrift Das Andere Deutschland (Buenos Aires) und anderen Organen belegt.320 Fabian hat seinen Wohnsitz nach dem Krieg nach Montevideo / Uruguay verlegt; Ende 1947 ist er nach Deutschland zurückgekehrt. Wie Kurt Fabian ist auch Dr. jur. Henrique Veit* seitens des Börsenvereins mit einem Belieferungsverbot belegt worden. Daraus lässt sich schließen, dass auch Veit aus Hitlerdeutschland geflüchtet war bzw. sich in Brasilien im Umkreis der Emigration bewegte. Den Spitzelberichten zufolge war Veits Livraria Guatapará die Nachfolgebuchhandlung von Fabians Agencia Literaria Europaea.321 Die Livraria Elite in São Paulo war eine jener Buchhandlungsgründungen, die von einem »Quereinsteiger« vorgenommen wurde: Eduard Friedländer (Friedlander)* (geb. 1894 Berlin) war vor seiner Zwangsemigration Rechtsanwalt in Berlin; als Jude mit Berufsverbot belegt, emigrierte er nach Brasilien und errichtete dort am 1. Oktober 1939 die Livraria Elite. Mitinhaber und Geschäftsführer waren (mindestens ab 1953) Franz Luft* und Ilse Haas-Luft, die ebenfalls aus Deutschland geflüchtet waren.322 Taubert berichtete von der Livraria Elite, die fast nur deutschsprachige Bücher führte: Die Buchhandlung Elite erfreut sich überall eines guten Rufes. Herr Luft gehört zu den aktivsten Buchhändlern des Landes. […] Der Kundenkreis besteht mit starkem Einschlag der jüdisch-deutschen Emigration aus Österreichern, Schweizern und Einwanderern aus Ost- und Südosteuropa.323
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»Dezernent für Literatur und Geisteswissenschaften« bei der Westdeutschen Rundfunk A. G. (WERAG). Am 1. November 1935 ging Fritz Worm mit seiner Frau Luise nach Brasilien, wobei seine kostbare Bibliothek und ein Gemälde von Franz Marc gerettet werden konnten. Viebig kehrte nach 1958 nach Deutschland zurück. Vgl. Ernst Viebig: Die unvollendete Symphonie meines Lebens. – Vgl. auch den Art. »Viebig, Ernst« in Wikipedia. SStAL, BV, F 11.763 (Brief v. Frederico Will an den BV); Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag Nr. 9 vom 11. März 1936, S. 4. Vgl. seine Selbstauskünfte in Kurt Fabian: Der Kampf der deutschen Antifaschisten in São Paulo (1933‒1945). Ein Rückblick. In: Notgemeinschaft deutscher Antifaschisten. Rio de Janeiro, Nr. 13, 1946, S. 12. SStAL, BV, F 11.763 (Brief von Frederico Will, 16. April 1938; VM Nr. 43, 4. Oktober 1939 (Belieferung der Agencia Internacional – Sao Paulo, Caixa Postal 1405 untersagt); Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag Nr. 28, S. 4; Machado: A Etiqueta de Livros no Brasil, S. 118 [online]. Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 331; Diário Oficial do Estado de São Paulo [online]. Taubert: Lateinamerika, S. 167; vgl. ferner Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 331.
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Tatsächlich hatte sich Friedländer für die Interessen der Emigration eingesetzt; so etwa war er 1942 um den Zusammenschluss der freien deutschsprachigen Buchhandlungen in Südamerika bemüht.324 Die 1936 von Ernesto Reichmann*325 in São Paulo gegründete Buchhandlung Livraria Cientifica war, wie ihr Name bereits signalisierte, auf Fach- und Wissenschaftsliteratur spezialisiert und als solche ein wichtiger Geschäftspartner für den Vertrieb der Bücher des Springer Verlags.326 Ein anderer Reichmann, Henrique (früher Heinrich) Reichmann*, war 1943 Gründer der Livraria Triangulo in São Paulo, außerdem Gründer des Verlags Poligono, der technische Literatur herausbrachte. Diesen Verlag verkaufte Reichmann 1977/1978 an Livro Aberto in Rio de Janeiro. In der Buchhandlung Triangulo folgte ihm sein Sohn Ronnie Reichmann nach.327 Nicht bekannt ist das Gründungsdatum der Buchhandlung, die der Hitleremigrant Frederico Cohn* gemeinsam mit seiner Frau Hilde in São Paulo betrieb, die Livraria Peter Pan. Sie hat in der Rua Barão do Triunfo, 275, mindestens bis ans Ende der 1960er Jahre bestanden.328 Ebenfalls in São Paulo, an der Adresse Rua Don José de Barros 168, eröffnete Else Rosenthal* 1941 eine kleine Sortimentsbuchhandlung, die sich, nach Tauberts Bericht, »vorwiegend mit deutschsprachigen Büchern, daneben aber auch mit englischsprachigen und französischsprachigen beschäftigt. Gepflegt wird Belletristik, die in einer guten Auswahl vorhanden ist.«329 Die Buchhandlung bestand jedenfalls bis an den Beginn der sechziger Jahre. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs war der aus Berlin stammende Buchhändler Knut Schendel* nach Brasilien emigriert,330 zur Gründung seiner Buchhandlung kam es aber erst sehr viel später: 1964 errichtete er mit der Geschäftspartnerin Hannelore Kersten, einer deutschen Immigrantin, in São Paulo die Livraria Canuto, später wurde Kerstens Sohn Jonny Wolff Teilhaber. Die Buchhandlung Canuto / Wolff war für deutsche Wissenschaftsverlage bald ein wichtiger Vertriebspartner für ganz Brasilien.331 Heute wird die Buchhandlung in der dritten Generation von Tatiana Wolff geführt. 324 Vgl. Berendsohn 2, S. 146; Cazden: The Free German Book Trade, S. 354. 325 Auch Ernesto Reichmann war Opfer von Denunziationen, vgl. SStAL, BV, F 11.763 (Schreiben der Dt. Gesandtschaft an den Börsenverein v. 19. Dezember 1935; Schreiben von Frederico Will). 326 Vgl. Sarkowski: Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte 1945‒1992, S. 206. 327 Vgl. Laurence Hallewell: O livro no Brasil: sua historia. 2., rev. u. erw. Aufl., São Paulo: Edusp 2005, S. 686. 328 Vgl. Fischer: Handbuch, sowie: Machado: A Etiqueta de Livros no Brasil, S. 136 [online]. 329 Taubert: Lateinamerika, S. 169. 330 Schendel hatte 1954 in São Paulo die aus der Schweiz stammende Jüdin Myrrah Dagmar Dub (1919‒1988) kennengelernt, die zusammen mit ihrem ersten Mann Osip Hargesheimer als »displaced person« nach Südamerika emigriert war. Mira Schendel machte eine internationale Karriere als Malerin. Vgl. hierzu diverse biographische Artikel zu Mira Schendel (online) sowie: Geraldo Souza Dias: Mira Schendel in Brasilien. Der Beitrag emigrierter europäischer KünstlerInnen zur Modernisierung Lateinamerikas. In: ila 338: Den Nazis entkommen ‒ Europäische Künstlerinnen in Lateinamerika , S. 11‒14. 331 Vgl. Sarkowski: Der Springer-Verlag: Stationen seiner Geschichte 1945‒1992, S. 206.
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Eva Herz und die Erfolgsgeschichte ihrer Livraria Cultura Von 1948 datiert die Gründung der Livraria Cultura durch die Emigrantin Eva Herz* (1912 Berlin – 2001 São Paulo / Brasilien); das Unternehmen beeindruckt durch seine bemerkenswert expansive Entwicklung, die dazu geführt hat, dass sich seine Geschäftstätigkeit heute über ganz Brasilien erstreckt.332 Herz war 1938 mit ihrem Mann und ihrer Mutter aus Berlin vor »rassischer« Verfolgung nach Brasilien geflüchtet und hatte in São Paulo 1939 damit begonnen, von ihrer Wohnung aus mit anfänglich nur zehn deutschsprachigen Büchern aus ihren privaten Beständen einen Buchverleih aufzubauen. 1947 errichtete sie dafür eine Firma, 1950 begann sie mit dem Verkauf von Büchern und errichtete die Livraria Cultura. Erst dreißig Jahre später, 1969, gab sie den Buchverleih auf und widmete sich ausschließlich dem Sortimentsbuchhandel. Im gleichen Jahr übernahm ihr Sohn Peter / Pedro die Geschäftsleitung; ein größeres Ladenlokal wurde in der Avenida Paulista, im Gebäude der Nationalversammlung, eröffnet. 2000 folgte eine Niederlassung in einem Shopping-Center. Nach dem Tod von Eva Herz expandierte das Unternehmen weiter: Filialbetriebe wurden 2003 in Porto Alegre, 2004 in Recife und 2005 in Brasília eröffnet, weitere folgten in Fortaleza und in São Paulo selbst. Insgesamt gehören heute elf Buchhandlungen zu der Buchhandelskette; der »FlagshipStore« in der Avenida Paulista ist mit 4.300 qm auf drei Etagen das größte Buchkaufhaus Brasiliens. Die Buchhandlungen, die auf der Basis eines 2,6 Millionen Titel umfassenden Katalogs durchschnittlich 150.000 Titel vorrätig halten (darunter auch viele fremdsprachige), sind sowohl Zentren der Kultur wie auch des Entertainments. 1995 war die Livraria Cultura in Brasilien Pionier im Online-Buchhandel. Pedro Herz und seine beiden Söhne Sergio und Fabio beschäftigen in ihrem in drei Einheiten gegliederten Unternehmen insgesamt mehr als tausend Angestellte und verfolgen weiterhin die Geschäftsprinzipien ihrer Mutter, Qualität, Service und breite Auswahl; sie haben damit 800.000 namentlich registrierte Kunden gewonnen, die monatlich einen Newsletter erhalten. 2010 wurden sowohl in Brasília wie in São Paulo jeweils ein Veranstaltungszentrum »Teatro Eva Herz« eröffnet, wo neben szenischen Aufführungen auch Konzerte, Shows und öffentliche Diskussionen stattfinden.
Kolumbien: Die Buchhandlungen von Hans Ungar und Karl Buchholz in Bogotá Zunächst waren es kleinere Buchhandlungen, die von Emigranten in Kolumbien errichtet worden sind, wie etwa 1934 in Medellin die Libreria Central der aus Frankfurt am Main stammenden Brüder Alfred und Julius Rosenfeld 333 oder die in Cali, im Herzen
332 Vgl. zum Folgenden u. a. Livraria Cultura [Homepage; online]; Brasiliens größtes, bestes, meistbesuchtes Buchkaufhaus ‒ von verfolgten Berliner Juden 1948 in Sao Paulo gegründet. In: Klaus Hart Brasilientexte [online]. 333 Schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993. – Einer Anzeige in der Zeitschrift Aufbau zufolge hat ein Alfred Rosenfeld in Guatemala Elsa geb. Goldmann (früher Breslau) geheiratet (Aufbau, 18. Juni 1943, S. 11). Nach Auskunft von Taubert stand die Librería Central hinsichtlich des Imports deutscher Bücher in enger ge-
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Kolumbiens, von Gustavo Jiminez Cohen betriebene Libreria Cientifica de Occidente.334 Die Situation des Sortimentsbuchhandels in Bogotá war jedoch seit den 1940er Jahren und über einen langen Zeitraum hinweg gekennzeichnet von der Konkurrenzsituation zweier bedeutender Buchhandlungen, die aus sehr unterschiedlichen Voraussetzungen heraus entstanden waren, jener von Hans Ungar und jener von Karl Buchholz. Hans Ungar* (1918 Wien – 2004 Bogotá) hatte Kolumbien als Zwanzigjähriger mit 100 Dollar in der Tasche erreicht, unter Zurücklassung seiner gesamten Familie (sie wurde in Auschwitz-Birkenau ein Opfer des Holocaust) und nach einem abenteuerlichen Fluchtweg.335 In Bogotá fand er eine Anstellung in der 1928 von dem ebenfalls aus Wien stammenden Pablo Wolf gegründeten Librería Central, mit englischsprachigen Büchern und großem Kundenkreis. Als Wolf 1940 starb, konnte er die Firma als Geschäftsführer übernehmen und mit Teilzahlungen nach und nach in sein Eigentum bringen. Dies gelang dank gutem Geschäftsgang in kurzer Zeit. Wesentlich unterstützt wurde Ungar dabei von seiner Frau, der Wiener Emigrantin Lilly Bleier, die 1939 nach Kolumbien gekommen war und die er 1943 geheiratet hatte. Trotz fehlender Ausbildung konnten die beiden dank ihrer Buchbegeisterung (Ungar legte sich nach und nach eine Privatbibliothek zu, welche zu den drei größten Bogotàs gehörte) die zunächst nicht sehr große Librería Central in der Folgezeit ‒ in kollegialem Wettbewerb mit der Buchhandlung Buchholz stehend ‒ zu einem bedeutenden Buchhandelsunternehmen ausbauen. Die Buchhandlung wechselte mehrmals den Standort und vergrößerte sich dabei jedes Mal; auch wurde eine Filiale errichtet. Allmählich nahm das spanischsprachige Buch im Sortiment die erste Stelle ein, ohne dass die fremdsprachige Literatur vernachlässigt worden wäre. Akzente lagen u. a. auf Kunst und Literatur, Kinderbüchern, Geschichte sowie Reiseliteratur über Kolumbien. Bereits seit 1946 war der Buchhandlung auch eine Kunstgalerie El Callejón (»Die Sackgasse«) angeschlossen, die erste ihrer Art in Kolumbien. Ungar zählte prominente Politiker, Wissenschaftler und Künstler zu seinen Kunden; die Hauptstadt-Buchhandlung wurde auch als Treffpunkt zum Gedankenaustausch genutzt. Ein Treffpunkt war sie in den Anfangsjahren auch für Hitlerflüchtlinge aus ganz Europa, insbesondere die Exilösterreicher; auch hielt sie viele Werke der deutschsprachigen Exilliteratur vorrätig. Darüberhinaus baute Ungar ein weitverzweigtes nationales Vertriebssystem auf und unterhielt an verschiedenen Orten Kolumbiens Verkaufsstellen für billige Buchreihen, Zeitschriften, Illustrierte und fremdsprachige Bücher; auch in einer der großen Banken des Landes betrieb er einen Buch- und Zeitschriftenkiosk.336 Später las Ungar über mehrere Jahre an einer Universität in Bogotá über Literatur, hatte ein allsonntägliches Radioprogramm mit Buchbesprechungen auf einem Kultursender und war auch sonst publizistisch tätig; schon seit 1960 erschienen in der
schäftlicher Verbindung zu der nachfolgend vorgestellten Libreria Central Hans Ungars in Bogotá (Taubert: Lateinamerika, S. 71). 334 Schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993. 335 Brief von Hans Ungar an den Verf. vom 4. Oktober 1993; [Kurzbiographie von H. U. mit weiterführenden Links in:] Exil-Archiv, http://www.exil-archiv.de/; Wie weit ist Wien. Lateinamerika als Exil für österreichische Schriftsteller und Künstler, S. 195; Kaiser-Bolbecher: Österreichische Emigration in Kolumbien; Bernhard Brudermann [über H. U.] In: David. Jüdische Kulturzeitschrift [online, mit Bild]. 336 Vgl. Taubert: Lateinamerika, S. 69 f.
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kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo seine Artikel, häufig mit Österreich-Bezug.337 Hans Ungar starb 2004; seine Frau Lilly stand noch im hohen Alter im Geschäft. Als Karl Buchholz* (1901 Göttingen – 1992 Bogotá) 1951 in Kolumbien ankam, konnte er bereits auf Unternehmensgründungen in unterschiedlichsten Ländern zurückblicken.338 Den Grundstein für seine fulminante Laufbahn als Buch- und Kunsthändler hatte er ab Mitte der 1920er Jahre in Berlin mit einer (mehrfach übersiedelten und sich dabei, auch durch Filialgründungen ständig vergrößernden) Sortimentsbuchhandlung gelegt. 1934 eröffnete Buchholz in der Leipziger Straße eine repräsentative Buchhandlung mit Galerieräumen in der ersten Etage, als Leiter der Galerie engagierte er den aus Hamburg stammenden Curt Valentin*, der zuvor bei dem bedeutenden Kunsthändler Alfred Flechtheim tätig gewesen war. 1936 emigrierte Valentin in die USA, und Buchholz belieferte ihn über holländische Kunden mit Werken der NS-geächteten »entarteten Kunst«, die der im März 1937 in New York eröffneten Buchholz Gallery Curt Valentin sofort internationale Aufmerksamkeit sicherten. In Deutschland suchte Buchholz, der einen prominenten Kundenkreis aus Adel, Kunst und Wissenschaft aufgebaut hatte, seine Buchhandlung (eine »Insel im braunen Meer«, so sein ehemaliger Mitarbeiter Arthur Kersten 1963) auch unter den widrigen Umständen der NS-Zeit weiterzuführen, doch wurde die Situation ab 1937 prekär. Mehrere Durchsuchungen nach Werken verbotener Schriftsteller fanden statt, auch die Galerie wurde kontrolliert. Andererseits wurde Buchholz 1938 (neben anderen) als Kunstsachverständiger von den NS-Behörden beauftragt, »entartete Kunst« zu Zwecken der Devisenbeschaffung ins Ausland zu verkaufen, darunter Werke von Kokoschka, Jawlensky, Max Ernst, Beckmann usw. Im Rahmen der Verkaufsverhandlungen dieser kommissionsweise überlassenen Kunstwerke reiste Buchholz 1939 nach Norwegen, Frankreich sowie in die Schweiz, wo er Valentin treffen konnte. Schon Jahre zuvor hatte er über seinen Mitarbeiter Otto Wittenborn* Geschäftsbeziehungen zur englischen Buchbranche angeknüpft, denn seine langfristige Absicht war es, eine große internationale Buchhandlung zu gründen. Dem NS-Regime stand Buchholz innerlich ablehnend gegenüber, ohne aber mit ihm zu brechen; insofern kann ihm ein Emigrantenstatus, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, nicht zugestanden werden. Noch 1940 konnte Buchholz in Berlin in der Pommerschen Straße ein kunstwissenschaftliches Antiquariat errichten, das von Dr. Hans Rose geleitet wurde. 1942 wurde die Galerie Buchholz durch die NS-Behörden geschlossen; mit Kriegseintritt der USA war dann auch jede Verbindung zu Valentin unterbrochen. Bemerkenswert bleiben die Aktivitäten, die Buchholz auf eine kaum begreifliche Weise noch in den schwierigsten Kriegsjahren im In- und Ausland zu entfalten imstande war: Bereits im Dezember 1940 hatte er in Bukarest die Libraria si Expozitia de Arta
337 Bereits 1941 hatte Ungar zusammen mit Bernhard Mendel* und Koloman Brunner-Lehenstein das »Comité de los Austriacos Libres« (»Komitee für ein freies Österreich«) aufgebaut. In Anerkennung seiner Leistungen für den österreichisch-kolumbianischen Kulturaustausch erhielt er von Seiten Kolumbiens die zweithöchste Auszeichnung des Landes (»Cruz de San Carlos«), von Seiten Österreichs das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. 338 Vgl. zum Folgenden Godula Buchholz: Karl Buchholz. Buch- und Kunsthändler im 20. Jahrhundert; sowie Fischer: Handbuch, mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen.
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Buchholz eröffnet, die bis 1944 bestand und zunächst von Teilhabern geführt wurde. Anfang 1943 kündigte Buchholz den Geschäftsführern und nahm die Leitung der florierenden Buchhandlung selbst in die Hand. Im Juli 1943 errichtete er in Lissabon an der Avenida da Liberdade die Livraria Buchholz Exposições, eine elegante Buchhandlung mit internationalem Sortiment und einer Kunstgalerie, deren Leitung von 1943 bis 1984 seine langjährige Berliner und Bukarester Mitarbeiterin Katharina Braun innehatte. »Hier konnte er nun endlich die von den Nazis verbotenen Schriftsteller wie z. B. Thomas Mann verkaufen, was ihn unheimlich befriedigte. Was die Buchhandlung Buchholz so besonders machte, war die Tatsache, dass sie innenarchitektisch[!] völlig anders war als portugiesische Buchhandlungen. Die drei Etagen wurden durch eine Wendeltreppe verbunden und man hatte auf jeder Etage Leseecken und gemütliche Sofas. Während es in portugiesischen Buchhandlungen nicht gerne gesehen wird, wenn man in den Büchern blättert und in ihnen liest, war dies bei der Buchhandlung Buchholz so gerade erwünscht«.339 Im November 1943 konnte Buchholz aus der Berliner Buchhandlung, der Galerie und dem Antiquariat Kunstgegenstände in die Uckermark verbringen sowie die Buchhandlungen in Lissabon und Bukarest mit größeren Büchersendungen beschicken, bevor das Geschäft in der Leipziger Straße durch Bomben zerstört wurde. Mit weiteren geretteten Büchern machte er in der Nähe ein kleines Ladengeschäft auf, das Büro wurde in das Antiquariat übersiedelt, das im Februar 1944 beschädigt und zunächst nach Dahlem, bald darauf in eine von Buchholz neu erworbene Villa in Grunewald verlegt wurde. Die Kriegsereignisse in Rumänien führten dazu, dass die sowjetische Besatzung die Libraria si Expozitia de Arta Buchholz als Feindesgut enteignete, sie wurde als »kommunistische« Buchhandlung weitergeführt. Im Juni 1944 fasste Buchholz den Plan, in Madrid eine neue internationale Buchhandlung zu gründen, und es gelang ihm tatsächlich, Geldgeber für die spanische Aktiengesellschaft (Sociedad Anónima) Librería Buchholz, S.A., zu finden. Am 21. November 1945, mit ausdrücklicher Billigung der Alliierten, konnte er mit seinem Teilhaber Erich Gaebelt die Librería Buchholz Exposiciónes, am Paseo de Recoletos, 3 eröffnen. Auch in diesem Fall fand Buchholzʼ anspruchsvolles Konzept eines noblen, internationalen Sortiments mit angeschlossenem Kunsthandel und Ausstellungen großen Anklang, doch die finanziellen Erträge blieben zu gering. Die Pläne, in Berlin den Neuaufbau der Buchhandlung zu beginnen, zerschlugen sich wegen der Bestimmungen der alliierten Besatzungsmächte, denen zufolge Buchholz erst wieder 1949 nach Deutschland einreisen konnte. Deshalb setzte er seine bewährte Mitarbeiterin Gerda Luedde-Neurath als Geschäftsführerin der Madrider Buchhandlung ein, die in Francos Spanien zu einem Hort für freie Literatur und Kunst wurde.340
339 http://planetportugal.blogspot.com/2009/06/buchholz-buchhandlung.html, mit weiteren Informationen. Die Buchhandlung, seit 1965 im Zentrum der Hauptstadt an der Adresse Rua Duque de Palmela 4, wurde seit 1984 von der deutschen Sortimenterin Karin Sousa de Ferreira geführt. 2009 geriet sie in eine wirtschaftliche Krise, 2010 wurde sie von der Verlagsgruppe Leya übernommen. Die Livraria Leya na Buchholz wurde 2019 vom Publikum zum drittenmal in Folge zur beliebtesten Buchhandlung Portugals gewählt (Livraria Leya na Buchholz continua a ser a preferida dos portugueses [online]). 340 Seinen Anteil am Madrider Geschäft verkaufte Buchholz gegen Ende der 1960er Jahre bis auf 7 % an seinen Teilhaber Gaebelt.
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Abb. 14: Die Libreria Buchholz in Bogotá/Kolumbien in den 1970er Jahren auf der Avenida Jiménez; sie nimmt – bis auf eine Etage – das gesamte Gebäude ein und war damals die bestsortierte in ganz Lateinamerika.
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Buchholz selbst wanderte 1951, auf Ratschlag eines befreundeten Konsuls, mit der Familie nach Kolumbien aus und errichtete in Bogotá die internationale Buch- und Kunsthandlung Librería Buchholz Galería, bis 1983 in der Avenida Jiménez de Quesada 8‒40, danach in der Carrera 7. Der Aufbau des Unternehmens erfolgte in den ersten Jahren mit Unterstützung eines Geschäftspartners, Dr. A. M. Bergmann, einem Kolumbianer deutscher Abstammung; dieser schied aber bereits 1954 aus, und an seine Stelle trat Buchholzʼ Ehefrau Maria Luise (1898‒1983). Unterstützt wurde das Ehepaar außerdem durch Tochter Godula, die die Kunstabteilung des Hauses führte, und Sohn Albert(o) (1937 in Berlin geboren, gestorben 1998), der in den zwei Bogotaner Buchhandlungen, denen im März 1990 noch eine dritte folgte, mitarbeitete, und nach dem Tod des Vaters deren Geschäftsleitung übernahm. Regelmäßig wurden auch Kunstausstellungen veranstaltet, u. a. eine große Ausstellung »Expressionismus in Deutschland«. Taubert fand bei seinem Besuch ein Unternehmen vor, das »auch in Frankreich, in England und in Nordamerika einen ausgezeichneten Ruf [genießt]. Es ist erstaunlich, in welch hervorragendem Maße es dem Inhaber gelang, in einer ursprünglich nicht allzu vielversprechenden Umgebung eine Buchhandlung aufzubauen, die sich in jeder europäischen Hauptstadt glanzvoll behaupten würde«.341 In der Tat war unter der Leitung der Familie Buchholz ein imposantes, mehrstöckiges Buchkaufhaus entstanden, zu einem Zeitpunkt, als dieser Typus in Deutschland und Europa noch nicht bekannt gewesen ist. Von 1960 bis 1984 gab Buchholz die Zeitschrift Eco heraus, die in 272 Nummern erschien und die spanischsprachige Welt mit der deutschen Sprache und Literatur bekannt machen wollte, aber auch als Brücke zur Vermittlung zeitgenössischer lateinamerikanischer Literatur in den deutschsprachigen Raum diente. Buchholz, der 1963 mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet wurde, repräsentierte so »den Prototyp eines hervorragend arbeitenden und geistig beweglichen und gründlichen deutschen Auslandsbuchhändlers […], der sich aber in Anpassung an die Orts- und Landesverhältnisse und eigenen kosmopolitischen Neigungen folgend, dem internationalen Buch im weitesten Umfang widmet.«342
Argentinien: Gründungen der späten 1930er Jahre in Buenos Aires In Argentinien und besonders in der Hauptstadt Buenos Aires entstand eine Reihe von Buchhandlungen, mit denen deutsche Exilanten die kulturelle Szene nachhaltig bereicherten. Das gilt in hohem Maße auch für die Libreria Juan Henschel in Buenos Aires, die aber im Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel genauer vorgestellt werden soll. Eine wichtige Funktion als Stützpunkt für die Verbreitung deutschsprachiger Exilliteratur übte schon seit Mitte der 1930er Jahre die Buchhandlung Agencia Internacional de Diarios in Buenos Aires aus, deren Inhaber ein jüdischer Emigrant namens Alejandro Barna war, vermutlich aus Ungarn stammend. Diese Funktion wird beglaubigt zum einen durch ein vom Börsenverein in Leipzig ausgesprochenes Belieferungsverbot, zum anderen aus einer Anzeige im Aufbau vom 10. Dezember 1935, in der sich Libros Alejandro Barna & Hijo als »Südamerikas größte antifaschistische Buchhandlung« be-
341 Taubert: Lateinamerika, S. 68 f.; vgl. ferner Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 316 f. 342 Taubert: Lateinamerika, S. 68.
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zeichnet und als ihre Sparten angibt »Internationaler Buchhandel, Deutsches Antiquariat, Spanischer Buchverlag, Vertrieb und Vermittlung von Übersetzungsrechten freier Bücher in allen Sprachen«.343 1938 war das Jahr, in dem gleich eine ganze Reihe von Neugründungen hinzu kamen. Das gilt etwa für die von Johan Luzian* (1903 Hamburg – 1996 Chascomús) errichtete Libreria Johan Luzian.344 Es war dies allerdings bereits sein zweiter Anlauf für eine Existenzgründung in Südamerika: 1936 hatte er bereits in Paraguay versucht, im Sortimentsbuchhandel Fuß zu fassen, und dort mit deutschsprachigen Büchern gehandelt. Nach Paraguay war Luzian emigriert, da er wegen seiner »Mischehe« mit Leonore Loewenstein an der Weiterführung seiner 1930 in München begonnenen Tätigkeit als Abteilungsleiter beim Langen-Müller-Verlag gehindert worden war. Der in Buenos Aires errichteten Libreria (auch Bücherstube Belgrano) war nur kurze Bestandsdauer beschieden: nach Kriegsausbruch wurde sie von der deutschen Kolonie boykottiert und musste ihren Betrieb einstellen. Luzian ging nach Chascomús in der Provinz Buenos Aires, wurde dort anders gewerblich tätig, blieb jedoch nebenher der Literatur und dem Buchhandel verbunden, indem er von 1965 bis 1971 den Buchverlag Editorial el Lago mit deutschen und argentinischen Autoren betrieb, weiterhin Beiträge für Emigrantenzeitschriften (Das Andere Deutschland) sowie deutschsprachige Tageszeitungen und Journale in Argentinien lieferte und als Verfasser von Romanen, Biographien, Lyrikbänden und Sachbüchern hervortrat.345 Im Stadtteil Belgrano, der ein von deutschen Emigranten bevorzugtes Wohngebiet war, entstand 1938 die Libreria Wengerer. Über die Gründungsumstände ist nichts Näheres bekannt, jedenfalls aber übernahm 1940 Robert Sternau* (geb. 28. Juli 1900)346 die Buchhandlung, die er später in Libreria Belgrano umbenannte. Sternau war in Düsseldorf als Buchhändler tätig gewesen, ehe er mit seiner Familie über Paris und Ibiza nach Argentinien emigrierte. Entsprechend der Umgebung und des Publikums bestand das Lager der Buchhandlung, der auch eine Leihbücherei angeschlossen war, Anfang der 1960er Jahre zu 85 Prozent aus deutschsprachigen Büchern. Ab 1942 kam vor Ort noch die von dem Ehepaar Fischer geführte Libreria Fischer hinzu, eine deutschsprachige Buchhandlung mit allgemeinem Sortiment und angeschlossener Leihbücherei, die nach dem Tod ihres Mannes von Katharina Fischer* weitergeführt wurde.347
343 SStAL, BV, F 13254; Aufbau 9. Jg., Nr. 50, S. 16. Die Adresse war Maipu 441, Buenos Aires. 344 Luzian hieß mit Geburtsnamen Friedrich Johannes Adolf Lindenkohl, er änderte seinen Namen 1927. 345 Luzian bekleidete zahlreiche Ehrenämter (u. a. als Präsident der öffentlichen Volksbücherei in Chascomús), war Mitglied des argentinischen Schriftstellerverbandes und war auch in politischen Funktionen tätig (1962/1963 trotz deutscher Staatsangehörigkeit Stadtverordneter der Konservativen Partei in Chascomús). 1965 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seine künstlerische und organisatorische Arbeit im Dienste deutsch-argentinischer Verständigung. 346 Schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993; Aufbau, 27. Juli 1945, S. 19; Aufbau vom 2. August 1985, S. 30; Taubert: Lateinamerika, S. 121. 347 Taubert: Lateinamerika, S. 124. Von der Libreria Fischer in Belgrano ist mit dem 1. April 1942 das genaue Gründungsdatum überliefert.
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Am 26. Dezember 1938 eröffnete Barbara Herzfeld*, geb. Friedmann, in Buenos Aires ihre Bücherstube Reconquista mit angeschlossener Leihbibliothek. Herzfeld war in Deutschland als Journalistin und Übersetzerin tätig gewesen; 1927 wurde sie die zweite Ehefrau von John Heartfield. Sie war mit ihm 1933 nach Prag geflüchtet, trennte sich jedoch von ihrem Mann, ging zuerst nach Paris und emigrierte dann nach Argentinien. In den 1950er und 1960er Jahren firmierte die Buchhandlung, die deutsches Antiquariat führte, aber auch spanischsprachige Neuerscheinungen bereit hielt, unter dem Namen Libreria B. de Herzfeld an der Adresse Casilla de Correo, 2450; Barbara Herzfeld kam wiederholt nach Deutschland zur Frankfurter Buchmesse.348 Ohne genauere zeitliche Verortung und nur über eine Vertrauliche Mitteilung der Fachschaft Verlag aus dem Jahr 1942 ist bekannt, dass in einem Unternehmen Editorial Libri als deutscher Buchhändler Reinhard Völter* (gest. 1952 Buenos Aires) tätig war. Völter war »nicht-arisch« verheiratet und 1936 als deklarierter Nazigegner aus Deutschland emigriert; die Reichsschrifttumskammer warnte vor seiner Belieferung.349
Lili Lebachs Librería Pigmalión in Buenos Aires Einen besonderen Nimbus und weltweite Bekanntheit erworben hat die Librería Pigmalión von Lili Lebach* (geb. 1911 Wuppertal-Elberfeld).350 Der am 8. Juli 1942 am »Broadway« von Buenos Aires, der Avenida Corrientes, gegründeten Sortimentsbuchhandlung waren auch eine Leihbücherei und ein Antiquariat angegliedert. Von Sigfred Taubert wurde die Inhaberin charakterisiert als »eine ebenso tüchtige wie umsichtige und weitblickende Buchhändlerin, die es verstanden hat, in verhältnismässig kurzer Zeit einen der führenden Buchläden der Stadt aufzubauen.«351 Zu ihren Kunden gehörten deutschsprachige Kreise, darunter die deutsch-jüdische Emigration, aber auch Argentinier sowie Amerikaner. Alberto Manguel, seit den 1990er Jahren als Autor viel beachteter Bücher über die Geschichte des Lesens und der Bibliothekskultur hervorgetreten,352 hat als Jugendlicher in Lebachs Buchhandlung ausgeholfen und darüber berichtet:
348 Siehe Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 483 f.; Öhlberger: Wenn am Buch der Händler klebt, S. 114. 349 Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 237‒273 vom 1. Juni 1942; ferner: IfZ / BA (Fragebogen J. Luzian). 350 Siehe inzwischen auch: Münster: Libreros y bibliotecas circulantes de los judíos alemanes; Rehder: Anmerkungen zur Schachnovelle von Stefan Zweig. 351 Taubert: Lateinamerika als Absatzmarkt, S. 129. Nach seinem Bericht setzte sich das Sortiment, jedenfalls um 1960, aus ca. 60 % englischsprachigen und 40 % deutschsprachigen Büchern zusammen. 352 Manguel: Eine Geschichte des Lesens; Manguel: Die Bibliothek bei Nacht.
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Mehrere Jahre lang, von 1964 bis 1968, hatte ich zu den Glücklichen gehört, die für Jorge Luis Borges als Vorleser tätig waren. Ich arbeitete nach der Schule im englisch-deutschen Buchladen »Pygmalion« [sic!], wo Borges häufig Kunde war. Das »Pygmalion« war ein Treffpunkt der Literaturliebhaber von Buenos Aires. Die deutsche Besitzerin, Lili Lebach, war vor dem Naziterror nach Argentinien geflohen, und ihr Ehrgeiz war es, die Kunden mit den aktuellsten europäischen und nordamerikanischen Neuerscheinungen zu versorgen. Sie studierte nicht nur die Verlagskataloge, sondern auch die Literaturbeilagen, und besaß die Gabe, für ihre Stammkunden genau das Richtige herauszufinden.353 Lili Lebach führte in den 1940er und beginnenden 1950er Jahren die Produktion deutschsprachiger Exilverlage; darüber hinaus hat sie sich, auf Betreiben des Literaturagenten Alfredo Cahn,354 auch verlegerisch betätigt und 1942 mit Stefan Zweigs Schachnovelle eines der bedeutsamsten Werke der deutschen Exilliteratur im Erstdruck herausgebracht, in einer limitierten Auflage von 300 Exemplaren (250 broschiert, 50 gebunden mit röm. Nummerierung) auf 97 Seiten mit drei Illustrationen.355 Die mit I–L nummerierten Exemplare enthalten die Bemerkung des Druckers: »Das Original dieses Buches wurde vom Verfasser wenige Stunden vor dessen Tod seinem Freund und Uebersetzer Alfredo Cahn zugeschickt und erscheint als Liebhaberdruck in einer nummerierten Auflage«. Tatsächlich hatte Zweig drei Abschriften des Manuskripts am 21. 2. 1942, am Tag vor seinem Selbstmord, an Ben Huebsch, Gottfried Bermann Fischer und Alfredo Cahn abgeschickt; letzterer hat auch zu den Kunden von Pigmalión gehört. 1963 traten mit Walter Lebach und Ilse Lebach verh. Dessau weitere Familienmitglieder als Teilhaber in die nunmehr als Libreria y Editorial Pigmalion S.R.L firmierende Buchhandlung Lili Lebachs ein, wohl um der Buchhandlung frisches Kapital zuzuführen.356 Die Buchhandlung Pigmalión, die sich zu einem Treffpunkt der Intellektuellen entwickelt hatte, wurde 1979 geschlossen, da das Haus in der Avenida Corrientes 515 abgerissen wurde.
Emigrantenbuchhandlungen in Buenos Aires nach dem Zweiten Weltkrieg Als Rinaldo Ziegler* (ursprgl. Karl Ziegler, 1912 Marburg / Lahn – 2007 Königstein / Ts.) 1946 in Buenos Aires eine eigene Buchhandlung gründete, konnte der damals 34Jährige bereits auf ein bewegtes Vorleben als Buchhändler in Deutschland, Frankreich
353 Manguel: Eine Geschichte des Lesens, S. 25 f. 354 Zu Cahn siehe Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 355 Als ein Mitdruck kamen parallel dazu 50 Exemplare im »Verlag Janos Peter Kramer« heraus; Kramer (geboren 1904 in Nürnberg) war bereits im April 1929 aus Deutschland nach Argentinien emigriert und seit Mai 1932 als Galerist, Buchhändler und Verleger tätig. Vgl. hierzu Rehder: Anmerkungen zur Schachnovelle von Stefan Zweig. 356 Walter Lebach hatte seit seiner Ankunft in Argentinien 1941 in Buenos Aires ein Lederfabrikationsunternehmen ›Sadesa‹ aufgebaut, das sich zum weltweit größten Sportschuhlederhersteller entwickelte; zu seinem Gedächtnis wurde von seiner Tochter Sylvia und seinem Schwiegersohn Ernesto Galperin 2002 das Walter Lebach Institute for Jewish-Arab Coexistence through Education an der Tel Aviv-Universität gestiftet.
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und Argentinien zurückblicken. Seine Lehrzeit hatte Ziegler, der schon früh mit der Arbeiterbewegung in Kontakt kam und ihr zeitlebens verbunden blieb, in Frankfurt a. M. in der sozialdemokratischen Buchhandlung Günzburg & Baumann absolviert; nach Enteignung der jüdischen Inhaber (Paul Günzburg* gründete in Paris 1934 die Buchhandlung Librairie Internationale Biblion) übernahm Ziegler diese als alleiniger Inhaber und führte sie, um keine Nazi-Literatur vertreiben zu müssen, als Modernes Antiquariat fort. Der Laden diente in der Folge als Anlaufstelle für Kuriere der Widerstandsbewegung aus dem Saargebiet und Frankreich, auch blieb Ziegler mit Günzburg in persönlichem Kontakt. Als Ziegler, der 1934 eine Jüdin geheiratet hatte, ein Jahr später aus dem Börsenverein und aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde, sah er sich gezwungen, das Geschäft zu schließen und blieb bis zu seiner Flucht 1937 als Verlagsvertreter berufstätig. In Paris arbeitete Ziegler anfänglich wieder als Buchhändler; aus der Internierung bei Kriegsausbruch wurde er bald entlassen, da er ein zuvor organisiertes Einreisevisum nach Paraguay, wo ein Schwager von ihm lebte, vorweisen konnte. Im März 1940 erreichte Ziegler mit seiner Frau Paraguay und übersiedelte im September 1942 nach Argentinien, wo er in Buenos Aires erneut Anstellungen in Buchhandlungen fand und Kontakte zur politischen Emigration unterhielt, insbesondere zu Mitgliedern der Gruppe »Das andere Deutschland« um August Siemsen; zusammen mit dem Trotzkisten Curt Felbel gab er ab November 1945 die Zeitschrift Panorama heraus. In seiner im Jahr darauf errichteten Buchhandlung übernahm er zusammen mit Felbel die Vertretung der Büchergilde Gutenberg und baute deren Mitgliedsorganisation in Argentinien auf. Rund zwanzig Jahre war Ziegler in dieser Funktion tätig; 1965 kehrte er vorläufig, 1969 endgültig nach Deutschland zurück.357 Ebenfalls erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs entstand in Buenos Aires die kleine Sprachenbuchhandlung von Berthold Winter* (geb. 1921 Berlin). Winter war Ende 1936, Anfang 1937 als 15-Jähriger mit seiner Familie über Österreich nach Argentinien gelangt, nachdem sein aus Wien stammender Vater Arnold Winter* eine seit 1920 in Berlin aufgebaute Buchhandlung (mit Antiquariat und Leihbuchhandlung) auf Anordnung der Reichsschrifttumskammer Ende 1935 hatte schließen müssen.358 In Buenos Aires versuchte die Familie zunächst, sich mit ambulantem (Leih-)Buchhandel über Wasser zu halten. Nach Eröffnung des Ladens führte Winter diesen bis 1955; danach entschloss er sich zur Rückkehr nach Berlin und eröffnete 1964 in der Kantstraße eine Sprachenbuchhandlung; von öffentlichen Stellen zugesagte Beistandsmaßnahmen wurden allerdings nie eingelöst, sodass Winter in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet.359 Erst ab 1983, nach zahlreichen verlorenen Prozessen, erfuhr er Unterstützung seitens des Berliner Senats, der zuständigen Stellen des Bundes sowie auch der örtlichen Buch-
357 Ziegler betätigte sich von 1970 an als Abteilungsleiter für Übersee-Exporte der Olympia AG in Neuenhain im Taunus. Nach seiner Pensionierung 1975 übernahm er Arbeiten für die Deutsche Bibliothek in Frankfurt a. M. 358 Vgl. das Erinnerungsbuch von Berthold Winter: Schwierige Rückkehr (dazu auch: http:// www.bertholdwinter.de). Zu Arnold Winter siehe auch die weiteren Hinweise in Kap. 6.5 Leihbibliotheken. 359 Dokumente im Archiv des Leo Baeck Institutes geben Auskunft über die Verhandlungen Berthold Winters über Restitutionszahlungen (LBI Digital Collections, Berthold Winter Collection, 1964‒1983, online).
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händlervereinigung, gegen deren Widerstand er bis dahin zu kämpfen gehabt hatte. Die Buchhandlung hatte bis 1993 Bestand, danach setzte Winter bis 2001 seine buchhändlerische Tätigkeit mit einem kleinen, hauptsächlich der Exilliteratur gewidmeten VersandAntiquariat von seiner Wohnung aus fort.
Bolivien: Werner Guttentags Librería Los Amigos del Libro in Cochabamba Die von Werner Guttentag* (1920 Breslau – 2008 Cochabamba) in Bolivien entwickelten Aktivitäten stellen ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Aufbauleistungen dar, die deutsche Emigranten in ihren Fluchtländern erbracht haben.360 Guttentag war als 14-Jähriger zur Freien DeutschJüdischen Jugend gestoßen und als Kurier für die linke Untergrundbewegung tätig. 1937 flüchtete er vor der nationalsozialistischen Verfolgung über Luxemburg und Belgien in die Niederlande; 1939 folgte er seinen Eltern nach Bolivien und war bis 1945 bei unterschiedlichen Arbeitgebern angestellt. Seinen Neigungen entsprechend, betätigte er sich seit 1940 auch als Beiträger der Zeitschrift Das andere Deutschland und gründete 1945 in Cochabamba die Sortimentsbuchhandlung Librería Los Amigos del Libro. Angeschlossen war auch eine Leihbücherei;361 dazu war Guttentag auch als Grossist sowie im Bücherimport und -export tätig. Die Buchhandlung firmierte in den Jahren 1953/1954 bis 1955 mit Max Basch als Mitinhaber als Guttentag & Cia., danach war Guttentag wieder Alleininhaber. Das Sortiment entwickelte sich zur bedeutendsten fremdsprachigen Buchhandlung des Landes, mit insgesamt fünf kleineren und grösseren Filialen in allen wichtigen Städten des Landes (u. a. Universal Bookstore in La Paz, mit den Inhabern Werner, Eva und Margarete Guttentag).362 In seinen Erinnerungen betonte Werner Guttentag diese herausgehobene Position seiner Firma: Wir waren die einzige Buchhandlung in Bolivien, die ausländische Literatur führte. So kamen auch viele Ausländer in unsere Läden. […] Das machte unseren Erfolg aus. Wir waren auch die Einzigen, die Bücher für Studenten, für Medizin- und Jurastudenten, importierten. Sie haben Schlange gestanden. Manchmal war es schwarz im Laden vor lauter Menschen, wenn neue Bücherlieferungen eintrafen. Eva und ich [Werner Guttentag und seine Ehefrau] haben wie verrückt gearbeitet. Eva hat die Korrespondenz und die Buchhaltung gemacht. Mein Vater Erich stand oft bis spät abends an der Kasse oder hat aufgepasst, dass nichts geklaut wurde. Den
360 Siehe jetzt vor allem Gurtner: Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag zwischen Deutschland und Bolivien. – Von Werner Guttentag liegen mehrere von ihm verfasste, tw. autobiographische Publikationen vor, u. a.: Una Tradicion Transplantada. (Eine verpflanzte Tradition), 1972; Problems of Latin American Booksuppliers, 1974; Beiträge in: Book Trade of the World, im Börsenblatt (Ffm) Nr. 81 vom 12. Oktober 1973, S. 1734, 1736; und vor allem: Emigré in Bolivia: The story of »Los Amigos del Libro«. In: LOGOS, vol. 2, issue 1 (1991), S. 18‒20. 361 Siehe dazu Kap. 6.5 Leihbücherei. 362 Vgl. Taubert: Lateinamerika, S. 92; Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 321.
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6 Ve r b re i te n de r B uc h ha n de l Gewinn haben wir in den Verlag gesteckt, ebenso die ganze Wiedergutmachung, die wir von Deutschland bekommen hatten.363
Die Sortimentsbuchhandlung florierte in wirtschaftlicher Hinsicht und wurde in Cochabamba auch zum beliebten Intellektuellen-Treffpunkt, hatte aber doch auch mit manchen Widerständen zu kämpfen. Die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu anderen Läden auch marxistische Literatur führte, reichte aus, um Guttentag in den Augen mancher als Kommunisten erscheinen zu lassen; dass er sich nicht der jüdischen Gemeinde anschloss, machte ihn zum »Atheisten«. Neben den frommen Juden hatte er aber auch Antisemiten zum Feind, die vor Übergriffen nicht zurückschreckten. Dazu kam der Konkurrenzneid der bolivianischen Kollegenschaft, die den deutsch-jüdischen Geschäftsmann als Ausbeuter attackierten.364 Das änderte aber nichts an der stetigen Aufwärtsentwicklung des Unternehmens und auch nichts an dem Faktum, dass der Buchhändler Guttentag sich große Verdienste als transkontinentaler Kulturvermittler erwarb. Erst in den 1980er Jahren geriet die Buchhandelskette in eine wirtschaftliche Krise, Filialen mussten geschlossen werden und der Verlag konnte kaum mehr Neuerscheinungen herausbringen. Doch Guttentags Leistung wurde noch zu seinen Lebzeiten durch zahlreiche Auszeichnungen gewürdigt; u. a. wurde ihm 1973 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Paraguay: Die Libreria Universal in Asunción Ob die von Ernesto Stadecker* 1937 in Asuncíon, Calle México 365, errichtete Sortimentsbuchhandlung mit Leihbücherei und Zeitschriftenhandel als eine Exilgründung gelten kann, ist nicht klar, da eine Familie Stadecker bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Paraguay eingewandert ist. Dafür spricht aber, dass Ernesto Stadecker erst 1940 mit Dekret L. N. 349 naturalisiert wurde.365 Die Firma stand noch Anfang der 1960er Jahre, als Sigfred Taubert sie aufsuchte, ausschließlich mit den deutschsprachigen Kreisen Asuncíons in Verbindung, die dort ihren Bedarf an Unterhaltungsliteratur und »IllustriertenLesestoff« decken konnten.366 Stadecker hatte zu diesem Zeitpunkt auch die Vertretung für einen deutschen Buchklub. In Asunción gründete der promovierte Akademiker Carlos (Karl) Henning*367 im Herbst 1938 die internationale Buchhandlung Libreria Universal. Sein Neffe Klaus Henning* (1921 Trier – 2008 Asuncíon) wurde 1942 Mitarbeiter, später Mitgesellschafter des Unternehmens, und als sein Onkel später nach Deutschland remigrierte, übernahm er die alleinige Leitung der Firma.368 Klaus Henning war als Zwölfjähriger in Begleitung
363 Gurtner: Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag zwischen Deutschland und Bolivien, S. 393. – Zu Guttentag als Verleger siehe Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 364 Gurtner: Guttentag, S. 337 f. 365 Registro Oficiàl 1940, S. 250 ‒ Online Global Legal Information Network [online]. 366 Vgl. Taubert: Lateinamerika, S. 146. 367 Vgl. Taubert, S. 145 f. 368 Vgl. zum Folgenden Nicolas Forster: Die österreichischen Auslandssiedlungen in Südamerika unter besonderer Berücksichtigung derer in Brasilien [online]; Klaus Henning: Autore-
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seiner Eltern in Paraguay angekommen und hatte die ersten Jahre in der landwirtschaftlichen Kooperative Colonia Carlos Pfannl verbracht, einer 1931 gegründeten Einwandererkolonie, zu der nach der NS-»Machtergreifung« politisch und rassisch Verfolgte stießen. Carlos und Klaus Henning sorgten dafür, dass die anfänglich kleine Libreria Universal auf ihrem Gebiet bald zur führenden des Landes wurde. Sie führte Bücher in fünf Sprachen, in spanischer und deutscher ebenso wie englischer, französischer und italienischer; das Sortiment umfasste sowohl belletristische wie wissenschaftliche Literatur, war daneben auch spezialisiert auf Themen wie Fotografie und Musik. Ihr Kundenkreis setzte sich, jedenfalls anfänglich, hauptsächlich aus Mitgliedern der deutschsprachigen Kolonie zusammen. Taubert beschrieb 1961 die damals noch unter Carlos Hennings Leitung stehende Libreria Universal: Es handelt sich um ein allgemeines Sortiment, das sich stark auch für das wissenschaftliche Buch einsetzt und auch auf diesem Gebiet eine Schlüsselstellung im Land innehat. […] Herr Dr. Henning erfreut sich in Paraguay eines besonderen Ansehens, das sich sowohl aus der Qualität seiner buchhändlerischen Arbeit als auch aus seiner gewinnenden Persönlichkeit ergibt.369 Klaus Henning entwickelte aus einem Hobby in den 1960er Jahren ein zweites berufliches Standbein mit der kommerziell erfolgreichen Produktion von Fotopostkarten,370 hatte aber nicht selten mit der Zensur des Regimes Stroessner zu kämpfen. Als er 1987 in den Ruhestand trat, wurde die Libreria Universal geschlossen.
Peru: Librería Internacional del Perú, Lima Die 1940 in Lima errichtete Librería Internacional del Perú S.A., Casilla Lima 1417, war wohl die einzige von Hitlerflüchtlingen betriebene Buchhandlung in diesem Land. Die Umstände ihrer Entstehung sind nur unvollständig rekonstruierbar: den Betrieb nahm sie jedenfalls an der Adresse Jr. Union No. 892 am 19. Dezember 1938 auf; ihr Gründer war Herbert Weil* (geb. 1899 Hamburg), der 1939 bei der Auslandsabteilung des Börsenvereins um eine Geschäftsverbindung nach Deutschland ansuchte. Dieses Ansuchen wurde als »unerwünscht« abschlägig beschieden, woraus auf den Emigrantenstatus von Weil geschlossen werden kann.371 Weitere Quellen weisen darauf hin, dass die Librería Internacional del Perú S.A. 1940 von Erich Klein* übernommen wurde, auch er jüdischer Emigrant, wie aus einer Meldung der Deutschen Botschaft Lima an den Börsenverein in Leipzig vom November 1940 hervorgeht.372 Zur Entwicklung der
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tratto. In: abc digital, 20. März 2003 [online]; El rescate de la memoria en las fotos de Klaus Henning (Ausstellungsbericht). In: abc, 20. März 2005 [online]. Vgl. zum Folgenden Taubert: Lateinamerika, S. 145 f. Die Gesamtproduktion umfasste rund eine Million Postkarten von 300 verschiedenen Motiven, darunter alle Städte und Landesteile Paraguays. Vgl. Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag Nr. 39, 5. Februar 1939; SStAL, BV, F 1.011; Libreria Internacional del Peru SA www.universidadperu.com SStAL, BV, F 1.011 (G. Brandes, Schreiben der Dt. Gesandtschaft in Lima vom 6. November 1940 an den Börsenverein). Die Botschaft stützte sich auf Auskünfte des in Lima ansäs-
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Buchhandlung berichtete Sigfred Taubert: »Ursprünglich hatte man eine grössere deutsche Abteilung unterhalten. Diese wurde aber dann aufgelöst, als kein sachkundiger Leiter mehr vorhanden war«.373 Die Buchhandlung muss ein gut organisiertes Vertriebssystem unterhalten haben, jedenfalls wurde sie US-amerikanischen Bibliotheken im Rahmen des »Farmington Plan« als Geschäftspartner für den Bezug von Büchern aus Bolivien, Ecuador und Peru empfohlen. Taubert spricht für Anfang der 1960er Jahre von einem Jahresumsatz in Höhe von umgerechnet 3,5 Millionen DM: »Dabei spielt der Buchabsatz gerade wissenschaftlicher und technischer Bücher durch Agenten, die das ganze Land bereisen, eine grosse Rolle«. Das Unternehmen von Erich Klein, der als bibliophiler Sammler u. a. von Americana bekannt war, war auch als Verlag tätig.
Ecuador: die Librería Cientifica in Guayaquil Neben der Librería Carlos G. Liebmann in Quito, die schon im Zusammenhang mit Liebmanns verlegerischer Tätigkeit vorgestellt worden ist,374 hat in Ecuador vor allem die Librería Cientifica Bedeutung erlangt. Die treibende Kraft hinter der Entstehung der Librería war Dr. Bruno Moritz (geb. 1900 Berlin), der vor seiner Emigration als Geschäftsmann tätig gewesen war.375 Ende der 1930er Jahre ließ er sich von seiner nichtjüdischen Frau scheiden und heiratete in einer Zweckehe Lilly Alexander, mit der zusammen er 1939, noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nach London flüchtete. Dort nahmen sie ein von jüdischen Hilfsorganisationen vermitteltes Visum nach Ecuador an, damals eines der wenigen Länder, die mittellose jüdische Emigranten ins Land einreisen ließen. Als »fliegender Händler« ging Moritz in ihrem Ankunftsort Guayaquil von Haus zu Haus, um Bücher zu verkaufen. Bald aber begann er mit dem Aufbau einer Buchhandlung, der Librería Cientifica, Luque 233, die nach einiger Zeit auch in Quito eine, von Anita Oestreicher betreute, Niederlassung eröffnen konnte. Sie war erfolgreich spezialisiert auf den Import deutschsprachiger Literatur sowie internationaler wissenschaftlicher Literatur und Fachliteratur für ein akademisches Publikum, für die Studierenden und Lehrenden der Universitäten in Guayaquil. Ein Enkel Moritz’ beschrieb die Zielgruppen der Librería in dieser Weise: »It became an important institution for all immigrants (not just the german speaking ones), as well as the local intelligence, the main book supplier for guayaquil’s high schools and universities, in which the universidad católica was the most important one.«376 Moritzʼ Status als seit den 1920er Jahren international bekannter Schachspieler half ihm bei der Integration in die Bildungsschicht des Landes; zeitweise präsidierte er auch der ecuadorianischen Organisation »Sociedad de beneficencia Israelita«. Zudem betätigte er sich gelegentlich auch verlegerisch; in der
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sigen Musikalienhändlers Guillermo Brandes. Als weitere Quelle diente eine schriftliche Mitteilung von Gerhard Kurtze an den Verf. vom 20. September 1993. Taubert: Lateinamerika, S. 84 f. Siehe dazu Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage. Zum Folgenden vgl. Gabriel E. Alexander [Sohn von Werner A. Alexander]: Me in Guayaquil, Ecuador, 1951‒1960 (Jerusalem, September 9, 2008) [online]; sowie Kreuter: Wo liegt Ecuador?, S. 289; Edgar Freire Rubio: Quito. Tradiciones, testimonio y nostalgia. Bd. IV. Quito: Libresa 2002, S. 153 f. Zit. n. Münster: Das Buch als Gastgeschenk, S. 76.
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Editorial Bruno Moritz (Quito und Guayaquil) erschien 1952 das Buch des deutschen Emigranten und später als Ökologe bedeutenden Arturo Eichler Nieve y selva en Ecuador. 1951 übernahm Moritzʼ Stiefsohn Werner A. Alexander* (geb. 1923 in Berlin),377 der aus Israel nach Ecuador gekommen war, die Führung des Buchhandelsunternehmens und baute es bis 1960 mit weiteren Filialgründungen zur größten Buchhandlung Ecuadors aus. Moritz remigrierte 1956 nach Deutschland, kehrte aber nach Guayaquil zurück, als Alexander 1960 beschloss, wieder nach Israel zu übersiedeln. Moritz übernahm erneut die Leitung der Librería Cientifica, deren Fremdsprachenanteil zu diesem Zeitpunkt auf nur mehr 10 % geschrumpft war, die sich aber auch im Versand- und Grossohandel betätigte.378 Die Buchhandlung konnte ihren Fortbestand bis in die Gegenwart sichern.
Uruguay Erst vom 6. Oktober 1952 datiert die Gründung der Libreria Neulaender in Montevideo. Geführt wurde sie in der Casilla de Correo 313 von Fritz Neuländer* (1902 Hindenburg – 1963 Montevideo), gemeinsam mit seiner Frau Käthe. Das Hauptlager der Sortimentsbuchhandlung bestand aus deutschsprachiger Literatur, zu einem geringeren Teil aus spanischer und englischer Verlagsproduktion; die Käuferschaft rekrutierte sich hauptsächlich aus besser gestellten Kreisen der deutsch-jüdischen Emigration.379 Das Ehepaar betrieb außerdem eine Leihbücherei mit dem Schwerpunkt Judaica und Hebraica. 1961/1962 wurde die Buchhandlung von Werner Pinkus und Eva Pinkus übernommen.
Venezuela Die Deutsche Bücherstube (Quinta »Las Petunias«, Calle La Linea Las Delicias, später Librería Alemana) in Caracas / Venezuela ist nicht eindeutig einzuordnen; sie wurde jedenfalls erst 1954 von Oscar Todtmann* gegründet. Mehrere Personen mit dem Familiennamen Todtmann (aus Ludwigshafen, Berlin, Magdeburg) wurden Opfer des Holocaust; daher ist es nicht ausgeschlossen, dass Oscar Todtmann auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus nach Venezuela gelangt ist. Das allgemeine Sortiment, bei dessen Führung Todtmann von seiner Frau unterstützt wurde, hatte auch die Vertretung der Deutschen Buch-Gemeinschaft. Wie Taubert berichtete, setzte sich die Kundschaft um 1960 aus deutschsprachigen Kreisen in Caracas und aus anderen Teilen des Landes zusammen: »Dazu zählen wir auch die vielen Ost- und Südeuropäer, die auch nach dem letzten Kriege in Venezuela eingewandert sind«.380 Der Buchhandlung angeschlossen wurde 1974 der Verlag Oscar Todtmann Editores, in dem bis heute ein umfangreiches Programm mit Bildbänden, Americana, Lehrbüchern und Belletristik erscheint. In dem
377 Werner A. Alexander war 1934 von seinen Eltern als Elfjähriger nach Palästina geschickt worden; er beendete dort seine Schulbildung und kämpfte später als Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg. 1950 ging er mit seiner Frau Miriam Charlotte nach Ecuador, wo 1951 bzw. 1957 seine Söhne Gabriel E. und Michael B. zur Welt kamen. 378 Nach Taubert: Lateinamerika, S. 78 f. 379 Taubert: Lateinamerika, S. 139. 380 Taubert: Lateinamerika, S. 59.
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von Carsten Todtmann (geb. 1951), dem Sohn Oscar Todtmanns, geleiteten Verlag erschien 1975 u. a. das von diesem selbst herausgegebene dreisprachige Buch Fascinante Venezuela / Fascinating Venezuela / Faszinierendes Venezuela. Carsten Todtmann verfasste auch eine Familienchronik Zwei Welten, in der die Gründung der Deutschen Bücherstube beschrieben wird.381 Der Verlag und die Librería Alemana Oscar Todtmann s.r.l. existieren noch heute in Caracas (Centro Comercio El Bosque).
Palästina: Herbert A. Steins Bericht über den Buchhandel im englischen Mandatsgebiet Einen Sonderfall auf der Landkarte des Emigrationsbuchhandels stellte das englische Völkerbund-Mandatsgebiet Palästina dar. Ein Grund ist bereits mehrfach angedeutet worden: bei Eretz Israel handelte sich für viele Juden nicht um ein Fluchtziel, sondern um ein Einwanderungsland oder um das Land der »Heimkehr«. Dazu kommen spezifische Aspekte, etwa die aus dem Dritten Reich heraus von dazu behördlich autorisierten Organisationen gesteuerte Auswanderung, konkret das zwischen der Jewish Agency, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und dem Reichswirtschaftsministerium geschlossene Haʼavara-Abkommen, das deutschen Juden die Ausreise nach Palästina unter Mitnahme von Gütern ermöglichen sollte, wenn sie dafür entsprechende Beträge auf ein deutsches Konto einzahlten. Die englische Mandatsmacht gab, nach Quoten geregelt, »Kapitalistenzertifikate« (das Zertifikat A 1 für 1.000 britische Pfund) und »Arbeiterzertifikate« aus. Es waren also auch die Einreisemöglichkeiten nach Palästina limitiert; nicht wenige erreichten das rettende Land trotzdem mit illegalen Schiffstransporten. Für Akademiker und Angehörige der meisten Mittelstandsberufe war im Land kein Bedarf, so konnten diese also keine Zertifikate ohne volle Zahlung erhalten. Dies traf auch für alle Verleger, Buchhändler und Antiquare zu, denn in diesem Bereich herrschte schon früh eine Überfüllung. Kennzeichnend für die Lage in Palästina war mithin, dass in einem noch weitgehend agrarisch bestimmten, in den Lebensverhältnissen mit Mittel- und Westeuropa in keiner Weise vergleichbaren Land eine Vielzahl von kleinen Buchhandlungen, vor allem Leihbüchereien, und Antiquariaten aufmachten. Nach den Angaben der Jewish Agency stieg im Zeitraum von 1931 bis 1937 die Zahl der Buch- und Schreibwarenhandlungen in jüdischem Besitz von 89 auf 246, wobei die ganz überwiegende Zahl auf die drei großen Städten Haifa, Jerusalem und Tel Aviv entfiel.382 Herbert A. Stein, aus Österreich emigrierter Inhaber einer Buchhandlung in Tel Aviv (siehe weiter unten), hat 1938 einen detaillierten Bericht über den damals vielsprachigen Buchhandel und Buchmarkt in Palästina gegeben.383 Er unterscheidet darin zwischen dem hebräischen, dem arabischen und dem ausländischen Buchhandel, unter welch letzterem er auch den Handel mit deutschsprachigen Büchern beschreibt. Dass das hebräischsprachige Buch im Aufwind war, ist aus den Bemühungen der zahlreichen Einwan-
381 Carsten Todtmann: Zwei Welten. Erster Teil: Herkunft und Jugend. O. O.: CreateSpace Independent Publishing Platform 2018. 382 Nach Jessen: Kanon im Exil, S. 69. 383 Stein: Kulturelles Leben. Der Buchhandel in Palästina.
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derer heraus verständlich, das Sprechen und Lesen dieser Sprache zu erlernen. Offenbar wurde dieses Bestreben auch von den Buchhändlern stark unterstützt; Stein hebt nicht nur deren Beratungsleistung hervor, sondern z. B. auch den Umstand, dass sie Kolporteure anstellten, die mit ihren Büchertischen bei Veranstaltungen, aber auch bei Betriebsschluss am Tor vieler Fabriken auf Kundschaft warteten. Die Erträgnisse seien, aufgrund niedriger Bücherpreise und geringer Buchhandelsrabatte, gering: Für geräumige oder gut ausgestattete Läden langt es selten. Tel Aviv hat drei, Jerusalem und Haifa je eine größere hebräische Buchhandlung. Kleinere Läden gibt es in Jerusalem acht, in Tel Aviv siebzehn, in Haifa neun. Einige Verleger unterhalten eigene Sortimente. Ein Verlag, der vor allem Schulbücher herausgibt, hat 19 Läden. In den kleineren Orten wie Tiberias, Petach Tikwah, Rechowoth haben Buchhändler neben den Verlags-Filialen und den Papierhandlungen wenig Möglichkeiten.384 Ein spezielles Übel sei der von manchen Verlagen vorgenommene Direktvertrieb, besonders beim Schulbuch, aber auch bei anderen absatzträchtigen Titeln. Nur in Tel Aviv gebe es einen Verband, der die Verkaufspreise regelt, nicht aber die Ladenöffnungszeiten. Ohnehin würden die Geschäfte meist vom Besitzer und seiner Familie geführt; für Angestellte gebe es im ganzen Land nur rund 25 Stellen, allerdings seien etwa 50 Fachleute als Filialleiter von Verleger-Sortimenten beschäftigt. Vom arabischen Buchhandel berichtet Stein, dass dieser eine völlig andere Struktur aufweise, insofern ein Araber die größte Buchhandlung Jerusalems mit sieben Angestellten und großen Filialen in Haifa und Jaffa besitze; diese Firma beliefere auch die Regierungsschulen im Lande, deren Unterrichtssprache arabisch ist. Daneben bestanden damals in Jaffa eine arabisch-englische Buchhandlung, sowie in Haifa, Nazareth, Nablus und Gaza weitere kleinere arabische Buchläden, außerdem Kioske mit Zeitschriften, Broschüren und Schulbüchern. Da infolge der schwierigen Erlernbarkeit der Schriftsprache nur rund ein Viertel der arabischen Bevölkerung lesen könne, sei der Käuferkreis eingeschränkt; die Buchhandlungen hätten allerdings ein weiteres, finanziell gut gestelltes Publikum auch in der englischen Beamtenschaft, bei Polizei und Militär. Bis zu den Unruhen des »Arabischen Aufstands« 1936 bis 1939 koexistierten die arabischen und jüdischen Buchhändler mit einem durchlässigen Kundenkreis vor allem von Schülern und Regierungsbeamten, besonders in Haifa. Unter dem »ausländischen Buch« führt Stein zunächst vier englische Buchhandlungen auf, darunter eine Filiale der englischen Bibelgesellschaft in Jaffa und eine Missionsbuchhandlung in Jerusalem, sowie ebendort eine deutsche Buchhandlung, die einer wohltätigen Stiftung angegliedert sei und meist im Eigenverlag deutsch-arabische Schulbücher vertreibe. Aufschlussreicher sind aber die Hinweise auf zwölf jüdische Buchläden, »die nach Größe und Einrichtung europäischen Charakter tragen«; dort seien insgesamt 30 Angestellte tätig (»junge Leute mit großem Fachwissen und sehr geringen Ansprüchen«). Ausländische Bücher seien erhältlich auch noch in kleineren, meist von einer Familie geführten jüdischen Buchhandlungen, von denen sich sieben in Jerusalem, in Tel Aviv 13 und in Haifa zehn fänden. Nur eine Buchhandlung sei groß genug für
384 Stein, S. 34.
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eine Partnerschaft und nur zwei besäßen Filialen. Mit diesen jüdischen Buchhandlungen dürften wohl auch viele der Neugründungen der hauptsächlich aus Deutschland und Österreich geflüchteten Buchhändlerimmigranten gemeint sein. Allerdings handelt es sich nur um eine Zwischenbilanz; nach 1938 kam es noch zu weiteren Firmengründungen. Gleichwohl vermittelt Steins Bestandsaufnahme gute Einblicke in die Rahmenbedingungen des Buchhandels in Palästina. Das gilt auch für seine Ausführungen über die Nachfrage nach ausländischer Literatur in den einzelnen Sprachen, über Lektürepräferenzen des Publikums und die Marktgängigkeit verschiedener Genres und Sachgruppen. In der Vielzahl der Sprachen spiegele sich die Struktur der Einwanderungsgruppen: Polnisch und Russisch, Rumänisch und Ungarisch seien stark vertreten, teilweise allerdings – indirekt proportional zur Zunahme der Hebräischkenntnisse − mit abnehmender Tendenz. Für das (portobedingt besonders teure) französische Buch gebe es nur einen kleinen, anspruchsvollen Käuferkreis, für das englische dagegen einen großen und weiter wachsenden: »Man schätzt, daß 150.000 Menschen im Lande englisch lesen können. Der Käuferkreis ist natürlich viel kleiner und dürfte 25.000 nicht überschreiten«. Die Aussicht auf eine Stellung bei der Post, Polizei, einer Bank oder im Handel, motiviere die Jugend zum Erlernen der englischen Sprache ebenso wie die Faszination, die von Themen wie Sport, Pfadfindertum, Motorrad und Auto, dem Kino oder den »fesselnden technischen Zeitschriften aus Amerika« ausgehe. Englische Romane würden, mit Ausnahme der Bestseller, wenig gekauft; gute Kriminalromane seien aber gerade bei den Intellektuellen sehr beliebt. Steins Feststellung, dass der Absatz an eigentlicher Fachliteratur, also Wissenschaft und Technik, nicht groß sei, überrascht angesichts der Tatsache, dass im Land Aufbauarbeit geleistet wurde. Besser einzuordnen sind dagegen die vier Arten von Büchern, die seinen Beobachtungen zufolge am meisten verlangt werden: Das Lehrbuch, wozu auch die Klassiker zählen, Weltpolitik und moderne Memoiren; Populäre Wissenschaft und Handbücher aller Gebiete, worin neuerdings Staunenswertes geboten wird, und schließlich die billigen Serienausgaben vieler englischer Verleger, die fast jedes gute Werk der schönen Literatur, das älter ist als drei Jahre, für einige Piaster erschwinglich machen.385 Nachfrage bestehe auch im Bereich amerikanischer Fachliteratur für Landwirtschaft, Pädagogik und öffentliche Verwaltung. Schließlich wendet sich Stein dem deutschsprachigen Buch zu, dessen Absatz – vor allem in Tel Aviv – recht bedeutend sei: Nicht nur die Einwanderer aus Deutschland und Österreich, sondern auch die aus Polen, Russland und den Randstaaten stammende Bevölkerung lese eifrig deutsche Fachliteratur, über Landwirtschaft, Technik, Philosophie und Militärwesen. Jüdische Geschichte und zionistische Literatur wird ebenfalls viel deutsch gelesen und bildet einen wichtigen Teil des Absatzes. Barmizwa-Bücher für die Jugend, die in früheren Jahren oft deutsch geschenkt wurden, werden heute meist nur
385 Stein, S. 36.
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mehr hebräisch gewählt. Volkstümliche Wissenschaft, Weltpolitik und populäre Heftreihen spielen auch beim deutschsprachigen Buch eine große Rolle. Sehr beliebt sind Bücher über Kunst und preiswerte Kunstdrucke. Reisebücher sind etwas aus der Mode. Stark zurückgegangen ist der Absatz von Zeitromanen und von politischer Literatur. Ueberhaupt wird wenig schöne Literatur gekauft, da Leihbüchereien sehr verbreitet sind und deutsche Bücher hier überhaupt teuer sind.386 Aufschlussreich auch der Hinweis, dass die Haʼavara auf reichsdeutsche Bücher einen Rabatt vom Ladenpreis gewährte, aber infolge der teuren Auslandsmark ein deutsches Buch mit Porto immerhin auf mindestens ¼ bis ½ Pfund zu stehen kam, »was hier viel Geld ist«.387 Lebhaft sei der Absatz von Karten und Atlanten, was eindeutig der Zeitsituation geschuldet sei, die von der Zerstreuung ganzer Familien und Sippschaften über die ganze Welt gekennzeichnet sei. Abschließend weist Stein darauf hin, dass der Buchhandel bei den amtlichen Stellen auf wenig Entgegenkommen trifft. Für eine bessere Vertretung der Interessen gegenüber den Behörden habe sich ein Landesverband der am Auslandsbuch interessierten Buchhändler gebildet; erst in diesen Tagen habe dieser das Publikum aufgerufen, Bücher und Zeitschriften nicht mehr direkt im Ausland, sondern durch den heimischen Buchhandel zu bestellen. Bemerkenswert auch, was an dieser Stelle noch an Behinderungen und Einschränkungen des palästinensischen Büchermarktes genannt wird: die großen Privatbibliotheken der Einwanderer, die fortlaufenden Buchspenden aus dem Ausland und nicht zuletzt die hohen Buchpreise im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen.388 Viele Einwanderer hatten als anspruchsvolle Bibliophilen Teile ihrer wertvollen Bücherbestände mitbringen können, und einige von ihnen – darunter Rechtsanwälte, die ihren Beruf nicht ausüben konnten – entschlossen sich zur Gründung eines Antiquariats. Diese Verwertung des Bücherbesitzes wurde von Arnold Zweig treffend auf den Punkt gebracht: »Früher waren sie Liebhaber des Buches, jetzt leben sie von ihm. Früher erwarben sie Kenntnisse, indem sie lasen […]. Jetzt, hinter einem Tisch, in einer Strassenecke machen sie ihr Wissen nutzbar: sie verkaufen ihre Bücher und siehe da, billige Bücher finden im Palästina der schwersten Krise leidenschaftlichen Absatz.«389 Andere, die ihre Gebrauchsliteratur und Unterhaltungslektüre mitgenommen hatten, begannen mit dem Verleih der Bücher, um sich ein wenn auch minimales Zubrot zu sichern. Das Überangebot an Büchern verminderte naturgemäß den Absatzmarkt für das reguläre Sortiment; insgesamt gab es nicht genügend Kundschaft, um diese Menge an Buchverkaufs- und Buchverleihangeboten auszulasten. Einzelne, gutgeführte Buchhandlungen, zu denen in Tel Aviv der Liberty-Bookstore und Kedem sowie der ABC-Bookstore und in Jerusalem Heatid und die Firma Ludwig Mayer gehörten, stachen jedoch aus der Menge heraus.
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Stein, S. 36. Stein, S. 36. Stein, S. 37. Arnold Zweig: Alte Bücher in Haifa, S. 4; hier zit. n. Jessen: Kanon im Exil, S. 326.
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Buchhandlungen in Jerusalem: Ludwig Mayer und seine Söhne Die am weitesten zurückreichende Vorgeschichte im Mandatsgebiet Palästina hatte die bereits 1908 von Ludwig Mayer* (1879 Prenzlau – 1978 Jerusalem) in Jerusalem errichtete Internationale Buch- und Kunsthandlung. Schon 1914, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, musste Mayer aber zurück nach Deutschland; dort war er dann u. a. bei Gustav Fock in Leipzig, und seit 1922 in Berlin von seiner Privatwohnung aus mit einer eigenen, auf Palästinensia und Orientalia spezialisierten Exportbuchhandlung tätig. Aufgrund des vom NS-Regime organisierten Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 sah sich Mayer erneut zur Auswanderung veranlasst. Mit seiner zweiten Frau Selma erreichte er mit einem »Kapitalistenzertifikat« Palästina im September 1933 und eröffnete in Jerusalem in der Shlomzion Hamalka Street eine auf wissenschaftliche Literatur spezialisierte Buchhandlung, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer der führenden Import-Buchhandlungen Israels entwickeln sollte. In den ausgehenden fünfziger Jahren wurde sie von seinen beiden Söhnen Hermann und Rafael Mayer übernommen. Hermann Joseph Mayer* (1915 Wismar – 2007 Jerusalem) war beim Keren Hajessod beschäftigt, ehe er im November 1933, seinen Eltern und seinem Halbbruder Rafael folgend, in Palästina eintraf. Bis 1937 arbeitete Mayer in der elterlichen Buchhandlung; 1937 schickte ihn sein Vater nach England, um bei Foyles in London in der Charing Cross Road eine formelle Buchhändlerlehre zu absolvieren. Der Kriegsausbruch beendete die Ausbildung, Hermann Mayer kehrte daher nach Jerusalem zurück und betätigte sich von 1942 bis 1945 für die Royal Air Force als Übersetzer für Deutsch und Französisch. Auch hatte er sich bereits 1935 der Haganah, der zionistischen Untergrundorganisation, angeschlossen und war dort bis zu seiner Einberufung zum israelischen Militär im Mai 1948 engagiert. Seit Oktober 1945 arbeitete er wieder hauptberuflich in der Jerusalemer Buchhandlung seiner Vaters; von 1952‒1957 hatte Mayer im israelischen Handelsministerium als Leiter der Buchimport-Abteilung eine Schlüsselposition inne. 1957 kehrte er in die Buchhandlung zurück und führte sie und die angeschlossene Leihbücherei gemeinsam mit seiner aus Fulda stammenden Frau und seinem Bruder Rafael Mayer* (geb. 1927 Berlin-Moabit);390 die Brüder wurden 1959 Teilhaber der Firma. Zu einer Institution deutsch-jüdischer Kulturgeschichte geworden, spielte sie beim Aufbau des Schul- und Bildungswesens in Israel eine nicht unbeträchtliche Rolle; eine Filiale befand sich 1959‒1971 auf dem Gelände der Hebräischen Universität in Jerusalem, der gemeinsam mit dem Ehepaar Moos von der Buchhandlung Heatid gegründete University Campus Bookshop. Bis 1997 war Hermann Mayer im Laden anzutreffen, selbst nach dem 1994 erfolgten Verkauf der Firma an den aus der Schweiz stammenden Rabbiner Marcel Marcus und dessen Frau. Die bis heute an gleicher Adresse existierende Buchhandlung Ludwig Mayer (Jerusalem) Ltd. führt traditionsgemäß ein großes deutschsprachiges Angebot.
390 Auch Rafael Mayer hatte in London seine buchhändlerische Ausbildung absolviert, ab 1947 bei William Green & Sons.
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Die Buchhandlung Heatid: Von Schalom Ben-Chorin zu Ulrich Salingré 1936 entstand in Jerusalem die Buchhandlung Heatid (»Zukunft«), als gemeinsame Gründung von Schalom Ben-Chorin* (1913 München – 1999 Jerusalem) und Joseph Melzer. Der später als jüdischer Religionsphilosoph berühmt gewordene Schalom BenChorin,391 bis 1937 Fritz Rosenthal, hatte in München neben einem Universitätsstudium eine buchhändlerische Ausbildung als Volontär in der von Schloime Monheit geleiteten Ewer-Buchhandlung absolviert, die vor allem mit Judaica handelte, daneben aber auch ein allgemeines Sortiment und eine Leihbibliothek führte. Nachdem er nach dem 1. April 1933 von der Münchner Polizei mehrfach verhaftet und misshandelt worden war, emigrierte Rosenthal 1935 mit seiner Frau Gabriella, Tochter des bedeutenden Antiquars Erwin Rosenthal, nach Palästina. Dort nahm er den hebräischen Namen Schalom BenChorin (»Friede Sohn der Freiheit«) an und wurde als freier Schriftsteller und Journalist tätig. Nebenbei betätigte er sich in der Buchhandlung Heatid, deren Grundstock ein Büchersortiment seines Schwiegervaters bildete.392 Sein Partner Joseph Melzer* (1907 Kuty / Galizien – 1984 Darmstadt)393 hatte in der Berliner Ewer-Buchhandlung und danach im Antiquariat von Samuel Wahrmann in Frankfurt am Main eine Lehre absolviert; zum Zeitpunkt der gemeinsamen Gründung von Heatid hatte Melzer bereits mehrere Anläufe zur Etablierung als Buchhändler in Palästina hinter sich; so hatte er 1933 in Tel Aviv die Buchhandlung »Cosmopolit« Bookshop & Newspaper eröffnet. Bezeichnend für Melzers selbstbewusstes Auftreten gegenüber offiziellen Stellen des Deutschen Reichs ist eine Antwort auf eine Nachfrage des Deutschen Auslandsverlags in Berlin im September 1933: In der Tat sind wir weder im Adressbuch noch im Börsenverein deutscher Buchhändler vertreten. Wir sind daran nicht interessiert und Sie werden hoffentlich unser mangelndes Interesse verständlich finden, wenn wir Ihnen erklären, dass wir als jüdische Firma es mit unserem Ehrgefühl unvereinbar finden, einem Verband anzugehören, der die rassische Inferiorität der Juden auf sein Panier geschrieben hat.394
391 Ben-Chorin, der seit den 1950er Jahren immer wieder als Gastprofessor in Tübingen tätig war, gehörte mit seinen theologischen und religionsphilosophischen Schriften zu den maßgeblichen Vorkämpfern für eine Aussöhnung zwischen Juden und Christen; seinen Nachlass verfügte er in das Deutsche Literaturarchiv in Marbach / N. – Zur Biographie siehe vor allem seine autobiographischen Werke (Gerlingen: Bleicher 1972), Jugend an der Isar (Gerlingen: Bleicher 1974) sowie Fremdheit und Verfremdung (In: Sie flohen vor dem Hakenkreuz, S. 140‒144). In die obige Darstellung eingeflossen sind auch Informationen aus einem Interview des Verf. mit Schalom Ben-Chorin am 21. Oktober 1992 in Jerusalem sowie die 1992/ 1993 mit ihm geführte Korrespondenz. 392 Vgl. Catalogue 1: Inexpensive books. Joseph Melzer & Fritz Rosenthal. (40 S.) Jerusalem, o. J. (1936). 393 Vgl. Fischer: Handbuch, mit weiteren Quellenhinweisen, darunter: Gespräch des Verf. mit Abraham Melzer am 10. Oktober 2010; IfZ / BA (Fragebogen). 394 SStAL, BV, F 11.427 Melzer.
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1934 gründete Melzer mit Herbert Stein* (siehe Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel) als Kompagnon in Tel Aviv in der Sheinkinstr. 9 den Liberty Bookstore; dieser stand offenbar unter Beobachtung, denn das Deutsche Konsulat in Jaffa teilte im Frühjahr 1934 dem Börsenverein folgende Beurteilung mit: »Juden, gelten als ehrliche, seriöse Geschäftsleute, Kapital dürfte ca. LP 500,-- betragen und von Stein größtenteils investiert worden sein«.395 Melzer trennte sich bereits am 20. Februar 1935 wieder vom Liberty Bookstore und überließ Stein den Laden. Er wollte sich nun ausschließlich dem Vertrieb von Zeitschriften und wissenschaftlicher Literatur widmen; außerdem übernahm er den Auftrag, für das Pales-Unternehmen von Paul Arnsberg* ein 14-tägliches »Bibliographisches Bulletin« zu erstellen, das allerdings nicht zustande kam. 1936 tat er sich schließlich mit Fritz Rosenthal zusammen. Da jedoch mit den Einkünften aus der HeatidBuchhandlung die Existenzgrundlage der beiden Partner nicht zu sichern war, fasste Melzer den Entschluss, nach Europa zurückzukehren.396 Nunmehr fiel die alleinige Leitung der Buchhandlung Heatid an Ben-Chorin. In dieser Zeit wurden von ihm in Deutschland anfallende Autorenhonorare (bis 1938 gab es zahlreiche jüdische Zeitungen und Zeitschriften) mit Bücherlieferungen des Leipziger Kommissionärs Carl Emil Krug gegenverrechnet. Nach zwei Jahren zog sich Ben-Chorin auf eine stille Teilhaberschaft im Unternehmen zurück, um sich nur noch seinen journalistischen und publizistischen Arbeiten zu widmen.397 Damals wurde die Buchhandlung zur Gänze von Ulrich Salingré* (1906 – 1948 Jerusalem)398 und Wolfgang Edinger* (1915 Frankfurt am Main – 1950 Jerusalem)399 übernommen und firmierte seit damals unter Heatid Salingré & Co., mit einem allgemeinen Sortiment und einem Antiquariat im Oberstock, in welchem
395 SStAL, BV, F 11.428 Melzer u. Stein, Liberty Bookstore. Siehe zum Nachfolgenden auch SStAL, F 11.429 und SStAL, BV, F 12321 Pales. 396 In Paris suchte Melzer sich unter wechselnden Adressen (6, rue Vaugirard und 41, rue Monsieur le Prince, Paris 6e) erneut als Buchhändler bzw. als Antiquar zu etablieren, aber ohne Erfolg. Seine 1937/1938 aufgenommene Tätigkeit musste er im Juni 1939 wieder einstellen; Melzer gab damals im Neuen Tage-Buch bekannt, er sei von gewissenlosen Teilhabern um sein Bücherlager gebracht worden (NTB 7. Jg. Nr. 26 vom 24. Juni 1939, S. 624). Nach 1945 machte er als Verleger in Deutschland auf sich aufmerksam; siehe dazu das Kap. 8.1 Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich. 397 Er war zu dieser Zeit allerdings auch an der Gründung eines deutschsprachig ausgerichteten Verlags »Romema« beteiligt, in dem hauptsächlich eigene Essaybände erschienen (Näheres dazu im Kap. 5.2.3 Judaica-Verlage). Auch seine Nachfolger in der Fa. Heatid betätigten sich verlegerisch, indem sie Schriften Schalom Ben-Chorins herausbrachten, so die Kritik des Esther-Buches, eine theologische Streitschrift (Jerusalem: Heatid Salingré 1938). – Die Bibliothek Schalom-Ben-Chorins, ein Dokument seiner Gelehrsamkeit, befindet sich in rekonstruierter Form im Stadtarchiv München. 398 Dazu: Gespräch des Verf. mit Schalom Ben-Chorin am 21. Oktober 1992 in Jerusalem; Aufbau, 11. April 1941, S. 24; Palestine Post, 3. Juni 1948. Die Eintragung im Adressbuch des deutschen Buchhandels 1955, S. 773, lautete ungenau: »Heatid Salingré & Co., Jerusalem, gegründet 1935. Inhaber Ingra Edinger. Geschäftsführer: Dr. Gerhard Rosen; Prokurist Friedrich Romann«. 399 Edinger stammte aus Frankfurt a. M. und war dort im Verlag I. Kauffmann, dem führenden Judaica-Verlag, zum Buchhändler ausgebildet worden.
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neben Salingré auch Eli Rothschild* (1909 Lübeck – 1998 Israel)400 und lange Jahre vor allem Fritz Romann* (1900 – vor 1983)401 tätig waren. Von Edinger und Salingré auf vergleichsweise hohem Niveau geführt, wurde die im modernen Teil der Stadt gelegene Buchhandlung Heatid rasch zu einem kulturellen Zentrum; insbesondere das Antiquariat entwickelte sich – u. a. durch Einrichtung eines Lesezimmers – zu einer Anlaufstelle für die gebildeten Kreise der Stadt und zu einem Treffpunkt für Buchliebhaber.402 Salingré war vor 1933 in Berlin im Ullstein-Konzern tätig gewesen, u. a. als Redakteur der Vossischen Zeitung; als überzeugter Republikaner war er Mitglied des überparteilich-linksorientierten »Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold« und stand 1930 in Kontakt mit Hubertus Prinz zu Löwenstein, der später zu einer bedeutenden Figur des deutschsprachigen Exils werden sollte. Nach seiner Flucht aus Deutschland 1934 über Italien nach Palästina hatte er einen Buchstand in der Ben-Yahuda St., bis er schließlich in der Buchhandlung Heatid in der Hassolelstraße (später HawatzelletStr.) tätig wurde. Als Mitinhaber der Firma leitete er das Antiquariat im Oberstock, das damals als das bedeutendste in Palästina galt. Salingré kaufte wertvolle Privatbibliotheken auf und erstellte eigene Kataloge; zum engeren Kundenkreis gehörte u. a. Salman Schocken. Darüberhinaus veranstaltete Salingré Ausstellungen und Lesungen; so etwa im Mai 1940 eine Lesung aus den Werken Else Lasker-Schülers und im gleichen Jahr eine Präsentation ihrer Zeichnungen. Er nahm umgekehrt an den »Kraal-Abenden« der Dichterin teil (als Organisatoren betätigten sich dabei Sally und Sina Grosshut*) und hielt dort – in seiner Funktion als Jerusalemer »Deputy Fire Watcher« – einen Vortrag zum Thema »Du und der Luftschutz«, im Zusammenhang mit einem im September 1940 erfolgten italienischen Luftangriff auf Tel Aviv. Nach Angaben Walter Zadeks wurde Salingré 1948 »während der Belagerung Jerusalems tot im Bett aufgefunden«.403 Aber auch Mitinhaber Edinger, auf den die Firma überging, verstarb früh. Von ihm hieß es in einem Nachruf im New Yorker Aufbau, er sei ein »überaus gebildeter Berater seiner Kunden in den verschiedensten Sprachen und Literaturen« gewesen, darüber hinaus »ein Freund seiner Angestellten und ein Mittelpunkt jenes Jugendkreises, dessen palästinozentrischer Zionismus sich mit ständigem Einsatz für ein besseres Verhältnis der beiden Völker des Landes untrennbar verband«.404 Die Buchhandlung Heatid wurde von Edin-
400 Rothschild war 1933 nach Palästina emigriert; von 1939‒1943 war er als Angestellter bei Heatid auf Orientalia und Archäologie spezialisiert. Später trat er als Historiker hervor und stand seit 1963 als Lektor im wissenschaftlichen Dienst des Leo Baeck Instituts. Siehe dazu Eli Rothschild: Jerusalem – Erinnerungen an den Archäologen Sir Flinders Petrie. In: Jeckes erzählen. S. 144 f.; Eli Rothschild: Lehrjahre in Jerusalem. In: Meilensteine, S. 212‒234. 401 Zu Romann siehe den Nachruf von Ruth Freund: Erinnerung an Fritz Romann. In: MB. Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa, Tel Aviv, 51. Jg., Nr. 3 vom 21. Januar 1983, S. 8. 402 Nach Jessen (Kanon im Exil, S. 73) kam Heatid besondere Bedeutung für die deutsche Literaturszene zu, zumal die Buchhandlung auch Kunst ausstellte und so »öffentliche Räume« entstanden seien. Für die Buchliebhaber, die sich vor und in Heatid getroffen haben, habe nicht unbedingt der Bücherkauf im Vordergrund gestanden; das Lesezimmer habe vielmehr einem Salon geähnelt, in dem man sich über die ausgestellten, nicht selten wertvollen Bücher sachkundig austauschte. 403 Benjamin, Uri (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941. 404 Aufbau, 24. November 1950, S. 7.
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gers Witwe Ingra, gemeinsam mit Friedel Moos, bis gegen Ende der 1980er Jahre weitergeführt, das Antiquariat von Friedrich Romann. Vor seiner Auswanderung nach Palästina in Breslau und Berlin als Buchhändler ausgebildet, war Romann, mit Prokura, die »rechte Hand« von Salingré gewesen; nach dessen Tod übernahm er das Antiquariat als Eigentümer. Allerdings geriet es immer wieder in wirtschaftliche Schwierigkeiten, trotz hervorragender Bestände und eines literarisch interessierten Publikums. 1970 löste Romann das Antiquariat auf; das Hamburger Auktionshaus Hauswedell übernahm die Versteigerung der Bücherbestände. In Jerusalem kam es zur Errichtung weiterer Buchläden, so etwa der Buchhandlung Friedmann im Stadtzentrum. Friedmann* war zuerst in Jerusalem Vertreter der Zeitschriften- und Buchimportfirma Pales gewesen. Das Sortiment seiner großen Buchhandlung bestand in der Hauptsache aus fremdsprachiger Literatur; außerdem betätigte sich Friedmann als Importeur deutschsprachiger Bücher. Die Buchhandlung wurde später von Dr. Grünspan übernommen und stand unter der Leitung von Gerda Braun. 1986 wurde sie geschlossen. Noch geringer sind die Informationen zu der Lehrmittelhandlung mit Buchvertrieb Schola et Scientia, Dr. H. Y. Priebatsch, gegründet von Hans Priebatsch* (geb. 25. Oktober 1902 Breslau). Der promovierte Historiker stammte aus einer Breslauer Buchhändlerfamilie und war nach der »Arisierung« des Geschäftes 1934 nach Palästina geflüchtet.405 Wie lange Hans Priebatsch den Buchvertrieb Schola et Scientia in Jerusalem innehatte, ist nicht bekannt.
Liberty, Kedem und andere Bookstores in Tel Aviv In Tel Aviv, einer Stadt, die erst seit zwei Jahrzehnten im Aufbau war und die – als Zentrum der Einwanderung – 1947 bereits 230.000 Einwohner hatte, gab es Strassenzüge, in denen sich Buchläden unterschiedlichster Art häuften. In einem an den Verfasser gerichteten Brief vom 21. Oktober 1992 erinnerte sich der vor 1933 als Anwalt tätige Dr. Erwin Lichtenstein an die buchhändlerische Szenerie in Tel Aviv: Im Zentrum der Ansiedlung deutscher Juden in Tel Aviv stand stets die Ben-JehudaStrasse, und demgemaess gab es dort die meisten Antiquariate und Leihbuechereien in deutscher Sprache. […] Wenn ich von der Firma Logos des Herrn Zadek ausgehe, im Hause Ben-Jehuda-Strasse 30, so schloss sich ihr Herr Muenchhausen an, der neben seinem Tabakgeschaeft deutsche Buecher auslieh. Ihm folgte im Hause neben meinem Geschaeft Dr. Freyhan, aus Breslau stammend, der vor allem am Verkauf religioeser Literatur interessiert war. Ueber die Mendele Strasse, die meinem Geschaeft den Namen gab, folgte dann die aeltere Leihbuecherei der Frau Schragenheim, die spaeter von Frau Moses uebernommen wurde. Weiter in der Ben-JehudaStrasse, nahe der Kreuzung mit dem Keren Hayemet-Boulevard, gab es dann unter
405 1934 wurde die Breslauer Firma als »erloschen« gemeldet; der Firmenname Priebatsch’s Buchhandlung blieb aber bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aufrecht.
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Nummer 100 die Leihbuecherei Benjamin, die sich auch durch Ausstellungen von Kuenstlern einen Namen machte; diese wurde dann spaeter von Frau Duesterwald uebernommen. Auf der gegenueberliegenden Seite der Ben-Jehuda-Strasse befand sich sowohl damals als auch heute das grosse Antiquariat von Landsberger, das nach dem Tode seines Inhabers von seinem Mitarbeiter Parnes uebernommen wurde. An der Kreuzung Ben-Jehuda-Nes Ziona-Strasse, gegenueber von Landsberger, hatte der aus Koenigsberg stammende, literarisch versierte Sigmar Ginsburg in seiner ParterreWohnung ein hochstehendes Antiquariat geschaffen, fuer das er stets neues Material zu erlangen suchte. In der erwaehnten Strasse Nes Ziona, wohl unter Nr. 4, hatte Dr. Pokorny, der in Oesterreich als Beamter taetig gewesen war, eine Leihbuecherei eingerichtet. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Graphologie, in der er fachkundig war. Bereits seit 1924/1925 betrieb Leo Blumstein* eine Buch- und Kunsthandlung in Tel Aviv.406 Er hatte zuvor in Berlin gemeinsam mit Lipa Bronstein die Judaica-Buchhandlung Kedem aufgebaut, sich jedoch als Zionist schon bald zur Auswanderung nach Palästina entschlossen, gehörte also nicht zur Gruppe der vom Nationalsozialismus Vertriebenen. Das im Zentrum Tel Avivs, 35 Allenby Road, gelegene Geschäft war der drittgrößte Buchladen der Stadt; später kam noch eine Filiale im Bankenviertel hinzu, der auch eine Leihbibliothek angegliedert war. Über Blumsteins Firma erfolgte die Auslieferung der amtlichen Publikationen der englischen Mandatsregierung. Blumstein war Vertreter der Detailbuchhändler im Vorstand der Foreign Book Trade Association. Nach seinem Tod ging die Buchhandlung in die Hände des englischen Einwanderers Emanuel Brown über und wurde aufgelöst.
Abb. 15: Der Liberty Bookstore in Tel Aviv um 1938; hier absolvierte Ernst Loewy eine Buchhandelslehre.
406 Die Firma ist im Adreßbuch für den Jüdischen Buchhandel 1927 verzeichnet; siehe auch SStAL, BV F 15160.
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Abb. 16: Zu den bestgeführten Buchhandlungen in Palästina zählte Kedem Books in Tel Aviv (um 1940), geleitet von Lipa Bronstein.
1934 eröffnete in der Sheinkinstreet 9 in Tel Aviv der Liberty Bookstore, als eine Gemeinschaftsgründung von Herbert A. Stein und Joseph Melzer; Letzterer trennte sich allerdings bereits im Februar 1935 von seinem Geschäftspartner, um sich nachfolgend an der Buchhandlung Heatid zu beteiligen (siehe weiter oben). Der aus Österreich stammende Herbert A. Stein*, von dem auch der überwiegende Teil des Gründungskapitals gestammt haben dürfte, führte den Laden als Alleininhaber weiter, später mit Adresse Allenby St. 61.407 Nachfolgend traten als neue Teilhaber der Buchhandlung Sally Kaufmann* aus Kassel, bis zu seiner Zwangsemigration 1933 Herausgeber der Jüdischen Wochenzeitung für Cassel, Hessen und Waldeck, sowie Dr. Josef Ass, vormals München, auf. Der Kedem Bookstore in Tel Aviv verstand sich als eine Fortführung der 1921 in Berlin-Charlottenburg errichteten jüdischen Buchhandlung »Kedem« Blumstein & Bronstein. Während aber Blumstein, wie oben beschrieben, Deutschland bereits 1924 verließ, blieb Lipa Bronstein* (geb. 5. Mai 1893 Goroditsche, Russland) in Berlin und führte die Buchhandlung weiter.408 Ihr war auch ein Verlag Kedem angeschlossen, in welchem Literatur zu Palästina sowie Werke zu Zionismus, Religionsphilosophie, Geschichte, Philologie und Soziologie erschienen, außerdem Talmudliteratur und hebräische Wörterbücher. 1938 wurde Kedem auf der Liste »Jüdischer Buchvertriebe« unter dem Inhaber Martin Salomon geführt. In diesem Jahr war Bronstein nach Tel Aviv gegangen und hatte dort den Kedem Bookstore eröffnet, mit einem auf Bibelwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Schöne Literatur spezialisierten Sortiment. Kedem
407 Zum Liberty Bookstore siehe Loewy: Jugend in Palästina, S. 151‒162, 212‒214; zu Stein siehe auch dessen eingangs zu diesem Abschnitt referierten Bericht (Stein: Kulturelles Leben. Der Buchhandel in Palästina). 408 Dazu: Interview des Verf. mit Walter Zadek 1991, Holon / Isr.; SStAL, BV, F 15160; Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2940.
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fungierte auch als Verlag, Grosso und Versandbuchhandlung. Richard Loewy* erarbeitete für Bronstein den Katalog seiner Leihbücherei, dessen Sohn Ernst Loewy ging bei Kedem in die Lehre (siehe weiter unten). Im Tel Aviver Vorort Ramat Gan eröffnete Ernst Heidelberger* (geb. 1908 in Bad Mergentheim) 1935 eine Buchhandlung, in der er – da selbst ohne einschlägige berufliche Erfahrung – mit fachlicher Beratung durch Walter Zadek ein Sortiment deutscher Literatur aufbaute. Heidelberger war mit seiner Familie nach Palästina emigriert, nachdem er sich zuvor zwei Jahre in Paris im Umkreis des kommunistischen politischen Exils aufgehalten hatte. Dorthin ging er auch zwei Jahre später wieder zurück, um die Buchhandlung Science et Littérature zu eröffnen (siehe weiter oben im Abschnitt zu Frankreich). Die Buchhandlung in Ramat Gan verkaufte Heidelberger an Manfred Braun*, der 1936 aus Mannheim nach Palästina eingewandert war. 1943 trat Ilse Blumenfeld* (geb. 1913 Bad Neuenahr) als Teilhaberin in die Firma ein.409 Sie hatte seit 1934 in einem Kibbuz gelebt; als ihr Mann 1942 zum englischen Militär ging, entschloss sie sich zur Mitarbeit in der von Braun und seiner Ehefrau geführten Buchhandlung. Da Braun ebenfalls Militärdienst leistete, führten die beiden Ehefrauen die Buchhandlung zeitweise gemeinsam. Als Manfred Braun 1954 seine buchhändlerische Tätigkeit in Israel aufgab und nach Deutschland zurückging, übernahm Ilse Blumenfeld die mit einem Schreibwarengeschäft kombinierte Buchhandlung zur Gänze. Die Firma spezialisierte sich in der Folge (mit Lizenz des israelischen Handelsministeriums) auf den Import von Büchern aus England und Deutschland; zu ihrem Kundenkreis gehörten Diplomaten, da zahlreiche Botschaften westeuropäischer Länder damals in Ramat Gan stationiert waren. Blumenfeld führte die Buchhandlung bis 1980 und machte sie zu einem Treffpunkt für an Literatur und Kunst interessierte Kreise. Einen für die Buchhandelsszene in Palästina typischen Laden führte der 1938 aus Breslau geflüchtete Dr. Zeev (früher: Wilhelm) Freyhan* (geb. 1883 Breslau), der sich in Jugendjahren der traditionell-orthodoxen Strömung im Judentum angeschlossen hatte, die antimodernistisch und gegen den als zu weltlich empfundenen Zionismus eingestellt war.410 Freyhan hatte sich jedoch aus der Bewegung zurückgezogen, als sie sich gegenüber anderen Richtungen als zu wenig verständigungsbereit zeigte. In Tel Aviv gründete Freyhan zunächst einen Verlag, eröffnete dann aber, wie von Lichtenstein erinnert, eine Buchhandlung in der Ben Yahuda St. (Ecke Mendelestraße), in der bis Ende der 1980er Jahre religiöse Literatur, hebräische und fremdsprachige Bücher sowie Schreibund Spielwaren geführt wurden. Dem Laden war eine Leihbücherei angeschlossen. Viele, wohl die meisten der neugegründeten Buchhandlungen in Palästina kombinierten den Sortimentsbuchhandel mit dem Leihbuchhandel, so auch Gruenebaumʼs Book Corner in Tel Aviv.411 Der Inhaber Jitzchak (früher: Julius) Gruenebaum (Grüne-
409 Vgl. auch Leonhard Janta: »Man konnte uns aus der Heimat vertreiben, aber man konnte die Heimat nicht aus uns vertreiben«. Erinnerungen ehemaliger jüdischer Mitbürgerinnen aus Bad Neuenahr und Ahrweiler [online]. 410 Siehe u. a. Wilhelm Freyhan 60 Jahre. In: Aufbau vom 19. November 1943, S. 16. 411 SStAL, BV, F 13.441 Gruenebaum’s Books Corner Library, Tel Aviv (1935‒1943).
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baum)* (1890 Kassel – 1977 Haifa) war 1909 in die Kasseler Buchhandlung seines Vaters Bernhard Grünebaum eingetreten, die neben Hebraica- und Judaica-Literatur jüdische Ritualien- und Synagogenstickereien führte. Als Julius Grünebaum im Oktober 1933 nach Palästina auswanderte, hielt seine ehemalige Mitarbeiterin Jenny Michel den Betrieb in Deutschland aufrecht, bis sie die Buchhandlung auf behördliche Anordnung im Jahre 1935 schließen musste.412 Gruenebaum’s Book Corner führte neben hebräischsprachiger auch deutschsprachige Literatur. Seit Mitte der 1960er Jahre lebte Gruenebaum in Haifa und verkaufte dort von seiner Wohnung aus antiquarische Hebraica und Judaica. Auch der aus Österreich stammende Nachum (früher: Adolf) Lichtenstein* (geb. 1906) hatte 1938 nach seiner Ankunft in Palästina in der Sheinkin St. in Tel Aviv einen Laden eingerichtet, der zeitweilig als Agentur für den Deutschen Bücherbund fungierte. Lichtenstein verstarb bald, sein Geschäft ging in andere Hände über. Ein wenig bedeutendes Dasein fristete schließlich die 1942 in Tel Aviv gegründete Bücherzentrale Merkas Has’ferim von Aron Sztejnberg* (1899 Bielsk / Westpreußen – 1983). Dabei war Sztejnberg vor seiner Ende 1939 erfolgten Emigration in Deutschland in mehreren bedeutenden jüdischen Verlags- und Buchhandelsunternehmen tätig gewesen, seit 1922 in der Firma Jalkut GmbH Verlag und Buchhandlung, seit 1930 in der Buchhandlung von Rubin Mass, zuletzt in leitender Position bzw. nach Massʼ Auswanderung 1933 als Geschäftsführer des Unternehmens. Seit März 1934 führte er es, gemeinsam mit Wolf Salles*, als Steinberg & Salles vorm. Rubin Mass weiter, seit Juli 1937 als behördlich zugelassener »Jüdischer Buchverlag und Buchvertrieb«. Im November 1938 wurde die Schließung der Buchhandlung verfügt, Sztejnberg selbst, der nach 1933 als Staatenloser in sogenannter Mischehe mit einer »Arierin« lebte, erhielt einen Ausweisungsbescheid, dem er aber erst im Dezember 1939 nachkam. In Palästina konnte Sztejnberg bis Anfang 1941 nur als »Gelegenheitsarbeiter« für die Firma Jalkut in Tel Aviv tätig werden, ehe er sich als Buchhändler selbständig machte. Mit Merkas Has’ferim erzielte er jedoch so geringe Einnahmen, dass keine Steuern fällig wurden. In den 1960er Jahren war Sztejnberg wieder als Aushilfe im Buchhandel beschäftigt.
Spezialisierte Buchhandlungen in Tel Aviv Erst 1947, nach Kriegsende und der Verbesserung der Buchimport-Möglichkeiten, konnte die in Haifa und Jerusalem bestehende Firma Heiliger & Co., die auf medizinische und naturwissenschaftliche Literatur spezialisiert war, eine Filiale in Tel Aviv errichten. Diese Filiale wurde über mehr als zwei Jahrzehnte geleitet von Shalom Miron (Geburtsname: Siegfried Butterkle)* (1904 Wien – 2008 Tel Aviv), der in Wien eine buchhändlerische Ausbildung absolviert hatte und auch mit der deutschen Jungbuchhändler-Bewegung in Berührung gekommen war.413 Er hatte zudem ein Studium der Literaturwissenschaft, 412 Sie eröffnete ein eigenes Geschäft, in dem sie bis zur »Reichspogromnacht« einen Handel mit Gebetbüchern und Kultusgegenständen betrieb. Über das von den NS-Behörden eingezogene Sortiment der Kasseler Buchhandlung vgl. Briel: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet: NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, S. 208 f. 413 Sämtliche Informationen stammen aus einem Interview des Verf. mit Shalom Miron am 22. Oktober 1992 in Tel Aviv sowie aus einer nachfolgend bis 2008 geführten Korrespon-
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Geschichte und Philosophie an der Wiener Universität aufgenommen, um sich so auf eine Tätigkeit im bibliophilen Antiquariat in Deutschland vorzubereiten. Nach der NSMachtübernahme 1933 gab Butterkle diesen Plan auf und war seit 1933 bei der Firma J. L. Pollak’s Buchhandlung und Antiquariat in Wien beschäftigt. Nach der Annexion Österreichs im Juni 1938 aufgrund »parteiamtlicher Anordnung« als jüdischer Angestellter fristlos entlassen, gelangte er Ende 1938 als illegaler Einwanderer nach Palästina. Dort konnte er erst 1947 mit der Leitung der Heiliger-Filiale wieder in seinen erlernten Beruf einsteigen, die Position hatte Miron bis zur Erreichung des Pensionsalters 1969 inne und somit beträchtlichen Anteil daran, dass dieses Unternehmen auf dem Gebiet der Einfuhr v. a. der medizinischen Fachliteratur nach Israel eine Vormachtstellung erringen konnte. Ohne eigenes Ladengeschäft, in einer Galerie, wurde die Kunstbuchhandlung Mikra Studio in Tel Aviv geführt. Gegründet wurde sie von Fritz Petersilka* (geb. 1903 Wien), der 1938 zusammen mit seiner Frau Grete nach Palästina gegangen war.414 Petersilka hatte in Wien seit 1929 eine Reise- und Versandbuchhandlung. In Tel Aviv betätigte er sich nicht nur als Kunstbuchhändler und Galerist, sondern auch als Verleger von Postkarten, Kinderbüchern und Luxusdrucken, v. a. Kunstmappen. Im Verband der Importbuchhändler war Petersilka einer der Hauptkämpfer für eine vermehrte staatliche Devisenzuteilung. In späteren Jahren lebte er im Künstlerdorf Ein Hod am Karmel bei Haifa und setzte dort den Bücherverkauf in kleinerem Maßstab fort.
Buchhandlungen in Haifa Haifa war nach Jerusalem und Tel Aviv das drittgrößte buchhändlerische Zentrum in Palästina. Als einer der ersten etablierte sich 1933 Berl Ringart* mit seinem Ringart’s Bookshop. Er war als überzeugter Zionist bereits in den 1920er Jahren von Deutschland nach Palästina ausgewandert und dort als leitender Angestellter bei der Firma Steimatzky tätig. Am 12. Januar 1934 gab Ringart auf einer Postkarte dem Börsenverein der Deutschen Buchhändler bekannt, dass er im Vorjahr unter der Firmenbezeichnung Ringart’s Bookshop in Haifa eine Buch-, Zeitschriften-, Kunst- und Lehrmittelhandlung sowie eine Leihbibliothek eröffnet habe; die deutsche Vertretung habe er der Ewer-Buchhandlung in München übertragen. Noch im gleichen Jahr 1934 wurde die Geschäftsleitung der deutschen Abteilung und der Lehrmittelabteilung durch Salomon Monheit* (1899 Tarnow / Polen – 1953 Haifa) übernommen. Monheit hatte in Deutschland 1915‒1920 eine Lehre in der Buchhandlung Lehmkuhl in München-Schwabing absolviert; danach übernahm er die Leitung sowie bis 1934 auch alle Geschäftsanteile der Münchener Filiale der Ewer-Gesellschaft für Buch- und Kunsthandel m. b. H., Berlin, eines kulturellen Zentrums des Münchener Judentums. Im Juli 1934 emigrierte Monheit nach Palästina und war in Haifa zunächst Mitarbeiter, dann Teilhaber von denz mit ihm und seinem Sohn Eli Miron. – Butterkle änderte nach Ankunft in Palästina zunächst seinen Vornamen, später – nach der Gründung des Staates Israel – den Familiennamen. Zur Fa. Heiliger siehe auch Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. 414 Zu Petersilka und zu den im Folgenden vorgestellten Buchhändlern in Haifa und kleineren Orten siehe für Literatur- und Quellennachweise Fischer: Handbuch.
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Ringart’s Bookshop. Der unter dem Namen S. Monheit & B. Ringart geführten Buchhandlung wurden zwei Filialen angeschlossen; die Firma war Mitglied der Foreign Book Trade Association in Palästina / Israel. Nach Monheits Tod gingen seine Anteile an seine Witwe Tina (Tauba) Monheit über; nach Ringarts Tod wurden die Buchläden geschlossen. Ebenfalls eine Ewer-Vorgeschichte hatte Hans Werner*, er war vor seiner Emigration Leiter der beiden Ewer-Buchhandlungen in Berlin gewesen, seit 1920 als Geschäftsführer, seit 1926 als deren Eigentümer. In den 1930er Jahren war Werner, entsprechend seiner zionistischen Einstellung, nach Palästina gegangen, wo er sich der Untergrundbewegung Haganah anschloss; seine Buchhandlung in der Herzlstraße in Haifa führte ein Sortiment hebräischsprachiger Literatur. Eine Buchhandlung Lapid wurde in Haifa in der Herzlstraße vom Ehepaar Spitz geführt; sie wurde um 1975 geschlossen; Näheres dazu ist nicht bekannt. 1938 öffnete in Haifa an der Adresse 5 Nahalal St., Bat Galim die Firma Medical Books & Periodicals, eine Gründung des aus Brandenburg an der Havel stammenden Hans Heiliger*. Das Unternehmen fungierte als eine Import- und Großbuchhandlung, hauptsächlich für medizinische Fachliteratur. Heiliger errichtete neben der Zentrale in Haifa auch Zweigstellen in Jerusalem und Tel Aviv, letztere geführt von Shalom Miron (siehe oben), und errang so eine beherrschende Stellung auf diesem Sektor. Das Unternehmen wurde später von neuen Inhabern fortgeführt. Eine akademische Sortimentsbuchhandlung von einiger Bedeutung führte in Haifa Felix Nagler*. Er war bereits in Berlin als Buchhändler tätig gewesen, ehe er – vermutlich bereits vor 1933 – als Zionist, zusammen mit seinem Bruder Heinz, in Palästina einwanderte. Nur sehr klein war die Buchhandlung, mit der sich Josef Benjamin Dzialoszynski* (1885 Kempen / Posen – 1960 Haifa) in Haifa eine neue Existenz aufzubauen suchte. Grundlage dafür waren die wenigen Bücher, die er bei seiner Flucht aus Deutschland mitnehmen konnte. Diese war ihm nur unter größten Schwierigkeiten mit einem Palästina»Familienzertifikat« gelungen. Dzialoszynski hatte gerade erst 1938 in Leipzig von Oscar Porges die Buchhandlung M. W. Kaufmann erworben, die damals als deklarierter »jüdischer Buchverlag und Buchvertrieb« geführt werden musste.415 Die traditionsreiche Buchhandlung, in deren großen Verkaufsraum unzählige Judaica, Hebraica, Ritualgegenstände und Musikalien ausgestellt waren, konnte sich aber nur wenige Monate halten; sie wurde ein Opfer der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. In Haifa konnte Dzialoszynski das Sortiment seiner Buchhandlung nur langsam erweitern, u. a. wieder durch Ritualien. Der Sifri Bookshop an der Adresse 128, Hanassi Avenue, Central Carmel war eine späte Gründung: Erst 1953 eröffnete der 1934 als 21-Jähriger von Frankfurt a. M. nach Palästina ausgewanderte Eli M. Pinter* (1913 in Belgien – 2004 Haifa) seinen Buchladen, den er bis 1981 führte. Pinter konnte als einer der letzten deutschsprachigen Buchhändler Israels gelten.
415 Vgl. Lorz: Die Verlagsbuchhandlung M. W. Kaufmann in Leipzig., S. 107‒124, insbes. S. 120‒123.
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Bookstands und Eselskarren Charakteristisch für Palästina war der Verkauf von Büchern in offenen Verkaufsständen. Einen solchen führte, Augenzeugenberichten zufolge, ein »Herr Wahrhaftig«* in der belebten Herzl Street in Haifa, offenbar mit gutem Erfolg.416 Diese Augenzeugen beschreiben M. Wahrhaftig als einen an Sigmund Freud erinnernden orthodoxen Juden mit weißem Bart (M. Warhaftig), der seine mit einem Zeitungskiosk kombinierte, gerade 10 Quadratmeter große Verkaufsstelle für »new & secondhand books« zu einem »Treffpunkt für Büchernarren« machte und in deren »bis an die Decke vollgeräumtem Hinterzimmer man wahre Schätze an seltenen alten Büchern, insbesondere auch deutschsprachige Judaica finden konnte« (Schwarz-Gardos). Zu seinen prominentesten Kunden habe Arnold Zweig gehört, der dort auch seine eigenen Bücher kaufte. Ein klassisches Beispiel für eine solche Verkaufsstelle repräsentierte in Tel Aviv auch der von Richard Loewy* (1891 Waidhaus / Oberpfalz – 1969 Frankfurt a. M.) in einem Durchgang an der Allenby St. betriebene Bücherstand, der mit einem 4–5 Quadratmeter großen Stoffdach ausgestattet war und als eine »Filiale« des Liberty Bookstore von Herbert A. Stein fungierte. In der Hauptsache waren es aber gebrauchte Bücher, die in dem Durchgang unter der Devise »buying selling lending« angeboten wurden, weshalb der Stand auch als Antiquariat deklariert war. Loewy hatte in Deutschland verschiedene kaufmännische Beru- Abb. 17: Richard Loewy in einem für fe, darunter auch den des Buchhändlers, ausge- das Palästina der 1940er Jahre übt, bis er sich nach der »Reichspogromnacht« charakteristischen, in einem im November 1938 zusammen mit seiner Frau Durchgang errichteten ›book stand‹. zur Emigration entschloss. Das Ehepaar reiste mit einem Touristenvisum nach Palästina, »mit einem Handkoffer und 20 Reichsmark in der Tasche«. In Tel Aviv war Loewy zunächst als »Advertiser« tätig, seit 1942 als Buchhändler an dem beschriebenen Bücherstand. Später war er Katalogbearbeiter für die Buchhandlung von Lipa Bronstein (siehe oben). Im Mai 1957 remigrierte Loewy mit seiner Frau und seinem Sohn Ernst nach Frankfurt am Main.
416 Zu den Zeitzeugen gehören: Walter Zadek (siehe Uri Benjamin (d. i. W. Z.): Buchhändler in der Emigration II, S. 2941); Felix Daniel Pinczower (in einem Brief an den Verf. vom 12. Dezember 1991); Erwin Lichtenstein (in einem Interview mit dem Verf. am 20. Oktober 1993 in Kfar Shmarjahu / Isr.). Vgl. ferner Schwarz-Gardos: Von Wien nach Tel Aviv. Lebensweg einer Journalistin, S. 16; M. Warhaftig: Haifa 1933‒1948, S. 215.
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Ernst Loewy* (1920 Krefeld – 2002 Frankfurt am Main), der von seinen Eltern aufgrund des immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus bereits 1936 im Rahmen der Jugend-Alijah nach Palästina geschickt worden war und dort bis 1938 in einem Kibbuz nahe Jerusalem lebte, fing in Steins Liberty Bookstore eine Buchhändlerlehre an, wechselte dann aber in Lipa Bronsteins Firma Kedem.417 Zu dieser Zeit lernte Ernst Loewy die deutschsprachige Exilliteratur kennen: »Fast täglich nahm ich bei Walter Zadek, damals Besitzer der Grosso-Buchhandlung ›Biblion‹ in Tel Aviv und noch ohne Prophetenbart, die eben angekommenen Neuerscheinungen von Querido, Allert de Lange und anderen Exil-Verlagen in Empfang.«418 Da in Palästina die anwachsenden Flüchtlingsströme einen steigenden Bedarf an deutschsprachiger Literatur nach sich zogen, die Immigranten aber nicht genug Geld hatten, um Bücher zu kaufen, florierten die Leihbüchereien. Loewy berichtete, wie viele Flüchtlinge, die zunächst arbeitslos waren, täglich oder alle zwei Tage kamen, um Bücher zu holen. Die Werke der Exilliteratur sollten bald zerlesen und zerfleddert sein. Und einer kam plötzlich nicht mehr. Er hatte sich umgebracht. In Emigrantenkreisen erzählte man sich, er habe keine Neuerscheinungen mehr gefunden…419 Während der Kriegsjahre 1942/1943 war E. Loewy Zivilangestellter bei der britischen Armee; später dann in der israelischen Armee eingezogen, konnte er eine Berufstätigkeit im Buchhandel erst wieder 1949 aufnehmen. Inzwischen hatte er sich aber in das publizistische Metier hinein bewegt: Zunächst 1942/1943 als Redakteur der von Wolfgang Yourgrau und Arnold Zweig herausgegebenen unabhängigen Einwanderer-Zeitschrift Orient, an der u. a. Friedrich Sally Grosshut und Walter Zadek mitwirkten, danach als nebenberuflicher Redakteur der linksorientierten Zeitschrift Heute und Morgen ‒ Antifaschistische Revue. Vom weiteren Lebenslauf Loewys nach seiner Remigration nach Deutschland soll seine Tätigkeit als Leiter der Judaica-Sammlung der Frankfurter Stadtund Universitätsbibliothek420 hervorgehoben werden, vor allem aber seine verdienstvolle Tätigkeit als Exilforscher: Er regte das DFG-Projekt »Exil und Rundfunk« an und war Herausgeber einschlägiger Publikationen zum Thema Exil;421 von 1984 bis 1991 war er Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung e.V., danach ihr Ehrenpräsident, und
417 Aufschlussreich v. a. Ernst Loewys autobiographische Schriften: Überleben in Palästina 1936‒1939; Zwischen den Stühlen. Essays und Autobiographisches aus 50 Jahren; Jugend in Palästina, bes. S. 151‒162, 212‒214. – Siehe auch die Nachrufe von Benz: Ernst Loewy: Vom Buchhandelslehrling in Tel Aviv zum Pionier der Exilforschung; und Gerlach: Die schwierige Heimat stets im Kopf. 418 Ernst Loewy: Zwischen den Stühlen, S. 391. 419 Loewy, S. 391. 420 Dazu: Bibliothek des Judentums. Die Hebraica- und Judaica-Sammlung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. 421 Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933‒1945; Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung.
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gab für diese den Nachrichtenbrief heraus.422 In diesen Funktionen hat Loewy, einst Buchhändler in Palästina, mit die wichtigsten Impulse zur Erforschung des Exils in Deutschland gegeben. Eine Karriere besonderer Art, in der auch eine Episode als Straßenbuchhändler nicht fehlt, ist von Ludwig Lehmann* überliefert: Aus Berlin stammend und nach Palästina emigriert, unterhielt er in Tel Aviv einen offenen Bücherstand in der Allenby St., den er Augenzeugenberichten zufolge unter lautstarker Anpreisung seiner Ware bediente.423 Nach Angaben von Walter Zadek konnte man in seinem »großen, offenen StraßenBookstall […] die überraschendsten Funde machen« (u. a. frühe Rilke-Ausgaben). Einen weiteren »Bookstall« dürfte Lehmann um 1945 in Haifa in der Herzl St. unterhalten haben. Allerdings: Lehmann machte später Karriere als Bankier und soll, den Angaben Zadeks zufolge, auch Besitzer einer kostbaren Bibliothek geworden sein, »darin eine wertvolle Sammlung alter Ausgaben des Flavius Josephus und einen Schatz an moderner Grafik. Man begegnete ihm auf den Versteigerungen der besten europäischen Häuser.«424 In einem Leserbrief replizierte Lehmann auf seine öffentliche Charakterisierung durch Zadek: »Ich habe sowohl in Israel wie auch in der Schweiz, wo ich Gründer der bekannten UTO-Bank bin, einen erstklassigen Ruf, kann Referenzen angeben und bin auch in Argentinien Verleger und bei sämtlichen deutschen Antiquariaten bestens bekannt, da ich selbst Besitzer eines der größten südamerikanischen Antiquariate bin.«425 Zur Rolle Lehmanns in der UTO-Bank war nichts Genaueres zu ermitteln, doch kann in Montevideo in Uruguay eine Buchhandlung Ludwig Lehmann nachgewiesen werden, später auch eine Libreria Lehmann, S. A. in San José in Costa Rica.426 Darüber hinaus wird Lehmann im International Directory of Book Collectors in der Ausgabe 1985–87 genannt (S. 273); Schwerpunkte seines Sammelns lagen auf (Süd-)Americana und Hispanica. In Nahariya, einer erst 1934 von deutsch-jüdischen Emigranten gegründeten Stadt, existierte nach Aussage von Walter Zadek eine Buchhandlung, die von Bernd Cohen* geführt wurde.427 Gesicherte Erkenntnis gibt es jedoch über eine im Norden Palästina / Israels bestehende Buchverkaufsstelle, die von dem aus Frankfurt stammenden Einwanderer Kurt Steinberg* (später Kurt Sella; 1906 Altenessen – 1969 Israel) geführt wurde. Der ehemalige Jurist Steinberg hat nach seiner Ankunft 1939 zunächst eine Anstellung als Vertreter eines englischen Buch- und Presseimporteurs gefunden, versorgte dann aber von seinem Wohnsitz in Sarafand bzw. Rishon Le-Zion aus bis 1951 mehrere Ortschaften um Nahariya mit Büchern.428 422 Gewürdigt in: Rückkehr aus dem Exil ‒ Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland 1945 ‒ Essays zu Ehren von Ernst Loewy; sowie: Eckert: »Heimat Exilliteratur«. Ernst Loewy und die Rezeption des deutschsprachigen Exils 1933‒1945. 423 Mündliche Auskunft von Walter Zadek an den Verf. am 19. Oktober 1992 in Holon / Isr.; MB Nr. 2 vom 12. Januar 1945, S. 2. 424 Uri Benjamin (d. i. Walter Zadek): Die Welt als Vaterland (II). In: Bbl. (Ffm) Nr. 16 vom 25. Februar 1977 (AdA 2/1977), S. A38‒A42, hier S. A39. 425 Antiquare im Exil – Die andere Seite In: Bbl. (Ffm) Nr. 24 vom 25. März 1977, S. A218. 426 Vgl. Ulrich Ammon: Die internationale Stellung der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter 1991, S. 392. 427 Mündliche Mitteilung von Walter Zadek an den Verf. am 23. Oktober 1992 in Holon / Isr. 428 Mündliche Mitteilung von Walter Zadek an den Verf. am 19. Oktober 1992 in Holon / Isr.; Rebecca L. Boeling, Uta Larkey: Life and Loss in the Shadow of the Holocaust: A Jewish
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Bücher verkaufen konnte in Palästina / Israel in sehr bescheidenen Formen erfolgen – aber durchaus mit Entwicklungsmöglichkeiten, wie das Beispiel von Walter (Zvi) Fabian* (1910–2000) zeigt. Walter Zadek erinnerte sich an einen »Herr[n] Fabian mit einem Eselskarren in den Plätzen der Scharon-Ebene«,429 und auch Ilse Blumenfeld war Fabian nachdrücklich in Erinnerung geblieben: »Buchhandlung in Ra’anana. Belieferte die umliegenden Dörfer mit seinem Esel. Die Buchhandlung existiert noch, und einer der Söhne führt sie weiter«.430 In der Tat gibt es heute (2020) noch die vom Sohn Isaac Fabian geführte Buch- und Schreibwarenhandlung Fabian Books and Stationery in Ra’anana (4, Brener Street).431
Am anderen Ende der Welt: Buchhandel in Shanghai In die ab November 1937 unter japanischer Herrschaft stehende Hafenstadt Shanghai konnten Flüchtlinge als beinahe einzige Zufluchtsstätte auch ohne Pass und Visum einreisen; ab 1938 gelangten etwa 20.000 Juden aus dem Deutschen Reich und aus den von Nazi-Deutschland besetzten europäischen Ländern über verschiedene Routen hierher. Die Lebensverhältnisse waren bescheiden und auch nur bis zu der auf Druck der Nationalsozialisten erfolgten »Ghettoisierung« der jüdischen Flüchtlinge ab November 1942 ungefährdet.432 Den widrigen Umständen zum Trotz gab es in Shanghai dennoch für kurze Zeit ein reges kulturelles Leben innerhalb der deutschsprachigen Emigration, mit eigenen Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Sortimentsbuchhandlungen und Antiquariaten. Im März 1939 gelangte Jacob Gesang* (1887 Kalisz / Polen – 1960 St. Kilda, Victoria / Australien) mit seiner Frau Erna hierher, nachdem in der »Reichskristallnacht« die von ihnen seit 1911 in Berlin geführte traditionsreiche hebräische Buchhandlung C. Boas Nachf., Sortiment und Verlag verwüstet worden war. Wenige Monate nach ihrer Ankunft eröffnete das Ehepaar am 1. September 1939 eine Buchhandlung, in der es nicht nur jüdische Literatur und Kultusartikel verkaufte, sondern auch hebräische Literatur verlegte. Als im Februar 1943 an alle »staatenlose Flüchtlinge« der Befehl erging, innerhalb von drei Monaten in einen besonderen »Distrikt« im Stadtteil Hongkew umzusiedeln, musste auch das Ehepaar Gesang ins Ghetto umziehen; im Februar 1947 wanderten sie nach Australien aus. Auch Ludwig Lazarus* (1900 Berlin – 1970 Hannover), Sohn des Buchhändlers und Antiquars Hermann Lazarus und von Rosie Lazarus (1868‒1942), Teilhaberin des Antiquariats A. Asher & Co., unternahm den Versuch, in Shanghai in seinem erlernten Beruf Fuß zu fassen. Er hatte noch 1933, nach zwangsweise abgebrochenem Studium,
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Family’s Untold Story. Cambridge, New York, NY: Cambridge Univ. Press 2011, u. a. S. 248–250; How Was It Possible? A Holocaust Reader. Ed. by Peter Hayes. Lincoln: University of Nebraska Press 2018, S. 282–331. Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941. Schriftliche Auskünfte von Ilse Blumenfeld an den Verf. 1993. Internetquellen. Zu der Situation in Shanghai siehe Eike Middell u. a.: Exil in den USA. Mit einem Bericht »Schanghai – Eine Emigration am Rande« [von Alfred Dreifuss], S. 447‒517, hier bes. S. 483. Vgl. ferner: Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reiches, S. 435, 438 f.
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in Berlin-Charlottenburg das Antiquariat Die Fundgrube übernommen, das nachfolgend zum Sammelpunkt der illegalen sozialdemokratischen Widerstandsgruppe »NeuBeginnen« wurde. Sein Antiquariat wurde »arisiert«, nachdem Lazarus im März 1936 verhaftet und zwei Jahre im Zuchthaus, ab März 1938 im KZ Buchenwald festgehalten wurde.433 Im Februar 1940 gelang Lazarus über Italien die Flucht nach Shanghai. Dort baute er den European Bookshop auf,434 und betätigte sich auch politisch weiter im Vorstand der Association of Refugees from Germany und als Vorstandsmitglied im örtlichen SPD-Bezirksverband. Vom Mai 1943 bis August 1945 im Ghetto Shanghai festgehalten, ging er 1948 nach London und remigrierte 1949 nach Deutschland.435 Buchhandel mit Antiquariat betrieb in Shanghai auch der aus Berlin geflüchtete Gerhard Fuchs* (1899 Berlin – 1992 New York), der 1939 in der Szechuen Road 416 einen Emigrants’ Book Service eröffnete, in welchem er Bücher in fünf Sprachen anbot, u. a. »interessante deutsche Literatur, preiswerte englische Buecher, foerdernde Sprachlehrbuecher«.436 Wohl um noch eine größere Zielgruppe als die Hitler-Emigranten anzusprechen, änderte er den Namen in Cosmopolitan Book Service; der Schwerpunkt lag jetzt noch deutlicher auf Sprachlehr- und Wörterbüchern in mehreren Sprachen. 1947 ging er nach New York und wurde dort als Gerard J. Fuchs einer der bedeutendsten Importeure deutschsprachiger Bücher in den USA (s. d.). Vom Western Arts Bookstore in Shanghai ist kein genaues Gründungsdatum bekannt; jedenfalls aber wurde er seit Beginn der 1940er Jahre von Heinz Egon Heinemann* (1912 Wiesbaden – 1979 Montreal) gemeinsam mit Kurt L. Schwarz* betrieben. Heinemann hatte nach kunstgeschichtlichen Studien und einer Lehre in der Buchhandlung Hannemann 1934 in Berlin die Oliva Buchhandlung errichtet, die er aber 1936 schließen musste. Nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit für den Verlag der Piperdrucke in Südamerika gelang ihm im Februar 1939 von Berlin aus die Ausreise ohne Visum nach Shanghai, wo er mit Kurt L. Schwarz nicht nur den Western Arts Bookstore gründete, sondern 1941 in der vornehmen Avenue Joffre auch die Western Arts Gallery eröffnete, mit dem demonstrativen deutschsprachigen Zusatz »vormals Buchhandlung Olivaer Platz Berlin«. Der Laden fungierte unter den Emigranten als Umschlagplatz für Nachrichten und finanzielle Hilfsmittel, zog aber durch sein Angebot an raren Büchern
433 Vgl. dazu den Leserbrief von Margrit Tenner, Heidelberg (zur Übernahme der Fundgrube des Berliner Buchhändlers Ludwig Lazarus). In: AdA NF 7 (2009) Nr. 6, S. 418. 434 Dazu: Ursula Krechel: Fluchtpunkte. Deutsche Lebensläufe in Shanghai (Richard Stein ‒ Ludwig Lazarus). In: Exil, H. 2/2007 (beruht u. a. auf dem historischen Tondokument Ludwig Lazarus, einer der »Shanghailänder« über das Leben in der Emigration aus der Hörfolge Fluchtpunkte. Deutsche Lebensläufe in Shanghai, einem 1996 von Ursula Krechel erstellten SWR-Feature). Vgl. ebenso die literarische Verarbeitung in Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman. Salzburg: Jung und Jung 2008. – Aufschlussreich auch Lazarusʼ eigener Bericht: H. L.: Der brave Soldat Lazarus unter den Nazis. In: Sie flohen vor dem Hakenkreuz, S. 77‒88 (nach mündlichen Angaben überarbeitet vom Hrsg.). 435 In Deutschland befasste sich Lazarus als Publizist mit Fragen der deutsch-jüdischen Beziehungen, engagierte sich in der jährlichen »Woche der Brüderlichkeit« und steuerte als Historiker und Genealoge wichtige Beiträge zu Sammelwerken über die Geschichte des niedersächsischen Judentums bei. 436 Werbeanzeigen Fuchs’ erschienen auch im Shanghai Jewish Chronicle.
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Abb. 18: Die Werbeanzeige erschien in der Tribuene, einer kurzlebigen Exilzeitschrift in Shanghai (No. 1 vom 2. Februar 1940).
und an Antiquitäten auch die Mitglieder der (nicht-vertriebenen) deutschen Kolonie an. 1945 gehörten Heinemann in Shanghai, Peking und Nanking fünf eigene Buchhandlungen. Während der chinesischen Revolution 1949 wurden die Buchhandlungen beschlagnahmt; ab 1951 war Heinemann, nachdem er wegen angeblicher Spionage unter Anklage gestellt war, 14 Monate im Gefängnis. Mit Hilfe internationaler Organisationen, vor allem aus den USA und Kanada, befreit, durfte das Ehepaar Heinemann 1953 nach Kanada ausreisen, wo es sehr bald eine herausragende Stellung im Sortiments- und Antiquariatsbuchhandel erringen sollte.437 Auch für Kurt L. Schwarz* (1909 Wien – 1983 Los Angeles) blieb Shanghai nur eine Episode, wenngleich eine wichtige.438 Der Sohn des bedeutenden Wiener Antiquars Dr. Ignaz Schwarz hatte nach einem Kunstgeschichte-Studium im väterlichen Betrieb mitgearbeitet, mit dem »Anschluss« war eine Weiterführung der Geschäftstätigkeit in Wien verunmöglicht worden. Während seine Mutter in Wien blieb, um die geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln (sie fiel 1942 dem Holocaust zum Opfer), flüchtete Kurt Schwarz noch am Tag von Hitlers Einmarsch über Zürich nach Paris und gelangte später nach London, wo er sich als Bücheragent und Gelegenheitsantiquar betätigte. 1940 verließ er Europa; da sein Visum für die USA nicht rechtzeitig eintraf, sah er sich gezwungen, über Kanada und Tokio nach Shanghai zu flüchten, wo er zunächst eine
437 Siehe Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 438 Dazu Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel, mit genaueren biographischen Angaben zu Kurt L. Schwarz.
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Stelle als Bibliothekar in der Royal Asiatic Society annahm. Nach der Konfiszierung der Bibliothek durch die Japaner 1942 arbeitete Schwarz ein Jahr in der Stadtverwaltung und anschließend als Englisch- und Literatur-Lehrer an der St. John’s University. Parallel dazu betrieb er mit Heinz Egon Heinemann den Western Arts Gallery Bookshop. In Shanghai heiratete er die ebenfalls aus Wien stammende Martha Salzer, und dort kam auch 1945 ihr Sohn Thomas zur Welt. 1947 siedelte Schwarz mit seiner Familie nach Kalifornien über und konnte von dort aus mit Kurt L. Schwarz Antiquarian Books eine großartige Karriere als ein auf Kunst und Musik spezialisierter Antiquar starten.
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Antiquariatsbuchhandel
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der andere Zweige des Buchhandels oft schwer zu kämpfen hatten, bedeutete für das wissenschaftliche und bibliophile Antiquariat in Deutschland und Österreich eine Phase der Prosperität. Dass der Antiquariatsbuchhandel die Hyperinflation so erstaunlich gut bewältigte, beruhte zum einen auf der »Flucht in die Sachwerte«, die vor allem in der Zeit der rapiden Geldentwertung die nach geeigneten Anlageformen suchenden begüterten Schichten zu guten Kunden der Antiquariate machte; zum anderen hatten die bekannteren, international agierenden Antiquare zahlreiche Kunden im Ausland, die mit harter Währung bezahlten. Da umgekehrt aus Geldnöten zahlreiche Privatbibliotheken, Bücherschätze von Klöstern und Adelshäusern, oft auch kostbare Handschriften und Inkunabeln, auf den Markt geworfen wurden und daher für erstklassige Handelsware gesorgt war, gehörte diese Branche zu den wenigen, die in diesem wirtschaftlich schwierigen Zeitraum Erfolge verzeichneten. Mit gewissen Abstrichen galt das auch noch für die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Aus dieser in Summe positiven Entwicklung wurde der Antiquariatsbuchhandel durch die nationalsozialistische »Machtergreifung« 1933 und die Annexion Österreichs im März 1938 herausgerissen. Zahlreiche – und mit die bedeutendsten – Vertreter der Sparte wurden nun das Opfer »rassischer« Verfolgung; sie mussten ihre Firmen schließen oder zur »Arisierung« freigeben (nur ganz selten gelang eine freundschaftliche Übergabe an bisherige Angestellte), bevor sie das Land verließen. Die bevorzugten Zielländer dieser Emigrantengruppe lagen im englischsprachigen Raum, in Großbritannien (rund ein Fünftel) und v. a. in Nordamerika (deutlich mehr als die Hälfte), bedingt durch die besonderen Chancen, die dieser Raum für eine berufliche Wiederetablierung bot. Vor allem in diesen Ländern hat sich ein Startvorteil vielfach schon daraus ergeben, dass bereits von früher her geschäftliche Verbindungen bestanden, teils zu Antiquarskollegen, teils zu privaten Sammlern, teils zu Institutionen wie Bibliotheken und Forschungseinrichtungen. Einige Antiquare waren (wenn auch unter zunehmend schwierigen Bedingungen) bis 1938/ 1939 in der Lage, kostbare Stücke oder Teile ihres Lagers rechtzeitig ins Ausland zu verbringen; wenn man H. P. Krausʼ autobiographischer Darstellung folgen will, dann genügte ein einzelnes Objekt wie der berühmte »Kolumbus-Brief«, um sich im Ankunftsland USA als Antiquar in Szene zu setzen. Ebenso wie in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada kam es aber noch in vielen anderen Ländern und auf anderen Kontinenten zur Wieder- oder Neugründung von Antiquariaten, zumal im Exil viele »Quereinsteiger« hinzutraten, die ihren aus Deutschland mitgebrachten Bücherbesitz zur Grundlage eines kleinen Altbuchhandels
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machten, der in manchen Fällen sich durchaus als expansionsfähig erwies. Die Etablierungsvoraussetzungen waren in den einzelnen Ländern selbstverständlich unterschiedlich, wobei etwa die Frage der Arbeitserlaubnis sich in diesem Bereich weniger problematisch darstellte als etwa für Verleger und Sortimentsbuchhändler. Entscheidend war vielmehr die Frage, ob und welche Zielgruppen vorgefunden wurden oder ob im Publikum Impulse für die Herausbildung neuer Interessen- und Sammelgebiete gesetzt werden konnten.
Großbritannien Großbritannien war für die aus Hitler-Deutschland vertriebenen Antiquare ein in jeder Hinsicht naheliegendes Fluchtziel – allein schon, weil viele von ihnen lange vor 1933 Geschäftsverbindungen zu Kunden und Kollegen auf der Insel aufgebaut hatten. Anziehend mag auch der Umstand gewirkt haben, dass dort – anders als in den meisten übrigen Fluchtländern, anders sogar als in den USA – zum Zeitpunkt ihrer Ankunft »bereits ein beträchtlicher, weltbekannter Antiquariatsbuchhandel mit seiner eigenen langen Geschichte und Tradition und seinem etablierten Verband, der ›Antiquarian Bookseller’s Association‹« bestand.439 Zudem waren schon im 19. Jahrhundert deutsche Buchhändler nach London gekommen und hatten dort bedeutende Antiquariatshäuser aufgebaut, an der Spitze jenes von Bernard Quaritch (gegründet 1847), das – wie das 1853 gegründete Unternehmen von Uriah Maggs (später Maggs Brothers, Ltd.) – zu den ersten Adressen nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit gehörte. Umso weniger mussten die nach 1933/1938 in England eingetroffenen deutschen und österreichischen Antiquare fürchten, vor unüberwindliche Integrationsprobleme gestellt zu werden. In der Tat fanden die geflüchteten Antiquare eine freundliche Aufnahme seitens der englischen Kollegenschaft, sodass sie ihre Tätigkeit bald auf dem Niveau fortsetzen konnten, das sie aus Deutschland und Österreich gewohnt waren. Auch gab es einige deutsche und österreichische Antiquare, die schon etwas früher nach England gekommen waren und die nun ihren vor dem Nationalsozialismus geflüchteten Berufskollegen dabei behilflich sein konnten, die Probleme der Neuetablierung zu überwinden.
Wegbereiter Der vielleicht wichtigste Wegbereiter für die deutsche und österreichische Antiquarsimmigration in Großbritannien war Ernst Philipp (meist nur kurz: E. P.) Goldschmidt (1887 Wien – 1954 London).440 Aus einer wohlhabenden Wiener Bankiersfamilie stammend, hatte er klassische Geschichte in Cambridge studiert, daneben schon früh eine Passion für das Sammeln alter Bücher und Einbände entwickelt. Als Mitarbeiter am Gesamtkatalog der Wiegendrucke bereiste er die Klosterbibliotheken in Südosteuropa und schloss sich dann dem Antiquariat Gilhofer & Ranschburg in Wien an; 1920 wurde
439 Bach / Biester: Exil in London. Zur Emigration deutscher und österreichischer Antiquare nach Großbritannien, S. A262. Diese informative Überblicksdarstellung ist im folgenden Abschnitt, ergänzend zu den einzelnen Literaturhinweisen, heranzuziehen. 440 Siehe u. a. Ernst Weil: In Memoriam. E. P. Goldschmidt ‒ Bookseller and Scholar. In: Journal of the history of medicine and allied sciences, April 1954, S. 224‒232.
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er gemeinsam mit Wilhelm Schab* als Gesellschafter eingetragen, trat aber im September 1923 als solcher wieder aus und etablierte sich noch im gleichen Jahr als selbständiger Antiquar für Frühdrucke und Handschriften in London. Goldschmidt war also bereits früh und damals aus berufspolitischen Motiven außer Landes gegangen, er gehörte aber, als Jude, nach 1933 zur Schicksalsgemeinschaft der aus NS-Deutschland Vertriebenen und unterhielt zu vielen von ihnen enge Beziehungen. Ganz besonders trifft dies zu auf Ernst Weil, den Goldschmidt unmittelbar nach dessen Eintreffen 1933 in London an seiner Firma beteiligte; Weil trug dann maßgeblich dazu bei, dass als Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit bis zur einvernehmlichen Trennung 1943 eine Reihe hervorragender Antiquariatskataloge erscheinen konnte. Goldschmidt, der Englisch akzentfrei und auch fließend Latein sprach, diente einer ganzen Generation von Antiquaren als Vorbild, gerade unter den Emigranten, so zum Beispiel Emil Offenbacher und Bernard Rosenthal. Unter seinen Altersgenossen galt er vielen als »der wohl klügste und gebildetste internationale Antiquar«441 oder als der »gelehrteste Antiquar, den es je gab«.442 Diesen Ruf erwarb Goldschmidt sich nicht zuletzt durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zu buchhistorischen Themen. Nach seinem Tod 1954 führte Jacques Vellekoop das Antiquariat bis zur Versteigerung der »Reference Library and Stock« am 8. Juli 1993 bei Christieʼs in London fort.443 Auch Maurice Ettinghausen* (1883 Paris – 1974) war nicht eigentlich ein Hitleremigrant, da er bereits lange vor 1933 nach England gelangt war, wo sein Vater als Kaufmann arbeitete.444 Der britische Staatsbürger war aber 1912 als Assistent in die Münchener Antiquariatsfirma Ludwig Rosenthal eingetreten, in der er bald Prokura erlangte. Anfangs der 1930er Jahre war Ettinghausen in leitender Funktion beim Londoner Antiquariat Maggs Brothers Ltd. tätig, zeitweise leitete er die Pariser Filiale von Maggs. Nach 1933 stand Ettinghausen in London in Verbindung mit zahlreichen aus Deutschland geflüchteten Kollegen und kann als Teil ihres Netzwerkes gelten, nicht zuletzt als Associate im Antiquariat von Albi Rosenthal in Oxford, The Turl, in den 1940er Jahren.
Erste Neuetablierungen Zu den frühesten und zugleich bedeutendsten Zugängen am Londoner Antiquariatsplatz zählte ohne Frage Ern(e)st Weil* (1891 Ulm – 1965 London).445 Sein fachliches Renom-
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Homeyer: Ein Leben für das Buch, S. 138. Christian M. Nebehay: Die goldenen Stühle meines Vaters, S. 197 f. Christie’s Catalogue »E. P. Goldschmidt Reference Library«, 8/9 July 1993, Preface. Siehe Ettinghausen: Rare books and royal collectors. Memoirs of an antiquarian bookseller. Weitere Hinweise finden sich in: Die Rosenthals. Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm, S. 79, 88, 172, 226 f. 445 Dazu: Interview des Verf. und Ulrich Bachs mit Hanna Weil (Tochter von Ernst Weil) am 30. März 1995 in London; Brief Hanna Weil an Maurizio Martino vom 11. Oktober 1993 (Kopie, freundlich überlassen von H. W.). – Vgl. auch die Nachrufe: Max Niderlechner: Zum Tod von Dr. Ernst Weil. In: Bbl. (Ffm) Nr. 31 vom 21. April 1965, S. 720; [H. A.] F[eisenberger]: [Nachruf auf Ernst Weil]. In: Das Antiquariat, XVII. Bd., Nr. 9/10 (1965), S. 242 f. Eine wichtige Quelle erschien mit: Catalogue of books, manuscripts, photographs and scientific instruments fully described and offered for sale by Ernst Weil 1943‒1965. Original thirty
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mee hatte Weil, der in Frankfurt und London den Beruf des Bankkaufmanns erlernt hatte, in München im wissenschaftlichen Antiquariat von Hans Werner Taeuber erworben, in dem er 1923 Teilhaber geworden war.446 Die Firma war auf Naturwissenschaften und Medizin spezialisiert und konnte mit rund fünfzig solide erarbeiteten Katalogen eine führende Stellung erringen und behaupten. Allerdings entwickelte Weil, der in München bei Heinrich Wölfflin über den Ulmer Holzschnitt im 15. Jahrhundert 447 promoviert und sich schon während seiner Studienzeit mit bibliophilen Drucken beschäftigt hatte,448 unter dem Einfluss seines Cousins Heinrich Eisemann auch großes Interesse an Inkunabeln und Frühdrucken.449 Anfang 1933 trennte sich Weil von Taeuber (der, obwohl Schweizer, aus Überzeugung bereits früh der NSDAP beigetreten war) und ging, nach Teilung des Lagers, im Juni 1933 nach England. In London arbeitete er mehr als zehn Jahre mit E. P. Goldschmidt zusammen, der für Weil die für die Einwanderung erforderlichen Garantien übernahm.450 In diese Zusammenarbeit konnte Weil seine aus München transferierten Bücherbestände einbringen. Als einer der ersten Antiquare überhaupt befasste er sich nun intensiv mit der Geschichte der Fotografie und trug zur Entstehung eines Marktes und einer Sammlerschaft auf diesem Gebiet entscheidend bei. Der in die USA emigrierte Antiquar Lucien Goldschmidt unterstrich diese innovative Leistung: One hundred years after Talbot, Niépce, and Daguerre laid the foundations, almost no one collected or dealt in photography. The firm of E. P. Goldschmidt in London, under the impulsion of Dr. Ernest Weil, published in 1939 a catalogue commemorating the cententary of the invention of the photograph, and devoted in part to early photographs and books on photography.451 Noch während des Krieges, 1943, erfolgte freundschaftlich die geschäftliche Trennung der beiden Antiquariatskoryphäen. Weil zog nach Hampstead und brachte – ohne Laden-
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three catalogues bound in two volumes, with a biographical memoir by Hanna Weil. Full author-title index comp. by Stephen Pober. Storrs-Mansfield, CT: Martino (1995). Siehe hierzu auch: Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur in München, S. 169; Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 23‒42. Ernst Weil: Der Ulmer Holzschnitt im 15. Jahrhundert. Berlin: Mauritius 1923. Weil hatte bereits im Jahr zuvor die deutsche Übersetzung der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1470 (München-Pasing: Roland 1922) als Faksimile-Ausgabe herausgegeben. 1920 war er gemeinsam mit Ernst Mayer an der Gründung des Mauritius-Verlags beteiligt, der – entsprechend der Nachfrage in der Inflationszeit – hauptsächlich illustrierte Luxusdrucke in limitierten Auflagen herausbrachte. Dokumentiert u. a. in Veröffentlichungen wie: Die Wiegendrucke Münchens. München: Verlag der Münchner Drucke 1923; Die deutschen Druckerzeichen des 15. Jahrhunderts. München: Verlag der Münchner Drucke 1924 (reprogr. Nachdruck Hildesheim: Olms 1970). Siehe dazu weiter oben. Ernst Weil, 1891–1965 [Nachruf]. In: Journal of the history of medicine and allied sciences, Vol. 20 (1965), S. 168. ‒ Vgl. auch Anton Holzer: Das Fotobuch als Kunstwerk – über eine neue Sammlerbewegung. In: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juni 2008 [online]. Das Fotobuch ist als Sammelgebiet inzwischen etabliert; vgl. dazu die umfassende Dokumentation zu diesem Genre: Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945.
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geschäft, nur von seiner Wohnung aus arbeitend – insgesamt 33 Kataloge heraus, die sich fast ausschließlich mit Wissenschaftsgeschichte befassten. Von regelmäßig unternommenen Reisen v. a. nach Italien, Paris und in die Schweiz kehrte er stets mit großen Seltenheiten zurück. Er verhalf vielen Bibliotheken, insbesonders in den USA, zu ihren Zimelien, u. a. der Haskell F. Norman Library in San Francisco und der James Ford Bell Library in Minneapolis. Mit seinen Veröffentlichungen wie Albert Einstein. A bibliography of his scientific papers (London 1937; 2. Aufl. 1960) oder der von ihm verlegerisch betreuten Bibliotheca Alchimica et Chemica (1949) oder der Bibliography of Lavoisier (1955) gab Weil der Etablierung der Geschichte der Naturwissenschaften als bibliophiles Sammelgebiet immer wieder zusätzliche Impulse, wie auf andere Weise sein enger Freund und Kollege H. A. Feisenberger. Aber auch die Fotografiegeschichte spielte in seiner Arbeit weiterhin eine wichtige Rolle. Deutschland hat Ernst Weil nicht wieder betreten. Sein Geschäft wurde nach seinem Tod 1965 aufgelöst.
Prominente und markante Vertreter der deutschen Antiquarsemigration in London Edwin Markus Baer* (1881 Frankfurt a. M. – 1963 London) aus der berühmten Frankfurter Antiquarsfamilie Baer kam nach mehreren Exilstationen 1936 nach England.452 Er hatte eine Buchhändlerlehre in Leipzig, Frankreich und England sowie in der Firma seines Vaters Simon Leopold Baer absolviert und war seit 1905 Mitinhaber des Buchund Kunstantiquariats Joseph Baer & Co. 1934 flüchtete er (zusammen mit seinem Bruder Leopold Alfred, seit 1911 Mitinhaber der Firma) zunächst nach Genf; das Frankfurter Bücherlager, von dem die Brüder einen Teil mitnehmen konnten, umfasste zu dieser Zeit über eine Million Bände; rund 200.000 davon wurden an die Frankfurter Stadtbibliothek verkauft.453 Ende 1935 ging Baer nach Amsterdam und von dort nach nur zwei Monaten Anfang 1936 nach Paris, schließlich Mitte dieses Jahres nach London, wo er sich mit seiner Firma E. Baer Bookseller eine vergleichsweise bescheidene Existenz neu aufbauen konnte und insgesamt 21 Kataloge herausbrachte. Zu einer markanten Figur des Londoner Antiquariatsbuchhandels stieg sehr rasch Ernest Seligmann* (gest. Oktober 1975) auf.454 Er hatte in München eine exklusive kleine Antiquariatsbuchhandlung betrieben, schloss diese aber, als die Situation in München bedrohlich wurde, und flüchtete 1936 in die britische Hauptstadt, um sich hier, allein auf sein Wissen und Knowhow sowie seine guten Sprachkenntnisse aufbauend, neu zu etablieren. 1938 mietete er ein winziges Ladengeschäft an prominenter Stelle, in
452 Vgl. u. a. Alexandre Baer: Joseph Baer & Co., fondée 1785. Paris: A. Baer 1977; Friedrich Hermann Schwarz: Zur Geschichte der Firma Joseph Baer & Co. In: Bbl. (Ffm) Nr. 77 vom 28. September 1973, S. A415−418; Schroeder: Die »Arisierung« jüdischer Antiquariate zwischen 1933 und 1942 (I, S. 295‒320), hier S. 298‒302. 453 1937 wurde Edwin Baer von den NS-Behörden wegen angeblicher »Warenverschiebung«, Währungsvergehen und Steuerflucht ausgebürgert. 454 Zu Seligmann: Mündliche Auskunft von Herbert F. Ashbrook an Ulrich Bach vom März 1996; Interview des Verf. und Ulrich Bach mit Nicolas Barker; Keith Andrews [Obituary]. In: The Book Collector, 25 (1976), No.1, S. 77‒83; Rostenberg / Stern: Old Books in the Old World, S. 25 f., 129.
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25 Cecil Court (ein Durchgang zwischen der Buchhändlerstraße Charing Cross Road und St Martin’s Lane).455 Mit seinem viele Seltenheiten enthaltenden Angebot von Büchern und alten Drucken fand er bald Beachtung beim bibliophilen Publikum. Ein thematischer Schwerpunkt bildete sich in der Kunstliteratur heraus, unter Einschluss von Architektur. In den letzten Kriegsjahren half der junge Emigrant Kurt Aufrichtig (1920 Hamburg – 1989 Edinburgh), Sohn eines Hamburger Bankiers, als Assistent im Laden, der später unter dem Namen Keith Andrews als Bibliothekar und Sammlungskurator an der National Gallery of Scotland tätig wurde. Vertrieben wurde auch die damals wohl bedeutendste Persönlichkeit des deutschen Antiquariatsbuchhandels, Martin Breslauer* (1871 Berlin – 1940 London).456 Breslauer, der auch als Bibliophile höchstes Ansehen genoss, hatte seine Tätigkeit in Berlin unter ständig wachsendem Druck bis 1936 weitergeführt; 1937 emigrierte er schließlich, nach Erlag schikanöser Steuern, die zusätzlich zur »Reichsfluchtsteuer« zu zahlen waren, nach London. Bei seiner Ankunft sicherten ihm seine Reputation und die Hilfe von englischen Kollegen und Freunden rasch die Erlaubnis, in England leben und arbeiten zu dürfen. Einen großen Teil seiner Handbibliothek von 21.000 Bänden hatte er zuvor an den Schweizer Sammler Martin Bodmer verkauft, um einer Konfiskation zuvorzukommen; den Verkaufserlös hatte er allerdings abgeben müssen. Etwa 6.000 Bände konnte er jedoch nach London überführen, »weil Freunde unter den Buchhändlerkollegen, von staatlicher Seite um Gutachten angegangen, deren Wert als so niedrig einstuften, dass er mit ihnen die Grenze passieren durfte«.457 Im Oktober 1937 eröffnete Breslauer mit finanzieller Unterstützung des Frankfurter Kunstsammlers Robert von Hirsch (seit 1933 in Basel) ein Antiquariat in Bedford Court Mansions, nahe dem British Museum im Stadtteil Bloomsbury, und es gelang ihm, noch einige Kataloge zu erstellen. 1940 starb er durch einen von einem Luftangriff auf London ausgelösten Herzanfall. Die Firma Martin Breslauer wurde nachfolgend von seiner Witwe (nominell) und seinem Sohn Bernd H. Breslauer* (1918 Groß-Lichterfelde, Berlin – 2004 New York) weitergeführt.458 Dieser war, nach kurzer Lehrzeit bei Leo Olschki in Florenz, seit 1935 im
455 Seligmann ist am Ort seiner Tätigkeit verewigt auf einem Bild von R. B. Kitaj – Cecil Court, London W.C.2. (The Refugees) 1983/4 –, das zum Bestand der Tate Collection gehört (Tate online: R. B. Kitaj – Cecil Court [online]); siehe auch Tim Bryars: A Brief History of Cecil Court [online]. 456 Vgl. hierzu auch den Abschnitt Antiquariatsbuchhandel in Band 2/2 der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, S. 435 f. und 439 f. Ferner: Martin Breslauer: Erinnerungen, Aufsätze, Widmungen. Mit einem Vorwort von Hans Fürstenberg. Frankfurt a. M.: Gesellschaft der Bibliophilen 1966; Bernd H. Breslauer: Glanz und Elend der Antiquare, S. 163‒165. 457 Weber: Der Antiquar Martin Breslauer, S. 417. Die Verlagswerke aus Breslauers Besitz wurden von der Preußischen Staatsbibliothek für Tauschzwecke zu 5 % des Buchhandelswertes übernommen. – Der in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrte Nachlass von Bernd H. Breslauer umfasst auch Materialien zu seinem Vater Martin (Nachlass-Bestand Breslauer (NL) 307). 458 Interview des Verf. und Ulrich Bach mit Bernd H. Breslauer am 19. März 1996, New York. Siehe auch diverse Nachrufe: Nicolas Barker: Bernard Breslauer. Bookdealer and collector across two continents. In: The Independent, 25. September 2004 [online]; Rudolf Elvers: Bernd H. Breslauer 1918‒2004. In: AdA N.F. 2, 2004/6, S. 480 f.; Roger E. Stoddard: B. H. B. in Retrospect (Inaugural Breslauer lecture). London 2007.
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Antiquariat seines Vaters tätig und hatte 1936 im Zuge der Emigrationsvorbereitungen der Familie die Katalogisierung der Handbibliothek, die an Martin Bodmer übergeben werden sollte, übernommen. Den Katalog Nr. 54 The Gentle Science of Book Collecting, ein Jahr nach dem Tod des Vaters herausgekommen, erstellte Bernd H. Breslauer noch während seines Kriegsdienstes in der britischen Armee. 1945 übernahm er auch formell die Firma Martin Breslauer Ltd., mit der er 1947 vom Londoner Stadtteil Chiswick in 23 Museum Street übersiedelte. Breslauer spezialisierte sich nun auf Handschriften, Frühdrucke und kostbare Einbände und war nachfolgend auf diesen Feldern im Auftrag bedeutendster Sammler (Martin Bodmer, Hans Fürstenberg, Otto Schäfer, Sir Alfred Chester Beatty, Major J. R. Abbey, Henry Davis) sowie großer Bibliotheken und Institutionen tätig; 1977 verlegte Breslauer den Firmensitz nach New York, weil der amerikanische Markt wachsende Chancen und auch günstigere Steuer- und Finanzierungsbedingungen bot,459 im April 1978 ersteigerte er im Auftrag der Württembergischen Landesbibliothek bei Christieʼs eine Gutenberg-Bibel zum damaligen Rekordpreis von vier Millionen DM. Eine eigenwillige Persönlichkeit in der emigrierten Antiquarsschaft verkörperte Heinrich Eisemann* (1890 Frankfurt a. M. – 1972 London).460 Er hatte 1921 ein Antiquariat für mittelalterliche Bilderhandschriften in Frankfurt am Main gegründet, allerdings auf ein Ladengeschäft und die Herausgabe von Katalogen verzichtet; so war er nur Insidern des Metiers bekannt. Mit Ende März 1937 musste er auf behördliche Anordnung seine Tätigkeit als Antiquar in Deutschland beenden; er wurde ausgebürgert und seine Vermögenswerte wurden eingezogen. Eisemann flüchtete nach London und führte mit Hilfe von englischen Kunsthändlern seinen Handel weiter; u. a. war er am (Wieder-)Aufbau der Schocken-Bibliotheken in Jerusalem und New York beteiligt. Eisemann verfügte über weltweite Kontakte zu Sammlern und handelte als erstrangiger Spezialist hauptsächlich mit der Vermittlung von Autographen, Inkunabeln und Gemälden. Für einige bedeutende Sammler bot er bei den Versteigerungen von Sotheby’s und Christieʼs auf die gewünschten Objekte. Bernd H. Breslauer beschrieb das Spezifische seiner Tätigkeit wie folgt: »He acted almost exclusivly as a middleman, buying and selling on commission which earned him another sobriquet, that of ›Mr. Ten Per Cent‹«.461 Sein bekanntester Auftraggeber war wohl der Schweizer Sammler Martin Bodmer. Bis 1965 betätigte sich Eisemann in London erfolgreich als Antiquar; seine Handbibliothek wurde im April 1966 in London bei Sotheby’s versteigert. Einen guten Namen erwarb sich in London auch das von Carl Georg(e) Rosenberg* 1936 im Stadtteil Bloomsbury (922, Great Russell Street) gegründete Antiquariat. Rosenberg war im Berliner Buch- und Kunstauktionshaus Max Perl als Antiquar für Kunst-
459 Zur Fortsetzung seiner Tätigkeit in den USA siehe weiter unten im Abschnitt USA. 460 Vgl. u. a. Lübbecke: Fünfhundert Jahre Buch und Druck in Frankfurt am Main, S. 202; Eduard Trautschold: 50jähriges Berufsjubiläum von Heinrich Eisemann. In: Bbl. (Ffm), 1957, Nr. 26, S. 410; Bbl. (Ffm), 1973, Nr. 77, A425. 461 Bernd Breslauer: Martin Bodmer remembered. In: Book Collector Vol. 37, No. 1 (1988), S. 43 f.
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literatur tätig gewesen; die von ihm in London errichtete Firma C. G. Rosenberg & Company Ltd. war auf »Fine Arts« spezialisiert. Der Verkauf erfolgte sowohl über ein Straßenlokal wie auch über Kataloge und Listen; in den fünfziger Jahren brachte Rosenberg jährlich bis zu zehn davon heraus. Ebenfalls zu einer Institution der Londoner Antiquariatsszene avancierte nach dem Krieg die Firma von Louis Bondy* (1910 Berlin – 1993 London) – obwohl dieser keine einschlägige Ausbildung durchlaufen hatte.462 Der Sohn des Journalisten und Zeitungsherausgebers Josef Adolf Bondy hatte Anfang der 1930er Jahre ebenfalls eine Journalisten- und Korrespondentenlaufbahn eingeschlagen, 1934 war er aufgrund »rassischer« Verfolgung nach Spanien und von dort nach Ausbruch des Bürgerkrieges im Oktober 1936 nach London emigriert. 1938 arbeitete er für das jüdische Informationsbüro (Jewish Central Information Office, die spätere »Wiener Library«) in Amsterdam, mit Untergrundverbindungen nach Deutschland, und kehrte Mitte 1939 mit dem Büro nach London zurück. Als anerkannter »Refugee from Nazi Oppression« entging Bondy der Internierung und leitete zwischen 1940 und 1945 das Informationsbüro des Political Intelligence Department (PID).463 Nach der Auflösung des PID im September 1946 verlegte sich Bondy in London auf antiquarische Interessen. Er kaufte Bibliotheken, die in öffentlichen Lagerhallen während des Krieges deponiert worden waren, kostengünstig auf und begann gleichzeitig mit der Katalogisierung der neuerworbenen Bücher. Im März 1947 eröffnete er unweit des British Museum in 16, Little Russell Street ein Ladengeschäft. Laut eigenen Aussagen hatte er guten Kontakt zu den ebenfalls emigrierten Kollegen Hans Preiss und Joseph Suschitzky; mit letzterem verband ihn eine ähnlich geartete Konzeption des Antiquariats als »Literarischer Salon«. Bereits 1948 erfolgte seine Aufnahme in die Antiquarian Booksellers Association, Anfang der 1960er Jahre beteiligte Bondy sich an der Planung der heute renommierten »Antiquarian Bookfair«. Als Antiquar legte Bondy den Schwerpunkt auf das Theater sowie englische und ausländische Literatur, besonders aber auf das Miniaturbuch, zu welchem er – bis in das 16. Jahrhundert zurückgehend – eine Gesamtdarstellung verfasste, die immer noch als maßgebliche Bibliographie dient.464 Seine Antiquarstätigkeit beendete Bondy nach vierzig Jahren, in denen er mehr als 100 Kataloge und Listen herausgebracht hatte.
Zwei Antiquarinnen: Lola Mayer und Gaby Goldscheider Auch Lola Mayer* (1906‒1979) war ein bekannter Name im englischen Buchhandel. Sie hatte als Geschäftsnachfolgerin des Buchhändlers und Antiquars Edmund Meyer in
462 Vgl. Louis Wolfgang Bondy: Ein Berliner wird Antiquar in London. In: Bbl. (Ffm) Nr. 25 vom 27. März 1987, S. A135‒A139; Bernard H. Breslauer: Obituary: Louis W. Bondy (1910‒1993). In: ABA Newsletter, Nr. 218 (August 1993), S. 17 f.; Nicolas Barker: Obituary: Louis Bondy. In: The Independent, 28 June 1993 [online]. 463 Nach Kriegsende legte Bondy in Buchform seine Abrechnung mit dem NS-Regime vor: Racketeers of Hatred. Julius Streicher and the Jew-Baiters' International. London: Newman Wolsey 1946 u. ö. 464 Louis Bondy: Miniature-Books: their history from the beginnings to the present day. London: Sheppard 1981 (vom Autor überarb. und erw. Ausg. in dt. Übersetzung v. Heike Pressler: Miniaturbücher von den Anfängen bis heute. München: K. Pressler 1988).
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Berlin Branchenerfahrung gesammelt, ehe sie – selbst eine engagierte Sozialistin – 1936 ihrem im antinationalsozialistischen Widerstand tätigen Ehemann, dem TocquevilleForscher Jacob-Peter Mayer, ins britische Exil nachfolgte. Dort etablierte sie sich im angestammten Metier unter Lola Mayer Bookseller in 34, Lanhill Rd., London W 9; später betrieb sie im Dorf Stoke Poges in Buckinghamshire gegen Voranmeldung ein Antiquariat für deutschsprachige Bücher (Literatur, Philosophie, Psychologie, Geschichte). Eine Späteinsteigerin im britischen Antiquariatsbuchhandel war Gaby Goldscheider* (geb. 1929 Wien), die Tochter von Ludwig Goldscheider, der in dem in London weitergeführten Phaidon Verlag für Programm und Gestaltung der Bücher verantwortlich war.465 Nach ihrem Studium an der Universität Oxford wurde sie als Antiquarin tätig466 und spezialisierte sich mit großem Erfolg auf »Holmesiana« und »Doyleana«; zu Arthur Conan Doyle brachte Goldscheider eine Bibliographie heraus, die im Zusammenhang mit ihrem Katalog 11 zu benutzen war.467 In den 1970er Jahren hatte ihr Antiquariat seinen Sitz in Windsor, Grafschaft Berkshire; nach einer Unterbrechung eröffnete sie in Coves auf der Isle of Wight 1994 erneut ein Ladengeschäft.
Schwerpunkt Musikantiquariat Großbritannien war immer auch ein Land der Musikliebhaber, und so fanden die mit Musikalien- und Musikautographenhandel vertrauten Immigranten günstige Bedingungen für eine Neuetablierung vor. Bereits als ein im Weltmaßstab führender Musikantiquar war Otto Haas* (1874 Frankfurt a. M. – 1955 London) 1936 nach London gekommen.468 Der Inhaber des auf Musikautographen spezialisierten Berliner Antiquariats Liepmannssohn hatte seit 1903 insgesamt 64 Autographen-Auktionen abgehalten, nicht weniger als 66 Originalmanuskripte Mozarts gingen durch seine Hände. Am Aufbau der bedeutenden Musiksammlung von Paul Hirsch hatte er großen Anteil. Nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« musste Haas aufgrund seiner jüdischen Herkunft sein Geschäft auflösen und den Hauptteil seines Autographenlagers an die Antiquariate Gustav Fock in Leipzig und J. A. Stargardt in Berlin verkaufen. Nach seiner Ankunft in Großbritannien gelang es ihm mit Hilfe englischer Kollegen schnell, sich in London / Hampstead, 49 Belsize Gardens, geschäftlich neu zu etablieren; noch im Sommer 1936 gab er, unter dem Firmennamen Otto Haas & Co., Antiquarian Bookseller, seinen ersten Katalog heraus, mit dem er die hohen Standards, die er bei der Katalogerstellung bereits in Deutschland beachtet hatte, auch im Exil fortsetzte. Trotz Schwie-
465 Vgl. dazu das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage. 466 Coleʼs Register of British Antiquarian and Secondhand Bookdealers. York: Spoon River Press 1988. 467 Gaby Goldscheider: Conan Doyle bibliography. A bibliography of the works of Sir Arthur Conan Doyle. (Privatdruck) Windsor 1977. 468 Siehe dazu u. a. SStAL, BV, F 13.361; Günther Mecklenburg: Otto Haas zum Gedächtnis. In: Bbl. (Ffm) Nr. 49 vom 21. Juni 1955, S. 394; Albi Rosenthal: Otto Haas, Antiquarian Bookseller (1874‒1955). In: Brio, Vol. 3, 1966, Nr. 1, S. 4; Survey of dealers specializing in antiquarian music and musical literature. In: Notes, Second Series, Vol. 23, No.1 (Sep. 1966), S. 28‒33; Fetthauer: Musikverlage, S. 469.
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rigkeiten in der Beschaffung hochwertigen Materials belieferte er in London die ebenfalls emigrierten Sammler Paul Hirsch und Stefan Zweig. Als Otto Haas altersbedingt seine Tätigkeit beenden wollte, wurde die Firma von Albi und Maude Rosenthal übernommen. Als Nachfolger Haasʼ stieg Albi Rosenthal* (1914 München – 2004 Oxford) zum unbestrittenen »König« des internationalen Musikautographenhandels auf.469 Im Mai 1933 nach England emigriert, war der Spross der berühmten Antiquarsdynastie, damals 19jähriger Abiturient, auf sich allein gestellt, da seine Familie ihren Fluchtweg zunächst über Italien nach Frankreich genommen hatten. Albi Rosenthal assistierte in London zunächst drei Jahre lang am neugegründeten Warburg Institute dem Kunsthistoriker Rudolf Wittkower. 1935 nahm ihn der Antiquar E. P. Goldschmidt auf eine Reise in die USA mit; in New York traf er Lathrop Harper und machte die Bekanntschaft mit Belle da Costa Greene, der Bibliothekarin der Pierpont Morgan Library. Auf Betreiben seines Vaters Erwin Rosenthal gründete Albi RosenAbb. 19: Der Musikantiquar Albi thal zwar 1936 das Antiquariat A. Rosenthal Rosenthal in Belsize Gardens, HampLtd. in London, das er von seiner Wohnung im stead, London. Londoner Stadtteil Mayfair betrieb, doch erst nach weiteren Studien- und Vorbereitungsjahren erschien 1939 sein erster Katalog mit 100 ausgewählten Manuskripten und Drucken aus Mittelalter und Renaissance. Rosenthal pflegte guten geschäftlichen Kontakt zu den großen englischen Firmen wie Maggs, Quaritch und Edwards, stand aber auch mit emigrierten Kollegen wie Heinrich Eisemann oder dem Wiener Bücherscout Otto Bielitz in Geschäftsbeziehung. Während Rosenthals Eltern und sein Bruder Bernard 1941 in die USA auswanderten, verblieb er auch während des Krieges in Europa. Nach der Zerstörung seiner Londoner Wohnung im Bombenkrieg zog er mit dem unversehrt gebliebenen Antiquariatslager nach Oxford; in Maurice L. Ettinghausen fand er einen erfahrenen Kollegen als Partner. Rosenthal konzentrierte sich auf Verkäufe in die USA, frequentierte die Bodleian Library und spielte Violine im Universitätsorchester von Oxford, dessen Direktor er schließlich wurde. 1948 gab er schließlich seinen ersten Musikalienkatalog heraus. Als er 1951 den Auftrag erhielt, in Lausanne die Musikaliensammlung des französischen Pianisten Alfred Cortot zu schätzen, schloss er Bekanntschaft mit Otto Haas.
469 Dazu: Interview des Verf. und Ulrich Bach mit Albi Rosenthal in London am 31. März 1995; Gespräch des Verfassers mit Albi Rosenthal, Mai 1997, London; ferner: Die Rosenthals. Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm, bes. S. 176‒180, 219, 226 f.; [Nachruf von Ulrich Drüner]. In: AdA 2004/6, S. 478‒481; Nicolas Barker: Doyen of music booksellers and collector of Mozart and Nietzsche [Nachruf]. In: The Independent, 10. August 2004.
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Kurz vor Haasʼ Tod erfolgte 1955 auf Vermittlung von Heinrich Eisemann und des Sammlers Paul Hirsch der Erwerb von Otto Haas Ltd. mitsamt dem Geschäftshaus in Belsize Park Gardens; damit konnte Rosenthal seiner privaten musikalischen Neigung nun auch beruflich nachgehen. Als Mitarbeiterin übernommen wurde Edith Loewenberg* (1903 Berlin – 1991 London), die erst 1954 in die Firma eingetreten war und dort bis 1990 blieb.470 Rosenthal stellte nachfolgend den Handel via Katalogen ein und verlegte sich ganz auf die Vermittlung von wertvollen Komponistenautographen an renommierte Institutionen, u. a. an das Beethoven-Haus in Bonn, das Mozarteum in Salzburg, das British Museum oder die Paul Sacher Stiftung in Basel, zu deren Treuhänder er bestellt wurde und für die er den Nachlass Igor Strawinskys und die Sammlung Anton von Weberns beisteuerte. Rosenthal zählte zu den wenigen weltweit anerkannten Experten für Musikautographen und war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der prominenteste Musikantiquar.471 Neben seiner beruflichen Tätigkeit sind seine musikwissenschaftlichen Aufsätze und seine bedeutenden Sammlungen von Mozart-Erstdrucken (Schenkung an die Bodleian Library, Oxford) und Nietzsche-Autographen (heute im Archiv des Nietzsche-Hauses, Sils Maria) besonders hervorzuheben. Die Firma A. Rosenthal Ltd., Boswell House, 1–5 Broad Street, wird heute von seiner Tochter Julia Rosenthal (geb. 1953 in Oxford) fortgeführt, die zuvor als Assistentin im Londoner Antiquariat Sims Reed Ltd. gearbeitet hatte. Kurzzeitig im Musikantiquariat von Otto Haas tätig war Herbert Ashbrook* (ursprgl. Hermann Eschelbacher, 1912 Freiburg – 2005 London).472 Der Sohn eines Rabbiners hatte seit 1930 im weltberühmten Buch- und Kunstantiquariat Joseph Baer in Frankfurt am Main eine Lehre absolviert; Mitte September 1933 emigrierte er nach England und machte in Cambridge im Antiquariat Bowes & Bowes ein sechsmonatiges Praktikum. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte er auf Vermittlung von Paul Hirsch im Antiquariat von Otto Haas seinen erlernten Beruf wiederaufnehmen; 1948 machte sich Ashbrook in London Hampstead, Belsize Park, selbständig. Beginnend mit einem allgemeinen Sortiment, spezialisierte er sich bald auf wissenschaftliche Musikliteratur, unternahm regelmäßig Einkaufsreisen in Europa, vermied allerdings den Einkauf auf Auktionen. Als Anfang der 1960er Jahre die im großen Stil praktizierten Reprintverfahren das wissenschaftliche Antiquariat stark beeinträchtigten, verlegte sich Ashbrook 470 Edith Loewenberg hatte in Berlin ihre Ausbildung im Antiquariat von Hans Preiss erhalten und war nach ihrer Emigration wieder im Londoner Buchladen von Hans Preiss tätig. Sie war eine enge Freundin Erika Manns. Vgl. A. R.: Obituary Edith Loewenberg. In: ABA Newsletter no. 200 (October 1991), [p. 26]. ‒ In der Firma war einige Zeit auch Inga Pollak* (geb. 1927 Wien) tätig, die 1939 mit einem Kindertransport nach London gekommen war und vor ihrer Tätigkeit für Rosenthal in Oxford als Bibliothekarin sowie als Buchhändlerin in Blackwell’s Bookshop gearbeitet hat. 471 Vgl. dazu: Festschrift für Albi Rosenthal; Obiter Scripta. Essays, Lectures, Articles, Interviews and Reviews on Music [Festschrift]. 472 Siehe den autobiographischen Beitrag: Herbert Ashbrook: Erinnerungen an die Schulzeit in Düsseldorf. In: Festschrift des Städtischen Görres-Gymnasiums Düsseldorf 1545‒1995, S. 153‒157; sowie: Angela Genger: »Ich habe in meinem Leben zwei große Schocks gehabt – die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gehörte nicht dazu«. Herbert Ashbrook (Hermann Eschelbacher) [1912‒2005] zum Gedächtnis. In: Augenblick Nr. 32/33: Geschichte erinnern – Erzählungen, Recherche und Symbole. Düsseldorf 2006, S. 22 f.
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zusehends auf Sortimentsware. Im Jahre 1977 zog er sich aus dem aktiven Handel zurück. Wie Ashbrook war auch Hermann Baron* (1914–1989) der Sohn eines Rabbiners; er hatte in Berlin Violine bei Max Rostal (1905‒1991) studiert und gehörte 1934 zu den Schülern, die gemeinsam mit ihrem Lehrer nach London emigrierten.473 In den 1940er Jahren begann Baron, seit 1949 an der Adresse 136 Chatsworth Rd., London N.W.2, sich als Musikantiquar zu betätigen und errang auf diesem Feld eine bedeutende Stellung.474 Auf zahlreichen Reisen erwarb er das Material, das er in insgesamt 144 Katalogen zum Verkauf anbot; ein Schwerpunkt lag dabei auf französischer Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, die er in breiter Auswahl auf Lager hatte. Als Sammler interessierte er sich u. a. für Violinliteratur, sowohl in Noten wie in Büchern. Seine rund 1.200 Stücke umfassende Sammlung lithographischer Musikalien aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von der University of Reading erworben; seine Sammlung von Musikverlagskatalogen (rund 500) befindet sich in der Bibliothek der University of Illinois at Urbana-Champaign.475 Seine Firma wurde von seiner Mitarbeiterin und Geschäftspartnerin Christel Wallbaum in Westhampstead weitergeführt. Anfang der 1950er Jahre kam zu den in London bereits bestehenden Musikantiquariaten noch jenes von Richard Pringsheim* (geb. 1924) hinzu.476 Pringsheim war 1935 von seinem Vater vorsorglich nach England geschickt worden und hatte dort die von Kurt Hahn (Salem) gegründete Schule in Gordonstoun in Schottland besucht. 1950 gründete er in London die Firma Musica Rara (W.1, 2 Gt. Marlborough Street). Er handelte in erster Linie mit Musikalien und Musikinstrumenten; ca. vier Mal jährlich versandte er Kataloge.477
Modernes Antiquariat Neben dem klassischen Antiquariatsbuchhandel war in der Londoner Emigration auch das Moderne Antiquariat vertreten. So etwa war die von S. Linden* (1912‒1986 Hampstead) betriebene Firma mehr und mehr an diesem Genre orientiert. Der Hitleremigrant und Branchen-»Newcomer« baute in London eine neue berufliche Existenz auf, indem er sich auf den (Zwischen)Buchhandel mit Lehrbüchern, insbesondere historischer, schöngeistiger und mathematischer Literatur spezialisierte. Zu den Kunden des als exzentrisch geltenden Antiquars zählten vor allem Bibliothekare und Buchhändler, die er mit niedrigpreisigen Katalogen an sich zu binden wusste. Sein vollgestopftes Lager
473 Vgl. Survey of dealers specializing in antiquarian music and musical literature. In: Notes, Second Series, Vol. 23, No. 1 (Sep. 1966), pp, S. 28‒33 [online]; Richard McNutt: Hermann Baron (1914‒1989). In: ABA Newsletter, Nr. 184, März 1990, S. 29 f. 474 Siehe auch seinen Aufsatz: Hermann Baron: The Music Antiquarian of Today. In: Brio, London, Autumn 1964, S. 4–6. 475 Vgl. die Sammlungsbeschreibungen in: University of Reading, Baron Collection [online]; sowie University of Illinois at Urbana-Champaign, Hermann Baron collection of music publishersʼ catalogs [online]. 476 Dazu: Brief von Herbert Ashbrook an Ulrich Bach vom 27. Februar 1996 (im Besitz des Verf.); Survey of dealers specializing in Antiquarian Music and Musical Literature, S. 33. 477 Pringsheim hat sich auch verlegerisch betätigt und brachte unter dem Label »Musica Rara« zahlreiche Musikraritäten im Druck heraus.
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befand sich in einem Souterrain in der Craven Street, nahe Charing Cross Station. Ab Mitte der 1970er Jahre handelte Linden mit Restauflagen und Buchbeständen aus Geschäftsauflösungen.478 Einen deutlichen Schwerpunkt im Modernen Antiquariat hatte auch die von Henry Pordes* (1925 Berlin − 1998 London) betriebene Buchhandlung.479 Er war als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern nach Großbritannien emigriert. Schon fünf Jahre später, 1944, gründete er in Clapton Common die Buchhandlung R. Searle, der aber wenig Erfolg beschieden war. Seine Karriere im Restehandel startete er dann in den 1950er Jahren mit dem Umzug in die Londoner Cavendish Street, von wo aus er einen (auch international angelegten) Handel mit Second-Hand-Büchern, Modernem Antiquariat und »Out-ofPrint«-Titeln aufbaute und auch einen Verlag errichtete, der neben Neuauflagen bewährter Titel auch wissenschaftliche Literatur und Bücher zum Judentum herausbrachte. Eine Zweigniederlassung in Frankfurt am Main wurde 1961 wieder aufgelassen; seit 1983 ist der Sitz von Henry Pordes Books Ltd. in 58–60 Charing Cross Road. In fünzig Jahren Tätigkeit wurde Pordes, nicht zuletzt durch seine Listen und die persistierende Werbung, zu einer legendären Persönlichkeit im internationalen Buchhandel. Die Firma wurde nach Pordesʼ Tod von seiner Tochter Nicole und seinem Schwiegersohn Gino DellaRagione weitergeführt.
Emigranten in Londoner Auktionshäusern Eine Besonderheit ergab sich im Falle Großbritanniens aus der starken Stellung, die Immigranten in der Kernzone des Buchauktionswesens, konkret bei den renommierten Auktionshäusern Sotheby’s und Christie’s, eingenommen haben. Der Weg dorthin führte freilich über mehrere Stationen. Es war Maurice Ettinghausen, der den im Juni 1933 mit seiner privaten bibliophilen Sammlung in London eingelangten Hellmut A. Feisenberger* (1909 Magdeburg – 1999 Orlando, Florida) einen Einstieg in den Antiquariatsbuchhandel ermöglichte: Durch seine Vermittlung konnte der junge Jurist, dem in Deutschland die Ablegung des Assessorexamens verwehrt worden war, als Juniorpartner von Irving Davis in das Antiquariat Davis & Orioli einsteigen und dort den englischen Antiquariatsmarkt gründlich kennenlernen.480 Zudem kam Feisenberger in Kontakt mit erfahrenen Berufskollegen, unter ihnen E. P. Goldschmidt und Ernst Weil; unter ihrem Einfluss entwickelte sich sein besonderes Interesse an früher Wissenschaftsliteratur. In den Kriegsjahren ging der Absatz bei Davis & Orioli zurück, so dass sich die Geschäftspartner wieder trennten; Feisenberger, der zum Militärdienst nicht angenommen wurde, fand Arbeit als »part-time cataloguer« beim Auktionshaus Sotheby’s. Nach dem Krieg
478 Siehe Eric & Joan Stevens: S. Linden. In: ABA Newsletter Nr. 145 (April 1986); Interview des Verf. mit Albi Rosenthal am 31. März 1995. 479 Korrespondenz des Verf. mit Henry Pordes, April 1995; Bbl. 100 v. 15. Dezember 1998, S. 20; BuchMarkt 1999/1, S. 253; The Jewish Chronicle obituaries; Henry Pordes Books Ltd. (Homepage) [online]. 480 Interview des Verf. und Ulrich Bach mit H. A. Feisenberger in London am 1. April 1995; Nicolas Barker: H. A. Feisenberger [Nachruf]. In: The Independent, 20. September 1999 [online].
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machte er sich als Antiquar selbständig, ging später eine Geschäftspartnerschaft mit Richard Gurney ein und brachte in dieser Zeit 18 profunde Kataloge heraus. Aufgrund der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung wurde 1952 die Zusammenarbeit mit Gurney gelöst; Feisenberger nahm eine Stelle als »chief cataloguer« bei William Dawson Ltd. an, bis er 1960 in der gleichen Funktion zum Auktionshaus Sotheby’s wechselte und dort zum »associate director« aufstieg. Dass die Auktionskataloge von Sotheby’s einen hervorragenden Ruf erwarben, war maßgeblich sein Verdienst. Feisenberger zählte inzwischen mit E. P. Goldschmidt und Ernst Weil zu den gelehrtesten Antiquaren seiner Generation. Einen spezifischen Ausdruck fand dies in der führenden Rolle, die er bei der Zusammenstellung der berühmten Ausstellung »Printing and the Mind of Man« (Earls Court / British Museum 1963) einnahm, wo eine stark von ihm geprägte Auswahl jener Bücher gezeigt wurde, die das Denken des Menschen in den vergangenen 500 Jahren am stärksten beeinflusst haben.481 1975 ging Feisenberger in den Ruhestand, blieb Sotheby’s aber bis 1983 als »consultant« verbunden. Feisenbergers Handbibliothek, mit vielen Widmungsexemplaren bedeutender Kollegen, wurde noch vor seinem Tod im April 1998 im Londoner Auktionshaus Bloomsbury versteigert. Auch beim großen Auktionshaus-Konkurrenten, bei Christie’s, war es ein Emigrant, der lange Zeit die Verantwortung für die Bücherkataloge trug: Hans Fellner* (1925 Wien – 1996 London).482 Der Sohn eines Wiener Bankiers und späteren Diplomaten war nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 als Dreizehnjähriger mit einem Kindertransport nach Birmingham gelangt und absolvierte dort ein Ingenieursstudium. In den frühen 1950er Jahren fand er zu seinem eigentlichen Beruf: Er wurde Mitarbeiter in der Buchhandlung David Nutt im Londoner Westend, machte sich bald selbständig und eröffnete 1956 in 28 Museum Street ein Antiquariat. Rund zwanzig Jahre lang führte Fellner erfolgreich das u. a. auf wirtschafts- und politikhistorische Literatur, auch auf Dichtung des 18. Jahrhunderts und Werke der englischen sowie deutschen Romantik spezialisierte Antiquariat, bis er 1976 ein Stelle als »cataloguer« am Book Department des Auktionshauses Christie’s annahm. In dieser Eigenschaft hat er zahlreiche herausragende Sammlungen und Einzelstücke, Handschriften ebenso wie kostbare Bücher, beschrieben und bewertet. Im Rahmen dieser Tätigkeit, zuletzt als Direktor der Abteilung und danach als Consultant, erwarb er sich die Anerkennung als einer der eminenten Experten des Metiers.
481 Printing and the Mind of Man. Catalogue of the exhibitions at The British Museum and at Earls Court. London 1963; Printing and the Mind of Man. A descriptive catalogue illustrating the impact of print on the evolution of Western civilisation during five centuries. Ed.s John Carter and Percy H. Muir. London: Cassell & Co. 1967; 2., rev. and enlarged ed. München: K. Pressler 1983 (dt. u. d. T.: Bücher die die Welt verändern. Ausgewählt und hrsg. von John Carter und Percy H. Muir, unter Mitwirkung von Nicolas Barker, H. A. Feisenberger u. a. München: Prestel 1968; Lizenzausgaben Darmstadt: Wiss. Buchges. 1969, München: dtv 1976). 482 Telef. Interview des Verf. mit Hans Fellner am 1. April 1995, London; Nicolas Barker: Hans Fellner [Nachruf] In: The Independent, 23. Juli 1996, S. 21 [online]; Felix de Marez-Oyens: Hans Fellner [Nachruf]. In: The Times v. 26. Juli 1996 [online]; Bbl. Nr. 69 vom 27. August 1996, S. A367.
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Frankreich Paul Graupe & Cie. Frankreich war kein bevorzugtes Ziel von aus Deutschland vertriebenen Antiquaren, daran änderte auch das Faktum nichts, dass erstrangige Vertreter des Metiers nach Paris gelangten, wie Paul Graupe oder Mitglieder der Familie Baer. Notgedrungen eine Episode bis 1940 blieb die von Paul Graupe* (1881 Neu-Trebbin, Mark Brandenburg – 1953 Baden-Baden)483 und Arthur Goldschmidt* (1891‒1960)484 in Paris gegründete Firma Paul Graupe & Cie. Graupe, in Berlin Inhaber des renommiertesten Kunst- und Buchauktionshauses, hatte sein zunächst auf bibliophiles Antiquariat ausgerichtetes Tätigkeitsfeld auf dekorative Graphik und Malerei erweitert und zwischen 1916 und 1936 rund 150 Auktionen durchgeführt – in den Jahren seit 1933, nach Verlust der Zugehörigkeit zur Reichskammer der bildenden Künste, mit Sondergenehmigung aufgrund der internationalen Bedeutung und der Deviseneinnahmen für den Staat (ca. 1,3 Mio. RM im Jahr 1931). Im August 1937 wurde das Unternehmen einvernehmlich, aber doch im Sinne einer »Arisierung« ohne jede Zahlung an den bisherigen Mitarbeiter Hans Walter Lange übergeben, der es bis 1943 leitete und in diesem Zeitraum 35 Auktionen veranstaltete; Lange gehörte auch zu den Kunstlieferanten Hitlers und Görings.485 Graupe, dem es gelungen war, Geldmittel und Ware ins Ausland zu transferieren, verließ im Januar 1937 Deutschland, ebenso wie auch der mit ihm eng befreundete Arthur Goldschmidt, Geschäftsführer des Bibliophilen Verlags O. Goldschmidt-Gabrielli in Berlin, mit dem zusammen er eine Galerie in London eröffnen wollte. Die beiden entschieden dann anders und gingen nach Paris, wo sie am 8. Juli 1937 an der Place Vendôme Nr. 16 eine Kunst- und Antiquitätenhandelsgesellschaft gründeten.486 Während Goldschmidt aufgrund seiner besseren Sprachkenntnisse Aufgaben der Kundenpflege und des Einkaufs übernahm, erledigte Graupe die fachliche Bearbeitung der Aufträge. Die Paul Graupe & Cie. war hauptsächlich auf den Handel mit Gemälden ausgerichtet, wofür sich durch die Entfernung »entarteter Kunst« aus deutschen Museen gute Möglichkeiten eröffneten: Zwecks Beschaffung ausländischer Devisen wurde eine Verkaufsliste der beschlagnahmten Werke (rund 5 000 Gemälde, von van Gogh über Munch bis Picasso und Matisse, und 20 000 Skulpturen, Zeichnungen und Graphiken) angelegt, die auch Graupe und Goldschmidt, wohl auch im Einvernehmen mit NS-Stellen, zu nützen suchten. Das Antiquariatsgeschäft wurde in Paris unterdessen von Ernst Jutrosinski* (1901‒ 1953) besorgt, der schon in Berlin bis 1936 die Antiquariatsabteilung bei Paul Graupe geleitet hatte; er war der erste Ehemann der späteren Thames and Hudson-Verlegerin
483 Siehe Chris Coppens: Der Antiquar Paul Graupe (1881‒1953). In: Gutenberg-Jahrbuch 1987, S. 255‒264; Golenia / Kratz-Kessemeier / Le Masne de Chermont: Paul Graupe (1881– 1953). 484 Goldschmidts Frau Anne Marie Kelsen-Goldschmidt war während der 1930er Jahre im Berliner Geschäft Graupes angestellt. 485 Vgl. jetzt: Caroline Flick: Zur Übernahme des Auktionshauses Paul Graupe durch Hans W. Lange (April 2013), [online]. 486 Genaueres hierzu und zum Folgenden bei Golenia / Kratz-Kessemeier / Le Masne de Chermont: Paul Graupe (1881–1953) S. 134–160.
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Eva Neurath, die ebenfalls bei Graupe beschäftigt war.487 Jutrosinski war bereits 1933 nach Paris gegangen und vermittelte dort antiquarische Bücher oder ganze Sammlungen; 1935 bot er die Bibliothek des verstorbenen englischen Sammlers Edward Speyer zum Kauf an, aus der Stefan Zweig Mozart-Autographe erwarb. Seit 1937 anerkannter Flüchtling, hatte er die Genehmigung, in Frankreich erwerbstätig sein zu dürfen. Er wohnte im Hotel Helvetia, wo er in engem Kontakt mit exilierten Schriftstellern stand, besonders mit Hans Sahl, der ihn in einem autobiographischen Roman Die Wenigen und die Vielen als »Borinski« porträtierte. 1938 trat er in die Paul Graupe & Cie. ein, um dort bei der Erschließung des antiquarischen Marktes in Frankreich behilflich zu sein; Graupe selbst konzentrierte sich damals auf den Kunsthandel. Nach der Besetzung Frankreichs 1940 wurde das Unternehmen von der Vichy-Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt; Graupe und Goldschmidt gelang es, nach New York zu übersiedeln, wo sie weiter im Kunsthandel tätig blieben.488 Jutrosinski konnte nach kurzer Internierung in Colombes nach Großbritannien flüchten, diente dort bis Ende 1942 im Pioneer Corps und war anschließend in London für den weltbekannten Antiquar Percy Muir tätig.
Leopold Alfred Baer Nach Paris gelangt war auch Leopold Alfred Baer* (1880 Frankfurt a. M. – 1948 Paris),489 aus dem traditionsreichen Frankfurter Unternehmen Joseph Baer & Co. Der Kunsthistoriker war 1902 in das väterliche Antiquariat eingetreten und hatte es, seit 1911 als Teilhaber, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Edwin Markus Baer* und Moriz Sondheim (1860‒1944) mit fortgesetztem Geschäftserfolg und weiterem Prestigezuwachs geführt, bis von der Reichskulturkammer im Juni 1934 den jüdischen Inhabern die Berufsausübung verboten wurde. Während Sondheim bis zu seinem Tod 1944 in Frankfurt verblieb, entschlossen sich die Brüder Baer zur Emigration in die Schweiz, wohin sie hunderte ihrer kostbaren Bücher als »Drucksachen« unversichert gesendet hatten.490 In Genf etablierten sich die beiden Antiquare nur für kurze Zeit. Edwin Markus Baer ging nach London (siehe weiter oben), Leo Baer mit seiner Sammlung von Wiegendrucken nach Paris und gründete dort ein Antiquariat. Nach Kriegsbeginn wurde er als »feindlicher Ausländer« verhaftet und interniert,491 zuletzt im Lager im Departement 487 Vgl. Golenia / Kratz-Kessemeier / Le Masne de Chermont, S. 150, 162, 231. 488 Siehe in diesem Kapitel weiter unten. 489 Dazu u. a.: Friedrich Hermann Schwarz: Zur Geschichte der Firma Joseph Baer & Co. In: Bbl. (Ffm) Nr. 77 vom 28. September 1973, S. A415‒418; Schroeder: »Arisierung« I (2009), S. 298‒302; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 377 f. Zur Firmengeschichte siehe auch die Kapitel zum Antiquariatsbuchhandel in Band 1/3 und 2/2 dieser Buchhandelsgeschichte. 490 Leopold Baers Sohn Alexandre (geb. 1921) berichtete in einem Brief an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt vom 1. Januar 1976 von Erpressungen zur Rückgabe sehr wertvoller Bücher, die von Genf nach Frankfurt zurückgeschickt wurden, um das Leben des zurückgelassenen Geschäftsführers zu retten. (Alexandre Baer: Joseph Baer & Co., fondée 1785. Paris: A. Baer 1977). 491 Nach Auskunft von Susanne Bach war Baer während des Krieges trotz seines fortgeschrittenen Alters in einem »besonders unangenehmen« Internierungslager in Frankreich untergebracht. (Bach: Karussell, S. 67).
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Finistère, von wo ihm die Flucht gelang. Baer konnte mit seiner Frau und seinem Sohn Alexandre mit auf den Namen Bernheim gefälschten »Cartes d’Identités« im Untergrund überleben, doch von den Strapazen geschwächt starb Baer drei Jahre nach Kriegsende. Nach dem Krieg setzte Alexandre Baer die Familientradition in Paris fort und handelte u. a. mit amerikanischen Frühdrucken. Im Gegensatz zu den meisten exilierten Buchhändlern, die sich mit Entschädigungsforderungen eher zurückhielten, machte Alexandre Baer Ende der 1970er Jahre durch eine öffentliche Bekanntgabe auf die skandalös geringen Zahlungen seitens der deutschen Rückerstattungsbehörden aufmerksam.492
Niederlande Die Niederlande waren nach 1933 ein naheliegendes Fluchtziel für die Verleger- und Buchhändleremigration aus Deutschland – geographisch, aber auch durch sprachliche und kulturelle Verbundenheit. Das galt in besonderem Maße für Antiquariatsbuchhändler, und so war es denn auch eine beträchtliche Anzahl, die sich in das Nachbarland flüchtete.493 Für sie alle handelte es sich um eine trügerische Sicherheit; viele begaben sich bald auf eine zweite Flucht, für nicht wenige von ihnen erwies sich das niederländische Exil aber als tödliche Falle. In einigen Fällen schloss sich hingegen eine glanzvolle oder doch bemerkenswerte Nachkriegsgeschichte an. Dass der an sich sehr gut entwickelte niederländische Antiquariatsbuchhandel nach 1933 seitens der aus Deutschland immigrierten Kollegen auch ökonomisch starke Impulse erhalten hat, ging schon aus einer von der Wirtschaftsprüfstelle der deutschen Besatzungsmacht 1940 angefertigten Aufstellung hervor. Danach wurde, nach Betriebskapital gemessen, das Ranking angeführt vom Internationaal Antiquariaat Menno Hertzberger (holl. Gulden 70.000), auf den nächsten Plätzen folgten aber schon die Antiquariate Junk (42.267,15), Ludwig Rosenthal (22.262,94) und Horodisch / Erasmus (20.290,91), vor den Antiquariaten der Brüder Israel (15.000).494 Zwar wurden vielfach im Zuge der Schließung oder Übernahme von Firmen durch neue »arische« Besitzer bedeutende Werte vernichtet, 1945 auch durch Plünderungen verwaister Läden, doch erwies sich die Wirkung der Antiquarsimmigration doch als nachhaltig.
492 HABV / DNB, Mappe Joseph Baer; Entschädigungsakte im Regierungspräsidium Darmstadt in Wiesbaden Entschädigungsbehörde; Amt für Wissenschaft und Kunst¸ Akten zum Zwangsverkauf an die Frankfurter Universitätsbibliothek. ‒ Über die Verschleppungstaktik der deutschen Behörden hat auch der Mitte der 1960er Jahre als Gutachter in der Rückerstattungssache Magdalena Baer bestellte Buchhändler Hans Benecke berichtet. Benecke: Eine Buchhandlung in Berlin, S. 251 f. 493 Vgl. zum Folgenden Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, bes. S. 182– 199. Vgl. auch Buijnsters: The antiquarian book trade in the Netherlands during the Second World War. – Buijnsters hat auch eine Geschichte des Antiquariats in Belgien vorgelegt (Buijnsters: Geschiedenis van antiquariaat en bibliofilie in Belgie), nach 1933 aus Deutschland immigrierte Antiquare sind dort aber nicht verzeichnet. – Vgl. ferner den informativen Beitrag von Vera Bendt: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945. Bendt verweist auch auf die als biographische Quelle ergiebige Dokumentation von Jan Aarts, Chris Koyman: Dit is mijn boek. Joodse exlibriscultur in Nederland. Met een bijdrage van Frits J. Hoogewoud. Amsterdam: De Buitenkant 2017. 494 Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 194 f.
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Ludwig Rosenthal, Den Haag Ein markantes Beispiel für ein Unternehmen, dem es gelang, nach deutscher Besetzung und Krieg an dem niederländischen Fluchtort festzuhalten und ihn zur dauerhaften neuen Heimat zu machen, repräsentiert das Antiquariat Ludwig Rosenthal – aber auch dessen Schicksal war mit größter Tragik behaftet. Denn Norbert Rosenthal* (1874 München – 1944 KZ Theresienstadt),495 Sohn von Ludwig Rosenthal (1840‒1928) und seit 1922 alleiniger Inhaber des Rosenthal-Stammhauses Ludwig Rosenthal OHG, eines der bedeutendsten seiner Zeit für die Bereiche Inkunabeln, seltene Drucke und Handschriften, konnte dem mörderischen Regime nicht entkommen und starb, 1942 deportiert, nach Lagerhaft im KZ Theresienstadt.496 Seine Söhne Paul Rosenthal* (1906 – 1944 KZ Auschwitz)497 und Fritz Rosenthal* sowie (seit 1934) dessen Ehefrau Hilde Rosenthal* geb. Wolf konnten sich Anfang August 1937 in Sicherheit bringen, später auch sein dritter Sohn Ernst Rosenthal* (1906 München – 1984), der seinen Vater bei der aufgezwungenen, durch zahlreiche Schikanen behinderten Liquidation des Unternehmens unterstützte und wie dieser nach der Reichspogromnacht verhaftet worden war.498 Fritz Rosenthal* (1908 München – 1955 Hilversum), der jüngste Sohn von Norbert Rosenthal, hatte den Antiquarsberuf in enger Zusammenarbeit mit anderen Angehörigen der verzweigten Rosenthal-Familie erlernt.499 Als er nach seiner Emigration 1937 in Den Haag gemeinsam mit seiner Frau und seinem Bruder Paul in der Willem de Zwijgerlaan 135 unter Beibehaltung des alten Firmennamens das Antiquariat Ludwig Rosenthal gründete, erhielt er aus dem großen Münchener Lager seines Vaters ein Konvolut an Büchern, dessen Wert von einem Gutachter mit 11.000,– RM beziffert wurde und von den Behörden die Genehmigung zur Ausfuhr erhielt. Dem Aufbau des Unternehmens wurde aber bald, durch den Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Niederlande im Mai 1940, der Boden entzogen; die Rosenthals wur495 Vgl. u. a. Die Rosenthals, S. 82 f., 173 f., 189‒196; Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, bes. S. 219 f., 282–285. 496 Im KZ ermordet wurden auch Norbert Rosenthals Bruder Adolf und seine Schwester Lina; sein Bruder Heinrich Rosenthal* hatte sich 1931 in die Schweiz zurückgezogen und betrieb von Luzern aus einen Kunst- und Antiquariatshandel. 497 Siehe Die Rosenthals, bes. S. 189 f., 196; Björn Biester: Der Aufstieg der Münchner Antiquarsfamilie Rosenthal zu Weltruhm. In: Aus dem Antiquariat 2003/1, S. 37‒42 [Sammelrezension]. 498 Ernst Rosenthal, Zwillingsbruder von Paul Rosenthal, hatte seit Mai 1925 im Antiquariat seines Vaters mitgearbeitet. Nach Verhaftung und einem im KZ Dachau unter unmenschlichen Bedingungen verbrachten Winter 1938/1939 konnte er aufgrund umfangreicher materieller »Sühneleistungen« am 31. Mai 1939 mit einem Transitvisum nach England ausreisen; seine Ehefrau Anneliese, geb. Roth folgte ihm zwei Wochen später. Nach 1945 hat sich Ernst Rosenthal gemeinsam mit seinem Bruder Fritz um die Restitution des Familienbesitzes bemüht und im Rahmen des Wiedergutmachungs- und Entschädigungsverfahrens die Enteignungsvorgänge präzise dokumentiert. Vgl. dazu Die Rosenthals, bes. S. 173, 189 f., 215; außerdem: Ins Licht gerückt: jüdische Lebenswege im Münchner Westen, S. 141‒143; Selig: »Arisierung« in München, S. 648‒654. 499 Siehe hierzu Hans Koch: Fritz Rosenthal zum Gedächtnis. In: AdA Bbl. (Ffm) 1955, Nr. 26 vom 1. April 1955, S. 213; sowie Die Rosenthals, bes. S. 189 f., 196, 216 f.; Biester: Streifzüge S. 478.
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den 1941 aus Den Haag ausgewiesen und zogen nach Hilversum, wo Fritz und Hilde Rosenthal die Besatzung unter falschem Namen überlebten, während Paul Rosenthal und seine Verlobte Eva Gumbert, die sich zusammen mit anderen Juden in einer Wohnung in Hilversum versteckt hielten, verraten wurden. Sie wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs etablierten sich Fritz und Hilde Rosenthal in Hilversum von Neuem als Antiquariatsbuchhändler. Alles, was sie 1940 aus Den Haag dorthin hatten retten können, war durch die Gestapo 1942 abhanden gekommen, auch die wertvolle Handbibliothek. Im Vorwort zum ersten Katalog 1947 Interesting old and rare books wurde der Toten der Familie gedacht. Zur selben Zeit bemühten sich Fritz und sein Bruder Ernst um die Rückerstattung des gestohlenen Familienbesitzes. Günther Koch, der 1940 den Hauptteil des großen Warenlagers zu einem Preis weit unter Wert übernommen hatte,500 berief sich nun seinerseits auf die Verluste durch Kriegszerstörungen. Nachdem mit Hilfe amerikanischer Besatzungsoffiziere ein Teil des einstigen Bücherbestandes in Schleißheim aufgefunden und als ehemaliger Rosenthal’scher Besitz identifiziert worden war, wurde im Juni 1949 mit Koch ein gerichtlicher Vergleich geschlossen. Die Überstellung des ehemaligen Besitzes in insgesamt 666 großen Kisten erleichterte den Wiederaufbau der Firma in Hilversum. Fritz Rosenthal starb bereits 1955 im Alter von nur 47 Jahren; seine Kollegen betrauerten in ihm einen »der befähigsten und international angesehensten niederländischen Antiquare«. Hilde Rosenthal* (1910 München – 1998 Hilversum) übernahm nun die alleinige Leitung der Firma Ludwig Rosenthals Antiquariaat. Der Familientradition folgend, gab sie 1959 zum 100jährigen Bestehen der Firma den reich bebilderten Jubiläumskatalog Nr. 204 heraus. Anlässlich ihres 70. Geburtstages würdigte Walter Remy ihr Lebenswerk im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel: Du hast dann nach dem plötzlichen Tod Deines Mannes […] in ungebrochener Schaffenskraft und bewunderungswürdiger Energie Dein ganzes Leben dem Hause Ludwig Rosenthal gestellt und ihm durch Dein Werk wieder die Weltgeltung verschafft, die es bis zur Vernichtung auf deutschem Boden fast 80 Jahre lang unangefochten besaß.501 Die Führung des traditionsreichen Antiquariats, das inzwischen in Leidschendam ansässig, aber nach wie vor auf Inkunabeln, Frühdrucke, Hebraica und Humanismus spezialisiert war, wurde nach und nach von Tochter Edith Petten-Rosenthal (geb. 2. Februar 1948) übernommen.502 500 Nicht zu verwechseln mit Hans Koch, dem nach der Vertreibung von Erwin Rosenthal das Münchner Antiquariat Jacques Rosenthal anvertraut worden war. 501 Walter Remy: Hilde Rosenthal zum 70. Geburtstag. In: Bbl. (Ffm) Nr. 63 vom 29. Juli 1980, S. A327‒A329. 502 Ergänzend zu der bisher genannten Literatur zur Familie Rosenthal siehe: Incunabula and Postincunabula. Issued to commemorate the 100th anniversary of Ludwig Rosenthal’s Antiquariaat. Hilversum, Netherlands 1859‒1959. With a short history of the firm. [Centenar Katalog der Firma Ludwig Rosenthal Hilversum / Holland] Hilversum: Rosenthal 1959; Hans Koch: Ludwig Rosenthals Antiquariaat, Hilversum 1859‒1959. In: Bbl. (Ffm) Nr. 104 vom 30. Dezember 1959, S. 1934 f.; Die Rosenthals, bes. S. 217 f.
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Wilhelm Junk, Den Haag In die Niederlande emigriert war auch der seinerzeit bedeutendste wissenschaftliche Antiquar Deutschlands, Wilhelm Junk* (1866 Prag – 1942 Den Haag).503 Er hatte seine erste Ausbildung in Berlin bei seinem Onkel Julius Friedländer im Antiquariat R. Friedländer & Sohn erhalten, in dem er 1891 Mitinhaber wurde. 1900 rief er in der Reichshauptstadt sein eigenes Unternehmen Verlag und Antiquariat für Naturwissenschaften W. Junk ins Leben: ein wissenschaftliches, auf Entomologie und Botanik spezialisiertes Antiquariat, das zahlreiche Kataloge von hohem fachbibliographischem Wert herausbrachte, sowie einen wissenschaftlichen Verlag, den er allerdings 1910 verkaufte, um sich ganz dem expandierenden Antiquariatsgeschäft widmen zu können.504 1906 stellte er das Internationale Adreßbuch der Antiquar-Buchhändler zusammen, in dem er etwa 1.900 Adressen mit Angabe der Spezialisierung verzeichnete; daneben war er auch engagierter Bibliophile505 und publizierte Gedanken über die Zukunft des Buchhandels und die Tätigkeit des Antiquars. 1931 umfasste der Verlagskatalog beinahe 400 Werke auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Bald nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten emigrierte Junk, der tschechoslowakischer Staatsbürger war, 1934 nach Den Haag: Neben der »abweichenden Gesinnung« und der Gefährdung durch »rassische« Verfolgung machten die Schwierigkeiten, die Ware für das hochspezialisierte Antiquariat im Ausland zu erwerben, einen Umzug in ein Land ohne Devisenbewirtschaftung notwendig. Auf zwei Schiffen wurden die Lagerbestände von Antiquariat und Verlag mit einem Gesamtgewicht von 120.000 kg von Berlin nach Den Haag transportiert: Dieser Umzug, der der RSK im September 1934 angezeigt wurde, erregte im Nachhinein die Aufmerksamkeit der Reichsanstalt für Landund Forstwirtschaft, doch konnte nur festgestellt werden, dass auch die RSK ohne jede Kenntnis von den Ausmaßen dieser gewaltigen Übersiedlung geblieben war (in einer Aktennotiz wurde der Antiquariatsbestand sogar mit 140.000 kg beziffert, der jährliche (Devisen-)Verlust, den das Deutsche Reich durch den Weggang Junks erleide, mit 25.000 RM). Junk hatte seine Bestände somit glücklich vor dem Zugriff des NS-Regimes gerettet und seine Existenz im holländischen Exil gesichert; dadurch konnte er sein Geschäft unter dem Namen W. Junk als Verlag und naturwissenschaftliches Antiquariat an der Adresse Oude Scheveningsche Weg 74 fast bruchlos weiterführen. Angesichts seines hohen Alters506 sah er sich jedoch mit dem Betrieb beider Geschäftszweige überfordert 503 Siehe insbesondere die Werke mit (auto)biographischem Bezug.: Uitgeverij Dr. W. Junk. 1899‒1959. 60 years publishers for descriptive, experimental and applied natural sciences, agricultural, biochemical and medical research work. Den Haag 1959 [mit Verlagsbibliographie]; W. Junk. I. Verlag. II. Antiquariat. Berlin 1931 [Katalog; mit autobiogr. Vorwort]; W. Junk: 50 Jahre Antiquar. Ein nachgelassenes Manuskript hrsg. v. A. C. Klooster u. W. Weisbach. ʼs-Gravenhage: Junk 1949. Vgl. ferner Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 183 f., 276–278. 504 Später nahm Junk wieder eine verlegerische Tätigkeit auf und initiierte enzyklopädische Werke und internationale naturwissenschaftliche Reihen sowie Neudrucke wissenschaftlicher Grundlagenwerke. Vgl. dazu Band 2/2 dieser Buchhandelsgeschichte, im Kap. Antiquariatsbuchhandel S. 429 f. 505 Vgl. etwa: Wilhelm Junk: Wege und Ziele bibliophiler Vereinigungen. Berlin 1929. 506 Zum weiteren Schicksal Wilhelm Junks und zu seiner verlegerischen Tätigkeit in den Niederlanden siehe das Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage.
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und entschloss sich 1935 zum Verkauf des Antiquariats an Dr. Otto Liebstaedter* (1900‒ 1968). Liebstaedter, der 1927 als Teilhaber in das Berliner Antiquariat A. Asher & Co. eingetreten war, das hauptsächlich Universitäts- und Staats-Bibliotheken belieferte, war 1933 zur Veräußerung seiner Anteile und zur Emigration gezwungen worden; seit 1. August 1933 leitete er in Den Haag die Firma A. Asher’s Import & Export-Boekhandel, einen Zweig des Berliner Sortiments- und Antiquariatsgeschäftes, der später von Nico Israel fortgeführt wurde. Das von ihm 1935 erworbene Antiquariat W. Junk wurde nunmehr von ihm, zusammen mit Rudolph Schierenberg, zusätzlich zu seiner Tätigkeit bei Asherʼs unter dem Namen Antiquariaat W. Junk bis 1940 weitergeführt. Nach der Okkupation Hollands durch die Nationalsozialisten konnten beide Firmen nicht weiter existieren; Liebstaedter musste das Antiquariat Junk auf Befehl der deutschen Besatzer an den nichtjüdischen Kompagnon Schierenberg übergeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg taten sich Liebstaedter und sein ebenfalls emigrierter Jugendfreund Karl Anton Steiner* (1905‒1978), der ihn schon in Den Haag in den Firmen Asher und Junk unterstützt hatte, erneut zusammen; sie reaktivierten A. Asher & Co., diesmal in Amsterdam an der Herengracht, und spezialisierten sich, wie ehemals W. Junk, auf das naturhistorische Fachantiquariat.507 Karl Anton Steiner* war nicht nur Mitarbeiter in Liebstaedters Firmen, sondern setzte in den beginnenden 1940er Jahren als »Untertaucher« seine Arbeit als Buchhändler unter dem Deckmantel des Antiquariats Praamsma in Zeist fort. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründete Steiner 1946 in Amsterdam unter seinem Namen eine eigene Antiquariatsfirma und brachte drei kleine Verkaufskataloge heraus. Ein Jahr später löste er dieses Antiquariat wieder auf, um gemeinsam mit Liebstaedter die Firma A. Asher & Co. wiederzubeleben. Nach dem Tod Liebstaedters 1968 nahm Steiner seinen Sohn Julius W. Steiner (geb. 1946) als Geschäftspartner auf. Schon 1970 zwangen ihn jedoch gesundheitliche Gründe dazu, die Firma an den niederländischen Antiquar Nico Israel (1919‒2002) zu verkaufen, der seit 1950 an der Amsterdamer Keizersgracht ein auf »fine books, maps and atlases« spezialisiertes Ladengeschäft führte. Julius Steiner blieb als Geschäftsführer des Antiquariats Asher tätig; die beiden Antiquariate behielten jeweils ihre spezifischen Spartenprofile bei. Bereits 1971 gliederte Israel seine ursprüngliche Firma als Unterabteilung A. Asher & Co. ein. Als Nico Israel 1995 in den Ruhestand wechselte, verkaufte er A. Asher & Co. an den bibliophilen Industriellen Machiel / Michael J. Roos (geb. 1946), der seit 1990 nebenher in Haarlem ein Liebhaberantiquariat betrieben hatte. Julius Steiner blieb dem Unternehmen weiterhin eng verbunden, auch als es nach dem Rückzug Roos’ 2010 mit dem Antiquariaat Forum (gegr. 1970 von Sebastiaan Hesselink) vereinigt wurde. Das Antiquariat Asher Rare Books, das sich mit der Spezialisierung auf Naturgeschichte, Atlanten, illustrierte Bücher und Reiseliteratur und generell auf »fine books & manuscripts« sowohl auf die von Wilhelm Junk wie auch auf die von Nico Israel gestifteten Traditionslinien berufen kann, steht heute (2019) unter der Leitung von Laurens Hesselink und Julius Steiner.
507 K. A. Steiner: Zum Gedenken an Dr. Otto Liebstädter. In: Bbl. (Ffm) Nr. 39 vom 16. Mai 1969, S. A1056; Schroeder: »Arisierung« I (2009), S. 305 f.; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 374; A. Asher & Co. B.V. [Homepage]: http://www.asherbooks.com/history.html
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Abraham Horodisch und das Erasmus Antiquariaat, Amsterdam Trotz widriger Zeitumstände erwarb sich das von Abraham Horodisch* (1898 Lodz / Polen (ehem. russ.) – 1987 Amsterdam) 1934 in Amsterdam gegründete Erasmus Antiquariaat en Boekhandel über fünf Jahrzehnte hinweg kulturelle Verdienste im internationalen Maßstab. Bereits am 22. Juni 1933 war Horodisch* in Amsterdam eingelangt, zusammen mit rund zweitausend Bänden seiner Privatbibliothek.508 Unternehmergeist hatte der promovierte Ökonom schon früh bewiesen. Gemeinsam mit Ernst Rathenau hatte er 1920 in Berlin den Euphorion Verlag gegründet, der in wenigen Jahren zu einem wichtigen bibliophilen Verlagsunternehmen avancierte. 1924 verließ er aufgrund von Unstimmigkeiten das Unternehmen und errichtete mit Moses Marx den Verlag Marx & Co. (ab 1926 Horodisch & Marx), der – mit angeschlossener Druckerei – bibliophile Werke herausbrachte und auch auf die Publikation von Musikpartituren spezialisiert war. Da Marx 1926 eine Stelle als Bibliothekar in den USA annahm, führte Horodisch den Verlag von 1927‒1933 in Alleinregie. Seit 1929 war er auch Inhaber der Handpresse Aldus Druck. Zuvor schon war Horodisch 1924 Mitbegründer der Soncino Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches, deren Mitteilungen er zwischen 1928 und 1932 herausgab. Auch gehörte er noch anderen bibliophilen Vereinigungen an, aber nachdem im März 1933 die jüdischen Mitglieder des Berliner Bibliophilen-Abends zum Austritt aufgefordert worden waren, entschied sich Horodisch, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen.509 In den Niederlanden stand Horodisch vor dem Problem, dass er über kein Investitionskapital verfügte und dass ihm auch die Führung einer Sortimentsbuchhandlung von der niederländischen Buchhändlervereinigung (zunächst) nicht erlaubt wurde. Er richtete daher in der Amsterdamer Spuistraat 314 das Geschäft Erasmus Antiquariaat en Boekhandel ein und ließ es am 16. März 1934 in das Handelsregister eintragen; die von Hertzberger 1935 gegründete Nederlandsche Vereeniging van Antiquaren nahm ihn sofort als neues Mitglied auf. 1934 heiratete Horodisch in zweiter Ehe die mit ihm emigrierte gebürtige Berlinerin Alice Garnman (ursprgl. Garnmann, 1905‒1984),510 eine auf den Entwurf von ex libris spezialisierte Graphikkünstlerin, die fortan alle Drucksachen des Unternehmens gestaltete. Die wirtschaftlichen Umstände erwiesen sich als günstig: Als Folge der Weltwirtschaftskrise hatten sich nicht nur die für das Antiquariat einzukaufenden Bücher rapide verbilligt, sondern auch die Löhne für Angestellte sowie die
508 Zu Horodisch vgl. dessen autobiographische Veröffentlichungen: A. H.: Der Euphorion Verlag (mit Bibliographie); A. H.: Schlussbemerkung: Fünfzig Jahre Buchhändler in Amsterdam. In: De Arte et Libris. Festschrift Erasmus. 1934‒1984. Amsterdam 1984, S. 465‒469. Ferner: Amor Librorum. Bibliographic and other Essays. A Tribute to Abraham Horodisch on his Sixtieth Birthday. Amsterdam: Erasmus 1958; Edita Koch: Ein nimmermüder Antiquar. Zum einjährigen Todestag von Abraham Horodisch. In: Exil 1988, H. 2, S. 96 f.; Van der Veen: 75 Jahre Erasmus, S. 92 f.; Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 194, bes. S. 260–263. 509 Sein Verlag Horodisch & Marx wurde denn auch bald darauf durch die Gestapo verwüstet; das Bücherlager wurde beschlagnahmt und vernichtet. Siehe dazu auch Schroeder: »Arisierung« I (2009), S. 296 f.; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 377. 510 Vgl. Buchgestaltung im Exil, S. 173.
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Mietkosten; darüber hinaus fand Horodisch mit Unterstützung von Walter Baumann*, mit dem er sich zum Aufbau des Unternehmens zusammengetan hatte, schnell Eingang in kulturell interessierte Kreise, weil dieser gute Kontakte zu den »großbürgerlichen« Kaufmannskreisen der Stadt unterhielt. Die Tatsache, dass er bis zu seiner Aufnahme in die holländische Buchhändlervereinigung 1940 keine Bücher von inländischen Verlegern beziehen durfte, sowie die Einsicht, dass er sich angesichts der politischen Lage nicht auf das deutschsprachige Buch beschränken dürfe, veranlasste Horodisch zu wiederholten Büchereinkaufsreisen nach London und Paris. Ein Kapital von 20.000 holl. Gulden, das der ebenfalls aus Berlin emigrierte vermögende Bankierssohn Ernst S. Rosenberger* (1895 Berlin – 1945 Bergen-Belsen)511 im Dezember 1935 in das Unternehmen investierte, ermöglichte es ihm, wertvolle Drucke zu erwerben und in ein repräsentativeres Lokal umzuziehen, vom Spui 314 nach Spui 2. Hauptsächlich erfolgte der Bücherverkauf aber durch die ab 1935 erscheinenden Kataloge, die Horodisch, ab 1936 zusammen mit dem aus Kassel stammenden Buchhändler Dr. Martin Oppenheim* (1886 Kassel – 1949 Amsterdam), erarbeitete. Oppenheim hatte die Bücherstube Kassel betrieben, ehe er in die Niederlande Abb. 20: Abraham Horodisch und Alice emigrierte und als Mitarbeiter im Erasmus- Horodisch-Garnman im Sommer 1941 Antiquariat Horodisch bei der Erarbeitung der in Amsterdam, fotografiert von Kataloge unterstützte: »Von 1934 [recte: 1935] Horst Garnman, später Direktor an erschien, zuerst jeden Monat, dann alle drei der Erasmus-Buchhandlung. Wochen, pünktlich ein 48seitiger Antiquariatskatalog. Dank seiner zuverlässigen Bearbeitung brachte er stets ein paar Tausend Gulden ein.«512 Bald darauf wurde Oppenheim auch Teilhaber an Horodischs Firma. Dagegen schied bereits im April 1937 Ernst Rosenberger als stiller Teilhaber aus, seinen Anteil übernahm ein bibliophiler Freund Horodischʼ,
511 Rosenberger war Sohn des Vorstandsmitglieds der Commerzbank Julius Rosenberger (1858‒ 1930) und stand um 1928 als Prokurist selbst in Dienst der Commerzbank. Ernst Rosenberger und seine Mutter Therese Rosenberger geb. Cahn (1873‒1942) fielen dem Holocaust zum Opfer. 512 Uri Benjamin (d. i. Walter Zadek): Antiquare im Exil: Dr. Abraham Horodisch. In: Bbl. (Ffm) Nr. 42 vom 29. Mai 1973, S. A186‒191.
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der Amsterdamer Bankier Paul Auerbach.513 Horodisch handelte seit Mitte der 1930er Jahre nicht nur mit antiquarischen Büchern, er verkaufte auch mit gutem geschäftlichem Erfolg die von Allert de Lange und Querido verlegten Werke der deutschen Exilliteratur. Nach dem Einfall der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 wurde Horodischʼ Situation prekär. Im November 1941 wurde aufgrund der »Arisierungsbestimmungen« der gebürtige Bielefelder Heinrich Vossiek als deutscher Verwalter von Erasmus eingesetzt; dieser, ein langjähriger Kunde des Antiquariats, ließ allerdings den Geschäften ihren eigenen Gang: selbst leidenschaftlicher Sammler, hatte er sich die Oberaufsicht über einige der renommiertesten Antiquariate in Holland zuteilen lassen. Als der Druck durch die Besatzungsmacht stärker wurde, veräußerte Horodisch seine Büchersammlung, um sich durch die frei gewordenen Geldmittel und mit falschen »arischen« Papieren im Juli 1942 die Flucht über Belfort in Frankreich in die Schweiz zu ermöglichen. Von der Schweizer Grenzpolizei entdeckt, wurde er bis Frühjahr 1943 im Sammellager Sumiswald im Kanton Bern untergebracht, bis ihn der Direktor der Fribourger Universitätsbibliothek zum Dienst zu sich beorderte. Horodisch konnte dadurch vom Juli 1943 bis zur Repatriierung nach Amsterdam im Dezember 1945 in Fribourg bleiben. In dieser Zeit veröffentlichte er im Verlag der Paulus-Druckerei ein umfangreiches Werk über die Anfänge des Buchdrucks in Fribourg, ohne einen Lohn dafür annehmen zu dürfen. In Amsterdam war im August 1944 Gerrit Robert van Calcar Veenstra zum neuen Verwalter von Erasmus ernannt, nach drei Monaten aber von Carl Ortmann als Liquidator abgelöst worden. Martin Oppenheim wiederum hatte nach Horodischʼ Flucht in die Schweiz dessen Bücher- und Kunstsammlung an einem sicheren Ort versteckt und überstand als sogen. »Untertaucher« unter falschem Namen die Gefahr der Deportation; während der Zeit im Untergrund lebte er vom Gelegenheitshandel in privaten Kreisen mit Büchern und Briefmarken. Nach der Befreiung Amsterdams durch alliierte Truppen eröffnete er, die Verbindung mit Horodisch wieder aufnehmend, noch im Frühjahr 1945 erneut das Erasmus-Antiquariat am früheren Firmensitz am Spui 2. Da die unter deutscher Verwaltung eingesetzten Betreiber des Antiquariats ein leeres, devastiertes Geschäft hinterlassen hatten, behalf sich Oppenheim zunächst mit dem Verkauf von Illustrierten. Unterstützt wurde er dabei von Horst Garnman* (1923 Dresden – 2010 Amsterdam), einem Vetter von Horodischʼ Ehefrau Alice Garnman, der von seiner Familie als Jugendlicher in die Niederlande geschickt worden war und die deutsche Besatzungszeit und den Krieg ebenfalls im Untergrund überstanden hatte, bis er im Mai 1945 das Erasmus-Geschäft am Amsterdamer Spui aufsuchte, das gerade von Oppenheim zur Wiedereröffnung vorbereitet wurde. Als Horodisch im Dezember 1945 aus dem Schweizer Exil zurückkehrte, brachte er französische und englische Bücher mit; weil der Handel mit Büchern aus zweiter Hand frei war, kamen in den Nachkriegsjahren viele Bücher auf den Markt, oft in Unkenntnis ihres Wertes. Horodisch und Oppenheim nutzten die günstigen Verhältnisse zum Einkauf neuer Ware und brachten so das Geschäft wieder in Gang. Bald fehlte es erneut an Kapital, um ein attraktives Antiquariatslager aufzubauen; der Schwerpunkt des nun auch unter Mitarbeit von Horst Garnman geführten Unterneh-
513 Paul Auerbach (6. 6. 1897 Amsterdam – 23. 11. 1944 Dachau) wurde, wie auch Rosenberger, ein Opfer des Holocaust (https://oorlogsgravenstichting.nl/persoon/4655/paul-auerbach).
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mens verschob sich daher erst einmal in Richtung allgemeiner Sortimentsbuchhandel, da die Verleger dem weithin geschätzten Horodisch großzügige Kredite einräumten. 1949 wurde er mit dem Aufbau einer Bibliothek für einen südamerikanischen Sammler betraut, außerdem versetzte ihn eine Zwangsversteigerung deutscher Bücher in Amsterdam in die Lage, einen ersten Spezialkatalog deutscher Bücher anbieten zu können; die meisten Bücher verkauften sich sofort, zum Großteil an amerikanische Bibliotheken. Auch im Sortiment erkannte Horodisch das Potential des weltweiten Bibliotheksgeschäfts. Schon nach dem plötzlichen Tod Oppenheims 1949 war Garnman mit der Abteilung An- und Verkauf neuer Bücher betraut worden, während Horodisch sich dem Handel mit antiquarischen Büchern widmete. Bald konnte der Laden am Spui mit dem traditionellen Namen Erasmus Antiquariaat en Boekhandel das wachsende Angebot an Titeln nicht mehr fassen, worauf Garnman die Entscheidung traf, sich in der modernen Abteilung ausschließlich auf das Angebot von Kunstbüchern und Titeln zur Buchgeschichte zu beschränken. Mit dieser Spezialisierung schuf sich Erasmus einen institutionellen Kundenkreis: seit Anfang der 1950er Jahre entwickelte sich die Buchhandlung zu einem internationalen Lieferanten für Bibliotheken und Museen. Der weltumspannende Versandbuchhandel, mit dem Erasmus einen immer größeren Anteil am Umsatz erwirtschaftete, war hauptsächlich Garnmans Verdienst. Bis 1969 befanden sich beide von ihm geleitete Abteilungen, die moderne Buchhandlung und die Versandbuchhandlung, im gleichen Haus am Spui 2. 1970 wurde Garnman, der 1957 in die Niederlande eingebürgert worden war, Teilhaber von Erasmus, und als das Unternehmen 1984 in eine GmbH umgewandelt wurde, kam es zur Drittelung: Horodisch, Garnman und Kurt Tschenett zeichneten mit gleichen Anteilen und waren gleichberechtigte Direktoren. Auch im Antiquariat war eine Spezialisierung merklich, in diesem Fall auf die Bereiche bibliophiler Bücher und Drucke des 16. Jahrhunderts. Horodisch gelangte in den Besitz umfangreicher privater Büchersammlungen, die unter anderem die Geschichte des russischen Buches sowie französische Holzschnitte des 16. Jahrhunderts, Buchminiaturen und künstlerische Graphik betrafen. Darüber hinaus verfasste er regelmäßig wissenschaftliche Publikationen über Themen wie Buchillustrationen, Druckerzeichen oder Miniaturbücher; als Sammler setzte er seine Schwerpunkte auf expressionistische Kunstwerke, Alfred Kubin und Heinrich von Kleist, Miniaturbücher, buchhistorische Themen, illustrierte Bücher, Judaica und russische Bücher. 1984 konnte Horodisch mit einer aufwändig gestalteten Festschrift das 50jährige Bestehen seines Erasmus-Antiquariats feiern. Für seine kulturellen Verdienste wurde er mehrfach geehrt.514 Nach dem Tod Horodischʼ wurden Antiquariat und Buchhandlung von Horst Garnman weitergeführt. Unter seiner Leitung vollzog sich auch noch die Modernisierung des Unternehmens: 1991 wurden das Antiquariat und die Buchhandlung am Spui aufgelöst, Erasmus Boekhandel konzentrierte sich fortan ausschließlich auf das wissenschaftliche Versandgeschäft. 1993 ging Garnman in den Ruhestand, nachdem er fast fünfzig Jahre lang bei Erasmus tätig gewesen war.515 514 So 1978 mit der Auszeichnung Zilveren Anjer Prins Bernhard Fonds, 1985 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Amsterdam. Die Gründung eines Abraham-Horodisch-Lehrstuhls für die Geschichte des Buches an der Universität Tel Aviv und die Horodisch Collection in der Sourasky Central Library der Universität Tel Aviv mit ca. 8.000 Bänden zeugen von Horodischʼ Verbundenheit mit der Wissenschaft und dem Staat Israel. 515 Vgl. Van der Veen: 75 Jahre Erasmus, S. 26 f.
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Opfer des Holocaust Ein halbes Jahr später als Horodisch, Anfang Dezember 1933, gelangte Louis Lamm* (1871 Wittelshofen / Bayern – 1943 KZ Auschwitz) nach Amsterdam.516 Er hatte nach einer mehrjährigen Lehre im Antiquariat A. E. Hoffmann 1903 zusammen mit Bernhard Nathansen in Berlin die Buchhandlung Nathansen & Lamm, Sortiment und Antiquariat eröffnet und seit 1905, nach dem Ausscheiden Nathansens, das auf Judaica spezialisierte Geschäft – bald ein Treffpunkt jüdischer wie nichtjüdischer Gelehrter – unter seinem Namen weitergeführt. Mit mehr als 30 Antiquariatskatalogen hatte er sich Absatzmärkte in ganz Europa und in den USA erschlossen und in seinem bald nach Eröffnung der Buchhandlung gegründeten Verlag Louis Lamm hauptsächlich Werke zur jüdischen Geschichte veröffentlicht; viele davon waren von ihm selbst verfasst. Nach der erzwungenen Schließung der Firma setzte er in Amsterdam mit aus Deutschland mitgebrachten Büchern und Antiquitäten seine berufliche Tätigkeit fort: insgesamt 16 Rheinkähne voll Judaica ließ Lamm von Berlin nach Amsterdam fahren. An seiner Wohnadresse Amstel 3 errichtete Lamm im Frühjahr 1934 ein Geschäft; 1935 brachte er seinen ersten Katalog in den Niederlanden heraus, Bibliotheca Judaica Iberia mit 1.244 Nummern. Lamm war aber nicht nur Spezialist auf dem Gebiet von alten Drucken, er handelte auch mit jüdischen religiösen Gegenständen. So lieferte er in der Zeit zwischen 1937 und Mai 1940 regelmäßig Exponate an das 1930 gegründete Jüdisch-Historische Museum in Amsterdam. In Louis Lamms »Spezialbuchhandlung für Jüdische Literatur« tätig war eine zeitlang Salomon Meyer* (1910 Hamburg – 1986 Amsterdam), der 1934 in Amsterdam angekommen war; das Anstellungsverhältnis wurde aber 1936 wieder gelöst.517 Meyer führte nach 1945 das Antiquariat De Pampiere Wereld im Jonge Roelensteeg bei der Kalverstraat in Amsterdam (siehe dazu weiter unten). Louis Lamm wurde von den deutschen Besatzern in das Durchgangslager Westerbork verbracht und im November 1943 nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er am 19. November 1943 ermordet, ebenso wie seine Tochter. Sein Sohn Heinrich Lamm, der sich nach Palästina retten konnte, verfasste das Gedenkblatt, das seit 1994 in Yad Vashem aufbewahrt wird. Louis Lamms Schicksal teilten noch andere vertriebene Antiquare, die in den Niederlanden Zuflucht gesucht hatten: In Breslau war die Buchhandlung N. Samosch (Nanny Samosch) eines der bekanntesten Sortimente und Antiquariate. Nach dem Tod von Rosalie Samosch 1935 erbten ihr Sohn Hans, dessen Vetter Walter sowie deren Onkel Fritz Samosch die Firma, wobei Hans Samosch* (1904 Breslau – 1943 KZ Sobibor), der zuvor bei Gustav Fock in Leipzig tätig gewesen war, stellvertretend für die Miterben die Geschäftsführung übernahm. Wie alle jüdischen Sortimenter wurde Samosch Ende 1935 aus dem Bund Reichsdeutscher Buchhändler ausgeschlossen und die Buchhandlung durch Herbert Pfitzner »arisiert«, die z. T. kostbaren Bestände wurden konfisziert. Samosch gelang es 1937, nach Wien zu flüchten, wo sein Onkel Fritz Buchvertreter war; im März 1938 musste er mit seiner Frau Rose aus dem annektierten Österreich flüchten und ging nach Amsterdam. Die wertvollen Judaica, die er aus der Breslauer
516 Das Folgende hauptsächlich nach Manasse: Louis Lamm (1871‒1943); Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 375 f. 517 Manasse: Louis Lamm (1871‒1943) [dt. Ausgabe], S. 8.
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Buchhandlung mitnehmen konnte, bildeten vermutlich den Grundstock des noch im Jahre 1938 von Hans Samosch im Lange Brugsteeg in Amsterdam gegründeten Antiquariats. Als Mitarbeiter betätigte sich der im Juli 1939 ebenfalls nach Amsterdam geflüchtete Onkel Fritz Samosch* (1901 Wien − 1983 Amsterdam).518 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Holland musste die Familie das Antiquariat erneut zwangsveräußern; Hans Samosch versuchte, zusammen mit seiner Frau unterzutauchen, doch wurden sie von der SS aufgegriffen, im KZ Vught interniert und schließlich in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Walter Samosch war rechtzeitig nach Palästina geflüchtet und hatte dort den Namen Zeev Zamosh angenommen.519 1938 bis 1940 bestand in Den Haag ein Antiquariaat Hanns Wolff, betrieben von jenem Hanns Wolff* (1901 Darmstadt – 1945 Auschwitz), der seit 1919 Teilhaber des Münchener Buch- und Kunstantiquariats Heimann & Wolff gewesen war, das sich auf illustrierte Bücher, moderne Buchkunst und Pressendrucke spezialisiert hatte. Wolff hatte 1929 in München sein eigenes Antiquariat errichtet, aber Ende Mai 1937 seinen Gewerbeschein niedergelegt und sich mit Frau und Sohn am 30. November 1937 nach Den Haag / Holland abgemeldet. Von seiner Geschäftstätigkeit dort ist nur bekannt, dass er 1939 eine Historienbibel aus dem Jahr 1443 erwarb. Wolff ist nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande in das Lager Westerbork, 1944 über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Ernst Brenner* (1903 Magdeburg-Sudenburg – 1945 KZ Bergen-Belsen),520 der in Berlin Inhaber einer kleinen Antiquariatsbuchhandlung am Kurfürstendamm gewesen war, hatte nach seiner Flucht 1933 gemeinsam mit seiner Frau Magdalene Sothmann* (1905 Woosten – 1984 Amsterdam) an wechselnden Standorten mit antiquarischen Büchern gehandelt.521 Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande 1940 wurde Brenner verschleppt und im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet. Magdalene Sothmann hat nach dem Krieg in Amsterdam wieder ein Antiquariat, hauptsächlich aber eine Kunstgalerie betrieben, die bis zum Beginn der 1980er Jahre Bestand hatte. Von 1936 an war im Antiquariat von Ernst Brenner und Margarete Sothmann auch Hans Marcus* (1912 Duisburg – 1992 Düsseldorf) tätig, der 1933 aufgrund der »Rassenpolitik« des Nationalsozialismus in die Niederlande gegangen war. Nach Ende des Krieges setzte er die Zusammenarbeit mit Magdalene Sothmann kurzzeitig fort, war seit 1948 vorübergehend in Köln in der Bücherstube von Hanns Mayer tätig und eröffnete
518 Fritz Samosch wurde im Zuge einer Hausdurchsuchung bei Bekannten im August 1942 von der Gestapo verhaftet, bis Mitte Oktober inhaftiert und danach in das Lager Westerbork gebracht. Aufgrund der Bemühungen seiner christlichen Ehefrau wurde er, nach Zwangssterilisation, am 9. Juli 1943 aus Westerbork entlassen; er blieb nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden. Vgl. u. a. Schroeder: »Arisierung« II, S. 374 f. 519 Schroeder: »Arisierung« II, S. 379 f. – 1957–1964 korrespondierte Walter Samosch mit seinem Onkel Fritz, um Material für ein Wiedergutmachungsverfahren zu sammeln. Im März 1947 stellte er einen Antrag auf Lastenausgleich, dem 1981 insofern stattgegeben wurde, als ihm die geringfügige Arisierungssumme erstattet wurde. 520 Siehe auch Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 185, 426 (Fn. 50). 521 Die Ehe wurde 1936 geschieden. Im Internationalen Adressbuch der Antiquare 1937/38 wurde die Firma unter Brenner-Sothmann (Heerengracht 306), in der Ausgabe 1940 als Fa. M. H. J. F. Sothmann (N. Z. Voorburgwaal 230) angezeigt.
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1951 ein eigenes Antiquariat in Amsterdam. 1956 kehrte er nach Deutschland zurück und errichtete in Düsseldorf ein Buch- und Kunstantiquariat, das auf dem Gebiet der dekorativen Graphik und der seltenen Bücher bis 1870 beträchtliche Bedeutung gewann.522 Mit seinem Lager gelangte Albert Cohn* (1871 Magdeburg − 1944 Auschwitz), Inhaber des 1921 gegründeten, auf Naturwissenschaften spezialisierten Antiquariats Janus in Leipzig, Mitte 1937 nach Amsterdam.523 Er führte dort an der Adresse C1, Runstraat 23 seine Tätigkeit mit gleichlautendem Firmennamen weiter. Sein 1938 gestelltes Ansuchen, mit seinem neuen Unternehmen wieder ins Adressbuch des Deutschen Buchhandels aufgenommen zu werden (aus dem er 1935 als »Nichtarier« gestrichen worden war), wurde abgelehnt. 1941 wurde in den Vertraulichen Mitteilungen der Fachschaft Verlag eine Geschäftsverbindung mit dem »Inhaber der Buchhandlung ›Janus«, dem »Volljuden Israel Leonor Cohn« für unerwünscht erklärt – überflüssigerweise, denn im Zuge der Besetzung der Niederlande wurde das Antiquariat noch in gleichen Jahr geschlossen. Cohn gelang es noch unterzutauchen, er wurde aber im Juni 1944 verhaftet, in Westerbork interniert und 1944 in Auschwitz ermordet.524 Ein letztes Beispiel: Julius J. Dalberg (1882 Essentho, Hessen − 1943 Sobibór) hatte in Kassel als Notar gelebt, bis er 1933 aus der Anwaltsliste gestrichen wurde.525 Nach Misshandlungen und zweiwöchiger Haft im Konzentrationslager Breitenau konnte er mit seiner Frau Bella (geb. Nuszbaum, 1883 Hersfeld − 1943 Sobibór) im November 1933 nach Amsterdam flüchten. Als Büchersammler, besonders von Judaica, und als Sammler antiker Kunst mit dem Metier vertraut, gründete er dort das Antiquariat De Pampiere Wereld, das auf wissenschaftliche Literatur zum Judentum spezialisiert war. Nach der Besetzung der Niederlande wurde das Antiquariat 1941 geschlossen. Anfang Juni 1943 wurde das Ehepaar in das Durchgangslager Westerbork verbracht, sieben Wochen später in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und wohl unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Das Antiquariat De Pampiere Wereld wurde nach dem Krieg wieder eröffnet von Salomon S. Meyer, der schon seit 1935 Mitarbeiter und seit 1937 Teilhaber des Antiquariats gewesen war (siehe dazu weiter unten).
Weitere Antiquarsemigranten in den Niederlanden Zunächst ein Modegeschäft führte Walter Loose* (1898 Karlsruhe – 1964 Leiden) nach seiner 1933 erfolgten Ankunft im niederländischen Exil.526 Da seine Frau Hedwig nicht-
522 Marcus engagierte sich auch im berufsorganisatorischen Bereich: 1977 fanden die 7. ILABMesse und der 24. ILAB-Kongress unter seiner Regie in Düsseldorf statt. 523 Dazu: SStAL, BV, F 10.986; Erich Carlsohn: Albert Cohn. Ein Berliner Antiquar, Gelehrter und Menschenfreund. In: Bbl. (Ffm) Nr. 39 vom 17. Mai 1960, S. 748‒752; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 385. 524 Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 116–162 vom 1. Oktober 1941, S. 4. 525 Zum Folgenden: Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 196; Bendt: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945, S. 68; Die Gedenksteine von Sobibór (https://sobibor.de/de/familie-dalberg/). 526 Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 302–305, 425.
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jüdisch war, konnte sie ihren Mann während der Jahre der deutschen Besetzung der Niederlande schützen. Nach dem Krieg gründete Loose in Den Haag das erste auf Kinderliteratur spezialisierte Antiquariat in den Niederlanden. Er verzichtete auf Kataloge und verzeichnete die Bestände auf kleinen Zetteln, die er die Kunden durchsuchen ließ. Neben Büchern führte der Laden auch kleine Spielsachen. Nach Looses Ableben wurde das Antiquariat A. L. Loose von seiner Frau Hedwig (1896–1987) und Bob (eig. Rainer L.; 1932 Königsberg − 2011 Scheveningen), einem seiner drei Söhne, mit dessen Frau Jessy weitergeführt. Bob hatte bereits seit 1953 im Geschäft mitgearbeitet; er setzte die von seinem Vater verfolgte Linie – den Verzicht auf Kataloge – fort, erweiterte aber das Bücherangebot u. a. um topographische Werke. Hans Ludwig Gumbert* (1903 Hannover – 1994 Utrecht) hatte – nachdem ihm die angestrebte juristische Laufbahn in NS-Deutschland aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt geblieben war – als Buchliebhaber seit 1934 unter dem Namen seiner Frau eine Leihbücherei in Solingen geführt, war aber bereits am 1. Oktober 1935 in die Niederlande emigriert und hatte in Nijmegen eine Antiquariatsbuchhandlung Het oude Boek eröffnet.527 Der Buchbestand beruhte zunächst auf seiner überwiegend aus väterlichem Erbe gespeisten Privatbibliothek, er kaufte und verkaufte aber auch moderne französische Bücher zu günstigen Preisen. Im Weiteren spezialisierte er sich auf alte Literatur und Geschichte, aber auch auf Philosophie und alte Theologie. Het oude Boek entwickelte sich bald zu einem Ort, an dem sich Buchliebhaber, Studenten und Professoren trafen. Seine Kataloge und Bücherlisten überzeugten durch die moderate Preisgestaltung. Als im Juni 1942 in den besetzten Niederlanden das Tragen des Davidsterns eingeführt wurde, tauchte Gumbert in einem Dachbodenversteck unter; das Geschäft wurde formell an die Angestellte Marianne Andriessen-Canoy (geb. 1920) verkauft und von dieser und G.s nichtjüdischer Frau Martha weitergeführt. Nach dem Krieg errichtete Gumbert gemeinsam mit einem Freund ein weiteres Antiquariat, erhielt aber bereits 1946 das Angebot, als Direktor in das 1865 gegründete, damals aber stark heruntergewirtschaftete Antiquariat und Buchauktionshaus Beijers in Utrecht einzutreten. Es gelang ihm, dem Unternehmen wieder internationalen Rang zu verschaffen, hauptsächlich mit erfolgreichen Auktionen und mit mehr als hundert Lager- und noch mehr Versteigerungskatalogen, von denen einige besondere Bedeutung erlangten (z. B. jener zu emblematischen Büchern). Dem gelehrten Antiquar wurde 1986 von der Technischen Hochschule Darmstadt der Titel eines Dr. h. c. verliehen, insbesondere für seine umfangreichen Lichtenberg-Forschungen.528 Im Antiquariatsbuchhandel in den Niederlanden tätig wurde auch Hans Rothschild* (1890 Köln – 1987 Amsterdam). Er hatte vor seiner Emigration seit 1925 in Köln ein Antiquariat geführt; 1930 war er Mitbegründer der Bibliophilen-Gesellschaft Köln. In Amsterdam trat er zunächst in das Antiquariaat Antiqua ein, ehe er im Februar 1935 den Antiquariatszweig der wissenschaftlichen Buchhandlung und Verlag D. B. Centens in Amsterdam übernahm. 1941 musste er als Jude entlassen werden; die deutsche Beset-
527 Vgl. Buijnsters, S. 184 f., 219 f.; Buijnsters: In memoriam dr. Hans Ludwig Gumbert. 528 Ehrung für Dr. Hans Ludwig Gumbert. In: AdA 1/1987, A 35; Johann Peter Gumbert: Nachruf. In: Lichtenberg-Jahrbuch 6. Saarbrücken 1994, S. 226–233 [mit Bibliographie der Publikationen G.s; online].
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zung hat er als Untertaucher überlebt. Über eine Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit nach 1945 ist nichts Näheres bekannt.529 Der NS-Verfolgung mehrfach entkommen ist auch Salomon Meyer* (1910 Hamburg − 1986 Amsterdam). Von Beruf Handelsvertreter, war er Ende 1933 nach Amsterdam geflüchtet und dort zunächst bei Louis Lamm (siehe weiter oben) angestellt, ehe er – zunächst als Mitarbeiter, dann als Kompagnon – im Antiquariat De Pampiere Wereld von Julius und Bella Dalberg* (siehe weiter oben) tätig wurde.530 Als die Firma nach der Besetzung der Niederlande geschlossen wurde, tauchte Meyer unter, wurde aber gefasst und im Januar 1943 in das Lager Westerbork gebracht, von wo er flüchten und sich bis Kriegsende in Brabant verbergen konnte. Im Sommer 1945 eröffnete er aufs Neue das Antiquariat De Pampiere Wereld in Amsterdam, das wieder Hebraica und Judaica, jüdische Kunst und Graphik sowie Ritualien führte. Meyer hat mehrfach Judaica und auch Archivmaterialien aus den Beständen untergegangener Antiquariate und aus privaten Sammlungen aufgekauft, u. a. 1950 auf einer Auktion zahlreiche Bücher aus dem Besitz seines früheren, in Auschwitz ermordeten Lehrmeisters Louis Lamm. Seit 1970 befand sich das Geschäft in großzügigeren Räumlichkeiten an der Keizersgracht 428–432; nach Meyers Tod wurde es einige Zeit von seiner Witwe Edith (geb. Kupfer) und seinem Sohn Benjamin J. weitergeführt, bis diese später nach Israel auswanderten.
Schweiz LʼArt Ancien in Lugano und Zürich Exilrelevanz gewann nach 1933 das von Erwin Rosenthal* (1889 München – 1981 Zürich) bereits 1920 in Lugano zusammen mit seinem Schwiegervater Leo S. Olschki als Tochterbetrieb des Münchener Antiquariats Jacques Rosenthal gegründete Unternehmen L’Art Ancien. Die Firma, die sich schnell einen Namen gemacht hatte und 1929 nach Zürich übersiedelt war, ermöglichte es Rosenthal, während und nach der Liquidierung des Münchener Hauptgeschäfts einiges von dessen wirtschaftlichen Werten und von seinem privaten Besitz zu retten; so konnte er seine umfangreiche Privatbibliothek in die Schweiz transferieren. Im März 1936 emigrierte Rosenthal, über einen Zwischenaufenthalt in Florenz, in die Schweiz. Da ihm keine Arbeitsgenehmigung erteilt wurde, konnte er sich nicht persönlich in die Geschäfte von L’Art Ancien einbringen; er übergab daher die Leitung an Alfred Frauendorfer und gelangte gemeinsam mit seiner Frau im August 1941 mit einem Spezialvisum des Präsidenten Roosevelt in die USA. Dort nahm er seine Tätigkeit als Antiquar wieder auf (siehe dazu den Abschnitt USA), kehrte je-
529 Zu Rothschild siehe auch Peter Neumann: Rothschild, Hans. In: LGB2 Bd. VI, S. 384; Buijnsters: The antiquarian booktrade in the Netherlands during the Second World War; sowie Bendt: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945, S. 74–76. 530 Zum Folgenden: Manasse: Louis Lamm (1871–1943) [dt. Ausgabe], S. 8; Buijnsters: Geschiedenis van het Nederlandse antiquariaat, S. 196, Bendt: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945, S. 72, 98.
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doch 1958 in die Schweiz zurück, wo er bis zu seinem Rückzug 1971 erneut für L’Art Ancien tätig wurde. Die Firma wurde nach dem unerwarteten Tod Alfred Frauendorfers, der immer noch als ihr Direktor fungierte, bis zu ihrer Liquidierung 1983 von Erwin Rosenthals Sohn Felix Rosenthal* (1917 München – 2009 Berkeley, CA) weitergeführt, der bis dahin in den USA als Architekt tätig gewesen war.531 Nach dem Tod seines Vaters wurde L’Art Ancien 1984 aufgelöst.
Theo Pinkus: Vom »Büchersuchdienst« zu Pinkus & Co. Ein Unternehmen eigener Art stellte das Antiquariat dar, das aus dem »Büchersuchdienst« heraus entstand, den Theo Pinkus* (1909 Zürich – 1991 Zürich) 1940 in Zürich einrichtete.532 Pinkus hatte 1927‒1929 eine Lehre als Verlagsbuchhändler bei Ernst Rowohlt in Berlin absolviert, und sich gleichzeitig politisch betätigt: 1929 wurde er in die KPD aufgenommen und arbeitete ab 1930 bis zu seiner Verhaftung durch die SA im Februar 1933 für den Neuen Deutschen Verlag von Willi Münzenberg und für die ArbeiterIllustrierte-Zeitung. Nach seiner Freilassung kehrte Pinkus nach Zürich zurück und wurde dort Redakteur der Schweizer Ausgabe der Presseagentur der Kommunistischen Internationale »Inprekorr«. 1940 gründete Pinkus mit einem Startkapital von 1000 Schweizer Franken den »Büchersuchdienst« für vergriffene oder von den Nationalsozialisten verbotene Literatur: Die Zeit war günstig für unser Projekt. […] Als Ende 1940 auch die Lage für die Schweiz immer bedrohlicher wurde, reisten viele Juden vom Zürichberg nach Amerika und verkauften einen großen Teil ihrer Bücher […] So erhielten wir etwa die Restbibliothek von Leonhard Frank, der auch nach Amerika gezogen war.533 Unmittelbar nach Kriegsende eröffneten sich für Pinkus neue Akquisitionsmöglichkeiten, u. a. in der Tschechoslowakei, wo sich Lagerhäuser mit von den Nazis gestohlenen und konfiszierten Büchern befanden, von denen er große Mengen aufkaufte und mit Eisenbahnwaggons in die Schweiz transferierte. 1948 erfolgte die Gründung der Firma Pinkus & Co. mit Antiquariat und Buchhandlung, wobei Pinkus sich von Anfang an auf linke, antifaschistische Literatur aus Emigrationsverlagen spezialisierte. Ebenfalls 1948 war er Mitbegründer der Zeitschrift Zeitdienst (erschienen bis 1987). 1959 erfolgte die Gründung des Limmat Verlags, der zunächst überwiegend Gemeinschaftsausgaben mit DDR-Verlagen herausbrachte. Zeit seines Lebens ein »Linker«, war Pinkus bis 1943
531 Die Rosenthals, bes. S. 180 f., 222 f.; Felix Rosenthal. Nachruf von Bernard M. Rosenthal. In: AdA NF 7, 2009/6, S. 417 f.; Felix Rosenthal, non-signer – The Loyalty Oath Controversy, University of California, 1949‒1951 [online]. 532 Zu Pinkus siehe u. a. Theo Pinkus †. Suchen und Sammeln für alle ‒ Ein Leben mit Büchern. In: Marginalien 1991, 123. Heft, S. 13‒19; Erinnern und Ermutigen: Hommage für Theo Pinkus 1909‒1991. Zürich: Rotpunktverlag 1992; Theo Pinkus (1909‒1991). Buchhändler Kommunist Querdenker; Keller: Der totale Buchhändler. Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa. 533 Lüscher / Schweizer: Amalie und Theo Pinkus-De Sassi, S. 251.
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Mitglied der Kommunistischen Partei der Schweiz, danach bis 1950 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, dann der »Partei der Arbeit«. Zusammen mit seiner Frau, der Frauenrechtlerin und Buchhändlerin Amalie Pinkus-De Sassi (1910‒1996) richtete er 1971 die selbstverwalteten Stiftungen »Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung« in Zürich und das Ferien- und Bildungszentrum »Salecina« bei Majola im Engadin ein. Das Züricher Antiquariat war über Jahrzehnte hinweg Treffpunkt prominenter exilierter Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler wie John Heartfield, Frans Masereel, Jürgen Kuczynski, Bertolt Brecht u. a. m. Darüber hinaus fungierte es als Auslandsstützpunkt des Leipziger Zentralantiquariats, von dem Pinkus zwecks Devisengenerierung für die DDR Ware übernahm; aufgrund seiner privilegierten Stellung konnte er sich auch aus der Doublettensammlung der Deutschen Bücherei Bücher seiner Wahl aussuchen und unter Umgehung der Ausfuhrbestimmungen zollfrei außer Landes schaffen. Über das aufgelaufene Guthaben konnte die Deutsche Bücherei devisenlos Bücher der Westverlage bei Pinkus einkaufen.534 Pinkus kooperierte aber nicht nur mit staatlichen Stellen, sondern durfte auch Privatkäufe tätigen: »In den 1980er Jahren reiste Theo Pinkus […] aus Zürich mit staatlicher Einwilligung durch die DDR, um Bücher seiner Gebiete von Privatpersonen gegen Forumschecks zu erwerben, eine von Erich Honecker eingeführte Notwährung zum Kauf von Waren in den Intershops.535« Wenn ein Kunde darauf nicht eingehen wollte, zahlte er allerdings auch in D-Mark. Die Firma Pinkus & Co. ging 1972 als Genossenschaft an die Mitarbeiter über. 1973 wurde das Antiquariat von Pinkus’ Sohn Marco neu gegründet, 1998 kam das genossenschaftliche Unternehmen wieder hinzu. Das ABC Antiquariat Marco Pinkus schloss im März 2016.
Antiquarsemigration in Zürich, Bern, Basel und Olten Über den Antiquariatsbuchhandel, den Ida Halle* nach ihrer 1936 erfolgten Emigration in Zürich betrieben haben soll, liegen keine Informationen vor.536 Dabei war das von ihrem Ehemann Julius (fr. Isaak) Halle (1864 – 1927) bereits 1889 gegründete, auf Alte Drucke (besonders Inkunabeln, Americana, Kupferstiche) spezialisierte Seltenheitsantiquariat J. Halle in München, das von ihr nach 1927 weitergeführt worden war, eine namhafte Adresse. Ida Halle selbst war wohl fachlich nicht übermäßig kompetent auf diesen Feldern, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Firma war aber der in der Branche hoch geschätzte Bibliograph Ernst Schulte-Strathaus (1881‒1968), der die niveauvollen Kataloge gestaltete. 1931 bis 1933 fand der nachmals in den USA erfolgreiche Emil
534 Vgl. Gisela Wenzel: Theo Pinkus – eine Plauderei über sein Leben. Bericht über eine Veranstaltung in Berlin mit Hans Stern. In: Studienbibliothek Info, Nr. 28, Dez. 1996, S. 10‒11. Daraus geht hervor, dass Pinkus einen seitens der DDR (von seinem Freund Hans Holm) angebotenen führenden Posten im Buchhandels- und Verlagswesen abgelehnt hat. 535 Pätzke: Anmerkungen zum Antiquariatsbuchhandel in der DDR, S. 34. Siehe auch: Theodor Pinkus: Neudruck und Bibliophilie. 536 Siehe hierzu auch Wallach: Münchener Antiquare von einst, S. 18; Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur in München, S. 169; Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 23‒42. Umfangreiches Material zu der Fa. Halle befindet sich im Stadtarchiv München.
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Offenbacher* eine Anstellung bei J. Halle. Nach der NS-»Machtergreifung« gab Ida Halle einen Teil des Lagers einem in die Niederlande flüchtenden Bekannten der Familie, Ernst Horwitz*, zum kommissionsweisen Verkauf in den Niederlanden mit. Die Münchener Firma wurde 1935 liquidiert, die verbliebenen Bestände bei Karl & Faber in München und bei Graupe in Berlin versteigert; Ida Halle selbst ging im Juni 1936 in die Schweiz. In Bern suchte sich Halles Kollege Julius Hess* (1900 München – 1940 Bern) neu zu etablieren, nachdem er Deutschland im Dezember 1936 verlassen hatte.537 Nach dem Tod seines Vaters Gottlob Hess (1863‒1914) war er Teilhaber des auf illustrierte Bücher, Kupfer- und Farbstiche spezialisierten Antiquariats G. Hess in München geworden, das er bis zu seiner Emigration gemeinsam mit seiner Mutter Rosa Meta Hess* (1877 Köln – 1957 Bloomington, USA)538 leitete. In den Jahren 1933‒1936 hatte Hess mehreren »nichtarischen« Kunden geholfen, Vermögenswerte ins Ausland zu verbringen, indem er für sie wertvolle Bücher kaufte und diese mit der Post unauffällig ins Ausland versandte. Auch er selbst war in der Lage, die wertvolleren Stücke nach Bern mitzunehmen, wo er bis zu seinem frühen Tod erneut ein Antiquariat führte. Zu seinen Mitarbeitern gehörte damals Susanne Bach (-Eisenberg)*, die bibliographische Arbeit für ihn erledigte. In Liestal nahe Basel setzte Mario Uzielli* (1888 Frankfurt a. M. – 1973 Liestal / Schweiz) seine Antiquarstätigkeit fort, allerdings ohne Ladengeschäft – anders als zuvor in Frankfurt am Main, wo er nach Ende des Ersten Weltkriegs in die Buchhandlung von Heinrich Tiedemann eintrat und Teilhaber des angeschlossenen Antiquariats wurde.539 Die ebenso modern wie nobel ausgestaltete Buchhandlung Tiedemann & Uzielli in der Schillerstraße setzte sich insbesondere für »Malerbücher« ein und machte sich auch mit Ausstellungen einen Namen: schon 1921 wurde in Zusammenarbeit mit den renommierten Kunsthändlern Kahnweiler und Flechtheim eine Aufsehen erregende Schau mit Werken von Chagall, Derain, Braque und Beckmann gezeigt. Die Verbindung mit C. H. Kleukens brachte Uzielli dazu, sich auch mit der Herausgabe von bibliophilen Drucken zu befassen. Als Tiedemann Anfang der 1920er Jahre nach Berlin ging (mit ihm zusammen brachte Uzielli 1924 noch im Verlag Tiedemann und Uzielli, Berlin und Frankfurt den von Leopold Hirschberg zusammengestellten Taschengoedeke heraus), führte er nur mehr das Antiquariat als Buch- und Kunsthandlung Mario Uzielli, Antiquariat, in der Neuen Mainzer Straße weiter und war als kenntnisreicher Spezialist für Kunst und Bi-
537 Vgl. u. a. Bach: Karussell, S. 42 f., 48, 52; Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 23‒42; Familie Hess aus Lauchheim und Ellwangen, in: Alemannia Judaica, online [Stammbaum der Buchhändler- und Verlegerdynastie Hess]. 538 Rosa Hess hatte die Absicht, nach Wien auszuwandern, wo sie weiterhin im Buchhandel tätig sein wollte. Zu diesem Zwecke führte sie – mit Zustimmung der Devisenbewirtschaftungsstelle und nach Zahlung der entsprechenden Reichsfluchtsteuer – einen Teil ihres Bücherbestandes nach Wien, einen anderen Teil in die Schweiz aus. Im August 1936 ging sie jedoch nicht nach Österreich, sondern in die USA (StAM Pol. Dir. München 13890; BayHStAM LEA BEG 7392). 539 Vgl. Lübbecke: Fünfhundert Jahre Buch und Druck in Frankfurt am Main, S. 203; Adolf Seebaß: Mario Uzielli zum Gedenken. In: Bbl. (Ffm) Nr. 87 vom 1. November 1974, S. A334 f.; Erich Pfeiffer-Belli: Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise. Wiesbaden: Limes 1986, S. 105; Schroeder: »Arisierung« II, S. 385.
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bliophiles sowie deutsche und französische Literatur v. a. des 18. Jahrhunderts in Erstausgaben von Sammlern geschätzt. 1936 sah sich der »Halbjude« Uzielli zur Zwangsemigration veranlasst; sein Antiquariat wurde in der Folge durch den ehemaligen Angestellten Wilhelm Henrich »arisiert«. In Liestal betätigte er sich als »freier« Antiquar, indem er an Versteigerungskatalogen mitwirkte, Autographen und Handzeichnungen vermittelte und internationale Kunst- und Autographenauktionen besuchte. In Basel errichtete Szyja Gewürz-Freund* (1895–1961 Basel) ein Antiquariat für belletristische und wissenschaftliche Judaica, ohne eine einschlägige Ausbildung durchlaufen zu haben. Gewürz-Freund entstammte einer ostjüdischen Familie; er war in Frankfurt a. M. aufgewachsen und dann nach Berlin gegangen, von wo er nach der NS-»Machtergreifung« zunächst nach Wien und von dort 1938 nach Italien flüchtete; er entging aber auch dort nicht der Verfolgung und war fast ein Jahr lang im Lager Campagna Eboli interniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte Gewürz-Freund sich in Basel wieder eine Existenz aufzubauen. Seine Antiquarstätigkeit fasste er weniger kommerziell auf; vielmehr sah er darin einen Dienst an den Bücherfreunden wie auch an den von ihm belieferten Bibliotheken und wissenschaftlichen Institutionen. Rudolf Weiss (-Hesse) (1899 Budapest – nach 1967) war gemeinsam mit seiner Ehefrau Margarete (gest. 1947 Olten) und seinem Zwillingsbruder Hans Weiß* Inhaber des 1926 gegründeten Antiquariats Weiss & Co. am Karolinenplatz 6 in München, das sich auf mittelalterliche Handschriften, Inkunabeln, Holzschnittwerke, frühe Medizin, Geographie, Druckgraphik und Handzeichnungen des 15. bis 18. Jahrhunderts spezialisiert hatte.540 Die NS-»Machtergreifung« bedeutete das Ende der Geschäftstätigkeit von Weiss & Co.; die Schaufenster des Antiquariates wurden zerschlagen. Während Hans Weiss in die USA emigrierte, ging Rudolf Weiss in die Schweiz mit Wohnsitz in Olten. Seit 1937 trat er, nun unter dem Namen Rudolf Weiss-Hesse, zusammen mit seiner Frau Margarete, die bereits 1916 bis 1918 eine Ausbildung im naturwissenschaftlichen Antiquariat Dultz & Co. absolviert hatte, dort wieder als Antiquar hervor. Noch in diesem Jahr erschien im Antiquariat Weiss-Hesse eine englischsprachige Ausgabe von Max Geisbergs Woodcuts from Books of the XVI Century from German, Swiss, Dutch, French, Spanish and Italian Press. In Zusammenarbeit mit L’Art Ancien (Zürich) und Robert Wölfle (München) brachte Weiss-Hesse später noch mehrfach wichtige Tafelwerke zu Tier- und Kräuterbüchern des 15.‒19. Jahrhunderts heraus, mit denen z. T. an Editionen aus der Münchener Zeit von Weiss & Co. angeknüpft wurde.
Italien Werner Prager, Rom In Italien kam es nur zu einer vereinzelten Antiquariatsgründung durch den Berliner Emigranten Werner Prager* (1888 Berlin – 1966 Rom). Er war ein Sohn des bekannten Buchhändlers, Antiquars und Verlegers R(obert) L(udwig) Prager (1844‒1918), der in Berlin seit 1872 ein auf Rechts- und Staatswissenschaften sowie Nationalökonomie spe-
540 Vgl. Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 39, ferner: 37. Jahresbericht der Zentralbibliothek Solothurn über das Jahr 1966 [online].
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zialisiertes Antiquariat und Sortiment aufgebaut hatte und auf diesen Gebieten auch verlegerisch tätig gewesen ist. In den 1930er Jahren wurden im Buchhändler-Adressbuch Werner Prager und Frl. Gertrud Prager als Inhaber der Fa. R. L. Prager genannt; beide waren zugleich auch Mitinhaber der Akademischen Kant-Buchhandlung Joseph Singer in Berlin-Charlottenburg in der Kantstraße. 1937 flüchtete Prager über Amsterdam nach Italien und eröffnete in Rom in der Via Mentana ein Antiquariat. Allerdings wurde ihm, als 1938 auch in Italien Rassegesetze erlassen wurden, die Ausübung des Antiquarsberufs untersagt und er wurde in das Lager Ferramonti verbracht. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte Prager wieder seine berufliche Tätigkeit fortsetzen; er hat dann bis in die Mitte der 1960er Jahre durch Anknüpfung internationaler Geschäftsbeziehungen seine Antiquariatsbuchhandlung erfolgreich weiterführen können. 1966 wurde das Geschäft geschlossen.
Schweden In Schweden kam es nicht zur Gründung eigenständiger Antiquariate durch Exilanten, wohl aber spielten einige von ihnen eine wichtige Rolle in den einheimischen Firmen. Dies trifft in besonderer Weise auf Erich Aber* (1904 Rawitsch, Provinz Posen – 1995 Stockholm) zu, der seit Dezember 1921 bei Gustav Fock in Leipzig tätig gewesen war.541 1937 wurde er als »Nichtarier« gezwungen, seinen Beruf aufzugeben; 1938, am Morgen nach der »Reichspogromnacht«, wurde er von der SS verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verbracht, aus dem er sich durch Vorlage einer Einreisegenehmigung nach Schweden retten konnte. In Stockholm fand Aber eine Anstellung im größten und bekanntesten Antiquariat Björck & Börjesson, wo er in der Hauptsache mit der Katalogisierung ausländischer Literatur und wissenschaftlicher Periodika sowie mit der Korrespondenz mit Bibliotheken befasst war. Aber war, als Experte auf diesem Feld, Mitglied des Schwedischen Exlibris-Vereins. Nach 28 Jahren wechselte Aber zu Rönells Antiquariat, wo er mit seinem früheren Gustav Fock-Arbeitskollegen Arno Seyler zusammenarbeitete. Arno Seyler* (1904 Düsseldorf – 1991 Stockholm) hatte eine buchhändlerische Ausbildung bei Schmidt & Günther in Leipzig und wohl auch bei Wilhelm Junk in Berlin absolviert, ehe er bei Gustav Fock in Leipzig eine Anstellung fand.542 Aufgrund seiner radikal linken politischen Einstellung – später sollte er als Übersetzer der ökonomischen Schriften von Karl Marx und von Karl Kautsky ins Schwedische in Erscheinung treten – und als mutmaßliches Mitglied einer geheimen Widerstandsgruppe 1939 im Deutschen Reichsanzeiger steckbrieflich von der Gestapo gesucht, musste Seyler aus Deutschland flüchten und gelangte noch knapp vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Stockholm. In den folgenden Jahren tauchte er in Westschweden unter, wo er als Land- und Forstarbeiter seinen Lebensunterhalt verdiente. Nach Kriegsende nahm Seyler eine Stel-
541 Dazu: Brief von Erich Aber an den Verf. vom 24. Oktober 1993; Brief von Erich Aber an Hermann Staub (Historisches Archiv des Börsenvereins) vom 25. November 1992, HABV / DNB. 542 Wie in der vorhergehenden Fußnote, sowie Brief von Erich Aber an Hermann Staub vom 22. Januar 1993, HABV / DNB.
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le in Rönnells Antiquariat in Stockholm an und blieb dort bis zum Ruhestand 1979. Bei Rönnell bearbeitete Seyler den Bereich seltener medizinischer und naturwissenschaftlicher Werke und Zeitschriften, wobei er überragende fachliche Kompetenz entwickelte. Nebenberuflich betrieb Seyler ein privates Versandantiquariat, indem er für einen ausgewählten Kundenkreis in einer Auflage von 30 bis 40 Exemplaren Listen erstellte, die bibliographisch sorgfältig bearbeitet und akribisch kommentiert waren. Willy Heimann* (1899 Schweinfurt – 1978 Zürich) hatte 1919 in München gemeinsam mit seinem Jugendfreund Hanns Wolff* ein Buch- und Kunstantiquariat gegründet, Heimann & Wolff, mit den Spezialgebieten Illustrierte Bücher, Moderne Buchkunst, Pressendrucke und Graphik.543 1929 trennten sich die Wege der beiden; Heimann führte nach kurzer Beteiligung an der Bücherstube Horst Stobbe seit 1932 wieder ein eigenständiges Buch- und Kunstantiquariat in der Brienner Straße 10, bis ihm die Reichskulturkammer 1935 jede buchhändlerische Tätigkeit verbot und er als Berater für Auswanderer tätig wurde. Mit der Hilfe befreundeter Kollegen erzielte er ein geringes Einkommen aus dem heimlich betriebenen Verkauf seiner Buchbestände. In der »Reichspogromnacht« erhielt Heimann die Anweisung, innerhalb von 24 Stunden München zu verlassen; sein Berufskollege Helmuth Domizlaff und der Maler und Buchillustrator E. M. Schultheiss versteckten den Verfolgten. Durch das Engagement hoher schwedischer Beamter – ehemaligen Kunden Heimanns – erhielt er ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für Schweden. Zurück in München griff die durch einen mißgünstigen schwedischen Buchhändler alarmierte Gestapo zu, Heimann konnte jedoch nach Verhören und Schikanen mitsamt dem Großteil seiner Bücher ausreisen. Am 29. September 1939 traf er in Stockholm ein, wo er durch Vermittlung Domizlaffs in Thulins Antikvariat vor allem in der Buchführung tätig werden konnte. Im Oktober 1947 übernahm er in Würdigung seiner umfassenden Kenntnisse die Leitung des eigens für ihn eingerichteten Rare Book Departments von Sandbergs Bokhandel in Stockholm.544 Inhaltlich hatte Heimann seine Interessensgebiete längst in Richtung der alten Druckdenkmäler und der älteren wissenschaftlichen Literatur erweitert. Die unter seiner Regie 1947 bis 1966 erschienenen Kataloge von Sandbergs Seltenheitsantiquariat zeugen in Inhalt und Ausstattung von der hohen Qualität seiner Arbeit, so etwa der 1958 erschienene Katalog 12 Carolus Linnaeus 1707‒1778, der die Sammlung eines verstorbenen Göteborger Apothekers mit 892 Nummern verzeichnete und anlässlich des 250. Geburtstags des schwedischen Botanikers erschien. Heimann, der 1948 die schwedische Staatsbürgerschaft erhielt, zählte höchste Kreise bis hin zum schwedischen König zu seinen Kunden. 1967 trat er in den Ruhestand; die in Heimanns Sandbergs Bokhandel-Katalogen »Antikvarisk Avdelning« verzeichneten Buchbestände
543 Briefe von Erich Aber wie in den beiden vorhergehenden Fußnoten; außerdem: Alfred Frauendorfer: Lob der Bescheidenheit. Willy Heimann zum 70. Geburtstag am 12. März 1969. In: Bbl. (Ffm) Nr. 21 vom 14. März 1969, S. 517 f. (AdA 3/1969); Uri Benjamin (d. i. Walter Zadek): Deutsche Buchhändler im Exil. …auch der König war sein Kunde: Willy Heimann. (nicht im Bbl. erschienen!); Bbl. (Ffm) Nr. 87 vom 31. Oktober 1978, S. A398. (AdA 10/1978); Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur in München, S. 169; Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 23‒42. 544 Bei Sandbergs Bokhandel war einige Zeit noch eine weitere Emigrantin aus Deutschland tätig, Paula Tischler* (geb. 4. September 1899 Gostyn, Provinz Posen – 1993 Stockholm); sie starb im Altersheim der jüdischen Gemeinde in Stockholm.
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wurden in alle Welt verkauft. Um 1970 ging er nach Zürich und gründete dort noch einmal ein Antiquariat, das er aber nur noch wenige Jahre führen konnte.
Dänemark Dänemark war 1935 das erste Fluchtziel des Hamburger Antiquars Hans Götz* (1896 Hamburg – 1966 Kopenhagen); in seiner 1921 in Hamburg eröffnete Bücherstube Hans Götz hatte er Autorenlesungen veranstaltet sowie zahlreiche Verkaufskataloge seiner bibliophilen Bestände herausgegeben.545 Höhepunkte seiner Antiquarstätigkeit waren die Versteigerung der Bibliothek von Maltzahn und die Versteigerung der Bibliothek der Adelsfamilie Chorinski im Jahr 1930, die in der Branche internationales Aufsehen erregte. Da ihm aber in Dänemark eine selbständige Berufstätigkeit nicht gestattet wurde, musste er in verschiedenen Firmen Arbeit suchen. Während der deutschen Besatzung gelang ihm 1941 die Flucht nach Schweden. Nach Ende des Krieges ging Götz nach Kopenhagen zurück und wurde dort 1946 Leiter des neu gegründeten Antiquariats des Verlagshauses Branner. 1952 kaufte er Branner’s Bibliofile Antikvariat und eröffnete an der Bredgade ein Ladengeschäft, das rasch zu einem Treffpunkt interessierter Sammler wurde. Einer der letzten Höhepunkte seiner Tätigkeit war die Erstellung des Katalogs für die Ekman-Auktion, die Ende 1965 in Kopenhagen durchgeführt wurde. Nach seinem Tod führte seine Tochter Maria das Geschäft weiter.
USA Die »sanfte Invasion« der deutschen und österreichischen Antiquare Im vergleichenden Rückblick zeigt sich, dass es die Vereinigten Staaten waren, die den aus Deutschland und Österreich geflüchteten Antiquaren für eine Neuetablierung die besten Voraussetzungen boten; sie erwiesen sich als dermaßen günstig, dass viele dieser Immigranten dort zu höchsten Rängen aufstiegen.546 Die Frage, welche Bedeutung sie im US-amerikanischen Antiquariatsbuchhandel tatsächlich entwickelt haben, hat bemerkenswerterweise einer ihrer wichtigsten Repräsentanten selbst zu beantworten gesucht, Bernard M. Rosenthal. Der 1933 als Dreizehnjähriger aus Deutschland in die USA gelangte Spross der berühmten Münchner Rosenthal-Antiquarsdynastie547 war es, der 1986 – eingeladen zu einer »Sol M. Malkin Lecture in Bibliography« an der Columbia University in New York – einen Vortrag mit dem Titel »The Gentle Invasion« hielt, in welchem er den Einfluss der in den 1930er und 1940er Jahren aus dem kontinentalen Europa emigrierten Buchhändler auf den antiquarischen Buchhandel in den USA einer
545 Siehe u. a. Ernst Hauswedell: Hans Götz verstorben. In: Bbl. (Ffm) Nr. 55 vom 12. Juli 1966, S. 1394; Biester: Streifzüge, S. 479. 546 Zu diesem Unterkapitel vgl. auch die Überblicksdarstellung Bach / Fischer: Antiquare in der amerikanischen Emigration. 547 Siehe Bernard M. Rosenthal: Cartel, Clan or Dynasty?; sowie Die Rosenthals. Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm.
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ersten Bewertung unterzog.548 Zur Vorbereitung seines Vortrags hatte Rosenthal auf der Basis eines Fragebogens, ergänzt durch persönliche An- und Nachfragen bei der überwiegend mit ihm bekannten oder vielfach befreundeten Kollegenschaft, eine Fülle von Daten ermittelt.549 An mehr als 30 Angehörige dieser Generation hatte er den Fragebogen, der ein Dutzend Fragen umfasste, verschickt und in rund 90 % Antworten erhalten, somit ein absolut repräsentatives Ergebnis erzielt. Eine am Schluss seines Vortrags gegebene Liste nennt in alphabetischer Reihenfolge die Namen »der Leute, welche diese sanfte Invasion ausmachten«: Ilse und Frederick Bernett, Albrecht Buschke, George Efron, Marguerite und Lucien Goldschmidt, Ernest Gottlieb, Ludwig Gottschalk, Paul Gottschalk, Gerda und William Heinman, Thomas Heller, Emil Hirsch, Walter Johnson, Hanni und Hans P. Kraus, Kurt Merlander, Emil Offenbacher, Marianne und Albert Phiebig, Otto Ranschburg, Edith und Herbert Reichner, Mary Rosenberg, Erwin Rosenthal, Marianne und William Salloch, William Schab, Walter Schatzki, Kurt Schwarz, Hellmuth Wallach.550 Aus seiner Fragebogenaktion hatte Bernard Rosenthal eine Fülle biographischer Daten gewonnen, von der er allerdings in seinem Vortrag keinen Gebrauch machen konnte. Wohl aber fasste er einige dieser Daten zu einer Art Soziologie dieser Emigrantengruppe zusammen, mit folgenden Hauptergebnissen: Nicht alle Vertreter dieser Gruppe waren bereits vor ihrer Flucht Buchhändler gewesen, mehr als ein Drittel hatte erst in der neuen Heimat zu diesem Beruf gefunden; Stichdatum hierfür war das Jahr 1948. Der Immigrationsprozess überspannte bei dieser Gruppe den Zeitraum von 1936 bis in die ersten Jahre nach dem Kriegsende, weil für viele die USA die letzte von mehreren Stationen gewesen ist. Bei ihrem Eintreffen war der jüngste 25, der älteste 72 Jahre alt; die Mehrzahl zählte zwischen 40 und 50 Jahren, befand sich somit in einem Alter, in dem die Anpassung an die neue Lebensumgebung im Grunde hätte schwer fallen müssen. Faktisch alle gehörten den oberen sozialen Schichten an, ebenso stellte sich der Bildungsgrad als überdurchschnittlich hoch dar; die meisten hatten mindestens Abitur, fast ein Drittel hatte einen akademischen Grad. Zwischen 1936 und 1948 registrierte
548 Bernard M. Rosenthal: The Gentle Invasion. Continental Emigré Booksellers of the Thirties and Forties and Their Impact on the Antiquarian Booktrade in the United States. Die Rede erschien, leicht überarbeitet und ins Deutsche übersetzt von Rosenthals Ehefrau Ruth Rosenthal-Schwab, noch vor der amerikanischen Fassung in AdA u. d. T.: Die sanfte Invasion. Aus dem kontinentalen Europa emigrierte Buchhändler der 30er und 40er Jahre und ihr Einfluß auf den antiquarischen Buchhandel in den USA. 549 Die ausgefüllten Fragebogen hat Rosenthal, neben anderen Materialien, dem Kunstgeschichtlichen Institut in Hamburg zu Forschungszwecken überlassen; der Bestand wird im Warburg-Haus Hamburg aufbewahrt und wird im Folgenden als »Rosenthal-Fragebogen« bzw. bei Vorliegen z. B. von Korrespondenz als »Materialsammlung Rosenthal« zitiert. 550 Die Liste wäre, bei etwas weiterer Auslegung des Beobachtungsfeldes, noch um einige Namen zu ergänzen. Dazu gehören Theodore Front oder der unselbständig im Antiquariatsbuchhandel tätige Hans Nachod (wie der Renaissanceforscher Hans Baron Mitarbeiter bei H. P. Kraus in New York). Nicht mehr in ihrem Beruf (oder nur eingeschränkt) betätigt haben sich Paul Graupe und Rosa Hess. – Erst später in die USA kamen Annemarie Schnase (1956) sowie, aus London übergesiedelt, Bernd H. Breslauer (1977), als Sohn von Martin Breslauer Erbe einer bedeutenden deutschen Antiquarstradition.
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Rosenthal immerhin 23 Geschäftsgründungen; die Zahl der Firmen in New York und Umgebung habe sich damit in kürzester Zeit um 20 bis 30 Prozent erhöht. »Aber der dauerhafteste Einfluß dieser Antiquare ist nicht in ihrer zahlenmäßigen Stärke zu finden; vielmehr ergibt er sich aus deren Sachkenntnis, handwerklichem Können und etwas, was sich mit bibliographischem Bewußtsein umschreiben lässt; sie alle brachten diese Fähigkeiten ein in ihre Tätigkeit.« Seiner eigenen Wahrnehmung zufolge hatten die Immigranten in den USA keine vergleichbar entwickelte Antiquariatslandschaft angetroffen wie sie etwa in Großbritannien bestand, sondern eine »rare book world«, die – so Rosenthal – »bedeutend unstrukturierter und freizügiger« gewesen ist als in Europa, sodass sie mit diesen Qualifikationen umso prägender auf die Verhältnisse einwirken konnten.551 Rosenthals Resümee war im Grunde schon pointiert im Titel seiner Lecture enthalten: Es habe sich bei diesem Zuzug der deutschen und österreichischen Kollegen um eine »sanfte Invasion« gehandelt, denn: »Etwas überaus Wichtiges trug sich während der dreißiger und vierziger Jahre in der Welt des Antiquariats hier in diesem Land zu – etwas, das diese unsere kleine Welt dramatisch und permanent veränderte.«552 Man wird nun zwar nicht übersehen dürfen, dass die großen Sammler wie J. P. Morgan, Henry Huntington, Lessing J. Rosenwald und viele andere durchaus auch von amerikanischen Antiquaren fachkundig betreut worden sind und dass es unter diesen auch herausragende Antiquare gegeben hat, denen es an Kennerschaft und fachlichem Knowhow durchaus nicht mangelte.553 Rosenthal selbst richtete das Bild sofort gerade, indem er feststellte, dass viele der eingewanderten Antiquare zwar schon bald »sozusagen zur Ersten Liga« gehörten, dass sich aber »keiner nur entfernt mit den bedeutenden Büchern, dem glänzenden Stil und der beeindruckenden Macht des legendären Dr. Rosenbach messen konnte (inzwischen allerdings hat’s einer von ihnen geschafft …).«554 In der Tat wird von Rosenbach berichtet, seine Besucher seien von einem »A Million Dollar Bookshelf« und insgesamt von den bei ihm gelagerten Schätzen geradezu überwältigt gewesen; nicht nur Sammler seien »zerschmettert auf einen Stuhl« gesunken: »Rosenbachs Schätze betäuben den Antiquar und machen ihn hilflos, oder sogar leicht neidisch.«555 Dennoch: Bernard M. Rosenthal lag mit seinen Bewertungen sicherlich nicht falsch, wie die nachfolgende Betrachtung der einzelnen Vertreter der Immigrantengruppe und deren Lebensläufe erkennen lassen wird. Die meisten hatten stupende Fachkenntnisse
551 Rosenthal sprach sogar davon, der amerikanische antiquarische Buchhandel sei mit einigen Ausnahmen zuvor eine »eher provinzielle, ungezwungene, um nicht zu sagen auf gut Glück angelegte Sache gewesen«. (Rosenthal: Die sanfte Invasion, S. A393). 552 Rosenthal, S. A390. 553 Vgl. dazu u. a. AdA Nr. 9/1980 (= Bbl.(Ffm) Nr. 80, vom 26. September 1980), S. A381‒ A427, zum Themenschwerpunkt »Antiquare und alte Bücher in Amerika«. Zur amerikanischen Antiquariatsgeschichte im 20. Jahrhundert vgl. auch die Darstellungen von Madeleine B. Stern: Antiquarian Bookselling in the United States; Dickinson: Dictionary of American Antiquarian Bookdealers; ferner Rostenberg / Stern: Old & Rare. Forty Years in the Book Business; Rostenberg / Stern: Old Books, Rare Friends, dt. Ausgabe: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft. Unser Leben für seltene Bücher. 554 Rosenthal: Die sanfte Invasion, S. A394 f. Die Anspielung bezieht sich auf H. P. Kraus. 555 Rostenberg / Stern: Zeitgenössische amerikanische Antiquare und ihre Memoiren, S. A387.
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mitgebracht, andere hatten sie »on the job« perfektioniert; es war aber vor allem die geschickte Amalgamierung eines europäischen beruflichen Knowhows mit »amerikanischem« Geschäftssinn, die es ihnen ermöglichte, sehr rasch eine herausgehobene Position zu erringen. Einen eindeutigen Beleg für die Wertschätzung, die sie in der gesamten Kollegenschaft genossen, liefert die Tatsache, dass viele von ihnen in den Vorstand oder sogar zum Präsidenten der Antiquarian Booksellers Association of America (ABAA) berufen wurden. Bereits in den 1960er Jahren hatten Walter Schatzki 1962‒1964 als Präsident und Bernard M. Rosenthal 1966‒1968 als Vizepräsident und 1968‒1970 als Präsident dieser 1949 gegründeten Vereinigung vorgestanden. William Salloch war 1970‒1972 Präsident. Im Übrigen waren einige von ihnen – Herbert Reichner und Walter Schatzki – bereits im Gründungskomitee aktiv gewesen, Schatzki war auch Mitglied des ersten gewählten 24-köpfigen Governing Comittees (später Board of Governors); Bernard Rosenthal schätzte, dass in den ersten Jahren nach Entstehung der ABAA die Emigrantengruppe mehr als 10 Prozent der Mitgliederschaft umfasste. Die engagierte Mitwirkung der aus Deutschland und Österreich stammenden Antiquare und ihre Berufung in hohe Funktionen geben einen deutlichen Hinweis darauf, in welchem Maße sie in ihrer Berufsgemeinschaft integriert gewesen sind.556 Dies hat umso mehr Aussagekraft, als es sich bei der ABAA um eine in erster Linie von »native Americans« getragene Initiative, nicht etwa um eine von den Immigranten dominierte Organisation gehandelt hat. Für eine rasche Integration kamen den Antiquarsimmigranten auch einige äußere Faktoren entgegen: nicht nur gab es ein aufnahmefähiges Sammlerumfeld, auch die amerikanischen Rare Book Departments erwiesen sich als gute Kunden. Zudem wussten sie, auf welchen Wegen sie in Europa an hochwertiges Material – von Handschriften und Inkunabeln bis zu illustrierten Drucken aus allen Jahrhunderten und spezifischer Wissenschaftsliteratur – herankommen konnten, wie sie es für ihre Abnehmer in den USA benötigten; gerade die unmittelbare Nachkriegszeit bot dafür besondere Möglichkeiten, und auch später gehörten die regelmäßigen Einkaufsreisen in Europa zum Jahresablauf. Zudem waren nicht wenige der Antiquarsemigranten imstande, in den USA verstärktes Interesse für bislang weniger oder kaum beachtete Sammelgebiete und Bereiche der europäischen Buchkultur zu wecken. Zwar hatten einzelne Sammlerpersönlichkeiten wie Pierpont Morgan oder Henry Huntington bereits früher Schätze der europäischen Buchtradition zusammengetragen, bei weiten Teilen des Publikums herrschte aber doch selektives Interesse vor, vor allem für alle Arten von Americana. Die emigrierten Antiquare haben im Rahmen ihrer Tätigkeit neue Themengebiete etabliert, damit neue Märkte erschlossen oder jedenfalls die Aufmerksamkeit auf Felder gelenkt, die bis dahin verhältnismäßig wenig bekannt gewesen sind. Als immenses Kapital hat sich dabei im-
556 Einen Parallelfall am nordamerikanischen Kontinent repräsentiert Bernard Amtmann*, der nach Jahren des Untertauchens in der französischen Résistance 1950 in Montreal ein Antiquariat eröffnete und rasch zum führenden Antiquar aufstieg. Davon zeugen die fast 250 Listen und Kataloge, die er bis 1966 erstellt hat, sowie das Faktum, dass er in diesem Jahr 1966 zum Gründer und ersten Präsidenten des kanadischen Antiquarsverbandes wurde. In dieser Eigenschaft hat er auch das Erscheinen der Canadian National Bibliography initiiert.
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mer wieder die profunde Kenntnis der europäischen Kultur- und Wissenschaftstraditionen erwiesen: »Es ist in ganz besonderem Maße diese europäische Verbindung, welche die ›echten‹ Buchhändler sehr rasch in die anspruchsvolleren Schichten des hiesigen Handels aufsteigen ließ […]«, stellte Bernard Rosenthal in diesem Zusammenhang fest.557 Die Vertreter dieser »anspruchsvolleren Schichten«, von Kraus bis Rosenthal, waren zumeist in den Bereich Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke, illustrierte Bücher aus früheren Jahrhunderten tätig, gleichsam im antiquarischen »big business«, in welchem nicht selten schon beim einzelnen Objekt bedeutende Summen im Spiel waren. Daneben kam es aber durch das Wirken einzelner Immigranten zur Einführung oder Ausweitung von Themenfeldern, in denen weniger die Brieftasche als Entdeckerfreude den Ausschlag gab. Ein Beispiel dafür liefert das in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg erwachende Interesse am Kinderbuch, das mit dem Namen Walter Schatzki verbunden ist. Emil Offenbacher spezialisierte sich auf Wissenschaftsgeschichte, ebenso F. Thomas Heller, mit einem Akzent auf Medizingeschichte; das Ehepaar Frederick und Ilse Bernett war mit einem Spezialantiquariat für Kunst, Architektur und Archäologie erfolgreich; Kurt L. Schwarz, der sich nach einer Zwischenstation in Shanghai in Kalifornien niedergelassen hatte, bot ein relativ breit gestreutes Sortiment, von Frühdrucken bis zum illustrierten Buch des 20. Jahrhunderts, das aber doch auch einen Akzent auf das Kunstbuch legte, ähnlich wie George Efron in New York. Schwerpunktsetzungen auf musikwissenschaftliche Literatur und Musikalien nahmen Ernest Gottlieb und Theodore Front vor, eine echte Nische besetzte Albrecht Buschke mit der Schachliteratur. Auf einem sehr ergiebigen Feld betätigten sich die Wissenschaftsantiquare. Sie hatten vielfach schon vor 1933 gute Verbindungen zu den amerikanischen Bibliotheken, denn das deutsche Wissenschaftsantiquariat hatte, oft in »Personalunion« mit Buchexportunternehmen, eine Schlüsselrolle im Aufbau des wissenschaftlichen Bibliothekswesens in den Vereinigten Staaten innegehabt. In den USA angekommen, konnten die Emigranten nun vielfach an diese Kontakte zu institutionellen Kunden anknüpfen. Paul Gottschalk ist ein geeignetes Beispiel, um solche Kontinuitäten zu illustrieren; er hatte noch vor der Übersiedelung von den Niederlanden in die USA eigens ein Lager von 45.000 Bänden gesammelt und konnte daraus sehr rasch umfangreiche Lieferungen veranlassen. Aber auch neu etablierte Kollegen wie Albert J. Phiebig konnten durch einen Import- / Exportservice verbunden mit einem Antiquariat den Wünschen zahlreicher bibliothekarischer Kunden auf der ganzen Welt nachkommen; in kleinerem Maßstab taten dies auch Mary S. Rosenberg oder William S. Heinman, der vor allem enge Beziehungen in die Niederlande unterhielt. Ihnen allen kam der Nachkriegs-Ergänzungsbedarf der Bibliotheken und Forschungseinrichtungen zugute, in den USA erst recht nach dem »Sputnik-Schock«, der zur signifikanten Erhöhung der Ankaufetats der wissenschaftlichen Fachbibliotheken führte. Einige Antiquare haben neben ihren Kenntnissen auch kontinentaleuropäische Bücher als Grundstock für ihre Geschäftsgründung mitgebracht; möglich war dies, weil in den ersten Jahren der NS-Herrschaft die Mitnahme von Büchern noch nicht ernsthaft behindert wurde; nach 1936 haben viele es über Zweigniederlassungen oder mit Hilfe in- und ausländischer Kollegen geschafft, einen Teil ihres Lagers zu retten; einzelne
557 Vgl. Rosenthal: Die sanfte Invasion, S. A394.
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wertvollere Stücke wurden als Ansichtssendungen aus Deutschland verschickt oder als Scheinverkäufe, die nach der Ausreise wieder annulliert wurden.558 In einigen Fällen überließen englische und amerikanische Antiquare ihren immigrierten Kollegen für ihren Neustart Ware in Kommission unter großzügigen Bedingungen.559 Neben diesen Fällen einer bemerkenswerten Solidarität seitens der ausländischen Kollegen gab es auch eine ebenso bemerkenswerte Solidarität der emigrierten Antiquare untereinander. Einige teilten sich in der Anfangszeit die Geschäftsräume, andere legten Kapital zusammen oder kooperierten in anderer Weise.560 Hervorhebung verdienen auch die zahlreichen Fälle, in denen Aufstieg und Erfolg auf der Zusammenarbeit von Ehepaaren beruhte; oft waren es gerade die Ehefrauen, die einem Unternehmen den entscheidenden Rückhalt gaben. Bernard M. Rosenthal wies in seiner Malkin-Lecture auf das ausgeprägte »bibliographische Bewußtsein« der Immigranten hin; die Neuankömmlinge hätten mit ihren Katalogisierungsmethoden den hiesigen Handel tiefgreifend beeinflusst.561 Die eindringliche Beschreibung der Objekte, wie sie vor 1933 in Deutschland u. a. bei den Firmen Joseph Baer in Frankfurt, Martin Breslauer in Berlin oder Jacques Rosenthal in München geübt wurde,562 ließ manche Kataloge zu respektablen wissenschaftlichen Leistungen werden; einige können bis heute als Quellenwerke nicht nur zur Buchgeschichte, sondern auch zu Aspekten der Wissenschafts- und Geistesgeschichte dienen. In den USA dagegen wollte sich bis dahin selbst ein Lathrop C. Harper – nach Rosenbach und noch vor Charles E. Goodspeed, Richard Wormser oder David A. Randall und David Magee damals der prominenteste amerikanische Antiquar – von »aufgeblasenen Anmerkungen moderner Katalogbearbeiter«563 nicht beeindrucken lassen, obwohl er einem überaus professionell geführten Betrieb vorstand. Ironischerweise war es einer der umfassendst gebildeten Emigranten, der 1899 in Wien geborene Otto Ranschburg, der Anfang der 1950er Jahre als »managing director« und »minority-owner« die Leitung der New Yorker Firma Lathrop C. Harper übernahm und in dieser Position bis zu seinem Tod 1985 überaus erfolgreich war. Die Handbibliothek stellt für den Antiquar ein unentbehrliches Handwerkszeug dar; in ihrem Umfang und ihrer Zusammensetzung spiegeln sich Gründlichkeit und wissenschaftliche Fundiertheit seiner Arbeitsweise. Die mit oft unwiederholbarem Spürsinn 558 Vgl. auch Paul Gottschalk: »Von meinen Seltenheiten hatte ich schon seit vielen Jahren bei meinen USA-Reisen die bedeutenden Stücke nicht mehr nach Berlin zurückgenommen. Sie waren in New York. […].« (Gottschalk: Memoiren eines Antiquars, S.18). 559 Als ein Beispiel nennt Rosenthal den aus Wien nach England emigrierten Thomas Heller, der in London von dem Traditionshaus Clifford Maggs neben professionellen Ratschlägen einen Koffer mit Büchern als Kommissionsware bekam und damit in New York eine Existenz gründen konnte. Otto Ranschburg fand Unterstützung bei Lathrop C. Harper. 560 Beispiele liefern hierzu Hellmuth Wallach und Walter Schatzki bzw. William H. Schab und Hans Peter Kraus. 561 Rosenthal: Die sanfte Invasion, S. A393. 562 Zum Antiquariatsbuchhandel in Deutschland vor 1933 vgl. Fischer: »Eine glückliche Vermischung…«. Zum Verhältnis von Bibliophilie und Antiquariat im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. 563 Zit. n. Madeleine B. Stern: Ursprung und Entwicklung des Antiquariatsbuchhandels in New York, S. A8.
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und fachlicher Meisterschaft zusammengestellten Handbibliotheken oder »reference libraries« waren für sich genommen ein begehrtes Objekt und kamen daher nach Tod oder Geschäftsaufgabe eines Antiquars als eine eigene Sammlung zur Versteigerung; nicht wenige Universitätsbibliotheken haben damit den Grundstein für ihr bibliographisches Zentrum gelegt. Als Beispiele können genannt werden die Handbibliotheken von H. P. Kraus,564 von Walter Schatzki (die nach jener von Martin Breslauer zu den bedeutendsten ihrer Art im 20. Jahrhundert gezählt wird), ferner jene von William Salloch, Emil Offenbacher, Herbert Reichner und Lucien Goldschmidt. Die spezifische Leistung der US-amerikanischen Antiquarsemigration lässt sich somit in drei Punkten zusammenfassen: sie liegt in der Verknüpfung europäischen beruflichen Knowhows mit »amerikanischem« Geschäftssinn; in der Entwicklung neuer Sammelgebiete durch Weckung des Interesses für bislang nicht beachtete Bereiche der kontinentaleuropäischen Buchkultur; im Beitrag zum transkontinentalen Wissenstransfer durch Mitwirkung am Aufbau von Bibliotheken und Forschungseinrichtungen.
Ostküste / New York Emil Hirsch und Hellmuth Wallach Unter den ersten der hauptsächlich aus München, Berlin, Frankfurt am Main und Wien stammenden Antiquarsemigranten, die im »Big Apple« einen Neuanfang wagten, befand sich der renommierte Münchener Antiquar Emil Hirsch* (1866 Mergentheim – 1954 New York), der nun im fortgeschrittenen Lebensalter von 72 Jahren gemeinsam mit seinem bereits 1937 emigrierten Schwiegersohn Hellmuth Wallach* (1901 München – 1989 Bern), seine Berufstätigkeit in der Neuen Welt fortsetzte.565 Hirsch verkörperte höchste Fachkompetenz, gewonnen in jahrzehntelanger Berufserfahrung: Im 19. Jahrhundert noch, 1881 bis 1884, war er bei Ludwig Rosenthal in München in die Lehre gegangen, 1897 hatte er sich selbständig gemacht, und seit 1916 Aufsehen erregende Auktionen veranstaltet. Seit den 1920er Jahren hatte Hirsch sich auf den Handel von Inkunabeln und Luxusdrucken verlegt. Seine Geschäftsräume waren ein Treffpunkt für das geistig-künstlerische München gewesen; auch die Buchkunstbewegung jener Zeit hatte er intensiv gefördert. Als Kenner der deutschen und französischen Buchillustration, Einbandkunst und Literatur erstellte Hirsch über das Tagesgeschäft hinaus wirkende Kataloge, die bis heute als Referenzwerke konsultiert werden. Schon bald nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« hatte Hirsch unter fortgesetzten Schikanen und Repressalien der Behörden zu leiden. Im Mai 1937 meldete er bei der Münchener Polizeidirektion die Schließung seiner Firma an, Anfang 1938
564 »Die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Auktions- und Sammlungskataloge, Nachschlagewerke und Bibliografien gelten als bedeutendste Referenzbibliothek zum Thema Buchwesen, die es weltweit gibt.« (Koldehoff: Eine Legende wird versteigert. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 247 vom 27. 10. 2003, S. 15). 565 Zu Hirsch siehe u. a.: Rosenthal-Fragebogen; LGB2; Arthur Rümann: Emil Hirsch†. In: Bbl. (Ffm) Nr. 76 vom 24. September 1954, S. 558; Percy Muir: Minding my own Business. London 1956, S. 166 f.; Die Rosenthals, S. 147 f.
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stellte er den Antrag auf Auswanderung in die USA und es gelang ihm die Schiffspassage nach New York, wo bereits Hellmuth Wallach gemeinsam mit Walter Schatzki (man teilte sich die Räumlichkeiten) in der Madison Avenue ein Antiquariat aufgemacht hatte. Hirsch ging noch 15 Jahre lang, bis ein Jahr vor seinem Tod 1954, täglich ins Geschäft. Das Antiquariat wurde bis 1970 unter Hirschs Namen von Hellmuth Wallach weitergeführt, der schon all die Jahre von der gleichen Firma aus, aber unabhängig, mit Graphik und Kunstbüchern gehandelt hatte.566 Der Sohn eines Münchner Bankiers hatte in seiner Heimatstadt Kunstgeschichte studiert und nach Heirat mit der Kunsthistorikerin Maria Hirsch in der Graphik- und Handzeichnungsabteilung des Antiquariats seines Schwiegervaters in München gearbeitet. Nach New York 1937 aufgrund des Kunsthandelsverbots für »Nichtarier« emigriert und dort mit geringfügigen Barmitteln eingelangt, hatte er zunächst ein Stellenangebot des New Yorker Buchhändlers Erhard Weyhe angenommen, bis er zusammen mit seinem Schwiegervater im Antiquariatsgeschäft mitarbeiten und dieses schließlich übernehmen konnte. Er selbst betrachtete sich mehr als Graphikspezialist und weniger als Buchhändler.567
Walter Schatzki Wallachs Kollege an der Adresse Madison Avenue, Walter Schatzki* (1899 Klafeld b. Siegen – 1983 New York), hatte mit dem Verkauf seiner Kinderbuchsammlung an die New York Public Library bereits 1932 Geschäftskontakte nach New York gepflogen.568 Als Inhaber der 1920 gegründeten und schon bald beliebten Jugendbücherstube in Frankfurt am Main569 hatte sich Schatzki auch dem alten Kinderbuch gewidmet und seit 1923 eine Antiquariatsabteilung geführt, wie er überhaupt sein Geschäft zu einem allgemeinen Sortiment für Literatur und Geisteswissenschaften erweitert und 1927 in einen größeren Laden verlegt hatte.570 Die Weltwirtschaftskrise brachte zwar Rückschläge
566 Zu Wallach siehe u. a.: Rosenthal-Fragebogen; DEA / DNB, Nachlass EB 96/170 (Lebensdokumente, Fotografien, Manuskripte von Reden und Aufsätzen, autobiographische Manuskripte). Teile der Bibliothek (»An important collection of books on bibliography, printing and kindred subjects from the library of the late Emile Hirsch«) versteigerte das Internationaal Antiquariaat Menno Hertzberger am 22. Oktober 1957 in Amsterdam. 567 Nach der Scheidung von seiner Frau ging Wallach 1970 in die Schweiz. In einem Vortrag »Die Münchener Antiquare von einst« hat er 1985 über diese in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts international so bedeutende Szene des Buch- und Graphikhandels berichtet und in der autobiographischen Skizze »Mein Panther« eindringlich die individuellen psychischen Probleme seiner Emigration beschrieben. Vgl. Wallach: Münchener Antiquare von einst [autobiogr. Skizze »Mein Panther«, S. 23‒27, datiert vom 20. Mai 1980]. 568 Siehe dazu u. a.: Rosenthal-Fragebogen; SStAL, BV, F 12.036; HessHStAWI, Entschädigungsakte Walter Schatzki; Richard Schumann: Walter Schatzki: Frankfurt – New York [Nachruf]. In: Bbl. (Ffm) Nr. 16 vom 25. Februar 1983, S. A76‒A78; Barbara Murken: Walter Schatzki. In: Wandelhalle der Bücherfreunde, N.F. 39 (1997), S. 108‒110. 569 Vgl. hierzu Walter Schatzki: Von Menschen, Büchern und einer Geige. Frankfurt am Main 1924; Walter Schatzki: Reminiscences. In: Phaedrus, Oct. 1978, S. 5‒13. 570 Vgl. Richard Schumann: Erinnerungen an Walter Schatzki und seine Frankfurter Bücherstube. In: Bbl. (Ffm) Nr. 77 vom 28. September 1973, S. A418‒A420; S. A145 f.; Cobets Kleine Geschichte der Frankfurter Bücherstube; Ruth Langen-Wettengl: Die Frankfurter
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Abb. 21: Die Kunden trafen bei Walter Schatzki ein breit gefächertes Angebot an, mit einer frühen Schwerpunktsetzung auf alten Kinderbüchern.
für den erfolgreichen Buchhändler, in noch ganz anderem Maße aber war er vom politischen Machtwechsel in Deutschland betroffen: Am 1. April 1933, dem »JudenboykottTag«, wurde Schatzki von pöbelnden Studenten aus seiner Buchhandlung verjagt. Am 31. Dezember 1935 aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, konnte er sich nur noch sporadisch in der Bücherstube aufhal-
Bücherstube 1920 bis 1995. In: AdA NF 7, 2009, 2, S. 92‒105 (dazu AdA NF 7, 2009/3, S. 213 f.; 2009/4, S. 287 f.).
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ten und traf Vorbereitungen für eine Emigration in die USA: Auf Reisen durch Europa suchte er Bücher für den amerikanischen Markt zu erwerben; 1936 übergab er die Buchhandlung an seine Mitarbeiter Richard Schumann und Heinrich Cobet, die sie in Schatzkis Sinne weiterführten. Nach dem frühen Tod seiner Frau Hilde ging Schatzki im Dezember 1937 nach New York und begründete hier im folgenden Jahr die Firma Walter Schatzki, Old and Rare Books, Prints and Autographs; ein eigenes Ladengeschäft konnte er allerdings erst 1943 in 56th Street, später in der 57th Street eröffnen. Die Anfangszeit in der neuen Heimat war mit Sprach- und Finanzproblemen verbunden; unterstützt von seiner zweiten Frau Barbara, erwarb sich Schatzki (der 1948 die US- Staatsbürgerschaft annahm) mit seinem Antiquariat typisch europäischer Prägung jedoch bald großes Ansehen.571 Schatzki hatte sich nach dem Verkauf seiner ersten Kinderbuchsammlung sofort wieder an den Aufbau einer weiteren Sammlung gemacht, und als er Deutschland verlassen musste, war er in der Lage, diese (rund 800 Titel) in die USA mitzunehmen. Der Verkaufserlös von Teilen dieser Sammlung diente dazu, sein Antiquariat einzurichten. Als er 1941 einen Katalog der verbliebenen Bücher Children’s Books, Old and Rare veröffentlichte (für lange Zeit ein Referenzwerk),572 konnte er damit Edgar S. Oppenheimer interessieren, der Schatzkis Kinderbuchsammlung übernahm und auf dieser Grundlage eine bedeutende Kollektion von 6.000 Titeln aufbaute. Auch wenn diese 1970 nach Europa verkauft und auf mehreren Auktionen versteigert worden ist,573 so konnte Schatzki über die Anstöße, die von seinen Bestrebungen ausgegangen sind, doch mit Zufriedenheit feststellen: The number of collectors and dealers has grown tremendous in all countries, and more libraries have become interested, so I can happily say that my appeal for greater attention to the subject, as expressed in the foreword to my catalogue, has been answered beyond any expectations.574 In der Tat zählte Schatzki neben privaten Sammlern auch Institutionen wie die Pierpont Morgan Library, die New York Public Library und die University of California zu seinen Kunden. Obwohl er mit seinen Geschäften durchaus hohe Umsätze erzielte, veranlassten die Explosion der Mietpreise Mitte der 1970er Jahre und nicht zuletzt auch ein Autounfall Schatzki, dass er im April 1976, nach fast vierzigjährigem Bestehen, sein Ladenge-
571 Bei Walter Schatzki, Old and Rare Books war kurze Zeit auch die aus Berlin emigrierte Gerda Schuyler* angestellt; sie war in Deutschland als Lehrling bei Martin Breslauer und in den USA in der New Yorker Buchhandlung Weyhe tätig gewesen; vgl. Gerda H. Schuyler: Erinnerungen an meine Lehrzeit in Berlin. In: Bbl. (Ffm) Nr. 9 vom 31. Januar 1975, S. A79‒81. 572 Vgl. hierzu Ingeborg Ramseger: Leslie Shephard: »New Foreword«. Children’s Books. Old and Rare (Reprint). Detroit 1974; Christine Pressler: Walter Schatzkis erster Kinderbuchkatalog im Neudruck. In: Bbl. (Ffm), Nr. 60 vom 29. Juli 1975, S. A145 f. 573 Vgl. Brüggemann: Walter Benjamin und andere Kinderbuchsammler, S. 90. Vgl. ferner Walter Benjamin und die Kinderliteratur, S. 85‒92. 574 Zit. n. Brüggemann: Walter Benjamin und andere Kinderbuchsammler, S. 90.
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schäft schloss; die Firma selbst bestand allerdings weiter bis Ende 1979.575 Bis dahin hatte Schatzki dem Antiquariatsbuchhandel in New York vielfältige Impulse geben können. Schon 1962 bis 1964 hatte er als Präsident der 1949 von ihm mitbegründeten Antiquarian Bookseller Association of America vorgestanden – Ausdruck der Anerkennung, die er im amerikanischen Kollegenkreis genoss. Seine bedeutende Handbibliothek wurde am 20. September 1979 bei Swann versteigert.576
Felix Kauffmann Ebenfalls aus dem Frankfurter Buchhandel stammte der 1941 über Portugal nach New York emigrierte Felix Kauffmann* (1878 Frankfurt a. M. – 1953 New York).577 Er hatte die schon 1832 von seinem Großvater Isaak Kauffmann 1832 in Frankfurt gegründete Firma I. Kauffmann systematisch ausgebaut und erweitert; seine sensationellste Transaktion war 1930 die Vermittlung des letzten »freien« Pergamentexemplars einer 42zeiligen Gutenberg-Bibel an die Library of Congress in Washington zum Preis von RM 1.200.000. Der Betrieb blieb nach 1933 zunächst aufrecht; 1937 stellte Kauffmann einen Antrag auf Führung einer »rein jüdischen« Buchhandlung, dem auch stattgegeben wurde. Im selben Jahr verlor er die Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer und im Börsenverein. Im Dezember 1938 ordnete das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda die Auflösung des Betriebes an. Das Geschäft mußte sofort geschlossen werden, die Lagerbestände von Antiquariat und Verlag wurden 1939 an den Jüdischen Kulturbund verkauft.578 Ab 1939 bis zu seiner Auswanderung Anfang 1941 leitete Kauffmann die Frankfurter Zweigstelle des Jüdischen Kulturbund-Verlages; umfangreiche Bestände des Verlages mussten vom Kulturbund zur Devisenbeschaffung ins Ausland verkauft werden; der Rest – so die Kauffmann zugegangene Information – wurde auf Anordnung des Reichspropagandaministeriums eingestampft, das Antiquariatslager in das nationalsozialistische »Institut zur Erforschung der Judenfrage« in Frankfurt überführt. Aufgrund seines Einverständnisses, in New York eine Verkaufsstelle für die im Besitz des Jüdischen Kulturbundes in Deutschland befindlichen Buchbestände zu errichten, hatte Kauffmann eine schriftliche Bestätigung erhalten, die seine Auswanderung offiziell befürwortete und als dringlich einstufte. Kauffmann arbeitete in New York weiterhin als Buchhändler, das allgemeine Antiquariat bildete den Schwerpunkt seiner
575 Vgl. Schatzki Book and Print Store is Closing. In: New York Times 14. April 1976; AB vom 7. Januar 1980 [Anzeige Schatzkis zur Aufgabe seiner Tätigkeit als Antiquar]. 576 Walter Schatzkis Handbibliothek versteigert. In: Bbl. (Ffm) 1979, Nr. 87 vom 30. Oktober 1979 (AdA 1979/10), S. A377 f. 577 Zu Kauffmann siehe u. a.: Katalog 89. Hebraica, Judaica, Manuskripte, Inkunabeln, Erstdrucke, Seltene Ausgaben, Karäische Literatur u. a. m. aus dem gesamten hebräischen Schrifttum. Mit einem Geleitwort zum hundertjährigen Bestehen der Firma J. Kauffmann 1832‒ 1932. Frankfurt am Main 1932. – Korrespondenz und telefon. Gespräche des Verf. mit Reuben Avnari (1910 Gleiwitz – 2003 Haifa / Isr.), Stiefsohn von Dr. Felix Kauffmann, im Februar / März 1992 sowie Zusammentreffen mit ihm am 26. März 1992 in München. Ferner: Leo Baeck Institute, New York, LBIA AR-C. 933/2633; StAL, BV, I Nr. 566 u. F 12.269; Junk: Jüdischer Buchhandel in Frankfurt am Main, S. 93‒108. 578 Braun: Bücher im Schluss-Verkauf, bes. S. 160 f.
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Tätigkeit. Auch unterbreitete er kurz nach seiner Ankunft in New York der Zeitschrift Aufbau Vorschläge für die Angliederung einer Verlagsabteilung; die Publikationen sollten sich an die jüdischen Immigranten aus Deutschland richten und ihnen die Eingewöhnung in das fremde Milieu erleichtern. Diese Pläne ließen sich allerdings nicht verwirklichen. Ungefähr zeitgleich mit Kauffmann immigrierten auch die deutschen Buchhändler Gregory Lounz und Alfred Rose in die USA und suchten in ihrem Berufsfeld erneut tätig zu werden. Lounz* (1887 – 1975 New York)579 eröffnete nach geglückter Flucht aus dem besetzten Frankreich in Manhattan ein wissenschaftliches Antiquariat,580 angeschlossen war ein Buchvertrieb; auch erstellte Lounz Bibliographien u. a. zu französischer medizinischer Fachliteratur. In den 1960er Jahren hat er sich mit seinem Geschäft Gregory Lounz Books auf slawistische Literatur spezialisiert. Der aus Hannover stammende Alfred Rose* war dort Inhaber einer Buch- und Musikalienhandlung mit Leihbibliothek; nach seiner Emigration in die USA hat er von 1941 bis mindestens 1950 in New York in Kew Gardens, Long Island, 84–17 Cuthbert Road, ein Antiquariat geführt. In Inseraten im Aufbau bot er sich zum An- und Verkauf deutscher Bücher in Groß-New York und auswärts an.581
Mary S. Rosenberg Eine Verknüpfung von Buchimport und Antiquariatshandel war kennzeichnend für die Tätigkeit von Mary Rosenberg* (1900 Fürth – 1992 New York); sie war eine herausragende Repräsentantin jener Vermittlungsleistung, die nach 1945 von den Buchhändleremigranten für das deutsche Buch im Ausland erbracht worden ist.582 Vor 1933 hatte sie in Fürth die elterliche Buchhandlung übernommen, bis ihr jede weitere Tätigkeit in diesem Metier verboten wurde. Nach Schließung des Ladens durch die Nationalsozialisten führte sie von der Wohnung aus eine Versandbuchhandlung (bemer-
579 Dazu: Cazden: German Exile Literature, S. 176. – In einem Artikel »French Books After the Armistice« gab Lounz einen Augenzeugenbericht über den Einmarsch der deutschen Truppen am 14. Juni 1940 in Paris und die nachfolgenden Maßnahmen der nationalsozialistischen Besatzungsmacht auf dem französischen Buchmarkt (In: Books Abroad 1943, Vol. 17, No. 1, S. 21‒26). 580 Zunächst an der Adresse 11 E. 45th Street, N.Y., später 45 E 66th Street, zuletzt Lenox Hill, New York. 581 Beispiele: Aufbau vom 12. Februar 1943 und 9. Februar 1945, S. 17. 582 Siehe u. a. Interview des Verf. mit Mary S. Rosenberg in Fürth am 19. Mai 1992; Mary S. Rosenberg Collection, 1992 (Center for Jewish History, Leo Baeck Institute, New York); Georg Ramseger: »Findall New York«. Mary S. Rosenberg. 40 Jahre Publishers, Booksellers, Importers. In: Bbl. (Ffm) Nr. 10 vom 1. Februar 1980, S. 223 f.; sowie die entsprechenden Abschnitte in Kap. 6.1 Distributionsstrukturen und Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive.
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kenswerterweise unterstützt von dem Vorstandsmitglied des Börsenvereins Ernst Reinhardt). Als im Winter 1936/1937 auch dieser Handel behördlich unterbunden wurde, gründete sie im Rahmen des bis Ende 1938 geduldeten »jüdischen Ghetto-Buchhandels« einen »Jüdischen Buchvertrieb«, mit Büchern jüdischer Autoren für ein ausschließlich jüdisches Publikum. Damals wie alle jüdischen Frauen gezwungen, in den Pass den zusätzlichen Vornamen »Sara« eintragen zu lassen, behielt sie dieses »S.« in ihrem Namen später demonstrativ bei. Im August 1939 emigrierte Rosenberg über England nach New York, wo sie am 17. November eintraf. Am 15. Januar 1940 eröffnete sie in einem möblierten Zimmer ein Antiquariat, aus dem nachfolgend die Importbuchhandlung Mary S. Rosenberg Publisher, Bookseller and Importer Inc. (235 West 108th Street) hervorgehen sollte. Sie handelte zunächst mit antiquarischen Büchern innerhalb der Emigrantenschaft und entwickelte sich in diesen Kreisen zu einer Institution; auch vertrieb sie die Bücher der Pazifischen Presse und unterstützte Wieland Herzfeldes Aurora Verlag. Im Rahmen des seit 1942 aktiven Nachdruckprogramms des Office of the Enemy Alien Property Custodian erwarb sie Nachdrucklizenzen für eine Anzahl deutschsprachiger wissenschaftlicher Werke und brachte als Verlegerin u. a. Richard Hamanns Geschichte der Kunst heraus, ebenso jedoch Otto Klemperers Einführung in die Elektronik oder das Jüdische Manifest von Heinrich Heine. Später arbeitete Rosenberg mit ihrem Ehemann, dem Wissenschaftsantiquar Julius I. Laub* (1891–1964 New York), zusammen. Ihre Geschäftstätigkeit entwickelte sich aber in der Folgezeit immer mehr in Richtung Buchimport. In zahlreichen Katalogen und Listen (bis 1980 waren es rund 320) bot Rosenberg die von ihr aus Deutschland importierten Bücher in den USA und darüber hinaus an; schon 1947 war sie – als eine der ersten – in das Nachkriegsdeutschland gereist, um direkte Geschäftskontakte anzuknüpfen.
Fünfzehn aus Berlin stammende Antiquarsemigranten Mehr als ein Dutzend namhafter emigrierter Berliner Antiquare betätigte sich ab 1937 und noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der New Yorker Antiquarsszene, und nicht wenige von ihnen mit durchschlagendem Erfolg. Der jüngste und zugleich einer der ersten unter den Neuankömmlingen war der in Berlin aufgewachsene Lucien Goldschmidt* (1912 Brüssel − 1992 New York),583 der von 1930 bis 1933 eine Lehre bei dem bekannten Auktionator Max Perl in Berlin absolviert hatte, nach dem »Judenboykott-Tag« am 1. April 1933 nach Paris emigriert war und dort für Pierre Berès gearbeitet hat. 1937 sah er die Gefahr, die von Deutschland für Europa ausging, und wanderte in die USA aus. Noch im gleichen Jahr eröffnete er für Berès eine Filiale in New York, W 56th Street, die er mit einer Unterbrechung durch den Militärdienst (1943 bis 1946)
583 Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 75 f.; Jacob L. Chernofsky: Lucien Goldschmidt. In: AB 22, März 1993, 1217 f.; Nicolas Barker: [Nachruf]. In: The Independent, 6. Januar 1992.
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bis 1952 leitete. Anschließend gründete er das Antiquariat Lucien Goldschmidt, Inc. (seit 1966 unter der für Bücherliebhaber »magischen« Adresse 1116 Madison Avenue) mit den Spezialgebieten illustrierte Bücher, Architektur und dekorative Graphik (von Dürer über Hogarth bis Braque, Matisse oder Picasso). John Russell hat die Galerie Goldschmidts in der New York Times so beschrieben: »the kind of book-cum-picture shop that Daumier would have liked to draw and in which Baudelaire would have whiled away the hours.«584 Im Verlauf ihrer 35-jährigen Geschäftstätigkeit brachte die Lucien Goldschmidt Inc. neben mehr als 100 Listen insgesamt 63 wissenschaftlich gründlich bearbeitete Kataloge heraus; herausragend etwa der Katalog 52 The Good Citizen, a Collection of Books Written to Further or to Undertake the Improvement of Mankind (1981) zur politischen Theorie von der Antike bis zur Gegenwart. 1969 publizierte Goldschmidt, gemeinsam mit dem Sammler Herbert Schimmel, eine kommentierte Ausgabe der Briefe von Toulouse-Lautrec. Der Antiquar stand in Verbindung mit zahlreichen großen Bibliotheken und Museen sowie den bedeutenden Sammlern Lessing Rosenwald und Philip Hofer, die seine Passion für die Kombination von Buch und Graphik teilten und von ihm in ihrer Sammeltätigkeit beeinflusst wurden. Auch betätigte Goldschmidt sich fast dreißig Jahre lang als aktives Mitglied des Grolier-Club in New York; 1972 veranstaltete er dort die bahnbrechende Ausstellung »The truthful lens« mit Weston J. Naef, dem Kurator für Fotografie am Metropolitan Museum of Art; die frühe Fotografie gehörte, wie auch die Architekturzeichnung, zu seinen vielfältigen Interessengebieten. Im November 1986 zog sich Goldschmidt nach 56-jähriger Tätigkeit als Antiquar aus dem aktiven Handel zurück; die zuletzt in der 83rd Street ansässige Firma wurde geschlossen. Seine Handbibliothek wurde im Mai 1994 bei Swann Galleries in New York versteigert. Über seine Erfahrungen im internationalen Antiquariatsbuchhandel und über die Bedeutung qualitätvoller Katalogerstellung gab Goldschmidt 1989 in einer auch im Druck erschienenen Sol M. Malkin-Lecture The scenery has changed Auskunft.585 Goldschmidt, der kurz vor seinem Tod den International Fine Print Dealers Association’s Lifetime Achievement Award erhielt, wurde in den Nachrufen als eine Verkörperung europäischer Kultur und geistiger Unabhängigkeit charakterisiert. Im Bereich des Kunstantiquariats sind in New York an vorderer Stelle auch Herbert Bittner und George Efron zu nennen. Herbert Bittner* (1898 Breslau – 1960 New York), gelernter Buchhändler und promovierter Kunsthistoriker, war bereits 1935 aus politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in die USA gegangen;586 zuvor hatte er ‒ nach einer Zeit in Italien, wo er als Antiquar in Rom und Padua sowie als Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom Werke des Humanismus und der Renaissance gesammelt und einen Kundenkreis für bibliophile Kostbarkeiten aufgebaut hatte ‒ seit 1932 für das Buchantiquariat Otto Harrassowitz in Leipzig die Kataloge großer Gelehrtensammlungen erstellt. In den USA übernahm Bittner die Leitung der
584 John Russell: [Nachruf] New York Times, 18. Dezember 1992. 585 Lucien Goldschmidt: The scenery has changed. The Purpose and Potential of the Rare Book Trade. 5th Sol M. Malkin Lecture in Bibliography at Columbia University, New York 1989. New York: Book Arts Press 1990. Vgl. ferner Lucien Camille Goldschmidt 1912‒1992 (Memorial tribute from friends and family). New York 1993 [Gedenkbüchlein]. 586 Siehe u. a. Fritz Neugass: Herbert G. Bittner †. In: Bbl. (Ffm) Nr. 76 vom 23. September 1960, S. 1522.
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Kunstabteilung der Buchhandlung B. Westermann in New York, veranstaltete Kunstausstellungen und gab das Bulletin of Art Books heraus. 1939 gründete er sein eigenes Kunstantiquariat in New York, später fügte er wegen des kriegsbedingten Einfuhrstopps der europäischen Bücher einen Kunstverlag hinzu, in welchem zahlreiche Standardwerke der Kunstwissenschaft erschienen. Die Bandbreite seines Verlagsprogramms reichte von Matthias Grünewald über Piranesi bis zur sozialkritischen Kunst der 1920er Jahre. Er selbst trat auch als Buchautor hervor: Zusammen mit dem Fotografen Ernest Nach erarbeitete er den Band Rome. A Portrait of the Eternal City, als Ausdruck seiner Liebe zu Italien. 1959 brachte er einen Band zu den Zeichnungen Käthe Kollwitzʼ heraus; kurz vor seinem Tod schloss er die Arbeiten zu einem Buch über seinen Freund George Grosz ab. Die Lebensgeschichte von George Efron* (1898 St. Petersburg – 1969 New York) wies einige Brüche auf, bevor er im Herbst 1937 die USA erreichte. Sein Vater, ein Verleger, hatte St. Petersburg mit der Familie nach Ende des Ersten Weltkriegs verlassen müssen und in Berlin neuerlich einen Verlag gegründet. Nach dessen frühem Tod und der Streichung des Buchverlags Efron 1933 aus dem Adressbuch des Deutschen Buchhandels ging Efron verschiedenen Brotberufen nach, bis er 1937 erneut emigrieren musste. Mit der Hilfe von Freunden (unter ihnen Herbert Bittner* und der Kunsthändler Curt Valentin*) eröffnete er 1938 eine eigene Buchhandlung in New York. Er spezialisierte sich auf neue und antiquarische Kunstbücher und Drucke und gab in vier- bis sechswöchigem Abstand Listen heraus. Spätestens seit 1953 war er Mitglied der ABAA. Nach seinem Tod wurde das Geschäft geschlossen; die Bestände wurden von seiner Witwe Johanna Thomsen, einer langjährigen Mitarbeiterin im New Yorker Antiquariat Walter Schatzkis, an in- und ausländische Kunden und Händler verkauft.587 Publizistisches Aufsehen erregte der aus Berlin emigrierte Jurist Albrecht Buschke* (1904 Berlin – 1986 Staten Island, N.Y.), als er im Mai 1938 mit seiner in Sammlerkreisen bekannten Schachbibliothek (3.000 Bände und 1.500 Autographen) in New York ankam. Die Magazine Publishers Weekly, American Bookfinder und Chess Review berichteten über die in die Neue Welt gerettete Kollektion. Buschke hatte schon zu Schulzeiten Schachliteratur gesammelt und Russisch gelernt; beides sollte sich als beruflich bedeutsam erweisen. Denn nachdem Buschke in Berlin 1933 seine Zulassung als Rechtsanwalt gelöscht wurde und er auch in den USA nicht als Jurist berufstätig werden konnte, lag es für ihn nahe, sein Hobby zum Beruf zu machen und Antiquar für Schachliteratur und Periodika zu werden, letztere – aufgrund seiner Sprachkenntnisse – hauptsächlich aus Russland. Mit diesem Thema etablierte Buschke eine echte Nische.588 Die Dubletten seiner Sammlung bildeten das Material für seinen ersten Katalog im Januar 1940 mit 670 Nummern. Nach einer ersten Niederlassung auf Staten Island eröffnete er einen Buchladen für Schachliteratur in Manhattan in der East 11th St. und belieferte von dort aus Universitätsbibliotheken im In- und Ausland mit einschlägiger Literatur
587 Nach einem Brief von Johanna Efron an Bernard M. Rosenthal, Jan. 1987 (Materialsammlung Rosenthal). 588 Siehe u. a. Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 28‒30; Egbert Meissenburg: Dr. Albrecht Buschke zum 75. Geburtstag. In: Deutsche Schachzeitung, H. 10/1979; Ulrich Grammel: Albrecht Buschke zum 75. Geburtstag. In: Rochade Nr. 183 (Okt. 1979).
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und russischen wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Buschkes yellow quotation slips waren bekannt bei den Schachliteratur sammelnden Universitätsbibliotheken in Cleveland und Princeton; unter den Schachhandschriften, die Buschke der Cleveland Public Library für die John G. White Chess and Checkers Collection verkaufte, befand sich Jacobus de Cessolisʼ De Ludo Scachorum (1480). Der Schachantiquar unternahm nach 1945 immer wieder Geschäftsreisen nach Europa, um seine Bestände zu erneuern und zu komplettieren; auch veröffentlichte Buschke zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften zum Thema Schachliteratur und Antiquariatsbuchhandel.589 Eine auf sechs Jahre beschränkte Episode blieb die antiquarsbuchhändlerische Betätigung bei Walter H. Perl* (1909 Berlin – 1975 Huntington, West Virginia); dennoch verdienen seine im New Yorker Exil gesetzten Initiativen an dieser Stelle Beachtung.590 Nach seinem abgeschlossenen Germanistikstudium in Berlin und Zürich in die USA emigriert, versuchte er sich ab 1940 eine Existenz mit einem »Academic Book Service« aufzubauen. 1942 offerierte Perl in der Zeitschrift Aufbau seinen Bücherdienst mit der Firmenadresse 256 West 70 Str.: »Academic Book Service ‒ Ständiger An- und Verkauf guter europäischer Bücher«.591 Ende 1944 veröffentlichte Perl im Aufbau einen Aufruf an alle nach 1933 exilierten deutschsprachigen Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler: »Fast jeder von diesen geistigen Menschen hat sich bemüht, seine Arbeiten im Druck erscheinen zu lassen, und zahllose Bücher und Aufsätze sind in Zürich und Stockholm, Paris, Amsterdam und Mexico City, New York und Buenos Aires und in hundert andern Städten erschienen.« Perl beabsichtigte also mit seinem »Academic Book Service« und in Zusammenarbeit mit dem Aufbau, eine Bibliographie des Exils zu publizieren: Alle Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler werden hiermit aufgefordert, an die Adresse des Aufbau, Abteilung Bibliographie der Emigration, eine genaue Liste ihrer seit 1933 außerhalb Deutschlands verlegter Werke: Titel, Verlagsort, Jahr, wenn möglich Seitenanzahl und Verlag, sowie Angabe über die Sprache, in der das Werk veröffentlich wurde, zu senden.592 Über das (offensichtlich gescheiterte) Projekt ist nichts weiter bekannt. Von 1948 an wirkte Perl als Germanistikprofessor am Marshall College, Huntington, West Virginia. Zum Kreis der zu höchstem Ansehen aufgestiegenen immigrierten Berliner gehörte William (ursprgl. Siegfried) Salloch* (1906 Layß/Ostpreußen – 1990 Mount Kisco, New York).593 Der promovierte Mediävist stand am Anfang seiner wissenschaftlichen 589 So etwa A. B.: Eine bedeutende europäische Schach-Sammlung nun in Amerika. In: The Chess Review, Aug. 1938; A. B.. Collecting Chess Autographs. In: Autographs, Oct. 1939; ferner Aufsätze und Artikelserien im American Chess Bulletin, in Chess Life & Review oder im California Chess Reporter. 590 Siehe u. a. Cazden: German Exile Literature, S. 2, 117, 176, 202; Marshall University News Letter, February 21, 1975 [Nachruf]. Als Germanist war Perl Spezialist für die österreichische Literatur der Jahrhundertwende, Nachlassverwalter von Leopold Andrian, ein persönlicher Freund Hugo von Hofmannsthals und Herausgeber des Briefwechsels Andrian / Hofmannsthal (1968). 591 Aufbau, 4. 12.1942, S. 22. 592 Aufbau, 29. 12. 1944, S. 5. 593 Zu Salloch: Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 192 f.; Karl Pressler: William Salloch wurde achtzig. In: Bbl. (Ffm) Nr. 42 vom 27. Mai 1986 (AdA 1986/5), S. A237 f.;
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Karriere in Deutschland, doch aufgrund seiner Heirat mit der »Nichtarierin« Marianne Blum (1909– 1989), einer promovierten Historikerin, wurde ihm 1933 die Stelle als wissenschaftlicher Bibliothekar der Preußischen Staatsbibliothek verweigert. Im Dezember 1936 emigrierten die Sallochs nach New York, wo William einige Zeit im Verlagshaus J. J. Augustin arbeitete, bis die Eheleute 1939 gemeinsam in der East 17th St. ihr Antiquariat William Salloch. Old, Rare and Scholarly Books eröffneten, das sich auf Humanismus im weitesten Sinne spezialisierte und sich mit »mailing lists« zu geisteswissenschaftlicher Literatur an USamerikanische Bibliotheken, Universitäten und Gelehrte wandte. Während der Kriegsjahre (1942‒1945) leistete Salloch, seit 1942 amerikanischer Staatsbürger, Kriegsdienst in der US-Army; in dieser Zeit führte seine Frau Marianne die Geschäftstätigkeit alleine weiter. Im Januar 1946 übersiedelte die Firma mit dem Bücherlager in die Seventh Avenue South, Greenwich Village N.Y., und langsam begann ihr Aufstieg zu einem der bedeutendsten Antiquariate der USA. 1957 verlagerte das Ehepaar Salloch seinen Wohnund Geschäftssitz nach Pinesbridge Road, Ossining, N. Y., einen Vorort von New York. Dort konnten sie in einem historischen Farmhaus ungestört ihre wissenschaftlich exakten Kataloge u. a. zu europäischer humanistischer Literatur, mittelalterlichen Handschriften, Inkunabeln, Emblembüchern, theologischer Literatur, aber auch zu Americana (u. a. zu früher amerikanischer Musik) erstellen – insgesamt 422, in der Fachwelt als vorbildlich geschätzte Verkaufskataloge, die vielfach als bibliographische Referenzwerke gehandelt werden.594 Sallochs bezogen ihre Ware teilweise aus Antiquariatskatalogen, kauften Bücher aber auch auf Auktionen oder auf Geschäftsreisen in Europa. Sie waren von der Gründung an Mitglied in der Antiquarian Booksellers Association of America (ABAA), William Salloch war von 1970 bis 1972 deren Präsident.595 Auch in bedeutenden bibliophilen und gelehrten Gesellschaften wie dem Grolier Club und der Renaissance Society war das Ehepaar fest verankert; ein Glanzlicht stellte in dieser Hinsicht eine Ausstellung der Sallochschen Sammlung »Books and People« 1976 im Grolier Club dar. Die beiden wurden in ihren hohen Jahren als »Philemon und Baucis des internationalen Antiquariatsbuchhandels« apostrophiert; nur wenige Monate nach dem Tod seiner Frau starb auch William Salloch.596 Die wertvolleren Teile des Lagers wurden zusammen mit der Hand-
Jacob L. Chernofsky: Sharing in the Pursuit of Books and Scholarship. In: AB weekly Dec. 8, 1986. 594 Salloch publizierte in deutschen und amerikanischen Fachzeitschriften auch Artikel zum Antiquariatsbuchhandel, z. B. W. S.: Gesellschaftsarbeiten Basler Buchdrucker. Zur Wirtschaftsgeschichte des Frühdrucks. In: Bbl. (Ffm) Nr. 11, 1985; W. S.: Cooperative catalog of Members of the Middle Atlantic States Chapter of the Antiquarian Booksellers Association of America (ca. 1958). 595 Bill Salloch heads ABAA. In: AB April 20, 1970. 596 Siehe AB weekly Jan.1, 1990 (Obituary of Marianne Salloch); AB weekly February 1990 (Obituary of William (Siegfried) Salloch [Verf. Ilse B. Bernett]).
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Abb. 22: William und Marianne Salloch arbeiteten viele Jahrzehnte lang gemeinsam in ihrem Antiquariat in New York bzw. Ossining.
bibliothek bei Christie’s am 17. Mai und am 1. Juni 1991 in New York, anderes bei Christie’s South Kensington am 31. Oktober 1991 versteigert.597 Hohes Ansehen in Fachkreisen und einen US-amerikanischen Kundenstamm besaß bereits der Berliner Antiquar Paul Gottschalk* (1880 Berlin – 1970 New York), als er 1940 wegen der Invasion der Deutschen in sein erstes Fluchtland, die Niederlande, von seiner USA-Geschäftsreise nicht zurückkehren konnte und in New York einen zweiten Neuanfang starten musste.598 Dass er vor seiner Emigration rund 95 Prozent des Umsatzes im Auslandsgeschäft gemacht hatte, größtenteils durch Belieferung von US-amerikanischen Universitätsbibliotheken mit Zeitschriftenserien, kam nicht von ungefähr. Gottschalk hatte, nach Lehrzeit bei Asher & Co. in Berlin und Anstellung bei Joseph Baer & Co. in Frankfurt / M., seine erste Geschäftsreise in die USA bereits 1906 unternommen und auf Basis der zahlreichen Kontakte, die er an der amerikanischen Ostküste und im Mittelwesten mit Bibliotheken und privaten Sammlern knüpfen konnte, bereits im Jahr darauf, 1907, in Berlin sein eigenes Antiquariat eröffnet. Auf einer zweiten USA-Reise 1908 (der noch zahlreiche weitere folgen sollten) hatte er seine Verbindungen vertieft und erweitert; zu seinen Geschäftspartnern gehörte auch Belle da Costa Greene von der Pierpont Morgan Library. Auf ausgedehnten Reisen durch Europa, insbesondere in Italien,
597 Nach Mitteilung von Bernard M. Rosenthal wurde das Lager Sallochs an Swann Galleries in New York verkauft, die Handbibliothek bei Christie’s in New York versteigert (Interview Ulrich E. Bach mit Bernard M. Rosenthal am 6. Januar 1995 in Berkeley). 598 Als Quelle siehe vor allem: Paul Gottschalk: Memoiren eines Antiquars. (auch: Paul Gottschalk: Memoirs of an Antiquarian Bookseller). Ferner: Rosenthal-Fragebogen; SStAL, BV, F 10.989; Paul Gottschalk †. In: Bbl. (Ffm) Nr. 21 vom 13. März 1970, S. 595; Schroeder: »Arisierung« I (2009), S. 302‒305; Schroeder: »Arisierung« II (2009), S. 373 f.
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hatte er sich neben einer guten Kenntnis des europäischen Antiquariatsmarktes auch Sprachkenntnisse im Italienischen, Französischen, Englischen und Spanischen erworben, vor allem aber ein Lager an illuminierten Manuskripten, Inkunabeln und Büchern mit Holzschnittillustrationen aufgebaut. Weitere Schwerpunkte seiner Tätigkeit lagen einerseits auf gelehrter Literatur und Reihenpublikationen aus allen europäischen Ländern, andererseits auf Handschriften und Frühdrucken; insofern repräsentierte seine Firma eine bemerkenswerte Kombination von wissenschaftlichem und bibliophilem Antiquariat. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme betrieb Gottschalk sein Geschäft noch bis September 1936, dann verbrachte er – auf der Basis eines Scheinvertrags mit der Fa. Martinus Nijhoff und unter DevisenzahAbb. 23: In der Belieferung lungen an die Reichsbank (bis Juni 1938 fast amerikanischer Universitätsbibliotheken 70.000 Mk.) – einen Großteil seines Bücher- war Paul Gottschalk erfolgreich wie lagers nach Den Haag. Das Berliner Geschäft kaum ein anderer. wurde von seiner langjährigen Mitarbeiterin Ilse Brauer mit Ladeneinrichtung und dem verbliebenen Teil des Lagers übernommen. Als Jude wurde Gottschalk aus dem Adressbuch des deutschen Buchhandels gestrichen; jede Verbindung mit seiner Firma in Den Haag wurde offiziell für unerwünscht erklärt. In der Branchenzeitschrift Der Buchhändler im Neuen Reich (Heft 3, März 1940) wurde er beschuldigt, er habe unter Hinweis darauf, 15 Verwandte unter beträchtlichem finanziellem Aufwand aus Deutschland herausgeholt zu haben, seine offenen Rechnungen nicht bezahlt. Tatsächlich hat er seinen engen Verwandten die Flucht ermöglicht und sie damit vor dem Konzentrationslager bewahrt; darüber hinaus war er aber auch, unter freiwilliger Zahlung von Verzugszinsen, seinen Verpflichtungen nachgekommen. Aufgrund seiner Geschäftsverbindungen und auch der politischen Situation war es naheliegend, dass Gottschalk sich in den Niederlanden auf eine Übersiedlung in die USA vorbereitete: »Da ich bei der bedrohten Lage im gesamten europäischen Auslande ein willkommener Käufer war, konnte ich Zeitschriften in solchem Umfange erwerben, dass ich trotz sofortiger sehr großer Verkäufe ein Lager von circa 45.000 Bänden ansammeln konnte«.599 Gottschalks wissenschaftliches Antiquariat in Holland wurde von Johann Clemens Groetschel, dem Leiter der Ortsgruppe der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront in Den Haag, »kommissarisch verwaltet«. In New York wurde Gottschalk zunächst von seinem Hotelzimmer aus tätig, später betrieb er ein Ladengeschäft in 21 Pearl Street c / o Tice & Lynch, zuletzt in 84 University Place. Was er in seinen Memoiren über diese Zeit berichtet, klingt geradezu märchenhaft; so etwa bekam er von der Louisiana State University auf einen Schlag feste
599 Gottschalk: Memoiren eines Antiquars, S. 18.
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Orders für 131.000 $, und da im Krieg fast keine neuen Bücher aus Europa bezogen werden konnten, blieben auch anderen Universitäten relativ große Summen übrig, die für Antiquaria verwendet wurden.600 Nach dem Krieg erhielt Gottschalk formelle unlimitierte Aufträge, im Rahmen einer großen Europareise für die Ergänzung der lückenhaft gebliebenen Serien zu sorgen. Auf der Basis eines Diplomatenstatus reiste er durch viele Länder und kaufte ein, nur in Deutschland stieß er auf Schwierigkeiten. Dafür konnte er sein Haager Lager wieder öffnen und allein daraus sofortige Lieferungen im Wert von 300.000 $ veranlassen. Einblick in Gottschalks Arbeitsweise gibt sein Bericht: Ein Studium der Union List ergab, dass Yale University, die eine der schönsten Bibliotheken hat, verhältnismäßig sehr wenig Publikationen französischer Akademien und Gesellschaften sowie auf manchen Gebieten wenig französische Zeitschriften besaß. Mein Vorschlag, hier die großen Lücken französischer wie italienischer Titel auszufüllen und selbst eine Liste nicht vorhandener oder inkompletter Serien zu machen, wurde angenommen. Ich erhielt unlimitierte Orders für 271 französische und circa 70 italienische Serien. […] Für die Universität von Michigan kaufte ich die von mir in gleicher Weise in einer Liste angegebenen französischen Zeitschriften. Jetzt ist ihr Bestand an französischen Zeitschriften so groß, dass er wohl nur noch von dem der Bibliothèque Nationale in Paris übertroffen wird. […] Die University of Missouri Library in Columbia, Missouri darf jetzt als eine der komplettesten kunsthistorischen Bibliotheken nicht nur der USA betrachtet werden. […] Neue Aussichten eröffnet die Entstehung neuer und zum Teil großer Universitäten besonders auch in Californien.601 Betrachtet man den Aktionsradius nur dieses einen Antiquars, lässt sich die Beschaffungsleistung dieser international agierenden Buchhändler ermessen; wie Gottschalk gingen nach dem Zweiten Weltkrieg ja noch zahlreiche weitere Kollegen regelmäßig auf Einkaufsreisen nach Europa, mit zum Teil unglaublichen Ergebnissen; aus einzelnen Ländern wie etwa der Tschechoslowakei sind wertvolle deutschsprachige Bücher waggonweise abtransportiert und zu einem beträchtlichen Teil in die USA verbracht worden. Paul Gottschalk konnte in seiner 1967 erschienenen Autobiographie auf eine 60-jährige, erlebnisreiche berufliche Karriere zurückschauen, die ihn zu einem der bedeutendsten Antiquare seiner Zeit und einem herausragenden Vermittler zwischen Europa und Amerika werden ließ. Unterstützung hatte Paul Gottschalk zeitweise durch seinen Neffen Ludwig Gottschalk* erhalten.602 Dieser hatte bereits nach seinem Schulabgang 1935 in Berlin und seit 1936 in Den Haag in der Firma seines Onkels gearbeitet. Im Gegensatz zu diesem war es ihm aber nicht möglich gewesen, Europa rechtzeitig zu verlassen: »I stayed behind and carried out the business under the greatest difficulties«. Er überstand die
600 Gottschalk, S. 18. 601 Gottschalk, S. 20. 602 Siehe u. a. Edelman: International Publishing in the Netherlands, 1933–1945, S. 93. – Ludwig Gottschalks Firma blieb bis weit über die Jahrtausendwende aktiv, als Geschäftsführerin zeichnete nunmehr seine Witwe Dorothee Gottschalk.
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gefährliche Zeit im Versteck; im November 1946 wanderte er schließlich mit dem geretteten holländischen Lager in die USA aus und arbeitete zwei Jahre bei Paul Gottschalk in New York, bis er im November 1948 dort sein eigenes Antiquariat, die Firma Biblion Inc. in Forest Hills NY. eröffnete. In der Folgezeit verkaufte er u. a. die von ihm gerettete, bedeutende pharmakologische Sammlung, die er noch in Deutschland von dem Prager Medizinprofessor Emil Starkenstein (ermordet 1942 im KZ Mauthausen) erworben und die er an verschiedenen Stellen im Schwarzwald versteckt hatte, bis er sie nach Kriegsende wieder zusammenführen konnte. 1941 suchte noch eine andere Zelebrität des deutschen Antiquariatsbuchhandels Zuflucht in den USA: Der renommierte Auktionator Paul Graupe* (1881 Neutrebbin – 1953 Baden-Baden), ein Altersgenosse Paul Gottschalks, hatte nach »Arisierung« seines Berliner Geschäftes in Paris ein Unternehmen für Kunst- und Antiquariatshandel gegründet.603 Bei Kriegsbeginn entging er der Internierung, da er sich in der Schweiz aufhielt. 1940 wurde das Warenlager seiner Firma und auch Kunstgegenstände aus seinem privaten Besitz von der Vichy-Regierung beschlagnahmt, sodass sich Graupe gezwungen sah, nach New York zu übersiedeln. Dort handelte er ohne Ladengeschäft im Hintergrund weiter, jedoch nicht im bibliophilen Antiquariat, sondern als Kunsthändler. Ein von den kontinentaleuropäischen Immigranten zwar nicht völlig neu inauguriertes, aber doch entschieden gefördertes Feld war das der Wissenschaftsgeschichte. Exemplarisch lässt sich hier auf Emil Offenbacher* (1909 Frankfurt a. M. – 1990 Bennington, Vermont) verweisen, der in Berlin im Auktionshaus von Paul Graupe seine Antiquarsausbildung erfahren hatte. Anfang der dreißiger Jahre war Offenbacher nach Paris und nach England gegangen, um dort seine Kenntnisse zu vertiefen. Nach seiner Rückkehr fand er, aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nur für kurze Zeit, eine Anstellung bei J. Halle (Ida Halle*) in München, danach suchte er sich als Antiquar in Frankfurt selbständig zu machen, musste aber Ende 1933 aufgrund »rassischer« Verfolgung durch die Nationalsozialisten emigrieren und Abb. 24: Emil Offenbacher betrieb in ging nach Paris. Dort betrieb er mit einem Teil New York in der Hauptsache ein naturdes Bestandes von J. Halle ein naturwissen- wissenschaftliches und medizinisches schaftliches Antiquariat, stand damals auch in Antiquariat, war aber auch in GeistesVerbindung mit Erwin Rosenthal, mit dem er geschichte und weiteren Spezialgebieten für den Fall einer gemeinsamen Emigration in versiert. die USA Abmachungen traf. Mit Kriegsbeginn
603 Siehe in diesem Kapitel weiter oben, Abschnitt Frankreich; dort auch weitere Literaturangaben. Zu den Aktivitäten in Paris und in den USA vgl. insbesondere Golenia / Kratz-Kessemeier / Le Masne de Chermont: Paul Graupe (1881–1953).
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1939 musste Offenbacher in die Provinz nach Niort ausweichen. Nach gefahrvollen Monaten in Frankreich mit zweimaliger Internierung flüchtete Offenbacher im März 1941 über Kuba in die USA und etablierte sich in New York in der Madison Avenue, dann in der Fifth Avenue mit der Firma Emil Offenbacher, Old and Rare, deren Eigentümer Erwin Rosenthal war. Anfang 1942 erstellten beide den exquisiten Katalog Thirty Fine Books. Von 1943 bis 1945 wurde Offenbachers Laufbahn durch Arbeiten in einer Rüstungsfabrik unterbrochen; bald nach Kriegsende eröffnete er jedoch sein eigenes Antiquariat in Kew Gardens, Queens, das er 45 Jahre bis zu seinem Tod führte. Neben zahlreichen Sammlern zählten auch die medizinischen Fachbibliotheken von Yale und Harvard zu seinen Kunden. Die Geschichte von Medizin, Physik und Chemie stand im Mittelpunkt seiner Tätigkeit, doch befasste er sich ebenso kompetent mit Allgemeiner Geschichte und Literatur, Bildungsgeschichte oder neulateinischer Dichtung. Tatsächlich hatte Offenbacher eine profunde Bücherkenntnis auch in entlegeneren Bereichen; er arbeitete sehr gewissenhaft und veröffentlichte in New York 42 Kataloge; beispielhaft ist der epochemachende Katalog Nr. 19 The Chemical Revolution (1967). Offenbachers bedeutende Handbibliothek wurde 1991‒1997 durch den New Yorker Antiquar Jonathan A. Hill über mehrere Kataloge verkauft.604 Erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs stieg das über Frankreich in die USA emigrierte Ehepaar Bernett in das US-amerikanische Antiquariatsgeschäft ein. Es war auf Kunstliteratur spezialisiert und brachte dafür beste Voraussetzungen mit: Der Kunsthistoriker Frederick Bernett* (vorm. Fritz Alexander Bernstein, 1906 Berlin – 1993 New York-Larchmont) und seine ebenfalls in Kunstgeschichte promovierte Frau Ilse geb. Blum (1910 in Berlin – 2000 New York) hatten in Kunstverlag und Kunsthandlung einschlägige Berufserfahrung gesammelt, ehe ihnen von ihrem ersten Exilort Paris die Weiterflucht in die USA im März 1941 gelang.605 Die erste Zeit hielten sie sich mit Gelegenheitsjobs und Armeedienst über Wasser, bis sie, dem Beispiel der Cousine Ilse Bernetts Marianne Salloch folgend, 1944 in New York City die F. A. Bernett Books Inc., ein Spezialantiquariat für Kunst, Architektur und Archäologie, eröffneten. Schon der erste Katalog France: History Art Literature, ausgeliefert am 24. August 1944, dem Tag der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besetzung, wurde ein geschäftlicher Erfolg. Bernett bekam im Oktober 1945 als einer der ersten Buchhändler die Erlaubnis zu einer Reise nach Europa, um dort gezielt für amerikanische Bibliotheken einzukaufen. Im
604 Siehe Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 158 f.; Jacob L. Chernofsky (übers. v. Heike Pressler): Emil Offenbacher 1909‒1990. In: Bbl. (Ffm) Nr. 96 vom 30. November 1990 (AdA 1990/11), S. A473‒475; Lucien Goldschmidt: Emil Offenbacher. In: Book Collector 40 (1991), S. 260 f.; Bernard M. Rosenthal: Emil Offenbacher. In: Jonathan A. Hill Catalogue 69. New York 1991, S. 1–4. 605 Vgl. Rosenthal-Fragebogen, Materialsammlung Rosenthal; Interview des Verf. und Ulrich E. Bach mit Ilse Bernett, Larchmont / New York am 22. März 1996 (Oral History-Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels); Dickinson: Dictionary, S. 17 f.; [Todesanzeige in:] New York Times vom 21. September 2000 [online]; Wendland: Kunsthistoriker im Exil, Bd. 1, S. 46 f.
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Jahre 1953 verlegten die Bernetts den Geschäftssitz in den New Yorker Vorort Larchmont, um sich ganz auf den Vertrieb über Katalog zu konzentrieren. Viele US-amerikanische Universitätsbibliotheken, darunter jene von Harvard, Yale und Columbia, waren Kunden Bernetts. Ihr Antiquariat hatte nicht geringen Anteil daran, dass in den USA kunstwissenschaftliche Referenzwerke in großem Umfang zur Verfügung standen, entsprechend dem damals außerordentlich gestiegenen Kunstinteresse. Frederick und Ilse Bernett gehörten 1949 zu den Gründungsmitgliedern der ABAA, in deren Leitung Frederick in den 1960er Jahren sieben Jahre lang tätig war; außerdem waren die beiden Mitglieder des Grolier Club und Fellows der Morgan Library. 1990 konnten die erfolgreichen Antiquare auf 270 Verkaufskataloge zurückblicken.606 Für die Bernetts war kurzzeitig auch der Berliner Antiquar Albert F. Zimmermann* (1888 Magdeburg – 1976 New York) tätig, der erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Frühjahr 1948, in die USA ausgewandert war. Als selbständiger Antiquar brachte er in New York 1949 zwei Kataloge heraus. Im ersten Adressbuch der International League of Antiquarian Booksellers von 1951/1952 war er als Mitglied verzeichnet, im zweiten von 1958 nicht mehr.607 Zimmermann, der sich vor 1933 auch in zahlreichen Bibliophilenvereinigungen engagiert hatte, war in Berlin seit 1927 Teilhaber des kleinen, bibliophilen Antiquariats von Heinrich Rosenberg* (1885 Berlin – 1968 Rio de Janeiro) gewesen; nachdem die Firma schon 1934 als »nichtarisches« Unternehmen aus dem Adressbuch gestrichen worden war, hatte er sie im April 1937 übernommen und bis 1943 weitergeführt. Bereits im Januar 1939 ins New Yorker Exil gegangen, aber erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Antiquarsberuf gefunden hat Albert J. Phiebig* (1908 Berlin – 2004 New York).608 Obwohl dem Buch und einem Buchberuf schon immer zugeneigt, hatte er auf Wunsch seines Va-
606 Der älteste Sohn Peter, der 1973 als Teilhaber in das Antiquariat eingetreten war, übernahm die Firma nach dem Tod seines Vaters und verlegte sie 1996 nach Boston. Zur aktuellen Ausrichtung von F. A. Bernett Books siehe auf der Homepage die Seite History (https:// www.fabernett.com/history.php). 607 Dazu: Schriftliche Auskunft von Erich Aber an den Verfasser vom 24. Oktober 1993; SStAL, BV, F 10.757; Coppens: Paul Graupe, S. 260; Abraham Horodisch: Bibliophiler Buchhandel im Berlin der 20er Jahre. In: Bbl. Nr. 9 vom 31. Januar 1975, A77; Koppel: »… mit Besitzvermerk auf der ersten Seite des zweiten Bogens«, S. 404–412. 608 Zur Biographie siehe Albert J. Phiebig: My story (unveröff. Manuskript, Leo Baeck Institute, N. Y.).Weiteres Quellenmaterial liegt vor mit: Rosenthal-Fragebogen; Interview John M. Spalek with Marianne Phiebig about her husband, Albert; February 15, 2006 (German and Jewish intellectual Émigré Collection, University at Albany); Albert Phiebig Collection, 1940‒1996, Center for Jewish History, Leo Baeck Institute, New York. Siehe ferner Hilde Marx: Albert A. Phiebig: Buchsucher und Buchfinder. In: Aufbau, 7. September 1973; Jacob L. Chernofsky: Doing Business With The European Book Trade. In: AB weekly, February 23, 1987, S. 769‒ 774; Phiebig, Albert J. In: New York Times, 4. April 2004 [Todesanzeige; online].
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ters Jura studiert; da er jedoch den Beruf eines Juristen nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« nicht ausüben durfte, arbeitete er von 1933 bis 1938 als Chefstatistiker bei der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Seine Privatbibliothek, darin auch eine bedeutende Sammlung zur Geschichte der Juden in Zentraleuropa, konnte Phiebig über Rotterdam in die Neue Welt mitnehmen. Nach diversen Beschäftigungen besuchte er 1940/1941 Post-graduate-Kurse an der Columbia University und an der New York University; während des Krieges (1942‒1945) arbeitete er als Consultant des Office of Strategic Service in Washington und New York. 1946 erstellte Phiebig eine Marktanalyse für eine Gruppe Schweizer Verleger; daraus entstand die Idee, eine eigene Importbuchhandlung zu eröffnen. Zunächst von seiner Wohnung in Kew Gardens in Queens aus vertrat er zunächst vier kleine Verlage, expandierte jedoch rasch und verlegte 1952 den Betrieb nach White Plains. Er importierte bald »foreign books« und Zeitschriften aus der ganzen Welt, wobei er sich nicht auf Neuerscheinungen beschränkte, sondern auch antiquarische Titel beschaffte. Mit der Zeit wurde der antiquarische Handel dominant und Phiebig trat, vorgeschlagen von Lucien Goldschmidt, der Antiquarian Booksellers Association of America bei. Sein Bücherimport wurde zunehmend durch eine Exporttätigkeit ergänzt. 1964 heiratete Phiebig in zweiter Ehe Marianne Hoff, eine ebenfalls aus Berlin stammende Finanzkauffrau, die dem tragischen Schicksal ihrer Familie 1939 durch Flucht entkommen war. Mit ihrer Unterstützung konnte die Geschäftstätigkeit noch effizienter gestaltet und weiter ausgebaut werden. 1989 beschäftigte die Albert Phiebig Inc. fünf Angestellte und bearbeitete im Jahr rund 3.000 Anfragen. Erst 2002, 94-jährig, zog sich Phiebig aus dem Geschäftsleben zurück. Durch seine von überragender Kompetenz getragene buchhändlerische Tätigkeit hat er sich um den internationalen Wissenstransfer große Verdienste erworben; als spezielle Leistungen empfand er selbst die Erstellung einer Bernard Shaw-Bibliothek für die University of North Carolina sowie seine Jack London-Bibliographie. Als Büchersammler baute Phiebig (damit bereits in seiner Jugend beginnend) die vermutlich größte Sammlung von Elzevier-Ausgaben im 20. Jahrhundert auf; die mehr als 800 Titel umfassende Kollektion sollte am 5. Dezember 2001 bei Bloomsbury in London versteigert werden, wurde aber zuvor im Ganzen verkauft.
H. P. Kraus – Protagonist einer Rare book-Saga Von den immigrierten Antiquaren gab es nur einen, der in seinen Aktivitäten einen vergleichbar großartigen Stil wie Abraham Rosenbach (1876‒1952) entwickelte, H. P. Kraus, der den berühmten amerikanischen Kollegen auf der Ebene der Geschäftstüchtigkeit sogar noch übertroffen haben dürfte.609 Hans Peter Kraus* (1907 Wien – 1988 Ridgefield, Conn., USA), meist HP Kraus oder nur HPK genannt, war nicht nur einer der bedeutendsten Antiquare seiner Zeit,610 sondern auch eine der schillerndsten Figuren 609 Kraus selbst glaubte, große Unterschiede zwischen sich und Rosenbach feststellen zu können, und meinte, sie beide seien »in Charakter, Stil und Gewohnheiten meilenweit voneinander entfernt« gewesen. Dagegen statuieren Rostenberg und Stern: »In Wirklichkeit, auf antiquarischem Gebiet, ist H. P. K. gewissermaßen die Reinkarnation des verstorbenen Dr. R.«. (Rostenberg / Stern: H. P. Kraus. In: Bbl. (Ffm), Nr. 80 v. 26. September 1980, S. A387 f.). 610 Vgl. Alexander Wischnewski: Kraus hat’s. Das Börsenblatt zu Besuch beim bedeutendsten Antiquar der Welt. In: Bbl. (Ffm) Nr. 6 vom 19. Januar 1979, S. 133‒135. Siehe auch: In
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seines Metiers; in seiner Autobiographie A Rare Book Saga hat er über seinen Aufstieg, der ihn von einem Wiener Außenbezirk in die Mitte von Manhattan führte und ihn zur auffälligsten Erscheinung im gesamten internationalen Antiquariatsbuchhandel werden ließ, mitteilsam Auskunft gegeben.611 1935 hatte er in Wien – nach einer Tätigkeit als Buchhändler und Verlagsvertreter – ein Geschäft in der Praterstraße eröffnet; nach der Annexion Österreichs im März 1938 wurde er, aufgrund einer Denunziation durch einen Mitarbeiter, verhaftet und in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert. Im April 1939 kam Kraus mit einem Häftlingstransport zurück nach Wien und wurde einige Wochen darauf freigelassen, mit der Auflage, Österreich binnen zweier Monate zu verlassen. Es gelang ihm, mit einem Durchreisevisum für Schweden in die USA zu fliehen. Nach eigener Auskunft erreichte er Abb. 25: In seinen Memoiren A Rare am 12. Oktober 1939 (dem »Kolumbus-Tag«) Book Saga rekapituliert H. P. Kraus New York, in seinem Gepäck ein Exemplar des aus subjektiver Sicht die wichtigsten berühmten »Kolumbus-Briefs« von 1494, und Stationen seiner atemberaubenden konnte dort nach diesem spektakulären Entree Antiquarskarriere. sehr rasch wieder an seine buchhändlerische Tätigkeit anknüpfen. 1940 – in diesem Jahr schloss er auch die Ehe mit Hanni Zucker (30. März 1919 – 14. Januar 2003), die aus begütertem österreichischen Haus stammte und ebenfalls im Oktober 1939 die USA erreicht hatte – gründete er das auf alte Handschriften und Drucke, insgesamt aber auf ein breites Fächerspektrum ausgerichtete Antiquariat H. P. Kraus Rare Books in New York, wobei er die Geschäftsräume in Madison Avenue zunächst mit dem Wiener Kollegen William H. Schab* teilte und erst später in 46th Street ein eigenes Ladenlokal eröffnete. In der Folgezeit baute Kraus Kontakte zu den bedeutendsten amerikanischen Sammlern wie Lessing J. Rosenwald, Sir Chester Beatty, Arthur Houghton oder Belle da Costa Greene von der Pierpont Morgan Library auf, ebenso aber zu bekannten europäischen Sammlern wie Martin Bodmer, Peter Ludwig und Otto Schäfer (für dessen Frühdruck-Kollektion er der Hauptlieferant war). Bei Bietgefechten stellte Kraus immer neue Rekorde auf und war auf diese Weise mitverant-
Memoriam Hans Peter Kraus 1907‒1988. Mt. Vernon, New York: Colish 1989; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 290 f.; Markus Brandis: H. P. Kraus – eine Saga? Würdigung eines großen Antiquars. In: AdA, N.F. 5, 2007, 5, S. 351‒ 354; Schroeder: »Arisierung« II, S. 371‒373. 611 A Rare Book Saga. The Autobiography of H. P. Kraus. New York: Putnam 1978. Dt.: Die Saga der kostbaren Bücher. Zürich: Schweizer Verlagshaus 1982. Vgl. hierzu Werner Bodenheimer: Eine sagenhafte Autobiographie. In: Bbl. (Ffm) Nr. 17 v. 27. Februar 1979, S. A67‒ A70.
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wortlich für eine schwindelerregende Preisentwicklung, er sorgte so aber auch für steigende Wertschätzung der von der Branche gehandelten Objekte. In seinem bald weltberühmten New Yorker Antiquariat beschäftigte er emigrierte Fachleute wie Hans Nachod* (1885 Leipzig – 1958 New York),612 den in der Renaissanceforschung bedeutenden Historiker Hans Baron (1900 Berlin – 1988 Urbana, IL) sowie den bereits 1929 in die USA gelangten Bibliothekar und Buchwissenschaftler Hellmut Lehmann-Haupt*. Zu seinen Geschäftspraktiken gehörte der Erwerb ganzer Bibliotheken und bedeutender Sammlungen (z. B. 1949 die mehr als 20.000 Bände umfassende Kollektion des Fürsten Liechtenstein), von denen er dann, mit großem Gewinn, vieles einzeln oder in kleineren Partien veräußerte. In der Öffentlichkeit trat Kraus vor allem durch den An- und Verkauf einzelner kostbarer Bücher hervor, von Stundenbüchern bis zur Gutenberg-Bibel; die Krönung bedeutete hier der 1983 (gemeinsam mit Quaritch, London) durchgeführte Verkauf des aus dem 12. Jahrhundert stammenden Evangeliars Heinrichs des Löwen um 11,7 Mio. $ nach Deutschland, den höchsten Preis, der bis dahin für ein Buch bezahlt worden war. Angesichts solcher spektakulären Transaktionen wurde Kraus in den USA und Europa als bedeutendster Antiquar seiner Zeit betrachtet; bei manchen seiner Kollegen stieß der großzügige Stil seines Auftretens v. a. bei Auktionen auf Kritik.613 Ungeachtet dieser Vorbehalte fanden neben seiner hochwertigen Ware auch seine aufwändig ausgestatteten und – auf Grundlage einer herausragenden bibliographischen Handbibliothek614 – detailreich bearbeiteten Verkaufskataloge allgemeine Anerkennung. Zahlreiche der insgesamt 223 Kataloge, in denen faktisch nur Rara und Rarissima angeboten wurden, haben den Charakter eines Referenzwerks; dazu kamen noch Hunderte von Listen.615 612 Hans Nachod lebte zwischen 1919 und 1939 als Archäologe, Schriftsteller und stellvertretender Museumskurator in Leipzig, bis er und sein Sohn in der Pogromnacht 1938 von den Nationalsozialisten schwer misshandelt wurden. Im März 1939 emigrierte die Familie unter Zurücklassung ihres (beträchtlichen) Vermögens nach Utrecht und von dort in die USA. Seit 1941 arbeitete Nachod an der Columbia University, 1943 wurde er von H. P. Kraus als persönlicher Assistent und leitender Berater engagiert; gemeinsam mit Hellmut LehmannHaupt war er in den Handel kostbarer Inkunabeln von H. P. Kraus. Rare Books eingebunden. Diese Tätigkeit übte Nachod, der ein exzellenter Kenner humanistischer Literatur und ein Petrarca-Spezialist war, bis zu seinem Tod aus. Die Hans Nachod Collection ist im Besitz der University of North Texas (Denton). – Vgl. auch: To Hans Nachod on the occasion of his seventieth birthday, May 31, 1955: Greetings and tributes from friends and colleagues. New York: H. P. Kraus: 1955; Erwähnungen in H. P. Kraus: A Rare Book Saga; Diamant: Chronik der Juden in Leipzig, S. 122, 180, 192, 404. 613 Bezeichnend, wie Rostenberg / Stern einige selbstcharakterisierende Aussagen des Antiquars kommentierten: »›Nicht jeder Buchhändler ist in der Lage, einen siebenstelligen Scheck auszuschreiben.‹ Das stimmt. Die meisten Antiquare könnten das nicht. Sind H. P. K.’s eigene Worte nicht ein Maßstab seiner Ambition als Bibliophile? ›Möglicherweise bekommen meine Leser den Eindruck, dass es mir nur darum geht, Geld zu verdienen.‹ Dieser Eindruck ist durchaus richtig.« (Rostenberg / Stern: H. P. Kraus. In: Bbl. (Ffm), Nr. 80 v. 26. September 1980, S. A388). Vgl. auch Fritz Neugass: Hans Peter Kraus. In: Bbl. (Ffm) Nr. 83 v. 17. Oktober 1967, S. 2402 f. 614 The private library of Hans P. Kraus. Katalog, Tl. I‒III [Tl. I mit e. Einl. v. R. Folter]. New York: H. P. Kraus [1990‒1992]. 615 Vgl. die Katalogbibliographie von Roland Folter im Jubiläumskatalog »Fifty Years«, 1982. – Von H. P. Kraus stammen auch die folgenden Publikationen: Inter-American and World
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Kraus war noch auf anderem, dem Antiquariatsgeschäft verwandten Gebiet ein erfolgreicher Unternehmer: Bereits 1948 hatte er ein Zeitschriftenantiquariat Kraus Periodicals Inc. New York, gegründet, aus dem heraus sich 1962 die Kraus Reprint Corp., New York entwickelte, die – mit einer europäischen Filiale in Liechtenstein – eine Vielzahl von Reprints vor allem von wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften herausbrachte.616 Diese wurden nicht nur – nach dem »Sputnik-Schock« – für die amerikanischen Ausbauprogramme der Universitäten benötigt, sondern auch von den europäischen Bibliotheken, die mit den Reprintbänden ihre Kriegsverluste kompensierten. 1968 zog sich Kraus aus dem operativen Geschäft der beiden Unternehmen zurück, die im selben Jahr mit der Thomson International Corporation Ltd. zur Kraus-Thomson Organization (seit 1988 Kraus Organization Ltd.) zusammengeschlossen wurden; mit Herb Gstalder blieb ein Schwiegersohn Krausʼ in der Reprint-Firma tätig. Kraus selbst widmete sich nachfolgend mit voller Energie seinem Antiquariat; in diese Zeit fallen seine großen »Coups« wie die Ankäufe der Gutenberg-Bibel, von Teilen der Sammlungen Martin Bodmer und Sir Thomas Phillipps und des erwähnten Heinrich der LöweEvangeliars, bis er um 1987 aus gesundheitlichen Gründen die Leitung an den Germanisten Roland Folter übergab, der in Krausʼ Antiquariat seit 1977 im Bereich Frühdrucke und mittelalterliche Handschriften tätig war. Nach dem Tod Krausʼ wurde das Antiquariat von seiner Witwe Hanni, der Tochter Mary Ann und deren Ehemann Roland Folter weitergeführt. Nach dem Tod der Witwe 2003 wurde das Antiquariat geschlossen, das Lager sowie die Handbibliothek wurden an Sotheby’s verkauft und zum größten Teil später als Eigenware versteigert.617 Kraus war Mitglied in zahlreichen BibliophilenGesellschaften und Bibliothekskuratorien; viele Einrichtungen verdanken ihm großzügige Schenkungen. An erster Stelle ist hier zu nennen »The Kraus Collection of Sir Francis Drake« an der Library of Congress.618
Fünf weitere aus Wien emigrierte Antiquare in New York Unmittelbar nach den »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland im März 1938 gelangten namhafte Wiener Antiquare nach New York. Von seiner Kollegenschaft teilweise als Exzentriker betrachtet, dennoch aber ein bedeutender Vertreter in der Gilde dieser emigrierten Antiquare war Herbert Reichner* (1899 Wien – 1971 in Stockbridge,
Book Trade (Privatdruck). New York 1944; Ein merkwürdiger Beruf. In: Bbl. (Ffm), 13 (1957), Nr. 50, S. 802; »To My Friends and Clients«. 30 Years 100 Catalogues. New York: Kraus 1962. Vgl. ferner: Homage to a Bookman. Essays on Manuscripts, Books and Printing, Written for Hans P. Kraus on his 60th birthday. Hrsg. v. Hellmut Lehmann-Haupt. Berlin: Mann 1967. 616 Näheres dazu im Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Reprintverlage. 617 Vgl. AdA, N. F., 4/2003, S. 319; Stefan Koldehoff: Eine Legende wird versteigert. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 247 v. 27. Oktober 2003, S. 15; H. P. Kraus wird versteigert. In: Buchreport-Magazin 2003/11, S. 155. 618 H. P. Kraus: On Book Collecting. The Story of my Drake Library. New York 1969; Sir Francis Drake. A Pictorial Biography. Amsterdam 1970 (mit Katalog der Slg.; vgl. auch The Kraus Collection of Sir Francis Drake [online].
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Mass.).619 Er war in Wien nach einem Mathematik-Studium zunächst als bibliophiler Verleger tätig gewesen und hatte 1928 bis 1936 die Vierteljahresschrift Philobiblon herausgegeben, ein im gesamten deutschen Sprachraum von Bücherliebhabern hochgeschätztes Organ. Seit 1933 brachte der Herbert Reichner Verlag auch Werke der Literatur heraus, vor allem von Stefan Zweig, der ihm nach seiner Trennung vom Insel Verlag die Rechte am Gesamtwerk übertrug und dort auch eine Reihe neuer romanbiographischer Werken herausbrachte;620 1935 erschien bei Reichner auch (mit der Jahreszahl 1936) die erste Ausgabe von Elias Canettis Roman Die Blendung. 1936 wurde das Bücherlager des Verlags in Leipzig beschlagnahmt; erst nach Protesten wurde die Ausfuhr erlaubt. Im März 1938 flüchtete Reichner zunächst in die Schweiz, und ging – nachdem eine Weiterführung des Verlags unmöglich wurde, weil ihm Stefan Zweig seine gesamten Werkrechte entzog – noch im September desselben Jahres weiter in die USA. Dort errichtete er in Midtown Manhattan, N.Y. (zunächst 11 West 42nd Street, dann 34 East 62nd Street), unterstützt von Karl Kup (1903‒1981), Bibliothekar der Spencer Collection, N. Y. Public Library, ein Antiquariat, spezialisiert auf geisteswissenschaftliche Literatur, Werke des 16. Jahrhunderts und Bibliographien beinahe ausschließlich europäischer Provenienz. Leona Rostenberg, nachmalige Präsidentin der Antiquarian Booksellers Association of America, absolvierte bei Reichner seit 1939 eine Lehre, bevor sie sich 1944 in New York mit ihrem eigenen Geschäft etablierte. Reichners Händlerprofil zeigte sich bereits mit dem ersten Verkaufskatalog (1939), dem bis 1968 weitere 34 folgen sollten: illuminierte Handschriften, Inkunabeln, Pressendrucke. Als Antiquar baute Reichner die Burndy Library (Norwalk, Conn.) und die Everett Lee DeGolyer Library in Dallas, Texas, auf; er galt als exzellenter wissenschaftlicher Antiquar und war ein geschätzter Geschäftspartner für viele US-Colleges und Universitäten, u. a. die Harvard University Library und die Boston Public Library, aber auch für viele finanzstarke Privatkunden. Die von ihm publizierten, in der wissenschaftlichen Beschreibung höchst niveauvollen Kataloge sind heute selbst zu Sammelstücken geworden. 1956 übersiedelte Reichner nach Stockbridge, Mass. Nach seinem Tod führte seine Witwe Edith Reichner* (1909 Wien – 2001 USA)621 das Antiquariat bis 1986 weiter; sie verkaufte den Rare BookBestand en bloc an Lathrop C. Harper, damals unter der Geschäftsführung von Reichners langjährigem Freund Otto H. Ranschburg stehend. Reichners Handbibliothek, mit 23.000 Bänden nach H. P. Krausʼ Referenzbibliothek die zweitgrößte in privater Hand, wurde 1978 an die Graduate School of New York State University, Binghamton, verkauft. Ein bedeutender Antiquar war bereits vor seiner Emigration Otto Ranschburg* (1899 Wien – 1985 New York) gewesen; er wurde es noch einmal im US-amerikanischen Exil.622 1919/1920 hatte Ranschburg eine profunde Ausbildung im berühmten Antiqua619 Zu Reichner siehe Rosenthal-Fragebogen; StAL, BV, F 7513; Hall: Österreichische Verlagsgeschichte II, S. 295‒300 [auch online]; Hall: Jüdische Verleger und Buchhändler im Schicksalsjahr 1938 in Wien [online]; Hall: Stefan Zweig und der Herbert Reichner Verlag; Rostenberg / Stern: Zwei Freundinnen, eine Leidenschaft; Schroeder: »Arisierung« II, S. 380. 620 Genaueres zu Zweig / Reichner im Kap. 3 Autoren. 621 Edith Reichner, geb. Schlesinger, hatte in Wien, Oxford, Grenoble und Paris studiert. 1930 heiratete sie Herbert Reichner, emigrierte mit ihm in die USA und führte nach dem Tod ihres Mannes 1971 bis 1986 die Antiquariatsgeschäfte von Herbert Reichner Old Rare and Scholarly Books unter der Adresse Shaker Hill, Enfield, New Hampshire, weiter. 622 Siehe u. a. Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 170–172; Bernard M. Rosenthal: For Otto Ranschburg. In: AB, June 2–9/1969, S. 23 f.; Christian M. Nebehay: Otto
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riat Joseph Baer & Co in Frankfurt am Main erhalten, um danach in Wien als Mitgesellschafter in das von seinem 1914 verstorbenen Vater Heinrich Ranschburg mitbegründete Antiquariat Gilhofer & Ranschburg einzutreten, das in Wien das »erste Haus am Platz« war; mit den Geschäftsführern E. P. Goldschmidt* und Wilhelm (später William Henry) Schab* waren dort auch zwei der kenntnisreichsten Antiquare ihrer Zeit tätig. In der 1923 vom Mehrheitsgesellschafter Schab in Luzern / Schweiz gegründeten Zweigfirma war Ranschburg für die Kataloge verantwortlich und organisierte dort bedeutende Buchauktionen. Seit 1928 unternahmen Schab und Ranschburg mehrfach Reisen nach Russland und erwarben herausragendes Material aus den Bibliotheken der ehemaligen Zarendynastie. 1938 wurde Ranschburg im Zuge der »Arisierung« des Geschäftslebens gezwungen, aus der Firma auszuscheiden, und ging zunächst nach London, wo er sich im folgenden Jahr auch verheiratete. Das nun Gilhofer genannte Wiener Antiquariat eignete sich der Münchener Antiquar Hans Werner Taeuber, ein überzeugter Nationalsozialist, an.623 1939 emigrierte Ranschburg zusammen mit seiner Frau Maria und seiner Schwester Elisabeth624 in die USA und eröffnete auf 200 West 57th Street in New York ein Antiquariat. Schon seit Wiener Tagen spezialisiert auf Inkunabeln, illustrierte Bücher und Wissenschaftsgeschichte, inzwischen auch auf Frühe Americana, war er auf diesen Feldern am Aufbau und der Weiterentwicklung sowohl privater wie öffentlicher Sammlungen maßgeblich beteiligt. Zugute kamen ihm dabei die bereits in Wien aufgebauten Kundenbeziehungen, etwa zu dem Sammler Lessing J. Rosenwald und zu dem Antiquar Lathrop C. Harper. Ranschburg brachte elf Verkaufskataloge und zahlreiche Listen heraus; seine reichhaltige Handbibliothek betrachtete er nicht bloß als Arbeitsmittel, sondern auch als einen für ihn persönlich bedeutsamen Besitz. 1952 wurde Ranschburg als Minderheitsteilhaber – in Zusammenarbeit mit dem langjährigen Harper-Mitarbeiter Douglas G. Parsonage – Managing Director des weltbekannten amerikanischen Antiquariats Lathrop C. Harper, das nach dem Tod Harpers (1950) von dem aus Wien stammenden, nach Kolumbien emigrierten Americana-Sammler Bernardo Mendel gekauft worden war.625 Damit stand Ranschburg einem der größten und gemeinsam mit Abraham
Ranschburg. In: Anzeiger des Verbandes der Antiquare Österreichs, November 1985, S. 1; [Felix de Marez Oyens: Nachruf auf O. R.]. In: The Book Collector 35 (1986), S. 98 f.; Art. Gilhofer. In: Wikipedia, dt. Ausgabe; Gilhofer & Ranschburg in Luzern, Homepage [online]. 623 Vgl. Agnes Schildorfer, Ute Simonlehner: Arisierungen im Falle der Buch- und Kunstantiquariate Gilhofer & Ranschburg und Dr. Ignaz Schwarz, 2001/2002 [online]; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 151 u. ö.; Schroeder: »Arisierung« II, S. 368‒371. 624 Elisabeth Margulies, Tochter von Heinrich Ranschburg, war seit 1925 Mitgesellschafterin von Gilhofer & Ranschburg; ihr Bruder Otto hatte ihr und Wilhelm Schab 1936 auch noch seine Anteile übergeben. Sie emigrierte 1938 in die USA und führte in zweiter Ehe den Nachnamen Elton. Im Dezember 1946 stellte sie in Wien zusammen mit Schab einen Rückstellungsantrag; im April 1949 verfügte die zuständige Kommission die Rückstellung der 1938/1939 »arisierten« Firma an die beiden Antragsteller, die diese aber – nach Rückziehung aller Ansprüche – 1950 überraschend dem einstigen »Ariseur« Hans Werner Taeuber überließen. (Quellennachweise: siehe die vorangehende Fußnote). 625 Als Bernhard Mendel* (1895 Wien – 1967 New York) in den frühen 1950er Jahren in New York ankam, hatte er bereits viele Jahre im Ausland verbracht. Der ausgebildete Jurist (und ausgewiesene Büchersammler) war in den späten 1920er Jahren nach Kolumbien gegangen
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Rosenbach (Philadelphia) bedeutendsten Antiquariate in den USA vor. In dieser Position brachte er mehr als fünfzig Kataloge von hoher Qualität heraus; zu seinen wichtigsten Ankäufen gehörte Mitte der 1950er Jahren der Erwerb eines Teils der Bibliothek von Sir William Stirling-Maxwell mit einer großen Menge von Frühdrucken und einer Cervantes-Kollektion. 1967 erfuhr Ranschburgs Tätigkeit allerdings eine Unterbrechung: Als Bernardo Mendel starb und sich Verhandlungen um eine Übernahme der Firma zerschlugen, musste diese von der Witwe Mendels zunächst aufgegeben werden; ein großer Teil des Lagers ging an die Indiana University Foundation. Ranschburg konnte aber zwei Jahre später gemeinsam mit Parsonage (und mit Unterstützung zweier wichtiger Kunden, Franklin Kissner und Clark Stillman) die Namensrechte zurückkaufen und das Unternehmen Lathrop C. Harper, Inc. mit dem verbliebenen Teil des Lagers weiterführen. Wertvolle Bücherbestände konnte er akquirieren, als er nach dem Tod Herbert Reichners dessen Bücherlager erwarb. 1979 wurde die Firma von Felix de Marez Oyens übernommen; Ranschburg blieb bis zu seinem Ableben 1985 darin tätig. Geschäftssinn und fachliche Kenntnisse verbanden sich auch in der Person von William Henry (ursprgl. Wilhelm) Schab* (1887 Wien – 1975 Tuckahoe, N. Y.) zu eindrucksvollem Format. Schab war in Wien bei Gilhofer & Ranschburg zunächst als Angestellter tätig gewesen;626 nach dem Tod Heinrich Ranschburgs wurde er, gemeinsam mit E. P. Goldschmidt, Geschäftsführer des bedeutenden Antiquariats und eröffnete 1923 eine Filiale in Luzern. Gemeinsam mit dem Mitgesellschafter Otto Ranschburg* hat er an Großankäufen bzw. -verkäufen (wie etwa 1928/1931 bei Teilen der ehemals zaristischen Sammlung) mitgewirkt; spektakulär war auch 1930 die Beteiligung von Gilhofer & Ranschburg an dem (tatsächlich von dem »marchand-amateur« Dr. Otto Vollbehr durchgeführten) Verkauf der Gutenberg-Bibel des Benediktinerklosters St. Paul im Lavanttal an die Library of Congress in Washington. Nach der 1938 erzwungenen »Arisierung« des Antiquariats emigrierte Schab im September 1938 über die Schweiz und England nach New York, wo er ‒ so wie Otto Ranschburg – 1939 ankam und unter eigenem Namen wieder ein Antiquariat eröffnete, anfänglich auch mit H. P. Kraus zusammenarbeitete und gemeinsam mit diesem nach Ende des Kriegs mehrfach Einkaufsreisen nach Europa unternahm. 1956 konnte Schab die mehr als 15 Jahre stillgelegte Schweizer Firma wiederbeleben; in New York übersiedelte er 1959 an die Adresse 48 West 57th Street. Die schon während der Zwischenkriegszeit aufgebauten guten Kontakte zu Bibliotheken und Universitäten (so etwa Harvard mit den Kuratoren Philip Hofer und William Jackson) sowie Privatsammlern (darunter Lessing Rosenwald und Albert Lownes, in Europa Martin Bodmer) ermöglichten ihm seit 1940 die Herausgabe von mehr als 50 sorgfältig erarbeiteten Katalogen und alles in allem den Aufbau einer Firma,
und dort als Exportkaufmann tätig. Nach 1938 verhalf er vielen nach Kolumbien gelangten österreichischen jüdischen Emigranten zu Einreisevisa und Arbeitsgenehmigungen. Nach seiner Übersiedlung nach New York kaufte er 1952 Lathrop C. Harpers Antiquariat und setzte Otto Ranschburg als Leiter ein. Mendels bedeutende Americana-Sammlung wurde 1961 von der Lilly Library der Indiana University, Bloomington, erworben. 626 Siehe u. a. Rosenthal-Fragebogen; Jörg Schäfer: William H. Schab zum 80. Geburtstag. In: Bbl. (Ffm) Nr. 83 vom 17. Oktober 1967, S. 2400–2402; Frederick G. Schab: W. H. Schab. In: The Print Collector’s News Letter, Nov. 1975; Schroeder: »Arisierung« II, S. 368–371.
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die bald wieder Weltgeltung erlangte. Als repräsentativ dafür kann der 1971 erschienene Katalog 51 From Petrarch to Einstein gelten, der zahlreiche kostbare Unica und Raritäten enthielt. Schab vermittelte mehrfach Sammlungen der europäischen Aristokratie in die USA (z. B. Herzog Arenberg; Ausstellung zu diesem Verkauf: L. Rosenwalds »Livres anciens des Pays-Bas«, 1961 in Den Haag); in immer stärkerem Maße konzentrierte er sich aber auf den Handel mit Graphik und Zeichnungen. Wie zahlreiche andere emigrierte Kollegen unterhielt er Geschäftsbeziehungen nach beiden Richtungen über den Atlantik; Schab repräsentierte so den Typus des Antiquars, der seine überragenden Kenntnisse der europäischen Buchkultur und seine hohe Reputation für eine fortgesetzte Internationalisierung des Antiquariatsbuchhandels fruchtbar machte. Von 1972 an übernahm sein Sohn Frederick G. Schab* (1924 Luzern – 2020 Woodstock, NY) immer größere Teile der Geschäftsführung; er selbst nahm aber bis ins hohe Alter Anteil an der Katalogarbeit. Als Experte für Medizingeschichte positionierte sich Thomas Heller* (1902 Wien − 1984 New York) in seiner New Yorker Antiquariatsbuchhandlung. Der Sohn des bekannten Wiener Buchhändlers Hugo Heller hatte nach dessen plötzlichem Tod 1928 das Geschäft – ein kulturelles Zentrum Wiens ‒ aufgeben müssen, von seiner Wohnung aus aber weiterhin die Bibliothekskunden beliefert.627 Nach der Annexion Österreichs 1938 flüchtete Heller zunächst nach Paris, dann – da er kein Visum für die USA bekam – nach London, wo er als »enemy alien« interniert wurde. Clifford Maggs, der mit Hellers Vater gut bekannt gewesen war, gab ihm die Möglichkeit, für Maggs Brothers Bücherlisten zu erstellen; auf seinen Rat hin eignete sich Heller in der Bibliothek des British Museum profundes Wissen über medizingeschichtliche Literatur an. Im Frühjahr 1943 konnte er endlich nach New York auswandern und gründete dort mit Kommissionsware von Maggs ein Antiquariat, das auf medizinhistorische und wissenschaftliche Bücher des 16. bis 18. Jahrhunderts spezialisiert war. Von ihrem Appartment in Greenwich Village verschickten Thomas Heller und seine Frau Mia getippte, mit einer Vervielfältigungsmaschine abgezogene Bücherlisten (»yellow sheets«) an ihre Kunden (insgesamt sollten es fast 200 Kataloge und Listen werden); das Lager war klein und Heller setzte auf schnellen Warenumschlag. Nicht zuletzt aufgrund seiner ausgezeichneten Kenntnis der englischen Sprache fand er schnell Anschluss an die amerikanischen Kollegen. Zwischen 1950 und 1980 begab sich Heller jedes Jahr im Sommer auf Einkaufsreisen nach Europa; jeweils im Frühjahr besuchte er, von New York bis Kalifornien, die US-amerikanischen Universitätsbibliotheken und andere Kunden. Als Heller 1981 krankheitsbedingt in den Ruhestand ging, führte James A. Hinz (1938‒2001) die Antiquariatsgeschäfte der F. Thomas Heller Inc., seit 1983 in Swarthmore, Pennsylvania, weiter. Ein Seiteneinsteiger in den Antiquariatsberuf war William S. Heinman* (1901 Wien – 1986).628 Er hatte nach einem Studium der Ingenieurwissenschaften in Wien Kurse an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt belegt und sich Kenntnisse im Bereich der dekorativen Graphik verschafft. Danach war er für eine französische Edel-
627 Siehe u. a. Rosenthal-Fragebogen; Ingo Nebehay: Thomas Heller †. In: Anzeiger des Verbandes der Antiquare Österreichs, Nr. 21/22, Nov. 1984. 628 Materialsammlung Rosenthal, Briefantwort Heinmans an Bernard M. Rosenthal vom 10. November 1986.
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holzfirma tätig und publizierte einige »technical papers«, die ihm in der Vorkriegszeit zu geschäftlichen Reisen in die USA verhalfen. Im September 1939 emigrierte er in die USA, durfte aber dort nicht in seinem erlernten Beruf arbeiten. Wegen seiner guten Sprachkenntnisse verlegte er sich auf den Foreign Language-Importbuchhandel, den er in New York bis 1942 im kleineren Rahmen schon vor seinem Militärdienst in Südostasien betrieben hatte. Nach Kriegsende vergrößerte Heinman den Büchervertrieb laufend, mit einem Schwerpunkt auf Wörterbüchern und Nachschlagewerken. Heinman selbst beschrieb seine Ware als »rather exotic than rare or antique«. Bis zur Mitte der 1980er Jahre baute Heinman ein umfangreiches Lager und dazu eine gute Handbibliothek auf; den gestiegenen Arbeitsaufwand bewältigte er mit Hilfe von zwei Angestellten, einem Lagerarbeiter und einem externen Buchhalter. Seit 1972 unterstützte ihn in der Führung der Geschäfte seine niederländische Frau Hendrina Fontaine-Verwey, Schwester des Direktors der Amsterdamer Universitätsbibliothek, mit deren Kenntnissen der Handel mit holländischen Büchern ausgebaut wurde. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Unternehmen eine buchhändlerische Brückenfunktion zu den Niederlanden entwickelte. Intensive Handelsbeziehungen wurden auch mit Polen angesponnen. Heinman stand in freundschaftlicher Beziehung zu seinen Kollegen Frederick Bernett und George Efron und gehörte wie diese zu den ersten Mitgliedern der Antiquarian Booksellers Association. Nach mehr als vierzig Berufsjahren verkaufte er seine Firma 1986 an das traditionsreiche Leidener Verlagshaus E. J. Brill.
Vertreter der »Zweiten Generation« Als Vertreter einer nächsten Generation von Antiquaren, die erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in New York hervorgetreten bzw. überhaupt erst nach New York gekommen war, die aber aufgrund ihrer Biographie der Emigration zugerechnet werden kann, sind vor allem der aus Dresden stammende Oscar Schreyer, der Berliner Fred Schreiber und nicht zuletzt der bedeutende Antiquar Bernd H. Breslauer zu nennen. Oscar Schreyer* (1905 Dresden – 1995 New York) stieg erst in den 1970er Jahren in den Handel mit antiquarischen Büchern und Autographen ein. Er war, nach einem Jurastudium und Tätigkeiten u. a. in der Österreichischen Nationalbibliothek und als Journalist in Wien, 1929 nach Berlin gegangen, wo er als Jurist berufstätig wurde. Da ihm nach der NS-»Machtergreifung« diese Berufsausübung als Jude verboten wurde, kehrte er nach Österreich zurück und betrieb dort mit seiner Verlobten Greta Loebl Pläne für die Emigration in die USA. Im Saargebiet gelangten sie im September 1938 illegal über die französische Grenze nach Paris und warteten dort, bis sie im Februar 1939 die amerikanischen Visa erhielten. In New York versuchte Schreyer, als Journalist Geld zu verdienen, orientierte sich aber bald um und gründete (nach dem Vorbild seines Vaters) einen Postkartenverlag, der allerdings nach sechs Monaten wegen mangelnden Umsatzes geschlossen werden musste. Erst im fortgeschrittenen Alter widmete sich Schreyer dem Antiquariatsgeschäft: Mit beinahe siebzig Jahren fing er an, Portugiesisch zu lernen und spezialisierte sich als Antiquar auf portugiesische Bücher und Autographen, die er von seinem Apartment in der Upper East Side, 230 E 79th Street, aus vertrieb. Schreyers Namen tragen seine Schenkungen an das Center for Holocaust Studies (»The Oscar Schreyer File«) und an die New York Public Library; der Nachlass von
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Greta Loebl Schreyer (1917‒3. Oktober 2005) befindet sich ebenso wie die Niederschrift von Schreyers Lebensbericht im Center for Jewish History, New York.629 Fred Schreiber* (geb. 1935 in Berlin) verließ Deutschland bald nach der »Reichspogromnacht«, als Dreijähriger, und wuchs in Frankreich auf.630 Wie viele andere jüdische Kinder wurde auch er von seinen Eltern getrennt und musste sich an verschiedenen Orten unter einer falschen Identität versteckt halten; nach dem Krieg war er wieder mit seinen Eltern vereint. Mit vierzehn Jahren verließ Schreiber die Schule und machte in Paris eine dreijährige Schneiderlehre. 1953 ging er in die USA, verdiente sich in den folgenden sieben Jahren seinen Lebensunterhalt in der Versandabteilung einer Uhrenimportfirma in New York, besuchte in den Abendstunden eine High School und studierte danach an der Harvard University Klassische Philologie. Im Laufe seines Studiums vertiefte er seine Kenntnisse alter Handschriften und Drucke u. a. auch mit dem Studium von Antiquariatskatalogen von William und Marianne Salloch, Otto Ranschburg oder Bernard M. Rosenthal und besuchte häufig Antiquariate, u. a. das Geschäft von Walter Schatzki. Eine Hochschullaufbahn tauschte er nach acht Jahren, unterstützt von seiner Frau Ellen, die in der Katalogabteilung der Widener Library, Harvard, tätig war, für eine Tätigkeit als Antiquar. Zusammen gründete das Ehepaar 1971 in New York E. K. Schreiber Rare Books; seine erste Verkaufsliste mit Titeln aus dem Gebiet der klassischen Philologie brachte Schreiber in Kontakt zu Emil Offenbacher. Inzwischen amerikanischer Staatsbürger, spezialisierte sich Schreiber auf »pre-1700 Continental Books«, zunächst insbesondere auf das Sammeln von Werken der Genfer Druckerdynastie Estienne aus dem 15./16. Jahrhundert: sein 1982 erschienener Katalog mit 300 Objekten wurde en bloc von der University of North Carolina, Chapel Hill, erworben. Schreibers erudiert kommentierter Katalog zu den Drucken Simon de Colines (S. d. C. An annotated catalogue of 230 Examples of His Press 1520‒1546, 1995; die Sammlung wurde von der Brigham Young University erworben) wurde für die Forschung und als Referenzwerk ebenso unverzichtbar wie jener zu der von ihm zusammengetragenen und 1995 an die Beinecke Library, Yale, verkauften »Sebastian Gryphius Collection«. Das Antiquariat E. K. Schreiber bot 2019 unter der Geschäftsadresse 285 Central Park West, New York, seine Dienste an mit den Schwerpunkten »Early Printed Continental Books, Renaissance Humanism, Early and Important Editions of the Greek & Latin Classics, Early Illustrated Books, Emblem Books, Early Bibles (in Greek & Latin)«.631 Eine späte, illustre Verstärkung erfuhr der Antiquariatsbuchhandel in New York durch dem Umzug Bernd H. Breslauers* 1977 von London nach New York.632 Breslauer bezog eine Wohnung in 998 Fifth Avenue schräg gegenüber dem Metropolitan Museum und führte von hier aus seine auf höchstem Niveau angesiedelte Tätigkeit fort. Seine
629 Oscar Schreyer: From Vienna to New York. A Memoir 1905‒1993. Aufgezeichnet von Brigitta Boveland [online]. 630 Siehe Mailkorrespondenz des Verf. mit Fred Schreiber im September 2010; ferner die autobiographischen Auskünfte in: Fred Schreiber: New Beginnings: How and Why I Became an Antiquarian Bookseller. In: ABAA Newsletter, 8 (1996), Nr. 1, S. 1, 14‒18; ders.: My Life With Books: How One Thing Leads to Another [online]. 631 Firmenhomepage E. K. Schreiber (http://www.ekslibris.com). 632 Zur Biographie des gebürtigen Berliners und zu seiner Tätigkeit im Londoner Exil siehe in diesem Kapitel weiter oben, Abschnitt Großbritannien.
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Kataloge, deren Nummern 56 bis 111 er über weite Strecken alleine bearbeitete, sind wegen der vorzüglichen Beschreibungen berühmt geworden. Eberhard (Hardy) Grieb, den er 1977 als Partner in seine Firma aufgenommen hatte, starb 1990. Breslauer war selbst ein Privatsammler von Rang; seine als »Bibliotheca Bibliographica Breslaueriana« bezeichnete Kollektion von Bibliographien und Katalogen ließ er mit exquisiten Einbänden versehen. Auf dem Gebiet der Einbandkunde hatte er immer schon außerordentliche Fachkenntnisse, ein Teil seiner Bestände bezog sich denn auch auf die Buchbindekunst. Darüber hinaus besaß er eine Sammlung von hochqualitativen illuminierten Blättern und Zeichnungen des 11.‒17. Jahrhunderts. Auswahlen aus seinen Sammlungen wurden 1986 in Brüssel in der Bibliotheca Wittockiana, 1991 in der Houghton Library in Cambridge, Mass. und 1993 in der Pierpont Morgan Library gezeigt.633 Breslauer wurden zahlreiche Ehrungen zuteil, u. a. war er Honorary Fellow der Pierpont Morgan Library in New York, 1997 erhielt er – der eine ganze Reihe gelehrter Aufsätze zu bibliographisch-buchgeschichtlichen Themen verfasste634 – die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin. Das Familien- und Firmenarchiv hat Breslauer der Staatsbibliothek zu Berlin vermacht.635 2005 wurde seine rund 2.000 Stücke umfassende Sammlung von seltenen Bibliographien für 5,5 Mio. $ zugunsten verschiedener Stiftungen versteigert (drei Kataloge bei Christieʼs). Neben großzügigen Vermächtnissen an die University of California at Los Angeles (für eine Professur in »Bibliography«) und an die Houghton Library at Harvard (für Bücherankäufe) hat Breslauer dem American Trust for the British Library testamentarisch eine bedeutende Summe zugedacht, die dem Erwerb wertvoller Bücher dienen soll. In Anerkennung dieser Tat richtete der Trust eine jährliche »Breslauer Lecture« ein. Eine noch von Breslauer selbst eingerichtete »B. H. Breslauer Foundation« verwaltet das weitere Erbe zugunsten von Forschern, Bibliotheken und anderen Einrichtungen, die sich der Pflege des Buchkulturerbes widmen.636
633 Vgl. William M. Voelkle u. a.: The Bernard H. Breslauer collection of manuscript illuminations. New York: Pierpont Morgan Library 1992 (Kat.). 634 Eine Auswahl: [gem. mit Roland Folter]: Bibliography. Its history and development. Catalogue of an exhibition held at the Grolier Club. New York 1984; Historic and artistic bookbindings from the Bibliotheca Bibliographica Breslaueriana. Brüssel 1986; The uses of bookbinding literature. New York: Book Arts Press 1986; Fürstenberg oder … über bibliophile Unsterblichkeit. Köln: Ges. d. Bibliophilen 1984; Martin Bodmer remembered. In: The Book Collector 37 (1988), Nr. 1, S. 29‒53; Glanz und Elend der Antiquare. In: Imprimatur, N. F. Bd. IX, S. 163‒165 [auch online]. 635 Vgl. Der Nachlaß und das Archiv Martin und Bernd H. Breslauer. In: Mitteilungen der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, N. F. 6, 1997, Nr. 2, S. 203‒210; Peter Jörg Becker: Das Archiv Martin und Bernd H. Breslauer in der Staatsbibliothek zu Berlin. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 1997 (1998), S. 383‒393; Regina Mahlke: Die Staatsbibliothek und das Antiquariat Breslauer. Eine hundertjährige Beziehung. In: Mitteilungen Staatsbibliothek zu Berlin. N. F. 7 (1998) 1, S. 102‒111; Herr der Bücher: Der Antiquar Bernd Breslauer vermacht sein persönliches Archiv der Berliner Staatsbibliothek. In: FocusMagazin 1998/20, S. 110‒114. 636 Vgl. Felix de Marez Oyens: B. H. Breslauer Foundation Inc. The first three years of activity. In: Bulletin du Bibliophile 2008, Nr. 2.
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Florida In Wien war Hans Sachsel, später Sacksell* (1893 Wien – 1950 Salzburg) seit 1917 Inhaber der Buchhandlungen F. Lang und J. Deibler, vor allem aber Alleininhaber der Universitätsbuchhandlung (nicht des gleichnamigen Verlags!) Wilhelm Braumüller & Sohn in prominenter Innenstadtlage, die »so etwas wie ein Mittelpunkt im Wiener Kulturleben« gewesen ist.637Allerdings musste er aufgrund wirtschaftlicher Probleme 1931 die Buchhandlung F. Lang verkaufen; sie wurde übernommen von Josef Berger und Heinrich Fischer (Harry Fischer*), die sie als Fa. Berger und Fischer weiterführten. Im Jahr darauf musste Sachsel auch mit der Buchhandlung Braumüller Insolvenz anmelden.638 An einer als Auffanggesellschaft neu gegründeten GmbH beteiligten sich die bekannten Schriftsteller Guido Zernatto und Friedrich Schreyvogl, zwei literarische Repräsentanten des österreichischen »Ständestaats«; Sachsel selbst behielt einen Anteil und konnte die Firma zunächst weiterführen. Nach dem »Anschluss« 1938 wurde die Buchhandlung von einem Zwangsverwalter übernommen; Sachsel flüchtete in die USA, wo er sich John (Henry) Sacksell nannte. Er ließ sich in Jacksonville, Florida nieder und suchte dort 1943 um Naturalisation an. In den USA dürfte Sacksell antiquarischen Buchhandel ohne eigentliche Firmengründung betrieben haben, denn Otto Ranschburg hat von seinem ehemaligen Wiener Kollegen gesprochen als von einem »brilliant Viennese-Jewish private dealer […] who was active here for several years after the war«.639
Amerikanische Westküste Bernard M. Rosenthal Inc. Mit Antiquariatsgründungen in New York, später San Francisco und danach in Berkeley hat Bernard M. Rosenthal* (5. Mai 1920 München – 14. Januar 2017) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle gespielt, innerhalb der fachspezifischen Immigranten-Community ebenso wie im amerikanischen Antiquariatsbuchhandel.640 Als Sohn von Erwin Rosenthal und Enkel von Jacques Rosenthal der berühmten Münchner
637 Aufbau, 12. Februar 1943. 638 Vgl. Fritz: Buchstadt und Buchkrise, S. 376 [online]; Hupfer: Zur Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 108 f., 155. Seit 2018 gibt es auch einen Wikipedia-Eintrag zu Sachsel, vorerst allerdings ohne Hinweis auf seine Emigration in die USA und seine dortige Tätigkeit. 639 So im Rosenthal-Fragebogen zu Otto Ranschburg, ausgefüllt von Felix de Marez Oyens. 640 Vgl. Korrespondenz des Verfassers mit B. M. Rosenthal 1993/1994; Interview Ulrich Bach mit B. M. Rosenthal, 6. Januar 1995 in Berkeley; Bernard Rosenthal: The Rosenthal and Olschki Families [Typoskript]. Ferner: Interview von Daniel J. Slive mit B. M. R. (RBM: A Journal of Rare Books, Manuscripts, and Cultural Heritage) www.lita.org/ala/mgrps/divs/ acrl/publications/rbm/4-1/slive.pdf; Die Rosenthals, bes. S. 219, 225 f. Archivalische Quellen: Bernard M. Rosenthal, Inc. Records, 1916‒2001 [Geschäftspapiere und -korrespondenz, privater Briefwechsel, Publikationen, Lehrmaterial] Collection Number BANC MSS 99/317 (Online Archive of California, University of California at Berkeley) www.oac.cdlib.org/ findaid/ark:/13030/kt609nd4m4/
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Antiquarsdynastie entstammend, war der 13-Jährige zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder Felix unmittelbar nach der Bestellung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 nach Italien geflüchtet; der Vater (siehe unten) ging in die Schweiz, wo seit 1920 der Zweigbetrieb L’Art Ancien bestand. Über Frankreich gelangten Mutter und Sohn im Juli 1939 auf italienischer Einreisequota nach Kalifornien, wo Rosenthal in Berkeley Chemie studierte. 1943 bis Januar 1946 leistete er als amerikanischer GI Kriegsdienst in Europa, nach Ende des Krieges war er im Auftrag des US-Wirtschaftsministeriums in Deutschland zunächst als Chemiespezialist eingesetzt, von 1947 bis 1949 als Französisch-Dolmetscher beim Alliierten Kontrollrat in Berlin, danach bei einer Restitutionsbehörde in Stuttgart. Gemeinsam mit seinem Bruder Albi traf er mit Hans Koch (der ehemalige Senior-Angestellte war seit 1936 Treuhänder der Firma Jacques Rosenthal) eine einvernehmliche Regelung: Der Übergang des kompletten Lagers in den Besitz des »arischen« Eigentümers wurde rückgängig gemacht und das noch vorhandene Lager neu aufgeteilt. Nach seiner Rückkehr in die USA entschied sich Rosenthal, Antiquar zu werden. Zu diesem Zweck absolvierte er eine Buchhändlerlehre bei der von Alfred Frauendorfer geführten väterlichen Firma L’Art Ancien in Zürich, wo er gleichzeitig auch Vorlesungen in Theologie und mittelalterlicher Geschichte an der Universität hörte. Von 1951 bis 1970 in New York lebend, wo Rosenthal zuerst als »cataloger« des Auktionshauses Parke-Bernet Galleries tätig war, machte er sich 1953 mit der Firma Bernard M. Rosenthal Inc. selbständig und führte dieses Antiquariat in Manhattan (19 East 71st Street, später 120 East 85th Street). In diesem Zeitraum erschienen 21 z. T. reich illustrierte und kommentierte Kataloge; auch konnten – im Zusammenwirken mit LʼArt Ancien – einige große Sammlungen verkauft werden. In dieser ersten Phase hat außerdem der Handel mit Faksimileeditionen eine beträchtliche Rolle gespielt. 1970 verlagerte Rosenthal seine Firma, die sich rasch Ansehen erworben hatte und die mehr und mehr auf mittelalterliche Handschriften und Frühdrucke sowie auf Wissenschaftsgeschichte, Bibliographie und Paläographie spezialisiert war, nach San Francisco (251 Post Street, San Francisco) und 1989 nach Berkeley (5655 College Avenue, Oakland). In San Francisco erschienen die Kataloge 22‒29, nebst einer Anzahl von Listen (Nr. 26‒50) und Special Offers und Bulletins. In Berkeley unterhielt Rosenthal nur noch ein kleines Lager; seine üppig »getrüffelte« Handbibliothek (verkauft 2000 und 2008) hatte einen zehnfach größeren Umfang. Rosenthal trat auch als Verfasser buchgeschichtlicher Schriften hervor, über die seine Autobiography and Autobibliography von 2010 Auskunft gibt.641 Sein persönliches
641 Autobiography and Autobibliography. Published by Ian Jackson. Berkeley, CA 2010 [enthält neben den Publikationen auch eine Aufstellung aller Kataloge und Listen]. Von seinen Artikeln und Berichten ist eine Anzahl auch in Aus dem Antiquariat erschienen. Vgl. ferner: B. M. R.: Mittelalterliche Handschriften, Inkunabeln und Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts im heutigen Antiquariat. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte Jg. IV, Heft 1, Juli 1979, S. 2‒11; ders.: »What I changed my mind about«. Lecture at Columbia University, New York 1982; Catalogs, Lists, Bulletins and Special Offers, published from 1953 to 1988 by Bernard M. Rosenthal, Inc. [Typoskript o. O. u. J.]; ders.: Cataloguing Manuscript Annotations in Printed Books: Some Thoughts and Suggestions from the Other Side of the Academic Fence. In: La Bibliofilia, Fascicolo special del Centenario 100, nos 2‒3 (1998), S. 583‒595.
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Abb. 26: »My first shop«: Bernard M. Rosenthal auf der Bücherleiter in seinem Antiquariat in New York City, 1957.
Interesse galt besonders dem handschriftlich annotierten Buch; seine seit 1960 aufgebaute, umfangreiche Sammlung von überwiegend aus der Zeit vor 1600 stammenden, rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Lektürezeugnissen wurde 1995 von der Beinecke Library in Yale erworben und 1997 mit einem – von Rosenthal erstellten – 400 Seiten starken Katalog642 in einer Ausstellung (»Renaissance Readers. The Bernard M. Rosenthal Collection of Printed Books with Manuscript Annotations«) gezeigt. Damit hat Rosenthal recht eigentlich erst ein Sammelgebiet und einen Markt für diese bis dahin minder hoch geschätzten Bücher geschaffen. Ebenso eng war Rosenthal der Bancroft Library, Berkeley, verbunden, deren Direktor, Charles Faulhaber, zur Rosenthal-Dynastie notier-
642 Bernard M. Rosenthal: The Rosenthal Collection of Printed Books with Manuscript Annotations. A catalog of 242 editions mostly before 1600, annotated by contemporary or nearcontemporary readers. New Haven: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University Press 1997.
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te: »In the aristocracy of bibliophiles, Barney’s family is royalty«.643 Wie rasch sich »Barney« die Anerkennung und Sympathie der US-amerikanischen Kollegenschaft erworben hat, belegt die Tatsache, dass er bereits 1966‒1968 als Vizepräsident und 1968‒ 1970 als Präsident der Antiquarian Booksellers Association of America (ABAA) fungierte. Aber auch bei den Bibliothekaren, denen er beim Aufbau von Sammlungen behilflich war, und bei den Buchliebhabern stand er, stets auskunftsbereit, als umfassend gebildeter, polyglotter und besonders im Lateinischen versierter Experte für das alte Buch in höchstem Ansehen. Wie eingangs dieses USA-Abschnittes beschrieben, nützte Rosenthal Mitte der 1980er Jahre seine Beziehungen für eine Umfrage unter den vor dem Nationalsozialismus in die Vereinigten Staaten geflohenen Antiquaren und präsentierte deren Ergebnisse in seiner am 15. Dezember 1986 gehaltenen Sol M. Malkin Lecture an der Columbia University in New York. Es hat etwas durchaus Ungewöhnliches, im Grunde Singuläres, dass aus dem Kreis der Emigration so zielbewusste Schritte zu deren Erforschung unternommen worden sind. Bernard M. Rosenthal hat, kraft seiner Persönlichkeit, der Welt des Buches weit über die USA hinaus unschätzbare Impulse gegeben. »The most respected man in the booktrade«, »a giant in the field«, »a scholar and a gentleman« – das waren nur einige der Attribute, mit denen der im 97. Lebensjahr verstorbene letzte große Vertreter einer Antiquarsdynastie, die den Antiquariatsbuchhandel im Weltmaßstab mitgeprägt hat, in den Nachrufen in den USA bedacht wurde.644 Bernard Rosenthals Vater, Erwin Rosenthal* (1889 München – 1981 Lugano), war in all diesen Jahrzehnten seinen eigenen Weg gegangen. Nach vorsorglicher Transferierung der wertvollsten Bücher, Berufsverbot 1935 und Verkauf des Münchener Geschäftes an seinen langjährigen vertrauten Mitarbeiter Hans Koch645 war er über Italien und die Schweiz 1941 mit einem Spezialvisum des Präsidenten Roosevelt in die USA emigriert.646 Zuvor hatte der studierte Kunsthistoriker im Geschäft seines Vaters Jacques Rosenthal in München gearbeitet und 1912 die Tochter des berühmten, in Italien tätigen
643 Arlene Nielsen: Bernard Rosenthal, the Antiquarian, Scholar, and Friend of the Bancroft Library. In: Bancroftiana, No. 118, Spring 2001. 644 Vgl. etwa den Nachruf von John Schulman auf der Homepage der ABAA (https://www. abaa.org/blog/post/in-memoriam-bernard-rosenthal-1920-2017). Vgl. ferner https://www. legacy.com/obituaries/sfgate/obituary.aspx?pid=183673586 645 Dazu: Ein Gespräch mit dem Antiquar Hans Koch. In: Bbl. (Ffm) Nr. 24 vom 25. März 1977, S. A122‒A127; Jens Koch: Hans Koch zum hundertsten Geburtstag. In: Börsenblatt 103/104 vom 30. Dezember 1997, S. A674‒A677. 646 Vgl. u. a.: Zum achtzigsten Geburtstage Dr. Erwin Rosenthals am 9. April 1969. In: Bbl. (Ffm) Nr. 29 vom 11. April 1969 (AdA 1969/4), S. 861‒863; Adolf Seebaß: Verzeichnis der wichtigsten Schriften Erwin Rosenthals. In: Bbl. (Ffm) Nr. 39 vom 16. Mai 1969 (AdA 1969/5), S. 1070; Wittmann: Hundert Jahre Buchkultur in München, S. 168 f.
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Antiquars Leo S. Olschki geheiratet.647 1920 hatte er eine Filiale des väterlichen Geschäfts in Lugano (L’Art Ancien, 1929 nach Zürich übersiedelt) gegründet und, neben wissenschaftlich erstellten Katalogen und kunsthistorischen Studien,648 zwischen 1913 und 1930 das Hausjournal Beiträge zur Forschung veröffentlicht. Die Geschäftsführung bei L’Art Ancien, das auch dank des umfangreichen Lagers zu diesem Zeitpunkt in hohem Ansehen stand, hatte Rosenthal, der in der Schweiz keine Arbeitsgenehmigung erhielt, 1936/1937 Alfred Frauendorfer übertragen.649 Rosenthal ließ sich zunächst in Berkeley nieder, wo seine zwei jüngsten Söhne das College besuchten, und übersiedelte 1942 nach New York. Dort richtete er an der Adresse 655 Fifth Avenue ein exklusives Antiquariat ein, dessen Leitung Emil Offenbacher übertragen wurde. Höhepunkt dieser vier Jahre währenden Geschäftstätigkeit war der aufwändig und unkonventionell gestaltete Katalog Thirty Fine Books, der sogar im »Literary Review« der New York Times besprochen wurde. 1946 zog Rosenthal zurück nach Berkeley (19 Hillside Court) und gründete unter eigenem Namen eine neue Firma, die er von seinem Haus betrieb; er hielt an der Universität Berkeley mehrere Gastvorträge über Dante, Giotto und Picasso und unternahm regelmäßig geschäftliche Reisen nach Europa, um sich seiner Schweizer Firma L’Art Ancien zu widmen. Im Jahre 1948 organisierte er eine aufsehenerregende Autographenauktion in Zürich mit Manuskripten von Arnold Schönberg, Gustav Mahler, Thomas Mann und Igor Stravinsky, erstellte jedoch keine Kataloge mehr, sondern unterhielt stattdessen Kontakte zu den maßgebenden amerikanischen Sammlern wie Lessing J. Rosenwald und Bibliothekaren wie Philip Hofer von Harvard. Aus wirtschaftlichen Erwägungen ging er 1958 zurück nach Lugano, wo er sich bis zu seinem Tod zusehends seinen kunstgeschichtlichen Forschungen und Publikationen widmete. L’Art Ancien wurde bis zur Schließung 1983 von seinem Sohn Felix Rosenthal* weitergeführt; im März 1984 wurde die umfangreiche Handbibliothek von L’Art Ancien in München versteigert.650 Im selben Zeitraum wie Erwin Rosenthal betrieb in Berkeley auch George K. Oppenheim* ein Antiquariat, wenngleich längst nicht so erfolgreich.651 Dennoch, der Kontrast zu seiner Tätigkeit in der einstigen Heimat war deutlich, denn am Beginn der 1930er Jahre hatte Oppenheim in Berlin im Westend zwischen Schlüter Straße und Kurfürstendamm nur einen Bücherwagen betrieben. In seinem Brief an Bernard M. Rosenthal
647 Vgl. Bernard M. Rosenthal: »Cartel, Clan, or Dynasty?«, S. 381‒398; ferner: Die Rosenthals, bes. ab S. 165 und 179, 223 f. Dazu siehe Björn Biester: Der Aufstieg der Münchner Antiquarsfamilie Rosenthal zu Weltruhm. In: AdA 2003/1, S. 37‒42 [Sammelrezension]. 648 Darunter: Giotto in der mittelalterlichen Geistesentwicklung. Augsburg 1924; The changing concept of reality in art. New York 1962 (dazu: E. Rosenthal: The changing concept of reality in art [Rez.]. In: Bbl. (Ffm) Nr. 9 vom 29. Januar 1963, S. 240); The illuminations of the Vergilius Romanus, Zürich 1972; Contemporary Art in the Light of History. New York 1971. 649 Vgl. Adolf Seebaß: Alfred Frauendorfers Jubiläum. In: Bbl. (Ffm) Nr. 33 vom 27. April 1954, S. 242. 650 Vgl. Versteigerungskatalog der Handbibliothek von L’Art Ancien am 27./28. März 1984 bei Zisska & Kistner in München, Vorwort. 651 Dazu: Gespräch Ulrich Bach mit Ian Jackson Januar 1995 in Berkeley; Rosenthal-Fragebogen.
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äußerte sich Oppenheim über dieses Geschäft: »No rarities but I made a modest living during the depression«. Wichtigere Objekte hatte er damals an die Verlagsbuchhandlung Wasmuth abgegeben, die Jahrzehnte später, in den 1980er Jahren, erneut Bücher aus Oppenheims Katalogen bestellte. Oppenheim war 1933 nach Paris geflüchtet, wo ihm mangels Sprachkenntnissen eine Fortsetzung seiner Berufstätigkeit verwehrt blieb. Nach seiner Immigration in die USA 1941 eröffnete er zuerst ein Antiquariat am Rittenhouse Square in Philadelphia, musste es aber aufgrund ungenügender Marktkenntnis bereits nach einem Jahr wieder aufgeben. Nach einigen Jahren Armeedienst wurde Oppenheim erneut als Antiquariatsbuchhändler tätig, er firmierte als George K. Oppenheim Rare and Foreign Language Books in Berkeley, 51 Vallejo Street. Im Feld der Kunst- und Musikliteratur setzte ab 1947 der Wiener Antiquar und Kunsthistoriker Kurt L. Schwarz* (1909 Wien – 1983 Los Angeles) seine Schwerpunkte.652 Der Sohn des bekannten Wiener Antiquars Ignaz Schwarz (gest. 1925) musste Wien 1938 nach dem »Anschluss« verlassen, da ihm und seiner Mutter die Weiterführung der Geschäftstätigkeit im eigenen Buch- und Kunstantiquariat mit angeschlossenem Auktionshaus unmöglich geworden war;653 seine Mutter fiel 1942 dem Holocaust zum Opfer. Schwarz betätigte sich zunächst als Bücherscout und Versandantiquar in Paris und London; 1940 ging er, da sein Visum für die USA nicht rechtzeitig eingetroffen war, nach Shanghai und nahm dort eine Stelle als Bibliothekar in der Royal Asiatic Library an. Nach der Besetzung Shanghais durch Japan 1942 und Schließung der Bibliothek ging er verschiedenen Tätigkeiten nach; zusätzlich betrieb er mit Heinz-Egon Heinemann* den Western Arts Gallery Bookshop, der die europäischen Emigranten mit Büchern versorgte und zu diesem Zweck drei Kataloge herausbrachte. Im August 1947 übersiedelte Schwarz nach Kalifornien und etablierte sich in Los Angeles erneut als Antiquar. Eine Zeit lang teilte er – bei getrennter Buchführung – die Geschäftsräume mit Ernest E. Gottlieb* (siehe unten); 1957 zog er nach Westwood, von wo aus er seither – stets ohne Ladengeschäft – arbeitete. Schwarz brachte zwischen 1948 und 1983 insgesamt 144 Kataloge heraus, mit einer breit gestreuten Themenpalette,
652 Siehe u. a.: Interview von Ulrich Bach mit Martha Schwarz am 10. Januar 1995 in Los Angeles; Rosenthal-Fragebogen; Dickinson: Dictionary, S. 200; [Vorwort]. In: Katalog 100 Antiquariat Kurt L. Schwarz (1966); Robin Myers: Kurt Schwarz ‒ A Tribute. In: The Professional Rare Bookseller, 1983, Nr. 6, S. 51‒53; Winifred A. Myers: Obituary Kurt Schwarz. In: ABA Newsletter Nr. 116, Sept. 1983; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, 242 f. 653 Im August 1938 wurde Karl Münch zum kommissarischen Verwalter der Fa. Ignaz Schwarz mit alleiniger Vertretungs- und Zeichnungsbefugnis bestellt, bereits im Dezember jedoch wieder seiner Stellung enthoben und durch Hanns Paulusch (1901–1989) ersetzt, der bereits 1918/1919 bei Ignaz Schwarz als Buchhandlungsgehilfe, danach als Angestellter im Auktionsbereich (bes. Versteigerung der Viennensia-Sammlung von Georg Eckl 1926/1927) und 1925‒1928 als Geschäftsführer tätig gewesen war. Paulusch verband sich Ende 1940 mit Hans v. Bourcy, der die Firma Georg v. Lichtenberg in der Jordangasse übernommen hatte, und gründete mit ihm durch Zusammenlegung beider Geschäfte in der Wipplingerstr. 5 die Firma Bourcy & Paulusch. Das Antiquariat Ignaz Schwarz wurde im Jänner 1944 aus dem Handelsregister gelöscht. Nach dem Krieg, 1951, war die »Arisierung« des Antiquariats Ignaz Schwarz Gegenstand einer für Schwarz erfolgreichen gerichtlichen Klage.
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die von Frühdrucken und Illustrierten Büchern über Orientalia bis hin zu Werken der Kunstgeschichte reichte. Der Kundenkreis rekrutierte sich fast zur Gänze aus institutionellen Abnehmern. Das Antiquariat importierte auch ausgesuchte Kunstbücher aus Europa und belieferte Universitäten, Colleges und größere öffentliche Bibliotheken mit einem Bookmobile (gefahren von dem holländischen Emigranten Rudolph Stueck). Geschäftliche Höhepunkte bildeten der Aufbau einer großen Spinoza-Bibliothek aus holländischen Beständen für die UCLA im Jahre 1950 und die Zusammenstellung der Koch Library für Deutsche Literatur an der Universität in Edwardsville / Illinois (1962). Schwarz zählte zu den ersten Mitgliedern der ABAA und war Mitbegründer von deren kalifornischer Sektion, der er zweimal als Präsident vorstand. Seine seit 1962 im Antiquariat für die Ausführung der standing-orders zuständige Ehefrau Martha und Sohn Thomas F. Schwarz führten das Geschäft nach Schwarzʼ Tod weiter. Später eröffnete Thomas F. Schwarz ein Spezialantiquariat für Fine Prints und Kunstgeschichte (Schwerpunkte Russische Avantgarde, Architektur, Design) in Mill Valley / Kalifornien. Walter E. Neuman* handelte, spezialisiert auf »old maps and prints«,654 zunächst von seiner Wohnadresse in 132, Le Doux in Beverly Hills; später übersiedelte er in ein kleines Ladengeschäft in Los Angeles, Melrose bei Robertson. Gemeinsam mit Ernest Gottlieb, Harry Levinson und Max Hunley zählte er zu den Mitbegründern der kalifornischen Antiquarian Booksellers Association.
Musikantiquariat Wie im gesamten englischsprachigen Raum gab es auch in den USA viele – auch viele finanziell potente – Musikliebhaber, die als Sammler von Musikautographen und Musikalia aller Art von einschlägigen Antiquaren versorgt werden wollten. Soweit es die deutschen und österreichischen Antiquarsimmigranten betraf, waren sie interessanterweise alle an der Westküste angesiedelt (die Sammlerschaft der Ostküste wurde offenbar von Großbritannien aus beliefert). Unter ihnen befanden sich Quereinsteiger mit bewegten Biographien; sie alle wussten sich aber hohe Professionalität anzueignen und zeichneten sich oft durch eine innovative Art der Geschäftsführung aus. Ern(e)st Gottlieb* (1903 München – 1961 Los Angeles), der bei dem bekannten Münchener Antiquar Emil Hirsch in die Lehre gegangen war, in Politikwissenschaft promoviert und kunst- und musikwissenschaftliche Studien in München und Italien betrieben hatte und außerdem das Buchbinderhandwerk und Architekturfotografie gelernt hatte, war 1938 in die USA immigriert. Er arbeitete zehn Jahre lang in Los Angeles als Porträtfotograf, u. a. in Emigrantenkreisen (Fotos von Thomas Mann, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Bruno Walter etc.), wurde 1944 naturalisiert und nannte sich fortan Ernest E. Gottlieb. Mit dem Copyrightspezialisten und Literaturagenten Felix Guggenheim* hatte er zwei Jahre zuvor die Pazifische Presse gegründet, eine bibliophile
654 Quellen: Louis Epstein: The way it was. Oral history transcript: Fifty years in the Southern California book trade (1977). Internet Archive [online]; Jake Zeitlin: Books and the imagination. Oral history transcript: Fifty years of rare books (1980). Internet Archive [online]; Philadelphia Museum of Art – Arensberg Archives – Correspondence – General Correspondence: Neuman, Walter E. [online].
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Unternehmung, die mehr ideelle als kommerzielle Ziele verfolgte.655 Im April 1947 eröffnete Gottlieb, mit finanzieller Unterstützung durch seine Frau und zusammen mit seinem fachlichen Mentor Kurt L. Schwarz* eine Antiquariatsbuchhandlung. Gottlieb spezialisierte sich auf Anraten Schwarzʼ auf Musikliteratur und teilte sich, bei getrennter Buchführung, die Räumlichkeiten mit dem aus Wien stammenden Kollegen. Einige Jahre später wurde diese Bürogemeinschaft aufgehoben, Gottlieb agierte von einer eigenen Adresse 450, Beverly Drive, ebenfalls in Beverly Hills (1960 nach Palm Springs verlegt) und brachte bis 1961 dort 35 Verkaufskataloge und 20 Listen heraus, mit Schwerpunkten auf Musiktheorie, Musikgeschichte, einzelnen Komponisten und Instrumentengattungen, wobei er neben antiquarischer auch neue Literatur lieferte. Zu seinen Kunden gehörten u. a. Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Ernst Krenek, Bruno Walter oder Alfred Einstein, aber auch zahlreiche amerikanische Bibliotheken und Privatsammler. Gottlieb, Mitglied verschiedener musikologischer Gesellschaften, fungierte als Auslieferer für mehrere deutsche Musikverlage, auch publizierte er eine Reihe »Facsimile Editions on Rare Books of Music« und war Co-publisher der im Kasseler Bärenreiter Verlag erschienenen Serie »Documenta Musicologica«. Nach seinem unerwartet frühen Tod 1961 führte sein Freund, der Emigrant Theodore Front, das Ernest E. Gottlieb Musical Literature Antiquariat unter dem Namen Theodore Front, Successor to Ernest E. Gottlieb Musical Literature weiter.656 Damit war Theodore Front* (1909 Darmstadt – 2004) ein extrem später Neueinsteiger in den Antiquarsberuf, und dennoch erwarb er sich, nicht zuletzt durch die Übernahme der Geschäfte seiner Kollegen und Schicksalsgenossen Gottlieb und Merlander, einen Namen in der Musikantiquarsbranche. Sein Interesse hatte schon immer der Welt der Musik gegolten: der Assistent an der Städtischen Oper Berlin, die er wie andere jüdische Mitarbeiter im März 1933 verlassen musste, war nach Leningrad gegangen, um sich dort einer russischen Avantgarde-Theatertruppe anzuschließen; diese künstlerischen Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Zurück in Berlin, heiratete er im Januar 1935 die Pianistin Victoria Ginsburg; erst im Herbst 1938 entschloss sich das Paar zur Flucht aus Deutschland und erreichte am 11. Oktober New York. Bemühungen um eine Anstellung im Bereich von Oper und Schauspiel blieben aber auch hier vergeblich. Front erarbeitete damals eine Übersetzung von Hector Berliozʼ Treatise on Instrumentation, mit der er sich bleibende musikologische Verdienste erwarb. Nach Jahren in einem Brotberuf zog er 1950 an die Westküste, weil ihm eine Stelle in einem Schallplattenladen in Los Angeles (»Gateway to Music«) angeboten wurde. Zu seinen Aufgaben gehörte die musikalische, textliche und technische Vorbereitung der Sonntagabend-Platten-Konzerte. Als der Laden 1958 schließen musste, nahm er einen Job als Verkäufer von High Fidelity-Geräten an. 1960 traf Front Vorbereitungen zur Eröffnung eines Musikantiquariats und knüpfte Kontakte mit mehreren Universitätsbibliotheken an der Westküste; auch machte er eine Einkaufsreise nach Europa. Dies konnte er sich nach Übernahme des Gottlieb’schen Musikantiquariats zunutze machen; unter seiner Leitung entwickelte
655 Siehe den Abschnitt zur Pazifischen Presse im Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung. 656 Vgl. Rosenthal-Fragebogen (Brief Theodore Front, dat. 19. September 1986); Dickinson: Dictionary, S. 83 f.; Kurt L. Schwarz: Ernest E. Gottlieb (1903‒1961). In: Bbl. (Ffm) Nr. 95 vom 28. November 1961, S. 2072; Jaeger: New Weimar on the Pacific; Jaeger: Die Pazifische Presse, S. 332‒334.
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sich die Firma in beachtlicher Weise. Front erstellte im Laufe der Jahre mindestens 55 Antiquariatskataloge, daneben auch kleinere Kataloge im normierten Format, die sogenannten »Front Slips« (hauptsächlich zu Neuerscheinungen); darüber hinaus nahm er Bibliotheksschätzungen vor und veröffentlichte eine Reihe, die Front Music Publications. Um seine Kunden (nach und nach waren das an die 500 Bibliotheken weltweit) umfassend bedienen zu können, bot er neben antiquarischer auch die neu erschienene Musikliteratur an. In einer zum 20-jährigen Bestehen seiner Firma und als »a tribute on the fiftieth anniversary of the Music Library Association« veröffentlichten Schrift blickte er 1981 auf seine Tätigkeit zurück, die für ihn eine fortgesetzte Zeit des Lernens war: »When I started, just twenty years ago, as an antiquarian music dealer, I was handicapped in four ways: shortage of funds, lack of knowledge, misconceptions about the collector’s attitude, and ignorance of library practices«.657 Nach der Firma von Gottlieb übernahm Front im Jahr 1980 auch das Geschäft seines verstorbenen Kollegen Kurt Merlander* (siehe unten), der sich in Los Angeles ebenfalls auf Musikwissenschaft sowie auf deutsche und spanische Literatur spezialisiert hatte. Im Juli 1980 trat Christine Clarke als Teilhaberin in die Firma Theodore Front ein und übernahm sie später ganz; 1986 beschäftigte das Unternehmen sechs Angestellte. Front arbeitete auf der Grundlage eines »semi-retirement« bis Ende Oktober 2003 weiter mit. Theodore Front Musical Literature, Inc. bezeichnet sich, nunmehr in Van Nuys, Cal. angesiedelt, als »the oldest established sheet music and music book dealer in the Western United States«.658 Auch der Jurist Kurt Merlander* (1898 – 1980 Burbank b. Los Angeles) war ein Quereinsteiger in den Beruf des Antiquars gewesen, als er sich nach seiner Immigration in die USA 1941 an der Westküste eine neue Existenz aufbaute. In Berlin war Merlander als Syndikus für Fachzeitschriften tätig, ehe er 1934 vor der »rassischen« Verfolgung durch den Nationalsozialismus nach Spanien flüchtete.659 Vor dem Bürgerkrieg weiter nach Italien geflohen, gelang es Merlander mit Unterstützung des Emergency Committee in Aid of Displaced Persons in die USA einzureisen. Zunächst war er für den Stanley Rose Bookshop und für den »rare book seller«, Poeten und Intellektuellen Jacob Zeitlin tätig; später betrieb er von seiner Privatadresse in Burbank ein eigenes Versandantiquariat und brachte durchschnittlich ein Mal im Jahr einen Verkaufskatalog heraus. In seinem (durchaus ertragreichen) »small business«, das hauptsächlich von »standing orders« lebte, lag der Schwerpunkt auf Hispanica; er handelte aber auch mit deutschsprachiger Literatur sowie – ohne besondere Kenntnisse – mit Musikliteratur. Merlander beteiligte sich 1949 an der Gründung der Southern California Antiquarian Booksellers Association, die der Errichtung der Antiquarian Booksellers Association of America vorausging. 657 Theodore Front: An Antiquarian Music Dealer’s Education. Beverly Hills, Calif.: Front 1981 (Front Music Publications, No. 3). 658 Vgl. Rosenthal-Fragebogen; Christine Clark [Nachruf]. In: Notes. Quarterly Journal of the Music Library Association, Vol. 60. No. 4, June 2004, S. 927 f.; For the Love of Music. Festschrift in Honor of Theodore Front on his 90th Birthday. Ed. Darwin Scott. (Antiqua / Musica, vol. 2). Lucca: Lim Antiqua 2002. 659 Vgl. Rosenthal-Fragebogen (Brief von Theodore Front); Ingrid Schupetta: Richard Merländer, Seidenhändler aus Krefeld – Nachforschungen über einen Unbekannten [Online; Richard Merländer war ein Onkel K. M.s]; Louis Epstein: The way it was, S. 354, 375 [online]; Jake Zeitlin: Books and the imagination. Oral history transcript: Fifty years of rare books (1980). Internet Archive, S. 498 f. [online].
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Kanada Im kanadischen Antiquariatsbuchhandel hat sich nach 1945 der Wiener Immigrant Bernard (urspr. Bernhard) Amtmann* (1907 Wien – 1979 Montreal) besondere Verdienste erworben, nicht allein durch seine weit ausgreifende Geschäftstätigkeit und als Initiator einer Buchauktions-Plattform, sondern auch als Gründer eines eigenen Berufsverbandes und durch die von ihm ins Leben gerufene kanadische Nationalbibliographie. Sein Beispiel demonstriert, was ein Einzelner als Autodidakt bewegen konnte – als einer, der aufgrund seines Vertriebenenschicksals genötigt war, ganz von vorne Abb. 27: Bernard Amtmann war nicht anzufangen. Amtmann hatte sich bis zu seiner nur ein außerordentlich erfolgreicher Flucht aus Österreich am Tag nach der AnnexiAntiquar, sondern hat auch seinem on an Hitlerdeutschland mit Gelegenheitsjobs Metier in Kanada enorme Impulse fortgebracht, versäumte Bildung in Abendkurgegeben. sen an der Wiener Universität nachgeholt und in den 1930er Jahren von seiner Wohnung aus mit Fotografie-Bedarf gehandelt.660 Die Kriegszeit überstand er in Frankreich, zuerst in der französischen Armee, später in Südfrankreich unter gefahrvollen Umständen als aktives Mitglied der Resistance. Nach dem Krieg knüpfte er noch in Europa Kontakte mit führenden Antiquaren: Entschlossen, sein immer schon vorhandenes Interesse an Büchern zu nutzen, wollte Amtmann den Handel damit zu seiner Profession machen. Im Oktober 1947 emigrierte er, da der Weg nach New York durch Einreise-Quoten versperrt war, nach Kanada und studierte zunächst in Ottawa in öffentlichen Bibliotheken die kanadische Geschichte, verdiente sich seinen Lebensunterhalt von Anfang an aber als Antiquar. Bereits 1948 erschien der erste von vier Katalogen, die er in den ersten beiden Jahren seines Aufenthalts in Ottawa erstellte; historische Flugblätter und andere Arten von Ephemera entwickelten sich damals zu seinen Spezialgebieten. Im November 1950 übersiedelte Amtmann ins weltoffene Montreal und eröffnete dort im Mai 1951 in Greene Avenue, Westmount, ein Antiquariat. In den nächsten zehn Jahren, einer Periode expandierender öffentlicher Haushalte, baute Amtmann sein Geschäft mit den Bibliotheken in großem Stil aus. Der Antiquar veröffentlichte zwischen 1956 und 1966 fast 250 Listen und Kataloge; seit 1956 unterstützten ihn seine Schwester und deren aus Wien stammender Ehemann Bruno Lamberger als »office manager« in der Führung des Unternehmens. 1960 gründete Amtmann den Laurie Hill Ltd. Verlag, der »Non-Canadiana« und »Modern first editions« publizierte. 1966 erreichte er, dass die kanadischen Mitglieder der ABAA, die bisher im amerikanischen Verband organisiert waren, einen eigenen
660 Vgl. Rosenthal-Fragebogen; Joan Mappin, John Archer: Bernard Amtmann 1907‒1979: A Personal Memoir. In: AB weekly, 19. Oktober 1987, S. 1478‒1488.
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Verband gründeten. Als dessen erster Präsident initiierte er das Projekt der Canadian National Bibliography. Um diese Zeit verwirklichte er auch den lang gehegten Plan, eine Plattform für Buchauktionen zu errichten: 1967 etablierte er die Montreal Book Auctions, Ltd. und hielt die erste Versteigerung (von sechs) im April im Ritz Carlton Hotel ab, im Jahr darauf vereinbarte er eine Zusammenarbeit mit dem Auktionshaus Christie, Manson & Woods of London und hielt in den kommenden zwei Jahren 26 Versteigerungen ab. 1970 kam es zur Trennung, weil Amtmanns Vorstellungen von der Rolle des Unternehmens nicht mit jener seiner Partner übereinstimmten. Er reaktivierte die Montreal Book Auctions; die Firma bestand über Amtmanns Tod hinaus, als Canada Book Auctions in Toronto. In den 1970er Jahren publizierte Amtmann einen Short title catalogue mit 30.000 Titeln; 1972/1973 erfolgten die Verkäufe der »business records« an die Universität von Montreal und 1976 seines bibliographischen Archivs an die National Library. Mit Amtmann, der Mitglied zahlreicher bibliographischer und Bibliophilengesellschaften (u. a. The Erasmus Circle) war, starb 1979 die herausragende Persönlichkeit des kanadischen Antiquariatsbuchhandels. Eine bedeutsame Rolle im kanadischen (Antiquariats-)Buchhandel spielte aber auch Heinz Egon Heinemann* (1912 Wiesbaden – 1979 Montreal).661 Er hatte bis 1936 in Berlin, danach in Shanghai und anderen Städten Chinas Buchhandlungen betrieben, ehe er, nach Enteignung durch die chinesische Revolution und Gefängnishaft, nach Kanada ausreisen durfte. Bald nach seiner Ankunft in Montreal im Juni 1953 beteiligte sich Heinemann am Mansfield Book Mart, um einige Monate später den kleinen Buchladen zu kaufen. In der Folge war er ständiger Gast vieler Buchmessen und Buchauktionen in Europa und Nordamerika und organisierte 1962 auch die erste Beteiligung Kanadas an der Frankfurter Buchmesse. Sein Geschäft mit kanadischem und ausländischem Sortiment, darunter schwerpunktmäßig deutschsprachige Bücher, dem er 1963 ein zweites, größeres gegenüber der McGill University hinzufügte, diente als »literary meeting Abb. 28: Heinz Egon Heinemann place«. arbeitete sich aus bescheidenen Anfängen Heinemann betätigte sich zudem als Verle- hoch zu einem der bedeutendsten ger: Sein erster Titel war die englische Überset- Buchhändler und Antiquare Kanadas. zung von Wilhelm Buschs Max und Moritz. Als Antiquar baute er neben einer großen Sigmund
661 Vgl. u. a. Rosenthal-Fragebogen; Gerhard Kurtze: Wiesbaden, Shanghai, Montreal [Nachruf für H. E. H.]. In: Bbl. (Ffm) Nr. 91 vom 13. November 1979, S. 2246; Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reiches, S. 435, 438 f.
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Freud-Sammlung auch einen bedeutenden Bestand an Canadiana auf. Heinemann war 1966 Mitbegründer der »Alcuin Society« und Mitglied in vielen Kulturvereinigungen. Nach seinem Tod 1979 wurde das Geschäft bis zur Liquidation 1981 von seinen ehemaligen Angestellten weitergeführt.
Palästina / Israel Die Lage des Buchhandels war in Palästina nach 1933 charakterisiert durch die Entstehung zahlreicher kleiner Geschäfte, in denen u. a. auch antiquarische bzw. Gebrauchtbücher zum Kauf angeboten wurden – für viele aus Deutschland und Österreich vertriebene Juden war dies nach ihrer Ankunft im Land ihrer Väter die einzige Hoffnung, aus ihrer mitgebrachten Habe Gewinn zu ziehen. Eine plastische Schilderung dieser Situation hat (Friedrich) Sally Grosshut* (1906 Wiesbaden – 1969 North Bergen, New York)662 gegeben, der in Frankfurt a. M. Rechtswissenschaften studiert hatte, 1933 nach Palästina gegangen war und 1936 zusammen mit seiner Frau Sina in Haifa aus eigenen Buchbeständen ein deutschsprachiges Antiquariat errichtete: Wir hatten vor, mit dem Erlös aus den ersten Verkäufen weitere Bücher von den deutsch-jüdischen Einwanderern zu erstehen, denn bis 1938 konnten viele von ihnen noch ihren ganzen Haushalt, einschließlich Kunstgegenstände und Bücher, mitnehmen. Das waren die, die sich glücklich schätzen durften, den Nazis – wenn auch verarmt, so doch überhaupt – entfliehen zu können, wohingegen die meisten der Juden, denen große Betriebe gehörten, kurzerhand in den Konzentrationslagern ermordet, vergast wurden. Diejenigen, die ihr Leben und ihre private Habe retten konnten, brachten zum Teil ganz wunderbare, mitunter vieltausendbändige Bibliotheken mit, denn die meisten stammten aus kultivierten und gebildeten Familien, waren Intellektuelle mit manchmal zwei und drei Doktordiplomen. Von diesen nach Palästina Verschlagenen also konnten wir Bücher en masse aufkaufen. Und welche Bücher! Seltene und teure Ausgaben […] mussten von ihnen für wahre Schundpreise verkauft werden, weil sie oftmals einfach nicht das nötige Geld für die Befriedigung der dringendsten täglichen Bedürfnisse hatten. Hinzu kam, dass nur wenige der des Deutschen mächtigen Juden materiell in der Lage waren, sich den Luxus eines seltenen Buches, selbst bei einem lächerlichen Preis, zu leisten. Hätten wir damals nur etwas Geld übrig gehabt, um wenigstens einen kleinen Teil dieser erlesenen Ausgaben behalten zu können, wir wären heute reich, doch wir sahen uns gezwungen, sie mit zumeist ganz geringem Profit sofort weiterzuverkaufen. […] Im übrigen wurde uns schnell klar, dass unsere kleine Bücherstube bald ohne Bücher sein würde, denn nach 1938 durfte kein Jude mehr seinen privaten Besitz aus Deutschland mitnehmen.663 Das waren die Voraussetzungen, unter denen viele kleine Gelegenheitsantiquariate in Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem entstanden – kleine Bücherläden, teilweise mit Leihbüchereien kombiniert, denen es weniger an Büchern als an Kunden mangelte. Nur zu
662 Vgl. Pfanner: Friedrich Sally Grosshut. 663 Sina Grosshut: Mosaik eines Lebens, S. 48 f.
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oft gerieten diese Läden zu bloßen Nebenbeschäftigungen, so auch im gegenständlichen Fall: Neben dem Antiquariat unterhielt das Ehepaar Grosshut in seiner Wohnung in der Bargiora-Straße eine »Vortragsgemeinschaft«, die sich bald zu einem literarischen Zentrum für deutschjüdische Schriftsteller wie Arnold Zweig, Else Lasker-Schüler oder Max Brod entwickelte und zehn Jahre existierte. 1941/1942 fungierte Sally Grosshut zusammen mit Arnold Zweig als Herausgeber der Zeitschrift Orient. Die Tätigkeit als Antiquar blieb Episode einer typischerweise von biographischen Brüchen und Heimatlosigkeit gekennzeichneten Emigrantenbiographie.664 Im Folgenden sollen nur jene Antiquariate in den Blick genommen werden, die durch professionelle Führung und den Umfang der Geschäfte herausragen und auch nicht schon, wie z. B. die Firma Heatid, als Sortimentsbuchhandlungen vorgestellt worden sind. Es sind das vor allem das Tel Aviver Antiquariat Landsberger sowie die Antiquare Herbert Stein, Felix Daniel Pinczower und Walter Zadek; einen herausragenden Status als weltweit bekanntes JudaicaAntiquariat hat im Grunde nur Bamberger & Wahrmann in Jerusalem errungen.
Tel Aviv Unter den aus Deutschland nach Palästina / Israel vertriebenen Buchhändlern verdient Walter Zadek* (1900 Berlin – 1992 Holon / Israel) besondere Beachtung, allein schon aufgrund seiner Bemühungen, nicht nur über sich selbst, sondern auch über die Schicksale und berufliche Situation seiner emigrierten Kollegenschaft zu berichten.665 Er selbst
664 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging Grosshut nach Schweden, wo er als als Journalist arbeitete; 1949 übersiedelte das Ehepaar in die USA; gesundheitlich angeschlagen, ging Grosshut in der Folge Brotberufen nach und widmete sich nebenbei schriftstellerischer und publizistischer Arbeit. 1957 erhielt er von der BRD eine Wiedergutmachungszahlung. Nach Grosshuts Tod verkaufte seine Witwe den Nachlass ihres Mannes (unvollendete Romane und Novellen, Briefwechsel u. a. mit Hermann Kesten, Lion Feuchtwanger, O. M. Graf, Arnold Zweig) an die University of New Hampshire. 665 Zadeks teils unter Pseudonym, teils unter seinem richtigen Namen publizierte Artikel sind im Literaturverzeichnis dieses Bandes unter »Benjamin, Uri« oder »Zadek, Walter« aufgeführt und dort gut überblickbar. Eigens erwähnt werden soll die von Zadek zusammengestellte und herausgegebene Veröffentlichung Sie flohen vor dem Hakenkreuz. Selbstzeugnisse der Emigranten. Ein Lesebuch für Deutsche (Reinbek: Rowohlt 1981). Darin enthalten ist der Beitrag von Walter Zadek: Emigration und Wesensumwandlung (S. 171‒185), die gekürzte und überarbeitete Fassung der autobiographischen Skizze Die Welt als Vaterland, die in drei Teilen Anfang 1977 im Börsenblatt erschienen ist. – Weitere Quellen: Nachlass im Deutschen Exilarchiv der DNB: EB 87/89 (Korrespondenz, Lebensdokumente, Manuskripte, Tonbandinterviews mit Emigranten); Walter and Lilli Zadek Collection, Leo Baeck Institute, New York; Interview des Verf. mit Walter Zadek am 19. u. 23. Oktober 1992 in Holon / Isr.; Korrespondenz W. Zadek mit dem Verf. 1991‒1992; Brief von Jetty Zadek-Hillesum an den Autor vom 14. April 1993. Ferner: Stefan Berkholz: Walter Zadek: Jahrgang Null Null. Das Jahrhundert entriß dem Journalisten die Heimat. In: Die Zeit Nr. 15 vom 6. April 1990, S. 97; Die Jeckes. Jüdischer Almanach, hrsg. von Gisela Dachs. Frankfurt a. Main 2005, S. 124 (Foto); Walter Zadek, Journalist, Fotograf, ehem. Bewohner der Künstlerkolonie Berlin [online]. – Zu Zadeks Tätigkeit als Importbuchhändler siehe auch Kap. 6.1 Distributionsstrukturen.
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hatte in Berlin den Buchhändlerberuf nach einer Lehre bei A. Asher & Co. und anschließender Tätigkeit in der KurfürstBuchhandlung wieder aufgegeben, weil ihm das Kaufmännische nicht behagte. Von 1923 bis 1930 war er Journalist, bei Ullstein (Zs. Uhu), vor allem aber 1925 bis 1930 als Redakteur des Feuilletons des Berliner Tageblattes bei Mosse. In dieser Eigenschaft kam er in Kontakt zu führenden Künstlern und Intellektuellen der Weimarer Republik. Nach wirtschaftskrisenbedingtem Verlust der Redakteursstelle machte sich Zadek selbständig und war seit 1930 Inhaber und Leiter der von ihm gegründeten Nachrichtenagentur bzw. Zeitungskorrespondenz »Zentralredaktion für deutsche Zeitungen« in Berlin. Im März 1933 von Nazis blutig geschlagen und nach einem Monat im Zuchthaus Spandau gegen Kaution freigelassen, flüchtete Zadek im April nach Amsterdam. Von dort aus unternahm er Reisen in mehrere europäische Länder, um sich die Alleinvertretungsrechte mehrerer Exilverlage für Palästina zu sichern. Finanzieren konnte er diese Reisen, weil ihm noch 1933 von Freunden aus Berlin seine umfangreiche Bücher-, Grafiken- und Handschriftensammlung in die Niederlande nachgesandt worden war. Seine (erste) Frau Helene (geb. Wieruszowski, 1893 Görlitz – 1976 New York) erledigte indessen Büroarbeiten im Querido-Verlag Fritz Landshoffs. Im Dezember 1933 emigrierten Zadek und seine Frau mit einem »Arbeiter-Zertifikat« nach Palästina, wo er bis 1948 als freier Journalist und Pressefotograf arbeitete; Zadek gründete damals auch die »Palestine Professional Photographers Association« (PPPA). Parallel dazu baute er sich auch eine buchhändlerische Existenz auf: 1934 gründete er Biblion, eine Verlags- und Importbuchhandelsfirma, spezialisiert auf deutschsprachige Exil-Literatur. Die Firma florierte zunächst und konnte auch in personeller Hinsicht ausgebaut werden. In einem einzigen Fall, Hugo Herrmanns Palästina heute – Licht und Schatten (1935) versuchte sich Zadek auch als Verleger, mit einem ad hoc gegründeten Hamatarah Verlag (eigentlich aber: »Biblion in Kommission«).666 Da durch Devisenknappheit und in den Kriegsjahren die Einfuhr von Büchern aus Europa zum Erliegen kam, errichtete Zadek 1940 die Antiquariatsbuchhandlung Logos Bookshop in Tel Aviv, die er bis 1973 führte. Den Grundstock bildeten seine eigenen Bestände mit Gesamtausgaben und Widmungsexemplaren aus der Berliner Zeit; unmittelbar nach dem Krieg konnte er u. a. auch aus der ČSSR wertvolles Material beschaffen. Viele nach Palästina ausgewanderte Wissenschaftler und Büchersammler überließen ihm aufgrund von Raummangel ihre kostbaren Erst- und Luxusausgaben zum Verkauf. Zadek hatte bereits 1933 damit begonnen, Werke der aus Deutschland vertriebenen Autoren zu sammeln, und war ab 1955 im Auftrag der Jewish Agency durch Europa unterwegs; auf diesen Reisen durchstöberte er viele Antiquariate, aber auch Archive von Verlagen und Bibliotheken von Privatpersonen nach exilliterarischen Werken und erstellte im Auftrag des Antiquariats Amelang (Frankfurt am Main) den ersten Exilliteratur-Katalog
666 In seiner Werbung bezeichnete Zadek, der auch die Mehrzahl der Fotoaufnahmen in dem Band beisteuerte, das Buch des zionistischen Schriftstellers Hugo Herrmann, früher ČSR, als Beweis für die Möglichkeit hervorragender Bucherzeugnisse von deutsch-jüdischen Einwanderern in Palästina.
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Abb. 29: Für Hugo Herrmanns Palästina-Buch tippte Walter Zadek eigenhändig kleine Reklamezettel.
mit einem Verzeichnis von Exilverlegern (Deutsche Literatur im Exil 1933‒1945. Erstausgaben. 1962). Weitere, von Zadek bestückte Kataloge waren Vom Schaffen der deutschen Emigration und Judaica 1962. Er belieferte noch lange Zeit deutsche Antiquariate und Auktionshäuser mit Büchern, die mit Auswanderern nach Israel gelangt waren. Zadek lebte bis zu seinem Tod 1992 mit seiner zweiten, aus den Niederlanden stammenden Frau Jetty Zadek-Hillesum in Holon bei Tel Aviv.
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Das 1934 in Tel Aviv von Kurt Landsberger* (gest. 1948 Tel Aviv) gegründete, auf deutschsprachige Literatur spezialisierte Antiquariat in der Ben-Jehuda-Straße 7 sollte sich als ein besonders langlebiges Unternehmen erweisen.667 In Deutschland war Landsberger in der Buchabteilung des Schocken-Kaufhauses in Chemnitz tätig gewesen; nach seiner Auswanderung nach Palästina betrieb er dort kurze Zeit einen Straßenstand für deutsche Bücher und Schallplatten, entschloss sich aber bald zum Aufbau einer Sortimentsbuchhandlung mit Antiquariat. Er kaufte in großem Stil ganze Bibliotheken von Immigranten aus Deutschland auf. Nach seinem Tod wurde die Firma Landsberger Bookshop von dem 1933 eingewanderten Berliner Sigmund / Itamar Parnes* (gest. 1974 Tel Aviv) übernommen, der dort bereits seit 1935 angestellt war. Er führte den Laden bis zu seinem Tod 1974. Seine Witwe Esther Parnes*, geb. Fink (geb. 1922 Hamburg), die bereits die Buchhaltung geführt hatte, übernahm nun auch die Geschäftsleitung. Für die Führung des Antiquariats gewann sie einen ihrer Stammkunden, den Büchersammler Ernst Laske* (1915 Berlin – 2004 Tel Aviv).668 Laske, Sohn des Kleiderfabrikanten, Kunstmäzens und Bibliophilen Gotthard Laske (1882‒1936), der den Berliner »Fontane Abend« gegründet hatte, war nach kurzer Haft im KZ Buchenwald zunächst nach Dänemark, dann nach Schweden geflüchtet und im Februar 1948 nach Palästina ausgewandert, wo er in einem Kibbuz und in einer Schuhfabrik arbeitete; aus der väterlichen Bibliothek konnte er nur einige wenige kostbare Bände retten. Die Antiquariatsabteilung des Landsberger Bookshop leitete Laske über 20 Jahre lang, bis 1995, und war mit seinem enormen Bücherwissen den Kunden ein äußerst versierter Gesprächspartner. Der Berliner Publizist Klaus Hillenbrand beschrieb den Büchervorrat des Antiquariats in der Ben Yehuda Street: Diese Bücher hatten einiges mitgemacht, ebenso wie ihre früheren Besitzer, die mit ihren in die Innendeckel geklebten Exlibris präsent blieben. Sie kamen aus Deutschland, auf der Flucht vor den Nazis, in hölzernen Containern, Lifts genannt, übers Meer nach Palästina. Die Bücher bildeten den Rest bürgerlicher Existenz des vormals demokratischen Deutschlands, der nun vertrieben wurde. Sie verwiesen im damals armen Israel auf ein früheres Leben, dem manche der Jeckes nachtrauerten. Viele der Bücher besaßen Wasserschäden. Ihre gewellten Einbanddecken zeugten davon, dass die Lifts an Bord der Schiffe nicht dicht genug verschlossen waren. Oft waren die Rücken abgeplatzt. Manche Werke trugen verblasste Grüße aus einer untergegangenen Welt auf der Titelseite: In Widmungen wünschten die Zurückgebliebenen in Deutschland dem Auswanderer alles Gute in der neuen Heimat.669
667 Vgl. Esther Parness [!], Ernst Laske und der Landsberger Bookshop – Wir waren eines der führenden Antiquariate für deutsche Bücher. In: Salean A. Maiwald: Aber die Sprache bleibt. Begegnungen mit deutschstämmigen Juden in Israel. 2. Aufl., Berlin: Karin Kramer Verlag 2009, S. 87‒94. 668 Dazu: Gespräch des Verf. mit Ernst Laske am 24. Oktober 1992 in Tel Aviv; Brief von E. Laske an den Autor vom 21. September 1992; Thorsten Schmitz: Lesen, ein Leben lang. In: Süddeutsche Zeitung, 17. Dezember 1997 (auch in: haGalil.com (1999) [online]); Klaus Hillenbrand: Eine irre gute Idee: Tel Aviv. In: taz vom 3. Mai 2008 [online]. 669 Klaus Hillenbrand: Deutsche Bücher. Nachruf: Die Buchhandlung Landsberger Books in Tel Aviv gibt es nicht mehr. In: taz vom 20. Februar 2010 [online].
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Das Antiquariat für deutschsprachige Bücher hielt so manche bibliophile Rarität bereit und stand auch in gutem Kontakt zum örtlichen Goethe-Institut. Viele Jahre lang wurde Esther Parnes in der Führung der Geschäfte auch durch ihren Enkel Juval Gilad (geb. 1972) unterstützt. Nach abnehmendem Geschäftsgang und nach Verlegung ihres Standorts in die Ben-Jehuda-Straße 116 musste die Firma, als letzter deutsch-jüdischer Buchladen in Tel Aviv, 2009 schließen. Im März 1939 war Felix Daniel Pinczower* (1901 Berlin – 1993 Jerusalem) in Palästina eingetroffen.670 Er war von Beruf Sportjournalist, doch als Neffe des bekannten Bibliophilen und Judaica-Spezialisten Ephraim Pinczower, der die größte JudaicaSammlung der Welt zusammengetragen hatte,671 hatte er auch Verbindung zur Bücherwelt. In den beginnenden 1930er Jahren hatte F. D. Pinczower am Philo-Lexikon (Berlin 1936) des Philo-Verlags sowie am Beckmann Sportlexikon (Wien 1933) mitgearbeitet. Nach einer Haftzeit im KZ Sachsenhausen emigrierte er nach Palästina und wurde in Tel Aviv als Buchhändler tätig, wobei er sich auf das Gebiet des Sportbuches spezialisierte. Seine private Sammlung von rund hundert einschlägigen Büchern bot dafür eine erste Grundlage, in weiterer Folge importierte Pinczower vorzugsweise englischsprachige Sportbücher. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs stellte er sich auf militärische Fachliteratur um und versorgte u. a. die Bibliothek der Haganah-Untergrundbewegung mit Büchern. Diese bildete nach Errichtung des Staates Israel 1948 den Grundstock der Zentral-Bibliothek der israelischen Armee, an deren weiterem Aufbau Pinczower maßgeblich mitwirkte, indem er fehlende Bücher u. a. auf dem Antiquariatsmarkt beschaffte. Hierzu baute er einen Spezial-Suchdienst auf und trat mit Antiquariaten auf der ganzen Welt in Verbindung, die später zu Abnehmern der von ihm angebotenen Bücher wurden. Auch bedeutende private Sammler wie der Militärhistoriker Liddell Hart gehörten zu seinen Kunden. Pinczower wurde mit seinem Militaria-Spezialprofil international bekannt und konnte so ein Versandantiquariat mit einem Angestellten aufbauen; unterstützt wurde er bei der Suche nach vergriffenen Titeln von seiner Frau Hilde, geb. Kamerling, einer Berlinerin. Nach und nach erweiterte er seine Spezialgebiete um die Bereiche Zeitgeschichte (auch Holocaust) und deutschsprachige Emigrationsliteratur, auch in englischen Übersetzungen, sowie Judaica und Hebraica; er erstellte dazu regelmäßig kleine Listen. Pinczower hat in seinem Kleinunternehmen F. D. Pinczower Books & Reprints in der Tel Aviver Sokolov Street auch eine kleine Reprint-Serie publiziert, darunter die von ihm herausgegebene und eingeleitete Bibliographie der Schriften der Edition Dr. Peter Freund, Jerusalem (Pinczower-Reprints 1974). Seine Antiquarstätigkeit hat Pinczower auch nach Schließung des Geschäfts nicht völlig aufgegeben und sogar noch aus dem Seniorenheim in Jerusalem heraus über Briefkontakte ausgeübt.
670 Dazu u. a.: Interview des Verf. mit F. D. Pinczower am 21. Oktober 1992 in Jerusalem; Korrespondenz des Autors mit F. D. Pinczower mit zahlreichen Briefen zwischen dem 7. Oktober 1991 und dem 6. Juli 1992; FOW: Glückwünsche für Felix Pinczower. In: Bbl. (Ffm) Nr. 49 vom 22. Juni 1971, S. A 273. – Autobiographische Auskünfte hat Pinczower erteilt in: Bücher im Blut. Vom Sportjournalismus zum Buch-Antiquar. In: Europäische Ideen, H. 47, 1980, S. 54 f. 671 Die fast 12.000 Bände umfassende Sammlung wurde um 1930 von der Fa. Otto Harrassowitz erworben und in zweijähriger Arbeit katalogisiert; von diesem Katalog ist 1971 ein Neudruck erschienen.
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Jerusalem Anfang 1934 eröffneten Nathan Bamberger* (1888 Bad Kissingen – 1948 Jerusalem) und Samuel Wahrmann* (1899 Sokolow / Österreich-Ungarn – 1961 Jerusalem) in Jerusalem eine Antiquariatsbuchhandlung für Judaica und Hebraica, die sich nach anfänglichen Schwierigkeiten rasch etablierte und schließlich international einen hervorragenden Ruf besaß. Bedingt durch die fortschreitende Ausschaltung des jüdischen Buchhandels im Deutschen Reich, mit der die bis dahin führende deutsche Stellung auf den Spezialgebieten Judaica und Hebraica ein Ende fand, verlagerte sich der Handel in diesen Bereichen in andere Länder, u. a. auch nach Jerusalem. Die Voraussetzungen dafür waren allein schon durch die Expertise der Antiquariatsgründer gegeben: Bamberger hatte seine buchhändlerische Ausbildung in der Firma I. Kauffmann in Frankfurt am Main erhalten, in der er alle Abteilungen des Unternehmens – Verlag, Sortiment und Antiquariat – durchlaufen hatte. Nach einem Zwischenspiel mit einem eigenen Bücherladen, in welchem er mit seltenen hebräischen Büchern handelte, war er 1921 wieder in die Firma I. Kauffmann eingetreten (seit 1909 geführt von Felix Ignatz Kauffmann*), und dort schon nach kurzer Zeit mit der geschäftsführenden Leitung des Antiquariats betraut worden. Bambergers Kompagnon in Jerusalem, Samuel Wahrmann, hatte talmudisches Wissen am Rabbiner-Seminar in Wien erworben und sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Studium der Judaistik und Hebraistik gewidmet. 1920 war auch er als Mitarbeiter bei I. Kauffmann in Frankfurt am Main eingetreten, seit 1923 aber unterstützte er seinen Onkel Moses Aron Wahrmann, zuvor Prokurist bei I. Kauffmann, beim Aufbau einer eigenen Buchhandlung. Nach dessen Tod übernahm er die Leitung des Geschäfts, das Verlag, Antiquariat und Sortiment umfasste und in dem auch Ritualien erhältlich waren; 1930 erwarb er dann die Frankfurter Firma und führte sie unter seinem eigenen Namen weiter. In den folgenden Jahren brachte Wahrmann eine Reihe von hervorragenden Judaica-Katalogen heraus und veröffentlichte seltene Hebraica. Seine Pläne, das Antiquariat räumlich vom Sortiment zu trennen, wurden durch die nationalsozialistische »Machtergreifung« im Jahre 1933 zunichte gemacht. Wahrmann emigrierte nach Palästina, um dort gemeinsam mit Nathan Bamberger ein Antiquariat aufzubauen. Bemerkenswert erscheint, dass Bamberger und Wahrmann von Palästina aus in den ersten Jahren weiterhin geschäftliche Kontakte nach Deutschland unterhielten und ihren Antiquariatsbestand zum Teil aus dem Deutschen Reich bezogen. Wahrmann reiste einmal im Jahr geschäftlich nach Frankfurt am Main, wo er sich für zwei bis drei Monate aufhielt; seine letzte Geschäftsreise nach Deutschland machte er 1939. Bamberger & Wahrmann traten nachfolgend mit einer Anzahl von Antiquariatskatalogen und, als Verlag, mit Neuveröffentlichungen von Judaica und Hebraica hervor, darunter wichtigen bibliographischen Arbeiten von Moritz Steinschneider und einer Bibliographie der Passover Haggadah von Avraham Ya‘ari.672 Nach dem Tod Bambergers 1948 führte Wahr-
672 Bamberger & Wahrmann hatten um 1935 die Verlagsrechte einiger Judaica-Titel der bedeutenden, von Otto Mayer* (1875 – 1964 Nizza) geleiteten wissenschaftlichen Buchhandlung Calvary & Co. in Berlin erworben. Mayer, einer der führenden Sortimenter Berlins mit illustren Kunden wie Max Reinhardt, Walter Rathenau oder Rudolf Borchardt, darüber hinaus kundiger Antiquar und Berater von großen bibliophilen Sammlern wie Richard v. Kühlmann und Paul Knopf, war 1935 nach Nizza geflüchtet; seine Buchhandlung wurde
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mann das Antiquariat alleine weiter. Als dieser 1961 verstarb, übernahm sein 1937 nach Palästina eingewanderter Cousin Oskar (Jeshajahu) Wahrmann* (1908 Rakowce, Galizien – 1961 Jerusalem) jenen Teil des Geschäfts, in dem er schon zuvor beschäftigt gewesen war.673 Die damals bereits weltbekannte Firma verlor unter seiner Leitung jedoch rasch an Bedeutung und ging schließlich ein. Ein Teil des umfangreichen Lagers wurde vom amerikanischen Botschafter in Österreich Theodore E. Cummings erworben, der diese Sammlung unter seinem Namen an die UCLA Library in Los Angeles gab, wo sie den Kern der Judaica-Abteilung bildet. Ein ebenfalls bedeutendes Judaica-Antiquariat in Jerusalem war die von Herbert Stein* (1912 Frankfurt a. M. – 1995 Jerusalem) gegründete Firma Stein Books.674 Der aus Frankfurt stammende Sohn eines streng orthodoxen jüdischen Bäcker- Abb. 30: Stein Books war ein meisters war am 10. November 1938 mit seinem beliebter Anlaufpunkt für Bruder Ruben und seinem Vater David verhaftet buchinteressierte Jerusalem-Besucher. und in das KZ Buchenwald gebracht worden. Nach einem Monat kamen sie frei, da die Familie über einen in Amsterdam lebenden Verwandten Einreisezertifikate nach Kolumbien organisieren konnte. Stein emigrierte aber im Frühjahr 1939 mit seinem Bruder, der Führungsmitglied der Agudas Jisroel war, nach Palästina.675 Hier startete Stein seine Buchhändlerkarriere mit einem Zeitschriftenstand an der King George Street, der bald zu einer bekannten Adresse wurde und zu einem Sortiment mit Antiquariat wuchs, das sich auf Judaica und wissenschaftliche Literatur spezialisierte. Seine Erwerbungen tätigte die Firma Stein in der Hauptsache bei deutsch-jüdischen Emigranten bzw. deren Erben, seine Kunden waren Antiquare aus ganz Deutschland. Nach seinem Tod führte sein Enkel Daniel die Firma Stein Books weiter an der alten Adresse 52, King George Street, »well known for Jewish studies and rare books«. Nach 20 Jahren zog Daniel Yehezkeli nach Herzlyia und verkaufte das Antiquariat 2015 an Avraham Carmi.
1935/36 »arisiert«. Vgl. u. a. Bbl. (Ffm) Nr. 102/103 vom 22. Dezember 1964, S. 2514; Schroeder: »Arisierung« I, S. 309 f.; Schroeder: »Arisierung« II, S. 383. 673 Vgl. Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel, S. 34, 454. 674 Dazu: Mündliche Auskunft von Walter Zadek an den Autor am 19. 10. 1992 in Holon / Isr.; Uri Sahm: Neue Wirklichkeit. Die allmählich aussterbende Zunft der deutschen Antiquare. In: Bbl. (Ffm) Nr. 69 vom 29. 8. 1978, S. 1772; von Wolzogen: Herbert Stein. Bookseller, Jerusalem, S. 208–221. 675 Steins Eltern, die keine Ausreisegenehmigungen erhielten, blieben zurück und wurden nach Theresienstadt deportiert, von wo sie Anfang 1945 in die Schweiz ausgetauscht wurden. Später wanderten sie in den neugegründeten Staat Israel ein.
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Bereits in Berlin war Hermann M. Z. Meyer* (1901 Berlin – 1972 Jerusalem) ein leidenschaftlicher Büchersammler gewesen; als Mitglied der zionistischen Jugendbewegung hatte er schon in der Schulzeit eine Sammlung von Kontroversschriften über das Judentum zusammengetragen.676 1924 gehörte er zu den Mitbegründern der »SoncinoGesellschaft der Freunde des jüdischen Buches« und war bis 1937 deren Sekretär; außerdem trat er als Herausgeber klassischer jüdischer Literatur und hebräischer Werke hervor. Als ihm nach der NS-»Machtergreifung« die Ausübung seines Anwaltsberufes nicht mehr erlaubt war, ging Meyer 1937 mit seiner Familie nach Palästina, wobei es ihm gelang, seine Büchersammlung in 60 Kisten dorthin zu transferieren. In Jerusalem dienten ihm die Bücher »als Grundstock für ein Antiquariat, das ich bald durch den Ankauf der Bibliotheken anderer Emigranten vergrößern konnte« (H. Z. M.). Zusätzlich gründete er einen Verlag Universitas Booksellers in Jerusalem mit dem Spezialgebiet israelischer Kartographie, u. a. mit dem Nachdruck alter Palästina-Landkarten. Für ihn persönlich größte Bedeutung hatte die Arbeit an der Moses-Mendelssohn-Bibliographie, die dann 1967 in Berlin bei de Gruyter publiziert wurde.677 Über das Schicksal seiner Jerusalemer Buchhandlung berichtete 1971 Uri Benjamin (d. i. Walter Zadek): Viel länger überdauerte der Universitas Bookshop. Nach seines Vaters Tode hatte der explosiv-tüchtige Hermann Z. Meyer ihn allein betrieben, zeitweise unterstützt von Frau und Töchtern. […] Obwohl er sich dank seiner umfassenden Kenntnisse, seiner Tatkraft und seiner diplomatischen Fähigkeiten erfolgreich durchgesetzt hat, mußte er sich aus Altersgründen kürzlich dazu durchringen, sein Ladengeschäft aufzugeben. Aber zur Beherbergung der bibliophilen Schätze, die er von Jugend an zusammengetragen hatte, gehören ihm wohl auch heute noch verschiedene andere Räumlichkeiten in Jerusalem.678 Mit zwei Kisten voll Büchern begann Jacki Renka* (1916 München – 1970 München) in der Mensa der Universität Jerusalem einen ambulanten Buchhandel, betrieb dann einen Laden Renka & Braun in einem Hausdurchgang bei der Jaffa Road und gründete schließlich um 1949 die Firma Renka Books, Arlosoroff St. 1.679 Er war schon nach Palästina ausgewandert, bevor er 1937 im Spanischen Bürgerkrieg bei den Internationalen Brigaden kämpfte; aus dem Internierungslager in Gurs / Pyrenäen kehrte er nach Palästina zurück, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten fortbrachte, bis er sich zu buchhändlerischer Tätigkeit entschloss. Renka Books war ein kleiner, aber auf seine Weise erfolgreicher Laden: »Sein in einer zurückgelegenen engen Garage eingerichtetes Antiquariat war für die Eingeweihten einer der Anziehungspunkte des modernen Jerusalem«
676 Siehe Hermann M. Z. Meyer: Als deutscher Antiquar in Jerusalem. In: Bbl. Nr. 52 vom 30. Juni 1972 (AdA 1972/6), S. A218‒A220. Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, S. 225 f. 677 Moses Mendelssohn-Bibliographie, mit einigen Ergänzungen zur Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Hans Herzfeld. Berlin: de Gruyter 1967. 678 Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941. Teilnachlässe Meyers befinden sich im Jüdischen Museum Berlin und im Klingspor Museum Offenbach. 679 Dazu: Gerhard Scheppler: Erinnerung an Jackie Renka. In: Bbl. (Ffm) Nr. 17 vom 29. Februar 1972, S. A82‒A84 (AdA 2/1972); Wittmann: Münchens jüdische Antiquariate, S. 23–42.
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(W. Zadek 1971). Trotzdem entschloss sich Renka 1957, zurück nach Deutschland zu gehen. Dort verschickte er zunächst von seiner Wohnung in München aus Listen, v. a. zum Spezialgebiet Judaica. In seinem bald darauf in der Schellingstraße eröffneten Ladengeschäft wurde der inzwischen erfahrene, mit gutem Spürsinn ausgestattete Antiquar in genialisch angeräumtem Ambiente eine Anlaufstelle für Bücherfreunde, die auf besondere Funde aus waren. Im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte brachte Renka insgesamt 88 (meist Varia-)Kataloge heraus. Er ist somit eines der ganz wenigen Beispiele für einen Remigranten, der sich in Deutschland noch einmal geschäftlich etablieren konnte. Eine bescheidene Form des Antiquariatsbuchhandels betrieb in Palästina / Israel das Ehepaar Schlesinger. Koloman / Kalman Schlesinger* (1895 in Ungarn – 1975 Jerusalem / Israel) und seine einer alteingesessenen jüdisch-orthodoxen Kölner Familie entstammende Frau Frieda (geb. van Cleef, 1899‒1985) hatten in Köln die hebräische Buchhandlung Wolf Topilowsky geführt, wobei Frieda als Geschäftsführerin und im Sortiment tätig war, während Kalman als Wissenschaftler (Orientalist) im hebräischen Antiquariat mit dem Bücherankauf befasst war. Vom Schocken Verlag wurde er als Experte u. a. zur Beschaffung reproduktionsfähiger Druckvorlagen herangezogen, als dieser 1937/1938 daranging, eine Sammlung von Nachdrucken (Manuldrucken) jüdischer religiöser Gebrauchsliteratur herauszubringen. Nach der Reichspogromnacht entschlossen sich die Schlesingers zur Emigration nach Palästina, wo sie sich zunächst in Tel Aviv, später in Jerusalem niederließen. Von ihrer Privatwohnung aus betrieben sie den Verkauf antiquarischer Bücher und nahmen zu diesem Zweck komplette Bibliotheken eingewanderter europäischer Juden in Kommission.
Lateinamerika In den Ländern Lateinamerikas war der Antiquariatsbuchhandel meist gekoppelt an ein allgemeines Sortiment und einen Leihbuchhandel. Der Aufbau von Spezialantiquariaten, gar solchen mit internationalem Aktionsradius, schien für deutsche und österreichische Immigranten nur in Ausnahmefällen möglich; meist blieb es bei einem lokalen und regionalen Einzugsbereich. Gründe hierfür können vermutet werden in der wenig entwickelten Buchhandels-Infrastruktur der jeweiligen Aufnahmeländer, einem kleineren Kundenkreis, der Sprachbarriere sowie einer geringeren Anzahl von gut ausgebauten Bibliotheken und anderen nationalen Bildungseinrichtungen, die für Erwerbungen zu interessieren waren.
Argentinien Auf die vergleichsweise größte Erfolgsgeschichte konnte noch die Libreria Juan Henschel in Buenos Aires zurückblicken, als sie 2015 – als letzte deutsche Buchhandlung in der argentinischen Hauptstadt – geschlossen wurde.680 Gegründet wurde sie 1940 von
680 Dazu: Brief von Edgardo Henschel an den Verf. vom 4. Oktober 1993; Taubert: Lateinamerika, S. 126; Marion Arbolave: Eine Dynastie im Buchhandel. Hundert Jahre Antiquariat Henschel. In: Aufbau (New York), 15. Juli 1977; Gottwalt Pankow: Das Antiquariat Henschel in
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Juan (ursprg. Hans Martin) Henschel* (1899–1979 Buenos Aires), der drei Jahre zuvor dort eingetroffen war. Henschel hatte in Hamburg nach dem Tod seines Vaters Israel Henschel 1928 die Leitung der wissenschaftlichen Export- und Antiquariatsbuchhandlung Henschel & Müller übernommen, die mit ihren zwei Filialen weltweite Kontakte pflegte und auch als Verlag aktiv war. 1935/1936 war Henschel gezwungen worden, das modern ausgestattete Geschäft, in welchem ein eigener Leseraum eingerichtet war, an »Ariseure« zu verkaufen;681 Ende 1937 flüchtete er über die Niederlande nach Argentinien, wohin ihm 1938 seine Frau und sein kaum sechsjähriger Sohn Edgar nachfolgten. Nachdem er vorübergehend als Angestellter im Buchhandel eine Beschäftigung gefunden hatte, eröffnete er 1940 in Buenos Aires, Reconquista 533, das Antiquariat Libreria Juan Henschel; den Grundstock dafür bildete seine eigene kleine Privatbibliothek. Henschel, der noch mit Stefan Zweig befreundet war, belieferte vor allem deutschsprachige Immigranten; er erwarb Sammlungen von Mitgliedern der deutschen Kolonie in Buenos Aires, doch blieben mit Katalogen auch Verbindungen nach Europa bestehen. Einen thematischen Schwerpunkt bildete das Antiquariat im Bereich der Americana aus. Nach einigen Jahren konnte ein Gebäude im Zentrum der Stadt bezogen werden: das Etagengeschäft entwickelte sich zu einer Oase für Bücherfreunde im Banken- und Büroviertel. 1968 zog sich Juan Henschel zurück und übergab die Leitung der Buchhandlung, die seither als Libreria Anticuaria Edgardo Henschel firmierte, an seinen Sohn Edgardo Henschel* (1932 Hamburg – 2012 Buenos Aires). Das Bücherangebot wurde von ihm durch Aufbau neuer Abteilungen verbreitert; Schwerpunkte lagen jetzt auf deutschen Erstausgaben, Kinderbüchern, Judaica, Reiseliteratur (bes. Südamerika), alten Landkarten und Grafik. Seit ca. 1995 war in der Buchhandlung auch die aus deutsch-jüdischer Emigrantenfamilie stammende Vivian Steinberg tätig. 2007 feierte die Buchhandlung, die sich dabei auf ihre Hamburger Vorgeschichte bezog, in Buenos Aires ihr 130-jähriges Bestandsjubiläum, acht Jahre später wurde sie von Edgardos Witwe Evelina Henschel aufgegeben.
Brasilien In vielfältiger Hinsicht mit der buchhändlerischen Emigration vor und nach 1945 vernetzt war Susanne Eisenberg-Bach (1909 München – 1997 München),682 die über ihre ‒ als Exilschicksal exemplarisch zu nennende und daher im Folgenden ausführlich
Buenos Aires wird 120 Jahre alt. In: AdA 1997, 25. April 1997, A206‒A208; Seydelmann: Gefährdete Balance, S. 42; AdA NF 5, 2007, H. 2, S. 158 (130jähriges Jubiläum). 681 Bajohr: »Arisierung« in Hamburg, S. 109; Schroeder: »Arisierung« II, S. 385. 682 Gespräch Susanne Bach mit dem Verf. am 2. 5. 1991 in München. Archivalische Quellen: Deutsches Exilarchiv / DNB: Splitternachlass EB 91/292 (Manuskript ihrer Memoiren, Korrespondenz, Lebensdokumente). Vgl. ferner Hiltrud Häntzschel: Susanne Bach gestorben. In: Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung e. V., Nr. 9, Juni 1997, S. 9; Kristine von Soden: Exil-Literatur aus Lateinamerika. Lebensstationen der Autorin Susanne Bach und ihrer berühmten Buchhandlung am Blauen Berg in Rio. In: [Zeitungsausschnittarchiv DEA]; Associação Brasileira de Liveiros Antiquarios, Homepage [online].
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vorgestellte ‒ Lebensgeschichte auch literarisch Auskunft gegeben hat.683 Nach einem 1932 abgeschlossenen Romanistik-Studium hatte sie die durch den NS-Rassismus drohende Gefahr erkannt und ging 1933 nach Paris, wo sie eine Anstellung als Fremdsprachensekretärin in der Librairie Droz erhielt, einer romanistischen Fachbuchhandlung mit Antiquariat, in der sie von 1934 bis 1937 tätig war. Seit 1938 brachte sie sich als Hauslehrerin in der Charente, als Übersetzerin, Sprachlehrerin, als Privatassistentin eines spanischen Gelehrten und mit bibliographischen Hilfstätigkeiten für den nach Bern emigrierten Antiquar Julius Hess* durch. Auch war sie schon seit ihren ersten Pariser Jahren für die Flüchtlingshilfsorganisation Comité International pour le Placement des Intellectuels Refugiés tätig; seit 1938/39 bei der Radiodiffusion Nationale. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich wurde sie im Mai 1940 zunächst im Lager Gurs interniert, wo sie Fremdsprachenunterricht gab und eine Leihbücherei für die Gefangenen organisierte. Nach der Freilassung im Juli 1940 ging Susanne Eisenberg zunächst nach Vichy, wo sie wieder bei der Radiodiffusion Nationale als Übersetzerin arbeitete, und dann nach Marseille, wo sie eine Anstellung in einer israelitischen Flüchtlingsorganisation fand und sich um ein Übersee-Ausreisevisum bemühte. Es gelang ihr mit einem tschechoslowakischen Pass, einem gefälschten katholischen Taufschein und viel Glück, mit der »Gruppe Görgen«684 im Mai 1941 über Spanien und Lissabon nach Brasilien zu flüchten, wo sie vier Monate später eine Tochter zur Welt brachte. In Rio de Janeiro arbeitete sie zunächst als Sekretärin in einer Buchhandlung, dann als Übersetzerin in einem pharmazeutischen Unternehmen. 1946 ging sie nach Paris und betätigte sich dort zunächst als Einkäuferin für H. P. Kraus, für den sie Zeitschriftenserien besorgte: »Das erforderte viel Herumstöbern bei kleinen und größeren Antiquaren und Bouquinistes, machte mir aber sehr viel Spaß und ich fand ziemlich viel. Das Geld, um diese Serien zu kaufen, holte ich mir bei einem Korrespondenten von Kraus ab und die Buchhändler besorgten dann den Versand.«685 Nachfolgend fand Eisenberg eine feste Anstellung im Albatross Verlag, ging aber bereits 1948 nach Brasilien zurück, um dort in der Importabteilung einer großen Buchhandlung tätig zu werden. 1952 heiratete sie den ungarischen Emigranten Jean Bach, 1954 gründete sie in Rio de Janeiro, zunächst von ihrem Wohnzimmer aus, die erste brasilianische Buchexportfirma mit angeschlossenem Versandantiquariat. Mehrere Jahrzehnte lang lieferte die Susan Bach Comercio de Livros von ihrem Firmensitz und Lager in der Cosme Velho unweit vom »Blauen Berg« in Rio die Buchproduktion Brasiliens, später ganz Lateinamerikas, nach Europa und Nordamerika, bezog aber von Anfang an auch antiquarische Literatur mit ein: Neben ihren
683 Susi Eisenberg: A la recherche d’un monde perdu. Rio de Janeiro: Centro das edico͂es francȇsas 1944, in deutscher Sprache erschienen u. d. T. Susi Eisenberg-Bach: Im Schatten von Notre-Dame. London: The World of Books Ltd. (und Worms: Georg Heintz) 1986; Susanne Bach: Karussell. Von München nach München. Eingel. v. Rosalind Arndt-Schug und Rosanna Vitale (Frauen in der Einen Welt. Sonderbd. 2). Nürnberg: o. V. 1991. 684 Der Historiker und Politiker Matthias Görgen organisierte von der Schweiz aus die Emigration einer mehr als 40 Personen umfassenden Gruppe nach Übersee. Vgl. hierzu Hohnschopp: Susanne Eisenberg und die Gruppe Görgen als Fluchthelfer. Ferner: »… mehr vorwärts als rückwärts schauen …« »… olhando mais para frente do que para trás …«. Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933–1945. 685 Bach: Karussell, S. 92.
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regelmäßigen Bulletins zu Neuerscheinungen südamerikanischer Literatur brachte sie Antiquariatskataloge zu lateinamerikanischer Völkerkunde und Literatur heraus. Die Hauptabnehmer waren Bibliotheken in den USA, die British Library in London, die Bibliothèque Nationale in Paris und die Bayerische Staatsbibliothek in München. Seit Anfang der 1970er Jahre spezialisierte sich Bach, die nebenher auch als Übersetzerin tätig war, als Antiquarin auf deutsche (dann auch französische) Exilliteratur, von der sie auch selbst eine bedeutende Sammlung besaß. Ihr erster einschlägiger Katalog erschien 1972; ihm folgten später noch mehrere Kataloge und rund 150 »information letters«. Enge Geschäftskontakte pflegte sie auf diesem Gebiet mit Werner Berthold, Gründer der Exilabteilung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main, und zu ihrem Kollegen Walter Zadek. Bach verfasste auch Beiträge zu den in Südamerika erschienenen Werken deutscher Exilschriftsteller,686 insbesondere von Stefan Zweig, dessen Abschiedsbrief-Autograph sie erwarb (heute im Deutschen Literaturarchiv, Marbach). Bach war Mitglied und zeitweise Präsidentin der brasilianischen Sektion der International League of Antiquarian Booksellers (ILAB). 1983 kehrte sie aus Altersgründen nach Deutschland zurück, ihr Unternehmen in Rio wurde von ihrem Geschäftspartner Patrick Lévy687 weitergeführt. In Brasilien dürfte sich auch der Antiquar Heinrich Rosenberg* (1885 Berlin – 1968 Rio de Janeiro) wieder in seinem Beruf betätigt haben.688 Er hatte in Berlin seit 1920 und 1927 dann gemeinsam mit Albert Zimmermann* (1888 Magdeburg ‒ ca. 1978 New York) ein bibliophiles Antiquariat geführt und war auch als Geschäftsführer des Akademie-Verlages Berlin zur Förderung der »Wissenschaft des Judentums« tätig gewesen. Selbst Bibliophile, hat er bemerkenswerte Jean Paul- und Lichtenberg-Sammlungen zusammentragen. Über seine vermutlich 1937 erfolgte Emigration und seine in Rio de Janeiro erfolgte Wiederetablierung als Antiquar ließ sich nichts Näheres ermitteln, doch gibt es Hinweise darauf, dass sein Enkelsohn Roberto Jacques R. noch 2016 ein (wohl von seinem Großvater errichtetes) Antiquariat in Rio (Botafogo, Rua Gal Polidoro, 58) geführt hat.
686 Eine Auswahl von Artikeln Susanne Bachs: Deutsche Exil-Literatur in Südamerika. In: AdA 1972/12, S. 437–439; Der Schriftsteller Paul Zech im Exil in Südamerika. In: AdA 4, 1979, S. A148 f.; Ergänzungen zur Bio-Bibliographie der deutschen Exilliteratur. In: Bbl. (Ffm) Nr. 96 vom 30. 11. 1979, S. A411–A413; French and German Writers in Exile in Brazil: Reception and Translations. In: Latin America and the Literature of Exile. A Comparative View of the 20th-Century European Refugee Writers in the New World. Ed. Hans-Bernhard Moeller. Heidelberg: C. Winter 1983, S. 293–307; Holland als Verlagsland deutscher Literatur des Exils. In: AdA 1991/5, S. A184–A186. 687 Lévy war 1990–1994, als Nachfolger Walter Geyerhahns, Vorsitzender der brasilianischen Antiquarsvereinigung ABLA. 688 Vgl. u. a. Homeyer, S. 144 (mit unzutreffendem Emigrationsdatum); Bbl. Nr. 9 vom 31. Januar 1975, S. A77; Erich Carlsohn: Alt-Berliner Antiquare. In: AdA 1980/11, S. A481‒ A488; Ulrich Joost: Aus der Frühzeit der Lichtenberg-Forschung. I. Albert Leitzmanns Lichtenberg-Korrespondenz mit Otto Deneke in Göttingen. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1999, S. 192‒226 (hier S. 216, Anm. 16, zu H. R.); Koppel: »… mit Besitzvermerk auf der ersten Seite des zweiten Bogens«, S. 404–412.
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Mexiko Im Frühjahr 1942 erreichte der Kunsthändler und Kunsthistoriker Morton H. Bernath* (1886 Belenves, Ungarn – 1965 Mexico City) in Veracruz die rettende mexikanische Küste.689 Er war mit Sonja Dümmler, der Tochter des Besitzers des Bonner Ferd. Dümmler Verlages, verheiratet und hatte bis Mai 1933 eine Kunsthandlung in Stuttgart betrieben. Nachdem er sich aufgrund des »Judenboykotts« gezwungen sah, das Geschäft zu schließen, war er als Büroangestellter beim US-Konsulat Stuttgart tätig und machte sich nach der Pogromnacht 1938 um die Ausstellung von Ausreisevisa für Württembergische Juden verdient. Eine Woche vor Kriegsausbruch emigrierte das Ehepaar in die Schweiz. Nach zweijährigem Aufenthalt in Zürich mussten sie das Land verlassen und konnten mit Hilfe von Freunden ein Einreisevisum nach Mexiko erlangen. Bald nach ihrer Ankunft eröffnete Bernath ein Antiquariat in Mexico City in der Calle de Motolinia. Einige Jahre vor seinem Tod 1965 überließ er das Geschäft dem 1954 aus München eingewanderten Antiquitätenhändler Otto Pössenbacher.
Ecuador Wann genau Simon Goldberg*, der bis 1931 in Berlin die Goethe-Buchhandlung mit einem Antiquariat und Musikalienhandel geführt hatte, sich zur Auswanderung nach Südamerika entschloss ist ebenso wenig bekannt wie der Zeitpunkt seiner Ankunft in Ecuador und die Eröffnung seines Antiquariats in zentraler Lage in Quito.690 Fest steht aber, dass die von ihm mit umfangreichen, aus Deutschland transferierten Beständen in Gang gebrachte Librería Internacional 1939 bereits das größte Antiquariat in der Hauptstadt war. Durch sein hochwertiges Bücherangebot, zu dem auch Inkunabeln und viele Seltenheiten gehörten, gewann er neben den deutschen Emigranten auch die Intellektuellenschicht der Stadt bald als Kundschaft; zudem erweiterte er sein Angebot um spanischlateinamerikanische Literatur. Trotz der relativ günstigen Voraussetzungen geriet die Firma in den 1950er Jahren in Zahlungsschwierigkeiten.691 Goldberg scheint noch in fortgeschrittenem Alter gezwungen gewesen zu sein, als Angestellter seines Landsmannes Carlos G. Liebmann in einem Ableger von dessen SU Librería im Hotel Humboldt zu arbeiten; außerdem dürfte er Liebmann zahlreiche Inkunabeln und andere wertvolle Bücher zur Begleichung einer Schuld überlassen haben. 689 Vgl. Wendland: Kunsthistoriker im Exil, Bd. 1, S. 45; Renata von Hanffstengel: Ursula Bernath. Über ihr Leben und ihre Photographie. [Lebenslauf; Korrespondenz R. v. H. mit Bernt Ture von zur Mühlen, 25. September 1993] (Kunsthistorisches Institut Universität Hamburg]. Als Kunsthistoriker ist Bernath u. a. mit folgenden Veröffentlichungen hervorgetreten: Die Miniaturhandschriften in der Leipziger Stadtbibliothek. Borna-Leipzig: Noske 1912 (Diss.); Handbuch New York und Boston (Berühmte Kunststätten Bd. 25). Leipzig: Seemann 1912; Hrsg. mit Detlev von Hadeln und Hermann Voss: Archiv für Kunstgeschichte. Leipzig 1913; Geschichte der Malerei. Hrsg. v. Alfred Woltmann und Karl Woermann. Bd. I: Die Malerei des Mittelalters. Neu bearb. von Morton Bernath. Leipzig: Kröner 1916. 690 Vgl. Edgar Freire Rubio: Quito. Tradiciones, testimonio y nostalgia. Bd. IV. Quito: Libresa 2002, S. 153. 691 Kreuter: Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land, S. 289 (siehe auch S. 41 u. 288).
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6.4
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Buchgemeinschaften
Unter den Versuchen, neue Konzepte für Literaturversorgung und Buchvertrieb zu entwickeln, stellten die Buchgemeinschaften seit Mitte der 1920er Jahre in Deutschland den erfolgreichsten Ansatz dar. Dass in dieser Art von Abonnement das Buch aufgrund von Abnahmeverpflichtungen der Mitglieder und dadurch relativ genauer Kalkulierbarkeit, aufgrund auch von hohen Auflagenziffern bei vergleichbarer oder sogar vereinzelt besserer Ausstattung, deutlich billiger war als im regulären Buchhandel, hatte – ungeachtet der vehementen Gegnerschaft des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler – zur Entstehung eines auch umfangmäßig beachtlichen »zweiten Marktes« geführt. Zwischen 1924 und 1933 waren so insgesamt rund 30 Buchgemeinschaften verschiedenster Art entstanden, Schätzungen zufolge waren insgesamt rund 1,5 Millionen Leser in den Buchgemeinschaften organisiert. Die Buchgemeinschaften splitterten sich zum größeren Teil nach politisch-ideologischen und religiös-konfessionellen Richtungen auf; es gab bürgerlich konservative ebenso wie kommunistisch orientierte; sozialdemokratische ebenso wie katholische, evangelische oder deutschnationalistische.692
Die Weiterführung von Buchgemeinschaften im Exil Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wollte der reguläre Buchhandel dazu nützen, die ungeliebten Buchgemeinschaften abzuschaffen oder wenigstens zurückzudrängen; das »Sofortprogramm« des Börsenvereins vom April 1933 verlangte ihren »Abbau«.693 Zwar wurden aus politischen Gründen linksgerichtete Buchgemeinschaften wie die Universum-Bücherei und der Bücherkreis sofort geschlossen; generell abgeschafft wurde dieser »zweite Markt« aber nicht. Bürgerliche Buchklubs wie die Deutsche Buch-Gemeinschaft durften unter kontrollierten Bedingungen weiterarbeiten, die Büchergilde Gutenberg wurde in die »Kraft durch Freude«-Organisation eingeordnet, eine Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Auch die Deutsche Hausbücherei wurde Teil der DAF. Zum Teil wurde die Tätigkeit der Buchgemeinschaften sogar staatlich gefördert, weil deren Bedeutung für die ideologische Propaganda von den Nationalsozialisten erkannt worden ist: In der RSK wurde eine eigene Fachschaft für Buchgemeinschaften eingerichtet; 1940 sollen rund 1,7 Millionen Leser in Buchgemeinschaften organisiert gewesen sein.694 Allerdings: Zwei Buchgemeinschaften des linken Spektrums fanden im Exil eine Fortsetzung, die Büchergilde Gutenberg in Zürich, Prag und Wien sowie die Universum-Bücherei in Basel, Prag und Zürich.
Die Büchergilde Gutenberg in Zürich Die gewerkschaftlich-sozialdemokratisch orientierte Büchergilde Gutenberg, gegründet 1924 in Leipzig vom Bildungsverband der Deutschen Buchdrucker, hatte bis 1933 692 Siehe den einschlägigen Beitrag von Urban van Melis in Band 2, Teil 2 dieser Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, S. 553‒588; sowie ausführlicher bei Urban van Melis: Buchgemeinschaften in der Weimarer Republik. 693 Siehe hierzu den Beitrag von Jan-Pieter Barbian zu den Buchgemeinschaften im Dritten Reich in Band 3, Teil 2 dieser Buchhandelsgeschichte. 694 So Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 380.
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85.000 Mitglieder gewonnen und rund 170 Titel in 2,5 Mill. Exemplaren herausgebracht.695 Name und Trägerschaft wurden als eine Verpflichtung auf besonders gediegene Ausstattung der Bücher verstanden. Seele des Unternehmens war der gelernte Schriftsetzer Bruno Dreßler* (1879 Ebersbach, Sachsen – 1952 Zürich); auf seine Anregung hin war 1924 die Büchergilde Gutenberg ins Leben gerufen worden. Er selbst hatte auch die Geschäftsführung in Leipzig und Berlin übernommen und die Büchergilde zu einer international führenden Buchgemeinschaft ausgebaut.696 Bis 1931 waren in Deutschland 27 Geschäftsstellen, daneben auch Filialen in Prag, Wien und Zürich (seit 1927) entstanden.697 Nach der Zerschlagung der Gewerkschaften in Deutschland und der gewaltsamen Übernahme der Büchergilde durch die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) bzw. die DAF am 2. Mai 1933698 wurde Dreßler zwei Wochen später entlassen; darüber hinaus kam er wegen der Verlagerung von Buchbeständen in die Auslandsfilialen für sechs Wochen in Untersuchungshaft und emigrierte schließlich Ende 1933 in die Schweiz. In Zürich hatten bereits im Frühjahr einige Schweizer Gildenfreunde, an ihrer Spitze der Politiker und Gewerkschafter Dr. Hans Oprecht, Bruder des Verlegers Emil Oprecht, beschlossen, die Gilde in der Schweiz weiterzuführen, und zu diesem Zweck am 19. Mai 1933 die Genossenschaft Schweizerische Büchergilde Gutenberg gegründet. Vierzehn Jahre später, 1947, hat Hans Oprecht einen Bericht über die näheren Umstände der Weiterführung der Gildenarbeit in der Schweiz geliefert.699 Danach sei die eigentliche Initiative vom Leiter der Züricher Filiale Josef Wieder, Mitglied des Schweizerischen Typographenbundes, ausgegangen; dieser habe sich nach der Gleichschaltung der Berliner Zentrale an ihn gewandt und ihm den Vorschlag einer Genossenschaftsgründung gemacht, bei Übernahme des gesamten Geschäfts. Die Gründungsversammlung
695 Vgl. van Melis: Buchgemeinschaften, S. 112. Zur Büchergilde Gutenberg vor 1933 siehe auch Dragowski: Die Geschichte der Büchergilde Gutenberg. 696 Vgl. Helmut Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg; Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«. Die Vertreibung des freiheitlichen Gildengeistes; Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«? Die Büchergilde Gutenberg im Schweizer Exil; Luise Maria Dreßler: Erfüllte Träume. Bruno und Helmut Dreßler und die Büchergilde Gutenberg. – Der umfangreiche Nachlass von Bruno Dressler und der seines Sohnes Helmut Dressler befindet sich im Fritz-Hüser-Institut in Dortmund; siehe dazu Höffner: Die Büchergilde Gutenberg: Nachlass Dreßler 1879‒1999. 697 1933 hatte die Büchergilde in der ČSR rund 9.000, in Österreich 1.500 und in der Schweiz 5.000 Mitglieder. Vgl. Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«. Die Vertreibung des freiheitlichen Gildengeistes, S. 184. 698 Ein Bericht über »Die Gleichschaltung der Büchergilde Gutenberg«, d. h. den Überfall der SA auf die Gewerkschaftshäuser, erschienen im Mitteilungsblatt für die Vertrauensleute der Büchergilde Gutenberg Der Gildenfreund vom Mai 1933, S. 33, lässt erkennen, dass es damals noch die Hoffnung auf eine Weiterführung der Buchgemeinschaft unter geringfügiger Akkommodation an die neuen politischen Rahmenbedingungen gegeben hat. Überhaupt suchte Dreßler mit taktischen Maßnahmen wie dem formalrechtlichen Anschluss der Buchgemeinschaft an den Buchmeister-Verlag, an dem er selbst die Anteilsmehrheit hielt, die Büchergilde vor dem staatlichen Zugriff zu schützen. Allerdings mussten den Vertrauensleuten im Gildenfreund vom Mai 1933 bereits 30 Titel des Programms angezeigt werden, die »nicht mehr geführt werden«. 699 In: Die Büchergilde. Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg Zürich, Nr. 3, März 1947, S. 44 f.
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habe in der Wohnung des Zürcher Arztes Dr. Charlot Straßer stattgefunden; neben Oprecht und Wieder sei dieser auch Mitglied des Vorstands gewesen. Nachfolgend sei es zu einer Vereinbarung mit der nationalsozialistischen Führung der Berliner Gilde gekommen, die die Züricher Filiale nicht einfach aufgeben wollte und aus diesem Grund sogar nach Zürich gereist sei. In dem ausgehandelten Kompromiss verpflichtete sich Zürich, für die Übernahme der Geschäftsstelle 70.000 Mark zu zahlen; diese Zahlung erfolgte dann auch, allerdings in »eingefrorener Sperrmark«, wodurch die Summe letzten Endes einer »Internationalen Föderation des Personals öffentlicher Dienste« in Paris zugutekam, der die Nationalsozialisten ein in Deutschland angelegtes Vermögen in gleicher Höhe beschlagnahmt hatten. Nach Klärung des Verhältnisses mit Berlin verfügte man in Zürich über ein Kapital von 58.000 Schweizer Franken.700 Die Anfänge waren schwierig, doch konnte in dem in Zürich erschienenen JuniHeft der Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg den Mitgliedern mitgeteilt werden, dass alle Titel des bisherigen Programms, einschließlich der (inzwischen 36) in Deutschland verbotenen Titel, geliefert werden könnten, demnächst auch die angekündigten Neuerscheinungen.701 Diese uneingeschränkte Belieferung war umso eher möglich, als die Berliner Gildenleitung noch im April / Mai 1933 zusätzliche Bücherbestände in die ausländischen Filialen verlagert hatte. Auch konnte man auf der vorhandenen Struktur aufbauen, den mehreren hundert Vertrauensleuten in der Schweiz. Im Juli / August erfolgte nun auch die endgültige Abtrennung der Geschäftsstellen in Wien und Prag von Berlin; sie wurden ebenfalls selbständig (Wien gab auch eine eigene, inhaltlich aber wenig abweichende Zeitschrift heraus) und bildeten gemeinsam mit Zürich eine Interessengemeinschaft (bis 1938). Wichtig war allen Beteiligten die klare Abgrenzung von der nationalsozialistischen Gilde in Deutschland, bei gleichzeitiger Betonung der »Fortsetzung des Gildenwerks im bisherigen Sinne«.702 Für eine solche Fortsetzung und einen weiteren Ausbau der Buchgemeinschaft erschien es dem Vorstand der Gildengenossenschaft unerlässlich, sich der Dienste des in die Schweiz geflüchteten Bruno Dreßler zu versichern, und bot ihm daher die Geschäftsleitung an. Dieser nahm die gestellte Aufgabe auch sofort in Angriff, wobei ihm als Immigranten von Hans Oprecht gegen alle Widerstände703 jährlich die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung gesichert werden musste. Die nächsten Jahre der Büchergilde standen nun im Zeichen einer überaus dynamischen Entwicklung, wobei aber zunächst einige fundamentale Probleme zu lösen waren, allein schon weil der Schweizerische Buchhändlerverband seinen Mitgliedern verboten hatte, mit der Gilde in geschäftliche Verbindung zu treten; damit waren Lizenzvertragsabschlüsse über Werke, die in Schweizer Verlagen erschienen bzw. erschienen waren,
700 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 64. 701 Vgl. hierzu und zum Folgenden Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«. Die Vertreibung des freiheitlichen Gildengeistes, S. 190‒193. 702 Die Büchergilde. Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg Zürich, Nr. 7, Juli 1933, S. 114. 703 Insbesondere der Präsident des Schweizerischen Buchhändlervereins Fritz Hess attackierte die Büchergilde und auch Dreßler (in einem »Gesuch um Aufenthaltsentzug für Bruno Dressler«) in vehementer Weise, nach eigenem Bekunden aus Angst vor »Überfremdung« und als militanter Gegner des Buchgemeinschaftsprinzips; vgl. Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«. Die Vertreibung des freiheitlichen Gildengeistes, S. 192.
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im Normalfall nicht möglich.704 Eine Ausnahme von diesem Boykott bildete Emil Oprecht; dieser war auch bereit, gemeinsam mit seinem Bruder Hans Oprecht und der Büchergilde eine Europa Verlags-Aktiengesellschaft zu gründen, die neben der Publikation von Büchern die Aufgabe hatte, Werke der Büchergilde über den Sortimentsbuchhandel zu verbreiten.705 Diese Beteiligung wurde aber Ende 1934 wieder aufgegeben, da sich daraus sowohl sachliche und finanzielle wie auch persönliche Konflikte ergaben; seit Januar 1935 gehörte der Europa Verlag, der für die Exilliteratur noch eine höchst bedeutsame Rolle spielen sollte, alleine Emil Oprecht und seiner Frau Emmie. Gescheitert sind auch noch andere Kooperationspläne; nur im Falle des ebenfalls von der Gilde mitbegründeten, auf politische, soziale und wirtschaftliche Literatur spezialisierten Jean Christophe-Verlags kam es zu einer mehrjährigen Zusammenarbeit. Um die relativ hohen Kosten der Buchproduktion ohne Preiserhöhungen stemmen zu können, musste versucht werden, die Mitgliederzahl zu vergrößern. Dies gelang auch durch extensive Werbung, zum einen durch die Installierung von Werbekreisen, in denen werblich besonders engagierte Mitglieder zusammengeschlossen wurden, zum anderen durch Umstellung der Gildenzeitschrift 706 auf Funktionen eines Werbeorgans sowie durch zielgerichtete Versorgung der Presse mit Informationen. Bemerkenswerterweise suchte man auch über die Landesgrenzen der Schweiz, Österreichs und der Tschechoslowakei hinweg neue Zielgruppen zu erschließen: die Vertrauensleute und Mitglieder sollten auch mögliche Interessenten ansprechen im Saargebiet, im Elsass oder in Polen, Litauen und Rumänien sowie in allen Gebieten, in denen inzwischen tausende deutscher Flüchtlinge lebten. Tatsächlich verdoppelte sich in der Schweiz die Mitgliederzahl bis 1936 auf 12.000, und auch in Österreich, der Tschechoslowakei und im übrigen Ausland stieg sie stark an und erreichte die Zahl von 25.000. Die Umsatzsteigerung war entsprechend und setzte sich weiter fort, als 1936 – um der Mehrsprachigkeit des Landes zu entsprechen – in Lausanne eine Guilde du Livre angeschlossen wurde, mit der nun die französischsprachige Schweiz betreut werden konnte (eine Ghilda del Libro in Lugano folgte erst 1944707); 1939 wurde die Guilde du Livre gegenüber der Züricher Büchergilde selbständig und zählte im Rahmen einer stetigen Aufwärtsentwicklung Ende 1945 rund 26.000 Mitglieder.708 Um auch in der deutschsprachigen Schweiz die Mitgliederbetreuung zu verbessern, wurden 1937 in Basel eine zweite hauptamtliche Geschäftsstelle sowie weitere Geschäftsstellen in Bern, Luzern, St. Gallen und Winterthur eingerichtet. 1938 bedeutete eine Zäsur in der Entwicklung, da durch den »Anschluss« im März zunächst die Wiener Büchergilde und im Herbst auch die Prager Büchergilde als Partner und deren Gebiete auch als Absatzmarkt verlorengingen; die Buchauflagen waren bis dahin immer für die (doppelt so hohe) Gesamtmitgliedschaft kalkuliert gewesen. Gewonnen wurde dadurch allerdings mehr Freiheit in der Programmentwicklung, da keine Rücksichten mehr auf die spezifischen politischen und kulturellen Bedingungen in den beiden Ländern genommen werden mussten.
704 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 65. 705 Näheres über diese Vorgänge bei Stahlberger: Der Zürcher Verleger Emil Oprecht, S. 106 f. 706 Zur Mitgliederzeitschrift Die Büchergilde siehe Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 119‒124. 707 Siehe Dreßler, S. 101‒103. 708 Vgl. Dreßler, S. 68‒70.
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Das größte Problem lag anfänglich im Bereich der Autorenakquisition. Es hätte sich aufgedrängt, den Schwerpunkt auf emigrierte Autoren zu legen, die doch ihrerseits auf der Suche nach Veröffentlichungsmöglichkeiten waren. Helmut Dreßler stellt aber die Situation so dar, dass es zwar einen starken Anteil gab »der deutschen Schriftsteller und ihrer Werke, die vor 1933 geschrieben und in der Berliner Büchergilde verlegt wurden […]. Nach 1933 schreiben nur noch wenige Deutsche in der Büchergilde: Heinrich Mann: ›Ein ernstes Leben‹, Hans Marchwitza den Bergarbeiterroman ›Die Kumiaks‹ und Jonny R. Rieger: ›Feuer im Osten‹, ›Fahr zur Hölle, Jonny‹ und ›Tropenfracht‹.«709 Diese Angabe ist nun einigermaßen irreführend, denn im Programm finden sich fast 30 Werke exilierter Autoren und Autorinnen. Zur Klärung dieser Frage sollen hier alle feststellbaren Publikationen exilierter deutscher und österreichischer Autoren in der Züricher Büchergilde Gutenberg aus der Zeit 1933‒1945 genannt werden (in alphabetischer Reihenfolge):710 Rahel Behrend (d. i. Else Rosenfeld): Verfemt und verfolgt. Erlebnisse einer Jüdin in Nazideutschland 1933‒1944, 1945; Alfred Döblin: Pardon wird nicht gegeben (Werbegabe). Zürich, Prag 1938; Wilhelm Herzog: Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus, Dokumente und Tatsachen, 1933; Arthur Heye: Amazonasfahrt, 1944; Ders.: Meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser, 1945; Max Hodann: Geschlecht und Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Beziehung, 1935 (Neuausgabe); Arnold Höllriegel (d. i. Richard A. Bermann): Zarzura, die Oase der kleinen Vögel, 1938; Heinrich Eduard Jacob: Die Magd von Aachen, eine von siebentausend, 1934; René König: Sizilien. Ein Buch von Städten und Höhlen […], 1943; Ruth Körner: Fieberndes Indien, 1937; Ferdinand Mainzer: Der Kampf um Caesars Erbe, 1936 (1934 Wien: E. P. Tal); Heinrich Mann: Ein ernstes Leben, 1934 (EA 1932); Hans Marchwitza: Die Kumiaks, 1934; Peter Merin (d. i. Oto Bihalji-Merin): Spanien zwischen Tod und Geburt, 1937; Jo Mihaly (d. i. Elfriede Steckel): Michael Arpad und sein Kind, 1937; Hermynia Zur Mühlen: Nora hat eine famose Idee, Wien: Büchergilde 1938 (Wien: Saturn 1937); Hermynia Zur Mühlen: Reise durch ein Leben, Wien: Büchergilde 1938; Hermynia Zur Mühlen: Ein Jahr im Schatten, 1936; Walther Pollatschek (emigriert 1938): John Law. Roman der Banknote, 1937; Ernst Preczang: Ursula. Geschichte eines kleinen Mädchens, 1934; 1938; Ernst Preczang: Ursel macht Hochzeit, 1934;
709 Dreßler, S. 128. Kursive Hervorhebungen vom Verf. 710 Eine vollständige »Bibliographie 1933‒1945« findet sich, nach Jahren geordnet, im GildenAlmanach 1946. Zürich: Büchergilde Gutenberg [1946], S. 185‒214.
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Ernst Preczang: Steuermann Padde, 1940; Jonny R. Rieger (Ps. Wolf Harten): Feuer im Osten, 1935; Jonny R. Rieger: Fahr zur Hölle, Jonny!, 1936; Fritz Rosenfeld: Der Goldfasan, 1933; Anna Siemsen: Der Weg ins Freie, 1943; Wolfgang Sonntag: Held des Friedens. Fridtjof Nansens Leben, 1943; Lisa Tetzner: Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise, 1944; Lisa Tetzner: … was am See geschah. Die Geschichte von Rosmarin und Thymian, 1936. Zählt man noch Exiltitel, die 1946 bis 1949 bei der Büchergilde in Zürich herausgekommen sind, wie Vicki Baums Liebe und Tod auf Bali (1946) und Kautschuk. Roman in fünfzehn Erzählungen (1947), Jonny R. Riegers Tropenfracht (1946), Lisa Tetzners Die schönsten Märchen der Welt (3 Bde., 1946, 1948, 1949) und ihre Reise nach Ostende, (1949), Raffaello Busonis Stanley in Afrika (1949) und Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz (1949) hinzu und berücksichtigt man vielleicht auch den historischen Schlüsselroman des 1942 in Auschwitz ermordeten Heinrich Steinitz (Ps. Karl Heinrich Stein) Tilman Riemenschneider im deutschen Bauernkrieg. Geschichte einer geistigen Haltung aus dem Jahr 1944 oder den Bericht des KZ-Überlebenden Benedikt Kautsky Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern (1946), erhöht sich die Anzahl der Bücher von NS-Verfolgten noch weiter. In diesem Zusammenhang wäre auch darauf hinzuweisen, dass die Büchergilde 1935 einen literarischen Wettbewerb mit einer Preissumme von 3.000 Franken ausgeschrieben hatte, um so an gute Manuskripte heranzukommen. Von 53 eingesandten Arbeiten wurden zwei Emigranten prämiert, Werner Ilberg mit Die Fahne der Witwe Graßbach sowie Jonny G. Rieger mit Fahr zur Hölle, Jonny!, außerdem das Werk eines Schweizer Autors; fünf weitere Manuskripte wurden zum Ankauf empfohlen. Allerdings betrachtete die Gilde damals nur die propagandistische Wirkung des Preisausschreibens, nicht aber die literarische Ausbeute als Erfolg.711 Besonders großes Engagement für die Emigration legte die Züricher Büchergilde Gutenberg aber im Bereich der Übersetzungsliteratur an den Tag. Ein nicht unerheblicher Teil des Programms wurde mit Büchern bestritten, die aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Russischen oder einer nordischen Sprache übersetzt wurden, und wieder ein erheblicher Teil dieser Übersetzungen stammte von exilierten Schriftstellern oder Berufsübersetzern, die auf diese Weise von der Gilde in Lohn und Brot gesetzt wurden. Genaueres dazu wird an anderer Stelle berichtet,712 es ist aber jedenfalls unerlässlich, diese enge Zusammenarbeit mit der literarischen Emigration adäquat zu berücksichtigen. Gleiches gilt für die emigrierten Buchgraphiker und Buchillustratoren, die bei der Büchergilde ein reiches Betätigungsfeld vorfanden.713 Dazu kommt: Aufgrund der
711 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 66. 712 Siehe die Kap. 5.4 Literarische Agenturen und 5.5 Übersetzungswesen. 713 Siehe Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung.
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rigiden Arbeitsverbote erfolgte die Beschäftigung von Exilanten als Redakteure, Übersetzer, Buchgestalter und Buchillustratoren oft verdeckt oder unter Pseudonym, sodass es hier auch noch eine Dunkelziffer geben dürfte. Eine weitere Verbindungslinie zur deutschsprachigen (Weiter-)Emigration entstand nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, als sich durch die Emigration von Mitgliedern und Vertrauensleuten eine Anzahl neuer kleiner Gildengruppen in verschiedensten Ländern auf der ganzen Welt herausbildete, die von Zürich aus bedient und beliefert wurden. Es trifft aber zu, dass sich die Züricher Büchergilde nicht bzw. mit abnehmender Tendenz als »Exilunternehmen« verstand; vielmehr lag ihr daran, das Programm in andere Richtungen weiterzuentwickeln. Dabei zeigten sich auch einige Kontinuitäten: B. Traven wurde erneut, wie in der Büchergilde vor 1933, mit 12 Publikationen zu einer tragenden Säule des Programms, mindestens in den ersten Jahren.714 Mit der Einrichtung der »Gildenbibliothek der Weltliteratur«, in der rund 25 Titel erschienen, kündigte sich in den ausgehenden 1930er Jahren eine neue Schwerpunktsetzung in der Programmpolitik an, und seit 1938/1939 erhöhte sich der Anteil Schweizerischer Autoren beträchtlich. In einer Selbstpräsentation auf der Schweizer Landesausstellung 1939 trat die Büchergilde dezidiert als Schweizerische Buchgemeinschaft auf und richtete dann auch eine »Schriftsteller- und Künstlerhilfe der Büchergilde Gutenberg« ein, die ausschließlich Schweizer Autoren und Graphikern zugutekommen sollte.715 Diese »Nationalisierung« des Programms wurde weiter gefördert durch eine 1942 eingerichtete »Gildenbibliothek der Schweizer Autoren«, in der an die 20 Titel erscheinen sollten.716 Für die Akzeptanz und das Wachstum der Gilde wirkte sich diese Tendenz in jedem Fall günstig aus. Denn die Büchergilde nahm in der Schweiz in den Kriegsjahren, besonders seit 1941, einen bemerkenswert rasanten Aufschwung; zwischen Ende 1939 und Ende 1945
714 Dies auch, weil Dreßler in seiner Arbeit wieder von dem ebenfalls in die Schweiz emigrierten Ernst Preczang* (1870 Winsen / Luhe – 1949 Sarnen, Schweiz) unterstützt wurde, der schon 1924 zu den Gründungsinitiatoren der Büchergilde gehört hatte, bis 1933 deren Cheflektor gewesen war und sich in dieser Position bis 1928 massiv für die Verbreitung sozialkritischer Literatur und ganz besonders für B. Traven eingesetzt hatte, der zum wichtigsten Autor im Programm des Buchklubs werden sollte. Der selbst erfolgreich schriftstellerisch tätige Preczang war einige Zeit an der Leitung der Exil-Büchergilde in Zürich beteiligt, außerdem arbeitete er für die Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg. Vgl. dazu auch Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen«? Die Büchergilde Gutenberg im Schweizer Exil. 715 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 77 f. 716 Ein Titel dieser Serie soll hier wegen seiner Exilrelevanz hervorgehoben werden: Carolin. Zwei Geschichten aus seinem Leben von Rudolf Jakob Humm, erschienen 1944. Humm hatte nicht nur Hans Marchwitza Unterschlupf gewährt, sondern in seinem Züricher »Haus zum Raben« ab 1934 eine Begegnungsstätte für exilierte deutsche Schriftsteller und Theaterleute geschaffen, in der Diskussionen oder Lesungen u. a. von Anna Seghers, Klaus Mann, Wolfgang Langhoff oder Ignazio Silone stattfanden. Ein ähnlicher »Exil-Salon« entstand auch im Hause des Ehepaars Wladimir und Aline Rosenbaum, in dem u. a. Robert Musil verkehrte. In Carolin gibt Humm ein romanhaftes Bild der Emigrantenszene in Zürich und der Vorgänge in den beiden gastfreundlichen Häusern. Vgl. dazu Mittenzwei: Exil in der Schweiz, S. 70‒82.
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vervierfachte sich der Umsatz, ebenso wie die Mitgliederzahl.717 Der Rückgang der regulären Büchereinfuhr mag daran genauso Anteil gehabt haben wie die Werbearbeit und die von ihr mit bewirkte Ausdehnung der Zielgruppen auf Schichten, die ihr bislang fernstanden; die Gilde hat damals ihre gewerkschaftliche Herkunft vollständig hinter sich gelassen. Tab. 1: Mitglieder- und Umsatzbewegung seit 1933.718 Jahr
Umsatz in Fr.
Mitglieder je am 31. Dezember
1933
74.800
1934
153.100
6.000
1935
182.600
9.500
1936
235.000
13.300
1937
317.000
17.000
1938
419.700
21.800
1939
444.300
26.100
1940
536.000
30.000
1941
785.100
36.900
1942
1.247.000
53.300
1943
1.862.500
72.000
1944
2.260.800
87.000
1945
2.765.000
102.300
Über das 1943 veranstaltete Literarische Preisausschreiben, mit dem die Büchergilde ihren Beitrag zur Schweizerischen »geistigen Landesverteidigung« leisten wollte, wurde an anderer Stelle berichtet.719 Es steht aber fest, dass die Gilde sich mit dieser Initiative noch stärker in das nationale Kulturgeschehen integrierte und so ihre Popularität weiter steigern konnte. In der Tat war der Erfolg der jahrelangen Aufbauarbeit höchst beachtlich:
717 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 87 f.; zur spezifischen Werbearbeit siehe S. 89‒101. 718 Nach den Angaben bei Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 108. 719 Vgl. hierzu den Abschnitt Literarische Preisausschreiben im Kap. 3 Autoren. Vgl. ergänzend Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 79‒81, mit Informationen zum literarischen Wettbewerb 1945, bei dem auch Jugendliche und Nicht-Schweizer zur Teilnahme zugelassen waren.
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Unter der Leitung von Bruno Dreßler konnte sich die Buchgemeinschaft zum ›größten Verlagsunternehmen‹ in der Schweiz ausweiten. Bei seiner Pensionierung umfaßte sie über 100.000 deutschsprachige Schweizer Mitglieder, was prozentual auf die damalige deutschsprachige Bevölkerungszahl von 3 Millionen bezogen hieß: Jeder dreißigste von den deutschsprachigen Schweizern konnte für das Gildenwerk gewonnen werden.720 Ebenso beachtlich war auch die stetig zunehmende Produktivität der Büchergilde in den Jahren des Weltkriegs, in denen die Schweiz – gemessen an den sie umgebenden Ländern – eine Insel des Friedens und der Prosperität blieb: Tab. 2: Zahl der Neuerscheinungen und Nachdrucke sowie Erzeugung und Absatz 1939‒1945.721 Jahr
Neuerscheinungen
davon Werbegaben Nachdrucke
Produktion
Absatz
1939
16
1
11
119.000
115.000
1940
17
2
13
146.000
118.000
1941
22
3
14
151.000
158.000
1942
22
4
26
330.000
261.000
1943
29
4
27
436.000
384.000
1944
35
4
30
538.000
434.000
1955
45
5
34
612.000
506.000
Im Zuge seiner Pensionierung übergab Bruno Dreßler Ende 1946 die Leitung der Züricher Gilde seinem Sohn Helmut Dreßler* (1910 Leipzig – 1974 Frankfurt a. M.). Dieser hatte vor 1933 in Deutschland Rechtswissenschaften studiert, war aber nach der »Machtergreifung« für einige Wochen inhaftiert und anschließend vom Universitätsstudium ausgeschlossen worden. 1934 war er seinem Vater in die Schweiz gefolgt und hatte dort bis 1938 ein Wirtschaftsstudium absolviert; 1939 war er kurze Zeit Mitarbeiter der Büchergilde Gutenberg in Zürich – doch nur inoffiziell, denn er bemühte sich vergeblich um Erlangung einer Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz. 1940 ging er daher nach Italien und kehrte im darauffolgenden Jahr nach Deutschland zurück, wo er zunächst als Werbeassistent, ab 1942 dann als Anzeigenleiter im Societätsverlag in Frankfurt a. M. tätig wurde. 1944 ging er erneut in die Schweiz, um für kurze Zeit an der von seinem Vater geleiteten Buchgemeinschaft mitzuwirken. 1946 kehrte Helmut
720 Messerschmidt: »Von Deutschland herübergekommen««. Die Vertreibung des freiheitlichen Gildengeistes, S. 193. 721 Dreßler: Werden und Wirken der Büchergilde Gutenberg, S. 110. – »Seit 1939 hat die Büchergilde damit insgesamt 2.332.000 Bücher hergestellt und 1.976.000 an ihre Mitglieder weitergegeben«, vermerkte Helmut Dreßler dort mit Stolz.
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Dreßler nach Frankfurt zurück und leitete dort den Wiederaufbau der Büchergilde Gutenberg in Deutschland ein. Am 17. März 1947 konnte die Büchergilde in Frankfurt als eine Tochtergesellschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes neu gegründet werden; unter Helmut Dreßlers Führung entwickelte sie sich erneut zu einer der bedeutendsten deutschen Buchgemeinschaften.722
Die Universum-Bücherei in Basel, Prag und Zürich Die Universum-Bücherei für Alle war eine kommunistische Buchgemeinschaft, von Willi Münzenberg im Oktober 1926 mit Unterstützung der »Internationalen ArbeiterHilfe« ins Leben gerufen, als Teil von Münzenbergs Pressekonzern und in enger Kooperation mit seinem Buchverlag, dem Neuen Deutschen Verlag.723 Abweichend von offiziellen, höheren Angaben konnte die Universum-Bücherei nur etwa 20.000 Mitglieder gewinnen, mit insgesamt 117 Büchern und Kalendern und 200.000 verkauften Büchern allein im Jahr 1932 erfüllte sie aber doch die Aufgabe, in soziale Schichten hineinzuwirken, die vom traditionellen Buchhandel nur ungenügend versorgt wurden.724 Die Zeitschrift Magazin für Alle, die auch Essays und Novellen enthielt, erschien zu Werbezwecken in einer Auflage von bis zu 130.000 Exemplaren und war auch im freien Verkauf erhältlich. In ihrem Programm verfolgte sie eine dezidiert klassenkämpferische Linie (verstärkt seit 1929), aber neben Marx und Engels wurden auch Schiller und Heine angeboten.725 Die Basis bildeten dabei Ausgaben, die im Neuen Deutschen Verlag erschienen waren, aber in das Programm aufgenommen wurden auch Titel von Malik, Die Schmiede, Kurt Wolff oder Reiss und natürlich solche aus reinen KP-Verlagen.726 Als letztes Buch in Deutschland erschien im Februar 1933 Walter Schönstedts Motiv unbekannt. Ein Roman von Berliner Jugendlichen. Als noch in der Nacht des Reichstagsbrands die Verfolgung der politischen Linken einsetzte und in den darauffolgenden Tagen die gesamte Presse- und Verlagslandschaft
722 Helmut Dreßler wurde 1952 Vorsitzender des Arbeitskreises der Buchgemeinschaften, Mitglied der Abgeordnetenversammlung und des Verlegerausschusses des Börsenvereins des deutschen Buchhandels sowie Beiratsmitglied der Deutschen Bibliothek. Er wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und der Plakette Förderer des deutschen Buches ausgezeichnet. Vgl. auch Bücher voll guten Geistes. 30 Jahre Büchergilde Gutenberg 1924‒1954; Bücher voll guten Geistes. 40 Jahre Büchergilde Gutenberg 1924‒1964 (mit Gesamtbibliographie); Luise Maria Dreßler: Erfüllte Träume. 723 Um die Erforschung der Geschichte der Universum Bücherei hat sich Heinz Lorenz verdient gemacht; einem 1994 erschienenen Aufsatz in den Marginalien (Lorenz: Die UniversumBücherei im Exil) hat er 1996 eine erweiterte monographische Fassung nachfolgen lassen, die den folgenden Ausführungen hauptsächlich zugrunde liegt (Lorenz: Die UniversumBücherei 1926‒1939. Geschichte und Bibliographie einer proletarischen Buchgemeinschaft). Dagegen fehlt bei Mittenzwei: Exil in der Schweiz jede Bezugnahme auf die Universum-Bücherei, sehr wahrscheinlich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Medienimperium des Renegaten Willi Münzenberg. 724 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 58. 725 Vgl. van Melis: Buchgemeinschaften. In: Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 2: Die Weimarer Republik, Teil 2, S. 573 f. 726 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 7.
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der deutschen Kommunisten zerschlagen wurde, mussten sofort auch Willi Münzenberg und seine Mannschaft, darunter die gesamte Leitung des Neuen Deutschen Verlags (Babette Gross, Karl Retzlaw u. a.) ins Ausland flüchten. In Paris wurde nach Möglichkeiten gesucht, auch die Universum-Bücherei im Ausland fortzuführen. Eine günstige Ausgangslage ergab sich aus der Tatsache, dass sich die Vertriebsorganisation mit Zahlstellen und Lagern auf die Schweiz und die ČSR ausgedehnt hatte. So konnte bereits im April 1933 in der Münzenberg-Zeitschrift Unsere Zeit eine Anzeige der UniversumBücherei für Alle, Sektion Schweiz erscheinen, in der es hieß: Der faschistische Terror der Hitlerregierung hat die deutsche Sektion dieser seit fünf Jahren bestehenden proletarischen Buchgemeinschaft zu vernichten gesucht, indem er die Produktionsräume versiegelte, die Lagerbestände vernichtete und die Mitarbeiter verhaftete. Trotz dieser Repressalien setzt die Universum-Bücherei ihre Tätigkeit mit größter Initiative fort.727 Die von dem Schweizer Adolf Vogel geleitete Geschäftsstelle in Zürich brachte denn auch sehr bald hektographierte Universum-Informationen728 heraus, in welchen sie Bücher aus noch vorhandenen Beständen anbieten konnte: Wir haben noch Buchbestände in der Schweiz, dazu gelang es uns noch Bücher einzuführen trotz dem faschistischen Terror. Das Naheliegendste ist nun, zur Geldbeschaffung, diese Buchbestände raschestens zu verkaufen. Die dadurch eingehenden Mittel werden dann wiederum zur Neuproduktion für Bücher verwendet.729 Tatsächlich konnten bereits im Juli 1933 erste Neuausgaben angekündigt werden; Ignazio Silones Fontamara, ebenso das in Paris in Vorbereitung befindliche Braunbuch. Allerdings kam es damals schon zu internen Streitigkeiten; Hans Bickel, Leiter der kommunistischen »Arbeiterbuchhandlung« in Zürich, suchte namens der Schweizer KP die Hand auf die Buchgemeinschaft (und den Vertrieb der A.I.Z.) zu legen, während Karl Retzlaw (d. i. Karl Gröhl) als Instrukteur der in Paris angesiedelten deutschen KPZentrale deren Selbständigkeit erhalten wollte.730 Damit nicht genug: »Gröhl selbst geriet ins Schußfeld wegen seiner Verbindung zu dem sozialdemokratischen Verleger Emil Oprecht und der Herausgabe von ›Fontamara‹. Dessen Verfasser Ignaz Silone, eigentlich Romolo Tranquilli, Gründungsmitglied und ehemaliger Funktionär der KP Italiens, war 1931 wegen ›politischer Verbrechen‹ aus der KPI ausgeschlossen worden und galt seit-
727 Zit. n. Lorenz, S. 65. 728 Universum-Informationen. Universum-Bücherei für alle. Schweiz, No. 1, April‒Mai 1933. 729 Ein Moment der Kontinuität ergab sich auch daraus, dass die exilierte Universum-Bücherei (wie schon seit 1931) bis 1937 auch die in Moskau erscheinende Zeitschrift Internationale Literatur an die Mitglieder auslieferte. Nachfolgend gewann die Universum-Bücherei eine zusätzliche Funktion als Auslieferung von Verlagen des KP-Umkreises, v. a. der Éditions du Carrefour und der VEGAAR, aber auch zweier Titel des Sebastian Brant-Verlags. 730 Vgl. hierzu auch Karl Retzlaw: Spartacus. Erinnerungen eines Parteiarbeiters. Frankfurt / Main: Verl. Neue Kritik 1985, S. 325.
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her als Trotzkist.«731 Es war offenbar dem Eingreifen Willi Münzenbergs, der die Komintern zur Schlichtung aufrief, zu verdanken, dass es zu einer Lösung des Problems kam: Seine Lebensgefährtin Babette Gross, ehemals Leiterin des Neuen Deutschen Verlags, fuhr in die Schweiz; ihre Bemühungen führten letztlich zur Neubegründung der Universum-Bücherei jetzt mit Sitz in Basel, wo diese am 6. September 1933 als »Genossenschaft Universum-Bücherei, Verlag und Vertrieb neuzeitlicher Literatur« in das Handelsregister eingetragen wurde.732 In der Tat kann die Universum-Bücherei im Exil nicht als klassische Buchgemeinschaft angesehen werden; mangels flächendeckendem Betreuungsapparat handelte es sich eher um eine Kombination von Verlag und angeschlossener Versandbuchhandlung. Dass nur sehr wenige Eigenproduktionen erstellt wurden und der allergrößte Teil der Titel von anderen Verlagen (vielfach als Titelauflagen) übernommen worden ist, war allerdings buchklubtypisch. Gleich die erste bemerkenswerte Publikation der Exil-Universum-Bücherei dokumentiert ihre Funktion als ein strategisches Instrument der kommunistischen Verlagspolitik: das legendäre Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. In Paris erarbeitet und in der Imprimerie Française Strasbourg gedruckt, sollte es ursprünglich im Carrefour-Verlag erscheinen. Da aber die Einfuhr in die Schweiz verboten wurde, wurde ein neues Titelblatt gedruckt, auf dem als Verlag nur die Universum-Bücherei Basel aufschien. In dieser Form fand diese erste Auflage seit Anfang September 1933 allgemeine Verbreitung. Zu dem Buch veranstaltete die Universum-Bücherei im November 1933 auch eine Ausstellung in Zürich, die Gegenstand eines Anschlags von rechtsgerichteten Kreisen wurde.733 Insgesamt kamen bei der Universum-Bücherei noch im Ersterscheinungsjahr drei Auflagen des Braunbuchs I heraus; eine als Tarnschrift gestaltete Ausgabe mit gekürztem Inhalt und im verkleinerten Format kann als vierte Auflage gezählt werden.734 Die Universum-Bücherei hatte ihre Unabhängigkeit von der Kommunistischen Partei der Schweiz gewahrt, allerdings um den Preis, dass von dort keinerlei Unterstützung zu erwarten war, auch nicht im Zugang zu potentiellen Abonnentenkreisen. Im Gegenteil: Da die Buchgemeinschaft noch einer »proletarisch-revolutionären« Literaturdoktrin
731 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 67. Der Hintergrund war ein Kompensationsgeschäft, demzufolge Emil Oprecht die internationale Verbreitung des Braunbuchs übertragen bekam und dafür der Universum-Bücherei 2.000 Buchblöcke des bei Oprecht & Helbling erschienenen Romans Silones überließ, der von Trotzki auf positivste Weise rezensiert worden war. Retzlaw musste nach einer Denunziation durch einen Schweizer Kommunisten seine Tätigkeit bei der U-B beenden und die Schweiz verlassen. In Paris wurde ihm von Münzenberg mitgeteilt, dass es für ihn keine Verwendung mehr gab. Tatsächlich hatte Retzlaw Kontakte zur trotzkistischen Szene. 732 Lorenz, S. 67. Als Vorstandsmitglied (Verwalter) wurde eingetragen der Hilfsarbeiter Adolf Gnirs-Schmid (Basel), als Buchhalter Hans Märki (Rüfenach), ebd., S. 68. 733 Lorenz, S. 69. 734 Getarnt als »Reclams Universal-Bibliothek 55« mit dem Titel: J. W. v. Goethe: Hermann und Dorothea. Die Tarnschrift wurde bereits im Juli 1934 auf einer Ausstellung der Deutschen Freiheitsbibliothek in Paris gezeigt; siehe Dorothee Bores: Die Deutsche Freiheitsbibliothek, S. 55.
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nachhing, wie sie inzwischen schon wieder überholt war, und außerdem im Geruch einer Neigung zum Trotzkismus stand, nahm sie eine eher isolierte Stellung ein.735 Auch in der ČSR wurde versucht, die Universum-Bücherei fortzuführen und die deutschsprachigen Mitglieder, die von Reichenberg (Liberec) aus beliefert worden waren, weiterhin mit Büchern zu versorgen. Dies gelang mit Unterstützung der A.I.Z. und in Zusammenarbeit mit den Verlagen M. Kácha und K. Stastny in Prag: »Kácha vergab Lizenzen und lieferte bis 1934 die Universum-Bücherei aus. Stasny zeichnete für 1935 und später dafür verantwortlich.« Ab Mai 1933 erschien dort auch wieder eine Mitgliederzeitschrift (Blätter für Alle, zur Unterstreichung der Kontinuität als Nr. 5 des 8. Jahrganges).736 Vom Kácha-Verlag wurde der Roman von Werner Türk Kleiner Mann in Uniform in Lizenz übernommen und mit einem von John Heartfield gestalteten Einband als Nr. 133a der Universum-Bücherei für Alle, Basel, herausgebracht. Die Koordinierung der Arbeiten zwischen Basel und Prag sowie Paris erwies sich als schwierig; eine einheitliche Führung gab es nicht; »Auswahl, Herstellung und Auslieferung der Bücher war dem Zufall überlassen. Die Kassierung ließ zu wünschen übrig«.737 Eine neue Führung, Hans Frei und Otto Meier, musste ab Mitte 1934 Ordnung schaffen; der Sitz der Universum-Bücherei wurde wieder nach Zürich zurück verlegt, an verschiedenen Orten neue Zahlstellen eingerichtet, der Mitgliedsbeitrag auf 4 Franken im Quartal erhöht. Neben dem Bezug des Quartalsbandes konnten auch Bücher nach eigener Auswahl erworben werden, gegen gesonderte Bezahlung oder Verrechnung mit dem Beitrag. Ungeachtet all dieser organisatorischen Probleme erschien doch eine bemerkenswerte Reihe von Titeln; Heinz Lorenz hat für die Exil-Jahre 1933/1934 elf Ausgaben mit Universum-Bücherei-Kennzeichnung nachgewiesen. Allerdings ist nur ein kleinerer Teil der von der Buchgemeinschaft angebotenen Titel mit einer solchen Kennzeichnung aufgelegt worden; zusätzlich wurde den Mitgliedern eine Reihe von Büchern in der Original-Verlagsausgabe zugänglich gemacht. An der Ausstattung, speziell auch an der Umschlaggestaltung, waren – z. T. schon bei den Originalausgaben, die in dieser Gestaltungform übernommen wurden, namhafte Buchkünstler und -grafiker beteiligt, unter ihnen John Heartfield, Paul Urban, Alex Keil, Frans Masereel und Max Bill.738 Seit Anfang 1935 erschienen die Universum-Bücherei-Blätter unter dem neuen Titel Universum Blätter der Universum-Bücherei im Umfang von acht Seiten als Beilage zu Willi Münzenbergs Zeitschrift Unsere Zeit, die – wie der Gegenangriff – in der Genossenschaftsdruckerei Basel gedruckt und von dieser auch ausgeliefert wurde.739 Die Zeitschrift informierte die Mitglieder der Buchgemeinschaft in der Schweiz und der ČSR über das laufende Bücherangebot. Allerdings nur in drei Heften (H. 1 und zwei
735 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 70, 74 f. 736 Ein von Retzlaw / Gröhl vorgenommener Versuch, die Universum-Bücherei auch in Österreich zu erhalten, gelang nicht; die Auslieferungsstellen hatten sich im zunehmend rechtsautoritär regierten Staat aufgelöst. Retzlaw wurde festgenommen und nach dreitägiger Haft in die Schweiz ausgewiesen (Lorenz, S. 71 f.). 737 Lorenz, S. 72. 738 Zu diesen Buchgestaltern siehe Buchgestaltung im Exil. 739 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 75.
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Doppelnummern 2/3 und 4/5) bis Mai 1935: Da die »Trägerzeitschrift« Unsere Zeit damals aufgrund zu geringer Abonnentenzahlen eingestellt wurde, verlor auch die Mitgliederzeitschrift der Universum-Bücherei ihre Basis. Im Laufe des Jahres 1935 kam auch die Titelproduktion zum Erliegen. Überhaupt war die Universum-Bücherei damals in ihrem Bestand gefährdet, wie ein Aufruf von Egon Erwin Kisch, Mitglied des literarischen Beirats, in der A.I.Z. dokumentiert; er kennzeichnete dort die Aufrechterhaltung der Universum-Bücherei als eine jener Aufgaben, »mit denen wir den Einzug des Sozialismus in Deutschland vorzubereiten haben.«740 Der Niedergang schien aber nicht aufzuhalten: Am 19. Mai 1936 beschloss die Buchgemeinschaft in einer Generalversammlung ihre Auflösung; am 24. November wurde sie im Handelsjournal gelöscht.741 Überraschenderweise kam es jedoch zeitlich parallel zu diesem Auflösungsvorgang zu einer Neugründung unter dem Namen Universum-Buchgemeinschaft, jetzt wieder mit Sitz in Basel.742 Ob dieses Manöver eher wirtschaftliche oder mehr politische Gründe hatte, ist nicht restlos geklärt. Mit einiger Berechtigung wird vermutet, dass dabei die Abkehr Münzenbergs von der KPD und Komintern eine Rolle spielte. Klar ist, dass diese Neugründung zur Trennung von dem tschechoslowakischen Zweig der Universum-Bücherei führte. Dies erforderte auch in Prag eine Neugründung; es entstand dort mit Hilfe der Volksillustrierten Zeitung (dem Nachfolgeorgan der A.I.Z.) eine »Volks-Bücherei«, die entschieden unter der Kontrolle der Partei stand.743 Die Universum-Buchgemeinschaft in Basel blieb offenbar unter Münzenberg-Einfluss; ab Mitte 1936 erschienen dort wieder neue Titel, die hauptsächlich aus den Verlagsprogrammen der Éditions du Carrefour, Querido (u. a. G. Reglers Die Saat, 1937, und B. Franks Cervantes, 1937), Allert de Lange (u. a. B. Brechts Dreigroschenroman, 1937), Malik (u. a. O. M. Grafs Der Abgrund, 1937), Oprecht & Helbling (L. Renns Roman Vor großen Wandlungen, 1936) und der VEGAAR stammten. Meist wurden nicht aufgebundene Teilauflagen übernommen und mit neuen Titelblättern versehen; in einigen Fällen wurden diese nur eingeklebt. Insgesamt brachte die Universum-Buchgemeinschaft von 1936‒1938 rund 50 Bücher heraus; nachgewiesen sind 23 Ausgaben mit und 26 Ausgaben ohne Nummer;744 neueren Forschungen zufolge, in denen auch die Umgestaltung der Buchgemeinschaft zu einem Verlag hervorgehoben wird, waren es insgesamt 56, wovon mindestens fünf Erstausgaben waren.745 Die Verfasser zählten zu den bekanntesten des linken Exilspektrums: Die Themen waren vielfältig und spannten sich von Berichten über die Situation in Deutschland (Anna Seghers, Werner Türk, Walter Schönstedt, Willi Bredel, Edy Brendt (d. i. Eduard Claudius), Oskar Maria Graf, F. C. Weiskopf, Hedda Zinner usw.) über den internationalen Klassenkampf (Agnes Smedley, Jack Conroy, Frank
740 741 742 743 744 745
Zit. n. Lorenz, S. 77. Lorenz, S. 76. Lorenz, S. 78. Lorenz, S. 78. Lorenz, S. 78 und Bibliographie. Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil, S. 9 [online].
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Pitcairn, Albert Hotopp, Upton Sinclair) bis zur russischen Revolution und dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR (Michail Scholochow, Rudolf Rabitsch, Henri Barbusse, Ernst Fischer, Fannina W. Halle, Alexander Awdejenko). Historische Themen wurden von Hans Natonek, Bruno Frank, Kurt Kersten und Gustav Regler bestritten. Der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands berichtete auf Deutsch und Englisch über ›Hirne hinter Stacheldraht‹, ein Anonymus über ›Österreich. Brandherd Europas‹, ein anderer über ›Ein Mann ruft ‒ Millionen antworten: Einheit, Einheit, Einheit‹.746 Unter den von den Éditions du Carrefour übernommenen Titeln befand sich auch Willi Münzenbergs 1937 erschienenes Werk Propaganda als Waffe, »auch gedacht als Streitschrift gegen Major Dr. Ing. A. Blaus Werk mit gleichem Titel (von Hitlers Kriegsminister ›nur für den Dienstgebrauch‹ herausgegeben)«.747 Aufgrund der Entfremdung Münzenbergs von Moskau dürfte dieses Buch für Turbulenzen innerhalb der Buchgemeinschaft gesorgt haben. Zwar wurde flankierend zu den »regulären« Ausgaben noch eine neue Reihe ins Leben gerufen, »das kleine universumbuch«; in deren drei Serien – Erzählungen, Gedichte, Wissenschaft – sind aber insgesamt nur noch fünf, fast sämtlich von der VEGAAR übernommene Titel erschienen. Außerdem brachte die UniversumBücherei 1936 und 1937 die Jahrgänge 6 und 7 der Zeitschrift Internationale Literatur heraus. Inzwischen hatte sich auch in der Schweiz das Klima für die dort aktive Linke deutlich verschlechtert; der Bundesrat beschloss »Maßnahmen gegen kommunistische Umtriebe«, in einzelnen Kantonen wurde die KPS verboten. Auch dürften die internen Probleme nicht abgerissen sein, zumal inzwischen die Abwendung Münzenbergs vom Parteikommunismus manifest geworden war. 1938 sind nur noch drei Bücher erschienen; mit Willi Bredels Dein unbekannter Bruder. Roman aus dem Dritten Reich, der als Sonderband der Jahresreihe 1938 erschienen war, dem geplanten, dann aber schon von der Züricher Verlagsbuchhandlung Stauffacher übernommenen »Roman aus den Südtiroler Bergen« Peter Meinhardts [d. i. Karl Gerold] Die Schmuggler von Plivio und einer Nummer der UB Mitteilungen vom Mai 1939, in welchem E. E. Kischs Landung in Australien und Anna Reiners Roman Manja angekündigt waren, »verliert sich die Spur der Buchgemeinschaft in den Wirrnissen des heraufziehenden Weltbrandes.«748
Im Exil neu gegründete Buchgemeinschaften Das Erfolgsprinzip »Buchgemeinschaft« hat die Phantasie der Emigranten immer wieder beschäftigt. Mehrfach sind Überlegungen entstanden, wie man das Konzept realisieren könnte, – nicht nur, um günstigen Lesestoff zu vermitteln, sondern vielleicht auch der über viele Länder zerstreuten Emigration selbst einen Zusammenhang zu geben. Dazu kam, dass der reguläre Sortimentsbuchhandel aus der Sicht der Exilverlage keineswegs als Königsweg des Buchvertriebs erschien, da er unter den gegebenen Bedingungen
746 Abel / Winkelmann / Waligora: Willi Münzenbergs Buchverlage im Exil, S. 9 f. [online]. 747 Lorenz: Die Universum-Bücherei im Exil, S. 77. 748 Lorenz: Die Universum-Bücherei 1926‒1939, S. 80.
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seine Funktion nur eingeschränkt erfüllen konnte und selbst innerhalb großer Länder wie den Vereinigten Staaten wenig Chancen bot, das in Frage kommende Publikum zu erreichen. Allerdings: Die Gründung einer Buchgemeinschaft hat völlig andere Voraussetzungen als die Errichtung eines Verlags oder einer Buchhandlung; sie bedarf von Anfang an einer gewissen Mindestgröße, um überhaupt sinnvoll und rentabel zu sein, sie erfordert Kapital und einen Apparat, auch benötigt sie eine definierte, gut erfassbare Zielgruppe. Trotz dieser im Exil kaum zu erfüllenden Bedingungen gab es in der deutschsprachigen Emigration nach 1933 doch Planungen in dieser Richtung und sogar konkret oder wenigstens ansatzweise verwirklichte Projekte, in den Niederlanden und besonders in den USA.
Boekenvrienden Solidariteit, nach 1936 Het Nederlandsche Boekengilde In den Niederlanden war es Hein (ursprgl. Heinz) Kohn* (1907 Augsburg – 1979 Hilversum), der bereits im Herbst 1933 eine Buchgemeinschaftsidee in die Tat umsetzte.749 Kohn hatte bereits vor 1933 zeitweise als Vertreter und Lektor für die Büchergilde Gutenberg gearbeitet und hatte auch im niederländischen Exil die Vertretung der Züricher Büchergilde Gutenberg übernommen; dies mag ihm den Anstoß gegeben haben, nach deren Vorbild in Hilversum eine eigene Buchgemeinschaft mit Verlag zu gründen, die Boekenvrienden Solidariteit.750 In diesem, ab dem Jahr 1936 unter dem Namen Het Nederlandsche Boekengilde firmierenden Unternehmen erschienen überwiegend Werke verfolgter deutscher Schriftsteller in Übersetzungen ins Niederländische, auch in Koproduktion mit niederländischen Verlagen wie Querido und Meulenhoff. Zum Programm gehörten einige Anthologien wie Brandende woorden uit Duitschland (mit von Martien Beversluis [d. i. Martien B. Versluis] ins Niederländische übersetzten Gedichten u. a. von Johannes R. Becher, Oskar Maria Graf, Erich Kästner, Alfred Kerr, Walter Mehring, Ernst Toller, Kurt Tucholsky und Erich Weinert sowie zwei Illustrationen von Käthe Kollwitz, zwei Auflagen 1934); Martien Beversluisʼ Negerliederen, 1934 (Boekenvrienden Solidariteit, Nr. 2); Wilde loten, Bloemlezing uit geschraptwerk [von Albert Einstein, Kurt Tucholsky, u. a.], geknipt door Martien Beversluis, 1934 (4); Mei 1934, internationale festbundel (mit Beiträgen u. a. von Erich Weinert und Ernst Ottwalt, George Grosz und Theodor Plivier), 1934 (5); Ruwe diamant. Eerste bloemlezing uit her werk onzer jongste schrijversgeneratie in Nederland, 1934 (7); sowie Einzelpublikationen u. a. von Theodor Plivier: Koka en andere zeemans-verhalen (mit Zeichnungen von Frans Masereel), 1934 (6); Max Hodann: De strijd om de sexueele moral, 1934 (9); Wolfgang Cordan: De wijzen van Zion, 1934 (10); Oskar Jellinek: Moeder van negen zonen, 1935 (17); Ernst Toller: In de boeien (mit Illustrationen von O. R. Schatz), 1935 (18); Egon Erwin Kisch: Menschen in kwik, kwik in menschen. En andere reportages, 1935; Lion Feuchtwanger: De leelijke Hertogin, 1936. Der Bücherklub brachte aber auch Werke von Martin Andersen-Nexö (De verworpenen der aarde), 1934; Henri Barbusse, over
749 Zur Biographie Hein Kohns und für Quellen- und Literaturangaben siehe das Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 750 Siehe dazu auch Manasse: Boekenvrienden Solidariteit, bes. S. 25‒34.
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zijn leven en zijn werk (mit Beiträgen von Alfred Kurella und Arnold Zweig), 1935 (22); Ignazio Silone (Simplicio. Letizia, mit einer Umschlagzeichnung von Clement Moreau), 1934 (12); Emile Verhaeren (Gedichten), 1935; u. a. m. 1937 erschienen in der Boekengilde von Konrad Merz (d. i. Kurt Lehmann): Duitscher aangespoeld [Ein Mensch fällt aus Deutschland], in der Übersetzung von Nico Rost, sowie 1938 Het vroolijke gildeboek, eingeleitet von Georg Hermann, und Thomas Manns Koninklijke Hoogheid. In den Jahren 1934 bis 1935 wurden 23 Titel herausgebracht. Um einen Buchklub handelte es sich bei Boekenvrienden Solidariteit insofern, als die Bücher im Monatsabonnement für jeweils 50 Cent geliefert wurden; im Einzelverkauf kosteten sie jeweils 75 Cent. Die Idee war, dass insbesondere der Abonnementpreis nicht nur jedem Intellektuellen, sondern auch jedem Arbeiter einen kontinuierlichen Bucherwerb ermöglichen sollte. 1935 wurde der Boekenvrienden Solidariteit ein Verzendboekhandel De Boekenvriend angeschlossen, der allerdings rasch finanzielle Schwierigkeiten entstehen ließ.751 Dies führte zu Konflikten zwischen Hein Kohn und seinem Geschäftspartner Jan Hilvers, sodass Ende 1935 die Boekenvrienden Solidariteit aufgelöst werden musste. Da Kohn neue Teilhaber fand, konnte er 1936 als ein Nachfolgeunternehmen Het Nederlandsche Boekengilde gründen, in der bis Anfang 1943 54 Bücher veröffentlicht wurden, darunter wieder zahlreiche Werke verfolgter deutscher Schriftsteller, einige davon auch in Koproduktion mit Querido oder dem Verlag Meulenhoff.752 Insofern ist die Boekengilde neben Querido und Allert de Lange zu den wichtigsten Exilverlagen in den Niederlanden zu zählen. Im Zuge der deutschen Besetzung erhielt Het Nederlandsche Boekengilde Publikationsverbot und wurde geschlossen; wie schon beim Vorgängerunternehmen waren Teile des Programms strikt antinazistisch ausgerichtet gewesen. Trotz der Gefahr, der er durch seine Tätigkeit und seine jüdische Herkunft ausgesetzt war, blieb Kohn auch während der Zeit der Okkupation in den Niederlanden; ab 1940 war er vor allem im Untergrund aktiv. Währenddessen konnte seine Frau Rosel in Hilversum das mit der Buchgemeinschaft verbundene Versandgeschäft sowie das daneben entstandene Antiquariat weiterführen. 1942 wurde Kohn bei einer Razzia festgenommen und in das Arbeitslager Hevelte gebracht, es gelang ihm aber, nach kurzer Zeit zu fliehen und bis zur Befreiung der Niederlande in Hilversum unterzutauchen. Für den kleinen illegalen Verlag De Bezige Bij (»Die fleißige Biene«), der bibliophile Handpressendrucke von politischen Schriften und belletristischen Werken herstellte,753 reiste er umher und verkaufte die Hefte an einen kleinen Kreis von Sammlern. Nach dem Krieg fand der inzwischen mittellos gewordene Buchhändler eine Anstellung als Verlagsleiter bei Van Ditmar in Amsterdam, die er bis 1950 innehatte. Daneben gründete er einen Verlag, den er wieder De Boekenvriend nannte, in dem u. a. 1945 in deutscher Sprache die Theresienstädter Bilder von Else Dormitzer erschienen, und errichtete 1947 die Genootschap voor Boekenvrienden, die allerdings den Charakter einer Versandbuchhandlung trug, hauptsächlich mit Verlags-Restposten zu herabgesetzten Preisen handelte und später auch in De Boekenvriend verzendboekhandel umbenannt wurde. Wenige Jahre
751 Manasse: Boekenvrienden Solidariteit, S. 35‒72. 752 Manasse: Boekenvrienden Solidariteit, S. 73‒102. 753 Vgl. zu diesem Verlag und anderen im Untergrund aktiven Verlagen Schmidt: Bücher für den Widerstand, bes. S. 93‒129.
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später bündelte Kohn seine Branchenkenntnisse und gründete 1951 in Hilversum die Literaturagentur Internationaal Literatuur Bureau (ILB).754
Buchgemeinschaftspläne im Rahmen der AmGuild Bereits aus dem ausgehenden Jahr 1934 stammen erste Überlegungen zur Gründung einer umfassenden, damals noch auf Europa bezogenen Buchgemeinschaft, die allen exilierten Schriftstellern offenstehen sollte. Formuliert wurden sie von dem Wiener Schriftsteller Richard A. Bermann, der auf Bitte von Prinz Hubertus Löwenstein die Ergebnisse ihrer vorangegangenen Gespräche in einer Denkschrift Deutsche Freistatt festgehalten hat.755 Nach einer allgemeinen Lagebeschreibung werden die Schwierigkeiten vor allem der jüngeren Autoren angesprochen, in der Emigration ein Publikum zu erreichen. Auch die Exilverlage könnten nicht helfen, zumal sie nach 1933 in zu großer Zahl gegründet worden [seien], als daß es einem von ihnen hätte gelingen können, sich wirklich zur Sammelstelle der verbannten Literatur zu machen. Sie leben fast alle vom Prestige älterer und sehr berühmter Autoren, deren neue Bücher in Amsterdam oder Zürich zwar keineswegs in den früheren Riesenauflagen erscheinen, aber immer noch vom deutsch lesenden Publikum außerhalb des Reichs gekauft werden. Ein noch unbekannter Autor hat kaum eine Chance, durch einen dieser Verlage sich durchsetzen zu können. Dafür ist der Raum zu eng, in welchem der Emigrantenverlag werben kann. Oder vielmehr: es herrscht in diesem auf so viele Staaten verteilten literarischen Raum zu viel Chaos, das Publikum ist nicht organisiert, der ganze Buchhandel liegt darnieder, es fehlt an einer zentralen Organisation, es fehlt an einer Freistatt. Die entscheidende Frage war, wie eine solche »Freistatt« geschaffen werden könnte. Bermann hoffte damals noch, dass man die Zentrale der angedachten unpolitischen Organisation im Saargebiet installieren könnte, darüber hinaus wären dann »überall in der Welt, wo das Interesse an deutscher Geisteskultur stark genug ist, Ortsgruppen der Organisation zu sammeln«. Und: »Vermutlich wird es sich aus praktischen Gründen empfehlen, mit der Gründung einer Buchgemeinde nach dem Muster der in Deutschland und anderswo bestehenden großen Leserorganisationen zu beginnen.«756 Diese Buchgemeinde, für deren Start 15.000 Subskribenten oder Abonnenten genügen würden, stünde durchaus auch prominenten exilierten Autoren offen, denn auch ihnen würde sie größere Auflagen garantieren; hauptsächlich aber gehe es dabei um den literarischen Nachwuchs. Der Vorschlag zur Errichtung einer solchen »Buchgemeinde« lag Bermann sicherlich auch deshalb nahe, weil er selbst erfolgreich einige Titel (Das Urwaldschiff, Die Derwischtrommel) im Berliner Volksverband der Bücherfreunde publiziert hatte. In den
754 Siehe dazu das Kap. 5.4 Literarische Agenturen. 755 Richard A. Bermann: Deutsche Freistatt. Eine Denkschrift, dem Prinzen Hubertus zu Löwenstein überreicht [Typoskript, Ende 1934]. Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 38‒41. 756 Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 40.
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folgenden Jahren, in denen er die Bestrebungen Prinz Löwensteins unterstützte, die schließlich 1936 zur Gründung der American Guild for German Cultural Freedom führen sollten, hat Bermann diesen Gedanken einer Buchgemeinschaft, die der gesamten literarischen Emigration zugutekommen und zugleich alle ihre Veröffentlichungs- und Verbreitungsprobleme lösen sollte, immer wieder propagiert. So etwa wurde in der von ihm und Peter de Mendelssohn im Juni 1936 verfassten Denkschrift über die Begründung einer deutschen Akademie in New York als eines der Ziele angegeben, dass die geplante Akademie Freunde der deutschen Kultur in deutschen und englischen Buchgemeinschaften organisiert und dadurch den systematischen Aufbau eines dauerhaften Publikums für die Arbeiten der verbannten deutschen Geistigen in den hierfür noch kaum andeutungsweise erschlossenen Vereinigten Staaten ermöglicht.757 In einem Brief an Alfred Neumann in dessen italienisches Exil in Fiesole vom 30. Juli 1936 präzisierte de Mendelssohn den Plan: »3. Die Schaffung einer Buchgemeinschaft nach dem Muster der amerikanischen Book-Guilds, die dem deutschen Buch in Amerika die so lange vermißte breite Wirkung und einen höchst[!] wesentlich erhöhten Absatz verschaffen soll.«758 Nach dem Ausscheiden de Mendelssohns aus dem Akademie-Team war es dann aber vor allem wieder Richard A. Bermann, der die Idee weiterverfolgte und auch bereits Machbarkeitsstudien anstellte, mit dem Ergebnis, dass er in einem Ende 1937 ausgearbeiteten Memorandum bereits 2.000‒3.000 Mitglieder oder Subskribenten für ausreichend hielt, »to keep German cultural freedom alive«.759 Zu einer Umsetzung der Idee ist es allerdings nie gekommen; die Guild fand ihre Hauptaufgabe in der finanziellen Unterstützung der nach Kriegsbeginn wieder zur Flucht gezwungenen Schriftsteller und hat sich hierin auch große Verdienste erworben, während ein von ihr veranstaltetes Literarisches Preisausschreiben, das viele Hoffnungen, nicht zuletzt auch auf Publikationschancen, geweckt hatte, in einem Misserfolg endete.760 Richard A. Bermann selbst wollte sich allerdings nicht so schnell von seiner Vision verabschieden; damals noch in Wien lebend, plante er gemeinsam mit dem Wiener Verleger Friedrich Ungar im Februar 1938 auf eigene Faust, d. h. ohne Beteiligung der Guild, die Gründung eines »Bücher-Bundes«, der zunächst in Österreich und der Tschechoslowakei agieren sollte.761 Einen Monat später, mit dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938, war diesem Vorhaben der Boden entzogen, sowohl Bermann wie Fritz Ungar mussten aus Österreich fliehen, gingen in die USA und setzten dort ihre Arbeit fort, Bermann in der Guild, Ungar als Exilverleger.
757 Denkschrift über die Begründung einer deutschen Akademie in New York, abgedruckt in: Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 79‒81; hier S. 80. 758 Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 82. 759 Richard A. Bermann: German Literature To-day [Memorandum, Ende 1937], hier zit. n.: So viele Bücher, so viele Verbote, S. 44. 760 Siehe dazu den Abschnitt Literarische Preisausschreiben im Kap. 3 Autoren. 761 Vgl. So viele Bücher, so viele Verbote, S. 44.
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Immerhin konnte Bermann als Erfolg verbuchen, dass er Rudolf Olden, den Vorsitzenden des deutschen Exil-PEN, mit dieser Idee infiziert hatte. Am 1. Dezember 1938 schrieb Olden von Oxford aus an Bermann in die USA: Immer mehr sehe ich ein, wie wichtig die Unternehmungen sind, die von Ihnen und dem Prinzen ins Leben gerufen oder doch geplant worden sind. Gegen die Tyrannei, die das blutige Banner gegen uns erhoben hat, kämpft zur Zeit wirklich nichts mehr als das deutsche Schrifttum, und dies zu retten, wird zu der bedeutendsten Aufgabe unserer Zeit. Ich habe neulich dem stellvertretenden Vorsitzenden der Labour Fraktion, Greenwood, den Plan der Buchgemeinschaft auseinandergesetzt, und obwohl er offenbar nur über einen mittelmäßigen Gewerkschaftskopf verfügt, hat er die Sache verstanden und gemeint, die Mittel dazu müßten gefunden werden. Ich war erstaunt über den Erfolg. Aber wie sieht die Sache an Ort und Stelle aus?762 Offenbar stand es schlecht um den Plan, denn das Thema wurde nicht nachhaltig verfolgt. Erst Ende April 1939 begegnet es wieder im Briefwechsel Rudolf Oldens mit Bermann. Olden schrieb: »Wenn ich an Rowohlt, den Lumpen, zurückdenke, wird mir das Auge naß. Übrigens sollte er jetzt in New York sein. Grüssen Sie ihn von mir. Er soll die grooosse Buchgemeinschaft gründen, damit man wieder leben kann.«763 Aber Rowohlt schloss sich der Emigration nicht an, und er gründete auch keine Buchgemeinschaft. Olden trug seinen Plan, der inzwischen auf eine »Welt-Büchergemeinde« abzielte, auch Thomas Mann vor. Nach Vorgesprächen brachte er dann seine Grundgedanken auf einem vierseitigen Typoskript zu Papier, das er an Thomas Mann abschickte und das ein bemerkenswertes Dokument des Exils ist, indem es zunächst auf den zu diesem Zeitpunkt 1939 bereits stark eingeengten Resonanzraum für das freie deutsche Buch hinweist und als Lösung des Problems den Vorschlag bringt, die »Grundsätze der früher in Deutschland blühenden Buchgemeinschaften auf so veränderte Verhältnisse anzuwenden, also Zwischengewinne und Risiken auszuschalten und billige, von den Lesern selbst ausgewählte, teilweise auch vorbestellte Bücher an den Leser heranzutragen.«764 Er schlug in dieser Denkschrift Deutsche-Buch-Gemeinde vor, eine große Organisation mit Landes- und Ortsgruppen zu schaffen, und dabei den Erfolg des Left Book Clubs in England zum Ansporn zu nehmen.765 Um dem Unternehmen Ansehen zu verleihen, 762 763 764 765
Deutsche Intellektuelle im Exil, S. 242. So viele Bücher, so viele Verbote, S. 46. So viele Bücher, so viele Verbote, S. 48. Der Left Book Club (LBC) war eine Mitte 1936 von dem britischen Verleger Victor Gollancz in London gegründete, von John Strachey geleitete Buchgemeinschaft, die hauptsächlich vom Gollancz Verlag beliefert wurde und u. a. durch Bestseller wie Stracheys Why You should Be a Socialist einen raschen Aufschwung nahm. Der zeitweise dem VolksfrontGedanken verpflichtete Buchklub, mit dem der gegenüber »linker« Literatur ablehnend eingestellte Sortimentsbuchhandel umgangen werden sollte, brachte insgesamt 250 Titel von z. T. sehr bekannten und bedeutenden Autoren heraus; von den deutschen Exilliteraten konnte Arthur Koestler dort erfolgreich sein Spanish Testament sowie Scum of the Earth unterbringen. Der Höhepunkt der Entwicklung war im April 1939 mit 57.000 Mitgliedern erreicht; außerdem hatten sich rund um das Buchprogramm ca. tausend Diskussionsgruppen gebildet. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt machte sich der LBC von jedem kommunistischen
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sollten die prominentesten Autoren an die Spitze gestellt werden, auch Verleger sollten in dem obersten Rat vertreten sein, aus Stiftungen sollte das nötige Kapital bereitgestellt werden. Wenn daraus nichts wurde, mag das auch eine Folge unglücklicher Zufälle gewesen sein. Nach Vorstellung Oldens sollte Thomas Mann diesen Vorschlag auf dem XV. PEN-Kongress vortragen und dort um Unterstützung werben. Allein: der Kongress fand wegen drohender Kriegsgefahr nicht statt. Weitere Versuche Oldens, 1940 noch einmal die Idee weiterzuverfolgen, brachten kein Ergebnis. Etwas weiter gediehen sind in den USA aber die Pläne anderer Buchgemeinschaftsinitiatoren. Zu diesen kann auch Gottfried Bermann Fischer gezählt werden, der schon 1938, als von einem verlegerischen Engagement in den Staaten noch keine Rede war, sich mit solchen Gedanken trug. Jedenfalls hat er mit dem Verleger Herbert Reichner, der wie er selbst durch den »Anschluss« aus Wien vertrieben worden war und der vorläufig in Zürich lebte, wohin er noch im März 1938 4.800 Bände der von ihm verlegten Werke Stefan Zweigs retten konnte, über dieses Thema gesprochen. Reichner »überlegte […] damals gemeinsam mit Gottfried Bermann Fischer, die verstreut lebenden Auslandsdeutschen – unter Umgehung des Sortiments – über eine Buchgemeinschaft als neue, internationale Vertriebsorganisation zu erreichen bzw. zu diesem Zweck mit dem amerikanischen Book of the Month-Club in Verbindung zu treten.«766 Auch in diesem Fall wurden die Überlegungen bald gegenstandslos; Reichner verlor Stefan Zweig als seinen Haus- und Hauptautor an Bermann Fischer, musste die Schweiz, die ihm kein Aufenthalts- und Arbeitsrecht gewähren wollte, verlassen und ging in die USA, wo er nur noch Antiquariatsbuchhandel betrieb.
Buchgemeinschaftspläne und Gründungen in den USA Bermann Fischer war dann allerdings ganz konkret an Bestrebungen beteiligt, in den USA eine Buchgemeinschaft zu errichten. Die Grundlage dafür war entstanden mit der Vertriebskooperation, die zwischen Allert de Lange, Querido und Bermann-Fischer zur Zentralisierung und Kostensenkung, auch einer Effektivierung des Vertriebs und einer besseren Erschließung der Märkte eingerichtet worden war, bei völliger Wahrung der Individualität und Selbständigkeit der Verlage. Für die USA war eine Sonderregelung getroffen worden; dort kooperierte die »Zentralauslieferung« der drei Verlage mit der Alliance Book Corporation, der die Alleinauslieferungsrechte und exklusive Vertretung aller drei Verlage übertragen wurde.767 Außerdem sollte diese Firma in Zukunft jeweils
Einfluss frei; es erschienen dann, bis zu seiner Auflösung 1948, nur noch Bücher nichtorthodoxer marxistischer Ausrichtung. (Vgl. Wikipedia, sowie John Lewis: The Left Book Club. An historical record. London: Gollancz 1970). – Bemerkenswert die Sicht bei Stephen Koch, der in der Universum-Bücherei das Vorbild für den Left Book Club sieht: »The Left Book Club was more or less a cookie-cutter version of Universum Bücherei. […] The name – Left Book Club – mislead a little: Like Universum Bücherei, it was much more than British communism’s bookshop by mail. It was how Stalinist opinion was ›networked‹ in England.« (Koch: Double Lives. Stalin, Willi Münzenberg and the Seduction of the Intellectuals, S. 191). 766 Buchinger: Zweig – Schriftsteller und literarischer Agent, S. 307. 767 Vgl. Schoor: Verlagsarbeit im Exil, S. 83.
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eine Teilauflage von in Europa gedruckten und für den amerikanischen Markt besonders interessanten Büchern im Rohbogen erwerben und mit dem Imprint »Alliance Book Corporation, New York« herausbringen, und in letzter Instanz sollte diese Firmenkonstruktion den Charakter einer Buchgemeinschaft annehmen, wobei ihr diese Imprint-Produktion als Titelbasis dienen sollte.768 Hinter dieser Alliance Book Corporation stand ein Mann, dem man die Bewältigung einer solchen komplexen Aufgabe durchaus zutrauen durfte, Heinz Günther Koppel, der sich in den USA Henry G. Koppell* nannte (1895 Berlin – 1964 New York).769 Koppell war schon 1924 in Berlin an der Gründung der Deutschen Buch-Gemeinschaft beteiligt und hier wie auch in der zugehörigen Druckerei Seydel & Co. bis 1932 als Geschäftsführer und Teil- Abb. 31: Die Ankündigungen für die geplante haber tätig gewesen; die Deutsche Buch- Buchgemeinschaft waren bereits sehr konkret, wie Gemeinschaft war damals mit rund der »Aufruf« erkennen lässt, der am 1. Dezember 500.000 Mitgliedern die größte Buch- 1938 in der Zeitschrift Aufbau erschien. gemeinschaft der Welt. Es war also ein Buchklub-Experte ersten Ranges, der am 15. August 1938 in New York die Alliance Book Corporation (New York & Toronto) errichtete. Unterstützt wurde er darin von Fritz H. Landshoff, mit dem er schon in der Weimarer Zeit in Kontakt gestanden war und den er auf der Durchreise in die USA in Amsterdam getroffen hatte;770 Landshoff vertrat in diesem Falle alle drei großen Exilverlage, die mit der Alliance Book Corporation den amerikanischen Markt erschließen wollten.771 Koppell, der durch seinen frühen Weggang aus Deutschland offenbar ein beträchtliches Vermögen retten konnte, fungierte mit einer Einlage von 25.000 Dollar als Geldgeber und als Präsident des Unternehmens, das mit dem Verlag Longmans, Green & Co. kooperierte und im gleichen Gebäude untergebracht war. Obwohl sich
768 Vgl. zum Folgenden Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950, Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg, S. 434‒437. 769 Für Quellen- und Literaturhinweise zur Biographie Koppells siehe den entsprechenden Abschnitt im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Zur Vertriebsfunktion der Alliance Book Corporation siehe Kap. 6.1 Distributionsstrukturen. 770 Siehe hierzu und zum Folgenden Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 124‒130. 771 Nachträglich soll sich auch der Oprecht Verlag angeschlossen haben; dieser hatte aber mit der Fa. Friedrich Krause bereits eine Auslieferung in New York.
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Landshoff im Herbst 1938 zwei Monate lang in New York einquartierte, um den Start des Unternehmens durch ein Gesamtverzeichnis,772 Prospekte und Anzeigen solide vorzubereiten, und obwohl Koppell selbst so außerordentlich erfahren war im Buchgeschäft, scheiterte das Unternehmen geradezu grandios; Landshoff musste feststellen: »Es kamen so grotesk wenig Bestellungen, daß es nicht der Mühe wert war, einen zweiten Versuch zu machen.«773 Allen Bemühungen zum Trotz hatten sich weder an Universitäten, Schulen und Bibliotheken noch unter den Exilanten oder den deutschstämmigen Amerikanern Interessenten für deutschsprachige Exilliteratur gefunden.774 Erfolg, teilweise sogar großen Erfolg hatte Koppell in der Folgezeit einzig und allein mit den von ihm verlegten Büchern deutschsprachiger Exilanten in amerikanisch-sprachiger Übersetzung.775 Was aber war das Schicksal der Buchgemeinschaftspläne? Für den Alliance Book Club (ABC) wurde der Öffentlichkeit ein bereits detailliert ausgearbeitetes Konzept vorgelegt,776 das grundsätzlich die Verbreitung des »unabhängigen deutschen Schrifttums« vorsah, neben neuen Werken berühmter Autoren auch »Werke junger, hoffnungsvoller Talente«. Eine besondere Rolle sollte dabei die Forum-Buchreihe spielen; auf diese Weise wäre der ABC zu einer amerikanischen Vertriebsschiene auch für diese Gemeinschaftsproduktion geworden. Das belletristische Programm sollte fortlaufend um »das ökonomische, historische, politische sowie philosophische und religiöse Buch« erweitert werden. Alle Bücher sollten eine künstlerische Ausstattung haben, wobei die Preise aber »so niedrig wie möglich gehalten« seien; die Mitgliedschaft würde zur Abnahme von vier Bänden jährlich verpflichten. Vorgestellt wurde auch bereits eine »Auswahlreihe« mit insgesamt elf Titeln, angeführt von Stefan Zweigs Ungeduld des Herzens und Thomas Manns Essayband Achtung, Europa!;777 alle Titel entstammten der Herbstproduktion der beteiligten Verlage. Aus der Forum-Reihe (»Forum deutscher Dichter«) konnte jedes Neumitglied kostenfrei einen Prämienband wählen.778 Mit einem Prospekt, in dem auch ein Empfehlungsschreiben Thomas Manns abgedruckt war (eines der unzähligen
772 Der im November 1938 in Umlauf gebrachte Katalog bewarb elf Bücher aus dem Programm der Verlage Bermann-Fischer, Allert de Lange und Querido sowie zwei Titel des Züricher Oprecht-Verlags. 773 Landshoff, S. 129. 774 Die Gründe für diese so geringen Absatzchancen für deutschsprachige Bücher in den USA waren vielfältiger Art: Zum einen gab es unter den Einwanderern eine Tendenz, sich auch sprachlich schnell zu assimilieren – eine Tendenz, die von der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten antideutschen Hysterie entscheidend verstärkt wurde –, zum anderen verfehlte das Bücherangebot der deutschsprachigen (Exil-)Verlage den amerikanischen Lesegeschmack, dem sich auch die Immigranten rasch annäherten. – Zu dieser Grundsatzproblematik vgl. Huffines: Bemühungen um die Spracherhaltung bei deutschen Einwanderern, S. 253‒262; sowie Koepke: Die Exilschriftsteller und der amerikanische Buchmarkt, S. 89‒116. 775 Näheres dazu im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 776 Aufruf! In: Aufbau, 4. Jg., Nr. 13 vom 1. Dezember 1938, S. 13. 777 Weitere Titel waren (hier zitiert wie im Aufruf! angegeben): »Edgar Alexander Deutsches Brevier; Martin Gumpert Dunant; Horvath Kind unserer Zeit; Emil Ludwig Quartett; Silone Schule der Diktatoren; Valentin Weltgeschichte; Wendt Insel im Vaterland; Zernatto Wahrheit über Österreich; Arnold Zweig Versunkene Tage.« 778 Zu den in der Reihe der Forum-Bücher produzierten Titeln siehe den entsprechenden Abschnitt in Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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aus seiner Feder), sollte dem Buchklub weiterer Rückenwind verschafft werden.779 Offensichtlich aber war auch in diesem Fall die Resonanz so gering, dass der ABC-Plan stillschweigend fallengelassen werden musste. Übrigens waren in Europa 12.000 Bände der Forum-Bücherei, die vor dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 nach Stockholm in Sicherheit gebracht worden waren, noch einmal der Anlass für Buchgemeinschaftspläne: Bermann Fischer trug sich mit der Idee, diese Bände über einen erst noch zu gründenden Buchklub in Südamerika zu verkaufen.780 Offenbar war es nur das von Brasilien verhängte Verbot der Herstellung oder Einfuhr fremdsprachiger Bücher, das den Versuch einer Realisierung verhinderte.
Ernst Wilhartitzʼ »Deutscher Buch Club in America« Keinen Schritt weiter gedieh später, schon nach Kriegsende, in den USA die Initiative des 1939 aus Österreich geflüchteten Ernst Wilhartitz, der nach New York gegangen war und sich dort Ernst Willard* (1884 Wien − 1949 New York) nannte.781 In Wien war Willard Druckereibesitzer und zuletzt im Frisch Verlag Verleger juristischer Bücher gewesen, und auch in New York betätigte er sich zunächst als Drucker782 und Verleger, um 1946 dann mit einem Plan hervorzutreten, der im Falle seines Gelingens »einer verlegerischen Großtat der Emigranten gleichgekommen wäre«:783 Willard wollte mit einem Deutschen Buch Club in America das deutschsprachige Lesepublikum in den USA mit Büchern aus allen Wissensgebieten versorgen. Der Grundgedanke war, dass jetzt, unmittelbar nach dem Krieg, und wohl noch über Jahre hindurch kaum deutschsprachige Literatur aus dem besiegten Deutschland und aus Österreich in die USA kommen würde und dass somit der Buchklub eine Versorgungslücke füllen könnte. Die Willard Publishing Company, die als Verlag hinter dem Buchklub stand, hatte schon während des Krieges mit der Produktion deutschsprachiger Werke begonnen, teils mit Büchern und Broschüren, die politisch-zeitgeschichtliche Themen aufgriffen (Emil Ludwig: How to treat the Germans, 1943; Anna Freud; Dorothy T. Burlingham: War and Children, 1945; Emilio de Hofmannsthal: Attention, legislators! 50 billions spurned. International justice for refugees (The quarter library, No. 3), 1943; Peter M. Lindt: Schriftsteller im Exil. Zwei Jahre deutsche literarische Sendung am Rundfunk in New York, 1944; Luise Kautsky zum Gedenken. Nachrufe von Friedrich Adler und Oda Lerda-
779 Darin hieß es: »It was with the liveliest interest that I heard of your plan to found a book society in New York that is to propagandize for and distribute German books, insofar as they are products of the German spirit free from totalitarian oppression. I am happy to extend to you my most heartfelt good wishes for the success of your plan.« Alliance Book Club, prospectus, zit. n. Cazden: The Free German Book Trade, S. 362. Es lässt sich bei Cazden nicht erkennen, ob es sich um ein Originalzitat oder eine Übersetzung handelt. 780 So bei Nawrocka: Verlagssitz, S. 142. 781 Siehe Aufbau [Todesanzeige] 10. Juni 1949, S. 38; Cazden: German Exile Literature, S. 214, 108 f.; Kontinuität und Bruch 1938‒1945‒1955: Beiträge zur österreichischen Kultur, S. 38 f.; Hall: Österreichische Verlagsgeschichte II, S. 143 [auch online]. 782 So etwa druckte er Paul Klemperers Aus meiner Mappe (New York: Unger 1943) und 1946 vom gleichen Autor ein dramatisches Manifest zur Weltordnung Worldmosaic of atoms (dt. Genie und Verstand retten die Welt). 783 Hall: Österreichische Verlagsgeschichte II (Frisch & Co. Verlag), S. 280.
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Olberg […], Briefe aus und über Buchenwald von Benedikt Kautsky, 1945), teils mit Gedichtbänden (Hans Wolff: Lied des Lebens. Gedichte. Ausgew. und m. e. Einführung von Karl Vollmoeller, 1945; Alfred Farau: Wo ist die Jugend, die ich rufe?, 1946; Helmut Hirsch: Amerika, Du Morgenröte. Verse eines Flüchtlings (1939‒1942), 1947) oder Erinnerungsbüchern (Walther Victor: Kehre wieder über die Berge. Eine Autobiographie, 1945; Julius Korngold: Child Prodigy: Erich Wolfgang’s Years of Childhood, 1945). Im Mai 1946 kam nun ein Magazin des Deutschen Buchklubs in Amerika heraus, das die Interessenten und potentiellen Buchklubmitglieder darüber informierte, dass man vorhabe, eine Auswahl an Werken der modernen, also auch der zeitgenössischen Literatur anzubieten. Die lange Titelliste, die in diesem ersten und einzigen Magazin abgedruckt wurde,784 blieb jedoch Absichtserklärung: Offenbar hat auch diese Ankündigung so wenig Resonanz gefunden, dass ihr keine weiteren Taten gefolgt sind.
Frederick Ungars »Programm einer deutsch-amerikanischen Buchgemeinde« Noch in Wien hatte Friedrich / Frederick Ungar* gemeinsam mit Richard A. Bermann Buchklub-Pläne ventiliert (siehe weiter oben); als Verleger in New York nachhaltig erfolgreich,785 hat er in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs das »Programm einer deutsch-amerikanischen Buchgemeinde« entworfen. Aus dem in seiner Korrespondenz erhalten gebliebenen Konzept geht hervor, dass die Buchgemeinde auf die deutschsprachige Emigration ausgerichtet sein sollte und hauptsächlich von Exilverlagen gedruckte Bücher verbreiten sollte, unter Einschluss von Geschichtswerken für Deutsch-Amerikaner sowie von Romanen, die Bezug auf amerikanisches Leben haben und demokratisches Denken veranschaulichen sollten; außerdem sollten Sprachlehrbücher Verbreitung finden, mit deren Hilfe Deutsche und Amerikaner die jeweils andere Sprache erlernen könnten.786 Offensichtlich aber hat Ungar die geringen Marktchancen doch richtig eingeschätzt und diesen Plan nicht konkret weiterverfolgt; deutschsprachige bzw. zweisprachige Bücher hat er in den folgenden Jahrzehnten zielgerichtet für Collegestudenten herausgebracht, sich ansonsten aber auf englischsprachige Bücher konzentriert.787
Pläne der Deutschen Zentral-Buchhandlung, New York für einen antifaschistischen Buchklub Die 1935 in New York gegründete Deutsche Zentral-Buchhandlung sollte in der Hauptsache dem US-Vertrieb der von kommunistischen Verlagen in Europa produzierten Bücher dienen. Sie startete allerdings im September 1938 auch den Versuch eines Buchklubs für deutschsprachige antifaschistische Literatur; die Mitglieder konnten Bücher, die im normalen Verkauf 2 oder 3 Dollar kosteten, für 1 ½ Dollar beziehen. Aus den vierteljährlich angebotenen Auswahlbänden konnte frei gewählt werden. In einer An784 Vgl. Hall II, S. 143. 785 Zu Biographie und verlegerischer Tätigkeit Ungars siehe Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 786 Skemer: German Emigré Publishers in New York, S. 82. Skemer bezieht sich hier auf die Frederick Ungar Papers, 1940‒1988 (GER-092), German and Jewish Intellectual Émigré Collection, M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, University at Albany / State University of New York. 787 Vgl. Roland: Frederick (Fritz) Ungar, S. 454.
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kündigung hieß es zu der Ausrichtung des Buchklubs: »The Deutsche Zentral-Bücherei is a book society for all Germans in America who are openly opposed to any kind of cultural barbarianism. The Deutsche Zentral-Bücherei will supply only worthwhile and finely produced books both well-documented and illustrated. Every novel will be carefully selected to be anti-Fascist as well as a work of real artistic merit.«788 Zu den ersten Titeln gehörten die ursprünglich in Paris bei Carrefour erschienene Dokumentation Das braune Netz (1935) und in deutscher Übersetzung André Malrauxʼ Les temps du Mépris (Die Zeit der Verachtung, 1936). Dem gesamten Unternehmen dürfte aber kein großer Erfolg beschieden gewesen sein.
Axel G. Rosin und der Book-of-the-Month-Club Wenn es schon nicht glückte, eine Exil-Buchgemeinschaft in den USA zu errichten, so war es doch ein gewisser Erfolg, dass es einem deutschen Emigranten gelang, im USamerikanischen Buchgemeinschaftswesen eine herausragende Rolle zu spielen. Es war dies Axel G. Rosin* (1907 Berlin – 2007 New York), der in Deutschland als Jurist tätig gewesen war, bis er 1933 als »Nichtarier« Berufsverbot erhielt und im Januar 1934 in die USA emigrierte, wo er zunächst als Direktor in einer Schuhfabrik in Luray, Virginia, Beschäftigung fand.789 1943 heiratete er die in New York geborene Schriftstellerin Katharine Scherman, Tochter von Harry Scherman, der 1926 – angeregt wohl durch das Beispiel der Deutschen Buch-Gemeinschaft – den Book-of-the-Month-Club ins Leben gerufen hatte. Rosin übernahm 1936 das Controlling im Rechnungs- und Finanzwesen des Buchklubs; ab 1960 war er dessen Präsident und von 1973 bis zu seinem Ruhestand 1979 Aufsichtsratsvorsitzender. Unter seiner Leitung erreichte der Book-of-the-MonthClub eine Mitgliederzahl von 1,25 Millionen und einen Jahresumsatz in Höhe von 65 Millionen Dollar. Rosin war außerdem Direktor der 1940 gegründeten SchermanFoundation, die kulturelle und soziale Initiativen sowie Umweltprogramme unterstützt. Seit 1977 (Verkauf an Time Inc.) war die Geschichte des Clubs geprägt von zahlreichen Eigentümerwechseln; 2000 wurde er Teil von Bookspan im Besitz von Time Warner und der Bertelsmann AG; 2007 erwarb ihn der deutsche Konzern zur Gänze und verkaufte ihn im Jahr darauf an ein Konsortium.
Palästina: die »Kreise der Bücherfreunde« der Lepac Ein Buchklub besonderer Art entstand in Palästina im Rahmen der kommunistischen Einwanderung. Aus einem losen Kreis bildete sich zunächst ein Nationalkomitee »Freies Deutschland« (mit besonderer Beziehung zu dem in der Sowjetunion entstandenen Nationalkomitee), dessen Vorsitz Arnold Zweig übertragen wurde, das aber zunächst im Geheimen agierte, um nicht – wie dies etwa bei der Zeitschrift Orient der Fall war, zur Zielscheibe von Anschlägen der Nationalisten bzw. der Haganah zu werden, die
788 Zit. n. Cazden: The Free German Book Trade, S. 360 f.; vgl. auch Nawrocka: Verlagssitz, S. 144. Zur Deutschen Zentral-Buchhandlung siehe auch die ergänzenden Hinweise in Kap. 6.1 Distributionsstrukturen und 6.2 Sortimentsbuchhandel. 789 Siehe u. a. Dennis Hevesi: Axel Rosin, 99, Longtime Head of the Book-of-the-Month Club, Dies. In: New York Times v. 28. März 2007 [online].
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zionismuskritische, sich der Hebraisierung widersetzende Aktivitäten bekämpfte.790 Dieses Komitee war dann auch an der im April 1943 erfolgten Gründung der Lepac791 beteiligt, die sich – unterstützt von der Kommunistischen Partei Palästinas – zur Aufgabe stellte, die kulturellen Beziehungen zur Sowjetunion zu pflegen. Bei der Lepac handelte es sich im Grunde um eine Buch- und Zeitschriftenimport-Agentur, die sich aber nach außen hin als ein »Kreis der Bücherfreunde« präsentierte und in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa örtliche Buchklubs gründete sowie zwei Zeitschriften herausgab. Die Notwendigkeit einer solchen Gründung wurde wie folgt beschrieben: Der Krieg hat das geistige Palästina vom Zugang zu den literarischen Quellen der Welt abgeschnitten, die gerade jetzt immer stärker zu fließen beginnen. Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, die früher jedem verhältnismäßig billig erreichbar waren, kommen heute nur noch in einzelnen Exemplaren oder gar nicht mehr ins Land, während andererseits das Interesse an allem, was an geistigen Strömungen der Weltliteratur ans Tageslicht drängt, naturgemäß auch hier im Lande immer größer wird. Hier will der Kreis der Bücherfreunde dem geistigen Palästina eine neue Möglichkeit schaffen. Der Kreis der Bücherfreunde will monatlich ein internes Bulletin unentgeltlich für seine Abonnenten herausgeben, das in konzentrierter Form wertvolle Publikationen aus verschiedenen Ländern bringen wird, die einer Klärung der aktuellen Zeitprobleme dienen. […] Der Kreis der Bücherfreunde wird seinen Abonnenten alle literarischen Publikationen der Levant Publishing Co. Ltd. ebenso wie die aus dem Ausland importierten Bücher und Zeitschriften zu erheblich ermäßigten Preisen zugänglich machen.792 Als internes, kostenloses deutschsprachiges Nachrichtenorgan für die Lepac-Mitglieder erschien 1943‒1945 die Zeitschrift Chug. Kreis der Bücherfreunde mit acht Nummern (ab der Nummer 9 wurde sie fortgesetzt u. d. T. Heute und Morgen – Antifaschistische Revue) unter der Redaktion von Arnold Czempin793 und dem Österreicher Ludwig Biro;
790 Vgl. Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina, S. 581‒587. 791 Es handelt sich hier um die Abkürzung von Levant Publishing and Co. Ltd. 792 Hier zit. n. Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina, S. 582 f. 793 Arnold Czempin* (1887 Berlin − 1974 New York) hatte 1917 bis 1923 als Schauspieler in über zwanzig UFA-Filmen mitgewirkt und war Mitglied der linken Theatergruppe »Die Mausefalle« unter Gustav von Wangenheim. Nach 1933 ging er nach Palästina und beteiligte sich in Tel Aviv am Lampengeschäft Goldschmidt & Schwabe, in dem er auch Lesungen, u. a. von dem und für den mit ihm befreundeten Arnold Zweig, organisierte. Czempin, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der deutschen Immigrantengruppe in Palästina, könnte – wie er das bereits bei der Zeitschrift Orient getan hatte – auch die Aktivitäten des »Kreises der Bücherfreunde« finanziert haben. In Chug schrieb er unter dem Pseudonym »Paratus«. Czempin ging später in die USA und brachte dort seine Lebenserinnerungen im Selbstverlag heraus (Mein Repertoire. New York 1969), in denen er u. a. seine problematischen Erfahrungen in Palästina thematisierte. Vgl. zu Czempin auch Loewy: Zwischen den Stühlen; Stimmen aus Jerusalem, S. 38 f.; Shiloh-Dayan: On the Point of Return. Heute und Morgen and the German-speaking Left-Wing Émigrés in Palestine.
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mit redaktionellen Arbeiten war auch Ernst Loewy betraut. Die Zeitschrift informierte über (bevorstehende) Neuerscheinungen und die aktuelle Literaturentwicklung, grundsätzlich aus kommunistisch-antifaschistischer Perspektive und mit ebensolchen Schwerpunktsetzungen. Außerdem erschien bei der Lepac eine hebräischsprachige Zeitschrift Chug, die aber bald mit der deutschsprachigen zusammengelegt wurde. Der Buchklub der Lepac in Tel Aviv ordnete sich in eine lebendige, von der Konkurrenz verschiedener Literatur- und Lesezirkel gekennzeichnete Szene ein.794 In Haifa wurde im Mai 1944 »eine freie antifaschistische Lesehalle Chug eröffnet, in der die deutschsprachigen antifaschistischen Zeitschriften und Bücher aus den antifaschistischen Verlagen, vornehmlich die aus der Sowjetunion, auslagen.«795 Von den örtlichen Buchklubs der Lepac, in denen regelmäßig deutschsprachige Veranstaltungen abgehalten wurden, hat aber der Jerusalem Book Club die größte Bedeutung gewonnen. Geleitet von Louis Fürnberg und dem in der palästinensischen KP führend tätigen Wolfgang Ehrlich*,796 der u. a. mit Arnold Zweig und Else Lasker-Schüler befreundet war, fanden im Jerusalem Book Club über fast fünf Jahre hinweg wöchentliche Zusammenkünfte von Schriftstellern und Intellektuellen statt, auf denen über politische, wirtschaftliche, philosophische und literarische Themen diskutiert wurde. Im Februar 1944 veranstaltete er zum 75. Geburtstag von Else Lasker-Schüler eine Feierstunde, auf der u. a. auch Martin Buber sprach: »Es gab danach eine Diskussion, und die Teilnehmer meinten, es wäre ihre alte Diskussion aus dem Romanischen Café in Berlin.«797 Welche konkreten Erfolge im Bereich des begünstigten Buch- und Zeitschriftenbezugs erzielt wurden – der eigentlichen Hauptfunktion einer Buchklub-Organisation –, ist nicht bekannt.
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Leihbibliotheken
Der gewerblich betriebene Leihbuchhandel war im 19. und in veränderten Formen auch im 20. Jahrhundert im Literaturbetrieb von erheblicher Bedeutung,798 und namentlich in den Jahren vor 1933 hat der Typus der »modernen Leihbibliothek« raschen Aufschwung und enorme Popularität erfahren.799 Von daher erscheint es verständlich, dass das Thema Leihbibliothek auch den Emigranten vor Augen stand und von ihnen auf vielfältige Weise aufgegriffen worden ist. Insbesondere ist aus dem Verleihen von Büchern gegen
794 Vgl. etwa die Hinweise bei Grab: Der Kreis für fortschrittliche Kultur in Tel Aviv (1942‒ 1946), bes. S. 399. 795 Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina, S. 584. 796 Zu Ehrlich siehe Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina, S. 585; Laqueur: Geboren in Deutschland; Viera Glosiková: »…Es wäre sehr hübsch und gar nicht paradox, wenn mir Prag zu einer Premiere verhelfen würde…«. Einige Bemerkungen zur Beziehung Arnold Zweigs zu den deutschsprachigen Autoren aus der Tschechoslowakei. In: Brücken-Jahrbuch 2006, S. 245‒262 [online]. 797 Hoffmann u. a.: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina, S. 585. 798 Vgl. Martino: Die deutsche Leihbibliothek. 799 Fischer: Leihbuchhandel und Lesezirkel.
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Entgelt für viele, die einen Teil ihrer Privatbibliothek oder wenigstens einen Koffer mit Büchern mit ins Ausland retten konnten, eine erste, wenngleich meist sehr bescheidene Einkommensquelle entstanden. Als ein Exempel für das Überbrücken einer einkommenslosen Situation durch das Verleihen der in die Emigration mitgebrachten Bücher kann Joseph Lang* (1902 Erkenez/Österreich-Ungarn – 1973 Frankfurt a. M.) dienen, der in Berlin als Buchhändler gearbeitet hatte und – politisch auf der Linken engagiert – nach seiner Flucht im Februar 1934 von der ČSR aus zunächst als Reisender für die deutschen Exilverlage Oprecht, Allert de Lange und Bermann-Fischer tätig war, sich aber nach seiner Weiterflucht nach Paris seinen Lebensunterhalt verdienen musste, indem er, mit einem Bauchladen unterwegs, Bücher an deutsche und österreichische Emigranten verlieh.800 Darüber hinaus haben zahlreiche Exilbuchhändler von der im deutschen Buchhandel immer schon geübten Möglichkeit Gebrauch gemacht, neben dem Sortimentshandel eine Leihbibliothek zu betreiben. Über solche Kombinationen ist im Kapitel Sortimentsbuchhandel schon manches berichtet worden; im Folgenden sollen daher in erster Linie einige charakteristische Erscheinungsformen des Leihbuchhandels vorgestellt werden, wie sie an unterschiedlichen Zentralorten des deutschsprachigen Exils entstanden sind.
Frankreich: die Librairie Eda Im Pariser Exilmilieu war mit der Librairie Eda, bei der es sich allerdings nicht eigentlich um eine Emigrantengründung handelte, eine besondere Spielart der Leihbibliothek entstanden. Die Französin Hélène Kra801 hatte im Mai 1933 in der Rue Blanche ihren Laden eröffnet, der auf nur 40 qm Fläche Schreibwaren, ein Buchsortiment und eine Leihbibliothek mit tausenden Titeln in deutscher, englischer und französischer Sprache anbot 802 und in engem Konnex mit der Emigration stand, insofern diese einen Großteil ihres Publikums bildete. Aus diesem Grund schaltete die Librairie im Pariser Tageblatt (PTB) bzw. in der Pariser Tageszeitung (PTZ) Werbeinserate und stellte der Zeitung gelegentlich auch Rezensionsexemplare zur Verfügung;803 zudem stand sie in Geschäftskontakt mit dem Amsterdamer Allert de Lange Verlag. Der Leihbibliotheksbestand umfasste im September 1933 erst rund 2.300 Bände, im November 1936 aber bereits 28.000
800 Lang hatte sich nach Ausschluss aus verschiedenen kommunistischen Gruppierungen 1932 der SAPD angeschlossen. Nach Verhaftung 1933 und Entlassung aufgrund seiner ungarischen Staatsangehörigkeit – der damals als Verlagsvertreter tätige Fritz Picard soll ihn wochenlang in seiner Wohnung vor den NS-Behörden verborgen gehalten haben – gelang ihm die Ausreise in die ČSR, wo er neben seiner beruflichen Tätigkeit auch Leiter des Auslandsbüros der SAPD wurde. Auch in Frankreich war er in der SAPD-Auslandsleitung aktiv. 801 Hélène Kra, geboren 1900 in Paris, war Tochter des Avantgarde-Verlegers Simon Kra, der 1884 von Frankfurt a. M. nach Paris emigriert war und 1919 in Paris den Verlag Simon Kra – Le Sagittaire gegründet hatte, der v. a. Werke der französischen Surrealisten herausbrachte. Hélène Kra arbeitete auch als Übersetzerin, u. a. von Adrienne Thomasʼ Die Kathrin wird Soldat. Zu Kra und zur Librairie Eda vgl. Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld, S. 106 f., mit genauen Angaben. 802 Vgl. Enderle-Ristori, S. 106 f. Einer Werbeanzeige in der aktion (1. Jg. Nr. 30 v. 23. November 1933, S. 5) zufolge dürfte es kurzzeitig auch eine Filiale gegeben haben. 803 Vgl. Enderle-Ristori, S. 106 f.
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deutsch-, französisch- und englischsprachige Titel, was jedenfalls auf eine stark ansteigende Frequenz schließen lässt.804 Und nicht zuletzt war der Leihbücherei schon seit 1934 im ersten Stock ein Teesalon angegliedert, für den sie im PTB mit dem Anspruch warb, »den besten Kuchen« in Paris zu servieren; ab 1936 wurde zusätzlich ein Mittagessen angeboten: »Literarische und speziale Aktivität der Buchhandlung waren auf diese Weise eng verknüpft«.805 1939 wurde die finanzielle Lage der Librairie Eda prekär,806 und nach der Okkupation drohte der Verlust des Geschäftes. Durch vorausschauenden Verkauf an eine »arische« Freundin und verschiedene juristische Tricks gelang es Hélène Kra jedoch, die »Arisierung« zu verhindern.
Italien: der Circolo Librario des Ehepaars Schlesinger Den klassischen Typus einer Leihbibliothek realisierte im italienischen Exil das Ehepaar Schlesinger.807 Gerhard Schlesinger* (1906 Auschwitz / Oswiecim / Polen – 1998 London) hatte eine Buchhändlerlehre bei Julius Hainauer in Breslau absolviert, wo er seine spätere Frau Hilde Weissenberg (1907 in Kreuzenort b. Ratibor, Oberschlesien – 1993 Harrow, London) kennenlernte; sie heirateten 1929 und ließen sich in Berlin-Tempelhof nieder. Als Schlesinger im Januar 1934 als Jude seine Anstellung in der Berliner Gutenberg-Buchhandlung verlor, emigrierten die Eheleute noch im April nach Italien, wo es damals noch wenig Antisemitismus und günstige Arbeitsbestimmungen gab, und gründeten in Mailand eine deutsche Leihbücherei, den Bücherkreis (Circolo Librario).808 Nach bescheidenen Anfängen in einem kleinen Apartment mit ein paar hundert mitgebrachten deutschen Büchern, einem Fahrrad zur Auslieferung und einem Telefon, für das in Italien bei Ortsgesprächen lediglich Miete zu zahlen war, zog die Leihbücherei
804 Die erstere Zahl nach einem im Archiv der PTZ erhaltenen Katalog; die letztere nach einer Werbeanzeige in der PTZ vom 4. November 1936; genauere Angaben hierzu bei EnderleRistori: Markt, S. 106. 805 Enderle-Ristori, S. 107. 806 Laut Geschäftsbilanz betrug der Reingewinn 1938 rund 23.000, 1939 nur mehr 4.000 Francs. Der Teesalon hatte 1938 31.700, 1939 noch 19.400 Francs Gewinn abgeworfen, der das Manko der Leihbibliothek (8.500 Francs 1938, 15.000 Francs 1939) kompensierte. Die Zahlen belegen, wie sehr die Leihbibliothek auf das Emigrantenpublikum ausgelegt war. Die Verkaufsakte vom 15. Mai 1941 beziffert den Bestand der Leihbibliothek auf 5.300 französische und 5.850 deutsche und englische Titel; im Januar 1944 soll der Katalog sogar 7.000 französische, 6.000 deutsche und 5.000 englische Titel für ca. 500 Abonnenten umfasst haben (Enderle-Ristori, S. 106). 807 Zur Quelle der folgenden Ausführungen: Gerhard Schlesinger bzw. Gerhard Gerrard hat sich auf einen 1992 im New Yorker Aufbau erschienenen Aufruf hin beim Verf. gemeldet und in Briefen über sein Leben berichtet, darüber hinaus auch weiteres Material zur Verfügung gestellt, darunter autobiographische Aufzeichnungen seiner Frau: Hilde Gerrard: We were lucky. [unveröffentlichtes Typoskript]; außerdem einen Catalogo del Circolo Librario. Der Bücherkreis. Mailand [1935]. 808 Zur Gründung des Circolo Librario schrieb Gerrard: »Dort waren Tausende von Emigranten und eine grosse Kolonie von Deutschen, Schweizern usw. Es war anfangs nicht einfach, wurde aber bald recht erfolgreich und [ich] fügte dem Geschäft einen Buchverkauf zu. Wir lebten dort fünf Jahre und waren sehr bekannt, auch als soziales Zentrum«.
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Abb. 32: Der jährlich erscheinende Katalog des Circolo, der durch zahlreiche Anzeigen von emigrierten deutschen Ärzten oder z. B. eines »Wiener Mittagstisches« finanziert wurde, erfüllte – wie die Leihbücherei selbst – auch eine Kommunikationsfunktion in der Mailänder Exil-Community.
bald ins Zentrum von Mailand um und vergrößerte rasch ihre Auswahl an Romanen (auch Kriminalromanen), Reisebeschreibungen, Jugendschriften oder Sprachlehrbüchern. Der Circolo Librario bot monatliche und vierteljährliche Abonnements von Büchern an bei freier Lieferung nach Hause inklusive Wiederabholung. Daneben war eine wöchentliche Ausleihe im Geschäft möglich; für außerhalb von Mailand wohnende Leser gab es Sonderkonditionen. Angeboten wurden neben deutschsprachigen Büchern und Kinderliteratur auch Fachzeitschriften und ausländische Zeitungen, darunter die Times, die Neue Zürcher Zeitung, das Berliner Tageblatt, das Neue Wiener Journal und die Jüdische Rundschau; 1935 konnte der jährlich erscheinende Katalog um englische, französische und italienische Literatur erweitert werden. Nach Anlaufschwierigkeiten florierte das Unternehmen, worauf hin zusätzlich mit dem Buchverkauf begonnen wurde: Im kleineren Ausmaß versorgten die Schlesingers auch den italienischen Buchhandel mit deutscher, zum Teil verbotener Exilliteratur, so dass das Deutsche Konsulat mit Boykott und Beschlagnahmung drohte.809 Der Circolo Librario wurde für die zahlrei809 Siehe dazu auch Vertrauliche Mitteilungen der Fachschaft Verlag 15/1936: Mailand, Bücherkreis.
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Abb. 33: Ausschnitt aus dem Lebensbericht We were lucky von Hilde Gerrard (Schlesinger) über die Anfänge des Circolo Librario (unveröffentlichtes Typoskript).
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chen Emigranten aus Deutschland und Österreich immer mehr zu einer Anlaufstelle und einem sozialen Knotenpunkt, so wurden etwa mit großem Zuspruch auch »Fahrten ins Blaue« organisiert. 1937 zog Hilde Schlesinger aufgrund gesundheitlicher Probleme ihrer Kinder nach Siusi in den kühleren Norden, wo sie vorübergehend mit dreihundert deutschen Büchern aus Mailand eine kleinere Bibliotheca Circolante eröffnete; im September war die Familie wieder in Mailand vereint. Als Mussolini im Oktober 1938 auf Druck Hitlers hin eine Ausreiseanordnung für alle nach 1911 eingewanderten Juden erließ, befanden sich die Eheleute in der Zwangslage, innerhalb eines halben Jahres ein neues Asylland zu finden. Mit Hilfe des PEN-Clubs flüchtete die Familie nach England, wodurch sie allen nicht transportablen Besitz verlor; das Geschäft konnte an einen italienischen Interessenten verkauft werden (der Circolo bestand danach noch längere Zeit). Da sie das für die Einreisebewilligung erforderliche Kapital dennoch nicht aufbringen konnte, mussten sich die Eheleute Schlesinger als Hausangestellte verdingen. Im Mai 1940 kam Gerhard Schlesinger für zehn Monate in Internierungshaft auf der Isle of Man, seine Entlassung verdankte er einer Bestätigung Fritz H. Landshoffs, die besagte, dass er unter den Mailänder Buchhändlern antinationalsozialistische Literatur verbreitet hatte. Nach dem Krieg eröffneten die Schlesingers – als Ausländer mittels eines englischen Geschäftspartners und Direktors – in der nordenglischen Kleinstadt Colne eine Buch- und Schreibwarenhandlung, der sie nach einigen Jahren eine Filiale in Nelson angliedern konnten. Daneben begann das Ehepaar Schlesinger, das inzwischen seinen Nachnamen in Gerrard geändert hatte, eine verlegerische Tätigkeit, indem es Bücher von regionalem Interesse und Wanderführer publizierte. Bei Gerrard Publications erschien eine insgesamt 40 Bände umfassende Wanderrouten-Reihe »Walks for Motorists« zu landschaftlich reizvollen Gegenden Englands. 1971 erfolgte der Verkauf der Buchhandlung; 1974 siedelten die Gerrards nach London über, von wo aus sie den Verlag bis zum Verkauf an Frederick Warne (Publishers) Ltd. um 1980 weiter führten; Gerrard blieb ihm aber noch einige Jahre in beratender Funktion verbunden; später übernahm der Penguin-Konzern den Verlag.
Großbritannien: die Leihbibliothek des Fritz Gross Ein besonderer Nimbus umgibt die Leihbücherei, die Fritz Gross* (1897 Wien – 1946 London) im Londoner Exil betrieben hat. Seit Jugendtagen politisch aktiv (so auch für kurze Zeit als Aktivist in den Arbeiter- und Soldatenräten des »Roten Wien«),810 war Gross nach Heidelberg zum Studium, das allerdings sehr bald mit seiner Relegation endete, und anschließend nach Berlin gegangen, wo er 1918 Mitglied der KPD wurde; in der Folge engagierte er sich in linken politischen Gruppierungen wie dem BPRS und der Internationalen Arbeiter-Hilfe. 1920 schloss er die Ehe mit Babette Thüring, als Babette Gross später Mitarbeiterin und Lebensgefährtin von Willi Münzenberg; ein gemeinsamer Sohn Peter kam 1923 zur Welt. Seit 1921 lebte Gross als Buchhändler in Frankfurt am Main. Nach der Trennung von seiner Frau ging er nach Hamburg, wo er
810 Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 255 f.; Brinson / Malet: Fritz Gross: An Exile in England.
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Abb. 34: Die erste Seite der maschinenschriftlichen »List of Books« der Leihbibliothek von Fritz Gross in London (o. D.). Die Liste umfasste auf 35 Seiten nahezu 2.000 Titel aus unterschiedlichsten Bereichen.
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im pazifistischen Umkreis von Magda Hoppstock-Huth (»Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit«) tätig wurde. Während dieser Zeit wurde er wegen angeblich trotzkistischer Umtriebe aus der KPD ausgeschlossen. Nach der NS-»Machtergreifung« emigrierte Gross nach England und nahm bald seinen Wohnsitz in London 3, Regent Square, Bloomsbury; an dieser legendären Adresse wohnte eine ganze Reihe pazifistischer und sozialdemokratischer Emigranten aus dem Freundeskreis von HoppstockHuth. Gross, dessen Großzügigkeit und Kultiviertheit aus vielen Zeugnissen überliefert ist, betrieb im Kellergeschoß des Hauses mit seiner eigenen, rund 4.000 Bände umfassenden Büchersammlung eine Leihbücherei mit Antiquariat, die u. a. von den Schriftstellern Hans Flesch-Brunningen, Karl Otten und Erich Fried aufgesucht wurde.811 1936 gab Gross zusammen mit Abraham Weiner die Anthologie Modern German Verse heraus. Von April 1933 bis 1940 verfasste Gross in deutscher Sprache eine vierzehntägliche Kolumne im Spectator zu deutschen Themen. Daneben publizierte er Artikel u. a. in der Contemporary Review und im Aufbau. Gross verkehrte in Kreisen wie dem Freien Deutschen Kulturbund, später in dessen nicht-kommunistischer Abspaltung Club 1943, sowie im deutschen Exil-PEN. Überdies bemühte er sich Anfang 1942 um einen übernationalen, unpolitischen Zusammenschluss eines »European Club«, der sich schon den Fragen einer Nachkriegsordnung stellen sollte. Aus der Internierung als »enemy alien« wegen eines Herzleidens rasch freigekommen, initiierte Gross aus Solidarität mit den weiterhin internierten Kameraden einen Aufruf, eine »Anthology of Internment Culture« herauszubringen, die Zeugnis ablegen sollte »für die kulturelle Leistungsfähigkeit emigrierter Mitteleuropäer«; Adressaten dieses Aufrufs waren Gruppierungen wie das Austrian Centre, der Czech Refugee Trust Fund und der Freie Deutsche Kulturbund. Nach dem frühen Tod Fritz Gross’ 1946 verkaufte sein Sohn Peter Gross die Bibliothek an die »Allied Control Commission for Germany«, die Bibliotheken in Deutschland mit Exemplaren der von den Nazis »verbrannten Bücher« aufstockte.812 In diesem Zusammenhang sollte auch die Bibliothek des 1939 auf kommunistische Initiative in London gegründeten Freien Deutschen Kulturbundes Erwähnung finden,813 die von der Wirtschaftswissenschaftlerin Marguerite Kuczynski* (1904 Bischheim – 1998 Berlin) bis zur ihrer Remigration nach Berlin 1947 geleitet wurde.814 Der Freie Deutsche Kulturbund entfaltete einige Jahre lang ein reges kulturelles Leben, zu dem auch viele nichtkommunistische Schriftsteller, Künstler und Theaterleute wie Alfred Kerr oder Oskar Kokoschka beitrugen, bis es 1943 zur Abspaltung des »Clubs 1943« kam.815
811 Vgl. hierzu Brinson / Malet: The House at 3 Regent Square. 812 Teilnachlässe von Fritz Gross werden in der Wiener Library (London), im Exilarchiv der DNB (Frankfurt am Main) und im DLA aufbewahrt. 813 Siehe Kuczynski: Über die Bibliothek der deutschen Emigranten in London. 814 Neuhaus / Sperl: Marguerite Kuczynski 1904–1998, S. 247 f. 815 Brinson / Dove: Politics by Other Means: The Free German League of Culture in London 1939‒1946.
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Palästina, ein Leihbücherei-Paradies? Besondere Bedeutung gewannen Leihbüchereien in Palästina.816 In dem noch weitgehend agrarisch bestimmten Land gab es für die nach 1933 eingewanderten deutschen und österreichischen Juden – viele von ihnen akademisch gebildet – kaum adäquate berufliche Betätigungsmöglichkeiten, zumal dieser von nationalsozialistischer Vertreibung ausgelösten Immigrationswelle in das britische Mandatsgebiet schon jene vorausgegangen war, die im Zeichen des Zionismus das »Land der Väter« besiedelt hat. Zahlreiche der Neu-Einwanderer suchten daher, die von ihnen mitgebrachten Bücher – das konnte ein Koffer voll sein oder auch ein ganzer »Lift« (Container) – zur Grundlage des Gelderwerbs zu machen. Dazu kam noch ein psychologisches Moment: »Der Handel mit Büchern war selten lukrativ, doch er ermöglichte, sich weiterhin mit Kultur zu umgeben, versprach symbolisches Kapital und fing das Empfinden des sozialen Abstiegs auf.«817 Bibliophilen, die Teile ihrer vielfach wertvollen Buchbestände mitbringen konnten, mochten die Errichtung eines Antiquariats in Erwägung ziehen; andere, die weniger anspruchsvollen Lesestoff mitgenommen hatten, begannen mit dem Verleih der Bücher, um sich ein Zubrot zu sichern – was insofern aussichtsreich war, als sich nur relativ wenige Immigranten die hochpreisigen importierten Bücher leisten konnten. Vor allem in Tel Aviv, einer Stadt, die erst 1909 gegründet worden war, als Zentrum der Einwanderung 1947 jedoch bereits 230.000 Einwohner hatte, gab es Straßenzüge, in denen sich Buchläden und eben auch Leihbüchereien eng aneinander reihten. Eine von Erwin Lichtenstein stammende Schilderung dieser besonderen Situation wurde bereits in der Darstellung zum Sortimentsbuchhandel wiedergegeben,818 da aber Lichtenstein selbst ein wenn auch zeitlich eher spätes, so doch sehr charakteristisches Beispiel als Betreiber einer Leihbücherei in Tel Aviv repräsentiert, soll er hier genauer vorgestellt werden. Erwin Lichtenstein* (1901 Königsberg – 1993 Kfar Shmarjahu / Israel) hatte bereits als angesehener junger Rechtsanwalt in Königsberg in der Kanzlei seines Vaters gearbeitet, als diese im April 1933 wegen antisemitischer Repressalien geschlossen werden musste.819 In Danzig als Syndikus der jüdischen Gemeinde aktiv mit der Organisa-
816 Diese Szene wird auf exemplarische Weise von Caroline Jessen in ihrer Studie Kanon im Exil vorgestellt und analysiert (Jessen: Kanon im Exil, bes. S. 74–80). 817 Jessen, S. 72. 818 Siehe den Beginn des Abschnitts Palästina im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel. 819 Der folgende Abschnitt beruht auf einem Interview des Verf. mit Erwin Lichtenstein am 22. Oktober 1992 in Kfar Shmarjahu / Israel und dem Briefwechsel des Verf. mit Erwin Lichtenstein und seiner Tochter Ruth Shany 1992 bis 1993. Darüber hinaus hat Lichtenstein. unter dem Titel Rückblick auf 80 Jahre einen Bericht über sein Leben und seine berufliche Tätigkeit verfasst und 1982 an Freunde versandt, unter ihnen Günter Grass, der dann die Drucklegung des Berichts bei Luchterhand veranlasste: Erwin Lichtenstein: Bericht an meine Familie. Ein Leben zwischen Danzig und Israel. Mit einem Nachwort von Günter Grass. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand 1985. Siehe außerdem: Ruth Shany geb. Lichtenstein. In: Die Jeckes. Deutsche Juden aus Israel erzählen, S. 219‒223.
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tion der jüdischen Emigration befasst, gelangte er im September 1939 mit dem letzten Flüchtlingsschiff nach Palästina. Er eröffnete am 1. Januar 1940 auf der Ben-JehudaStraße in Tel Aviv die »Leihbücherei Mendele« für deutsche Bücher, als deren Inhaber er bis ca. Anfang 1950 firmierte: Als ich herkam, habe ich nicht sofort beschlossen, eine Leihbücherei zu machen, sondern ich habe mich beraten mit Freunden, die wir hier hatten (es waren eine ganze Menge, v. a. Ärzte), und die sagten: Hör mal zu, es gibt zwar schon in derselben Straße Leihbüchereien, von einer Frau Schragenheim z. B. in der Ben YehudaStraße oder von Zadek – der hat ja auch Bücher verliehen –, aber du könntest doch versuchen, das zu machen. Und da habe ich einen halben Laden gemietet, die andere Hälfte hatte ein Fotograf inne. Ich habe also den vorderen Teil gehabt und er war hinten. Das war, meine erste Möglichkeit und es gab eine ganze Reihe von Leuten, die immerhin interessiert waren, wieder einmal was Neues zu sehen, und insofern war ich ganz zufrieden.820 Lichtenstein musste sich also den Raum mit wechselnden Mietern teilen, eine damals nicht ungewöhnliche Vorgangsweise unter Palästina-Immigranten, die ihre Geschäftskosten minimieren mussten.821 Da er den größten Teil seiner privaten Büchersammlung in Danzig »verschleudert« hatte, musste er vieles neu beschaffen;822 für hebräischsprechende Kunden – unter ihnen auch Schriftsteller – konnte er die Hilfe einer Verwandten in Anspruch nehmen. Da gerade viele ältere gebildete Einwanderer keine Beschäftigung fanden und Buchlektüre für sie ein elementarer Teil des Tagesablaufs war, gab es in Palästina durchaus großen Bedarf an Lesestoff. Aufgrund der so zahlreichen Neugründungen von Leihbüchereien und Buchläden kam es aber, trotz relativ großer Nachfrage, zu einer starken Zersplitterung des Leser- und Käuferinteresses. Um jedes dieser Geschäfte herum bildete sich ein Stammpublikum: Wir fanden ziemlich schnell einen Kreis von Menschen, mit denen wir jahrelang in Verbindung blieben. Darunter befanden sich natürlich viele, die uns von früher her kannten, aber es gab auch etliche Leser, die mal eine andere Bücherei ausprobieren wollten. Einige waren Kunden des Strickgeschäfts, mit dem wir in Symbiose lebten. Da kamen Akademiker, die fast täglich einen neuen Kriminalroman brauchten, Frauen, die nur an Liebesromanen interessiert waren, und wenn die Mandatsmacht wie-
820 Aus dem Interview des Verf. mit Erwin Lichtenstein 22. Oktober 1992 in Kfar Shmarjahu / Israel. 821 Vgl. hierzu Jessen: Kanon im Exil, S. 76: »Die Leihbibliotheken blieben trotz der angesprochenen Professionalisierungsbestrebungen in mehrfacher Hinsicht Provisorien und Übergangsgebilde. Geräumige Ladenräume waren Luxus, und mitunter wurden sie zur möglichst intensiven Ausnutzung aufgeteilt«. 822 Bei der Einrichtung der Leihbücherei behilflich war Alexander Melnik* (geb. 1899 Berlin), der 1920 bis 1926 Teilhaber der Buchhandlung von Ferdinand Ostertag gewesen war und sich nach seiner 1933 erfolgten Auswanderung als Werbefachmann in Tel Aviv betätigte. Vgl. Lichtenstein: Bericht an meine Familie, S. 115; Thöns / Blank: Librairie Au Pont de l’Europe, S. 45 f., 58 f., 64–66.
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der einmal einen Curfew verhängte, versorgten sich viele mit einem Vorrat an geistigem Proviant.823 Für Lichtenstein ergab sich aus dem Impuls heraus, die Interessen innerhalb der Kollegenschaft besser zu organisieren, nach zehn Jahren ein neues Betätigungsfeld: Nach 1950 arbeitete er als Anwalt für die israelischen Importbuchhändler, die sich zu einer Organisation, der Foreign Book Trade Association zusammenschlossen, mit Saul Klier*, Inhaber des ABC Library & Book Store in Tel Aviv, als langjährigem Vorsitzenden. Lichtenstein vertrat in deren Vorstand die Sparte Leihbibliothek, die sich in Israel zu einem wichtigen Faktor im fremdsprachigen Buchhandel entwickelt hatte, denn wer in diesem Metier konkurrenzfähig bleiben wollte, musste seine mitgebrachten Bestände durch laufende Anschaffung von Neuerscheinungen attraktiv halten. In der Tat war die Zahl der Leihbüchereien und der Buchhandlungen mit angeschlossener Leihbücherei824 in Palästina sehr groß, und blieb groß auch nach Gründung des Staates Israel. Auch die alteingesessene Buchhandlung Ludwig Mayer betätigte sich im Leihbuchhandel, und sie brachte sogar für ihre Kunden kurzzeitig ein eigenes Mitteilungsblatt dazu heraus, Maylibra, hektographisch vervielfältigt im Verlag von Peter Freund* in Jerusalem.825 Auch außerhalb der größeren Städte kam es zu zahlreichen Neugründungen; so etwa führte Marietta Berger* (1908 Berlin – 1999 Netanya) mit ihrem Ehemann, dem Rechtsanwalt und Archäologen Fritz Berger (1902 Chemnitz – 1988 Netanya) nach ihrer Flucht nach Palästina 1940 eine private Leihbibliothek in Netanya, von wo aus sie auch kleinere Orte und Siedlungen mit Büchern versorgten.826 Der als streng orthodox beschriebene Emigrant Goldmann führte eine Leihbücherei und Buchhandlung in Petach Tikwah; im Geschäft tätig war auch Dr. Grünewald, der später Rabbiner in München wurde.827 Eine thematisch spezialisierte Leihbücherei unterhielt in Tel Aviv Richard Pokorny. Ursprünglich Rechtsanwalt in Wien, Verfasser mehrerer juristischer Fachbücher und persönlich an psychologischen Studien interessiert,828 war es ihm nach seiner Emigration nach Palästina nicht möglich, seinen Beruf als Jurist auszuüben, und da er seine umfangreiche Privatbibliothek nach Palästina retten konnte, richtete er – wie sein Freund, der
823 Lichtenstein: Bericht an meine Familie, S. 116. 824 Diese sind im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel näher behandelt und werden hier nicht noch einmal vorgestellt. 825 Maylibra. Catalogue and news about books, issued by Mayer’s Lending Library (M.L.L.). Jerusalem: Freund 1941 f. Siehe dazu auch Jessen: Kanon im Exil, S. 77: »Das dreisprachige Blatt Maylibra widmete sich vor allem Belletristik und politischer Fachliteratur in englischer Sprache. Im Kleinanzeigenteil suchten und offerierten die Leihbibliotheken und Antiquariate aber viele gebrauchte deutsche Bücher.« Jessen zufolge sollte Maylibra außerdem »das fehlende Fachorgan ersetzen«: »Hier wurden Neuerscheinungen rezensiert, themenbezogene Leselisten aufgestellt, Büchergesuche veröffentlicht und Branchenfragen diskutiert.« (S. 74). 826 Interview des Verf. mit Erwin Lichtenstein, 22. Oktober 1992 in Kfar Shmarjahu / Isr.; Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941. 827 Brief von Ilse Blumenfeld an den Verf. (1993); Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941. 828 Brief Erwin Lichtenstein an den Verf. vom 21. Oktober 1992.
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Schriftsteller Max Zweig mitteilte829 – auf dieser Grundlage eine Leihbücherei ein, die auf das Thema Psychologie ausgerichtet war. Besondere Expertise entwickelte Pokorny in der Graphologie; hier schuf er faktisch einen neuen Zweig mit der hebräischen Graphologie. Rosa Glücksmann*, die in Berlin hinter dem Alexanderplatz die Buchhandlung Alfred Glücksmann mit Antiquariat und Leihbücherei betrieben hatte, eröffnete nach ihrer Ankunft in Palästina »in der feinsten Wohngegend der Neustadt Jerusalems« von ihrer Wohnung aus eine Leihbücherei, bemerkenswert ob des »köstlichen ›rauhen, aber herzlichen‹ Berliner Tons ihrer Inhaberin«.830 Ebenfalls in Jerusalem eröffnete 1939 Paul Jacoby (1905 Königsberg – 1965 Jerusalem), vor 1933 Lehrer an jüdischen Schulen in Berlin und Breslau, eine Leihbücherei; er war aktives Mitglied der Foreign Book Trade Association.831 In einem von ihr angemieteten Nebenraum der Jerusalemer Buchhandlung Heatid betätigte sich seit 1940 Lotte Jakoby* als Leihbibliothekarin, »um den ›Hunger‹ der lesewütigen deutschen Einwanderer« zu stillen. Als Grundlage diente ihr zunächst die aus Deutschland mitgebrachte Büchersammlung ihres verstorbenen Mannes, später kam populäre deutschsprachige Gegenwartsliteratur hinzu: »Auf dem Schreibtisch von Lotte Jakoby stehen in uralten Holzkästen 4093 Bücherkarten. Auf ihnen finden sich Namen wie Simmel, Marie Louise Fischer, Utta Danella, Kirst, Willi Heinrich und Leon Uris«.832 Ende der 1970er Jahre war dies die letzte deutschsprachige Leihbücherei in Jerusalem. Nach Jessens Befund hatten die Leihbücherei schon bald darauf verzichtet, sich sprachlich abzuschotten: »Obschon nur wenige Leihbibliotheken über mehr als 1.000 ausleihbare Bände verfügt haben mögen, boten sie Bücher in deutscher, englischer, hebräischer und mitunter französischer Sprache an, da die potentielle Kundschaft, vor allem in Jerusalem, divers war. Sie grenzten sich nicht als Enklaven von und für deutschsprachige Einwanderer ab. Zu groß war der öffentliche Integrationsdruck.«833 Palästina ist zweifellos ein Sonderfall, vor allem hinsichtlich der Dichte des Angebots, bei gleichzeitiger Eingeschränktheit der Verhältnisse. Unter dem Druck dieser Verhältnisse soll es
829 Siehe dazu Jessen: Kanon im Exil, S. 72, mit Zitaten aus Max Zweigs Lebenserinnerungen (S. 178‒180): Pokorny sei »vor seiner Emigration zwar ein ›vielbeschäftigter Advokat in Wien‹ gewesen, habe diesen Beruf jedoch in Palästina aufgrund der Zulassungsbestimmungen für Anwälte aufgeben müssen. Weil es ihm gelungen war, seine umfangreiche Büchersammlung aus Wien zu retten und weil er in Wien ›eifrig psychologische Studien betrieben‹ habe, sei es ihm gelungen, ›eine Leihbibliothek einzurichten, welche auf Bücher psychologischen Inhalts zentriert war‹«. 830 So Uri Benjamin (d. i. W. Zadek): Buchhändler in der Emigration II (1971), S. 2941 f. 831 Mdl. Auskunft von Erwin Lichtenstein an den Verf. am 22. Oktober 1992 in Kfar Shmarjahu / Isr.; BHE 1, S. 326 (Art. Jacoby, Konrad Yoram). 832 Bbl. (Ffm) Nr. 69 vom 29. August 1978, S. 1776. 833 Jessen: Kanon im Exil, S. 76, mit dem Hinweis, die Leihbibliotheken hätten sich in dieser Hinsicht klüger verhalten als die deutschsprachigen Zeitschriften [wie Orient], die für ihr Festhalten an der deutschen Sprache abgestraft wurden (S. 77). Wie Jessen an anderer Stelle feststellt, war allerdings – entgegen der von den offiziellen Einwanderungsstellen verfolgten Politik – die Lektüre hebräischsprachiger Bücher unter den deutschsprachigen Immigranten weniger verbreitet.
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unter den Leihbibliotheken auch zu Preisabsprachen gekommen sein, um sich vor den Folgen eines Preiskampfes zu schützen.834 In den meisten anderen Ländern hatten leihbuchhändlerische Unternehmen bessere Chancen, zu expandieren und ausgefeiltere Organisationsformen zu entwickeln, sogar auf dem südamerikanischen Kontinent.
Südamerika: Leihbuchhandel als Zusatzgeschäft Auch in den lateinamerikanischen Zufluchtsländern haben Exilanten ihre aus Europa mitgebrachten Bücher genutzt, um durch deren Verleih gegen Entgelt sich ein (in der Regel sehr geringes) Einkommen zu verschaffen. Jedenfalls aber kann es als ein Spezifikum gesehen werden, dass in Süd- und Mittelamerika den meisten Exilbuchhandlungen neben einem Antiquariat auch eine Leihbücherei angeschlossen war, wie etwa in Quito / Ecuador die Libreria Carlos G. Liebmann* mit dem »Victory Book Club«. Genauso war das auch in Santiago de Chile bei der Libreria Benno Fischer* der Fall oder in Paraguay mit der von Ernesto Stadecker* in Asuncíon errichteten Buchhandlung. In Montevideo / Uruguay war es Peter Nathan*, der 1941 eine Libreria Nueva mit Leihbibliothek und Zeitschriftenverkauf gründete. Das Bücherangebot erstreckte sich sowohl auf deutsch- wie spanischsprachige Bücher, wie zumeist handelte es sich auch hier um Belletristik und populärwissenschaftliche Bücher. Sigfred Taubert stellte bei seinem Lokalaugenschein 1961 in Montevideo fest: »Der Leser- und Kundenkreis setzt sich vorwiegend aus Emigranten zusammen«.835 In Buenos Aires galt dies in ähnlicher Weise für die Libreria Belgrano von Robert Sternau*, die von Katharina Fischer* geführte Libreria Fischer, die Bücherstube Reconquista von Barbara Herzfeld und die Librería Pigmalion von Lili Lebach*.836
Abb. 35: Ausschnitt aus dem Verlagsverzeichnis der Editorial Cosmopolita.
834 So Jessen, S. 77. 835 Taubert: Lateinamerika, S. 139. 836 Siehe hierzu Münster: Librerìas y bibliotecas circulantes de los judíos alemanes en la Ciudad de Buenos Aires.
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Aber auch einem Verlag konnte eine Leihbibliothek angeschlossen sein, wie der Editorial Cosmopolita in Buenos Aires, zu dem freilich auch eine Buchhandlung und ein Antiquariat gehörten. Wie man den Benutzern 1944 in der eigenen Leserzeitschrift Literatura mitteilte, standen mehr als 10.000 Bände zur Verfügung, verschwieg aber auch nicht, dass ein Neuzugang deutschsprachiger Bücher, die damals fast nur noch in der Schweiz herauskamen, nur mit großer Verzögerung erfolgen konnte.837 Ebenfalls in Buenos Aires, aber auf bescheidenstem Niveau, betrieb Arnold Winter* zeitweise eine Sonderform in Gestalt einer »ambulanten Leihbibliothek«, mit Büchern, die er vor allem von vertriebenen deutschen Schriftstellern erwarb; auch seine Kunden rekrutierten sich aus Emigrantenkreisen.838
Die »Biblioteca circulante« der Guttentags in Cochabamba / Bolivien Wieder anders, nämlich sehr professionell geführt, präsentierten sich die Leihbibliotheken von Immigranten im vergleichsweise entlegenen Bolivien. In einem Erinnerungsbuch hat Werner Guttentag* über die Entstehung und Führung seiner Leihbücherei in Cochabamba berichtet: Schon bevor ich die Buchhandlung eröffnete, gab es hier eine Leihbücherei eines österreichischen Kommunisten. Er kehrte später zurück in seine Heimat und hatte dort eine hohe Stellung in der kommunistischen Partei in Wien inne. Meine Frau meint sich zu erinnern, dass er mit Nachnamen Deutsch hieß.839 Er verstand viel von Büchern – und man muss sagen, er hatte eine bildhübsche Tochter. Da es genug Deutsche und Österreicher, sowohl jüdische als auch andere gab, die »Lesekultur« genug besaßen, um auf ihrer Flucht auch Bücher mitzunehmen, kaufte er diese den Emigranten ab. Damals war es kaum möglich zu importieren. Das wäre viel zu teuer gewesen. Als er mir sagte, dass er bald nach Österreich zurückkehren würde, habe ich ihm angeboten, den Laden zu übernehmen. Es muss mir also schon recht gut gegangen sein. Aber er hat abgelehnt, weil ich nicht seiner Partei angehörte.
837 Literatura. Comunicaciones para los amigos del libro / Nachrichten für Bücherfreunde, 2. Jg., Nr. 1, Januar 1944, S. 5. 838 Der aus Wien stammende Arnold Winter war seit Anfang der 1920er Jahre Chef der Buchabteilung im Kaufhaus des Westens (KdW), seine Ehefrau Hertha dort Leiterin der Kinderbuchabteilung. Nach der Geburt des Sohnes Berthold Winter* (Betreiber einer Sprachenbuchhandlung in Buenos Aires, siehe in Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel den Abschnitt Südamerika) gründete er zunächst in Berlin-Charlottenburg, dann in Berlin-Mitte eine eigene Buchhandlung, der später ein Antiquariat und eine Leihbücherei angegliedert wurden. Der »schwarzen Liste« der Nationalsozialisten fiel 1933 ein Drittel des Warenbestandes zum Opfer. Als Winter von der Reichsschrifttumskammer den Befehl erhielt, sein Geschäft bis zum 31. Dezember 1935 zu liquidieren, emigrierte er mit seiner Familie nach Buenos Aires, wo er als Nachtwächter arbeitete, ehe er als Leihbuchhändler tätig wurde (Center of Jewish History / Leo Baeck Institute N.Y. (LBI Archives) [online]). 839 Es handelte sich um den gelernten Buchhändler und KPÖ-Funktionär Julius Deutsch* (1902–1978 Wien), der 1946 aus Bolivien nach Österreich zurückkehrte, um dort Direktor des kommunistischen Globus-Verlags zu werden. Näheres dazu im Kap. 8.1 Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich.
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Aus Wut habe ich dann selbst eine Leihbücherei mit deutschen Büchern nur einen halben Block weiter aufgemacht, in der Perustraße 30, zwischen Espana und 25 de Mayo. Es war ein Wahnwitz, in Bolivien, im spanisch- und quechuasprachigen Cochabamba, am Ende der Welt sozusagen, zwei deutsche Leihbüchereien aufzumachen und das Kuriose daran war, dass beide auch noch recht gut liefen.840 Es gab also auch in Südamerika Orte, an denen Leihbüchereien von Hitleremigranten miteinander im Wettbewerb standen, und die sich mit kundenorientiertem Angebot, professioneller Organisation und Werbemaßnahmen sogar gut entwickelten konnten: Meine Mutter führte die Leihbücherei. Wir konnten ebenfalls billig Bücher kaufen und zwar von den Emigranten, die jetzt begannen, aus Bolivien wegzugehen, vor allem in die USA und nach Israel, aber auch in die Nachbarländer Argentinien, Brasilien und Chile, wo es wesentlich europäischer zuging als hier. In Deutschland selbst gab es diese Bücher nicht mehr. Brecht, Mann, Zweig, Werfel oder Feuchtwanger. Jetzt besaß ich sie alle ganz legal, ohne sie verstecken zu müssen. Ich erinnerte meine Mutter oft daran, dass sie jetzt Bücher von Autoren verlieh, die sie einmal an einem kalten Herbsttag im Kachelofen unserer Wohnung in der Kantstraße verbrannt hatte. Später importierte ich dann deutsche Bücher aus Schweden und der Schweiz, die schon während des Krieges dort gedruckt wurden. Sogar in den Staaten und in Argentinien wurden deutsche Bücher verlegt. Es waren Widerstandsverlage, häufig in jüdischer Hand, die verbotene Schriftsteller publizierten, die im Ausland schrieben. Wir hatten in der Leihbücherei zwei Kartotheken, die eine sortiert nach Buchtiteln und die andere nach Autoren. So konnten wir jedes gewünschte Buch blitzschnell finden, auch wenn wir nur unvollständige Daten hatten. Irgendwo habe ich noch das Einpackpapier mit dem Namen der Leihbücherei. Früher wurden die Bücher noch verpackt, die wir verliehen haben. Wir arbeiteten richtig professionell. Wir hatten sogar einen Schaukasten im Hotel Cochabamba, auf dem mit vergoldete Buchstaben »Los Amigos del Libro« stand und in drei Sprachen: »Leihbücherei«, »Biblioteca circulante« und »Lending Library«, denn wir hatten auch spanische und englische Bücher. Der Schaukasten steht übrigens heute noch in den Büros von »Los Amigos del Libro«. Meine Mutter hatte Spaß an der Arbeit. Sie fing nun auch zu lesen an, um die Bücher empfehlen zu können. […] Sie konnte sehr gut mit den Leuten umgehen. Mir lag das nicht so, obwohl ich gerne Bibliothekar geworden wäre. Ich habe mich doch lieber meinem Buchladen gewidmet.841
840 Gurtner: Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag, S. 327. 841 Gurtner, S. 327 f.
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Buchbesitz und Lesen im Exil
Buchkäufer und -leser Wer hat die Bücher der exilierten Schriftsteller, die Produktion der Exilverlage gekauft, wer hat sie gelesen? Den gesamten potentiellen Abnehmerkreis, nämlich alle der deutschen Sprache mächtigen Menschen außerhalb des Dritten Reiches, hat 1937 der Verleger Wieland Herzfelde mit 30 bis 40 Millionen angesetzt.1 Dass es sich dabei um pure Theorie handelte, war ihm selbst klar. Darüber hinaus veränderte sich die Lage schon nach kurzer Zeit zum Schlechteren hin: Österreich und die Tschechoslowakei – neben den Niederlanden und der Schweiz die wichtigsten Absatzmärkte – fielen bereits 1938 weg, soweit es nicht zuvor schon zu Einfuhrbeschränkungen gekommen war. Mit Kriegsbeginn brach dann der europäische Absatzmarkt zur Gänze zusammen, ohne dass dafür in Übersee Ersatz geschaffen werden konnte. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, den Blick in erster Linie auf das europäische Exil der Jahre 1933 bis 1939 zu richten. Die aussagekräftigsten Daten über Bücherkauf und die tatsächliche Größe des Publikums liefern hier immer noch die durchschnittlichen Auflagenhöhen der deutschsprachigen Exilproduktion, die von Herzfelde als einem kompetenten Beobachter der Situation damals mit 2.250 Exemplaren sicherlich realitätsnah geschätzt wurden – eine Zahl, die aber auch nur bezogen auf die größeren Exilverlage Gültigkeit beanspruchen konnte; die ganz überwiegende Mehrheit der kleineren Verlage lag deutlich darunter.2 Damit ist aber nur eine sehr allgemeine Aussage über eine Kern-Käuferschaft getroffen, zumal nicht wenige Werke der Exilliteratur doch mehr als eine Auflage und manche sogar Bestsellerstatus erreichten. Auch über die Zusammensetzung dieses Publikums lassen sich kaum detaillierte Aussagen treffen. Dass die deutschsprechenden Bevölkerungsteile der verschiedenen Fluchtländer nur zu einem verschwindend kleinen Prozentsatz erreicht werden konnten, wurde bereits angedeutet; gleichwohl dürften sie in Summe einen sehr beachtlichen Anteil der Käuferschaft gestellt haben. Dies lässt sich daraus schließen, dass es keine direkte Kongruenz zwischen den Hauptasylländern und den Hauptabsatzländern gab. Der bereits an anderer Stelle erwähnten Aufstellung zufolge, die der Querido-Verlag zu Arnold Zweigs Roman Erziehung vor Verdun angefertigt hat,3 wurden in Gebieten mit deutschsprachigen Lesern, in Österreich, der Schweiz, der Tschechoslowakei und den Niederlanden im ersten Jahr nach Erscheinen jeweils zwischen 500 und 600 Exemplaren abgesetzt, während im klassischen Exilland Frankreich nur 103 oder in Großbritannien sogar nur 40 Exemplare verkauft werden konnten. Umgekehrt sind in einigen fremdsprachigen Ländern, wo es nur sehr wenige deutsche Exilanten gab, dafür aber deutschstämmige oder deutschsprechende Bevölkerungsgruppen, durchaus nennenswerte Absatzzahlen erzielt worden,
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Herzfelde: David gegen Goliath, S. 56. Herzfelde, S. 56 f. Die tw. sehr viel höheren Auflagenzahlen der UdSSR-Exilverlage können nicht als repräsentativ gelten. Eine genauere Aufstellung dazu bei Walter [Bearb.]: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag, S. 92. Siehe auch die kurze Zusammenstellung in Kap. 5.1 Exilverlage: Typologie, Produktion, Kalkulation.
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z. B. in Polen 105 und in Rumänien 85.4 Wenn die Exilanten selbst nicht die wirtschaftlich bedeutendste Buchkäuferschaft bildeten, so hatte das nachvollziehbare Gründe: Allein schon ihre im Durchschnitt sehr geringe Kaufkraft setzte dem Bucherwerb enge Grenzen (Ausnahmen bestätigen hier die Regel), zumal die Bücher der Exilverlage aufgrund kleiner Auflagen vergleichsweise hochpreisig waren. Die Stillung elementarer Bedürfnisse hatte Vorrang vor jedem »Bücherluxus«. Zudem war Bücherbesitz in dieser von Unsicherheit und Unsesshaftigkeit gekennzeichneten Lebenssituation hinderlich. Viele Emigranten lebten in prekären Wohnverhältnissen, es fehlte schlicht an Raum, um etwaig vorhandenen, mitgebrachten Büchern noch weitere hinzuzufügen. Einige, wie Joseph Roth oder Klaus Mann, nahmen Quartier grundsätzlich nur in Hotelzimmern und hatten allein dadurch schon stark begrenzte Möglichkeiten für Bucherwerb und -besitz. Dass die deutschsprachige Emigration dennoch eine wichtige Zielgruppe darstellte, versteht sich – allein schon als Gemeinschaft der »intendierten Leser«.5 Denn rückblickend auf die Epoche zeigt sich, dass es dem nationalsozialistischen Regime zwar gelungen war, die Verbindungen der vertriebenen Autoren zu ihrem angestammten Publikum in Deutschland fast vollständig zu unterbrechen, dass sich aber in Kompensation des verlorenen gesellschaftlichen Umfelds im Exil ein eigenständiges literarisches Feld herausgebildet hatte, mit der Besonderheit, dass Produzenten und Rezipienten von Literatur in einem beachtenswerten Ausmaß zur Deckung kamen. Das bedeutet, dass die literarische Emigration zu einem beträchtlichen Teil auch ihr eigenes Publikum bildete.6 Die weitgehende Selbstreferentialität des Literaturbetriebs im Exil gehört zu den Gegebenheiten, auf die sich eine literaturgeschichtliche, aber auch eine buchhandelsgeschichtliche Auseinandersetzung mit den Rezeptions- und Publikumsaspekten dieses Zeitraums einzustellen hat. In der Tat gab es im Publikum mit den zahlreichen aus Deutschland vertriebenen Schriftstellern und Publizisten einen hohen Prozentsatz berufsbedingter Leser, und dass diese professionelle Lektüre unter den damaligen Verhältnissen eine besondere Intensität erfahren hat, spiegelt sich schon in der raschen Wiedererrichtung von Institutionen der Literaturkritik: In Zeitungen und Zeitschriften entfaltete sich erneut ein umfangreiches Rezensionswesen; Fortsetzungsromane und Vorabdrucke weckten das Interesse an Buchnovitäten; Vortragsreisen und Autorenlesungen fanden örtlich beachtliche Publika, und nicht zuletzt wurde in Schriftsteller- und Kulturvereinigungen des Exils angeregt über Neuerscheinungen diskutiert.7 Dabei wurden die Veröffentlichungen prominenter Autoren mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, denn es waren dies vernehmliche Stimmen jenes »anderen Deutschland«, dem sich alle Exilanten zugehörig
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In den USA und Palästina waren es je 100, in Ungarn 57. Vgl. hierzu Schiller: Gedachte Wirkung ‒ ein Schaffensproblem deutscher Autoren im antifaschistischen Exil. Die hohe Leseintensität unter Autoren und Publizisten spiegelt sich auch in deren Korrespondenz: Man sandte einander Neuerscheinungen zu, vielfach auch mit Widmung, gelegentlich auch Manuskripte. Siehe dazu Kap. 5.3 Zeitungen und Zeitschriften im Exil sowie Kap. 3 Autoren. – Zu den berufsmäßigen Lesern gehörten auch die emigrierten Germanisten; vgl. dazu Lebenswege und Lektüren: Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Hrsg. von Beatrix Müller-Kampel (Conditio Judaica 30). Tübingen: Niemeyer 2000 (Interviews mit neun österreichischen Germanist / innen, und einer Einleitung der Herausgeberin, S. 1–19).
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fühlen durften. Wenn also ein Thomas Mann ein neues Werk wie z. B. Lotte in Weimar veröffentlichte, fand dies enorme, weit über die professionelle Leserschaft hinauswirkende Resonanz. In solchen Fällen konnte sogar über die ideologischen Grenzen hinweg ein Konsens entstehen, auch wenn das Werk auf recht unterschiedliche Weise gelesen und interpretiert wurde.8 Lesen im Sinne einer aufmerksamen Selbstbeobachtung des Exils hatte somit eine politische Komponente: es galt, mit großer Wachheit zu registrieren, was als literarischer Beitrag im Kampf gegen Hitler-Deutschland, als ein Lebenszeichen der vertriebenen Opposition, als ein Moment der Selbstbehauptung gewertet werden konnte. Immer wieder wurde auch eine literarische »Leistungsbilanz« des Exils erstellt und gegen die Dürftigkeit der in Deutschland »gleichgeschalteten« Literatur propagandistisch ins Treffen geführt.
Sozialpsychologische Aspekte des Lesens im Exil Gelesen wurde aber keineswegs nur in Kreisen, die von Berufs wegen mit Literatur befasst waren; selbstverständlich griffen auch Emigranten zum Buch, die nicht in einem professionellen Verhältnis zur Literatur und zum Buchmarkt standen.9 Für viele Vertriebene war das Lesen deutschsprachiger Bücher das Mittel der Wahl, um im fremdsprachigen Ausland den Anschluss an die verlorene Heimat, die deutsche Kultur zu halten. Zu dieser Selbstvergewisserung über die eigene kulturelle Identität qua Lektüre liegen zahlreiche Äußerungen vor, wonach Bücher nun zum »portativen Heimatland« (Heinrich Heine) geworden waren. Manchmal konnte auch ein einziges Buch eine solche stabilisierende Funktion in schwieriger Zeit erfüllen; bekannt ist das Beispiel des nachmaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der nach mehrmonatiger Haft nur ein Buch ins schwedische Exil mitnahm, »eine kartonierte, zerlesene Ausgabe [von Robert Musils] Mann ohne Eigenschaften«.10 Aus solchen Zeugnissen geht hervor, wie wichtig Lektüre für die Bewältigung jener psychischen Ausnahmesituation war, in die viele durch Flucht und Vertreibung geraten waren. Dabei fällt auf, in welchem Maße die »Klassiker« der deutschen Literatur wieder zu Ehren kamen, etwa mit Heinrich Heine, in welchem man einen frühen Schicksalsgenossen erkannte, aber auch mit den Heroen der Weimarer Klassik. Einen Beleg dafür liefert Elias Canetti, der seit Januar 1939 im Londoner Exil lebte und grundsätzlich nicht zu Sentimentalität und übertriebenem Pathos neigte. 1943 hielt er in seinen Aufzeichnungen Die Provinz des Menschen fest, was ihm Goethe in diesen Jahren bedeutete: Wenn ich trotz allem am Leben bleiben sollte, so verdanke ich es Goethe, wie man es nur einem Gott verdankt. Es ist nicht ein Werk, es ist die Stimmung und Sorgfalt
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Manns Lotte in Weimar wurde vom kommunistischen Literaturtheoretiker Georg Lukács ebenso positiv bewertet wie z. B. von Stefan Zweig, siehe dazu: »… er teilte mit uns allen das Exil«. Goethebilder der deutschsprachigen Emigration 1933‒1945, S. 100‒102. Gründliche Studien zu den spezifischen Aspekten des »Lesens im Exil« müssen vorerst als Desiderat gelten. Musil-Forum 1, 1975, S. 67.
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eines erfüllten Daseins, das mich plötzlich überwältigt hat. Ich kann ihn aufschlagen, wo ich will, ich kann Gedichte hier und Briefe und ein paar Seiten Bericht dort lesen, nach wenigen Sätzen erfaßt es mich und ich bin so voll Hoffnung, wie sie keine Religion mir geben kann. […] Seit ich Goethe lese, erscheint mir alles, was ich unternehme, legitim und natürlich; nicht, daß es seine Unternehmungen sind, es sind andere, und es ist sehr fraglich, ob sie zu irgendwelchen Ergebnissen führen können. Aber er gibt mir mein Recht: Tu, was du mußt, sagt er, auch wenn es nichts Tobendes ist, atme, betrachte, überdenke!11 Solche Zeugnisse für die existenzielle Bedeutung, die der deutsche Literaturkanon für die von Entwurzelung, Sprachverlust und Identitätsverlust bedrohten Vertriebenen in der Fremde gewinnen konnte, gibt es vielfach. Im Hintergrund stand auch der zwischen NSDeutschland und der Emigration ausgefochtene Kampf um die legitime Fortsetzung des literarisch-kulturellen Erbes: Selbstverständlich hat auch das Dritte Reich immer wieder versucht, neben Schiller auch Goethe für die eigene Sache zu reklamieren. Die Tatsache, dass Goethe als Weltbürger allerdings allem Nationalismus, ob in Literatur oder Politik, ablehnend gegenübergestanden hatte, verschaffte dem Exil deutliche argumentative Vorteile. Neben psychischer Stabilisierung gab es noch manche andere, spezifischere, jedoch ebenfalls nicht unbedeutende Aspekte des Lesens im Exil, wie etwa jenen des »Lesens im Versteck«. Erwachsene wie auch Kinder, die eine oft lange andauernde Situation des Eingeschlossenseins zu bewältigen hatten, zogen aus der Buchlektüre die Kraft zum Überleben.12 In besonderer Weise trifft dies auf die »Untertaucher« in den besetzten Niederlanden zu, die von ihren Beschützern mit Lesestoff versorgt wurden, teils auch aus Leihbibliotheken. Ein prominentes Beispiel dafür ist Anne Frank, aus deren Aufzeichnungen sehr gut nachvollziehbar ist, welche Bedeutung für sie das Lesen hatte: »Miep […] bringt alles in großen Einkaufstaschen auf dem Fahrrad mit. Sie ist es auch, die jeden Samstag 5 Bibliotheksbücher mitbringt. Wir schauen immer sehnsüchtig dem Samstag entgegen, weil dann die Bücher kommen, genau wie kleine Kinder, die ein Geschenk bekommen«.13 Anne und ihre Schwester haben zu ihrer Lektüre eine Kartei angelegt und in ihr Titel, Autor und Lektüredatum der Bücher genau verzeichnet. Auch sonst sind in autobiographischen Berichten exilierter Kinder häufig Bezugnahmen auf das Bücherlesen zu finden.14 Daraus geht hervor, dass Kinder oftmals Bücher mitbekamen, wenn sie ohne ihre Eltern ins Ausland verschickt wurden und dass sie nicht immer altersgerechte Lektüre zur Verfügung hatten, sondern notgedrungen auch Dostojewski, Stendhal oder Thomas Mann lasen. Der Wissensdurst war groß, aber groß war auch die Gefahr der »Verwirrung der Identitäten«: Sollten Kinder weiterhin deutschsprachige Bücher lesen, oder sich möglichst rasch mit der Sprache ihre Asyllandes anfreunden,
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Zit. nach: »… er teilte mit uns allen das Exil«, S. 75. Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒1950, bes. S. 107‒118. Tagebucheintrag vom 11. Juli 1943, zit. n. Kinder- und Jugendliteratur im Exil 1933‒1950, S. 110. Siehe hierzu Blaschitz: »Was aus mir wird, bleibt unbekannt«. Kinderleben im Exil, S. 22‒ 24 (Kap. »Lesen im Exil«; dort auch Nachweise zu einschlägigen Berichten).
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um auch im Schulunterricht mithalten zu können? Solchen Konfliktlagen waren freilich auch erwachsene Exilanten ausgesetzt, allerdings vermochten sie es meist nicht so rasch, sich auf die Sprache und Literatur des Gastlandes einzustellen wie die jüngere Generation. Dass diese auch von der Kinder- und Jugendliteratur des Exils erreicht worden ist, geht u. a. aus einem Bericht der späteren DDR-Germanistin Silvia Schlenstedt hervor, für die Auguste Lazars Sally Bleistift in Amerika, erschienen 1935 in Moskau, besondere Bedeutung gewann.15 In den Exilzentren Paris und London sind eigene Kinderbibliotheken eingerichtet worden; auch im Moskauer Exil erhielten Kinder und Jugendliche eigenen Zutritt zur »Bibliothek für ausländische Literatur«.16 Aus soziologischer, aber auch verlagsgeschichtlicher Perspektive gilt es zu vermerken, dass sich in der Endphase des Krieges ein neuer Leserkreis herausbildete: die deutschen Kriegsgefangenen in den US-Camps, die von einigen Exilverlagen wie der L. B. Fischer Publishing Corporation oder El Libro Libre mit Lektürestoff versorgt wurden.17
Zerstörung einer Buchkultur Dem Buch kam im Exil in vielerlei Hinsicht existentielle Bedeutung zu. Deshalb muss hier auch davon die Rede sein, ob und unter welchen Umständen Bücher von Exilanten aus Deutschland mitgenommen werden konnten, seien es einzelne Bücher oder ganze Bibliotheken. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Kultur der Bibliophilie und des Büchersammelns in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre höchste Blüte erreicht hatte.18 In einem von Julius Rodenberg 1931 erstellten Verzeichnis waren insgesamt 27 (wenn auch teilweise kurzlebige) bibliophile Gesellschaften aufgeführt, wobei es neben dieser »organisierten Bibliophilie« auch eine individualistische gab, die ebenfalls zahlreiche bedeutende Vertreter hatte. In fast allen diesen Vereinigungen und auch unter den Individualsammlern gab es nicht wenige Bibliophile jüdischer Herkunft; 1924 war eine »Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches« ins Leben gerufen worden, der sich schon bald mehr als 800 Mitglieder anschlossen.19 Diese hochstehende Buchkultur, in deren Rahmen jüdische Mitglieder gemeinsam mit nichtjüdischen Bücherfreunden ihrer bibliophilen Leidenschaft nachgegangen waren, ohne dass Fragen der
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Siehe Blaschitz, S. 23. Blaschitz, S. 24. Vgl. dazu das Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; sowie Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 240 f., und Díaz Pérez: Der Exilverlag El Libro Libre in Mexiko, S. 163: Walter Janka erhielt Post von Kriegsgefangenen, abgedruckt in Freies Deutschland 4 (1945), Nr. 9, August, S. 18. Siehe hierzu auch die entsprechenden Abschnitte bei Hench: Books as Weapons. Zum Folgenden vgl. ausführlicher Fischer: Zerstörung einer Buchkultur. Die Emigration jüdischer Büchersammler aus Deutschland nach 1933 und ihre Folgen. Dazu u. a. Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches; Jensen: Ein Kanon der jüdischen Renaissance. Die Mitgliedschaft stand auch Nichtjuden (und Institutionen) offen. – Vgl. auch Bendt: Buchhändler, Antiquare, Sammler, Bibliophile aus Deutschland 1933 bis 1945. Bendt geht dort u. a. den Spuren von 23 in die Niederlande emigrierten Soncinaten nach; 16 von ihnen haben nicht überlebt.
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»Abstammung« eine Rolle gespielt hätten, wurde 1933 und in den darauffolgenden Jahren unwiederbringlich zerstört: Unter dem Druck der Verhältnisse traten aus der großen Gesellschaft der Bibliophilen noch 1933 rund 200 jüdische Mitglieder aus, die Soncino-Gesellschaft löste sich im gleichen Jahr ebenso auf wie der Leipziger Bibliophilen-Abend und der Berliner Fontane-Abend, dessen Gründer Gotthard Laske den Freitod gewählt hatte; der Berliner Bibliophilen-Abend blieb vorerst bestehen, zählte jedoch 1934 nur noch 35 Mitglieder (1930 waren es 162 gewesen).20 Schwere Einbußen erlitten auch zahlreiche weitere örtliche und überregionale Vereinigungen, der Essener Bibliophilen-Abend und die Gesellschaft der Bücherfreunde zu Chemnitz ebenso wie die Frankfurter Bibliophilengesellschaft und Vereinigungen in Hamburg, München oder Köln bis hin zur Maximilian-Gesellschaft.21 Politischer Terror und rassistische Verfolgung haben nach 1933 hunderte von Bücherliebhabern zur Flucht gezwungen, andere, die das Land nicht rechtzeitig verlassen haben oder verlassen konnten, sind in den Konzentrationslagern umgekommen. Die Schicksale dieser Büchersammler, die Opfer des NS-Regimes geworden sind, sind bisher nicht systematisch erforscht worden, ebenso wenig die Schicksale ihrer Büchersammlungen. Auch zum »nationalsozialistischen Bücherraub« liegen noch keine abschließenden Ergebnisse vor.22 Die unter dem Stichwort Provenienzforschung in deutschen Bibliotheken planmäßig betriebene Suche nach Büchern, die aus jüdischem Privatbesitz stammen und unter zweifelhaften Umständen in den Bestand gelangt sein könnten, wurde spät in Angriff genommen.23 Aufgeschreckt durch Erkenntnisse über die riesenhafte Dimension des nationalsozialistischen Kunstraubs richtete sich das Augenmerk endlich auch auf das geraubte Buch.24 In vielen Fällen sind aber Spuren verwischt; es erweist sich als 20
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Zu diesen Vorgängen vgl. Neumann: Organisatorische Gleichschaltung bibliophiler Vereine im Dritten Reich. Vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in Neumann: Hundert Jahre Gesellschaft der Bibliophilen 1899‒1999. Vgl. ferner Sommer: Berliner bibliophile Vereine in der Zeit von der Jahrhundertwende bis 1945; Sommer: Fontane-Abend / Berlin (1927‒ 1933) – eine Dokumentation; Gittig: Freude an Büchern. Protokolle, Dokumente, Berichte des Berliner Bibliophilen-Abends 1920‒1943; Krause: Der Berliner Bibliophilen Abend; Krause: Jüdische Bibliophilen in ihrer Verbindung mit der Staatsbibliothek Berlin 1905 bis 1933. Dazu: 100 Jahre Maximilian-Gesellschaft 1911‒2011. Zum Thema NS-Bücherraub siehe u. a. Schroeder: Beschlagnahme und Verbleib jüdischer Bibliotheken in Deutschland vor und nach dem Novemberpogrom 1938; Schroeder: Strukturen des Bücherraubs. Siehe u. a. Jüdischer Buchbesitz als Raubgut; NS-Raubgut in Bibliotheken. Schon etwas früher abgeschlossen werden konnten mit einem Provenienzbericht 2003 die Nachforschungen an der Österreichischen Nationalbibliothek, die in besonderer Weise Nutznießerin des Bücherraubs gewesen ist, siehe Hall / Köstner: »…allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern…«. Einer Schätzung zufolge sind zwischen 1938 und 1945 bis zu 500.000 geraubte Objekte in die ÖNB gelangt. – Vgl. ferner: Köstner-Pemsel: Österreichische Büchersammler und ihre Schicksale. Köstner-Pemsel nennt eine Reihe von Beispielen für die hemmungslose Beraubung jüdischer Sammler, deren Umzugsgut noch im Hafen von Triest geplündert wurde oder denen unter erfundenen strafrechtlichen Vorwürfen die schon ausfuhrbewilligte Sammlung abgepresst worden ist. Dass die Restitution von Raubgut – ob Kunstraub oder Bücherraub – nach 1945 in Österreich besonders widerwillig und schikanös verlief, ist bekannt; vgl. ebd. S. 199‒210. Zu den Vorgängen in Österreich siehe auch Adun-
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schwierig, oft unmöglich, die Schleier des Nichtwissens bzw. des Nichtwissenwollens zu heben und die Zusammenhänge und Vorgänge jener Jahre der Verfolgung zu rekonstruieren. Zweifellos hat es neben Bibliotheken und NS-Funktionären25 viele heimliche Nutznießer der Vertreibung jüdischer Büchersammler gegeben: »Ariseure«, die das Hab und Gut geflüchteter Juden übernommen haben, deutsche Antiquare und Auktionshäuser,26 »arische« Sammlerkollegen u. a. m. Während die nationalsozialistischen Raubzüge in den Bibliotheken jüdischer Gemeinden und Forschungseinrichtungen inzwischen gut erforscht sind,27 gibt es auf die Frage nach dem Verbleib der aus jüdischem Privatbesitz geraubten Bücher bisher keine befriedigende Antwort. Klar ist, dass zahllose Büchersammlungen aus dem Besitz oder aus dem noch nicht frei gegebenen Umzugsgut von Emigranten auf reichsweit abgehaltenen sogenannten »Juden-Auktionen« zusammen mit Möbeln, Kleidung und sonstiger Habe versteigert wurden und dass sich daran nicht nur Bibliotheken, sondern auch Privatleute bereichert haben.28 Zuvor allerdings konnten sich die NS-Organisationen nach Belieben daraus bedienen. Hand in Hand damit ging eine Buchzerstörung, der allenfalls der SD-Befehl zur Sicherung »historischen Materials« Grenzen setzte, doch gibt es genügend Hinweise darauf, dass auch wertvollere Stücke gedankenlos vernichtet wurden. So etwa teilte ein zeitgenössischer Beobachter mit, dass
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ka: Der Raub der Bücher, sowie weitere Forschungsarbeiten der Historikerin. Ferner: Mentzel: Wiener NS-Antiquariate und ihre Rolle im Bücherraub. Neben Bildern sind auch Bücher Objekte der Begehrlichkeit gewesen, so hat sich Julius Streicher in Nürnberg aus 10.000 wertvollen geraubten Büchern eine private Bibliothek aufgebaut. Die ebenfalls rund 10.000 Bände umfassende Bibliothek, die Lion Feuchtwanger in Berlin-Grunewald zurücklassen musste, wurde nach ihrer Beschlagnahme von dem Präsidenten des »Ahnenerbes« der SS Werner Wüst übernommen. Ihr Schicksal war lange ungewiss, eine spät wiederentdeckte Dissertation von 1974 brachte hier eine Klärung. Der Reichsführer der SS Heinrich Himmler hatte sie auf Antrag Wüsts dem »Ahnenerbe« 1938 übereignet, Wüst aber hat die Sammlung privat aufgestellt und sich später, schon in den 1960er Jahren, damit verteidigt, er habe sie nur »ordnungsgemäß« treuhänderisch verwaltet (Marginalien H. 156, 4/1999, S. 10). Den inländischen Antiquariatsbuchhandel betreffend mangelt es an Quellenforschungen, um dessen Rolle genauer einschätzen zu können, und wohl auch an den Quellen selbst. Zweifellos war die Versuchung groß, die Notverkäufe der Flüchtenden auszunützen. Umgekehrt mag damals mancher Antiquar und auch mancher Privatsammler einem jüdischen Kollegen oder Sammlerfreund durch Ankäufe entscheidend geholfen haben, die für die Ausreise und Flucht benötigten Geldsummen aufzutreiben. Vgl. hierzu das Kapitel Antiquariatsbuchhandel in Bd. 3/2 dieser Buchhandelsgeschichte. Vgl. Schidorsky: Das Schicksal jüdischer Bibliotheken im Dritten Reich. Siehe dazu u. a. Kuller: Die deutschen Finanzbehörden und die Bücher der Deportierten. – Als einer von vielen tausenden Betroffenen berichtete der 1933 ins palästinensische Exil ausgewanderte Schriftsteller und Übersetzer Paul Mühsam von diesen Vorgängen: »Alles, was an Bildern, Büchern und Kunstgegenständen noch da war, wanderte, soweit wir es nicht an uns nahestehende Menschen verschenkten, unter dem Hammer des Auktionators in unbekannte Hände. Weit über der Hälfte unserer Bücher, zum größten Teil für einen lächerlich geringen Preis dem Meistbietenden zugeschlagen, trauerten wir nach.« (Aus einem Manuskript; hier zit. n. Jessen: Bücher als Dinge, S. 16).
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ein großer und sicher nicht der wertloseste Teil der Buchbestände bereits auf dem Wege von den jüdischen Wohnungen zu den Sammelstellen der Gestapo verlorenging. Hier wurde mit dem Rest völlig nach dem Gutdünken der zuständigen Beamten und z. T. in geradezu verantwortungsloser Weise verfahren. So ist z. B. bekannt, daß die Gestapo-Leitstelle Berlin […] jahrelang alle angelieferten Bücher einfach durch eine Papiermühle einstampfen ließ, so daß unschätzbare Werte in der gewissenlosesten Weise vernichtet worden sind. Erst allmählich ging man dazu über, diese Werte wenigstens zu einem Teil nutzbar zu machen.29 Eine herausgehobene Rolle spielte dabei das seit 1939 geplante und 1941 eröffnete Frankfurter »Institut zur Erforschung der Judenfrage« und dessen Bibliothek. Hier sind hunderttausende von Büchern zusammengeführt worden (der Stand von 1943 war: 550.000 in 3.300 Bücherkisten), die dem einzigen Zweck dienen sollten, nach der »Endlösung der Judenfrage« an einem zentralen Ort verwahrt zu werden.30 Die Sammlungen wurden überwiegend von der Gestapo und vom Einsatzstab des Reichsleiters Rosenberg eingeliefert, wobei erstere für die jüdischen Privatsammlungen im Deutschen Reich zuständig war, während der Einsatzstab Rosenberg in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten agierte.31 Nach Angaben von Markus Kirchhoff waren von den Raubzügen in den besetzten Gebieten allein in Osteuropa 957 Bibliotheken, 375 Archive, 531 Forschungs- und Bildungsinstitute und 402 Museen betroffen. Der Einsatzstab Rosenberg wütete aber auch in Westeuropa. Nutznießer war neben dem »Institut zur Erforschung der Judenfrage« in Frankfurt am Main auch die ebenfalls zum Zwecke eines »wissenschaftlichen Antisemitismus« zusammengetragene »Gegnerbibliothek« des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, die mit zwei bis drei Millionen Bänden sogar noch deutlich umfangreichere Bestände aufhäufte.32
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Bericht über die Beschlagnahmung und Behandlung der früheren jüdischen Bibliotheksbestände durch die Stapo-Dienststellen in den Jahren 1943‒45. (Verf. Ernst Grumach); entstanden 1945(?), gerichtet an die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. (Zentralarchiv für die Geschichte des jüdischen Volkes, Jerusalem, P3/2060). Hier zit. n. Schidorski, Das Schicksal jüdischer Bibliotheken im Dritten Reich, S. 196 f. Vgl. Schidorsky, S. 206. Es handelte sich um Bestände von jüdischen Gemeinden in den seit 1939 von deutschen Truppen besetzten Gebieten, aber auch aus Privatsammlungen, etwa der Pariser Rothschilds, sowie um Sammlungen von aus Deutschland geflüchteten jüdischen Emigranten – zurückgelassene Sammlungen, wie aus dem Hinweis zu schließen ist, dass ca. 100.000 Bände »von anderer Seite« (Finanzämter usw.) zugebracht worden seien. (Ebd., S. 216). Nach dem Krieg wurden, hauptsächlich vom Offenbach Archival Depot der amerikanischen Militärverwaltung aus, die in der Frankfurter »Bibliothek zur Erforschung der Judenfrage« und in anderen Städten wie z. B. in Wien vorgefundenen Bestände, soweit zuordbar, an die betroffenen Institutionen in Amsterdam, Paris, usw. zurückerstattet; anderes wurde an jüdische Bibliotheken in aller Welt verteilt. Die Privateigentümer der gefundenen Bücher waren zum größten Teil in den KZs ermordet worden; einige aber hatten als Emigranten überlebt. Bis Ende 1946 konnten 2,5 Millionen Bücher restituiert werden. Vgl. Kirchhoff: Häuser des Buches, S. 124–127.
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Gerettete und verlorene Büchersammlungen Der NS-Bücherraub und die Frage nach den Schicksalen der in Deutschland verbliebenen oder nach Deutschland verschleppten Bücher und Sammlungen fällt nun allerdings nicht vorrangig in den Gegenstandsbereich dieses Bandes, sehr wohl aber die Frage, ob, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen Büchersammlungen ganz oder teilweise ins Ausland verbracht werden konnten. Die Möglichkeiten, Bücher auf der Flucht mitzunehmen, unterlagen wechselnden politischen Rahmenbedingungen, entsprechend den Schwankungen der »Judenpolitik« des Dritten Reiches: Phasen des Terrors wurden von gemäßigteren abgelöst, der Judenboykotttag des Jahres 1933, die »Nürnberger Rassengesetze« von 1935 und die nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 einsetzenden Bestrebungen zur »Endlösung der Judenfrage« stehen für die Wellen der Gewalt, das Jahr 1934, das Olympiajahr 1936 oder Teile der Jahre 1937/1938 stehen für eine mehr schleichende Verfolgung, wie sie u. a. in Rücksicht auf das Bild Deutschlands im Ausland erfolgte oder zur Bewahrung wirtschaftlicher Werte im Inneren. Schwankungen zeigen sich auch in der Auswanderungsstatistik; hier spielten neben den eben erwähnten Faktoren auch die jeweils gültigen Ausreisebedingungen eine Rolle: Verschärfungen der (bereits 1931 wegen der Folgen der Weltwirtschaftskrise eingeführten) Reichsfluchtsteuer 1934, die Verschärfung der Devisengesetzgebung (ebenfalls 1934), der sich sehr ungünstig entwickelnde Sperrmarkkurs, die Verordnung zur Anmeldung jüdischen Vermögens im März 1938 u. a. m. Allerdings: In der Hauptsache betrafen diese ökonomischen Auswanderungserschwernisse den Vermögenstransfer, erst im Weiteren auch Sachwerte; Bücher waren offenbar über längere Zeit ein nicht so problematisches Mitnahmegut. Der Jerusalemer Buchhändler Hermann Joseph Mayer* erinnerte sich an die im September 1933 erfolgte Ausreise seiner Familie: Sie müssen wissen, dass die ganzen Schwierigkeiten erst 1938 nach der »Kristallnacht« begonnen haben. Bis dahin war es überhaupt keine Schwierigkeit. Ich weiß noch, die Leute vom Zoll haben unten gestanden, als der »Lift« gepackt worden ist und haben zugeguckt und man hat sich unterhalten; die Briefmarkensammlung ist mitgegangen, wertvolle Bücher sind mitgegangen, kein Mensch hat ein Wort gesagt. Weil zu der Zeit eigentlich die Nationalsozialisten daran interessiert waren an jedem, der auswandert, der von selbst auswandert.33 In der Tat dürfte die »Reichspogromnacht« eine gewisse Zäsur bedeutet haben; danach war die Auswanderung im Normalfall mit größeren bürokratischen Hindernissen und erheblichen materiellen Einbußen verbunden: »Da jüdische Auswanderer […] seit Ende 1938 eine ›Judenvermögensabgabe‹ zahlen mussten, war spätestens zu diesem Zeitpunkt die Emigration aus Deutschland für die meisten mittelständischen Juden mit dem Verlust ihrer finanziellen Existenzgrundlage verbunden. Hinzu kamen Beschlagnahmungen von Besitz und Enteignungen vor der Ausreise.«34 Aber selbst nach dem 9. November 1938
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Interview des Verf. mit Hermann Joseph Mayer am 22. Oktober 1992 in Jerusalem. Jessen: Kanon im Exil, S. 58. Dort auch ein Hinweis auf Frank Bajohr: Arisierung und Rückerstattung. Eine Einschätzung. In: »Arisierung« und Restitution. Die Rückerstattung
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standen der Mitnahme von Büchern in die Emigration keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen, wie aus dem Bericht Felix Daniel Pinczowers hervorgeht, Sohn des in den 1920er Jahren bekannten Bibliophilen und Judaica-Spezialisten Ephraim Pinczower*, der Deutschland erst 1939 verlassen hat und dann in Jerusalem als Antiquar tätig geworden war: Also damals, das war 1939, konnte ich noch einen »Lift« machen und meine Möbel und verschiedene Sachen mitbringen, musste allerdings entsprechende Abgaben bezahlen, und auf Bücher, die ich persönlich besaß, wurde kein Wert gelegt, [Bücher] hätte ich in unbegrenzten Mengen mitnehmen können. Also was ich hatte, habe ich damals mitgenommen, und meine ersten Verkäufe waren eben aus meiner Privatbibliothek.35 Ein formelles Bücherausfuhrverbot der NS-Behörden hat es nie gegeben. Entscheidend war, dass man vom Finanzamt, ab 1939 auch von der Gestapo, eine Unbedenklichkeitserklärung ausgestellt bekam. Im Grunde wirkte sich hier die Kulturfeindlichkeit der neuen Machthaber aus, die Wert und Bedeutung von Büchersammlungen vielfach nicht adäquat einzuschätzen wussten und ihr Augenmerk, schon aus Devisengründen, sehr viel stärker auf die Kontrolle von Vermögenstransfers richteten. Zweifellos waren die Rahmenbedingungen für die Verbringung von Sammlungen ins Ausland auch örtlich unterschiedliche, je nach Vorgangsweise der zuständigen Behörden. Einige scheinen es zur Auflage gemacht zu haben, dass Listen zu jenen Büchern vorgelegt werden, die Teil des Umzugsgutes sein sollten. Das war umständlich und begrenzte allein dadurch bereits den Umfang des Büchervolumens; im Falle des Buchhändlers und Kinderbuchsammlers Walter Schatzki* sind solche Listen erstellt worden. Zu unterscheiden sind hier allerdings die Bedingungen des legalen und des illegalen Transfers. Wer unter politischen Gesichtspunkten verfolgt wurde, konnte ein so geordnetes Verfahren ohnehin nicht durchführen und musste meist die erste Gelegenheit zur Flucht wahrnehmen oder möglichst unauffällig, d. h. ohne Gepäck oder allenfalls mit einem kleinen Köfferchen, die Ausreise wagen. Wer aber Deutschland unter Zurücklassung seines Besitzes verließ, musste mit dessen Beschlagnahmung rechnen. Auch bei legaler Ausreise war oft die Zeit zu knapp, um die Verhältnisse rechtzeitig zu ordnen und den Verkauf einer Büchersammlung zu bewerkstelligen. Der Antiquar Martin Breslauer* konnte seine legendäre Handbibliothek mit 21.000 Bänden gerade noch rechtzeitig verkaufen, an einen der bedeutendsten Sammler in Europa, Martin Bodmer.36 Manchen scheint es möglich gewesen zu sein, einzelne Stücke einer Sammlung noch vor der Emigration als Postgut, auch als Drucksache, ohne den oft beträchtlichen Wert des Inhalts zu deklarieren, an Freunde ins Ausland zu versenden. Auch Antiquare scheinen so
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jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989. Hrsg. von Constantin Goschler und Jürgen Lillteicher. Göttingen: Wallstein 2002, S. 39–59. Interview des Verf. mit Felix Daniel Pinczower am 21. Oktober 1992 in Jerusalem. Breslauers Sohn Bernd war an der Aufnahme und Transferierung der Handbibliothek beteiligt und hat selbst aus den nach England mitgebrachten Restbeständen geschöpft, als er 1941 in London seinen ersten eigenständig erarbeiteten Katalog herausbrachte.
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manches kostbare Stück außer Landes gebracht zu haben, manchmal als Vorsichtsmaßnahme bereits vor 1933, wie z. B. Erwin Rosenthal in München, der auf diese Weise wertvolle Einzelstücke in die Schweiz schaffen konnte. Natürlich waren der Ausfuhr von Sammlungen praktische Grenzen gesetzt: Größere Büchermengen haben enormes Gewicht, ihr Transport verursachte entsprechend hohe Kosten. In dem Bericht, den Theo Pinkus von den diesbezüglichen Umständen seiner Ausweisung aus Deutschland im April 1933 gab, heißt es, seine Mutter habe die Bücher in »achtzehn Rügenwalder Wurstkisten« verpackt und sie ohne weitere Schwierigkeiten einer Transportfirma übergeben: »Sie kamen in Zürich an, aber ich hatte fast zwei Jahre den Transport abzubezahlen. […] Diese vor den Nazis geretteten Bücher sind auch der Kern der ›Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung‹, einer Stiftung, die meine Frau und ich 1971 errichtet haben«.37 Der Kostenfaktor wird in nicht wenigen Fällen zum Verzicht auf Mitnahme, in anderen Fällen zur Teilung von Sammlungen geführt haben, zur Herauslösung der materiell oder ideell wertvollsten Stücke (wie Widmungsexemplare oder nicht selten auch Klassikerausgaben, Erinnerungsträger aller Art), während ein zurückgelassener Rest für die Finanzierung des Transports verwendet wurde. In vielen Fällen – und nicht nur bei den weniger wohlhabenden Sammlern – ist davon auszugehen, dass Sammlungen ganz oder teilweise verkauft werden mussten, um die Ausreise, die Reichsfluchtsteuer und andere Auflagen zu bezahlen: »Häufiger noch als Wertgegenstände und Kunstwerke wurden Bücher, Autographen, ganze Bibliotheken veräußert«.38 Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass Bücher auf der Flucht hinderlich waren und oft noch kein Zielort angegeben werden konnte. Da es sich in der Regel um Notverkäufe handelte, büßten die Besitzer meist viel Geld ein. Dass es Nutznießer dieser Situation gab, bedarf kaum einer Erwähnung. Andere konnten sich dann doch nicht von ihren Büchern trennen, selbst wenn sie selbst schon in Sicherheit waren. Hier ist etwa an das – abenteuerlich klingende und im Detail schwer nachprüfbare – Beispiel von Kurt Pinthus zu denken: Nach Warnungen und Gestapo-Verhören bereitete Pinthus 1937 seine Flucht vor; er erhielt ein Besuchsvisum für die USA, unter der Bedingung, dass er sein gesamtes Besitztum zurückließ. So erreichte er im August New York, nur mit einem Koffer in der Hand und zehn Dollar. Er erhielt mit Glück einen Lehrauftrag an der New School for Social Research, stellte aber fest, dass er ohne seine Bücher nicht arbeiten konnte. Pinthus kehrte daher um Weihnachten 1937 nach Deutschland zurück, entging in Bremerhaven knapp der Inhaftierung und der Konfiskation der Kartei zu seiner Berliner Bibliothek, die er mit sich führte, und zwar indem er sich als Agent ausgab, der im Dienste NS-Deutschlands für »dekadentes und undeutsches Material aus den USA« verantwortlich sei (die Kartei zeigte, dass seine Bibliothek überwiegend aus verbotener Literatur bestand). In Berlin lebte er daraufhin vier Monate auf einem Dachboden, um seine reguläre Auswanderung vorzubereiten. Er veräußerte allen sonstigen Besitz, verschaffte sich mit juristischer Hilfe eine Auswanderungsgenehmigung, erhielt von den USA ein Einwanderungsvisum und verpackte seine 8.000 Bände umfassende Bibliothek zusammen mit Zeitschriften und Manuskripten in vierzig Holzkisten, von denen zwei mit
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Pinkus: Suchen und Sammeln für alle – ein Leben mit Büchern, S. 17. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (1972), S. 243.
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harmlosem Inhalt offen blieben. Alle 40 Kisten wurden freigegeben und landeten in New York; ein Teil davon wurde noch im gleichen Jahr an der New School ausgestellt.39 Auf die Frage eines amerikanischen Journalisten, wie es möglich gewesen sei, eine so umfangreiche Sammlung in die USA zu bringen, antwortete Pinthus, die Nazis selbst hätten sie ihm übersandt. Daraufhin sei ihm innerhalb weniger Wochen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden. Pinthus, der 1967 nach Deutschland remigrierte und sich in Marbach am Neckar ansiedelte, hat 1971 seine gesamte, für die Expressionismusforschung unentbehrliche Bibliothek von (nunmehr) 8.000 Bänden und zahlreiche Zeitschriften dem Deutschen Literaturarchiv überlassen ‒ eines der raren Beispiele für die Rückkehr einer bedeutenden Büchersammlung. Ein weniger glückliches Ende fanden Georg Witkowskis Bemühungen, seine Bücher zu retten. Witkowski, eine der zentralen Gestalten der deutschen Bibliophilie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (er war von 1900 bis 1931 durchgehend 2. Vorsitzender der Gesellschaft der Bibliophilen, seit 1917 Schriftleiter der Zeitschrift für Bücherfreunde), entschloss sich sehr spät zur Emigration, erst nach der »Reichspogromnacht« 1938, und musste mit der definitiven Ausreise noch bis April 1939 warten, bis nämlich seine Bibliothek finanziell ausgelöst war und er sie in die Niederlande mitnehmen durfte. Dort starb er, 76-jährig, bereits am 21. September 1939; die 14.000 Bände seiner Bibliothek wurden noch im Frühjahr 1940 vom Antiquariat Nijhoff in Den Haag versteigert.40 Ein überaus tragisches Schicksal repräsentieren Person und Sammlung des Berliner Bibliophilen und Vorstandsmitglieds der Soncino-Gesellschaft Gotthard Laske, der sich im November 1936 das Leben nahm; seine wertvolle, rund 10.000 Bände enthaltende Bibliothek wurde über die ganze Welt zerstreut, sein Sohn Ernst Laske* konnte jedoch einzelne Stücke auf seinem Exilweg bis nach Palästina retten, wo er in Tel Aviv in der deutschsprachigen Buchhandlung Landsberger tätig war. Für Ernst Laske bedeuteten die erhaltenen Bücher und Drucke aus der Sammlung seines Vaters eine kostbare Erinnerung;41 nach seinem Tod 2004 wurden die geretteten Bücher versteigert.42 Auch die exquisiten, in Weimar und Berlin aufgebauten Bibliotheken Harry Graf Kesslers sind großenteils verloren gegangen. 1935 und 1936 kam es aus Geldmangel zu Zwangsversteigerungen (aus denen heraus das Berliner Antiquariat Georg Ecke einige hundert Bücher für einen eigenen Kessler-Katalog erwarb); zwar gelang es einem Beauftragten, Einzelstücke, die Kessler für seine schriftstellerische Arbeit benötigte, zuvor herauszunehmen und ins Exil nach Palma de Mallorca und Frankreich nachzusenden, im Großen und Ganzen aber wurden die Bestände zerstreut. »Zurückgebliebenes«, immerhin einige hundert Bände, gelangte damals in die Herzogin Amalia Bibliothek in Weimar und wurde durch spätere Zukäufe ergänzt.43 39
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Lewis: Kurt Pinthus, S. 1713. – Siehe dazu auch das Projekt ›Die Bibliothek von Kurt Pinthus‹ am Deutschen Literaturarchiv Marbach (www.dla-marbach.de/bibliothek/projekte/diebibliothek-von-kurt-pinthus/). Wandelhalle der Bücherfreunde, NF 32 (1990), S. 65. Der Verf. hatte am 23. Oktober 1992 Gelegenheit zu einem Zusammentreffen mit Ernst Laske in Tel Aviv und zu einer Begegnung mit den aus Deutschland geretteten Bücherschätzen seines Vaters. Nach Lenzen: Deutsch-jüdische Buchkultur zwischen Sammlung und Zerstreuung, S. 136. Durch den 2011 erschienenen Band Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, Bd. 29: Bibliotheken und Sammlungen im Exil sind deutliche Fortschritte in der Erforschung von
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Dieses Schicksal blieb dem Buchbesitz des oft als »König der Büchersammler« apostrophierten Hans Fürstenberg weitgehend erspart. Nachdem er aufgrund seiner bedeutenden Stellung in der Finanz- und Wirtschaftswelt einige Jahre lang unbehelligt geblieben war, musste auch er 1938 aufgrund seiner jüdischen Herkunft Deutschland verlassen. Vor einer Gestapo-Fahndung gewarnt, flüchtete er über Prag nach Paris: »Von dort aus organisierte er mit Geschick und viel Glück, und jedenfalls mit Hilfe einflußreicher Freunde, die Überführung des gesamten Inhalts seines Berliner Hauses, natürlich nach Zahlung der ungeheuren Reichsfluchtsteuer, einschließlich seiner Bibliothek, die damals rund 16.000 Bände zählte, davon ungefähr 5000 sogenannte seltene Bücher.«44 Hervorhebung verdient nicht allein die Menge, sondern der Rang der Sammlung, die kostbare deutsche Erstausgaben ebenso umfasste wie Drucke und Holzschnittbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, illustrierte Bücher des 18. Jahrhunderts und der französischen Romantik. Die Bibliothek erhielt in dem von Fürstenberg noch 1938 erworbenen Schloß Beaumesnil in der Normandie zunächst eine würdige Aufstellung, geriet aber durch den Krieg und die Besetzung Frankreichs in höchste Gefahr. Einen Teil der Bestände konnte Fürstenberg nach Südfrankreich überführen, von den zurückgebliebenen Büchern wurde einiges verschleppt und ging verloren; »anderes, nach Deutschland abtransportiert, kam wie durch ein Wunder zurück.«45 Nach 1945 konnte Fürstenberg daher seine Sammlungen wieder aufbauen. Noch zum Sammlernachwuchs gehörte um 1933 der Literaturwissenschaftler Bruno Kaiser; er hatte schon als Student mit dem Büchersammeln begonnen. Als er 1938 emigrieren musste, wurde seine Bibliothek auf Initiative seiner Mutter gerettet und nach dem Krieg mit der neuen Sammlung, die er im französischen Exil aufgebaut hatte, in Berlin zusammengeführt. Bruno Kaiser war dann zwei Jahrzehnte lang der bedeutendste Bibliophile in der DDR; nach seinem Tod wurde 1967 seine inzwischen noch stark erweiterte Bibliothek von der Deutschen Staatsbibliothek angekauft und dort geschlossen aufbewahrt.46 Bibliophilenbibliotheken, meist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Sammeltätigkeit, waren ihren Eigentümern mit das Kostbarste, das sie besaßen. Nicht viel anders verhielt es sich mit den Bibliotheken von Schriftstellern: Als der jüdische Schriftsteller Alfred Mombert 1940 von der Gestapo verhaftet und nach Gurs deportiert wurde, verlor er seine Bibliothek und damit, nach eigenem Empfinden, seine ganze »frühere Existenz«: »Von allem, was ich zurücklassen mußte, war mir am schmerzlichsten der Verlust meiner gesamten Arbeitsbibliothek, meiner sämtlichen Handschriften und Briefe.«47 Wie kaum einem anderen Autor war ihm seine rund 6.000 Bände umfassende Sammlung die
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Buchbesitz und Lektüre im Exil erzielt worden. Siehe dort bes. die Beiträge von Sylvia Asmus (Von der Emigrantenbibliothek zum Deutschen Exilarchiv, S. 166‒178) sowie von Thomas Richter (Die Bibliothek Harry Graf Kesslers. Möglichkeiten und Grenzen einer Rekonstruktion, S. 42–68) sowie die im Folgenden genannten Beiträge. Bernd H. Breslauer: Fürstenberg oder … über bibliophilen Ruhm, S. 125. Breslauer, S. 126. Scheibe: NS-Raubgut in der Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek nach 1933 – eine Zwischenbilanz, S. 190 f. Scialpi: »Aus dem Bücher-Saal in Dämon-Weiten«. Der Schriftsteller Alfred Mombert und die Geschichte seiner Bibliothek 1940 bis 1950, S. 69 und 73.
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entscheidende Basis für sein Schreiben, und so hoffte er in den zwei Jahren, die ihm bis zu seinem Tod blieben, auf deren Rückgewinnung. Dies wäre insofern nicht völlig ausgeschlossen gewesen, als die Bibliothek nicht mit seiner sonstigen gesamten Habe mitversteigert wurde, weil Momberts Freund Richard Benz und wohl auch die Universitätsbibliothek Heidelberg alle Anstrengungen unternahm, sie als Ganzes zu bewahren. Tatsächlich überlebte die Bibliothek in Kisten verpackt den Krieg und wurde von der US-Besatzungsmacht beschlagnahmt. Nun allerdings erhob Momberts nach England emigrierte Tochter Klara Vogel Anspruch darauf; sie wollte sie in der Schweiz versteigern lassen. Aufgrund von Ausfuhrbestimmungen gelang dies aber nicht, sodass schließlich das Land Baden-Württemberg 1950 die Sammlung für die Badische Landesbibliothek erwerben konnte. In der geschlossenen Aufstellung der Bibliothek kann man einen Versuch sehen, einen Erinnerungsort zu schaffen, der dem Dichter gerecht wird: »Für Alfred Mombert war seine Bibliothek ein Rückzugsort gewesen, das selbsterwählte Exil, in dem er in bewusster, geradezu fataler Weltflucht des Eremiten die Inspiration für seine Werke fand.«48 Es gibt noch zahlreiche weitere Zeugnisse dafür, dass der Verlust der eigenen Bibliothek für aus Deutschland Vertriebene ein traumatisches Erlebnis gewesen ist. Brigitte Bruns zeichnet diese Verlustgeschichte für Wilhelm Herzog und Franz Rapp nach: Die auf obskure Weise verschwundenen 12.000 Bände Herzogs blieben »für immer verloren, zerstreut, verkauft, versteigert oder über unbekannte Kanäle außer Landes gebracht«,49 und auch jene des Theaterwissenschaftlers Rapp blieb verschollen. Die sprachliche Wendung von der »verlorenen Bibliothek« ist untrennbar mit Walter Mehrings gleichnamigem Roman oder besser romanhafter Epochenreflexion verknüpft und gewissermaßen zum Symbol einer Epoche geworden, doch als physische Größe ist die beschriebene Sammlung ein Phantom geblieben: Von dieser angeblich zunächst nach Wien geretteten, dann zurückgelassenen, mehrere tausend Bücher umfassenden Bibliothek von Mehrings Vater Sigmar konnte bislang keine Spur gefunden werden.50 Ganz konkrete Spuren haben sich hingegen zu vielen anderen »verlorenen Bibliotheken« aufnehmen lassen, mindestens zu Teilen davon. Im Falle von Heinrich Mann gelang es, die Bibliothek aus seiner früheren Münchener Wohnung über Mittelsmänner vor der Beschlagnahmung nach Prag in Sicherheit zu bringen; seine Berliner Bücherbestände sind allerdings verschollen. Auch sein Bruder Thomas konnte seine Bücher wenigstens teilweise retten. Erika und Golo Mann war es, zusammen mit Ida Herz*, die in den 1920er Jahren die Bibliothek geordnet hatte, gelungen, rund die Hälfte der Bücherbestände, darunter Thomas Manns Arbeitsbibliothek, in die Schweiz zu verbringen. Der Rest fiel in die Hände der NS-Behörden, die diesen nach Aussortierungen an die Bayerische Staatsbibliothek weitergab. Einiges davon konnte identifiziert und restituiert werden.51 Die Bücher von Anna Seghers haben, nach ihrer Weiterflucht nach Mexiko,
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Scialpi, S. 77. Bruns: Klagen über verlorene Bibliotheken: Wilhelm Herzog und Franz Rapp, S. 89. Vgl. Günter: Das Exil der Bücher. Walter Mehrings »Lebensgeschichte einer Literatur«. Mehrings Werk ist zuerst 1951 in den USA erschienen und später in deutscher Sprache mehrfach aufgelegt worden. Zukunftsweisend für den Umgang mit einer wiederaufgebauten oder rekonstruierten Privatbibliothek ist das 2019 abgeschlossene Projekt »Thomas Mann Nachlassbibliothek« an der
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den Krieg in einem Pariser Keller überdauert,52 und auch Walter Benjamin hatte noch mit Hilfe u. a. von Margarete Steffin Teile seiner Bibliothek nach Paris bzw. zu Bertolt Brecht nach Svendborg bringen können. Allerdings: Nach Benjamins Selbstmord auf der Flucht verlieren sich ihre Spuren, bis auf die Kinderbuchsammlung, die heute in Frankfurt aufbewahrt wird. Immerhin ist in diesem Fall eine bemerkenswerte Rekonstruktion gelungen; der Stuttgarter Antiquar Herbert Blank hat in detektivischer Arbeit die Zusammensetzung von Benjamins Bibliothek (unter Einschluss der sonstigen von ihm gelesenen Bücher) ermittelt und dazu nicht bloß eine Titelliste erstellt, sondern auch die Werke in gleichen oder vergleichbaren Ausgaben fast vollständig wiederbeschafft und so die Sammlung neu erstehen lassen.53 Es können an dieser Stelle nur Beispiele von ganz oder teilweise verlorenen oder geretteten Bibliotheken erwähnt werden, aber auf einen in vielerlei Hinsicht exemplarischen Fall soll abschließend zu diesem Punkt noch hingewiesen werden: Der österreichische Schriftsteller Felix Salten hat bei seiner Emigration von seiner geliebten und von ihm selbst sorgfältig verwalteten, mehr als 5.000 Bände umfassenden Bibliothek 1938 rund die Hälfte in die Schweiz mitnehmen können – nachdem er wie viele andere exilierte Bücherliebhaber zur Bezahlung der hohen Abgaben die andere Hälfte verkaufen bzw. in Teilen zu einem mehr symbolischen Betrag an einen NS-Funktionsträger abgeben musste. Die Salten-Bibliothek ist 2018 von der Wienbibliothek erworben worden (wohin 2015 bereits der bedeutende Nachlass gelangt war); sie wurde dort nicht nur geschlossen aufgestellt, sondern ist auch Gegenstand eines Dokumentations- und Rekonstruktionsprojekts, das in diesem Feld neue Maßstäbe setzen wird.54
Buchbesitz im Exil Unter den von Depravations- und Isolationserlebnissen gekennzeichneten Lebensumständen des Exils gewannen gerettete Bücherschätze eine nachgerade therapeutische Funktion; die vertraute Buchumgebung gewährte mentale Überlebenshilfe. Insbesondere den verstoßenen Schriftstellern dienten sie als eine Art »Sprachspeicher«, als Mittel gegen den drohenden Sprachverlust, und bewährten sich als ein Stück geistiger Heimat in der Fremde. Um diese Funktion adäquat einschätzen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, was Büchersammlungen für ihre Eigentümer vor ihrer Flucht bedeutet haben: Wenn es sich um über Jahre und Jahrzehnte mit Sachverstand und Hingabe aufgebaute Kollektionen handelte, so waren sie zu einem wichtigen Teil der Lebenswelt
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ETH Zürich, das einen digitalen Zugang zu den Lesespuren in den Büchern des Autors gewährt. Im Juni 2019 wurde im Zusammenhang mit der Ausstellung »Erlesene Bibliotheken« der Akademie der Künste in Berlin über die Plünderung und Enteignung von NS-verfolgten Intellektuellen diskutiert. Dabei kamen verschiedene Beispiele für wiederaufgefundene Schriftstellerbibliotheken zur Sprache, wie jene von Anna Seghers. Dazu die Dokumentation: In Walter Benjamins Bibliothek. Nach Informationen auf der internationalen Tagung »Im Schatten von Bambi. Felix Salten zum 150. Geburtstag« am 5./6. September 2019 an der Wienbibliothek, deren Vorträge 2020 im Druck erscheinen werden.
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geworden, als eine Widerspiegelung nicht nur spezifischer persönlicher Interessen, sondern auch eines intellektuellen Lebensweges.55 Caroline Jessen hat in ihrer für den hier behandelten Fragenkomplex außerordentlich ergiebigen Forschungsarbeit Kanon im Exil. Lektüren deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina / Israel und in zuvor publizierten Aufsätzen zeigen können, dass Bücherräume in der Krisensituation der Emigration (in Palästina, aber nicht nur dort) zu einem »wirklich existierenden ›Gegenort‹« werden konnten – einem Ort, der mit der Biographie des Sammlers so eng verbunden sein konnte, dass er Anderen in seiner wahren Bedeutung als imaginärer Raum der Erinnerung verschlossen bleiben musste.56 Für den ins Exil getriebenen Eigentümer entwickelten die »Buchexemplare mit ihren auf Vergangenes verweisenden Gebrauchsspuren und Widmungen« eine existenziell wichtige Wirkung gleich auf mehreren Ebenen: Die nicht in Deutschland zurückgelassenen, geretteten Bücher bekräftigten die Kontinuität der Biografie ihrer Besitzer über die Bruchstelle der Emigration hinweg: Sie ermöglichten die Re-Lektüre vertrauter literarischer Werke und damit mitunter auch die eskapistische Flucht in Kunstwelten oder dienten als Nachschlagewerk der Information und Wissensvermittlung, waren als Erbstücke oder Geschenk aber auch Teil der Familiengeschichte. Sie bargen langfristige Erinnerungen, die es festzuhalten galt. Und nicht zuletzt bildeten Bücher in der Konfiguration der Bibliothek ein von der Öffentlichkeit abgeschirmtes Refugium, eine Zufluchtsstätte oder einen Schutzraum.57 Jessen demonstriert die mit diesen besonderen Räumen verbundenen Implikationen u. a. an der als »Arche«58 interpretierbaren Sammlung von Werner Kraft in Jerusalem und an jener von Schalom Ben-Chorin*, die – im Original ebenfalls in Jerusalem befindlich – 2009 im Münchner Stadtarchiv mit allen zugehörigen Möbelstücken und Dekorationsgegenständen als räumliche Totalrekonstruktion wiederaufgestellt worden ist.59 Im Falle der Bibliothek Schalom Ben-Chorins handelte es sich im Kern um eine Büchersammlung, die im Zuge der Auswanderung des damals 22-jährigen Fritz Rosenthal aus München in Kisten nachgeschickt worden war – mit zahlreichen Gedichtbänden von Stefan George, Rilke, Mombert und Wolfskehl, Dramen und Romanen sowie religionsphiloso-
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Vgl. zu dieser Thematik Fischer: Büchersammlungen als Lebenszeugnisse und Erinnerungsräume. Jessen: Kanon im Exil. Die gekürzte Fassung einer 2015 an der Universität Bonn approbierten Dissertation enthält fünf Fallstudien zu den privaten Büchersammlungen von Paul Mühsam, Josef Kastein, Schalom Ben-Chorin, Werner Kraft und Ernst Loewy, in welchen sich faktisch die gesamte Bandbreite der Bibliotheksschicksale und des Umgangs damit abbildet. Vgl. zuvor Jessen: Das problematische Bild der geretteten Kultur – Büchersammlungen deutsch-jüdischer Einwanderer in Israel; sowie Jessen: Bücher als Dinge. Jessen: Das problematische Bild der geretteten Kultur, S. 180. Jessen wendet sich allerdings mehrfach gegen die Betrachtung von Emigrantenbibliotheken als bloßen »Zeitkapseln«. Vgl. https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Direktorium/Stadtarchiv/JuedischesMuenchen/Ben-Chorin-Zimmer0.html
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phischer Literatur u. a. von Martin Buber.60 Eine solche Materialisierung kultureller Identität und Erinnerung ist nur in seltenen Fällen möglich; es ist aber auch schon manches gewonnen, wenn es gelingt, in Listen und Katalogen die Zusammensetzung aufgelöster und in alle Winde zerstreuter Privatbibliotheken zu rekonstruieren. Im Falle von Ernst Loewy geht es Jessen dagegen mehr um eine Rekonstruktion einer Lesebiographie, die in diesem Fall stark von Thomas Mann-Lektüre, aber auch der deutschen Klassik geprägt ist und insofern als repräsentativ gelten kann für die auf den deutschen Literaturkanon ausgerichteten Lektürevorlieben, die nicht nur von Loewy begründet wurden als »Bemühen, ›der Auflösung und dem Nichts etwas Positives‹ […] entgegenzusetzen«.61 An anderer Stelle weist Jessen darauf hin, dass Bücher und Bibliotheken in zahlreichen autobiographischen Texten von Exilanten »als gerettetes, verlorenes oder wiederzugewinnendes Eigentum« Erwähnung finden, eben weil sie mehr waren als bloße Metaphern für Bildung, Erinnerung und Gedächtnis: »Bücher waren Zeugnisse einer bewusst – gegen Widerstände, unter Mühe – durchgehaltenen ›Identität‹. Als das Nichtzurückgelassene weisen die mitemigrierten Dinge auf Strategien und Hoffnungen, Kontinuität zu wahren, allen der Emigration geschuldeten Veränderungen zum Trotz, insbesondere der radikalen Infragestellung von internalisierten Werten durch die kulturellen Normen des Einwanderungslandes.«62 Eine Besonderheit von Büchern ist auch darin zu sehen, dass sie auf zwei Ebenen Lebensbedeutsamkeit erlangen konnten, auf Werkebene und Objektebene. In einem Fall geht es mehr um die Erinnerung an Lektüreerlebnisse (wobei sich Texte vielleicht hätten wiederbeschaffen lassen); das bestimmte Exemplar aber, vielleicht durch handschriftliche Widmungen, Annotationen, Unterstreichungen, Einlagen oder sogar selbst in Auftrag gegebenen Einband individualisiert und personalisiert, war untrennbar mit der eigenen Biographie verbunden und absolut unikal. Eine ungewöhnliche Entscheidung hat Stefan Zweig getroffen, als er 1935/1936 seine Autographensammlung verkaufte, weil er keinen Sinn mehr in deren Fortführung sah: »Als die Zeit Hitlers einsetzte und ich mein Haus verließ, war die Freude an meinem Sammeln dahin und auch die Sicherheit, irgend etwas bleibend zu erhalten«.63 Beim Gang ins brasilianische Exil reduzierte er seinen Bücherbesitz auf ein absolutes Minimum, und von den wenigen verbliebenen Autographen nahm er nur die kostbarsten mit, namentlich bedeutende Musikerautographen, die für einen Exilierten nicht zuletzt echte »Wertpapiere« darstellten, eine finanzielle Rückversicherung: Anders als Bücher waren sie leicht und unauffällig transportierbar, in ihrem Wert für Laien oft nicht erkennbar und trotzdem auf dem internationalen Markt unter Kennern gut zu verkaufen, alles unter Umgehung der strengen Devisenverkehrsbeschränkungen, wie sie inzwischen faktisch alle Länder erlassen hatten. Aufgrund der existenziellen Unsicherheit, der unfreiwilligen Mobilität, der eingeschränkten Lebensverhältnisse, der Bedrohung durch Ausweisung, Internierung etc. war
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Jessen: Das problematische Bild der geretteten Kultur, S. 188. Jessen: Kanon im Exil, S. 273. Jessen: Bücher als Dinge, S. 18 f. Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. London: Hamish Hamilton, Stockholm: Bermann Fischer-Verlag 1941, S. 368.
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es im Exil zunehmend schwierig bis unmöglich, Büchersammlungen in größerem Umfang unterzubringen oder mit sich zu führen. Besonders in Palästina (aber nicht nur dort) spitzte sich diese Problematik zu, wie eine Schilderung des hebräischen Schriftstellers Josef Agnon deutlich macht: Seit die Nazis an die Macht kamen, wurde Jerusalem ein Zentrum für deutsche Bücher […]. Die Einwanderer aus Deutschland kommen immer mehr herunter, jedes Jahr beziehen sie eine kleinere Wohnung; wer Schränke voller Bücher mitgebracht hat, findet keinen Platz dafür in seiner eingeengten Behausung, lädt die Händler ein und verkauft ihnen einen Sack voll Bücher für einen Schilling, nur um Platz für sich selbst zu haben. Jede Straßenecke in Jerusalem ist jetzt voll von wertvollen Büchern, und es ist anzunehmen, daß wertvolle deutsche Bücher nicht in Deutschland, sondern in Jerusalem zu finden sind.64
Verlust und Wiederaufbau von Büchersammlungen: Das Beispiel Lion Feuchtwanger Eine Vielzahl von Emigranten war nach Kriegsbeginn zur Weiterflucht ins überseeische Exil gezwungen, mit der Folge weiterer Bücher- und Sammlungsverluste. Diese fortgesetzte Verlustgeschichte lässt sich an Lion Feuchtwanger beobachten, der nach seiner Berliner Bibliothek auch seine im südfranzösischen Exil aufgebaute Sammlung verlor und in Kalifornien einen weiteren, nunmehr dritten und dabei durchaus erfolgreichen Anlauf unternahm: die mehr als 25.000 erlesenen Bände in Santa Monica gehören heute, wie auch das Haus Feuchtwangers, der University of Southern California.65 Feuchtwanger war von seinem Schreibansatz her, der auf Geschichtsrecherche und Ermittlungen zu historischen Persönlichkeiten abgestellt war, auf Primärquellen und Sekundärliteratur, jedenfalls aber auf Bücher angewiesen. Anfänglich war er ein intensiver Nutzer der Bayerischen Staatsbibliothek gewesen, bis er sich aufgrund seiner literarischen Erfolge (besonders Jud Süß 1925) eine eigene umfangreiche Privatbibliothek aufbauen konnte, für deren Ergänzung und Verwaltung schon in den ausgehenden 1920er Jahren ein Sekretär angestellt wurde.66 Diese Berliner Bibliothek wuchs innerhalb von sieben Jahren zu einer »splendiden« Sammlung heran. Sie wurde nach der »Machtergreifung« sofort beschlagnahmt – Feuchtwanger hatte sich den Nationalsozialisten in den letzten Jahren der Weimarer Republik verhasst gemacht und wurde als besonders gefährlicher Gegner
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Schmuel Josef Agnon: Schira. Frankfurt am Main 1998, S. 188; hier zit. n. Jessen: Bücher als Dinge, S. 25. Die aus einem Roman stammende Schilderung traf die realen Verhältnisse sehr genau. Siehe dazu auch Jessens Ausführungen auf S. 62 f., mit weiteren Hinweisen auf die nach Ernst Loewy oft »schamlos ausgenutzten« Buchverkäufe der Flüchtlinge. Fechner: Die Bibliotheken Lion Feuchtwangers; sowie Schuetze-Coburn: Lion Feuchtwanger und seine Privatbibliothek; von Hofe: Lion Feuchtwanger: The Writer and the Library; Jaeger: “He just wanted the books”. Lion Feuchtwanger als Büchersammler. Dieser Assistent, der für Feuchtwanger auch Quellenforschung betrieb, war Werner CahnBiecker*, der nach 1934 auf Empfehlung des Schriftstellers von Fritz H. Landshoff als Mitarbeiter im Amsterdamer Querido Verlag engagiert worden ist.
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des Regimes eingestuft; er stand im August 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste. Gerettet werden konnten nur einige von Feuchtwangers Manuskripten sowie Fotos, alles andere fiel der Zerstörung oder der Verschleuderung anheim: »Hitler’s men took everything out of our home that was good […]. And they sold every book for one mark, even those that were worth $ 300 or $ 600«.67 Im südfranzösischen Exil, in Bandol und dann in Sanary-sur-Mer, begann Feuchtwanger mit dem Wiederaufbau seiner Bibliothek, und in sieben Jahren kamen erneut mehrere tausend Bücher zusammen. Im Internierungslager Les Milles fand er Trost bei einer Reiseausgabe von Balzac, während seine Frau Marta die Flucht in die USA vorbereitete. Wieder war eine Bibliothek verloren, zumal die Auswahl von Büchern, die mit Hilfe einer Sekretärin in Kisten verpackt und über Lissabon nach Los Angeles geschickt wurden, durch ungeschützte Lagerung fast zur Gänze beschädigt oder zerstört war. Es gelang Feuchtwanger jedoch, seit 1941 in Pacific Palisades noch einmal eine erstrangige Bibliothek aufzubauen, seine größte bisher, denn das Haus bot dafür genügend Raum, und das Angebot war groß: »Dadurch, dass Feuchtwanger vom sicheren Los Angeles aus Bücher kaufen konnte, hatte er Möglichkeiten, von denen die meisten Büchersammler nur träumen konnten. Der Markt war mit Büchern überfüllt, die von Emigranten verkauft wurden, um an Geld zu kommen«.68 Wieder waren es seine Buchprojekte, aus denen sich die Sammelkerne ergaben, zunächst sein Interesse an der Französischen Revolution und an Benjamin Franklin, für den Roman Waffen für Amerika. Manifest blieb aber auch sein Interesse am gesamten Aufklärungsjahrhundert sowie an Klassik, Romantik und Poetischem Realismus. Er erwarb aber auch 18 Inkunabeln, darunter die Schedelsche Weltchronik, und wie schon immer Ausgaben griechischer und römischer Schriftsteller. Werke der Exilliteratur sammelten sich durch geschenkte Exemplare an, signierte Erstausgaben von Bruno Frank über Thomas Mann zu Franz Werfel, mit denen er in Kalifornien in direktem Kontakt stand. Bemerkenswert bleibt in jedem Fall das Tempo, in welchem die Bibliotheken entstanden: Um in 17 Jahren nahezu 30.000 Bücher sammeln zu können, brauchte Feuchtwanger erstens viel Geld und zweitens eine offensive Strategie, um die Bestandsentwicklung seiner Sammlung voranzubringen. Das Geld kam aus Vorschüssen für seine Bücher, aus seinen Autorenhonoraren und aus dem Verkauf von Filmrechten. Feuchtwanger kontaktierte Buchhändler, um nach Katalogen zu fragen, und versandte Nachfragen über Bücher zu ihn interessierenden Themen, so zum Beispiel im September 1947 an Friedrich Krause Foreign Books in New York, wobei es um Bücher über die spanische Geschichte von 1750 bis 1800 ging. Feuchtwanger oder seine Sekretärin suchten außerdem Bücher aus gedruckten Katalogen aus und bestellten diese per Telefon, Telegramm oder Post.69 Tatsächlich war Feuchtwanger – als Bestsellerautor finanziell keinen Beschränkungen unterworfen – zu einem unersättlichen Buchkäufer geworden, denn nach und nach hatte
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Marta Feuchtwanger, zit. n. Schuetze-Coburn: Lion Feuchtwanger und seine Privatbibliothek, S. 233. Schuetze-Coburn, S. 235. Schuetze-Coburn, S. 237 f.
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sich seine Bücherleidenschaft verselbständigt. Marta berichtete dazu: »when he got those [book] catalogs, he just ordered everything he wanted to have, and that had nothing to do with his work«.70 Allerdings: Feuchtwanger war immer auch ein »unersättlicher Leser«, wie er 1957 im Rückblick bekannte: »Ich lese sehr gern, sehr viel, sehr gründlich und sehr langsam. Ich lege ungern ein Buch zur Seite, ehe ich es fertig gelesen habe, auch wenn die Lektüre nicht recht lohnt. Ich fühle mich jedem Autor verwandtschaftlich verbunden, den antiken Autoren, auch den biblischen wie den zeitgenoessischen«.71 Es war nur folgerichtig, dass er vor seinem Tod bestimmte, dass die Bibliothek nicht verkauft oder zerstreut werden durfte. Obwohl es schon seine dritte Sammlung war, bezeichnete sie doch einen Ort von existenzieller Bedeutung: Mit jedem Buch, das er für seine dritte Bibliothek kaufte, fügte er sein Leben wieder zusammen und gab dem Chaos der Welt um ihn herum eine gewisse Struktur. Bücher in seiner Privatbibliothek waren für Feuchtwanger ein Schlüssel zu vergangenen Zeiten, sie dienten als eine intellektuelle Rettungsinsel und sie waren untrennbar mit seinem eigenen persönlichen Schicksal verbunden.72 Auch andere Schriftsteller bauten im Exil neue Büchersammlungen auf, alle aber in unvergleichlich kleinerem Maßstab als Lion Feuchtwanger, der innerhalb der Exilantenschaft ganz klar zu den am meisten Privilegierten gehörte. Neue Bücher legte sich auch der mit Feuchtwanger befreundete Arnold Zweig in Palästina zu, der dessen ungeachtet aber seine 1933 in Berlin beschlagnahmte Bibliothek schmerzlich vermisste: In einem Brief imaginierte er 1935 den Gang entlang der Regale: Ich gehe im Geiste an den beiden großen Wänden meiner Bibliothek entlang und sehe die Abteilungen, die Fächer und die Rücken meiner Lieblinge. Die PlatonAusgaben zum Beispiel, die des Grafen Stolberg mit den Stichen der Zeit. Die Shakespeare Ausgaben von Kleukens, wunderbar gedruckt. Die Tolstoi Ausgabe in Halbleder. Alle Frühausgaben georgischer Gedichte. Ein kompletter Dehmel in Halbpergament. Eine ganze Wand voller Memoiren und Dokumentenwerke über den Krieg, von denen einige – ich gestehe es gern – mir zur Zeit schmerzlich fehlen.73 70 71 72 73
Zit. n. Schuetze-Coburn, S. 231. Zit. n. Schuetze-Coburn, S. 231. Schuetze-Coburn, S. 239. Arnold Zweig: Essays. Zweiter Band: Krieg und Frieden, S. 172 f. Günter Häntzschel hat auf die psychologische Dimension des Bücherverlustes bzw. Bücherbesitzes in der Emigration hingewiesen: Ohne Zweifel habe schon vor 1933 »in dieser Situation des politischen und geistigen Unheils […] eine Sammlung noch Trost, Zuversicht, Schutz und zumindest im Privaten vielleicht ein Glücksgefühl bieten und so die geistige Leere auffüllen« können: »Wie hilfreich, wie dringend notwendig wäre den aus Deutschland vertriebenen jüdischen Sammlern ihre kontinuierlich aufgebaute Sammlung aber erst im Exil gewesen. Wie intensiv hätten die Bücher und Kunstwerke den aus ihrer vertrauten Umwelt Gestoßenen die Erinnerung an die verlorene geistige Heimat wachgehalten, waren doch gerade die jüdischen Bürger oft am engsten mit der deutschen Kultur verbunden. Die materielle Sammlung hätte im übertragenen Sinn eine innere Sammlung des Gemüts bewirken und zur Stärkung der
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In einigen Fällen haben Exilanten überhaupt erst im Exil begonnen, eine tiefere Beziehung zum Buch aufzubauen und, nach Maßgabe der Möglichkeiten, zum Büchersammler zu werden. Ein starkes Motiv war auch hier die Wahrung der Identität, die Bedrohung durch Sprachverlust: »Vielleicht würde einen das nächste Buch retten, auch das ein Anreiz des Sammelns«, brachte Georg Stefan Troller dieses Problematik auf den Punkt.74
Existenzsicherung durch Bücherverkauf Nur zu oft zwangen aber die Umstände einer Vertriebenenexistenz zu schmerzhaften Entschlüssen: Mitgebrachte Bücher(sammlungen) mussten vielfach zur Sicherung des Lebensunterhalts verkauft werden. Selbst ein Kurt Wolff ließ 1934 in Cannes wertvolle Bücher, Manuskripte und Graphische Blätter versteigern, um sich Kapital für ein Anwesen in Italien zu verschaffen, auf dem er autark leben wollte (was dann nur sehr kurze Zeit möglich war). Karl Wolfskehl lebte im neuseeländischen Exil u. a. von der Rente, die er für seine von Salman Schocken übernommene Bibliothek bekam (siehe dazu weiter unten).75 Der berühmte Journalist Georg Bernhard war in der Lage, seine 8.000 Bände umfassende Privatbibliothek nach Paris zu schaffen, wo sie eine Zeitlang der dort von Alfred Kantorowicz ins Leben gerufenen »Deutschen Freiheitsbibliothek« zur Verfügung standen; 1935 musste Bernhard sie von dort wieder abziehen, um sie in Amsterdam versteigern zu lassen. Übrigens konnte Kantorowicz selbst auch 2.000 Bücher von Berlin nach Paris transferieren. In die hauptsächlich auf seine Idee hin errichtete »Freiheitsbibliothek« kamen viele Bücher von Emigranten, die nicht in der Lage waren, eine Unterbringung für ihre mitgebrachten Bücher zu finden bzw. die Beträge nicht aufbringen konnten, die für eine längerfristige Lagerung zu bezahlen gewesen wären. Aus diesem Grund musste auch der österreichische Schriftsteller und Politiker Fritz Brügel in der Schweiz Teile der über Mittelsmänner in die Schweiz geschafften Bibliothek verkaufen, und auch von Walter Benjamin ist bekannt, dass er sich 1934 zur Bestreitung von Reisekosten zum Verkauf von Büchern und Autographen gezwungen gesehen hat.76 In vielen Fällen diente die mitgebrachte Bibliothek dem Aufbau einer neuen Existenz. Hermann Z. Meyer*, von dem die Initiative zur Gründung der Soncino-Gesellschaft ausgegangen war, der ihr Geschäftsführer war und eine bedeutende Judaica-Sammlung sowie eine (von der Berliner Staatsbibliothek übernommene) Moses-MendelssohnSammlung besaß, berichtete von sich selbst: Der Umsturz des Jahres 1933 bedeutete den Abschluß aller bibliophilen Unternehmungen. »Soncino« wurde als staatsfeindlich aufgelöst; der junge Anwalt rettete
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beschädigten Persönlichkeit beitragen können.« Häntzschel: Sammeln, Sammler, Sammlungen, S. 9. Georg Stefan Troller: Meine Sammlung. Zu Wolfskehl siehe Jessen: Der Sammler Karl Wolfskehl; sowie Bücherspuren. Karl Wolfskehls Deutsch-Jüdische Bibliothek. Nach Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (1972), S. 243.
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sich durch rechtzeitige Auswanderung, und die Bibliothek kam nach Jerusalem. Die Weiterführung der Sammlung verbot sich aus wirtschaftlichen Gründen: hierzu war schon der Mietpreis für eine entsprechend weiträumige Wohnung viel zu hoch. So wurde aus der Not eine Tugend gemacht, und die Bibliothek diente zum Aufbau einer neuen Existenz: die Bücher dienten als Grundstock für ein Antiquariat, das ich bald durch den Ankauf der Bibliotheken anderer Emigranten vergrößern konnte.77 Einen weiteren typischen Fall repräsentiert Walter Zadek*, der vor 1933 in Berlin als Publizist zahlreiche Bücherrezensionen geschrieben hatte. Mit den von ihm besprochenen Büchern ging er zur Universität, tauschte das, was ich nicht haben wollte, mit herrlichen Büchern um bei den Leuten und bekam eine sehr schöne Privatbibliothek. Diese Privatbibliothek ging nach Palästina und half mir beim Aufbau einer Buchhandlung mit guten deutschen Büchern; ‒ da haben Sie eine Grundlage meines buchhändlerischen Betriebes, meine Privatbibliothek aus meinen Besprechungsexemplaren.78 Allerdings hatte Zadek, als linksgerichteter Nachrichtenmann politischer Verfolgung ausgesetzt, die wertvollsten Stücke seiner Sammlung, die er aus Deutschland herausschaffen konnte, v. a. Autographen und Widmungsexemplare, noch 1933 veräußern müssen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.79 Ebenso zahlreich sind die Beispiele, wie Büchersammlungen zum Grundstock für Leihbibliotheken geworden sind; man findet sie in England ebenso wie in Italien oder Palästina.80 In besonderem Maße speiste sich aber der Antiquariatsbuchhandel aus Bücherverkäufen innerhalb der Emigration – und dies nicht nur im Zeitraum 1933 bis 1945, sondern noch Jahrzehnte später. Einige Antiquare wie der aus Österreich stammende Joseph Suschitzky in London haben sich auf diesen Handel mit deutschsprachigen Büchern von Emigranten an Emigranten spezialisiert; Suschitzky rechnete 1966 damit, dass in den kommenden Jahrzehnten noch sehr viele Privatsammlungen deutscher Refugees auf den Markt kommen würden.81
Bibliotheken mit Exilkarriere Zahlreiche bedeutende Sammlungen, die im Zuge der Emigration ihrer Besitzer Deutschland verließen, haben im Ausland gleichsam noch große Karriere gemacht. Dafür gibt es einige sehr bekannte Beispiele, wie etwa die Musiksammlung von Paul
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Hermann Z. Meyer: Als Deutscher Antiquar in Jerusalem. In: Bbl. 52, 30. Juni 1972, A218‒ 220; hier S. A221. Interview des Verf. mit Walter Zadek am 19. und 23. Oktober 1992 in Holon / Israel. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933‒1950. Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa (1972), S. 243. Siehe dazu die Hinweise in Kap. 6.5 Leihbibliotheken. Joseph Suschitzky: 21 Jahre Libris (London) Ltd. Etwas vom Buchhandel in England und sehr viel Persönliches. (Masch.). London 1966, S. 6.
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Hirsch, die von ihm 1936 geschlossen nach Cambridge verbracht werden konnte und 1946 in der Bibliothek des British Museum (seit 1973 in der British Library) Aufnahme fand. Aufbau, Zusammensetzung und Schicksal der »Paul Hirsch Music Library«, der aufgrund ihrer zahlreichen Originalpartituren weltweit wertvollsten Sammlung dieser Art, sind in der Literatur vielfach dokumentiert.82 Dass Bibliotheken selbst ins Exil gehen können, unabhängig von ihrem Schöpfer, dokumentiert die Geschichte der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg.83 Ihr Begründer Aby Warburg war bereits 1929 verstorben, und so ist in der Tat seine seit 1902 in Hamburg aufgebaute Sammlung, von der er selbst in Anspruch genommen hat, dass sie »meine eigenste Lebensarbeit versinnbildlicht« und die er als Forschungsinstrument auch nach seinem Tod erhalten wissen wollte, das emigrierende Subjekt gewesen, als sie kurz vor Weihnachten 1933 auf zwei kleinen Dampfern in London ankam. Es handelte sich um die regelrechte Flucht einer riesigen Bibliothek: Die Schiffe hatten nicht nur die rund 60.000 Bände und 25.000 Fotografien an Bord, die den Bestand ausmachten, sondern auch alle andere bewegliche Habe der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek und auch den kompletten personellen Stab. In der Literatur heißt es dazu, dass es sich bei der Transaktion wohl um »den wahrscheinlich größten Leihvorgang im Bücher- und Fernleihverkehr in der bisherigen Geschichte« gehandelt habe.84 Es sollte sich dabei allerdings um eine Dauerleihgabe handeln; im Mai 1934 wurde das »Warburg Institute« in London eröffnet und entfaltete seither seine bekannt einflussreiche Wirkung auf die kunstgeschichtliche Forschung in Großbritannien und in aller Welt. Dass die Eile, mit der die Bibliotheksverlagerung betrieben worden war, berechtigt war, sollte sich sehr bald aus wütenden Angriffen der NS-Presse erweisen. Bemerkenswert die Bewertung von Dieter Wuttke, der die Umstände dieses Bibliothekstransfers näher erforscht hat: »Wir sollten keinesfalls übersehen, daß das Warburg Institut durch seine Emigration in höherem Maße zu einem Faktor der internationalen Gelehrsamkeit geworden ist, als [sie] es hierzulande je hätte werden können«.85 Das von Aby Warburg aufgesetzte Forschungsprogramm zum Nachleben der Antike in der italienischen Renaissance, das nach seinem Ableben vor allem von den (sämtlich exilierten) Fritz Saxl, Erwin Panofsky, Ernst Cassirer und Raymond Klibansky vorangetrieben wurde, hat der internationalen Kunstwissenschaft in der Tat entscheidende Impulse geben können. In vielen Arbeiten der genannten Protagonisten des Instituts spiegelte sich letztlich auch die Struktur der Kunstwissenschaftlichen Bibliothek, die ja nach dem »Prinzip der guten Nachbarschaft von Büchern«, d. h. grenzüberschreitend und disziplinenübergreifend aufgebaut war. Ein nicht gleichermaßen spektakulärer, aber doch ähnlicher Befund kann auch für eine Reihe anderer emigrierter Sammlungen und Bibliotheken in Anspruch genommen
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Vgl. etwa King: Paul Hirsch and his Music Library. – Paul Hirsch war der Begründer der Frankfurter Bibliophilen-Gesellschaft und 1922 bis 1933 deren Präsident. The afterlife of the Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg; McEwan: A Tale of One Institute and Two Cities: The Warburg Institute; Biester: Ein forschender Bücherbesitzer. Aby M. Warburg und die Antiquare. Wuttke: Die Emigration der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und die Anfänge des Universitätsfaches Kunstgeschichte in Großbritannien, S. 151. Wuttke, S. 163.
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werden, wie etwa Walter Schatzkis Kinderbuchsammlung,86 die an ihren neuen Standorten in den USA Interesse an einem Thema weckte, das dort bis dahin keine besondere Aufmerksamkeit erfahren hatte. Erst recht gilt dies für Curt von Faber du Faur*, der in München mit dem George-Kreis und Karl Wolfskehl in Kontakt gestanden und als Bibliophile sich 1923 mit Georg Karl zur Gründung des Antiquariats Karl & Faber zusammengetan hatte. Er konnte im Zuge seiner Emigration 1939 sowohl seine Sammlung von klassischer Literatur in drei Sprachen wie auch die Sammlung zu deutscher Literatur von 1500 bis 1870, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert, in die USA mitnehmen. Als Professor in Harvard und Yale hat er auf der Basis dieser Bücherschätze eine ganze Generation v. a. von Barockforschern herangezogen. Die Sammlung wurde von der Universität Yale angekauft (zahlreiche weitere Bände hat er der Sammlung anschließend noch hinzugefügt), und ihre Texte sind später, wie das auch bei der Barockbibliothek von Harold Jantz der Fall war, in Mikroverfilmung überall in den USA und in aller Welt zugänglich geworden. Auf diese Weise hat nachfolgend auch die Barockliteraturforschung in Deutschland neue Impulse erhalten.87 Das Dritte Reich überlebt haben gleichfalls die Sammlungen des jüdischen Kaufhausmagnaten, Verlegers und leidenschaftlichen Bibliophilen Salman Schocken.88 Schocken, Mitglied u. a. der Soncino-Gesellschaft, besaß nicht nur eine der größten Privatsammlungen hebräischer Frühdrucke – 1933 zählte sie rund 3.000 Titel bzw. 20.000 Bände –, sondern auch eine herausragende Sammlung zur deutschen Literatur, großenteils in Erstausgaben und Liebhaberdrucken, Widmungsexemplaren und annotierten Bänden, auch Vorzugsausgaben und Pressendrucken, mit Schwerpunkten Jean Paul und Goethe (Ende 1933 nahezu 15.000 Titel), daneben zahlreiche Autographen von den Dichtern der deutschen Klassik und Romantik. 1937 erwarb er auch noch die 8.000 bis 9.000 Bände umfassende Bibliothek Karl Wolfskehls, »ein Akt spontaner Hilfe für den verarmten und halbblinden Dichter«. Beide Sammlungen konnte Schocken zwischen 1934 (in diesem Jahr war er nach Palästina ausgewandert) und 1939 fast zur Gänze aus Deutschland retten. Während die Sammlung hebräischer Drucke programmatisch angelegt war, folgte die der deutschen Literatur den persönlichen Vorlieben und Interessen Schockens, war also reine Privatbibliothek. Dementsprechend fanden die gedruckten Judaica und Hebraica (wenigstens zum größeren Teil) in einer Schocken-Bibliothek in Jerusalem ihren Platz – der Nationalbibliothek hatte er die Handschriften und Inkunabeln überlassen –, während die deutsche Literatur mit 30.000 Bänden in den 1970er Jahren, lange nach Schockens Tod 1959, in Hamburg bei Hauswedell versteigert und damit zerstreut wurde. Noch 1993 wurden in London bei Sothebyʼs wertvolle Hebraica aus Salman Schockens Besitz versteigert.89 Als bedeutende wissenschaftliche Bibliothek zur Zeitgeschichte, die hauptsächlich in der Emigration entstand, verdient Hervorhebung auch die »Wiener Library«.90 Ihr
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Siehe hierzu Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. Spahr: The Legacy of Curt Faber du Faur to the United States. vgl. Schaeper: Bibliophilie als kultureller Auftrag. Die Geschichte der Schocken Bibliothek bis 1939. Vgl. dazu Dahm: Das jüdische Buch im Dritten Reich (1993), S. 229‒235. Zum Folgenden vgl. Laqueur: Dr. Wienerʼs Library 1933‒1960; Barkow: Alfred Wiener and the making of the Holocaust Library; Barkow: Wiener Library.
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Gründer Alfred Wiener* hatte schon in den 1920er Jahren als Sekretär des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Berlin damit begonnen, die Aktivitäten der Nationalsozialisten zu dokumentieren (im »Büro Wilhelmstraße«); nach der NS-»Machtergreifung« flüchtete er nach Amsterdam, wo er gemeinsam mit dem Niederländer David Cohen ein Jewish Central Information Office gründete, das die Beobachtung der NS-Bewegung und des Antisemitismus fortsetzte und schon bald – u. a. durch Einverleibung des im Spanischen Bürgerkrieg eroberten Archivs der NSDAP / AO Landesgruppe Spanien – über einen Bestand von 40.000 Büchern und Broschüren verfügte. Dieser wurde 1939 noch vor Kriegsbeginn nach London gebracht, wo die »Wiener Library« sowohl mit der BBC als auch mit dem Informationsministerium und Geheimdiensten der Alliierten kooperierte und nach dem Krieg auch wertvolles Material zu den Nürnberger Prozessen beisteuerte. Nach Umwandlung in ein Forschungsinstitut mit öffentlicher Bibliothek wurde der Schwerpunkt auf die Erforschung des Holocaust gelegt; von 1946 bis 1983 erschien zweimonatlich das Wiener Library Bulletin. Eine in den 1970er Jahren geplante Verlagerung der Wiener Library nach Israel wurde nur teilweise realisiert; alle Bestände wurden aber mikroverfilmt und waren auch in London zugänglich. Inzwischen sind wichtige Teile von »The Wiener Library for the Study of the Holocaust and Genocide« digital verfügbar. Somit konnte mancher Buchbestand doch, an unterschiedlichsten Orten der Welt, gesichert oder sogar zum Ausgangspunkt neuen Sammelinteresses und zum Stützpunkt wissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Die genannten Beispiele ändern allerdings nichts an dem Befund, dass von den tausenden Sammlungen, die von jüdischen Bibliophilen in den Jahren und Jahrzehnten vor 1933 mit Bücherliebe und Kenntnisreichtum zusammengetragen worden waren, nur relativ wenige ihre Eigentümer ins Exil begleiten und die Zeiten überdauern konnten.91
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Namentlich die in »Lifts« nach Palästina gelangten Bücherschätze konnten dort von ihren meist mittellosen Eignern aus Gründen beengter Wohnverhältnisse und wegen des Klimas nicht sachgerecht gelagert werden; Luxusdrucke verdarben in landwirtschaftlichen Ansiedlungen und Kibbuzim, wie überlieferte Beispiele belegen. Siehe hierzu Fischer: Zerstörung einer Buchkultur, S. 191 f., nach einem Interview mit Walter Zadek.
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Zur Wirkungsgeschichte des verlegerischen und buchhändlerischen Exils nach 1945
8.1
Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich nach 1945
Welchen Beitrag Remigranten für den Wiederaufbau des Buchhandels im geteilten Deutschland und in Österreich geleistet haben, wird aus den Folgebänden der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert noch deutlicher hervorgehen.1 Doch sollen im Folgenden einige Aspekte dieser Nachkriegsgeschichte beleuchtet werden, die mit der buchhändlerischen Emigration und Remigration in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Dazu gehören: die Mitwirkung von Exilanten in »intelligence«Einrichtungen, in denen die nach Kriegsende zu treffenden Maßnahmen vorbereitet wurden; nach Kriegsende ihr Auftreten als »Kulturoffiziere«; ihre Rolle im Aufbau von Verlagsstrukturen in den Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs; die Einflussnahme von US-Nachrichtendiensten auf die publizistische Öffentlichkeit und den Buchmarkt in den Westzonen und der Bundesrepublik im Kalten Krieg ebenso wie der Aufbau eines Verlagswesens in der SBZ unter KP- bzw. sowjetischer Regie; schließlich die Reintegration der von den Exilverlagen »geretteten« Exilliteratur in den Buchmarkt von West und Ost.
Buchhändlerische Remigration und Nicht-Remigration Mit der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Herrschaft stellte sich auch für die in alle Welt versprengten Verleger, Buchhändler und Antiquare die Frage nach der Rückkehr in die Heimat. Wie sich zeigte, war in diesen Gruppen die Bereitschaft zur Remigration – gemessen an der Gesamtemigration, für die man eine Rückkehrquote von 32 % ermittelt hat 2 – signifikant niedrig. Auch war sie innerhalb der einzelnen Sparten unterschiedlich ausgeprägt: Verleger konnten sich eher einen Neubzw. Wiederanfang im befreiten Deutschland vorstellen als Buchhändler und Antiquare, die fast durchgehend auf eine Rückkehr verzichteten. Generell waren die Bedingungen für eine Rückkehr in den einzelnen Besatzungszonen, vor allem in den Westzonen einerseits und der sowjetisch besetzten Zone andererseits, sehr unterschiedlich. Die SBZ / DDR stellt schon insofern einen Sonderfall dar, als hier nicht so sehr die individuelle Entscheidung maßgebend war, sondern der Ruf oder Befehl der Partei. Die Rückkehrer aus dem kommunistischen Machtbereich (besonders aus der Sowjetunion) fanden in der SBZ bzw. dann in der DDR gute Möglichkeiten vor, an verantwortlicher Stelle tätig zu
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Geplant sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt jeweils ein Band zu den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland bzw. zu der SBZ und DDR. Zu Entwicklung und Stand der Remigrationsforschung vgl. auch Krauss: Heimkehr in ein fremdes Land. Siehe zu der Thematik auch Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remigration.
https://doi.org/10.1515/9783110303353-009
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werden: Wer sich im antifaschistischen Kampf bewährt und den stalinistischen Kurs in »gesinnungsfester« Parteidisziplin mitgetragen hatte, schien nach 1945 prädestiniert zu sein für eine Tätigkeit in Buchverlagen, denen ja nun eine wichtige Aufgabe in der weltanschaulichen Umerziehung der Bevölkerung zukommen sollte. Sie haben daher in den staatlichen und staatsoffiziösen sowie in Parteiverlagen bald einen Platz und eine Aufgabe gefunden. Deutlich schwieriger hatten es in SBZ und DDR die »Westremigranten«, gegen die große Vorbehalte bestanden und die sich gegen die von Walter Ulbricht und im kulturellen Bereich von Johannes R. Becher angeführten Moskau-Funktionärsseilschaften kaum durchsetzen konnten. So war für einen Wieland Herzfelde zwar eine Professorenstelle vorhanden, die Wiederaufnahme einer verlegerischen Tätigkeit wurde ihm dagegen verwehrt. Dass der aus Mexiko zurückgekehrte Walter Janka seine leitende Stellung im Aufbau-Verlag bald wieder verlor, weil ihn die Staatssicherheit als »Konterrevolutionär« abholte, passt in dieses Bild, ebenso wie das Schicksal Paul Merkers, der als Politfunktionär an El Libro Libre beteiligt gewesen war. In den Westzonen bzw. der Bundesrepublik stellt sich die Rückkehrproblematik noch differenzierter dar. Zunächst war die allgemeine Stimmung den Emigranten gegenüber bestimmt von Ablehnung, ja gelegentlich von mühsam unterdrückter Feindseligkeit – die Vorbehalte, die den exilierten Schriftstellern bis hin zu Thomas Mann in der Öffentlichkeit entgegenschlugen, sind bekannt.3 Auch die remigrierenden Verleger, die oft bereits eine andere Staatsbürgerschaft angenommen hatten, sahen sich damit konfrontiert. Zudem wurden Rückkehrwillige durch verschiedene administrative Hürden auf alliierter Seite ferngehalten, wie dem 1941 wieder in Kraft getretenen Trading with the Enemy Act, der beispielsweise Gottfried und Brigitte Bermann Fischer als nunmehrige amerikanische Staatsbürger jahrelang daran hinderte, in Deutschland wirtschaftlich tätig zu werden. Erst nach Unwirksamwerden dieses US-Gesetzes auf deutschem Boden hat das Verlegerpaar mit dem Neuaufbau des S. Fischer Verlags in Frankfurt am Main einen eindrucksvollen Beitrag zur Reorganisation des deutschen Verlagswesens geleistet – wohl den nachhaltigsten, der von Remigrantenseite kam. Dass sich das Ehepaar Bermann Fischer später enttäuscht aus Deutschland zurückzog, hatte sicher vielfältigste Gründe, hing aber zweifellos auch mit einem politisch-gesellschaftlichen Klima zusammen, das sich aus ihrer Sicht problematisch entwickelte. Mit unerfreulichen Erfahrungen konfrontiert waren z. B. auch die Ullsteins; sie wurden lange hingehalten, ehe die Rückerstattung ihres Eigentums, das inzwischen stark an Wert verloren hatte, in Gang kam (ausführlicher dazu in diesem Kapitel weiter unten). Ohnehin waren die Aussichten, in dem zerbombten und zunächst von Papier- und sonstiger Rohstoffknappheit gezeichneten Land ein Unternehmen aufzubauen, alles andere als rosig. Mancher Emigrant dürfte auch den im Zuge des Kalten Kriegs rabiate Züge annehmenden, CIA-geschürten Antikommunismus in der Bundesrepublik wenig attraktiv gefunden haben; wer in den USA die vom US-Senator McCarthy angezettelte Hetzjagd auf tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten beobachtet hatte,4 bekam damit
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Zu dieser Thematik vgl. u. a.: Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat (zu den betroffenen Verlegern bes. S. 116‒119). Ferner: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik. Dass Emigranten und namentlich emigrierte Schriftsteller schon die gesamte Exilzeit hindurch Beobachtungsobjekte auch der westlichen Geheimdienste waren, zeigen vor allem die Forschungsergebnisse von Alexander Stephan; siehe Stephan: Im Visier des FBI.
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eine Vorstellung von dem, was möglicherweise auch in Deutschland Platz greifen konnte. Überdies war vielfach erneut von Kriegsgefahr die Rede. Und dass es für jeden aus dem Lande getriebenen Juden ohnehin ein schwerer Entschluss war, in das Land seiner Peiniger zurückzukehren, ist mehr als verständlich. Bei den aus Österreich Vertriebenen war die Neigung zur Remigration rein zahlenmäßig etwas stärker ausgeprägt als bei den deutschen Schicksalskollegen. Zwar sahen sie sich auch hier mit Ressentiments konfrontiert; der einzige Politiker, der den Exilanten gegenüber eine Einladung zur Rückkehr aussprach, war nach 1945 der von der KPÖ nominierte Kulturstadtrat Viktor Matejka, dessen Appell aber mangels Unterstützung wenig Wirkung zeigte. Dennoch: Besonders in den parteinahen Buch- und Zeitungsverlagen, beim kommunistischen Globus Verlag oder beim sozialdemokratischen Pressekonzern Konzentration ergaben sich für Rückkehrer sehr rasch nach Kriegsende Beschäftigungsmöglichkeiten, vielfach in leitenden Funktionen. Auch im privatverlegerischen Bereich kam es zur Rückstellung »arisierter« Unternehmen an ihre früheren Eigentümer, wie im Falle des Zsolnay Verlags. Besondere Impulse gingen aber von dieser Gruppe nicht aus. Im literarischen Leben spielten, anders als in der BRD, Remigranten wie Friedrich Torberg, Hans Weigel oder Hilde Spiel – wenn auch nicht unangefochten – als Literaturkritiker eine wichtige Rolle, und auch auf den Bühnen konnten Remigranten als Autoren (besonders Fritz Hochwälder), Direktoren, Regisseure und Schauspieler wieder Fuß fassen. Ehe nun die Aspekte der Verleger- und Buchhändler-Remigration näher beleuchtet werden, soll – wenn auch nur ausschnitts- oder vielmehr andeutungsweise – noch ein Spezialaspekt in der Wirkungsgeschichte des Exils angesprochen werden, die Tätigkeit der Emigranten in den Nachrichtendiensten und Propagandaorganisationen in den letzten Kriegsjahren sowie als Kulturoffiziere in der westalliierten Besatzung Nachkriegsdeutschlands.
Emigranten als Deutschlandexperten des Office of Strategic Services Nach Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika entstand dort eine ganze Anzahl von Organisationen, die im weitesten Sinne als Geheimdienste oder »intelligence services« anzusprechen sind und unterschiedliche Aufgaben wahrzunehmen hatten. Hervorzuheben sind das Office of War Information (OWI), das hauptsächlich für offen verbreitete Feindpropaganda zuständig war,5 und das Office of Strategic Services (OSS), das meist verdeckt und offensiver zu Werke ging. Im und für das OSS waren auch zahlreiche deutsche und österreichische Emigranten tätig, die auf diese Weise ihren Beitrag zur Niederwerfung des NS-Regimes und zum Sieg der gegen Hitler-Deutschland verbündeten Mächte leisten wollten. Als Kenner der Verhältnisse in Deutschland und Europa waren ihre Dienste damals hoch erwünscht, denn in diesen US-Einrichtungen herrschte aufgrund der lange Zeit betriebenen isolationistischen Politik diesbezüglich ein gelegentlich grotesk wirkendes Unwissen, und namentlich in dem bunt zusammengewürfelten Personal des OSS konnten sich deutsche und österreichische Intellektuelle und Wissenschaftler sehr gut nützlich machen. In der für politische Analysen zuständigen Research and Analysis Branch (»R&A«) des OSS arbeiteten sie zwischen 1942 und 5
Siehe hierzu Winkler: The Politics of Propaganda.
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1949 hauptsächlich an deutschlandpolitischen Handbüchern und Analysen, wobei insbesondere Emigranten aus dem Umkreis des Instituts für Sozialforschung (damals an der Columbia University in New York angesiedelt) eine herausgehobene Rolle spielten.6 Im Mittelpunkt stand Franz L. Neumann, der im Exil sein Hauptwerk Behemoth, eine Auseinandersetzung mit dem Wesen des Nationalsozialismus, verfasste,7 und als Deutschlandexperte im OSS half, die Tätigkeit der künftigen Militärregierung im besiegten Deutschland vorzubereiten. Später verfasste er mehrere Anklageschriften für die Nürnberger Prozesse; auch lieferte er gedankliche Grundlagen für den Entnazifizierungsprozess. Neben ihm waren Leo Löwenthal, vor 1933 einer der Mitbegründer der Kritischen Theorie,8 sowie einige damals noch weniger bekannte Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung für das OSS tätig, wie der Staats- und Verfassungsrechtler Otto Kirchheimer, der als Research Analyst angestellt war und 1952 in das State Department als Leiter der Zentraleuropa-Sektion wechselte, sowie Herbert Marcuse, der von 1942 bis 1951 für den US-amerikanischen Geheimdienst tätig war und dort »Feindanalysen« anfertigte.9 Welchen Stellenwert die in »R&A« entstandenen Konzepte der Emigranten für die amerikanische Deutschlandpolitik tatsächlich hatten, ist schwer zu beurteilen; vieles davon dürfte auch unbeachtet geblieben sein. Aber nicht nur Wissenschaftler, sondern auch prominente exilierte Schriftsteller hatten sich in den Dienst des Office of Strategic Services gestellt. So etwa hat Erich Maria Remarque 1943/44 eine Denkschrift im Auftrag des OSS erstellt, mit Überlegungen zur Umerziehung des deutschen Volkes in Nachkriegsdeutschland. Auch hier sind konkrete Auswirkungen auf die Reeducation-Politik der Westmächte nicht nachgewiesen.10 Spät bekannt geworden, dann aber umso lebhafter rezipiert worden ist das Beispiel Carl Zuckmayers, der seit 1943 in einem Geheimreport 11 für das OSS mehr als 150 Porträts von »Nicht-Emigranten« bzw. bekannter Persönlichkeiten – hauptsächlich Schriftsteller und Künstler – des Dritten Reichs erstellt hat. Es ging dabei um die Frage, wer für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands herangezogen werden könnte. Allerdings waren die Beschreibungen mehr vom anekdotischem Stil als von konkretem Wissen gekennzeichnet, das Zuckmayer für den Zeitraum 1933 bis 1945 auch gar nicht in vollem Umfang haben konnte; dennoch traute er sich zu, die Porträtierten nach bestimmten Kategorien einordnen zu können. Dabei ging es nicht ohne sehr subjektive Urteile und
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Vgl. hierzu Marquardt-Bigman: Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942‒1949. Behemoth. The structure and practice of national socialism ist 1942 zuerst in New York bei Oxford University Press erschienen, 1944 in erweiterter Ausgabe; in deutscher Sprache u. d. T. Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus erst 1977 in Köln in der Europäischen Verlagsanstalt; als Fischer-Taschenbuch in Frankfurt am Main 1984 u. ö. Löwenthal wurde 1949 Direktor des Senders Voice of America; seit 1956 lehrte er Soziologie in Berkeley. Marcuse: Feindanalysen: Über die Deutschen. Placke: Remarques Denkschrift Practical Educational Work in Germany after the War (1944) im Kontext zeitgenössischer Konzeptionen für das nahende Nachkriegsdeutschland. Zuckmayer: Geheimreport. – Vgl. zur Diskussion: Zuckmayers »Geheimreport« und andere Beiträge zur Zuckmayer-Forschung; ferner Rotermund: »Charaktere« und »Verräter«. Carl Zuckmayers Geheimreport von 1943/44.
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Fehleinschätzungen ab, namentlich bei den Vertretern der Theaterwelt.12 Überhaupt ist der konkrete Nutzen, den der OSS aus diesen Beschreibungen gezogen haben könnte, sehr zweifelhaft, ebenso die Bewertung, sie hätten auf Mikroebene eine wichtige Ergänzung zu den Gesellschaftsanalysen dargestellt, welche die Sozialwissenschaftler um Franz Neumann für die amerikanischen Regierungsstellen geliefert haben.13 In der unmittelbaren Nachkriegszeit, 1946, hat Zuckmayer dann als ziviler Kulturoffizier im Auftrag des US-Kriegsministeriums fünf Monate Deutschland und Österreich bereist und zwei Reports über seine Eindrücke verfasst.14 Mit seinen Berichten suchte er die Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten zugunsten der aus seiner Sicht schwer leidenden Bevölkerung zu beeinflussen,15 weniger durch Fakten als literarisch-atmosphärische Schilderungen der Gegebenheiten, die sich dem Blick des Emigranten als ein Bild der Verwüstung und der seelischen Verwahrlosung darboten. Die angelaufenen amerikanischen Wiederaufbaumaßnahmen in hellem Lichte darzustellen (was vermutlich Teil seines Auftrags war), war ihm dagegen kein Anliegen. Neben den US-Geheimdiensten und Regierungsstellen gab es aber auch innerhalb der deutschsprachigen Emigration selbst entstandene Organisationen, in denen über eine Nachkriegsordnung nachgedacht und diskutiert wurde. In den USA war es in den letzten Kriegsjahren und besonders nach der Niederlage der deutschen Armee in Stalingrad, mit der das Kriegsende deutlich näher zu rücken schien, zu einer Sammlungsbewegung gekommen, in deren Rahmen Konzeptionen für den Neuaufbau in Deutschland entwickelt und in Form von Resolutionen propagiert wurden. In diesem Zusammenhang entstand im Frühjahr 1944 das unter dem Vorsitz des Theologen Paul Tillich stehende Council for a Democratic Germany (CDG), in dem sich auch einige Exilschriftsteller engagierten, unter ihnen Bertolt Brecht und Hermann Budzislawski; Thomas Mann war in die Planungen eingebunden, schloss sich aber dem Council nicht an.16 Im Grunde handelte es sich um eine Reaktion auf die bereits im Juli 1943 erfolgte Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau, wobei das CDG mit der Zusammenarbeit bürgerlicher, sozialdemokratischer und kommunistischer Kräfte ein Paradigma für die Zusammenarbeit der Westmächte und Russlands liefern wollte. In seinen Deklarationen war das ebenso ein Programmpunkt wie die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker, auch des besiegten Deutschland. Beide Punkte sollten sich nach 1945 als illusorisch erweisen. Es ist aber bemerkenswert, dass sich in der deutschsprachigen Emigration die Tendenz verstärkte, das deutsche Volk vor allzu harten Strafmaßnahmen in Schutz zu nehmen. In die gleiche Richtung ging der Widerstand großer Teile
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Möglicherweise wollte sich Zuckmayer als Dramenautor eine Rückkehr auf die deutschen Bühnen nicht verbauen. Wie dies die Herausgeber des Geheimreports sehen; siehe das Nachwort. – Zu den Gesellschaftsanalysen vgl. Middendorf: »Verstoßenes Wissen«. Emigranten als Deutschlandexperten. Zuckmayer: Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Zu den Vorstellungen anderer Autoren von Nachkriegsdeutschland vgl. den Band: Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938‒1949. Zuckmayer hat auch Peter Suhrkamp aufgesucht, der noch sehr unter den Folgen seiner Haft litt. – Zur Rezeption von Zuckmayers Deutschlandberichten vgl. Scholdt: Zuckmayer in neuer Sicht. Siehe Krohn: Der Council for a Democratic Germany.
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des politischen Exils gegenüber dem in Großbritannien entstandenen, aber auch in die USA hineinwirkenden Vansittartismus, der von einer Gleichsetzung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus ausging und die vollständige Demilitarisierung des Landes und die schwere Bestrafung des kollektiv schuldig gewordenen deutschen Volkes forderte. Eine Steigerung erfuhr diese Position im Plan des amerikanischen Ministers Henry Morgenthau, der Deutschland nach dem Krieg auf das Niveau eines Agrarstaates zurückwerfen wollte, damit nie wieder Gefahr von ihm ausgehen könne. Auch diesem durch eine Indiskretion bekanntgewordenen, realpolitisch ohnehin irrelevanten Morgenthau-Plan wurde von Seiten des deutschsprachigen Exils entgegengetreten.
Nach dem Krieg: Emigranten als US-amerikanische und britische »Kulturoffiziere« Nicht nur im engeren Bereich der Geheimdienste, sondern auch in der in der amerikanischen Besatzungszone eingerichteten US-Militärregierung entstand nach 1945 ein Geflecht von Organisationen, mit deren Hilfe der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens gewährleistet werden sollte. Aus diesem Geflecht soll nur jene Linie näher nachgezogen werden, die auf »Information Control« ausgerichtet war. Darunter verstand man die Überwachung der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Umerziehung des deutschen Volkes sowie die Lizenzierung der deutschen Informationsdienste (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftliche Veröffentlichungen u. a. m.); hinzu traten Überwachungsfunktionen bei der Herstellung, Synchronisierung und Verbreitung von Filmen sowie im Bereich von Theater, Musik und Rundfunk.17 Zunächst gab es einen Information Control Service, bis nach der Errichtung des Office of Military Government for Germany (OMGUS) die verschiedenen Zuständigkeiten unter einem Director of Information Control zusammengefasst und weiter ausgebaut wurden. Es entstanden mehrere Branches, u. a. die Publications Control Branch unter der Leitung von Lt. Col. Douglas Waples. Im Zuge von verwaltungsorganisatorischen Neuordnungen änderten sich diese Strukturen immer wieder; so entstand im März 1947 eine Information Control Division. Wie zahlreiche Schriftsteller waren auch Buchhändler- und Verlegeremigranten bereit, für den Wiederaufbau eines demokratischen Deutschland und eines von allem nationalsozialistischen Gedankengut gereinigten Buchmarktes einen Beitrag zu leisten. Ein Beispiel dafür gibt der aus Wien stammende, nach dem »Anschluss« Österreichs in die USA emigrierte Buchhändler Felix Reichmann* (1899 Wien – 1987 Ithaka, N.Y.), dem wichtige Einblicke in die Lage des deutschen Buchhandels unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu verdanken sind.18 Reichmann hatte 1926 die väterliche Buchhandlung mit Antiquariat Alois Reichmann (gegr. 1896) in Wien übernommen, 1938 wurde er nach Konfiskation seines Vermögens von März 1938 bis Februar 1939 im KZ
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OMGUS-Handbuch: Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945‒1949, S. 115. Siehe dazu u. a. Birgit Pape: Kultureller Neubeginn in Heidelberg und Mannheim 1945‒ 1949, S. 193; Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien (2003), S. 189 f.; https://www.univie.ac.at/geschichtegesichtet/data/Edelman.pdf
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Dachau und danach im KZ Buchenwald interniert.19 Nach seiner Entlassung und Flucht in die USA arbeitete er als Kurator in einem Museum, studierte daneben an der University of Chicago Bibliothekswissenschaft und nahm dann eine Stelle als Bibliothekar der Carl Schurz Foundation in Philadelphia an. Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde er im amerikanischen Geheimdienst OSS tätig, von 1945 bis Mai 1946 fungierte Reichmann als Besatzungsoffizier in Baden-Württemberg und war dort als Leiter der Stuttgarter Verlagskontrollabteilung des American Military Government mit der Entnazifizierung und Neuetablierung des deutschen Buch- und Verlagswesens beauftragt. In diesem Zusammenhang verfasste er die Studie The Reorganization of the Book Trade in Germany, die 1947 in The Library Quarterly veröffentlicht wurde.20 Es handelt sich hier wohl um die früheste Bestandsaufnahme zum Buchhandel im zonal geteilten Deutschland und um ein aufschlussreiches Dokument zur Buchpolitik der Besatzungsmächte. Wie John B. Hench in seiner Studie Books as Weapons näher ausführt, spielten Bücher im Umerziehungsprogramm der amerikanischen Siegermacht eine herausragende Rolle.21 Bereits im November 1944 war das Office of War Information (OWI) darangegangen, Bücher für Deutschland auszuwählen, aus der Überzeugung heraus, dass gerade in Deutschland »books can perhaps be employed more effectively in carrying out our Long Range objectives than any other use of the printed word.«22 Und auch hier
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Die »arisierte« Buchhandlung wurde nach Kriegsende zunächst von öffentlichen Verwaltern und seit Oktober 1946 mit Vollmacht Reichmanns von dem früheren, 1938 nach Großbritannien emigrierten und aus Australien zurückgekehrten Mitarbeiter Hans Edelmann* (1907 Wien – 1978 Wien) gemeinsam mit Elvira Grosz geleitet. Nach dem Abschluss des Rückstellungsverfahrens im April 1951 ging die Buchhandlung zu gleichen Teilen an den früheren Besitzer Felix Reichmann und an Hans Edelmann. Vgl. Hupfer: Zur Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 189 f.; Stieglitz-Hofer: Buch- und Antiquariathandlung Alois Reichmann [online]; Schroeder: »Arisierung« II, S. 362‒365; Hochwarter: Felix Reichmann – Wiener Kunstgeschichte gesichtet [online]; Bertz: »Arisierung« im österreichischen Buchhandel, S. 73‒77 [online]. Reichmann: The Reorganization of the Book Trade in Germany. In: The Library Quarterly 17 (1947), No. 3, S. 185‒200. (auch in: International Book Publishing. An Encyclopaedia. New York, London: Garland 1995, S. 547‒559). Ab 1947 lehrte Reichmann Bibliographie an der Cornell University in Ithaca, NY, und wurde Kurator der Rara Abteilung der Universitätsbibliothek; sein Nachlass liegt im Cornell University Archive. Reichmann publizierte in seiner Eigenschaft als Bibliothekar u. a. auch den Aufsatz: Bibliographical Control of Reprints. In: Library Resources & Technical Services 11 (1967), Nr. 4, S. 415‒435. Vgl. auch Stephen A. McCarthy: Felix Reichmann and the development of the Cornell Library. Hench: Books as Weapons, bes. Part II: Books as »Weapons in the War of Ideas« und Part III: U. S. Cultural Power Abroad. Hench: Books as Weapons, S. 115. Auch die 1942 bis 1945 bei den Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF), dem Hauptquartier der alliierten Streitkräfte in Nordwest- und Mitteleuropa angesiedelte Psychological Warfare Division (PWD) ging davon aus, dass im traditionellen Leseland Deutschland »the printed word in book form enjoys the greatest prestige and can be of very great and lasting influence« (ebd.). Siehe dazu: The Psychological Warfare Division Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force. An Account of its Operations in the Western European Campaign, 1944–1945. Reprint, hrsg. von Lee Richards. O. O., PsyWar.Org 2007, 2014; zu »Publications Control / Book Control« vgl. S. 219‒223, bes. S. 219: »Book control policy is based on the fact that German readers are
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nahmen deutsche Emigranten eine herausgehobene Position ein, so der Leiter der deutschen Abteilung von OWI London Lehmann-Haupt. Hellmut Lehmann-Haupt* (1903 Berlin – 1992 Columbia, Missouri), von seinem Studienabschluss her Kunsthistoriker, war nun zwar bereits 1929 in die USA gegangen und hatte dort zuerst für die Encyclopaedia Britannica, dann als Kurator des Rare Book Department der Bibliothek der Columbia University in New York gearbeitet, ehe er neun Jahre später an der Columbiaʼs School of Library Service zum Assistant Professor für Buchkunst berufen wurde.23 Während des Zweiten Weltkriegs war Lehmann-Haupt Captain in der Intelligence Division der US-amerikanischen Militärregierung und nach dessen Ende als deren Berater für den kulturellen Wiederaufbau in Deutschland mit dem speziellen Aufgabengebiet Buchund Verlagswesen tätig. In dieser Eigenschaft war er an der Umsiedlung Leipziger Verlage nach Wiesbaden beteiligt; auch unterstützte er Gottfried Bermann Fischer bei dessen Bemühungen um die Wiedereröffnung seines Verlages in Deutschland, wie er in umgekehrter Richtung in den USA zuvor schon anderen in der Buchbranche tätigen Hitlerflüchtlingen bei der Integration in das neue Umfeld behilflich gewesen war.24 Von der 1944 von Lehmann-Haupt geführten OWI-Abteilung in London ist zu berichten, dass sie in ihrer Tätigkeit weit über das hinausging, was von ihr erwartet wurde, indem sie aus einer Liste von 40 für die »Overseas Editions« vorgesehenen Titeln nicht bloß eine Auswahl traf, sondern zusätzliche Vorschläge machte. Lehmann-Haupt selbst entwarf ein Konzept, das eine gut begründete Gliederung der Titel in drei Gruppen anregte. So etwa sollte die Gruppe »Amerikanische Geschichte« mit Titeln bestückt werden, die ein ehrliches und dabei doch nachahmenswertes Bild einer durchaus mühevoll erkämpften Demokratie entwerfen. Bücher von John Dos Passos würden daher den angestrebten Zielen letztlich besser entsprechen als idealisierte Darstellungen: »Such reasonable and honest accounts may also be of practical value to the Germans in their difficult task of reorientation.«25 Diese ambitionierten Vorschläge fanden zunächst – für die »Overseas Editions« – aber keine Berücksichtigung, sondern erst in späteren amerikanischen Buchprogrammen für Deutschland.
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traditionally more influenced by books than by other printed media.« Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese starke Betonung des Mediums Buch auf eine entsprechende Einflussnahme seitens der deutschsprachigen Emigration zurückgeht. Sigfred Taubert: Das antiquarische Buch in Nordamerika. In: Bbl. (Ffm) Nr. 64 vom 10. August 1962, S. 1418‒1422; William H. Honan: Hellmut E. Lehmann-Haupt, 88, Author and Bibliography Expert (Nachruf). In: New York Times, 12. März 1992 [online]. Seit 1950 war Lehmann-Haupt für das New Yorker Antiquariat H. P. Kraus als Berater und Bearbeiter von Katalogen (»chief bibliography expert«) tätig; er machte sich als Inkunabelforscher einen Namen sowie durch zahlreiche Publikationen zu verschiedensten buchgeschichtlichen Themen. Zu den bis 1975 publizierten Werken Lehmann-Haupts siehe: Dickinson: Hellmut Lehmann-Haupt. Erwähnt seien hier Hellmut Lehmann-Haupt: Current trends in antiquarian books (Library Trends, vol. 9, No. 4). Urbana Ill. 1961; ders. (Hg.): Homage to a Bookman. Essays on Manuscripts, Books and Printing. Written for Hans P. Kraus. Berlin, 1967; ders.: Peter Schöffer aus Gernsheim und Mainz. Übersetzung und Vorwort von Monika Estermann. Wiesbaden: Reichert 2002. – 1980 wurde Lehmann-Haupt in Mainz mit dem Gutenberg-Preis (Festrede von Siegfried Unseld) ausgezeichnet; dazu Bbl. (Ffm) Nr. 58 v. 11. Juli 1980; S. 1680 f. Hench: Books as Weapons, S. 114.
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Der aus Wien in die USA geflüchtete Frederick A. Praeger*, Sohn des 1942 in Auschwitz ermordeten Wiener Buchhändlers und Verlegers Max Mayer Präger, wird hinsichtlich seiner bemerkenswerten verlegerischen Laufbahn an anderem Ort ausführlich vorgestellt;26 an dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass er auch als Besatzungsoffizier eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Er hatte sich 1941 zur US-Army gemeldet und war zunächst im Heeresnachrichtendienst eingesetzt, bis er mit der 6. Panzerdivision nach Europa ging; u. a. war er an der Befreiung von Buchenwald beteiligt.27 Nach Ende des Krieges blieb Praeger als Besatzungsoffizier in der Militärverwaltung in Hessen, wo er 1946 bis 1948 die Informationsabteilung der US-Militärregierung leitete. Den Angaben im OMGUS-Handbuch zufolge war er auch kurzzeitig Leiter der Publications Branch: Die Chefposition in der Publications Branch war zunächst unbesetzt. Sie wurde 1947 von Otto Albrecht eingenommen, der dann von dem österreichischen Emigranten Frederick A. Praeger, dem bisherigen Chef der Intelligence / Research Branch abgelöst wurde. Als Praeger am 21. September 1948 in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, rückte sein bisheriger Stellvertreter Raymon Pagan zum Chief auf, der dieses Amt bis zum Ende der [Information Control] Division versah.28 Die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren geknüpften Kontakte zu amerikanischen Regierungsbehörden und Geheimdiensten dürften für seine Tätigkeit als Verleger ausgesprochen hilfreich gewesen sein: Frederick Praeger, a propagandist for the American military government in postwar Germany, published between twenty and twenty five volumes in which the CIA had an interest in either the writing, the publication, or the distribution. Praeger said it either reimbursed him directly for the expenses of publication or guaranteed, usually through a foundation, the purchase of enough copies to make it worthwile.29 Tatsächlich waren die Sachbuch- und belletristischen Publikationen des Verlags Frederick A. Praeger in besonderer Weise darauf ausgerichtet, den Kalten Krieg im Sinne der USA zu befeuern. Als Presse- bzw. Kulturoffizier tätig war auch George Aldor* (1910 Wien – 1999 Paris), der als verlegerischer Mitarbeiter und Kompagnon Frederick Praegers später noch Erwähnung finden wird.30Aus Wien geflüchtet, war er im Zweiten Weltkrieg in der US-
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Siehe das Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive. The Buchenwald report. Prepared by a special intelligence team from the Psychological Warfare Division (SHAEF). Translated, edited, and with an introduction by David A. Hackett. Foreword by Frederick A. Praeger. 3. Aufl. Boulder: Westview Press 1995 u. ö. Das Original-Archivmaterial dazu hatte Praeger zusammengestellt; Westview Press war zum Veröffentlichungszeitpunkt im Besitz Praegers. In deutscher Sprache erschienen als: Der Buchenwald-Report: Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. OMGUS-Handbuch: Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945‒1949, S. 381. Saunders: The Cultural Cold War. The CIA and the World of Arts and Letters, S. 206. Siehe Kap. 8.2 Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive.
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Army und als Besatzungssoldat in Hessen stationiert, wo er nicht nur Praeger kennengelernt haben dürfte, sondern 1946 auch seine spätere Ehefrau Maria-Harriet von Alvensleben, die als Inhaberin des ad hoc-gegründeten Harriet Schleber Verlags in Kassel von Juli 1946 an die von Aldor in seiner Eigenschaft als Presseoffizier (ev. durch Lizenzerteilung) mitinitiierte literarische Zeitschrift Das Karussell herausgab. Das Paar ging im Dezember 1947 nach New York.31 Die Hessischen Nachrichten bescheinigten ihm bei seinem Abschied aus Kassel, »dass er sich ›auch um die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse, vor allem im Kulturleben, außerordentliche Verdienste erworben‹ habe.«32 Es gab noch eine ganze Anzahl von weiteren Verleger- und Buchhändleremigranten, die in unterschiedlichsten Funktionen in den Militärregierungen der westlichen Alliierten zum Einsatz kamen. Als ein Beispiel von vielen sei erwähnt der als Antiquar später zu internationaler Bedeutung gelangte Bernard M. Rosenthal*, der 1943 bis Januar 1946 als amerikanischer GI Kriegsdienst in Europa leistete, nach Ende des Krieges aber im Auftrag des US-Wirtschaftsministeriums in Deutschland zunächst als Chemiespezialist eingesetzt war, ehe er von 1947 bis 1949 als Französisch-Dolmetscher beim Alliierten Kontrollrat in Berlin und danach bei einer Restitutionsbehörde in Stuttgart tätig wurde.33 Dass den in US-Diensten stehenden Emigranten seitens der Ex-Nationalsozialisten der Verdacht entgegenschlug, in den Entnazifizierungsverfahren ihre Position für ein von Rache und Vergeltung geleitetes Verhalten nützen zu wollen, kann nicht überraschen, auch wenn dieser Verdacht durchaus unbegründet war. So etwa beschwerte sich der NS-kompromittierte Schriftsteller Bruno Brehm darüber, dass er im Zuge seiner Vernehmungen nie die Gelegenheit gehabt hätte, mit einem amerikanischen Offizier zu sprechen, sondern stets nur mit deutschen und österreichischen Emigranten in amerikanischer Uniform, u. a. vom Counter Intelligence Corps (CIC).34 Auch der im Dritten Reich vielfach mit hohen Ehrungen bedachte Autor Erwin Guido Kolbenheyer, der von den Entnazifizierungsbehörden dennoch nur als »minor offender« klassifiziert und mit 180 Tagen schwerer Arbeit, Einzug der Hälfte seines Eigentums und fünfjährigem Schreibverbot bestraft wurde, glaubte sich in Briefen darüber beschweren zu dürfen, zum Gegenstand von Rachegefühlen der literarischen Emigration geworden zu sein.35
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Barbara Orth: Ein Kulturoffizier in Kassel (i.e. G. Aldor). In: (k) Kulturmagazin (2008), Nr. 142, S. 23‒25; Krause-Vilmar: »Das Karussell«. Eine literarische Zeitschrift der Nachkriegszeit [online]. Zit. n. Krause-Vilmar: »Das Karussell«; dort auch genauere Quellennachweise zu den Hessischen Nachrichten. Nähere Angaben dazu im Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. Das Counter Intelligence Corps (CIC) war ein 1942 zur Spionageabwehr gegründeter Nachrichtendienst der US-Armee, der nach 1945 in den besetzten Ländern nach NS- und Kriegsverbrechern suchen, aber auch herausragende Wissenschaftler für die USA rekrutieren sollte. Für das CIC waren zahlreiche deutsche und österreichische Emigranten tätig, allein schon weil es für die Erfüllung seiner Aufgaben Mitarbeiter mit Fremdsprachenkenntnissen benötigte. Zur Arbeit der Information Control Division in Bezug auf Brehm und andere Schriftsteller des Dritten Reiches vgl. die frühe Studie von Edward C. Breitenkamp: The U. S. Information Control Division and its effect on German publishers and writers, 1945 to 1949. [Selbstverlag] Grand Forks, N. D., 1953, S. 18 f. Breitenkamp: The U. S. Information Control Division, S. 27 f.
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Der Akzent wurde bisher auf die Strukturen der US-amerikanischen Militärverwaltung gelegt, doch soll darauf hingewiesen werden, dass solche Information Control-Einrichtungen auch auf britischer und französischer Seite bestanden haben. Um nur einige Beispiele für die Mitwirkung von Emigranten in diesen Einrichtungen zu nennen: Peter de Mendelssohn*, der schon während des Krieges im britischen Staatsdienst tätig gewesen war, war nach 1945 Presseoffizier bei der Britischen Kontrollkommission in Düsseldorf und war in dieser Funktion an der Gründung der Zeitungen Der Tagesspiegel und Die Welt und damit maßgeblich am Aufbau eines demokratischen Pressewesens in der britischen Besatzungszone beteiligt. Auch seine Ehefrau, die österreichische Schriftstellerin und Publizistin Hilde Spiel, bereiste im Januar 1946 Nachkriegs-Österreich in der Uniform eines britischen Presseoffiziers. Die West-Alliierten waren insgesamt bemüht, neben Emigranten kompetente Fachleute auch aus dem eigenen Land zu rekrutieren, um diese mit der Buchmarktkontrolle zu betrauen. Dies ist belegt durch die Tätigkeit des britischen Armeeoffiziers Capt. Curtis Brown, dessen Familie eine der ältesten und weltweit größten Literarischen Agenturen in London betrieb, mit einem Zweig in New York. Curtis Brown war somit prädestiniert dafür, Verbindungen innerhalb bzw. zur Psychological Warfare Division herzustellen, die als eine anglo-amerikanische Einheit zur psychologischen Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs entstanden war, aber auch noch weitergehende Aufgaben zu übernehmen: »An early task would be to take firm control of the German book trade, before it could be allowed to operate and flourish on its own.«36
Im »Kalten Krieg«: Der westdeutsche Buchmarkt und die Rolle der CIA Als Nachfolgeorganisation des OSS entstand 1947, weltpolitisch folgenreich, die Central Intelligence Agency (CIA) als Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten, mit einer Ausrichtung auf »Human Intelligence«, im Gegensatz zu der auf Datengewinnung orientierten NSA. Die CIA agierte dementsprechend in Nachkriegseuropa vorzugsweise in Bereichen, in denen es galt, die weltanschauliche Ausrichtung im Interesse der USA, insbesondere auch die Westorientierung der Bundesrepublik, zu beeinflussen. Wichtigster Mann war in den Anfangsjahren Allen W. Dulles, der während des Kriegs für die OSS von Bern aus die Fäden gezogen hatte und zwischen 1953 und 1961 als Direktor der CIA fungierte. In dem gerade auf kulturellem Gebiet mit großer Intensität geführten Kalten Krieg gewann der Geheimdienst in den 1950er und 1960er Jahren einen außerordentlich großen Einfluss auf die öffentliche Meinung, aber auch auf den Buchmarkt der jungen BRD. Dabei ist für die Beurteilung der Nachkriegsentwicklung in Deutschland durchaus von Interesse, dass wie zuvor die Psychological Warfare Division auch die CIA dem Buch einen besonderen Wert als weltanschauliches Propagandainstrument zumaß. Saunders zitiert in ihrer Studie hierzu den Leiter des »Covert Action Staff« der CIA mit der Aussage: »Books differ from all other propaganda media, […] primarily because one single book can significantly change the reader’s attitude and action to an extent unmatched by the impact of any other single medium [such as to] make books the most important weapon of strategic (long range) propaganda«. Und Saunders berichtet weiter von ihrem Gewährsmann: 36
Hench: Books As Weapons, S. 115.
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The CIA’s clandestine book program was run, according to the same source, with the following aims in mind: Get books published or distributed abroad without revealing any U. S. influence, by covertly subsidizing foreign publications or booksellers. Get books published which should not be »contaminated« by any overt tie in with the U. S. government, especially if the position of the author is »delicate«. Get books published for operational reasons, regardless of commercial viability. Initiate and subsidize indigenious national or international organizations for book publishing or distributing purposes. Stimulate the writing of politically significant books by unknown foreign authors – either by directly subsidizing the author, if covert contact is feasible, or indirectly through literary agents or publishers.37 Insgesamt soll, Recherchen der New York Times zufolge, die Publikation von mindestens tausend Büchern seitens der CIA gefördert worden sein, mit Übersetzungen von T. S. Eliots The Waste Land bis hin zu Pasternaks Doktor Schiwago und den Werken Anton Tschechows.38 In Europa lief die Organisation und Finanzierung dieser Programme über eine von der CIA gesteuerte,39 in Paris ansässige Tarnorganisation, den »Kongress für kulturelle Freiheit« (auch: Congress for Cultural Freedom, CCF), dessen Hauptaufgabe im Kalten Krieg darin bestand, in der Intellektuellen- und Künstlerszene Europas prowestliche Haltungen zu fördern und sie auf einen Liberalismus US-amerikanischer Prägung einzuschwören, um sie so gegen Totalitarismus und Kommunismus zu immunisieren bzw. sie nach Möglichkeit gegen diesen zu mobilisieren.40
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Zit. n. Saunders: The Cultural Cold War, S. 206. Saunders, S. 206. Einen speziellen Ansatzpunkt für gezielte antikommunistische Publikationen bot 1956 die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch den Einmarsch sowjetischer Truppen, etwa mit Melvin Laskys The Hungarian Revolution (New York: Praeger 1957; Dt.: Die ungarische Revolution. Ein Weissbuch. Die Geschichte des OktoberAufstandes nach Dokumenten, Meldungen, Augenzeugenberichten und dem Echo der Weltöffentlichkeit. Deutsche Ausgabe: Gerhard Löwenthal. Vorwort Karl Jaspers, Einführung von Hugh Seton-Watson, Epilog François Bondy. Veröffentlicht für den Kongress für die Freiheit der Kultur[!]. Berlin: Colloquium 1958). Der exponierte »Kalte Krieger« Lasky, der allerdings recht selbständig agierte, war auch Herausgeber der CIA-finanzierten Zeitschriften Der Monat und Encounter. 1967 wurde der Monat an die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit verkauft, die v. a. über die Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff ebenfalls gute Beziehungen zum Kongress für kulturelle Freiheit unterhielt. Führungsoffizier war dort über längere Zeit Thomas Braden, ein gelernter Drucker, Leiter der International Organizations Division der CIA, an die auch der Congress for Cultural Freedom angeschlossen war. Hauptsächlich von ihm stammte der Plan einer CIA-gesteuerten weltweiten antikommunistischen Propagandakampagne, die sich zur besseren Tarnung und Akzeptanz nicht von konservativen, sondern von linksliberalen oder gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Positionen her bestimmen sollte. Die finanziellen Mittel dazu stammten aus dem Marshallplan, von dem 5 % für die CIA abgezweigt wurden, bis 1950 waren das 200 Millionen Dollar. Eine andere Quelle war die Ford Foundation, die größte ihrer Art in den USA, wobei der Verbindungsmann hier Shepard Stone war. Vgl. hierzu Berghahn: Transatlantische Kulturkriege: Shepard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus. Vgl. dazu Saunders: Wer die Zeche zahlt … Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. Berlin: Siedler 2001; sowie Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle
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»Clandestine book program«: Kiepenheuer & Witsch und Fritz H. Landshoff Ein Paradebeispiel für die Umsetzung des »clandestine book program« der CIA repräsentiert der von Joseph Caspar Witsch geleitete Verlag Kiepenheuer & Witsch, dessen Rolle im Kalten Krieg und der Ost-West-Konfrontation inzwischen näher beleuchtet wurde, mit aufschlussreichen Erkenntnissen.41 So steht nun fest: Wenn es einen Zeitgenossen gab, der binnen weniger Wochen die vier verschiedenen Förderungsbereiche des US-Geheimdienstes kennenlernen sollte, dann war es Witsch. Da war zunächst die hohe Ebene der Diskussionen von Intellektuellen auf den Tagungen des Kongresses für kulturelle Freiheit, dann die gehobene Ebene der Förderung von Büchern und Zeitschriften, die einfache Ebene der Finanzierung und Verbreitung von Propagandamaterial und die niedere Ebene des Nachrichtenhandels und der Spionage. […] Witschs Beteiligung endete auf der dritten Ebene, schon die Verbreitung außerhalb des Buchhandels war nicht mehr seine Angelegenheit.42 Witsch war von den US-Verbindungsoffizieren nicht nur für eine Mitwirkung an der Arbeit des Kongresses für kulturelle Freiheit gewonnen worden (er fungierte als dessen Sektionsleiter in Köln und stellte den Verlag als Stützpunkt zur Verfügung), er sollte im Rahmen einer 1948 gegründeten »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« auch aktiv an der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus teilnehmen. Dafür wurden ihm drei Verlage und eine Agentur finanziert, die an den Verlag Kiepenheuer & Witsch angegliedert wurden: der Verlag »Rote Weißbücher«, der »Verlag für Politische Publizistik«,43 der Verlag »PZ-Archiv« sowie das »Publizistische Zentrum für die Einheit Deutschlands«, an welchem auch Eugen Kogon und Ernst Tillich mitwirkten. Die Geldbeträge für die drei neuen Verlage und die Agentur überbrachte in der Regel ein mit der Verbindungsstelle Bonn der US-Hochkommission angesiedelter Geheimdienstmitarbeiter, ein früherer Emigrant, in einem Handköfferchen, kontrollierte die Texte anhand einer Checkliste und übernahm die Kostenbelege. Die allgemeine Richtung der Kritik an der DDR sollte eher sozialdemokratisch und links ausgerichtet sein.44
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Freiheit und die Deutschen. – Der Kongress unterhielt Zweigstellen in 35 Ländern mit hunderten von festen und tausenden von freien Mitarbeitern; er förderte auch Orchesterauftritte und sorgte dafür, dass auf dem Gebiet der Malerei der in den USA entstandene »abstrakte Expressionismus« (Jackson Pollock u. a.) als neue Kunstideologie in Europa zur Vorherrschaft kam – als Gegenprogramm zum Sozialistischen Realismus. Boge: Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch, bes. S. 353‒441. Körner: Kiepenheuer & Witsch und der Kalte Krieg in Deutschland, S. 249. Der Verlag produzierte v. a. in einem Imprint »Der Augenzeuge« Broschüren und Flugblätter als Tarnausgaben, die für die Verbreitung in der DDR gedacht waren, so die Schrift von Matthias Walden Die deutsche Sprache im Dienste des Bolschewismus, camoufliert unter dem unverfänglichen, wenn auch doppelbödigen Umschlagtitel Zweierlei Deutsch (Körner, S. 252). Körner, S. 250.
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Neben den finanziellen Zuwendungen wurden Witsch auch Lizenzen für deutsche Ausgaben einschlägiger Titel erteilt, so für Raymond Arons Opium für Intellektuelle. »Ebenfalls vom Kongress für kulturelle Freiheit kam der Autor Manès Sperber mit seiner Abrechnung über die Komintern der dreißiger Jahre. Zunächst konnte Witsch nur einen Band veröffentlichen, doch 1961 erschien die Romantrilogie unter dem Titel Wie eine Träne im Ozean.«45 Renegatenliteratur genoss damals gewaltigen politischen Rückenwind und gewann entsprechende Konjunktur. Dies galt nicht nur für ehemals kommunistische Exilanten, sondern auch für sowjetische Dissidenten wie Alexander Solschenyzin, der nach seiner Ausweisung aus der UdSSR von Heinrich Böll betreut und beherbergt wurde. Böll, der zum Aushängeschild des Kiepenheuer & Witsch-Verlags und zum bedeutendsten Autor der Nachkriegszeit avancieren sollte, stand ebenfalls unter dem Einfluss des Kongresses für kulturelle Freiheit und wurde indirekt (und wohl unwissentlich) von der CIA für die Kalte Krieg-Strategie der USA benutzt.46 Nach Einschränkung der Direktfinanzierung übergaben die US-Stellen 1952 den Verlag Kiepenheuer & Witsch dem mit einem großen Publikationsetat ausgestatteten Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zur weiteren Förderung, zu dessen Hausverlag er dann auch wurde; die neuerrichteten Satellitenverlage wurden zusammengelegt zum Verlag für Politik und Wirtschaft. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch war kein Remigrantenverlag, und doch spielte in den entscheidenden Anfangsjahren ein prominenter Verlegeremigrant eine ganz zentrale Rolle für den Aufbau des Unternehmens: Fritz H. Landshoff. Dieser Sachverhalt ist erst durch die Darstellung von Birgit Boge deutlich geworden, die unter Benutzung von inzwischen beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs verlorengegangener Quellen die Leistung Landshoffs in wünschenswerter Klarheit herausgearbeitet hat.47 Vor 1933 faktischer Leiter des Gustav Kiepenheuer Verlags, bis 1939 Querido-Exilverleger, danach in den USA und nach 1945 gemeinsam mit Gottfried Bermann Fischer an mehreren verlegerischen joint ventures beteiligt, die aber seit 1949 einem Ende zustrebten, vermittelte Landshoff zunächst eine Zusammenarbeit Witschs mit dem Amsterdamer Allert de Lange Verlag. Im Anschluss daran, erst recht nach der definitiven Übernahme von Querido / Bermann-Fischer durch den Frankfurter S. Fischer Verlag 1951, stieg er in eine engere Mitarbeit in den Kölner Verlag ein und war dort u. a. mit der Planung einer Literaturzeitschrift und einer Buchgemeinschaft befasst. Realisiert wurden diese Pläne 45 46
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Körner, S. 252. Diese Zusammenhänge wurden am gründlichsten von einer ARTE-Dokumentation dargelegt: Benutzt und gesteuert. Künstler im Netz der CIA. Film von Hans-Rüdiger Minow, ARTE, 29. November 2006. Siehe dazu auch als Zusammenfassung: Hans Georg: CIAgesteuert: Heinrich Böll. ARTE-Doku über deutsche Schriftsteller im Geheimdienstgestrüpp. In: Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 72 vom 28. November 2006, http://www. nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=10368 [online]. Als verlegerischer Akteur in diesem Netzwerk genannt wird dort neben J. C. Witsch auch der Verleger Klaus Piper. Die Vergünstigungen für Autoren, unter ihnen auch Siegfried Lenz und Marcel Reich-Ranicki, bestanden hauptsächlich in Stipendien und Reisekosten-Bezuschussungen. Erwähnt sei noch, dass die ExUS-Agentin Carola Stern (eig. Erika Assmus) 1960 bis 1970 als Lektorin im Verlag Kiepenheuer & Witsch gearbeitet hat; sie hatte von 1947 bis zu ihrer Flucht 1951 für das CIC in der SBZ / DDR Spionagetätigkeit betrieben. Boge: Fritz H. Landshoff ‒ Ein nützlicher Mann. Die Zusammenarbeit von Joseph Caspar Witsch und Fritz H. Landshoff 1949‒1952.
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nicht, zumal sich Witsch jetzt auf seine weiter oben skizzierte politische und auch finanziell risikolose Aufgabenstellung konzentrierte. 1951 wurde Landshoff aber Teilhaber im Verlag, mit Geldern, die er durch Darlehen und durch eine Vorauszahlung auf die zu erwartende Entschädigungssumme als aus Deutschland Vertriebener aufzutreiben suchte – ein Glücksfall für Joseph Caspar Witsch, da Landshoff als Verleger unvergleichlich mehr Erfahrung hatte, nicht nur in verlagsorganisatorischer Hinsicht. Entscheidend wichtig waren seine im Exil zu Mitemigranten aufgebauten Beziehungen: »Er stellte Verbindungen zu wichtigen Literaturagenten wie Felix Guggenheim* und Lothar Mohrenwitz* her. Vor allem aber verfügte er über beste Autorenverbindungen, die er nun Witsch zugänglich machte.«48 Landshoff vermittelte Kontakte u. a. zu Alfred Neumann, Irmgard Keun, Annemarie Selinko und Erich Maria Remarque und handelte mit diesen auch Verträge aus. Der finanziell umfangreichste Coup war der Erwerb der Vicki BaumRechte aus dem Rechte-Portfolio Bermann Fischers, als der zukunftsträchtigste sollte sich aber die Verbindung zu einem Nicht-Exilanten, zu Heinrich Böll erweisen, die ebenfalls über Vermittlung von Fritz Landshoff zustande kam! Vor allem über die Vicki Baum-Rechte kam es jedoch zu einem tiefgreifenden Zerwürfnis, da Witsch nun plötzlich Landshoffs Vermittlungsdienste nicht mehr anerkennen wollte – offenbar, um Landshoff mit solchem Verhalten gezielt aus dem Verlag hinauszudrängen: Witsch ging als der große Gewinner aus diesem Spiel hervor, hatte er doch alles gewonnen: einen ansehnlichen Autorenstamm mit Autoren wie Selinko oder Böll, die Geld und Renommee einbrachten, die Vicki-Baum-Rechte, gute Verbindungen zu Literaturagenten, Geschäftsverbindungen mit Bela Horowitz vom Phaidon Verlag und mit Kurt Enoch von der American Library, verlegerisches Know-how und Detailwissen. Der große Verlierer hieß Fritz Helmut Landshoff, der mittels eines Auseinandersetzungsvertrages in Form eines Vergleichs im April 1953 aus dem Verlag hinauskatapultiert wurde und niemals eine gerichtliche Auseinandersetzung herbeiführte. Landshoff zog sich nach New York zurück und trat dort 1953 in den Kunstverlag Harry N. Abrams ein – ein leiser Abgang ohne kämpferisches Aufbäumen, der aber nicht Landshoffs enorme Verdienste bei der Etablierung des Verlages Kiepenheuer & Witsch in Vergessenheit geraten lassen sollte.49 Es ist sicherlich nicht zu weit hergeholt, in diesem menschlich mehr als fragwürdigen Umgang mit Landshoff ein doch recht typisches Remigrantenschicksal zu sehen. Letztlich handelte es sich um die gleiche Problematik, die z. B. einen Alfred Döblin und noch
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Boge: Fritz H. Landshoff ‒ Ein nützlicher Mann, S. 236 f. Boge, S. 243. – Vicki Baum empfand das Hinausdrängen Landshoffs aus der Geschäftsleitung als skandalös. Ihre Biographin N. Nottelmann zitiert sie hierzu mit den Worten: »Vor drei Jahren hat man einen amerikanischen Staatsbürger nichtarischer und unfaschistischer Couleur gebraucht, um einen Verlag aufzubauen, jetzt ist das Gegenteil der Fall. Zudem ist der Verlag in eine lukrative Beziehung zu unserem State Department eingetreten, was zu einer verdeckten Veröffentlichung von Pro-US- und Antisowjet-Stoff führen wird. Das ist für meinen Teil in Ordnung, aber es scheint nicht gerade, als ob The Mustard Seed [der neue Roman Vicki Baums] in diesem Klima gedeihen würde.« (Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum, S. 347, Fn. 78).
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manche andere dazu veranlasste, Deutschland wieder zu verlassen.50 Klar ist: Man wird die Entwicklung des deutschen Buchmarkts der Nachkriegszeit nur dann zutreffend beurteilen können, wenn man auch die Auswirkungen US-amerikanischer Lenkungs- und Finanzierungsmaßnahmen auf Buchverlag und Bücherdistribution sowie die Instrumentalisierung von Emigranten und Remigranten für die politischen Ziele der Siegermächte angemessen berücksichtigt.
Exil-Österreicher im psychologischen Kriegseinsatz Deutschsprachige Emigranten wurden während des Krieges nicht nur in den Analyseabteilungen der Geheimdienste eingesetzt, sondern auch in der psychologischen Kriegsführung. Neben der anglo-amerikanischen Psychological Warfare Division (PWD), die 1942/43 aus dem Personal der britischen Political Warfare Executive (PWE), des amerikanischen Office of Strategic Services (OSS) und des United States Office of War Information (OWI) zusammengestellt wurde,51 bestand letzteres, das OWI, weiterhin als eine US-Regierungsbehörde, die hauptsächlich der Verbreitung von Kriegsinformationen und Kriegspropaganda diente und im Lande selbst die Printmedien, den Hörfunk und auch die Filmproduktion kontrollierte, um sie im Sinne einer Mobilisierung aller Kräfte zu beeinflussen. Sie betrieb aber auch, gemeinsam mit der BBC, Propagandasender in Europa. Diese Rundfunkabteilung sollte in der Hauptsache der positiven Selbstdarstellung der USA nach außen dienen, verfolgte aber auch noch andere Strategien. So gab es seit 1943 dort einen eigenen »Austrian Desk«, der die wachsenden Ressentiments der Österreicher gegen die Deutschen zu schüren suchte, die in der »Ostmark« (bzw. seit 1942 in den »Alpen- und Donau-Reichsgauen«) durch das forsch-dominante Auftreten der aus Berlin kommenden Nationalsozialisten entstanden waren.52 Dies geschah u. a. mit Radiosendungen, die so ausgestrahlt wurden, dass sie sowohl von Frontsoldaten wie auch von Zivilisten empfangen werden konnten. Dieser »Austrian Desk« war zusammengesetzt aus Exil-Österreichern aller Lager; es waren Sozialisten, Kommunisten, Monarchisten und sogar »Ständestaatler« darunter, Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle und Vertreter der Kleinkunstbühne – eine bunt gemischte Arbeitsgemeinschaft, die aber in der Ablehnung des Nationalsozialismus einen gemeinsamen Nenner fand. Ein Karl Farkas, der nach 1945 in Wien den Hauptbeitrag zur Wiederetablierung einer Kabarettszene leistete, gehörte ebenso dazu wie der sozialdemokratische Politiker (und Verleger) Julius Deutsch* (1884–1968); gesendet wurden vom »Austrian Desk« im OWI aber
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Zu dieser Thematik vgl. u. a.: Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland (zu verlegerischen Aspekten bes. S. 116‒119). Die PWD verwendete Radio- und Flugblattpropaganda, um die Moral deutscher Soldaten zu untergraben. Anfang Juli 1945 wurde sie aufgelöst und in der amerikanischen Besatzungszone zur Information Control Division umgewandelt. Über die Tätigkeit österreichischer Exilanten in den amerikanischen Propagandaeinrichtungen berichtet ausführlich Florian Traussnig in seinen Forschungsarbeiten. Siehe zum Folgenden Traussnig: Militärischer Widerstand von außen. Österreicher in US-Armee und Kriegsgeheimdienst im Zweiten Weltkrieg (u. a. zu Karl Frucht, S. 107‒125; zum OSS ab S. 207). Siehe ferner Traussnig: Geistiger Widerstand von außen. Österreicher in US-Propagandainstitutionen im Zweiten Weltkrieg; Traussnig: Die Psychokrieger aus Camp Sharpe.
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auch Textbeiträge des Feuilletonisten Alfred Polgar oder musikalische Beiträge des Komponisten, Liedersängers und Humoristen Hermann Leopoldi. Ein typisches Produkt stellt auch Austria ‒ A Soldier’s Guide53 dar, ein schlichtes Bändchen, das seitens der Information & Education Section des Mediterranean Theater of Operations, United States Army (MTOUSA) dem für Militäroperationen in Südeuropa und Österreich zuständigen Einsatzstab, 1945 in Verwendung kam. Die Verfasser des Büchleins, für das wohl schon 1942 eine erste Version im Rahmen der »pocked-sized soldier’s guides« der »Psychology Division« des OSS erstellt worden ist, sind nicht namentlich bekannt, doch spricht alles dafür, dass es sich um österreichische Exilanten gehandelt hat, die in den Propaganda- und Informationsabteilungen der Alliierten aktiv waren und Wert darauf legten, die Unterschiede in der Mentalität der Deutschen und der Österreicher herauszustreichen und die US-Besatzungssoldaten entsprechend zu instruieren. Ein Unterscheidungsmerkmal mit politischer Brisanz lag darin, dass Österreich im Unterschied zu Deutschland nicht bloß als »besiegtes«, sondern zugleich auch als »befreites« Land verstanden und behandelt werden sollte.54 Der Guide enthält eine Fülle von Informationen, die von den spezifischen Kenntnissen, aber auch von Einstellungen (auch berechtigtem Misstrauen) zeugen, wie sie nur Emigranten haben konnten. In Nachkriegs-Österreich gelangten einige remigrierte Schriftsteller mit Unterstützung amerikanischer Dienste zu beträchtlichem Einfluss. Insbesondere Friedrich Torberg,55 der in den USA als Redakteur im OWI sowie für die US-Armee und das OSS tätig gewesen war, konnte ab 1954 seine Zeitschrift FORVM (»Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit«) mit CIA-Geldern herausbringen.56 Damit errang er eine einflussreiche, von klarem Antikommunismus geprägte publizistische Position, aus der heraus er etwa – gemeinsam mit dem in dieser Hinsicht gleichgesinnten Co-Remigranten Hans Weigel 57 – bis 1963 einen wirkungsvollen Boykott der Stücke Bertolt Brechts auf österreichischen Bühnen verhängen konnte. Torberg hatte bereits im US-amerikanischen Exil, als er dem OSS über die kommunistischen »Umtriebe« anderer Autoren rapportierte, Brecht im Visier gehabt; seine Berichte hatten auch beim FBI und bei der Vernehmung Brechts vor dem »Komitee gegen antiamerikanische Aktivitäten« Verwendung gefunden.58
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Austria ‒ A Soldier’s Guide. Österreich – Ein Leitfaden für Soldaten. Hrsg. von Philipp Rohrbach und Niko Wahl, übersetzt von Evelyn Steinthaler. Wien: Czernin Verlag 2017. Siehe dazu das Vorwort der Herausgeber zur Neuausgabe des Soldier’s Guide. Torberg war nach bewegtem europäischem Exil 1940 in den USA gelandet und war in Hollywood wie mehrere seiner Emigrantenkollegen kurzzeitig als Drehbuchautor beschäftigt. Zur Biographie vgl. Tichy: Friedrich Torberg. Ein Leben in Widersprüchen; Axmann: Friedrich Torberg. Die Biographie (teilweise unkritisch). Die verdeckte Finanzierung erfolgte auch in diesem Fall über den »Kongress für kulturelle Freiheit«, der in der Bundesrepublik Deutschland die von Melvin Lasky, jener Schlüsselfigur im kulturellen Kalten Krieg, herausgegebene Zeitschrift Der Monat und Journale auch in anderen europäischen Ländern, z. B. Encounter in Großbritannien, subventionierte. In der Ungarn-Krise 1956 dienten die FORVM-Redaktionsräume als Stützpunkt für die v. a. von Lasky koordinierten Maßnahmen des US-Kongresses. Weigel war aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt. Vgl. hierzu Dardis McNamee: Torberg in Exile. TVR Books, December 2008 [online].
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Verbindungslinien zwischen US-Geheimdiensten und dem österreichischen Presseund Buchverlagswesen waren nach 1945 noch in manchen anderen Zusammenhängen gegeben. So etwa war der Leiter des Office of Strategic Services und nachmalige CIAChef Allen Dulles der Schwiegervater von Fritz Molden, der nach 1945 zunächst zum wichtigsten Zeitungsherausgeber Österreichs aufstieg und seit 1964 auch als Buchverleger großen Stils hervortrat.59
Remigranten und Exilliteratur in der SBZ 1945 bis 1949 Im Folgenden soll nun die Rolle von Remigranten im Verlagswesen des zonal geteilten Deutschland näher beleuchtet werden, verbunden mit der Frage, ob und in welchem Maße Kontinuitäten zum Exilverlagswesen entstanden sind, d. h. in welchem Maße Exilliteratur in den west- und ostdeutschen Buchmarkt integriert werden konnte.60 Die Eingliederung von Rückkehrern aus dem Exil kam in der Sowjetisch Besetzten Zone aus verschiedenen Gründen deutlich früher in Gang, weshalb das Augenmerk zunächst auf die SBZ gelegt werden soll. Der Aufbau des sozialistischen Deutschland stand ganz im Zeichen des »Mythos Antifaschismus«.61 Es war klar, dass den im antifaschistischen Kampf bewährten Emigranten bei diesem Aufbau eine bedeutsame Rolle zufallen musste – auf politischer Ebene, aber auch in der Literatur und im Verlagswesen. Schon im März 1945 hatte sich Walter Janka in der in Mexiko erscheinenden Exilzeitschrift Freies Deutschland mit dem Thema Buch und Verlag im kommenden Deutschland befasst und in der notwendigen »Umerziehung des deutschen Volkes« eine auch verlegerische Aufgabe erkannt: »Dem Verlagswesen wird darum auch bei der kulturellen und politischen Neugestaltung Deutschlands eine wichtige Rolle zukommen«.62 Auch zeigte er sich überzeugt, dass hierbei »die heute im Exil lebenden Schriftsteller und Verlagsfachleute ein großes Betätigungsfeld finden« würden. Seine Ansichten deckten sich durchaus mit den Absichten derer, die sich in der SBZ ans Werk machten – mit dem einen Unterschied, dass die aus der Sowjetunion zurückkehrenden Ostemigranten eine führende Stellung für sich beanspruchten, während den Westemigranten grundsätzlich Misstrauen entgegenschlug.63
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Fritz Molden war 1948‒1953 in erster Ehe verheiratet mit Joan Dulles. Den Verdacht, Gelder von der CIA zu erhalten, hat er stets entschieden zurückgewiesen, agierte aber als Presse- und Buchverleger durchaus in deren Sinne, etwa durch die spektakuläre Publikation der Memoiren der in den Westen geflüchteten Stalin-Tochter Swetlana Allilujewa (Zwanzig Briefe an einen Freund, 1967). Der Verfasser hat Aspekte der Rezeption der Exilliteratur in zwei Aufsätzen ausführlicher dargelegt: Fischer: »… kaum ein Verlag, der nicht auf der Wiederentdeckungswelle der Verschollenen mitreitet«. Zur Reintegration der Exilliteratur in den deutschen Buchmarkt nach 1945. Als eine Weiterentwicklung dieses Versuchs unter Aufnahme neuer Fragestellungen erschien sieben Jahre später Fischer: Exilliteratur in den deutschsprachigen Verlagen nach 1945. Auf Teile v. a. des letztgenannten Aufsatzes nimmt auch der folgende Abschnitt Bezug. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, ab S. 29 und ab S. 70. Walter Janka: Buch und Verlag im kommenden Deutschland. In: Freies Deutschland Nr. 4, März 1945, S. 25 f. Siehe dazu jetzt Keßler: Westemigranten.
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Jankas eigenes Schicksal ist durchaus repräsentativ für diese Konstellation; nicht nur dauerte es einige Zeit, bis er sich selbst in den Dienst der kulturellen Neugestaltung Deutschlands stellen durfte, sondern es fand dieses Engagement auch kein glückliches Ende.
Die Rolle der Remigranten im Aufbau Verlag Zunächst war es vor allem der rasch aus Moskau zurückgekehrte Johannes R. Becher, der wichtige Grundlinien des literarisch-kulturellen Neuaufbaus bestimmte. Hauptsächlich auf seine Initiative hin war Anfang August 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, in Berlin der anfänglich interzonal agierende »Kulturbund zur Erneuerung Deutschlands« entstanden, als dessen Hausverlag noch im gleichen Monat der Aufbau-Verlag gegründet wurde; er war unter den ersten, die eine Lizenz erhielten.64 Becher, der schon im Moskauer Exil kultur- und verlagspolitische Konzepte erstellt, diese aber unter dem Eindruck der in Berlin vorgefundenen Verhältnisse revidiert hatte, arbeitete für den Aufbau Verlag zusammen mit Cheflektor Paul Wiegler ein Programm aus, das den Akzent nicht einseitig auf Exilliteratur, sondern auf eine Zusammenführung von Exil mit Innerer Emigration und dem Widerstand legte. Generell verfolgte Becher im Kulturbund und im Aufbau Verlag eine »Versöhnungspolitik«, in deren Rahmen die Entnazifizierung auf einen engeren Kreis von NS-Verbrechern beschränkt und ein sozialistisch-demokratischer Neuanfang auf möglichst breiter Basis unternommen werden sollte. Für die Umsetzung dieser Maxime sorgte u. a. der bereits genannte Paul Wiegler, früher Cheflektor im Ullstein Verlag bzw. nach dessen »Arisierung« des Deutschen Verlags; er konnte als Nichtemigrant seine Beziehungen zu den »Daheimgebliebenen« nutzen.65 Dies erwies sich allerdings als durchaus problematisch: Zum einen stieß die glimpfliche Behandlung politisch belasteter Autoren nicht überall auf Verständnis, zum anderen aber war die Absicht, im Aufbau Verlag die Exilliteratur nicht zu sehr zu betonen, schon aus praktischen Gründen kaum zu verwirklichen – mindestens in den Anfängen. Denn notgedrungen kam es »zu dem Übergewicht der Emigranten im Gründungsprogramm, noch dazu der Moskauer, aus dem einfachen Grund, weil die Texte vorhanden waren, teils im Gepäck von [Heinz] Willmann und Becher, teils im Besitz der mit ihnen zeitgleich zurückkehrenden Autoren Erpenbeck, Plivier und Scharrer.«66 Heinz Willmann* hatte in Moskau als Redakteur der Exilzeitschrift Internationale Literatur gearbeitet, in der Werke wie Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt in Fortsetzung erschienen waren, die sich nun zur Einzelpublikation anboten.67 In ähnlicher Weise brachte der aus 64
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Vgl. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, bes. S. 33 f. Vgl. ferner Wurm: Jeden Tag ein Buch: 50 Jahre Aufbau-Verlag 1945‒1995. Vgl. auch Emmerich: Kleine Literaturgeschichte, ab S. 76. – Für einen Überblick vgl. Lokatis: »Das Verlagswesen der Sowjetisch Besetzten Zone«. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 42. Wurm, S. 37. Heinz Willmann* (1906 Unterliederbach b. Frankfurt a. M. – 1991 Berlin) war schon in den 1920er Jahren im »Münzenberg-Konzern« tätig gewesen und hatte dort 1929 bis 1931 die Hamburger Filiale des Neuen Deutschen Verlags geleitet. Nach der NS-Machtübernahme mehrere Monate im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel inhaftiert, flüchtete er im Februar 1934 nach Prag. Ab 1935 war er in Moskau Mitarbeiter der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbei-
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Mexiko zurückgekehrte Alexander Abusch die Werke des Verlags El Libro Libre in den Titelfundus ein. So ergab sich im Startprogramm doch ein deutliches Übergewicht von Exilwerken – sehr zum Unwillen Bechers, der dem Autor Adam Scharrer explizit erklärte, dass »im Aufbau Verlag ›Remigranten‹ in dieser Proportion weiterhin nicht mehr tragbar seien«.68 Tatsächlich wurde schon im Frühjahrsprogramm 1946 die Exilliteratur zurückgefahren, zugunsten von Autoren, die in Deutschland verblieben waren, wie Bernhard Kellermann, Gerhart Hauptmann, Günter Weisenborn, Ernst Wiechert oder Hans Fallada. Becher ging sogar so weit, einen Frank Thiess zu hofieren und in einem anbiedernden, vielleicht taktisch gemeinten Brief dem selbsternannten »Führer der Inneren Emigranten« zu versichern, er habe niemals den Standpunkt vertreten, »daß die aus Deutschland verbannte Literatur die deutsche Literatur einzig und allein repräsentiere.«69 Dennoch blieb der Aufbau Verlag, der 1946, im zweiten Bestandsjahr, bereits mehr als hundert Titel herausbrachte, die bedeutendste Publikationsplattform für Autoren, die entweder schon nach Ost- oder West-Deutschland zurückgekehrt waren oder sich noch im Exil befanden. Die Kunde vom großzügigen Ausbau des Verlagsprogramms verbreitete sich rasch und zog eine Fülle von Anfragen nach sich. Nicht wenige davon wurden, zur Enttäuschung der betroffenen Autoren, abschlägig beschieden; schließlich sollte – neben einem wissenschaftlichen Bereich – im belletristischen Sektor nach und nach auch eine Klassiker-Schiene aufgebaut werden, die mit Heine begann und sich bis 1947 über Goethe, Schiller, Grimmelshausen und Lessing fortsetzte. Damit entstand ein Gegengewicht zu dem Programmschwerpunkt, der auf eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des Nationalsozialismus, dem NS-Terror, den Konzentrationslagern oder dem Weltkrieg ausgerichtet war. Das musste nicht notwendig in Exilwerken erfolgen; die entschiedensten Akzente setzten aber doch Pliviers Stalingrad-Roman und Anna Seghersʼ Das siebte Kreuz. Einen Vorsprung vor vielen anderen Verlagen, besonders jenen im Westen, verschaffte sich der Aufbau Verlag, indem er bedenkenlos Werke in Neuausgaben herausbrachte, ohne zuvor die Zustimmung der Autoren oder Rechteinhaber eingeholt zu haben. Das betraf Bücher von Heinrich Mann, Georg Lukacs, Max Herrmann-Neiße; aber auch Anna Seghers stellte nach ihrer Rückkehr einigermaßen überrascht fest, dass der Aufbau Verlag ihren Roman Das siebte Kreuz bereits 60.000-mal verkauft hatte.70 Tatsächlich war die Rechtelage nach dem Krieg in vielen Fällen höchst unklar, die Kontaktaufnahme mit den Autoren im Ausland oder ihren Rechtsnachfolgern schwierig. Zu
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ter in der UdSSR (VEGAAR), ab 1937 Redakteur der Zeitschrift Internationale Literatur – Deutsche Blätter. Im Juni 1945 kehrte er nach Berlin zurück und war zusammen mit Johannes R. Becher in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) an der Gründung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (KB) beteiligt. Der mehrfach mit Orden ausgezeichnete Willmann hat auch zur raschen Aufwärtsentwicklung des Aufbau Verlags beigetragen. Brief Adam Scharrers an Kurt Wilhelm vom 7. März 1946, hier zit. n. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 37. Brief J. R. Bechers an Frank Thiess vom 26. Januar 1946; hier zit. n. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 36 f. Wurm, S. 44.
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dieser eigenmächtigen Vorgangsweise glaubte man sich im Aufbau Verlag aber noch aus einem anderen Grund berechtigt: Dass es sich beim Publizieren von Exilwerken von Anfang an um eine Frage von »politischen Notwendigkeiten« im Rahmen der Konfrontation der politischen Weltanschauungen handelte, wurde immer wieder direkt ausgesprochen, etwa wenn Verlagsleiter Erich Wendt sich 1947 bei Ernst Bloch über Wieland Herzfelde beschwerte, der die ursprünglich bei Aurora herausgebrachte Abhandlung Freiheit und Ordnung nicht sofort für den Aufbau Verlag freigeben wollte: »Wir stehen hier im Kampf und können nicht verstehen, wenn uns Freunde die Waffen für diesen Kampf vorenthalten.«71 Verschiedentlich wurden nachträgliche Vereinbarungen geschlossen, manchmal erst nach zähen Verhandlungen. Im Übrigen wurde Wieland Herzfelde doch noch zu einem Vertragspartner des Aufbau-Verlags. Herzfelde hätte – nachdem er selbst an der Wiedererrichtung eines Verlags in der SBZ gehindert worden war72 – die komplette Produktion des von ihm in New York geleiteten Aurora Verlags vorzugsweise in ein kapitalkräftiges Verlagsunternehmen einbringen wollen. Das wurde aber allein schon von dem amerikanischen Trade with the enemy-Act erschwert. Eine Umgehung dieser Bestimmungen erhoffte er sich zunächst durch ein Abkommen mit dem Verlag von Kurt Desch in München, der Protektion seitens der US-amerikanischen Behörden genoss und für einen Transfer der Verlagsrechte eher in Frage zu kommen schien als der Aufbau Verlag in der SBZ. Eine entsprechende Übereinkunft war auch bereits erzielt, doch nahm der Münchener Verleger unter dem Eindruck der sich verschärfenden ideologischen Gegensätze dann doch Abstand von einer konkreten Umsetzung des Plans; 1949 verzichtete er definitiv auf die Rechte.73 Im anderen Falle wären die Aurora-Bücher doppelt, einmal im Westen, einmal im Osten erschienen. Denn schon im Mai 1948 hatte der Aufbau Verlag per Generalvertrag die Übernahme der »Aurora-Bücherei« bestätigt,74 wodurch das zuvor eigentlich schon wieder im Abbau begriffene Exilprogramm des Verlags erneut einen Aufschwung nahm. Denn nicht wenige der prominenten Autoren des Aurora-Programms – Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Ferdinand Bruckner, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Egon Erwin Kisch, Ulrich Becher, Anna Seghers, Bodo Uhse, Berthold Viertel, Ernst Waldinger und Herzfelde selbst – waren auf der Suche nach einer neuen verlegerischen Heimat und konnten jetzt gezielt umworben werden. Zu einer festen Verbindung kam es aber – neben den ohnehin bereits im Aufbau-Programm verankerten Kisch und Seghers ‒ nur mit Ulrich Becher, Bloch, Feuchtwanger, Herzfelde und Uhse; Döblin und die aus Österreich stammenden Autoren Bruckner, Viertel und Waldinger verzichteten auf eine Zusammenarbeit. In dieser Situation zeigte sich, dass es auch innerhalb der ehemaligen Exilautorenschaft Frontenbildungen gab: »Die Übernahme der amerikanischen Emigranten rief bei den sozialistischen Autoren, die sich eigentlich über jeden Bündnispartner hätten freuen
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Brief Erich Wendts an Ernst Bloch vom 18. Juli 1947, in: Allein mit Lebensmittelkarten ist es nicht auszuhalten… Autoren- und Verlegerbriefe 1945‒1949, S. 33. J. R. Becher hatte persönlich eine Lizenzerteilung an den Malik-Verlag verhindert und so dafür gesorgt, dass dem Aufbau-Verlag keine unerwünschte Konkurrenz erwuchs. Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 77 f. Mit Ausnahme des Titels von F. C. Weiskopf, der lieber im Dietz-Verlag publiziert werden wollte.
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müssen, nicht nur Begeisterung hervor.«75 Zuvor schon hatten Friedrich Wolf und Willi Bredel beim Aufbau Verlag aus Empörung über die hohen Auflagen von Autoren der Inneren Emigration für sich eine bevorzugte Behandlung, auch bei der Auflagenhöhe, eingefordert, da sie doch vor 1933 eine beachtliche Popularität gehabt hätten, dann 13 Jahre lang totgeschwiegen worden seien und nun dem deutschen Lesepublikum wieder in einer adäquaten Weise zugänglich gemacht werden sollten.76 In personeller Hinsicht manifestiert sich die Wirkungsgeschichte des Exils im Falle des Aufbau Verlags keineswegs bloß in der dominierenden Rolle Johannes R. Bechers; führende Positionen nahmen von Anfang an auch andere KP-Remigranten ein, an ihrer Spitze Erich Wendt* (1902 Leipzig – 1965 Berlin-Ost).77 Wendt hatte bereits in der Weimarer Republik im KP-nahen Buchhandel- und Verlagswesen Erfahrungen gesammelt; in Moskau war er bis 1936 in der »Verlagsgenossenschaft für ausländische Arbeiter« (VEGAAR) tätig, geriet dann aber in den Strudel des stalinistischen Terrors. Aus mehrfacher Haft entlassen, arbeitete er u. a. als Übersetzer in der deutschen Redaktion von Radio Moskau. Nach seiner 1947 erfolgten Rückkehr nach Berlin-Ost übernahm Wendt die Leitung des Aufbau Verlages, die er bis 1953 innehatte. Welche Reputation er damit erworben hat, lässt sich daran ermessen, dass er im Anschluss an seine verlegerische Tätigkeit innerhalb der SED eine beachtliche Funktionärskarriere machte, bis hin zum 1. stellv. Minister für Kultur (1958–1965). Wendts Nachfolger wurde 1953 Walter Janka* (1914 Chemnitz – 1994 Potsdam), der nach seiner 1947 erfolgten Rückkehr aus Mexiko zunächst als Vorstandsvorsitzender der DEFA fungiert hatte, ehe er 1950 zum stellvertretender Leiter des Aufbau Verlags bestellt wurde. Janka hatte vor 1933 den Beruf des Schriftsetzers erlernt; in Mexiko hat er als Geschäftsführer die technische und organisatorische Arbeit von El Libro Libre geleitet und dafür gesorgt, dass in diesem bedeutendsten Exilverlag der 1940er Jahre innerhalb von vier Jahren 21 Bücher erschienen, u. a. von Heinrich Mann, Anna Seghers, Bruno Frank und Egon Erwin Kisch.78 Seine Tätigkeit im Aufbau Verlag in Berlin verlief indessen nicht so glücklich: 1956 wurde Janka wegen angeblicher konterrevolutionärer Verschwörung verhaftet und 1957 in einem spektakulären Schauprozess zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Aufgrund internationaler Proteste 1960 vorzeitig aus der Haft entlassen, arbeitete er in den folgenden Jahren als Dramaturg für die DEFA.79
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Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 80. Brief Friedrich Wolfs an Kurt Wilhelm vom 5. Februar 1946, in: Allein mit Lebensmittelkarten ist es nicht auszuhalten, S. 376 f. Siehe dazu auch den Abschnitt über die VEGAAR in Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage; ferner: Barck / Jarmatz: Exil in der UdSSR. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933‒1945, Bd. 1/I, bes. S. 279‒282; Bbl. (Lpz) Nr. 32 vom 11. August 1987, S. 572‒576; Biographisches Handbuch der SBZ / DDR 1945‒1990. Hrsg. v. G. Baumgartner und D. Hebig. Bd. 2, München: Saur 1997. Zur Person Walter Jankas und zum Verlag El Libro Libre siehe Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. 1972 erfolgte die Wiederanerkennung als Verfolgter des Naziregimes und die erneute Aufnahme in die SED; zur Zeit der »Wende« erlangte Janka als Zeitzeuge einige Aufmerksamkeit und wurde im Mai 1990 vom Obersten Gericht der DDR öffentlich rehabilitiert. Dazu: Nach langem Schweigen endlich sprechen. Briefe an Walter Janka; W. J.: Spuren eines
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Nach der Verhaftung Jankas wurde Klaus Gysi* (1912 Berlin – 1999 Berlin) dessen Nachfolger in der Leitung des Aufbau Verlags. Nach Exiljahren in der ČSR und Frankreich war Gysi 1940 auf Parteibefehl nach Deutschland zurückgekehrt, wo er bis 1945 am Widerstand teilnahm und, wie auch seine Frau Irene, im Verlag Hoppenstedt Anstellung fand. 1945 bis 1948 war Gysi als Chefredakteur der Zeitschrift Aufbau tätig; seit 1946 Mitglied der SED, war er 1949–1954 Volkskammerabgeordneter und seit 1957 im Präsidium des Kulturbundes der DDR. Erst 1952 begann seine eigentliche verlegerische Laufbahn: Bis 1957 war Klaus Gysi Leiter der Abteilung Deutsche Literaturgeschichte im Verlag Volk und Wissen, ehe er die Leitung des bedeutendsten Verlags der DDR übernahm, des Aufbau Verlags. Diese Aufgabe nahm er bis 1966 wahr; 1961 bis 1966 fungierte er außerdem als Vorsteher des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Es erscheint bemerkenswert, dass Klaus Gysi von diesen Positionen im Buchhandel aus direkt zum Minister für Kultur der DDR aufsteigen und dieses Amt bis 1973 innehaben konnte.80 Als künstlerischer Leiter fungierte im Aufbau Verlag nach dessen Gründung Karl Gossow (1904 Hammonia / Brasilien – 1962 Berlin / DDR); auch er war zuvor in Moskau bei der VEGAAR tätig gewesen.81 Als einer der wenigen Westremigranten war im Aufbau Verlag seit 1947 der Publizist Max Schroeder* (1900 Lübeck – 1958 Berlin) angestellt.82 Seit 1932 KPD-Mitglied, hatte er sich 1933 nach Frankreich geflüchtet und dort am Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror (Basel 1933) mitgewirkt; zudem war er in Paris als Sekretär des Schutzverbands deutscher Schriftsteller im Exil sowie als Mitarbeiter der Deutschen Freiheitsbibliothek tätig gewesen. 1939 in Les Milles, später in Marokko interniert, war er nach seiner Freilassung 1941 in die USA emigriert und dort stellvertretender Chefredakteur von The German American. 1946 kehrte Schroeder nach Deutschland in die SBZ zurück; in der DDR wurde er Mitglied der SED. Er arbeitete zunächst als Literaturkritiker des Neuen Deutschland und des Sonntag und war von 1947 bis 1957 Cheflektor des Aufbau Verlages.
Der Verlag Volk und Welt: eine Remigranten-Gründung Mit Lizenz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde am 14. März 1947 der Verlag Volk und Welt von Wilhelm Beier* und Michael TschesnoHell* als GmbH gegründet. Die Absicht der beiden im kommunistischen Kampf gegen
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Lebens. Reinbek: Rowohlt 1991; Janka.: … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers; Janka: Die Unterwerfung. Eine Kriminalgeschichte aus der Nachkriegszeit. Von 1973 bis 1978 war Klaus Gysi Botschafter in Italien, im Vatikan und auf Malta, von 1979 bis zu seinem Ruhestand 1988 Staatssekretär für Kirchenfragen. Zu seiner Biographie vgl. u. a. Helmut Müller-Enbergs, Bernd-Rainer Barth: Wer war Wer in der DDR? 2., durchges. und aktual. Aufl., Berlin: Chr. Links 2001, S. 262 (aktualisierte Fassung: online). Gossow erhielt 1960 den Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig. Siehe auch Werner Klemke: Der Grafiker Karl Gossow (16. 1. 1904 bis 13. 5. 1962). In: Marginalien 13. Heft (1963), S. 83‒85; Elmar Faber: Vierzig Jahre Aufbau-Verlag. In: Marginalien 100. Heft (1985), S. 14‒29; hier S. 20, 26. Schriftsteller der DDR. Hrsg. von Günter Albrecht u. a. Leipzig: Bibliographisches Institut 1974. – Schroeders Nachlass befindet sich in der Akademie der Künste in Berlin.
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den Nationalsozialismus bewährten Remigranten83 war es, antifaschistische deutsche Literatur zu veröffentlichen sowie Übersetzungen sowjetischer Literatur; als Baltendeutscher sprach Tschesno-Hell fließend Russisch. Die Gründung eines Verlags für internationale Gegenwartsliteratur war mit ein Motiv für Hans Mayer, Stephan Hermlin und Hans Marchwitza, von Frankfurt am Main bzw. aus dem Ruhrgebiet in die SBZ zu übersiedeln und als Autoren für Volk und Welt tätig zu werden. Anschließend an Tschesno-Hello war von 1950 bis 1954 ein weiterer KP-Remigrant mit der Leitungsposition des Volk und Welt-Verlags betraut, Bruno Peterson* (1900 Berlin – 1966 Berlin). Peterson, der bereits Ende der 1920er in die UdSSR gegangen und dort von 1930 bis 1932 in leitender Funktion im Internationalen Arbeiterverlag eingesetzt und danach im ZK der KPD tätig war, hat die Jahre des Nationalsozialismus im illegalen Widerstand und in der Haftanstalt Luckau, und nach seiner Flucht 1935 in der ČSR und in Frankreich sowie erneut in deutscher Gefangenschaft verbracht. 1945/ 46 war Peterson Druckereileiter in Saarbrücken; nach seiner Ausweisung übersiedelte er in die SBZ, trat der SED bei und fand eine Anstellung im Berliner Verlag J. H. W. Dietz Nachf., danach in leitender Funktion bei Volk und Welt.84 In seiner Direktionszeit verstärkte er die internationale Ausrichtung des Programms, die sein Nachfolger Walter Czollek* (1907 Berlin-Charlottenburg – 1972 Berlin) fortführte. Czollek war 1947 aus Shanghai zurückgekehrt, wohin er mit Hilfe der KP nach KZ-Haft und Ausweisung aus Deutschland gelangt war und wo er bis 1941 eine illegale Radiostation der KP Chinas geleitet hat. Bis 1947 war er dort als Übersetzer und Sprecher der deutschsprachigen TASS-Sendung »Stimme der Sowjetunion in Shanghai« tätig.85 Nach Deutschland zurückberufen, arbeitete er in der SBZ für die Deutsche Treu83
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Wilhelm Beier* (1905 Berlin – 1988 Berlin) war nach 1933 im illegalen Widerstand der KPD tätig; nach seiner Verhaftung 1939 gelang ihm die Flucht mit falschen Papieren nach Algerien und Marokko. Später war er als Angehöriger einer Gruppe spanischer Kommunisten an Sabotageakten auf Waffentransporte der deutschen Wehrmacht beteiligt, 1943 und 1944 kämpfte Beier in der französischen Résistance. Gegen Kriegsende wurde er Mitglied der KPD-Leitung in Paris und der Bewegung Freies Deutschland für den Westen (CALPO); im Oktober des gleichen Jahres kehrte er nach Deutschland zurück und wurde 1946 Mitglied der SED. 1945 bis 1950 war Beier zudem Leiter des Deutschen Funk-Verlages, 1950 bis 1954 Leiter des Sportverlages und des Verlages Tribüne. – Michael Tschesno-Hell* (1902 Vilnius – 1980 Ost-Berlin) war schon als Werkstudent Anfang der 1920er Jahre der KPD beigetreten und hatte u. a. als Journalist für Parteiblätter und als Übersetzer gearbeitet. Nach der NS-»Machtergreifung« zunächst nach Frankreich, später über die Niederlande in die Schweiz geflüchtet, gab er dort 1944 bis Dezember 1945 gemeinsam mit Hans Mayer und Stephan Hermlin die Flüchtlingszeitung Über die Grenzen heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Tschesno-Hell in die SBZ und wurde dort als hoher Funktionär in der Zentralverwaltung für Umsiedler eingesetzt, ehe er den Verlag Volk und Welt mitbegründete. Vgl. Barck / Lokatis: Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, S. 17, S. 356‒363. Peterson wurde anschließend Leiter des Berliner Jugendbuchverlags Neues Leben; hier initiierte er u. a. die von Hannes Hegen gestaltete »Bilderzeitschrift« MOSAIK als Antwort auf die westlichen Comics. Seit 1963 leitete er die Geschäfte des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Vgl. auch Lehmstedt: Die geheime Geschichte der Digedags. Barck / Lokatis: Fenster zur Welt. Darin: Roland Links: Walter Czollek ‒ Verlagsleiter von 1954 bis 1972, S. 255 f.
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handverwaltung für sequestriertes und beschlagnahmtes Eigentum und als Leiter des Personalbüros des Berliner Industrie- und Handelskontors. Von 1950 bis 1952 war er im Verlag Volk und Welt als Lektor für Zeitgeschichte tätig, stieg dann zum zweiten Geschäftsführer auf und war, nach Besuch eines Lehrgangs an der Deutschen Verwaltungsakademie Forst-Zinna, von 1954 bis 1972 Leiter des Verlags Volk und Welt.86 1964 wurde der Verlag Kultur und Fortschritt angeschlossen. Zu Czolleks Ratgebern zählte erneut Hans Mayer, Autor des Verlages und Professor in Leipzig. Im Rahmen des von der KP im Juni 1953 eingeleiteten »Neuen Kurses« war es Czollek möglich, in dem sogenannten »Leitverlag« ein Programm internationaler zeitgenössischer Belletristik zu verlegen.
Remigranten in weiteren Verlagen der DDR Im Zuge des Wiederaufbaus der Verlagsstrukturen in SBZ und DDR erhielten noch zahlreiche weitere Remigranten die Chance, in den Unternehmen verantwortliche Positionen einzunehmen. Im Falle des Verlags J. H. W. Dietz Nachf. war dies der gelernte Buchhändler Fritz Schälicke* (1899 Berlin – 1963 Berlin), der als KPD-Mitglied in den 1920er Jahren im Verlag Jugend-Internationale in Berlin (1921 bis 1932) und Wien (1932/33) als Redakteur tätig war.87 Nach 1933 arbeitete Schälicke in Moskau als Verlagsredakteur im Marx-Engels-Lenin-Institut sowie im Verlag für fremdsprachige Literatur und leitete ab 1941 den deutschsprachigen Jugendsender »Sturmadler« beim Deutschen Volkssender Moskau. Nach seiner Rückkehr im Mai 1945 nach Berlin-Ost trat er an die Spitze des KPD-Verlags Neuer Weg, der 1946 mit dem SPD-Verlag Vorwärts zum SED-Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Berlin (später Dietz Verlag Berlin) vereinigt wurde. Schälicke leitete diesen Verlag bis 1962 als Direktor.88 Als Redakteurin im SED-Verlag J. H. W. Dietz Nachf. tätig war anfänglich auch Ruth Seydewitz* (1905 Oppeln – 1989 Dresden); sie hatte vor 1929 in Berlin als Verlagsleiterin der Marxistischen Verlagsgesellschaft GmbH und des sozialistischen Verlags Freie Verlagsgesellschaft gearbeitet und war nach Exilaufenthalten in der Tschechoslowakei, Norwegen und Schweden (wo sie der KPD beitrat) im Dezember 1945 nach Berlin (Ost) zurückgekehrt. Dort war sie mitbeteiligt an der Gründung des FDJ-Verlags Neues Leben. Als ihr Mann Max Seydewitz das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten übernahm, beendete sie allerdings ihre Verlagstätigkeit und übersiedelte 1947 nach Dresden, wo sie zunächst in politischen Ämtern und nach der politischen Kaltstellung ihres Mannes als Schriftstellerin tätig wurde.89 Von zahlreichen parteiideologischen Wirrungen gekennzeichnet war die Laufbahn von Hans Holm* (1895 Hamburg – 1981 Greifswald), der bis 1924 in der Hoymschen
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Seit 1970 wurde er in der Verlagsführung von Jürgen Gruner unterstützt, der ab 1972 die alleinige Leitung übernahm und diese bis über die »Wendezeit« hinaus, bis 1991, ausübte. Siehe u. a. Biographisches Handbuch der SBZ / DDR 1945‒1990. 2. Bd. Schälicke, der seit 1947 Mitglied im Verlegerausschuss, seit 1958 im Hauptausschuss des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig tätig war, daneben auch als Funktionär in der sozialistischen Einheitspartei (SED), erhielt mehrere Auszeichnungen der Sowjetund der DDR-Regierung. Vgl. hierzu die Autobiographie Ruth Seydewitz: Alle Menschen haben Träume.
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Buchhandlung in Hamburg gearbeitet und dann als Verlagsleiter des KP-Verlages Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley fungiert hatte, aufgrund der Machtkämpfe innerhalb der KPD aber entlassen und aus der Partei ausgeschlossen worden war. Nach der Übernahme des KPD-Parteivorstandes durch Ernst Thälmann wieder voll rehabilitiert, arbeitete Holm von 1926 bis 1929 in Berlin als Leiter der Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten VIVA, dem Zusammenschluss kommunistischer Parteiverlage, und daran anschließend als Leiter der Abteilung Buchverlag des Münzenberg-Verlages Neuer Deutscher Verlag sowie bis 1933 als Leiter der Buchgemeinschaft »Universum-Bücherei für Alle«. Als »Versöhnler« zwischenzeitlich von seinen Parteiaufgaben entbunden, war Holm in den Jahren 1934 bis 1938 in mehreren Ländern tätig, darunter von November 1934 bis März 1936 in Paris bei den Éditions Sociales Internationales. 1939 nach Norwegen geflüchtet, leistete er nach der deutschen Okkupation als Herausgeber illegaler Schriften erneut Parteiarbeit, bis er im Juni 1943 verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert wurde. 1945 befreit durch die »Bernadotte-Aktion«, kam Holm über Schweden wieder nach Norwegen, wo er im Auftrag der NKP die Leitung eines Parteiverlags übernahm. Im Februar 1948 remigrierte er nach Deutschland und wurde in der SBZ beim ZK der SED Hauptreferent für Buchwesen. Im Juni 1956 im Zusammenhang mit den politischen »Säuberungen« aus der Partei ausgeschlossen, wurde Holm auf den Posten eines Leiters der Presseabteilung im Mitteldeutschen Verlag abgeschoben. Bereits im Oktober 1956 wieder rehabilitiert, war er bis 1960 mit der Verlagsleitung des UraniaVerlags in Leipzig beauftragt, jedoch 1961/62 erneut in innerparteiliche Machtkämpfe verwickelt.90 Nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil, wo er als Redakteur am Sender »Freies Deutschland« und nach Kriegsende in der Deutschlandabteilung der TASS tätig gewesen war, wurde Bernward Gabelin* (1891 Krefeld – 1983 Berlin) in der DDR mit der Direktion des Sachsenverlags Dresden betraut. Seit 1965 war er Leiter des Büros für Druckerei und Verlagswesen der Akademie der Wissenschaften der DDR, später kommissarischer Leiter des Druckerei- und Verlagskontors Berlin.91 Eine Remigrantin besonderer Art war Irene Gysi* (1912 St. Petersburg – 2007 Berlin), die 1939 nach Frankreich gegangen und dort nach Kriegsausbruch im Frauenlager Gurs interniert gewesen ist, aufgrund eines Parteibeschlusses aber 1941 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und späteren Ehemann Klaus Gysi nach Deutschland zurückkehrte und bis 1945 in Berlin als freie Mitarbeiterin des katholischen Verlags Hoppenstedt und Co. tätig war. Nach Ende des Kriegs Mitbegründerin der Zeitschrift Frau von heute, trat Gysi 1946 der SED bei, leitete seit 1949 den Berliner Verlag Kultur und Fortschritt und von 1951 bis 1956 den traditionsreichen Verlag Rütten & Loening; danach durchlief Gysi eine Funktionärslaufbahn in hohen politisch-kulturellen Ämtern.92 Um die Neugründung der Büchergilde Gutenberg in der DDR machte sich Walther Victor* (1895 Bad Oeynhausen – 1971 Bad Berka) verdient. Vor 1933 Redakteur beim Berliner 8-Uhr-Abendblatt, hatte er im Exil in der Schweiz, Luxemburg und Frankreich
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Steinky: Hamburger Kleinverlage, S. 236 f.; Scholz: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration: die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien, S. 358. Lexikon der deutschen sozialistischen Literatur, Art. Verlage. Wer war Wer in der DDR, S. 262; Thomas Engel: Irene Gysi. In: ITI Impuls 2007 [online].
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von publizistischen und literarischen Arbeiten gelebt, ehe er 1940 in die USA gelangte, wo er von 1943 bis 1945 im Alfred A. Knopf-Verlag als Herstellungsleiter angestellt war. In der SBZ bzw. der DDR trat er neben seiner politischen Tätigkeit u. a. als Herausgeber einer Klassikerreihe und als Funktionär des Schriftstellerverbandes hervor.93 Ebenfalls ein Westremigrant war der 1946 aus französischem und US-Exil zurückgekehrte Alfred Kantorowicz, der nach der Währungsreform in Berlin einen Buchverlag gründete, mit dem er seine dem geistigen Brückenbau gewidmete Zeitschrift Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit finanziell stützen wollte. Allerdings wurde bereits 1949 das weitere Erscheinen der Zeitschrift, deren Programm quer zum fortschreitenden Kalten Krieg lag, durch Beschluss des Zentralkomitees der SED unterbunden. Zeitgleich damit wurde Kantorowicz – ähnlich wie Wieland Herzfelde – eine Professur für Neue deutsche Literatur an der Humboldt Universität angeboten, wodurch die Grundlage für die verlegerische Betätigung entfiel. Der Alfred Kantorowicz Verlag hatte bis dahin eine ganze Reihe von Veröffentlichungen herausgebracht, vom Briefwechsel zwischen Goethe und Bettine von Arnim und einer Freiligrath-Dokumentensammlung bis zum absatzträchtigen Roman von Carson McCullers Das Herz ist ein einsamer Jäger, zu dem der Verleger sich die Rechte in den USA gesichert hatte.94 Dazu erschienen Kinderromane von Walther Pollatschek und auch mehrere exilbezogene Titel, von Arnold Zweig, Maximilian Scheer und Kantorowicz selbst. Nachdem schon seine eigenen Bücher wie das Spanische Tagebuch nach und nach aus dem Verkehr gezogen und eingestampft worden waren, entging Kantorowicz 1957 der drohenden Verhaftung durch seinen Wechsel in die Bundesrepublik.
Exilliteratur in der DDR – Kontinuitäten und Wandel Der 1949 neuerrichtete Staat der Deutschen Demokratischen Republik übernahm das Lizenzierungssystem der sowjetischen Besatzungsmacht und machte somit verlegerische Tätigkeit weiterhin von der Erteilung einer entsprechenden Genehmigung abhängig. Dies gab Gelegenheit, die angestrebte Vergesellschaftung des Buchproduktionswesens durch Reduktion der Privatfirmen zielstrebig voranzutreiben; allein im August 1951 wurde die Zahl der zugelassenen Firmen um 71 reduziert; relativ spät, 1965, wurde so auch der Greifenverlag ein volkseigener Betrieb.95 Damit war der zentralen Steuerung des Literaturwesens im Rahmen der sozialistischen Planwirtschaft immer größerer Raum gegeben; die Privatverlage wurden marginalisiert. Umso stärker spiegelte sich die parteigesteuerte Literaturdoktrin in den Verlagsprogrammen, und nicht nur die aktuelle Literaturproduktion wurde jetzt an Maßstäben des Sozialistischen Realismus gemessen, auch die Werke des Exils mussten diesen Forderungen standhalten, wollten sie weiterhin eine Druckgenehmigung erhalten. Längst schon wurden nichtkommunistische Autoren von
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Biographisches Handbuch der SBZ / DDR 1945‒1990. Hrsg. von Gabriele Baumgartner und Dieter Hebig. Bd. 2 (1997). Michael Klein: Der Alfred Kantorowicz Verlag – Ein vergessener Verlag der Nachkriegszeit (mit Verlagsbibliographie). Wurm / Henkel / Ballon: Der Greifenverlag zu Rudolstadt 1919‒1993. Verlagsgeschichte und Bibliographie, S. 109.
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linientreuen Autorenkollegen als »Lungenschmarotzer« (Fr. Wolf) empfunden;96 das galt konkret auch für Autoren wie Oskar Maria Graf, von dem 1953 mehrere Titel aus dem Themenplan des Aufbau Verlags gestrichen wurden. Graf war froh, dass er damals auf den Greifenverlag ausweichen konnte – zumal er in dieser Zeit in der Bundesrepublik kaum Publikationschancen hatte. 1958 klagte er in einem Interview, er habe in den letzten zehn Jahren von westdeutschen Verlagen nur Absagen erhalten.97 Das lag nun wieder daran, dass er aufgrund seiner Aufbau- und Greifenverlag-Veröffentlichungen als »Ostautor« abgestempelt war; an Walter Janka schrieb er 1956: Zudem ist es doch so, daß jeder Autor, der in der DDR verlegt wird, stillschweigend in der Bundesrepublik geächtet wird. Alle Versuche, die beiden genannten Bücher bei anderen Verlagen der Bundesrepublik unterzubringen, scheiterten, und die fadenscheinigen Ausreden, die sich die Verleger machten, verrieten nur zu deutlich, wie man um sogenannte »Ostautoren« herumgeht.98 Damit sprach Graf ein Problem an, das nicht nur ihn betraf, sondern alle Autoren, die sich bemüht hatten, mit ihren Büchern in Ost und West präsent zu sein: sie waren zwischen die Mühlsteine des Kalten Krieges geraten. Im Zeichen der ideologischen Straffung der Literaturpolitik in der DDR wurde das in den Anfängen so demonstrativ betriebene Werben um bürgerliche Schriftsteller fortschreitend abgebaut. Ohnehin war die Einbürgerung der Exilliteratur stets selektiv betrieben worden: »Hermann Broch und Robert Musil, Joseph Roth, Ödön von Horvath und Ernst Weiß, Hans Henny Jahnn, Walter Mehring, Klaus Mann und Irmgard Keun und selbst Walter Benjamin, ganz zu schweigen von Theodor W. Adorno und den ›Renegaten‹ Arthur Koestler und Gustav Regler, wurden lange nicht oder sogar nie in den kommenden 40 Jahren DDR gedruckt.«99 Auch in dieser Hinsicht also muss von einer »halbierten Einbürgerung der Exilliteratur« (W. Emmerich) gesprochen werden,100 und diese Tendenz zur Ausgrenzung nichtsozialistischer Autoren setzte sich in dem Maße fort, in welchem sich die Aufmerksamkeit der Literaturpolitik auf eine neue Generation richtete, die sich im Zeichen des Bitterfelder Wegs und sonstiger Richtlinien auf die aktuellen Aufgaben des Schriftstellers in der sozialistischen Gesellschaft konzentrieren sollte. Ohnehin hatten von der Exilgeneration nur Anna Seghers im Roman, allenfalls Johannes R. Becher in der Lyrik und Bertolt Brecht auf dem Theater schulbildend gewirkt; ihre Repräsentanten hatten »ihre schöpferischen Zeiten zumeist schon hinter sich.«101 Wenn daher die Bedeutung der Exiltradition in der DDR insgesamt schwächer
96 Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 80 f. 97 Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat, S. 119. 98 Brief Oskar Maria Grafs an Walter Janka vom 15. Juli 1956; hier zit. nach Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 81. Graf bezieht sich hier auf seine Bücher Das Leben meiner Mutter und Eroberung der Welt, die ursprünglich bei Desch erschienen waren. Desch hatte sich aber vertragswidrig geweigert, davon Neuauflagen zu veranstalten; er nahm auch keine neuen Titel Grafs ins Programm auf. 99 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 81 f. 100 Emmerich, Kap. »Die halbierte Einbürgerung der Exilliteratur«. 101 Emmerich, S. 81 f.
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wurde, so trifft – mit den eben angedeuteten Einschränkungen und vor allem in Relation zu den Verhältnissen in der Bundesrepublik – der Befund von Carsten Wurm doch zu: »Zu einer prägenden Besonderheit des DDR-Buchmarktes wurde die nie abreißende Rezeption der Exilliteratur.«102 Aufschlussreich ist allerdings die Tatsache, dass neben dem übermächtigen, von Staat und Partei geförderten Aufbau Verlag auch privatwirtschaftliche Verlage in der SBZ und dann auch in der DDR in Sachen Emigrationsliteratur zeitweise eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. In besonderer Weise gilt dies für den bereits mehrfach erwähnten Greifenverlag in Rudolstadt,103 dessen Inhaber Karl Dietz bemüht war, im Rahmen seines allerdings recht weit gespannten Programmspektrums auch die im deutschsprachigen Exil entstandene Literatur zugänglich zu machen. Besonders profilieren konnte sich der Verlag dann seit den 1950er Jahren mit Lion Feuchtwanger, von dem bis 1961 21 Bände erschienen. Neben Feuchtwanger, der auf diese Weise in der DDR ein großes Publikum gewann, gehörten auch Oskar Maria Graf, Paul Zech, Arnold Zweig und Ernst Sommer zu den wichtigsten Autoren im Programm.104 Eine besondere Funktion scheint er für die nicht in der DDR lebenden Autoren gewonnen zu haben; als Privatverlag genoss er bei ihnen und den lizenzgewährenden westlichen Verlagen besondere Sympathien. Allerdings wurde Karl Dietz von literaturpolitischen Stellen so massiv unter Druck gesetzt, dass er weitergehende Ambitionen – gerade auch bei Thomas Mann, mit dem er in Verhandlungen stand – zugunsten des Aufbau Verlags aufgeben musste.105 Wer im Westen lebende Autoren in einem DDR-Verlag herausbringen oder sie gar dauerhaft an ihn binden wollte, hatte ohnehin vielfältige praktische Hindernisse zu überwinden – vor allem das Problem, Honorare ins Ausland zu transferieren. Diese Problematik betraf jedoch nicht nur den (devisenmäßig besonders restriktiv behandelten) privat geführten Greifenverlag, sondern durchaus auch den Aufbau Verlag und andere volkseigene oder partei- bzw. organisationsgebundene Verlagsbetriebe. Eine Gesamteinschätzung der im Osten Deutschlands unternommenen Anstrengungen, die Literatur des deutschsprachigen Exils 1933‒1945 möglichst rasch zu einem tragenden Element des vom sozialistischen Deutschland beanspruchten kulturellen Erbes zu machen, gab rückblickend der Frankfurter Verleger Klaus Schöffling: Unbestreitbar ist, dass [in der SBZ] der Exilliteratur, wie der 1933 verbrannten Literatur, breitester Raum gegeben wurde. Natürlich mit Vorrang der sozialistischen Literatur. Aber man war in den Anfängen nicht wählerisch, hatte noch keinen eigenen Literaturbegriff gebildet (bis Bitterfeld war noch ein weiter Weg) und druckte Buch um Buch, zum Teil in gigantischen Auflagen, die dennoch sofort vergriffen waren. Es ist heute fast unvorstellbar, wie diese Bücher auf die Deutschen gewirkt haben mussten.106
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Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag, S. 76. Vgl. zum Folgenden Wurm / Henkel / Ballon: Der Greifenverlag zu Rudolstadt 1919‒1993. Wurm / Henkel / Ballon: S. 118‒126. Wurm / Henkel / Ballon, S. 112 f. Klaus Schöffling: »Als ein völlig Unbekannter verweile ich hier«. In: Bbl. (Ffm) Nr. 36 vom 28. April 1982.
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In der Tat bildete sich in der SBZ »eine ideologische und ästhetische Kontinuität heraus, die im Verhältnis zu der in den Westzonen komplementär war – und eben auch einseitig, Verdrängungen Vorschub leistend. Eine Traditionsbildung fand statt, die die SBZ schon lange von Westdeutschland unterschied, noch ehe die beiden Staaten gegründet wurden.«107 Somit zeigt sich für die Rezeption der Exilliteratur in der DDR das folgende Bild: Ein neu errichteter Staat stellt sich in die Nachfolge des antifaschistischen Exils und ist bereit, der Literatur eine wichtige, identitätsstiftende Funktion im Aufbau des »Neuen Deutschland« zuzuweisen. Dieses Konzept wurde schon in den Verlagsprogrammen der SBZ energisch umgesetzt, und wenn die Exilliteratur auch im Laufe der Zeit an »staatstragender« Bedeutung verlor, so behielt sie doch immer einen gewissen Stellenwert. Auf den zweiten Blick relativiert sich diese Erfolgsgeschichte nicht unwesentlich, weil die verlegerische Erschließung der Exilliteratur letztlich stark selektiv erfolgte; denn wenn auch anfänglich eine »gesamtdeutsche« Linie ins Auge gefasst wurde, so blieben in der Folge doch zahlreiche nichtsozialistische oder gar als reaktionär geltende Exilautoren ausgegrenzt. Die deutsche Exilliteratur, welche der Leserschaft in der DDR nahegebracht worden ist, war keinesfalls deckungsgleich mit jener, die das Publikum der Bundesrepublik kennengelernt hat. Zudem schuf der Umstand, dass die Exilliteratur in der DDR von der Partei für die ideologische Umerziehung und die politisch-kulturelle Legitimierung des sozialistischen Staates instrumentalisiert wurde, typische Rezeptionshemmnisse, wie sie bei jeder Form staatlich verordneter Literatur aufzutreten pflegen: Ein verordneter Kanon findet selten den Weg in die Gesellschaft. Nach starkem Beginn und jahrzehntelanger Propagierung versandete die Exilrezeption im Osten Deutschlands; nach dem Fall der Mauer wurde diese einstmals heroisierte Literatur mit einem untergegangenen Staat und einem gescheiterten Gesellschaftssystem identifiziert.
Die Situation nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen Als nach der Kapitulation Deutschlands am 9. Mai 1945 die alliierten Mächte in den vier Besatzungszonen die Kontrolle übernahmen, galten mit die strengsten Anordnungen dem Medienbereich, neben dem Rundfunk auch der Presse und dem Buch. Im Grunde war jetzt die Herstellung und Verbreitung gedruckter Medien grundsätzlich verboten; Ausnahmen von diesem Verbot wurden durch Ausführungsbestimmungen geregelt, u. a. durch die Lizenzierung von Verlagen.108 Zugleich wurden von allen Militäradministrationen Presse und Buch in den Dienst der demokratiepolitisch gebotenen Umerziehungsmaßnahmen genommen, wenn auch unter höchst unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen. Zugleich herrschte gerade in den ersten Nachkriegsjahren im Publikum eine immense Nachfrage nach Büchern aller Art; der Lektürehunger konnte damals, v. a. aufgrund von Papierknappheit, kaum gestillt werden – die in 100.000 Exemplaren verkauften RowohltsRotationsRomane (unter denen sich Theodor Pliviers Stalingrad und Anna Seghersʼ Siebtes Kreuz befanden) sind nur das plakativste Beispiel für die Chancen, die sich auf dem erst partiell wiederhergestellten Buchmarkt ergaben.
107 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 83. 108 Die beste Übersicht vermittelt Wittmann: Verlagswesen und Buchhandel 1945‒1949.
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Für eine Rückkehr der Exilverleger zeigten sich sehr bald vielfältige Hindernisse, die vielleicht gravierendsten im atmosphärischen Bereich: Wie wenig willkommen Remigranten in Westdeutschland waren, ließen schon die im Herbst 1945 zwischen Frank Thiess und Walter von Molo auf der einen Seite und Thomas Mann auf der anderen Seite geführten Debatten deutlich werden. Die von den Vertretern der »Inneren Emigration« vorgetragenen Attacken, denen zufolge die Emigranten das bessere Los gezogen und sich dem deutschen Schicksal und der deutschen Kultur entfremdet hätten, müssen als repräsentativ betrachtet werden für Ansichten, die in der Nachkriegsgesellschaft verbreitet waren.109 Dass die Daheimgebliebenen einen moralischen Primat auf das Werk des Wiederaufbaus anmeldeten und die Rückkehrer im Literaturbetrieb nicht mit offenen Armen empfingen, hatte negative Konsequenzen auch für die Remigrationsbereitschaft der Verleger. Denn wie sollte in einem solchen Umfeld der Wiederaufbau eines Unternehmens gelingen? Berthold Spangenberg brachte die Boykottgesinnung des Publikums rückblickend auf den Punkt: »Unsere guten Deutschen wollten bis 1955 von Schriftsteller-Emigrant Nr. 1, Thomas Mann, gar nichts wissen, feindeten ihn an. Und mehr noch die anderen Emigranten.«110 Als ein weiteres bedeutsames Hindernis erwies sich die sich sehr bald zuspitzende Ost-West-Konfrontation. Bereits auf dem – noch gesamtdeutschen – I. Schriftstellerkongress, der vom 4. bis 8. Oktober 1947 in Berlin stattfand, wurden die Spannungen virulent, und im nun eskalierenden Kalten Krieg gerieten alle linken Positionen – mit denen die Emigration und ihre Literatur oft unbesehen identifiziert wurde – in eine Defensivposition oder auch total in Acht und Bann. Der forcierte Antikommunismus, wie er die Politik der strikten Westbindung der Bundesrepublik begleitete, sollte noch für Jahrzehnte die Räume eng machen für die Auseinandersetzung mit Literaturpositionen, die der Sympathie mit dem Kommunismus mindestens verdächtigt werden konnten. Dazu kam nun noch eine ganze Anzahl praktischer Probleme: In den Westzonen erfolgte der Wiederaufbau des Buchhandels- und Verlagswesens auf rein privatwirtschaftlicher Basis; die Verleger, denen Lizenzen vorzugsweise erteilt wurden, hatten die Zeit vor 1945 im nationalsozialistischen Deutschland zugebracht. Dagegen hatte man von der Leistung der Exilverleger wenig oder gar keine Kenntnis – ein Informationsdefizit, das nur sehr allmählich abgebaut werden konnte. Erst mit bilanzierenden Veröffentlichungen wie Drews / Kantorowicz’ Verboten und verbrannt (1947) verbreitete sich allmählich das Wissen über Umfang und Bedeutung der 1933 bis 1945 außerhalb NSDeutschlands entstandenen Literatur.111 Den Exilverlegern selbst blieb die Möglichkeit zur Rückkehr vielfach aus besatzungsrechtlichen Gründen verwehrt.112 Und obwohl die
109 Vgl. Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus. Für eine quellenorientierte Zusammenschau dieser Probleme vgl. Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat. Zur Frank Thiess / Thomas Mann-Debatte bzw. zu »Thomas Mann als Polarisierungsfigur« vgl. dort S. 111‒115. 110 Berthold Spangenberg in einem Brief an den Buchhändler Heiner Peters vom 3. Mai 1981; hier zit. n. Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat, S. 119. 111 Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur – 12 Jahre unterdrückt. Hrsg. von Richard Drews und Alfred Kantorowicz. Berlin, München 1947. 112 Vgl. Fischer: Keine Heimkehr aus dem Exil. Die (Nicht-)Remigration deutscher Buchhändler und Verleger nach 1945.
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Neuorganisation des deutschen Buchhandels relativ gut vorankam,113 blieb die sich neu herausbildende Verlagslandschaft lange unübersichtlich – im Lande selbst, erst recht aber für die noch im Ausland wohnhaften oder eben erst zurückgekehrten Autoren. Unsicherheit prägte daher die Situation vor allem jener Autoren, die in vertraglichen Bindungen zu (Exil-)Verlagen standen, von denen nicht abzusehen war, ob sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen und also ihre Rechte in Anspruch nehmen würden. Sie sahen sich dadurch in ihrer Suche nach neuen Verlagsverbindungen blockiert. Auf Verlagssuche waren auch jene Autoren, die sich in jener frühen Phase, in der eine zonenüberschreitende Distribution von Büchern unmöglich oder mit enormen Schwierigkeiten verbunden war, die Option auf eine gesamtdeutsche Verbreitung ihrer Werke offenhalten und die Publikationsrechte an Verlage in den einzelnen Zonen vergeben wollten. Auch sie konnten aus Mangel an Überblick nicht ohne Weiteres beurteilen, wie dies am besten bewerkstelligt werden könnte. Aus vergleichbaren Gründen wurden damals Lizenzen für einzelne Werke an Verlage in der Schweiz und Österreich vergeben: Da nicht nur die Einfuhr aus diesen Ländern, sondern auch die Ausfuhr in diese Länder nicht möglich war, sollte damit eine Verbreitung wenigstens innerhalb der einzelnen Länder möglich sein. Was früher ein einheitlicher, großer deutschsprachiger Buchmarkt war, zerfiel nun – mindestens für einige Jahre – in viele einzeln zu bewirtschaftende, abgeschottete Bereiche. Waren die Verlagsverbindungen der Autoren somit gekennzeichnet von Zufälligkeit und Fluktuation, so verschärfte oder wiederholte sich diese Problematik noch einmal durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948. Mit der Einführung der »harten« Deutschen Mark verschwand der »Bücherhunger« sehr plötzlich, zumal auch die Ansprüche an die Buchausstattung schlagartig höher wurden; das Kaufinteresse verlagerte sich auf andere Konsumgüter. Infolge dessen verschwanden zahlreiche Verlage von der Bildfläche, wodurch nicht wenige Autoren erneut verlegerisch heimatlos waren. Als ein Beispiel kann der Behrendt Verlag in Stuttgart dienen, in welchem u. a. Gustav Reglers Roman Sterne der Dämmerung, Hans Natoneks Der Schlemihl oder Arthur Koestlers Sonnenfinsternis herauskamen, wobei der letztere Titel 1948 in einer Auflage von 25.000 Exemplaren erschien. Wie von Behrendt hat man von vielen Verlagen, meist Neugründungen der Jahre 1945 und 1946, nach 1949 nichts mehr gehört. Wie schwierig es sogar für prominente Schriftsteller war, eine neue Verlagsheimat zu finden, zeigt sich auf exemplarische Weise an Alfred Döblin, der – seit November 1945 in Baden-Baden stationiert – als Kulturoffizier der französischen Militärregierung doch eigentlich eine herausgehobene Stellung behauptete.114 Sein Name wurde, soweit überhaupt noch bekannt, immer noch mit Berlin Alexanderplatz identifiziert, dabei hatte er in der Vertreibung einen tiefgreifenden Wandel als Mensch und Autor durchlebt und wollte nun sein christliches Bekenntnis mit der Publikation seiner jüngsten Werke, die er aus dem Exil in großer Zahl mitgebracht hatte, öffentlich dokumentieren. Er hatte allerdings keine feste Verlagsverbindung mehr; der Kontakt mit Bermann Fischer war ebenso abgerissen wie der mit anderen Verlagen. Die Enttäuschungen, die Döblin im – letztlich erfolglosen – Bemühen um Rückeroberung seiner einstmals hochgeachteten
113 Hierzu vorerst die Darstellung bei Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels. 114 Vgl. Koepke: Nachlaß zu Lebzeiten und danach: Alfred Döblin und die Veröffentlichung seiner Werke im Nachkriegsdeutschland.
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Stellung im Literaturbetrieb erfuhr, spiegeln sich in der Publikationsliste jener Jahre: Die Südamerika-Trilogie erschien 1947/48 in Baden-Baden bei Keppler, der ebenfalls dreiteilige Roman November 1918 in Freiburg bei Alber, das autobiographische Bekenntnis Schicksalsreise 1949 in der Carolus-Druckerei (Verlag Josef Knecht) in Frankfurt am Main, der Hamlet-Roman fand nirgendwo Aufnahme, bis er 1956 bei Rütten & Loening in der DDR gedruckt wurde; erst bei Walter im Schweizerischen Olten fand Döblins literarisches Werk ein neues Zuhause.
Gottfried Bermann Fischer: Neustart mit Hindernissen Kein Exilverleger hatte so günstige Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Tätigkeit im befreiten Deutschland wie Gottfried Bermann Fischer, keiner brannte so sehr auf eine solche Fortsetzung und keiner war auch so gut darauf vorbereitet. Schon lange vor Kriegsende hatte er für die Zeit danach konkrete Vorstellungen und Pläne entwickelt. An Hermann Broch, den er (vergeblich) für seinen Verlag zu gewinnen suchte, schrieb er bereits im März 1944: »Ich habe […] beschlossen, mit dem Wiederaufbau in grossem Umfange schon jetzt zu beginnen und die Herausgabe der wichtigsten Werke in deutscher Sprache sowie der bedeutendsten Werke des Auslandes, soweit sie zerstoert oder noch nicht erschienen sind, schon jetzt vorzubereiten.«115 Darin, dass er hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte, durfte er sich dann auch durch die US-Militärverwaltung bestätigt fühlen. In seinem 1994 erschienenen Erinnerungsbuch Wanderer durch ein Jahrhundert berichtete Bermann Fischer zur unmittelbaren Nachkriegssituation: Wie dringend meine Rückkehr notwendig war, zeigte die Forderung der »Re-Education«-Behörden der amerikanischen Besatzungsarmee, unsere wichtigsten im Exil publizierten Bücher ihnen zur Verfügung zu stellen, damit sie deutschen Verlegern, die die Verlagslizenz erhalten hatten, übertragen werden könnten. Einen amerikanischen Verlegerkollegen, der für diese Behörde tätig war, fragte ich, ob er das tun würde. »Glauben Sie wirklich, dass wir zehn Jahre lang unter widrigsten und gefährlichen Umständen das Werk unserer großen Autoren zusammenhielten, um sie nach Deutschland, das sie vertrieben, das ihre Bücher verbrannt hatte, zu verschenken?« Er sah ein, dass er Unmögliches verlangte.116 Bermann Fischer behielt sich also die Eigenverwertung der von ihm gehaltenen Verlagsrechte vor, allerdings konnte er bis auf Weiteres davon keinen Gebrauch machen: Inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden, waren ihm nach dem Trading with the Enemy Act geschäftliche Unternehmungen in Deutschland verboten. Erst im Mai 1947 konnte er, nach Überwindung beträchtlicher bürokratischer Hindernisse, das erste Mal in Nachkriegsdeutschland einreisen. Nach seiner Rückkehr betonte er in einem Interview mit dem New Yorker Aufbau einmal mehr:
115 Brief Bermann Fischer an H. Broch vom 27. März 1944, abgedruckt in: S. Fischer, Verlag, S. 640. 116 Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S.199 f.
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Mein Hauptziel ist, die deutsche Exil-Literatur an das deutsche Lesepublikum in grossen Auflagen heranzubringen. Es ist eine Tatsache, dass man in Deutschland nach den Werken von Thomas Mann, Franz Werfel, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin u. s. w., und zwar sowohl nach den alten wie den in der Emigration geschriebenen, dringend verlangt.117 Wie dringend das Publikum tatsächlich nach den in der Emigration geschriebenen Werken verlangte, musste dahingestellt bleiben, denn es sollte noch weitere drei Jahre dauern, bis der Verleger 1950 diese Pläne umsetzen und seine Tätigkeit regulär wieder in Deutschland aufnehmen konnte. Immerhin war es Bermann Fischer 1947 im Zuge seines Deutschland-Aufenthalts gelungen, mit den zuständigen Behörden eine Vereinbarung zu erzielen, der zufolge er Lizenzrechte an Exilwerken Thomas Manns (Lotte in Weimar, Doktor Faustus), Franz Werfels (Das Lied von Bernadette), Stefan Zweigs (Die Welt von Gestern) und Carl Zuckmayers (Des Teufels General) an den von Peter Suhrkamp treuhänderisch verwalteten, im Inland verbliebenen Verlagszweig in Berlin (seit 1947 in Frankfurt) vergeben konnte, wo diese Bücher 1948/49 tatsächlich auch erschienen: Mit meiner ganzen Energie ging ich daran, den Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer durch Zuführung meiner Verlagswerke zu reaktivieren. Ich gab dem Suhrkamp Verlag an Lizenzausgaben, was nur immer möglich war. So entstand 1948, nachdem ich auch noch das nötige Papier beschafft hatte, »S. Fischers Bibliothek«, eine billige Buchreihe mit den glanzvollsten Autoren und den attraktivsten Titeln. Diese Bände waren kartoniert, die Erstauflagen schwankten zwischen 30.000 und 45.000 Exemplaren, die Ladenpreise lagen zwischen Mark 2,80 und 4,00.118 Auf die Umschlagklappen ließ der Verleger einen Vermerk aufdrucken, der das ideelle Motiv dieser Vorgangsweise unterstrich: »Die Autoren des Bermann Fischer Verlages und der Verlag selbst haben diese Reihe durch weitgehenden Verzicht auf materiellen Ertrag ermöglicht, um die Kontinuität der deutschen Literatur wiederherzustellen.«119 Auf diese Weise sind damals »die bedeutendsten Werke der emigrierten Autoren in Auflagen von 80.000 bis 150.000 zu erschwinglichen Preisen und in annehmbarer Ausstattung in drei Zonen Deutschlands, ausgenommen der russischen, auf den Buchmarkt gebracht worden, wobei Peter Suhrkamp das Alleinrecht für die Veröffentlichungen erhielt.«120 Mit dieser Lizenzproduktion reagierte Bermann Fischer nicht nur auf die andauernde Verhinderung seiner Verlegertätigkeit, sondern zugleich auf die faktische Unmöglichkeit eines Buchimports nach Deutschland: Die Einfuhr der in Amsterdam, in Zürich oder Stockholm gedruckten Werke der Exilliteratur ist an der Devisenhürde freilich völlig gescheitert. Parallel zum Aus-
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Aufbau vom 28. November 1947, S. 14 f., zit. n. Nawrocka: Verlagssitz, S. 182. Bermann Fischer: Wanderer durch ein Jahrhundert, S. 200 f. Zit. n. Bermann Fischer, S. 201. Bermann Fischer, S. 180.
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fuhrverbot für Honorare bestand ein Einfuhrverbot für kommerzielle Druckerzeugnisse. Ausnahmen wurden nur zugelassen, wenn ein Buch ins Umerziehungsprogramm der amerikanischen Militärregierung passte.121 Bermann Fischer konnte so den Startvorteil, den er durch seine Bücherläger gehabt hätte, nicht nutzen. Der Verleger hätte sonst sowohl von Stockholm aus wie auch aus Amsterdam, wo er nach der Trennung vom schwedischen Bonnier-Konzern 1948 (bis 1950) den Verlagssitz genommen hatte, sowie auch aus der wieder errichteten Niederlassung in Wien den deutschen Markt mit einem kompletten Programm erstrangiger Exilliteratur122 beliefern können. Von den Importverboten betroffen war auch der Amsterdamer Querido-Verlag, dessen Leitung 1945 wieder von dem aus den USA zurückgekehrten Fritz H. Landshoff übernommen worden war. Landshoff, Geschäftspartner Bermann Fischers schon in den Niederlanden und dann auch in den USA, berichtet in seinen Erinnerungen hierzu: Im Herbst [1945] kehrte Bermann Fischer nach Stockholm zurück und ich nach Amsterdam. Freilich mußten wir – Bermann Fischer in Schweden und ich in Holland – schnell erkennen, dass die von Verlegern und Autoren seit 1933 mit größten Hoffnungen erwartete Öffnung des deutschen Marktes für die Exilliteratur vorläufig ausblieb und wir erneut einer qualvollen, zeitlich unabsehbaren Periode des Wartens ausgesetzt waren.123 Zunächst aber reaktivierte Landshoff den Querido Verlag, wobei ihm der Umstand zu Hilfe kam, dass nach Kriegsende überraschenderweise unversehrt gebliebene Bücherbestände aus der Vorkriegszeit auftauchten; es handelte sich um beträchtliche Mengen Rohbogen, die in holländischen Druckereien den Beschlagnahmungen entgangen waren und jetzt nur aufgebunden werden mussten. Obwohl er nennenswerte Absatzerfolge nur innerhalb der Niederlande erzielen konnte, hatte der Querido-Verlag bald wieder eine breite Palette von Werken deutscher Exilschriftsteller anzubieten, von Heinrich Mann, Anna Seghers, Joseph Roth und Leonhard Frank über Robert Neumann, Hermann Kesten, Lion Feuchtwanger und Annette Kolb bis zu Emil Ludwig, Vicki Baum, Bruno Frank und Martin Gumpert; 1947 erschien in dem Verlag Horkheimer / Adornos Dialektik der Aufklärung. 1948 vereinigte sich der Stockholmer Bermann-Fischer-Verlag mit Fritz Landshoffs Querido Verlag zum Bermann-Fischer / Querido-Verlag mit Geschäftssitz in Amsterdam, an den Bonnier seine Rechte am Stockholmer Unternehmensteil verkaufte. Hierzu wurde Ende September 1948 ein Rundschreiben an den Buchhandel veröffentlicht, dessen programmatischer Schlussabsatz Aufschluss über die Motivation gibt, mit der man an die bevorstehende Arbeit in Nachkriegsdeutschland heranging:
121 Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Deutsche Literatur im Exil 1933‒1945, S. 276. 122 In den Jahren 1945 bis 1950 wurden in Stockholm zahlreiche Titel neu aufgelegt, Werke von Thomas Mann, Franz Werfel, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Joseph Roth, Bruno Frank, Joachim Maass, Friedrich Torberg u. a. m. Vgl. Nawrocka: Verlagssitz, S. 168. 123 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 165.
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Abb. 1: Fritz H. Landshoff und Gottfried Bermann Fischer, die im europäischen und amerikanischen Exil und noch in den Nachkriegsjahren eng zusammengearbeitet hatten, trafen einander am 1. Oktober 1986 im Schauspielhaus Frankfurt am Main anlässlich des 100jährigen Bestandsjubiläums des S. Fischer Verlags.
Wir erlauben uns, Ihnen mitzuteilen, dass unsere seit vielen Jahren freundschaftlich verbundenen Verlage sich nunmehr unter dem Namen Bermann-Fischer / Querido Verlag N. V. zusammengeschlossen haben. Der Sitz der Gesellschaft ist Singel 262/ Amsterdam-C (Holland). Die Leitung liegt in den Händen von Gottfried Bermann Fischer und F. H. Landshoff. Beide Verlage werden ihren besonderen Charakter auch innerhalb der neuen Gemeinschaft beibehalten und die Werke der von ihnen repräsentierten Autoren weiterhin unter ihrem bisherigen Impressum Bermann-Fischer Verlag und Querido Verlag publizieren. In den Jahren des Exils und des Krieges ist es uns allen Schwierigkeiten zum Trotz gelungen, der freien deutschen Literatur ausserhalb Deutschlands einen würdigen Fortbestand zu ermöglichen. Wir erblicken jetzt unsere Aufgabe darin, ‒ ungeachtet der immer noch bestehenden Schwierigkeiten – den Anschluss an das gesamte geistige Schaffen des deutschen Kulturkreises wieder herzustellen und jenen literarischen Traditionen, deren Erbschaft uns verpflichtet, eine lebendige Kontinuität zu sichern.124
124 Rundschreiben, Ende September 1948 (DEA / DNB, TLN Berendsohn EB 54b/7/142, Kopie).
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Wie bereits angedeutet, konnte Bermann Fischer auch den Verlag in Wien, den er nach dem »Anschluss« Österreichs verloren hatte, 1947 zurückerhalten und neu beleben. Auch in dieser Wiener Zweigstelle kam bis 1951 eine Anzahl von Titeln heraus (1948: 16, 1949: 12 Titel), darunter die Wiener Ausgabe von Thomas Manns Doktor Faustus und das von Friedrich Torberg redigierte Zehnjahrbuch, ein Almanach, der Rechenschaft über die in den Jahren 1938 bis 1948 in den Verlagen Bermann Fischers publizierten Bücher gab. Ein besonderer Vorteil war, dass von Wien aus noch am ehesten nach Deutschland geliefert werden konnte.125 Mit dem Zusammenschluss mit Querido, der auch die Schließung bzw. Übersiedelung des Stockholmer Büros nach Amsterdam nach sich zog, ergab sich für kurze Zeit für Gottfried Bermann Fischer eine ganz bemerkenswerte, von einem absolut internationalen Aktionsradius gekennzeichnete Konstellation, über die ein im Februar 1949 geschriebener Brief des treuen Verlagsmitarbeiters Walter Singer an Walter Berendsohn in Schweden Auskunft gibt: Die Verlegung des Verlags hat sich als günstig erwiesen. Auch insofern sind wir gute Verleger. Man kann von hier allerhand Transaktionen machen, an die wir in Sthlm [Stockholm], das ja eigentlich an der äußersten Peripherie der Zivilisation und der bewohnten Welt liegt, nicht hätten denken können. Dr. Bermann fährt zwischen Amsterdam und unserem Hause in Frankfurt (Suhrkamp Verlag, vorm. S. Fischer) im eigenen Auto hin & her. Die Reise nimmt nur acht Stunden in Anspruch. In Wien, wo wir ebenfalls einen prächtig florierenden Verlag haben, ist er alle Augenblick[!] und im März besucht er unser Office in New York. Das lässt sich alles von hier aus administrieren.126 Gottfried Bermann Fischer hätte diesen Modus international ausgreifenden Verlegertums zweifellos sehr genossen – wären nicht gleichzeitig die Bemühungen um die Wiedererlangung seines Verlages in Deutschland von unangenehmen, nicht vorherzusehenden Schwierigkeiten begleitet gewesen.127 Die Versuche der einvernehmlichen Verlagszusammenführung scheiterten an der (spät zutage getretenen) Weigerung Peter Suhrkamps, den von ihm eingestandenermaßen treuhänderisch verwalteten Verlag an seinen früheren Eigentümer zurückzugeben. Die Auseinandersetzung, deren Verlauf im Kap. Belletristische Verlage bereits ausführlicher dargestellt worden ist, endete 1950 in einem Vergleich: Der Suhrkamp Verlag blieb erhalten, der S. Fischer Verlag wurde in Frankfurt wiedergegründet, und die 1936 bei Suhrkamp verbliebenen Autoren des Verlags durften frei entscheiden, welchem der beiden Verlage ihre Rechte zukommen sollten. Mit der Neugründung des S. Fischer Verlags 1950 in Frankfurt am Main waren die ausländischen Verlagsteile überflüssig geworden; so wurden 1952 sowohl der Amsterdamer Bermann-Fischer/Querido Verlag (aus dem inzwischen Fritz H. Landshoff ausge-
125 Zum Wiener Stützpunkt siehe Nawrocka: Verlagssitz, S. 185. 126 Brief Walter Singer an Walter Berendsohn, Amsterdam, 20. Februar 1949 (TLN Berendsohn TNL EB 54b/7, 1434). 127 Angesichts dieses länderübergreifenden Agierens von Bermann Fischer wird einmal mehr verständlich, was ihn von Peter Suhrkamp trennte: dessen elitäre Auffassung von verlegerischer Arbeit stand in diametralem Gegensatz zu der von einem internationalen Horizont geprägten unternehmerischen Umtriebigkeit des Remigranten.
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stiegen war) wie auch der Wiener Verlagszweig stillgelegt. 1952 wurde dem S. Fischer Verlag der Taschenbuchverlag Fischer Bücherei in Frankfurt zur Seite gestellt; beide Verlage leitete Bermann Fischer gemeinsam mit seiner Frau Brigitte* bis 1962. Die Ehefrau des Verlegers, die in der Exilzeit zahlreiche Entwürfe für Buchumschläge und -ausstattungen geliefert hatte,128 spielte eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Bücher der Fischer Bücherei und organisierte außerdem das Auslandslektorat. Am Programm des S. Fischer Verlags und auch an jenem des Fischer Taschenbuchverlags zeigt sich deutlich, wie ernst es dem Verlegerpaar mit seiner Intention war, mit der Verlagsproduktion gezielt zur Verbreitung von Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus, zur Propagierung demokratischen Denkens und vor allem zu einer breiten Bildung beizutragen, die vor einem Rückfall in finstere Zeiten schützen sollte. Obwohl sich die beiden 1962 zurückzogen,129 wird man in ihrer verlegerischen Leistung nach dem Krieg doch auch eine Einlösung jener Pläne sehen können, die sie im Exil und aus den Erfahrungen des Exils heraus entworfen hatten. Ergänzend soll darauf hingewiesen werden, dass am (Wieder-)Aufbau des S. Fischer Verlags noch eine Reihe weiterer Rückkehrer aus dem Exil maßgeblich beteiligt gewesen sind. Eine zentrale Rolle fiel dabei Rudolf Hirsch* (1905 Berlin – 1996 Frankfurt a. M.) zu. Von Haus aus Kunsthistoriker, hatte Hirsch im Amsterdamer Exil 1936/ 37 als freier Lektor für die Verlage Allert de Lange und Querido gearbeitet; seine verwitwete Mutter führte dort die Pension Hirsch, in der u. a. Klaus Mann, Fritz H. Landshoff, Hermann Kesten und Walter Landauer wohnten.130 Die Zeit der deutschen Besatzung überlebte Hirsch im Untergrund. 1948 übernahm er die Stelle eines Lektors in der Verlagsgesellschaft Bermann-Fischer / Querido in Amsterdam, nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er seit 1950 zunächst als Cheflektor im in Frankfurt wiedergegründeten Verlag S. Fischer tätig, von 1954 bis zu seinem Ausscheiden 1962 war er dessen Geschäftsführer. 1950 bis 1962 fungierte er auch (tw. gemeinsam mit Joachim Maass) als Herausgeber der Neuen Rundschau und war Nachlassverwalter sowie Hauptherausgeber der historisch-kritischen Edition der Werke Hugo von Hofmannsthals. Ein zu Hirschs 70. Geburtstag erschienener Gratulationsband dokumentiert die besondere Stellung und Anerkennung, die er sich als Verlegerpersönlichkeit erworben hat.131 Hirschs Mission im Literaturverlagswesen der Bundesrepublik war aber mit seinem Weggang von S. Fischer nicht beendet: 1963/64 war er Leiter des Insel Verlags, nachdem dieser durch die Suhrkamp-Gesellschafter übernommen worden war.
128 Siehe hierzu das Kap. 4 Buchherstellung und Buchgestaltung, im Abschnitt zum BermannFischer Verlag Stockholm. 129 Das Verlagsunternehmen wurde in den folgenden Jahren an die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck verkauft. 130 Internationales Germanistenlexikon 1800‒1950, S. 755 f. (u. a. mit Angaben zu Nachrufen und zu den Nachlassbeständen v. a. im Freien Deutschen Hochstift und im Deutschen Literaturarchiv); Klaus Mann: Tagebücher 1936‒1937, S. 195; Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, bes. S. 75 f., S. 460. 131 Für Rudolf Hirsch. Zum siebzigsten Geburtstag am 22. Dezember 1975. – Siehe auch: Rudolf Hirsch zum achtzigsten Geburtstag. Eine Hofmannsthal-Matinée, veranstaltet am Sonntag, den 15. Dezember 1985 im Kammerspiel Frankfurt. Frankfurt a. M. 1986.
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Ein Mitarbeiter Hirschs im S. Fischer Verlag war seit 1960 Joachim Hellmut Freund* (1919 Berlin – 2004 Frankfurt am Main), der 1939 nach Südamerika emigriert war, wo er in Montevideo / Uruguay zunächst als Deutschlehrer, dann journalistisch als Redakteur der Zeitung La Voz del Día und als Sekretär des Dirigenten Fritz Busch tätig wurde.132 1947 kehrte Freund nach Deutschland zurück und war seit 1960 und bis zu seinem Tod an der Seite von Rudolf Hirsch Lektor des S. Fischer Verlags und des Fischer Taschenbuch Verlags. In dieser Funktion bestimmte Freund das Programm des Verlages maßgeblich mit, u. a. war er mitverantwortlich für die Werkausgaben und Briefwechsel Schnitzlers und Hofmannsthals, die Tagebücher Thomas Manns, die Romane Werfels, die Bücher Golo Manns und Peter de Mendelssohns. Es lohnt sich, an dieser Stelle auch einen kurzen Blick auf die Geschichte des Suhrkamp Verlags zu werfen, denn an dieser fällt auf, dass Remigranten in der Mitarbeiterschaft keine wahrnehmbare Rolle gespielt haben. Peter Suhrkamp stellte ja bis zu seinem Tod 1959 gleichsam in Person eine Antithese zur Emigration dar, auch indem er sich in seiner verlegerischen Tätigkeit fast zur Gänze auf die schon während des Krieges von ihm betreuten Autoren konzentriert hat. Immerhin aber hatte sich im Rahmen der mit Gottfried Bermann Fischer getroffenen Teilungsvereinbarung einer der prominentesten Exilschriftsteller für Suhrkamp entschieden, Bertolt Brecht, von dem bereits von 1953 an – neben der Fortsetzung der Versuche-Reihe – eine erste Werkausgabe erschien. Nach Übernahme der Verlagsleitung durch Siegfried Unseld wurde nun das Exil-Programm radikal ausgebaut; die vielbeschworene »Suhrkamp-Kultur« beruhte letztlich auf der Zugänglichmachung der Werke vertriebener Schriftsteller und Wissenschaftler, neben der breit angelegten Brecht-Schiene auf den Büchern der Vertreter der Frankfurter Schule, also den Werken Max Horkheimers, Theodor W. Adornos, Herbert Marcuses, auch Walter Benjamins, Siegfried Kracauers und vieler anderer. Betreut wurden diese Programmlinien jedoch nicht von Heimkehrern aus dem Exil, sondern – soweit nicht von Unseld selbst – von den Lektoren Walter Boehlich und Günther Busch oder anderen nicht-emigrierten Kräften wie der legendären Leiterin der Rechteabteilung Helene Ritzerfeld. Allerdings gab es vereinzelte Kontakte wie jenen zu Eva Dworetzki* (1908 Danzig – 1971 Pembury / Kent), die – bis 1938 Buchhändlerin in Danzig – nach London emigriert war und dort eine Anstellung in der Buchhandlung Bumpus gefunden hatte, in der auch Fritz Homeyer* tätig war.133 Die in den 1950er und 1960er Jahren als äußerst versierte Kennerin des fremdsprachigen Buchhandels bei Bumpus, danach bei Dillonʼs University Bookshop Ltd. agierende Dworetzki wurde mehrfach als Vertreterin des deutschen Buches im Ausland von deutschen Rundfunkanstalten interviewt. Sie
132 Siehe u. a. Freund: Vor dem Zitronenbaum. Autobiographische Abschweifungen eines Zurückgekehrten. 133 Zur Lebensgeschichte Eva Dworetzkis liegen Briefe von Gertrud Meili-Dworetzki [Schwester von E. D.] an den Verf. vom 4. März 1992 und 12. April 1992 vor. Vgl. außerdem Karl Heinz Bohrer: Bei Blackwell und Dillon. Deutsche Literatur in englischen Buchläden. In: FAZ Nr. 148 vom 1. Juli 1969, S. 22; Miss E. D. [Nachruf] In: The Bookseller, 30. Oktober 1971; Sigfred Taubert: E. D. zur Erinnerung. In: Bbl. (Ffm) Nr. 20 vom 10. März 1972, S. 507; Gertrud Dworetzki: Heimatort Freie Stadt Danzig. (mit: Thomas Omansen: GdanskDanzig-Gdansk: Rückblicke). Düsseldorf: Droste 1985 (Kap. »Meine Schwester«, S. 144‒ 154).
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entwickelte auch verlegerische Ideen und gab diese u. a. an den Suhrkamp Verlag weiter; aus einem ihrer Vorschläge hat sich die Idee der »Suhrkamp Texte« und daraus wieder jene der »edition suhrkamp« entwickelt. Eine Rückkehr nach Deutschland stand für sie offensichtlich nicht zur Diskussion. Auch der Rowohlt Verlag war kein Sammelbecken für Remigranten; einzig der erst 1951 nach Deutschland zurückgekehrte Willi Wolfradt* (1892 Berlin – 1988 Hamburg) fand dort eine Anstellung. Wolfradt, vor 1933 hauptsächlich als Kunstkritiker hervorgetreten, hatte sich über die Schweiz nach Frankreich und 1934 von dort nach New York gerettet, wo er in der Zeitschrift Aufbau publizistisch tätig gewesen war. Im Rowohlt Verlag fungierte er bis 1963 als Cheflektor und rief mit der Serie »rororo Thriller« eine der erfolgreichsten Taschenbuchreihen des Verlags ins Leben.134
Problematische Erfahrungen der Ullsteins Ein schwieriger Rückerstattungsvorgang kennzeichnet die Remigrationsgeschichte der Ullsteins,135 denen der von ihnen aufgebaute Presse- und Buchkonzern nach der NS»Machtergreifung« zwangsentzogen worden war – die demokratisch und liberal gesinnte Familie war in der Weimarer Zeit ein besonderes Feindbild der Nationalsozialisten gewesen.136 Nach und nach in die Konzernstrukturen des NS-parteieigenen Eher-Verlags überführt und im November 1937 umfirmiert zum »Deutschen Verlag«, profitierte das Unternehmen in den Jahren 1937 bis 1945 von der u. a. durch Ausschaltung zahlreicher Konkurrenten bewirkten Konjunktur auf dem innerdeutschen Buch- und Pressemarkt und verbuchte in diesen Jahren unter dem Verlagsdirektor Max Wießner geradezu märchenhafte Reingewinne, die sich auf mehr als 160 Millionen Reichsmark summierten.137 Nach 1945 bestand der Deutsche Verlag zunächst fort (seit 1946 als »Verlag des Druckhauses Tempelhof«), kriegs- und situationsbedingt freilich auf vergleichsweise schmaler Basis. Der Versuch der ehemaligen Eigentümer, das ihnen 1934 scheinlegal entzogene Unternehmen zurückzuerlangen, entwickelte sich aufgrund von Interessen der US-
134 Wendland: Kunsthistoriker im Exil; 50 Jahre rororo. Eine illustrierte Chronik. 135 Zur Ullstein-Remigration vgl. insbesondere Münzel: Tempelhof – Manhattan und zurück. Ullstein und der Einfluss der Emigration. – Soeben erschienen: Juliane Berndt: Die Restitution des Ullstein-Verlags (1945–52). Remigration, Ränke, Rückgabe: Der steinige Weg einer Berliner Traditionsfirma (Europäisch-jüdische Studien – Beiträge, 50). Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020. 136 Vgl. Lindner: »Arisierung«, Gleichschaltung, Zwangsarbeit. Ullstein 1934–45; Kempner: Hitler und die Zerstörung des Hauses Ullstein. Siehe auch die deutsche Übersetzung des autobiographischen Berichts von Hermann Ullstein The Rise and Fall of the House of Ullstein (New York: Simon and Schuster 1943) u. d. T. Das Haus Ullstein. Übersetzung von Geoffrey Layton. Mit einem Nachwort von Martin Münzel. Berlin: Ullstein Buchverlage, 2013, insbesondere das Nachwort von Martin Münzel, S. 283‒297. – Ins Exil gezwungen wurde im Übrigen auch der Direktor der Ullsteinschen Buchverlage (Ullstein und Propyläen) Emil Herz* (1877 Warburg / Westf. – 1971 Rochester / N. Y.). 137 Vgl. hierzu Oels: Die Monatsberichte Max Wießners an den Zentralparteiverlag der NSDAP Franz Eher Nachf. über wichtige Geschäftsvorfälle im Deutschen Verlag 1940–1945, Teil I und Teil II. Ferner Wippermann: Eule und Hakenkreuz. Ullstein und Deutscher Verlag im »Dritten Reich« 1933 bis 1945.
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amerikanischen Besatzungsmacht an der Nutzung des Druckhauses Tempelhof, das den Bombenkrieg relativ unbeschadet überdauert hatte (wenn auch nicht den Abtransport von Maschinen seitens der zunächst eingerückten sowjetischen Truppen) sowie der Abwehrhaltung des Berliner Senats und der bereits lizenzierten Berliner Presseverleger zu einem jahrelangen, von Hinhaltetaktiken und Remigrantenfeindlichkeit gekennzeichneten juristisch-politischen Ringen.138 Die Verhandlungen mit den zuständigen Stellen wurden 1949 bis 1952 hauptsächlich von Rudolf Ullstein* (1874 Berlin – 1964 Berlin) geführt, dem letzten noch lebenden Sohn des Konzerngründers Leopold Ullstein.139 Zusammen mit seinen vier Brüdern Louis, Hans, Hermann und Franz hatte er die fünf »Stämme« des Ullstein-Clans begründet, die allerdings bereits seit 1931 im Streit miteinander lagen und auch nach 1945 nicht sämtlich am gleichen Strang zogen. Rudolf Ullstein, der gemeinsam mit seinem Neffen Karl H. Ullstein* die moderne UllsteinDruckerei in Berlin-Tempelhof aufgebaut und bis zum Zwangsverkauf des Verlages 1934 Aufsichtsratsmitglied der Ullstein AG gewesen war, war 1949 aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrt 140 und übernahm nach dem mühsam errungenen Abschluss der Rückgabeprozesse bis 1960 die Direktion der Druckerei in Berlin-Tempelhof, außerdem den Aufsichtsratsvorsitz der neugegründeten Ullstein AG, in deren Leitung auch seine Neffen Karl H. Ullstein* und Frederick Ullstein* eintraten. Karl H. Ullstein* (1893 Berlin – 1964 Berlin), Sohn von Hans Ullstein, war ab 1926 Vorstandsmitglied des Ullstein Verlages sowie Geschäftsführer und technischer Leiter der Ullstein-Druckerei Berlin gewesen. Er hatte mit seinem Bruder Leopold Ullstein* (1906 Berlin – 1995 London)141 in Stockholm die Firma Epok zur Einführung neuer Werbe138 Vgl. hierzu Koszyk: Restitution und Ende des Hauses Ullstein; Münzel / Steiner: Der lange Schatten der Arisierung. Die Berliner Unternehmen Loewe und Ullstein nach 1945; Schmidt-Mühlisch: Am Anfang war das Chaos; Berndt: Die Restitution des Ullstein-Verlags. 139 Louis Ullstein war 1933 verstorben, Hans 1935, Hermann* 1943 und Franz* im Jahr 1945; die beiden ersteren noch in Berlin, die beiden letzteren in New York. – Als einziges Familienmitglied in Deutschland verblieben war Louis Ullsteins Sohn Heinz (1893–1969), der mit einer Nichtjüdin verheiratet war und die NS-Zeit u. a. als Hilfsarbeiter bei der Reichsbahn überdauerte. Auch die emigrierten Familienmitglieder wurden im Zuge ihrer Ausreise aus Deutschland teilweise bis zur Mittellosigkeit mit Zwangsabgaben belegt, die sich für einzelne von ihnen auf mehrere hunderttausend Reichsmark summierten: Zu zahlen war neben der Reichsfluchtsteuer auch eine Judenvermögensabgabe, eine »Helldorfspende« für vermögende Juden Berlins und eine Ausfuhrförderabgabe für die Mitnahme von Umzugsgut. Zugleich durften sie als Juden in Reichsanleihen angelegtes Geld nicht flüssig machen. Der an die Ullsteins gezahlte Verkaufspreis, der ohnehin nur einen Bruchteil des Unternehmenswertes betrug, wurde auf diese Weise wieder einkassiert. 140 Rudolf Ullstein war 1934 nach Großbritannien gegangen, wo er zu Kriegsbeginn interniert wurde (Stanley Unwin hat sich für seine Freilassung verwendet); er musste sich danach seinen Lebensunterhalt in einer Londoner Autowerkstatt verdienen. Erst nach Kriegsende konnte er in den USA eine Anstellung in einem Verlag finden. 141 Leopold Ullstein war nicht direkt in die Arbeit des Ullstein-Konzerns eingebunden, 1932 bis 1934 war er jedoch Teilhaber des Rowohlt Verlages, um diesem das wirtschaftliche Überleben zu ermöglichen. 1934 gründete er mit seinem Bruder Karl die Epok in Stockholm. Im Juli 1939 emigrierte er nach Großbritannien und schloss sich Ende 1943 der kommunistischen Freien Deutschen Bewegung (FDB) an. Aus Protest gegen die sowjetische Deutschlandpolitik trat Leopold Ullstein im Frühjahr 1944 aus der Gruppe aus. Nach der
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techniken gegründet; während aber Leopold anschließend nach Großbritannien ging und dort bis zu seinem Tod blieb, war Karl H. Ullstein 1938 in die USA emigriert, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Berlin (West) 1951 als Exporteur von Druckereimaschinen tätig war. Seit 1951 unterstützte er seinen Onkel Rudolf Ullstein bei den Restitutionsverhandlungen; in der 1952 errichteten Ullstein AG war er dann bis zu deren Verkauf an Axel Springer 1960 Mitglied des Aufsichtsrates, ab 1960 bis 1964 Aufsichtsratsvorsitzender sowie Leiter der Druckerei in Berlin-Tempelhof. Sein Cousin Frederick (Friedrich) Ullstein* (1909 Berlin – 1988 London), Sohn von Hermann Ullstein, war von 1930 an Teilhaber im Familienunternehmen Ullstein Verlag gewesen. Nach dem Zwangsverkauf des Betriebes 1934 hatte er den Familienbesitz Rittergut Warnsdorf in Priegnitz / Brandenburg geleitet, bis er 1936 nach Großbritannien emigrierte. Nach der Rückerstattung des Familienbesitzes 1952 wurde Frederick Ullstein Vorstandsmitglied des Ullstein Verlages und behielt diesen Posten bis 1956, dem Jahr seiner Rückkehr nach Berlin, in welchem er gemeinsam mit seinem Onkel Rudolf und seinem Cousin Karl H. die Direktion des Ullstein-Druckhauses in Berlin-Tempelhof übernahm; gleichzeitig wurde unter seiner Leitung der Buchverlag wieder aufgebaut. Nach dem Verkauf des Verlages an den Axel Springer-Konzern 1960 kehrte Frederick Ullstein noch im selben Jahr nach Großbritannien zurück, wo er in London eine leitende Position bei Aldus Books annahm, einer britischen Tochtergesellschaft von Doubleday in New York. Die von der Ullstein-Familie angestrebte Wiedererrichtung des vor 1933 so glanzvollen Presse- und Buchverlagsimperiums scheiterte an mannigfachen Widerständen sowie an ungünstigen Vorbedingungen wie den Schulden, die der Deutsche Verlag nach 1945 angehäuft hatte. Wenn auch das Engagement der Ullstein-Familie für die Wiederherstellung des Unternehmens auf einen relativ kurzen Zeitraum beschränkt und letztlich erfolglos blieb, so hat sie doch einen nicht unbedeutenden, jedenfalls dann in den Strukturen des Axel Springer-Konzerns, vor allem aber in den Ullstein-Buchverlagen142 weiterwirkenden Beitrag zum Wiederaufbau der Buch- und Zeitungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland geleistet.
Richard Friedenthal und die Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. Auf wenige Jahre beschränkt blieb das Zeitfenster, in welchem sich Richard Friedenthal* (1896 München – 1979 Kiel) in der Verlagswelt der Bundesrepublik engagierte.143
Arbeit in einem Rüstungsbetrieb war er in verschiedenen Verlagen tätig; 1955 bis 1972 leitete er den Verlag Barrie Publishing in London und gliederte später andere Verlagshäuser in das Unternehmen ein; zusammen mit Weidenfeld & Nicolson gründete er die Buchvertriebsgesellschaft W. B. R. Distributors Ltd. 142 Zu den Nachwirkungen in den Ullstein-Buchverlagen seit 1945 vgl. ullstein chronik 1903– 2011, bes. die Beiträge von Lothar Schmidt Mühlisch: Am Anfang war das Chaos. UllsteinPropyläen von 1945 bis 1960 (S. 269‒294), Hans Georg Puchert und Harro Schweizer: Die Buchverlage im Springer-Konzern I: Die Jahre 1959 bis 1998 (S. 343‒398), Thomas Keiderling: Die Buchverlage im Springer-Konzern II: »Think big« ‒ Die Verlagspolitik Christian Strassers von 1998 bis 2003 (S. 451‒469) und Anke Vogel: Die Eule unter dem Dach von Bonnier. Die Ullstein Buchverlage seit 2003 (S. 470‒494). 143 Siehe u. a. Autobiographien. Ed. International PEN, S. 24‒26; Benjamin, Uri (d. i. Walter Zadek): Literatur richtet sich nicht nach dem Paß. Verleger in der Emigration: Richard
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Vor 1933 Verlagsdirektor bei Th. Knaur Nachf., war er im Spätherbst 1938 mittellos nach London entkommen, wo ihn Stefan Zweig in seinem Haus aufnahm und ihn einige Zeit als eine Art Sekretär beschäftigte. Nach Internierung144 suchte er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten, u. a. als Übersetzer für die BBC. Er verwaltete den literarischen Nachlass Stefan Zweigs, gab mehrere Bände im Stockholmer BermannFischer Verlag heraus, ebenso die nach dem Krieg neu erscheinende Neue Rundschau (1945 bis 1950, zusammen mit Joachim Maass), und fand so wieder Zutritt in die Verlagswelt. 1950 kehrte Friedenthal nach München zurück, wo er 1951 bis 1955 wieder die Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. leitete. Um sich aber wieder ganz seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können, zog er 1956 zurück nach London, und verfasste mehrere z. T. aufsehenerregende historische Biographien, mit denen er den in England üblichen Typus der »life and times«-Biographie auch in Deutschland populär machte.
Die Europäische Verlagsanstalt (EVA), eine Emigrantengründung Nicht immer ging es um Fragen der Kontinuität und des Anknüpfens an schon vor 1933 bestehende Firmentraditionen; Remigranten spielten eine zentrale Rolle auch bei der Entstehung neuer Verlage, wie im Falle der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) in Hamburg. Hanna Bertholet* (geb. Grust, gesch. Fortmüller 1901 Hannover – 1970 Brasilien)145 und ihr aus der Schweiz stammender Ehemann René brachten verdeckt das für die Gründung notwendige Stammkapital aus Geldern des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK) auf, für den Hanna Bertholet bereits vor 1933 und dann wieder im Exil tätig gewesen war, 1937 bis 1940 in Paris als Leiterin (gemeinsam mit Erich Irmer*) des Verlags Éditions Nouvelles Internationales (Internationale Verlags-Anstalt), in welchem die Zeitschrift Sozialistische Warte (»Blätter für kritisch-aktiven Sozialismus«) sowie eine Reihe von Schriften erschienen, mit denen der antifaschistische Widerstand unterstützt werden sollte, darunter Bücher von Anna Siemsen, Alfred Kerr und Kurt Hiller.146 Seit 1941 koordinierte sie in der Schweiz mit ihrem Mann das ISK-Nachrichtennetz; unmittelbar nach dem Krieg war sie in Hamburg am Aufbau der »Sozialistischen Presse-Korrespondenz« beteiligt. Die 1946 von ihr mitinitiierte EVA, für die die britische Militärregierung am 18. Oktober 1946 unter der Nummer 89 die Verlagslizenz gewährte, sollte nachfolgend eine bemerkenswerte Entwicklung nehmen.147 Die Leitung hatte nominell der ebenfalls aus dem Exil zurückgekehrte ISK-Vorsitzende Willi Eichler übernommen; de facto aber lag sie in den Händen Bertholets. In der EVA erschien seit
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Friedenthal. In: Bbl. (Ffm) Nr. 65 vom 16. August 1974, S. 1294‒1297; …und unversehens ist es Abend. Von und über Richard Friedenthal, S. 23‒64. – Friedenthals Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. Siehe auch Friedenthal: Die Welt in der Nußschale [»Sachroman« über seine Internierungszeit auf der Isle of Man]. Siehe u. a. Willi Eichler: [Nachruf auf H. Bertholet]. In: Geist und Tat, H. 3, 1970. Lindner: »Um etwas zu erreichen, muss man sich etwas vornehmen, von dem man glaubt, dass es unmöglich sei«. Der Internationale Sozialistische Kampf-Bund (ISK) und seine Publikationen. Vgl. hierzu Mit Lizenz. Geschichte der Europäischen Verlagsanstalt 1946‒1996, S. 25‒72.
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1946 hauptsächlich die von Eichler herausgegebene Monatszeitschrift Geist und Tat (später die maßgebliche Theorie-Zeitschrift der SPD). Im Herbst 1948 kam es zusätzlich zur Wiedererrichtung des ISK-Verlags Öffentliches Leben, der auf Pädagogik und Philosophie ausgerichtet war (z. B. Schriftenreihe »Kindernöte« von Minna Specht); der Verlag existierte in Bürogemeinschaft mit der EVA. In der EVA selbst kam ab 1949 ein ambitioniertes Buchprogramm heraus, zunächst Lizenzausgaben der Büchergilde Gutenberg in Zürich (Mitdrucke zur Einsparung von Lektorats-, Übersetzungs- und Satzkosten), hauptsächlich historische und politisch-zeitgeschichtliche Werke, unter denen sich aber auch bemerkenswert mutige Veröffentlichungen befanden, wie Tito contra Stalin oder Bernard Goldsteins Die Sterne sind Zeugen zum Warschauer Ghetto; damals wurde auch der Grundstein für die Judaica-Programmlinie späterer Jahre gelegt. In manchem kann das von Bertholet geprägte Programm als Fortsetzung des Pariser Exilverlags Éditions Nouvelles Internationales verstanden werden. Das anspruchsvolle Programm war aber schwer abzusetzen; aufgrund der internen Krise schieden einige Gesellschafter aus. Deren Anteile wurden nun von Bertholet übernommen, ihr Mann schaffte aus der Schweiz weiteres ISK-Koffergeld heran. Verlegerische Erfolge feierte die EVA nachfolgend vor allem mit Biographien, Hörspiel-Ausgaben und Romanen. Weil der Verlag die erhoffte Wirkung von Hamburg aus dennoch nicht erreichte, wurde 1952 der Umzug nach Frankfurt beschlossen. Da Hanna Bertholet sich nicht hinreichend ausgebildet fühlte, neben Lizenzausgaben, Übersetzungen und Nachdrucken ein eigengeprägtes Programm auf die Beine zu stellen, wurde 1953 ein Lektor engagiert, der bis dahin im Londoner Exil lebende und der dortigen Arbeitsgemeinschaft demokratisch-sozialistischer Gruppen verbundene Hans (Otto) Riepl. Bertholet arbeitete einige Zeit eng mit Riepl zusammen, seit Beginn der 1960er Jahre zog sie sich, wie die gesamte ISKGeneration, nach und nach von der Arbeit im Verlag zurück; ihre Anteile verkaufte sie im Juli 1964 an eine Tochtergesellschaft der Bank für Gemeinwirtschaft und legte auch die Geschäftsführerstelle nieder. Von seiner Bestellung bis zu seinem Tod war Hans Riepl* (1906 – 1967 Frankfurt am Main) faktisch der Programmleiter der EVA und konnte das von Bertholet aufgebaute Profil des Verlags in entscheidenden Punkten erweitern. Riepl, der von 1923 bis 1933 als Sortiments- und Verlagsbuchhändler in Erfurt, Gotha und Berlin tätig gewesen war und den sein Exilweg über die Tschechoslowakei nach Großbritannien geführt hatte148, baute in Frankfurt die Judaica-Reihe der EVA durch Druckkostenzuschüsse aus (u. a. erschien Ismar Elbogen: Ein Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums); weitere Schwerpunkte bildeten sich mit Sachbüchern über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus heraus, etwa mit einer Neuauflage von Eugen Kogons Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Dokumentationen zu KZ-Prozessen. Aber auch das Sachbuch zur aktuellen Weltpolitik (teilweise antisowjetisch) und zur Demokratieentwicklung in der Bundesrepublik war erfolgreich, zumal dafür verdeckte Fördergelder von US-Stellen zur Verfügung standen und ein Garantieabsatz
148 Mit Lizenz. Geschichte der Europäischen Verlagsanstalt 1946‒1996, S. 33, 53‒76; Anhang [Nachrufe auf H. R. von seinem Freund Heinz-Joachim Heydorn und Joseph Lang, aus der Verlagszeitschrift Beispiele, Folge 3, 1967].
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schon über die Amerika-Häuser in deutschen Städten gegeben war, die einige Titel zur Verteilung anforderten. Riepl hat aber auch für die Literatur zur gewerkschaftlichen Theorie und Praxis (besonders im Zusammenhang mit den »Notstandsgesetzen«) ein ideenreiches Wirken entfaltet. Hervorhebenswert erscheint ferner, dass er 1958 eine Gesamtausgabe der Werke Hans Henny Jahnns in Angriff nahm und mit V. O. Stomps’ Eremiten-Presse zusammenarbeitete.149 Zudem engagierte er ambitionierte Buchgestalter / innen und modernisierte in Zusammenarbeit mit ihnen das ästhetische Profil des Verlags entscheidend. Auch richtete er neue Reihen ein, u. a. die innovative PaperbackSerie »res novae« sowie die »Politischen Texte«, mit denen – sowohl als HardcoverBibliotheksausgabe wie als Paperback – klassische Werke der Politologie und Soziologie v. a. für den universitären Gebrauch bereitgestellt werden sollten. Auf Empfehlung von Theo Pinkus gewann Riepl als Herausgeber dieser Reihe Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim und Iring Fetscher, die der Marxismus-Debatte der 1960er und 1970er Jahre Impulse gaben.
Karl Anders und der Nest-Verlag, Nürnberg Auch die Entstehung des Nürnberger Nest-Verlags verdankt sich einem Remigranten: Karl Anders* (1907 Berlin – 1997 nahe Frankfurt a. M.), der sich in der politisch radikalisierten Atmosphäre der späten Weimarer Republik 1929 der KPD angeschlossen hatte150 und am Tag der Bestellung Adolf Hitlers zum Reichskanzler als Agitprop-Leiter der KPD in den Untergrund gegangen war, wo er den Druck von Flugblättern organisierte, hatte im englischen Exil führende Mitglieder der sozialistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« kennengelernt. Als einer der ersten Emigranten kehrte Anders nach Deutschland zurück und bereiste zusammen mit dem BBC-Reporter Allan Bullock das zerstörte Land; auch berichtete er als Korrespondent über die Nürnberger Prozesse. 1948 schließlich gründete er mit Rudolf Zitzmann und Willi Geusendam den Sachbuch- und Belletristikverlag Nest-Verlag in Nürnberg (die beiden Teilhaber schieden allerdings sehr bald aus dem Unternehmen aus). Dank seiner guten Kontakte zu den amerikanischen und englischen Behörden gelang es ihm, die Lizenz für den Druck der Berichte der »Kommission für Freiheit der Presse und des Nachrichtenaustausches« zu erhalten: diese subventionierten Berichte waren ein erheblicher Schritt hin zu einer demokratischen Meinungsfreiheit. Der U. S. Information Service unterstützte Anders, damals noch britischer Staatsbürger, auch bei anderen Buchprojekten. Nach dem Vorbild von Penguin startete der Verlag mit verschiedenen Reihen: In den »Star«- und »Uhu«-Reihen fanden Bücher zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen ihren Platz, die »Krähen«-Bücher mit vorwiegend angelsächsischer Kriminalliteratur wurden zur profiliertesten Krimireihe der Nachkriegszeit. Der Weiterverkauf von Taschenbuchlizenzen, u. a. an Ullstein und die Büchergilde Gutenberg in der Schweiz, trug entscheidend zum Verlagserlös bei. Dennoch führten betriebswirtschaftliche Schwierigkeiten dazu, dass sich Anders 1954 aus dem operativen Geschäft des Nest-Verlags zurückzog und seinem Verlag, der nach
149 Siehe V. O. Stomps: Gelechter. Eine poetische Biographie. 150 Siehe v. a. Patrick Rössler: anders denken. Krähen-Krimis und Zeitprobleme: der Nest-Verlag von Karl Anders.
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Frankfurt umgezogen war, nur mehr als Programmverantwortlicher zur Verfügung stand, bis er 1959 seine Anteile verkaufte. Anders, der von 1949 bis 1972 Vorstandsmitglied des »Verbandes sozialistischer Verleger, Buchhändler und Bibliothekare« war, gilt heute als eine der verdienstvollen Verlegerpersönlichkeiten aus den Gründerjahren der Republik.
Die buntschillernde Geschichte des Melzer Verlags Ein höchst wechselvolles exilbuchhändlerisches Schicksal repräsentiert das Leben Joseph Melzers* (1907 Kuty / Galizien (Österreich-Ungarn) – 1984 Darmstadt), und auch die Rolle, die er und sein 1945 in Usbekistan geborener Sohn Abraham in der Verlagslandschaft der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren (letztlich bis in die unmittelbare Gegenwart herauf) gespielt haben, verdient Beachtung.151 Nachdem Joseph Melzer 1933 in Tel Aviv 1933 die kurzlebige Buchhandlung »Cosmopolit« Bookshop & Newspaper, 1934 mit Herbert Stein als Kompagnon den Liberty Bookstore und 1936 als Partner von Schalom Ben-Chorin die Heatid-Buchhandlung gegründet hatte, mit den daraus fließenden Einkünften die Existenzgrundlage aber nicht zu sichern war, versuchte er sich in Paris als Buchhändler und Antiquar und führte dort an wechselnden Standorten ein Ladengeschäft, das er jedoch im Juni 1939 wieder aufgab.152 Nach verschlungenen Wegen, die ihn über Polen und die Sowjetunion nach Usbekistan führten, wurde er mit seiner Familie 1947 repatriiert und zunächst in Österreich in einem »Displaced Persons«-Lager angehalten. Im Mai 1948 gelangte Melzer mit seiner Familie nach Israel, wo er seine Tätigkeit als Buchhändler wieder aufnahm. Zehn Jahre später kehrte er mit der Familie zurück nach Deutschland und gründete in Köln den Melzer Verlag, in welchem er Titel verlegen wollte, die im Nationalsozialismus verboten waren. Dies erwies sich als aussichtsloses Unterfangen; der Melzer Verlag spezialisierte sich daraufhin mit Büchern von Leo Baeck, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Ludwig Börne auf ein Judaica-Programm, mit dem er eine Lücke im Buchmarktangebot füllen half. Zwischenzeitlich kurz in Düsseldorf, war der Verlag ab 1968 dann in Darmstadt ansässig. Drei Jahre vorher war Jörg Schröder, zuvor Werbeleiter und Grafiker bei Kiepenheuer & Witsch, in den Melzer Verlag eingetreten und suchte ihn in der Folge durch komplette Reorganisation zu sanieren, vor allem durch die Umstellung des Programms: Es erschienen nunmehr Belletristik und politische Sachbücher (Viktor Klemperers Lingua tertii Imperii ebenso wie Revolutionstexte von Che Guevara und Fidel Castro), aber auch Beat-Literatur von Jack Kerouac, Underground-Lyrik und Comics. Der erotische Roman Die Geschichte der O, von dem mehr als 100.000 Exemplare verkauft wurden, sollte die materielle Grundlage für das Unternehmen sicherstellen. Als Schröder ein deutsches Pendant zur Olympia Press gründen wollte, kam es 1969 zum Zerwürfnis zwischen ihm und Melzer; Schröder entschloss sich zur Gründung des März Verlags und nahm viele Mitarbeiter und Autoren hinüber in seine Neugründung. Inzwischen hatte Sohn Abraham Melzer eine Ausbildung zum Verlagskaufmann absolviert, 1968 auch den Militärdienst in Israel geleistet; 1970 trat er in den Melzer Verlag ein, während sich sein Vater
151 Für Literatur- und Quellenhinweise siehe Fischer: Handbuch; weitere Informationen stammen aus einem Gespräch des Verf. mit Abraham Melzer am 10. Oktober 2010 in Frankfurt am Main. 152 Näheres dazu im Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel.
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nach und nach aus der aktiven Verlagsarbeit zurückzog und dem Antiquariatshandel zuwandte: Mit Bibliotheken, die er zum Teil in Israel von Emigranten erwerben konnte, baute er ein Lager auf und verkaufte die Bücher über Kataloge. Abraham Melzer musste 1982 den Verlag (da auch die Porno-Klassiker-Reihe »Zero Press« nicht den erhofften Gewinn brachte) stilllegen; er betätigte sich in der Folge als freier Mitarbeiter von Verlagen oder als Packager für Unternehmen im Bereich des Modernen Antiquariats wie Fourier oder Weltbild, und brachte von 1988 bis 1992 die in unregelmäßiger Folge erscheinende Zeitschrift Semit heraus, die durch ihre demonstrative Opposition gegenüber der Politik Israels Beachtung fand.153
Buchhandlungen und Antiquariate von Remigranten in der Bundesrepublik Während es im Verlagsbereich doch eine gewisse Anzahl von Unternehmen gab, die von Remigranten gegründet oder betrieben wurden,154 finden sich im Bereich des Sortiments- und des Antiquariatsbuchhandels fast keine Beispiele für eine solche Rückkehr. Eines der ganz wenigen repräsentiert Joseph Lang* (1902 Erkenez/Österreich-Ungarn – 1973 Frankfurt am Main), der schon vor 1933 in Berlin als Buchhändler tätig gewesen war, sich daneben auch in linken Gruppierungen, zuletzt der SAPD, engagiert hatte.155 Als Mitglied der illegalen SAPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg 1933 verhaftet, gelang ihm nach der Entlassung aufgrund seiner ungarischen Staatsangehörigkeit im Februar 1934 die Flucht in die ČSR; während der Jahre im Exil blieb Lang sowohl in Prag wie auch später in Paris der SAPD-Auslandsleitung verbunden, arbeitete aber auch u. a. als Vertreter der deutschen Exilverlage Oprecht, Allert de Lange und Bermann-Fischer. Nach Kriegsausbruch bis Oktober 1940 interniert und nach New York weiter emigriert, kehrte Lang 1950 zurück nach Deutschland, wo er sich in Frankfurt am Main als SPDBezirksrat engagierte. Von 1952 bis zu seinem Ruhestand 1967 war Lang Leiter der Buchhandlung des Bund-Verlages im Frankfurter Gewerkschaftshaus, die unter seiner Führung zu einem Forum des kritischen Dialogs über Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wurde und zu einem Treffpunkt der linken Intelligenz weit über Frankfurt hinaus. Ein anderes und vom zeitlichen Verlauf her ganz untypisches Beispiel liefert der Buchhändler Berthold Winter* (geb. 1921 Berlin), der zwar 1955 aus dem lateinamerikanischen Exil nach Berlin remigriert war,156 aber dort erst 1964 in der Kantstraße
153 Seit 2009 erschien die Zeitschrift Der Semit wieder neu und das Programm des 2003 in NeuIsenburg bei Frankfurt niedergelassenen Abraham Melzer Verlags setzte als eigenständiges Unternehmen die kritische Judaica-Linie fort (»Das andere jüdische Programm«), zuletzt reduziert auf Titel zum Nahostkonflikt. 154 Es wäre hier noch eine Reihe weiterer Beispiele zu nennen, etwa jenes des auf Erotica spezialisierten Karl Schusdek* (nach 1950: Schustek; 1894–1973 Kilchberg), der nach der Rückkehr aus dem indischen Exil nun wieder im gleichen Genre Fuß fassen wollte, siehe dazu Staub: Indische Liebeskunst obszön? Karl Schustek verlegt das Kamasutram. 155 Zu Lang: Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945‒ 1949. 156 Winter hat den Prozess seiner Remigration in einem Bericht Schwierige Rückkehr dokumentiert. Siehe auch das Zeitzeugengespräch mit Berthold Winter: Bayerischer Rundfunk in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte: https://die-quellen-sprechen.de/Bert hold_Winter.html
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eine Buchhandlung eröffnete, ohne dass behördliche Unterstützungszusagen jemals eingelöst worden wären. Die Buchhandlung bestand bis 1993, danach setzte Winter seine buchhändlerische Tätigkeit als Versand-Antiquariat in Berlin-Kladow fort.
Die Rezeption der Exilliteratur in der Bundesrepublik Wenn das restaurative kulturelle Klima der 1950er Jahre, der Antikommunismus der Adenauerzeit, die Nachwirkungen der ressentimentgeladenen Emigrantendebatten einer Rezeption von Exilliteratur absolut nicht förderlich waren, so waren die Schriftsteller mit die ersten, die diese Entwicklungen registrierten und daraus ihre Konsequenzen zogen. Es war die Zeit, in der ein Alfred Döblin Deutschland wieder verließ, weil er sich hier als überflüssig erlebte.157 Hans-Albert Walter hat die Konsequenzen auf den Punkt gebracht: Vollends war das Kapitel Reintegration fürs erste abgeschlossen, wenigstens, was die Bundesrepublik anging. Der Exilierte, in sein Heimatland zurückgekehrt, nun, er tat gut daran, stille zu sein, und seine Erlebnisse »draußen«, ja selbst die Tatsache für sich zu behalten, dass er »draußen« gewesen ist. Fast zwei Jahrzehnte blieb das so, und auch der Großteil der im Exil entstandenen Literatur blieb »draußen vor der Tür«.158 Konsequenzen aus diesem Klima zogen auch die Verleger in ihrer Programmpolitik. Zwar sind auch im Laufe der 1950er und 1960er Jahre Werke der Exilliteratur in durchaus nennenswerter Zahl ediert worden; in Anbetracht der Zeitstimmung verzichteten die Verlage jedoch auf eine allzu deutliche Deklarierung dieser Werke als Exilwerke. Die offenbar »geschäftsstörende« Kategorisierung von Autoren als Exilschriftsteller konnte noch auf andere Weise umgangen werden: durch die Veranstaltung von Gesamtausgaben. In der Zusammenstellung von Werken aus verschiedenen Perioden, sei es aus den 1920er Jahren oder auch mit solchen aus den Jahren nach 1945, verschliffen sich allzu enge Zuordnungen und Etikettierungen von selbst. Allerdings drückt sich in Werkausgaben prinzipiell auch ein besonderes verlegerisches Engagement für einen Autor aus, zumal sie im Regelfall mit beträchtlichem Kapitaleinsatz verbunden sind; vor allem aber sind solche Ausgaben ein wichtiger Schritt in Richtung einer literarischen Kanonisierung. Im Falle der Exilliteratur wurde in den 1950er und 1960er Jahren das Risiko den Verlegern oft schlecht gelohnt. Beispiele dafür finden sich mit der Gesamtausgabe der Werke Leonhard Franks in der von Berthold Spangenberg geleiteten Nymphenburger Verlagsanstalt,159 aber auch der Claassen-Verlag machte in den 1960er Jahren mit der 157 Döblin schrieb damals an den Bundespräsidenten Theodor Heuss: »Ich kann nach den sieben Jahren, jetzt, wo ich mein Domizil in Deutschland wieder aufgebe, nur resümieren: Es war ein lehrreicher Besuch, aber ich bin in diesem Lande, in dem ich und meine Eltern geboren wurden, überflüssig«. Zit. n. Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 172. Vielfältiges Material zu der Problematik bringt auch Mertz: Und das wurde nicht ihr Staat. 158 Walter: »Als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder«. Vorläufige Bemerkungen zu Rückkehr und Reintegration von Exilierten 1945‒1949, S. 278 f. 159 An die mehr als kühle Aufnahme solcher Gesamtausgaben seitens des Publikums erinnerte sich auch Fritz H. Landshoff (Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 169).
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in Lizenz herausgegebenen Ausgabe der Gesammelten Werke in Einzelausgaben von Heinrich Mann oder der seit 1965 erscheinenden Werksammlung von Albert Drach keine besseren Erfahrungen als Spangenberg. Eine folgenreiche Änderung der Rahmenbedingungen ergab sich erst in den ausgehenden 1960er Jahren, mit der Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit im Zeichen der Studentenbewegung und der symbolkräftigen Übernahme der Kanzlerschaft durch den ehemaligen politischen Emigranten Willy Brandt. Zwar waren es vorzugsweise die Bereiche der Soziologie oder der Gesellschaftsphilosophie, in denen die Reintegration des intellektuellen Exils auf spektakuläre Weise gelang; dafür steht vor allem die bekannte Formel von der »Suhrkamp-Kultur«, deren Entstehung sich in der Hauptsache den Werken Max Horkheimers, Theodor W. Adornos, Herbert Marcuses, Walter Benjamins, Ernst Blochs oder Siegfried Kracauers verdankt. Nicht im gleichen Maße erfolgte der Durchbruch im Bereich der Exilliteratur; hauptsächlich Brecht stellte hier eine Ausnahme dar. Aber auch die bei Suhrkamp / Insel erscheinenden Werkausgaben von Ödön von Horvath (1972) oder Hermann Broch (Kommentierte Werkausgabe, seit 1976) hatten einige Wirkung. Entscheidend wichtige Anstöße kamen jetzt von Seiten der universitären Wissenschaft, vor allem einer Germanistik, die seit Kriegsende im (an Kategorien der klassischromantischen Tradition geschulten) Paradigma der werkimmanenten Interpretation befangen gewesen war und sich jetzt erst einer Auseinandersetzung mit der Exilliteratur öffnete. Das Entstehen einer organisierten Exilforschung trug ebenfalls dazu bei, dass nunmehr auch Verlage eine klar definierte Zielgruppe sahen und mutiger wurden. Die Zahl der Verlage, in denen damals Einzelwerke oder auch Werkauswahlen von Exilschriftstellern erschienen sind, war – von Lambert Schneider (Otto Zoff, Paul Kornfeld, Alfred Mombert, Hans Sahl) bis Scriptor (Martin Beradt, Georg Hermann) – nicht mehr ohne weiteres zu überblicken; eine eigene Rezeptionsschiene ergab sich über die DDRLiteratur, wofür die im Luchterhand-Verlag erschienenen Werke von Anna Seghers ein Beispiel liefern. In den ausgehenden 1970er und vor allem in den 1980er Jahren wurde in dem hier zu beschreibenden Prozess eine neue Stufe erreicht, insofern jetzt – in einschlägig deklarierten Reihen bzw. Programmschienen der Verlage – verstärkt eine Rezeption der Exilliteratur als Exilliteratur einsetzte.160 Damit kommt eine Marktstrategie ins Spiel, für die es bis dahin noch keine Voraussetzungen gegeben hat. Klaus Schöffling datiert den Beginn dieser neuen Phase recht präzise mit dem Jahr 1977; er hält dafür, dass es Jürgen Serkes Buch über Die verbrannten Dichter war, das die große Neudruckwelle ausgelöst hat.161 Die Marktgängigkeit der Exilliteratur war jedoch auch mit derartigen, über das bisherige Publikum weit hinausgreifenden Popularisierungen des Themas keineswegs gesichert, wie einmal mehr ein Blick auf den Claassen-Verlag zeigt, der um 1980 neben einer Werkausgabe zu Irmgard Keun auch eine zu Walter Mehring herausbrachte. Bei Mehring dürfte nur Die verlorene Bibliothek mehr als 3.000-mal verkauft worden
160 Aufschlussreich sind diesbezüglich die Zusammenstellungen lieferbarer Exilwerke wie: Verbrannte Bücher, verfemte Dichter. Deutsche Literatur: 1933‒1945 unterdrückt und verboten, heute lieferbar. Das Verzeichnis enthielt 1270 Titel. 161 Klaus Schöffling: »Als ein völlig Unbekannter verweile ich hier«. In: Bbl. (Ffm), Nr. 36 vom 28. April 1982, S. 1082.
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sein, während die meisten anderen Bände unter tausend blieben.162 Nicht wie erhofft dürfte auch der Absatz der bei Hanser 1978 erschienenen Ausgabe der Gesammelten Werke von Ernst Toller und der 1982 bei Suhrkamp herausgebrachten Werkausgabe von Ernst Weiß verlaufen sein. Erstaunlich bleibt aber, wie viele renommierte Verlage sich jetzt auf diesem Feld betätigten: Neben den eben genannten wie Suhrkamp, Hanser, Claassen sind das Rowohlt oder Kiepenheuer & Witsch, aber auch Verlage wie Langen Müller (mit Feuchtwanger), Bastei Lübbe (Leonhard Frank), Süddeutscher Verlag (O. M. Graf), Ullstein (H. Kesten, W. Mehring, Remarque, Vicki Baum), dtv (u. a. Döblin), Klett-Cotta (Rudolf Borchardt), Bertelsmann (Stefan Heym), Piper, Europa Verlag (Koestler), DroemerKnaur (Vicki Baum), Heyne (Gina Kaus), Kreißelmeier, der Guhl Verlag in Berlin mit der Reihe »Anpassung und Widerstand« (Koestler, Stephan Lackner, Ernst Ottwalt, Gerhart Seger, Walter Schönstedt), Reclam usf. Berührungsängste mit Exilliteratur scheint es nun auch bei den großen Publikumsverlagen offensichtlich nicht mehr gegeben zu haben.163 Das Bild wäre aber allzu unvollständig, fände nicht auch der substanzielle Beitrag Erwähnung, den Kleinverlage wie der 1983 von Lisette Buchholz in Mannheim gegründete Persona Verlag zur Rezeption der Exilliteratur leisten. Der als Ein-FrauUnternehmen entstandene Verlag präsentiert bis heute – wenn auch in einem inzwischen breit aufgefächerten Programm – Exilschriftstellerinnen und -schriftsteller, die zu Unrecht übersehen worden sind.164 Mit Büchern u. a. von Anna Gmeyner, Lili Körber oder Elisabeth Freundlich stellt der Verlag ein Musterbeispiel dar für einen kleinen Nischenverlag, der sich der Aufgabe unterzieht, bislang ungehobenen literarischen Schätzen oder doch wenigstens dokumentarisch aufschlussreichen Erlebnisberichten nachzuspüren und dabei fehlende Größe durch Findigkeit und Engagement zu kompensieren.
Exemplarische verlegerische Initiativen der 1970er und 1980er Jahre Zwischen 1977 und 1986 erschien im Gerstenberg Verlag in Hildesheim in insgesamt 20 Bänden die Reihe »Exilliteratur«, herausgegeben von Hans-Albert Walter und Werner Berthold, mit Werken von Friedrich Alexan, Theodor Balk, Alfred Döblin, Bruno Frei, Alexander Moritz Frey, Hellmut von Gerlach, Martin Gumpert, Werner Hegemann, Heinz Liepman, Rudolf Olden, Gustav Regler, Wilhelm Speyer, Fritz Sternberg u. a. m. Den fotomechanischen Nachdrucken waren Nachworte nur in wenigen Fällen beigege-
162 Vgl. die Angaben von Ernst J. Walberg, der für Die verlorene Bibliothek mehr als 3.000 Exemplare, für Müller. Chronik einer Sippe knapp 3.000, für die Gedichte, Novellen und anderen Romane weniger als tausend verkaufte Exemplare ermittelte. (Ernst J. Walberg: »Wiederentdeckt, verramscht, vergessen? Exilliteratur: Ein Thema im Trend und doch im Abseits«. In: Badische Zeitung, 7. Mai 1985). 163 Ein bezeichnendes Detail: Ausweislich der von Margot Wiesner zusammengestellten Liste Verbrannte Bücher, verfemte Dichter waren 1983 neun Bücher von Friedrich Torberg lieferbar; diese waren in insgesamt sieben Verlagen erschienen, nämlich bei Langen Müller, Goldmann, Medusa, Moewig, Molden, Zsolnay und dtv. 164 Siehe die Seite »Verlagsgeschichte« auf der Homepage des Verlags: http://www.personaver lag.de/ (22. 12. 2019); ferner Claudia Baumhöver: »Wenn ich gewusst hätte, was da kommt!« In: Münchener Merkur Nr. 22 vom 28. Januar 1986, S. 15.
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ben; das Reprintverfahren unterstrich den dokumentarischen Charakter des Unternehmens. Hauptzielgruppe waren Bibliotheken und Archive sowie die schmale Schicht eines akademischen Publikums, das mit der Anschaffung dieser Bücher wissenschaftliche Interessen verband. Die Reihe musste früher als geplant eingestellt werden, da nicht für alle vorgesehenen Autoren bzw. Werke die Rechte erworben werden konnten; auch war die Nachfrage nicht so hoch wie erwartet. Unerwarteten Gegenwind erhielt das Reihenunternehmen außerdem auf der im September 1980 in Bremen abgehaltenen P.E.N.Jahrestagung, die sich die »Literatur des Exils« als Rahmenthema gewählt hatte. HansAlbert Walter und die von ihm repräsentierte Exilforschung gerieten dort unter den Beschuss derjenigen, die – wie Marcel Reich-Ranicki – eine ästhetische Auseinandersetzung mit den Exilwerken anstelle einer einseitig politisch-gesellschaftlichen einforderten.165 Kritisiert wurde auch die Tendenz, die Exilliteratur als eine spezifische Gattung zu betrachten.166 Diese Attacken bedeuteten einen Rückschlag nicht nur für die Ambitionen des Gerstenberg Verlags, sondern für die Rezeption der Exilliteratur insgesamt. Parallel dazu trat der Konkret Literatur Verlag mit einem Exilprogramm hervor; er war 1978 mit dem erklärten Ziel gegründet worden, die bedeutendsten Werke antifaschistischer deutscher Emigrantinnen und Emigranten 45 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Errichtet wurde damals eine »Bibliothek der verbrannten Bücher«, in der jeweils in einer Auflage von 5.000 Exemplaren Werke von Konrad Merz, Theodor Plivier, Nico Rost, Egon Erwin Kisch, Heinz Liepman, Alfred Kerr, Leonhard Frank, Alfred Kantorowicz, Karl Otten und Adrienne Thomas erschienen.167 Die Reihe war zunächst auf dreißig Titel konzipiert, wurde jedoch nach zehn Bänden eingestellt; auch sie hatte nicht den erwarteten Verkaufserfolg erzielt. Der prononciert linke Verlag konnte seine Klientel nicht mobilisieren, obwohl das Thema Exilliteratur in den innerhalb dieser Zielgruppen geführten Diskursen gerade einen hohen Stellenwert hatte. Immerhin: Von den erschienenen Titeln konnten Taschenbuchlizenzen an den Fischer Taschenbuch Verlag vergeben werden. Bei der »Bibliothek der verbrannten Bücher« des Fischer Taschenbuch Verlags handelte es sich eigentlich um eine Doppelreihe: Einmal sind dort 1981 bis 1983 Lizenzausgaben aller zehn Titel des Konkret Literaturverlags unter Beibehaltung des Reihentitels »Bibliothek der verbrannten Bücher« erschienen, im Anschluss daran wurde noch 1983 ein eigener Reihentitel kreiert, »Verboten und verbrannt / Exil«, unter welchem 24 weitere Titel publiziert wurden, von denen wiederum sechs aus dem Gerstenberg Exilprogramm übernommen waren. Ihre Bedeutung gewann die von Ulrich Walberer betreute Taschenbuch-Reihe aber in der Hauptsache mit ihren Erstveröffentlichungen – absoluten Neu- sowie Wiederentdeckungen von Autoren wie Henry W. Katz (Die Fischmanns) und Hans Keilson (drei Titel), auch jene von Hermann Grab, Alice Rühle-Gerstel, Robert Lucas oder Ernst Erich Noth. 1987 bis 1989 lief die Reihe »Verboten und verbrannt /
165 Vgl. Literatur des Exils. Eine PEN-Dokumentation, bes. S. 212 f. 166 Vgl. Literatur des Exils. Eine PEN-Dokumentation, S. 208 f. (Kurt Sontheimer: »Für die Erforschung der Exilliteratur kommt es künftig vor allem darauf an, dass sie nicht im Stile eines Sonderforschungsbereichs betrieben, sondern in die allgemeine Geschichts- und Literaturforschung eingeholt wird«.) 167 Vgl. Stephan: Die deutsche Exilliteratur, S. 245, Anm. 64.
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Exil« schleichend aus; Exilliteratur wurde danach, ohne besondere Kennzeichnung, im allgemeinen Programm veröffentlicht. Von den insgesamt 34 Titeln erlebten nur neun Titel eine 2. Auflage und zwei Titel eine 3. und 4. Auflage. Die Startauflagen sanken von anfänglich 12.000 bis 13.000 Exemplaren zunächst auf 8.000 bis 6.000, am Ende auf 4.000 Exemplare ab – ein Spiegel des deutlich nachlassenden Interesses.168 Als eine der Ursachen für diesen negativen Absatztrend erkannte der Lektor die mangelnde Unterstützung durch die Medien, darüber hinaus seien »Verdrängungsmechanismen […] hierzulande offenbar immer noch recht wirksam« gewesen.169 Einen weiteren Markstein setzte die Büchergilde Gutenberg mit ihrer »Bibliothek Exilliteratur«, deren Konzept gegen Mitte der 1980er Jahre von Hans-Albert Walter erstellt wurde. Walter hat damit nach dem mäßig erfolgreichen Gerstenberg-Projekt noch einmal die Chance erhalten, eigenverantwortlich ein Exilliteraturprogramm zu realisieren. Geplant waren 12 bis 14 Titel, jeweils mit eingehenden Kommentierungen durch den bzw. die Herausgeber. Tatsächlich musste der Apparat – Werkinterpretation, Lebensabriss des Autors, verschiedenste Beigaben – aufgrund der erreichten Umfänge zuweilen als eigener Band beigegeben werden. Als Textvorlagen wurden grundsätzlich die Erstausgaben herangezogen, da es den Herausgebern um die historische Authentizität der unter den Bedingungen des Exils entstandenen Literatur ging. Das Buchdesign wurde besorgt von einem der besten deutschen Buchgestalter überhaupt, von Juergen Seuss. Tatsächlich erschienen sind zwischen 1985 und 1999 13 Titel. Der erste, 1985 erschienene Band, Anna Seghers’ Transit, hat als einziger eine 2. Auflage und damit eine Gesamtauflagenhöhe von 13.000 Exemplaren erreicht. Am zweiterfolgreichsten waren Lion Feuchtwangers Waffen für Amerika mit rund 10.000, es folgen mit 8.000er Auflagen Kischs Landung in Australien, Ernst Weiß’ Der Augenzeuge und Joseph Roths Tarabas. In 5.000er Auflagen erschienen Werke von Keun (Nach Mitternacht), Regler (Die Saat), Alexander Moritz Freys Hölle und Himmel und die Autobiographie des Germanisten Egon Schwarz, in je 4.000 Exemplaren Koestlers Sonnenfinsternis, die Erinnerungen und Reflexionen des österreichischen Kommunisten Ernst Fischer und Alfred Döblins Das Land ohne Tod. Nach gutem Start Mitte der 1980er Jahre war der Absatz stetig und deutlich zurückgegangen, was mit den angebotenen Titeln zusammenhängen mag, aber auch mit Umschichtungen in der Mitgliederstruktur der Büchergilde. Insgesamt waren die Verkaufsziffern kein schlechtes Ergebnis für Ausgaben, die den am Exilaspekt der Texte ernsthaft interessierten Leser voraussetzten. Unter allen Gesichtspunkten – der Textauswahl, der Kommentierung, der Beigabe historischen Quellenmaterials und auch der Herstellungsqualität und Buchausstattung – handelte es sich hier um das anspruchsvollste Editionsmodell im Rahmen der Reintegrationsbemühungen: »eine sehr konsequente Reaktion auf die Misere der Exilliteraturrezeption in der Bundesrepublik«.170 Anders als in der DDR, fast gegenläufig dazu, lagen in der Bundesrepublik nach eher schwachen Anfängen die Höhepunkte der Exilrezeption erst in den 1970er und
168 Vgl. Walberer: Eine unendliche Geschichte. Vom Elend der schleppenden Reintegrierung der deutsch-sprachigen Exil-Literatur in den allgemeinen Kanon der Literatur, S. 166. Dem Archiv des S. Fischer Verlags danke ich für freundlich erteilte Auskünfte. 169 Walberer: Eine unendliche Geschichte, S. 169. 170 Aus einer Rezension in der Zeitschrift Frontal, Januar 1987.
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1980er Jahren. Diese Gegenläufigkeit ist keineswegs zufällig, denn die beiden Systeme entwickelten sich nicht unabhängig voneinander. Tatsächlich verhielt es sich so, dass die Exilliteratur in dem Maße, in welchem sie in der SBZ / DDR für den real existierenden Sozialismus vereinnahmt wurde, in der Bundesrepublik abgestempelt war und auf Ablehnung stoßen musste.171 Der DDR war es gelungen, dieses Thema zu besetzen, und viele westdeutsche Verleger zogen es vor, vor allem in der vom Kalten Krieg geprägten Atmosphäre der 1950er und 1960er Jahre, von dieser DDR-Domäne Abstand zu halten. Insofern hat sich also in der Bundesrepublik die ideologische Konkurrenz der beiden deutschen Staaten auf die Reintegration der Exilliteratur längere Zeit negativ ausgewirkt; im Zeichen des Kalten Krieges konnte kein gemeinsames literarisches Erbe entstehen. Diese Sachlage änderte sich aber allmählich, und so konnte dann eine Vielzahl von Initiativen, institutionellen und verlegerischen, die Erinnerung an jene Epoche doch wachrufen; zeitweise kam es zu einem regelrechten Exil-Boom. Anstelle von zentral organisierter Massenwirksamkeit wie in der sozialistischen Planwirtschaft war in der Bundesrepublik das Verlaufsmuster der Rezeption aber geprägt von unzähligen Einzelaktivitäten, die erst in ihrer Summe ein Bild ergaben. Immerhin: Die individuelle Arbeit der Verlage hat dazu geführt, dass nach und nach die Literatur des deutschsprachigen Exils in Buchausgaben weitgehend verfügbar gemacht worden ist – wenn schon nicht sämtlich als lieferbare Bücher, so doch in Bibliotheken und Sammlungen. Eine Aufgabe ist aber nicht abgeschlossen und im Grunde immer neu zu leisten: Den gesamten Fundus der Exilliteratur dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft lebendig zu erschließen.
Buchhandels-Remigranten und Exilliteratur in Österreich Österreich verkündete bereits am 27. April 1945 die Wiederherstellung der demokratischen Republik, war allerdings zunächst kein souveräner Staat, sondern wurde – wie Deutschland – in vier Besatzungszonen geteilt; die Arbeit der Provisorischen Staatsregierung wurde durch einen Alliierten Kontrollrat beaufsichtigt. Eine durchgreifende »Entnazifizierung« der Gesellschaft hat damals nicht stattgefunden, trotz vielversprechender Ansätze auch nicht im Bereich des Buchhandels; ein formelles Lizenzierungsverfahren fand nur in der amerikanisch besetzten Zone statt. Zwar wurden auch in der sowjetischen Besatzungszone einige Verlage, die NS-Parteiliteratur herausgebracht hatten, nicht wieder zugelassen, im Ganzen betrachtet war es aber für belastete Verleger, jedenfalls bis zum Verbotsgesetz 1947, relativ leicht möglich, von den Militärbehörden Publikationsgenehmigungen zu erhalten. Zur Überwachung des Schrifttums wurde jedoch eine Vorzensur ausgeübt: Die Abteilung Schrifttum und Verlagswesen im Unterrichtsministerium, die im Rahmen eines von den Verlagen zu beantragenden Verfahrens zur Erlangung einer Druckgenehmigung eine »politische Beurteilung« der eingereichten Manuskripte vornahm, schritt bei »Bedenken wegen nationalsozialistischer, deutschnationaler, antidemokratischer, rassenpolitischer, militaristischer oder gegen die Alliierten gerichteter Tendenz« ein.172 Die Kontrolle der Schriftsteller war Aufgabe einer im Un171 Vgl. hierzu auch Trommler: Die »wahren« und die wahren Deutschen: Zur Nicht-Rezeption der Exilliteratur. 172 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bachleitner / Eybl / Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich, bes. Kap. 9: Der österreichische Buchhandel von 1945 bis zur Gegenwart, Abschnitt 1. Buchhandel in der Nachkriegszeit 1945 bis 1955, S. 324‒336.
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terrichtsministerium eingerichteten Zentralkommission zur Bekämpfung der nationalsozialistischen Literatur, die allerdings nur sechs Verbote aussprach – sehr wenig im Vergleich zur Zahl der Autoren, die einander 1938 in der Begeisterung für den »Führer« überboten hatten. Tatsächlich schafften es fast alle der belasteten Autoren, ihre Laufbahn fast bruchlos fortzusetzen, während die Literatur der Emigranten nur in eingeschränktem Maße zur Kenntnis genommen wurde. Auch in Österreich entfalteten die Siegermächte vielfältige Aktivitäten, die auf eine Erziehung der Bevölkerung zur Demokratie und die Ausrottung der Ideologie des Nationalsozialismus in allen ihren Erscheinungsweisen gerichtet waren. Damit war der Rahmen vorgegeben, in welchem sich Verlagswesen und Buchhandel in Österreich in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickeln konnten.173 Die Stimmung in der Branche selbst war nach 1945 gekennzeichnet von geradezu euphorischen Hoffnungen, deren Hintergrund die vorteilhafte wirtschaftlich-technische Ausgangsposition der Verlagsstadt Wien war: In Österreich waren die Papierfabriken aus dem Bombenkrieg vergleichsweise unversehrt hervorgegangen und produzierten bald wieder fast auf Friedenszeitniveau. Auch die Druckereien waren – ganz im Gegensatz zu Leipzig – weitgehend unbeschädigt geblieben.174 Damals kam die Parole von der »Buchstadt Wien« in Umlauf; man sah die historische Chance, Wien zu einem Zentrum der gesamten deutschsprachigen Buchproduktion und -distribution auszubauen und Leipzig in dieser Rolle abzulösen. Dass dieses Vorhaben nach hoffnungsvollen Anfängen mit der »Bücherkrise« des Jahres 1948 scheiterte, hatte mehrere Ursachen.175 Die Währungsreform, die hier bereits am 10. Dezember 1947 durchgeführt wurde, hatte auch in Nachkriegsösterreich eine massive Verschlechterung der Absatzchancen für Bücher nach sich gezogen. Die seit 1945 in beachtlich großer Zahl neugegründeten Verlage176 waren finanziell und kaufmännisch häufig unzureichend fundiert, so dass sie ihre Anfangserfolge nach Abebben des »Bücherhungers« nicht fortsetzen konnten und sich nach der Umstellung auf härtere Währung als nicht lebensfähig erwiesen. Zudem waren die unmittelbar nach dem Krieg produzierten Bücher auf schlechtem Papier gedruckt, so dass sie bei steigenden Ansprüchen an die Ausstattung bald unverkäuflich waren. Im Übrigen waren die Hoffnungen auf das Entstehen einer »Buchstadt Wien« auch und vor allem darauf gerichtet gewesen, einen schwunghaften Exportbuchhandel
173 Zu den Verhältnissen im österreichischen bzw. Wiener Buchhandel der Nachkriegszeit vgl. Hans Peter Fritz: Buchstadt und Buchkrise. Verlagswesen und Literatur in Österreich 1945‒ 1955 [online], sowie Andrea Schwarz: Buchmarkt und Verlagswesen in Wien während der Besatzungszeit 1945‒1955. Die Arbeit von A. Schwarz enthält in ihrem 2. und 3. Band eine Sammlung von Kurzvorstellungen der zwischen 1945 und 1955 in Wien tätigen Verlage sowie den Versuch einer vollständigen Erfassung aller in diesem Zeitraum in Wiener Verlagen veröffentlichten Titel (ca. 15.000). 174 Vgl. Walter A. Rob: Das österreichische Verlagswesen. In: Bbl. (Lpz) Nr. 14 vom 3. April 1948, S. 117 f. 175 Vgl. den Artikel (Anon.): Warum es zur Krise kam. Die Lage auf dem österreichischen Büchermarkt. In: Bbl. (Lpz) Nr. 26 vom 26. Juni 1948, S. 253 f. 176 Einen knappen Überblick über die Verlagsneugründungen und -wiederaufnahmen nach 1945 vermittelt der Artikel (Anon.): Österreichische Verlage. In: Bbl. (Lpz) Nr. 14 vom 3. April 1948, S. 118 f.
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etablieren zu können.177 Man musste aber zur Kenntnis nehmen, dass das Verbot der Einfuhr von Büchern nach Deutschland sehr strikt gehandhabt wurde, so dass von einer Eroberung des deutschen Marktes keine Rede sein konnte. Nach Gesprächen in den Jahren 1947 und 1948 konnte zunächst wissenschaftliche Literatur regulär in die Bizone eingeführt werden, im Jahr darauf dann auch in die Trizone; erst Ende 1949 erfolgte eine allgemeine Freigabe. Doch selbst ohne diese Handelshindernisse wären die Exportchancen für österreichische Verlage wohl nicht besonders groß gewesen. Denn ihr Bücherangebot hatte ein Niveau, das schon von inländischen zeitgenössischen Beobachtern wie dem KPÖ-Intellektuellen Ernst Fischer als beschämend empfunden wurde; das Papier werde für die »Herausgabe belangloser, abgeschmackter und in jeder Hinsicht überflüssiger Romane verschwendet«.178 In der Tat waren die Verlagsprogramme wenig attraktiv, zumal im Bereich der Belletristik hauptsächlich wieder die Autoren des »Ständestaats« oder ehemalige NS-Autoren verlegt wurden.179 Betätigungsfelder für Remigranten haben sich nach dem Krieg vorzugsweise in Verlagen und Verlagsneugründungen ergeben, die eine Nähe zu politischen Parteien aufwiesen, zur Sozialdemokratie und zur Kommunistischen Partei. Der Zugriff auf die Druckereien wurde in Österreich im Juli 1945 sogar durch Regierungsbeschluss geregelt, um den Neuaufbau eines Presse- und Buchverlagswesens in geordnete Bahnen zu lenken und auch zu beschleunigen. Bei den Sozialdemokraten (die sich damals noch als »Sozialisten« bezeichneten) war es vorrangig Julius Deutsch* (1884 Lackenbach – 1968 Wien), der den Wiederaufbau der parteieigenen Publikationsplattformen dirigierte.180 Schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie an vorderster Front engagiert,181 hatte er in der Ersten österreichischen Republik hohe politische Ämter bekleidet.182 Im November 1932 war Deutsch als Gesellschafter in die von der sozialdemokratischen Partei betriebene Wiener Volksbuchhandlung F. Skaret eingetreten, die allerdings drei Jahre später im österreichischen »Ständestaat« aufgelöst wurde. Deutsch selbst war bereits im Februar 1934 in die ČSR geflüchtet und betätigte sich in der Folge an allen Stationen seines Exils ‒ Spanien, Frankreich, London, New York ‒ als politischer Aktivist, u. a. als Mitarbeiter der »Free World Association«, einer internationalen Organisation mit dem Ziel des demokratischen Wiederaufbaus nach dem Krieg. Im Frühjahr 1946 kehrte er nach Wien zurück, wurde Mitglied im Parteivorstand der SPÖ und von der Partei zum Direktor der Holding »Konzentration« bestellt, in der alle Pa-
177 Franz Dvorak, Heinrich Neider: Die Lage des österreichischen Buchhandels im Herbst 1945. In: Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel Nr. 5 (1945), S. 4‒7. 178 Hier zit. n. Fritz: Buchstadt und Buchkrise, S. 105 f. 179 Vgl. zum Folgenden auch Lunzer: Der literarische Markt 1945 bis 1955. 180 Hupfer: Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 253 f. 181 Damals bereits veröffentlichte Deutsch politische Schriften wie Die Kinderarbeit und ihre Bekämpfung (1907); Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung (1908). Er blieb auch später publizistisch tätig, etwa mit Wesen und Wandlung der Diktaturen (1953). 182 u. a. 1920 bis 1934 als Mitglied des Nationalrats, als Mitglied im Parteivorstand der SDAP und als Obmann des »Schutzbunds« bis zu dessen Verbot 1933. Von 1926 bis 1934 war Deutsch auch Vorsitzender der »Internationalen Kommission zur Abwehr des Faschismus«, die 1926 unter Beteiligung fast aller sozialdemokratischen Selbstschutzverbände in Europa mit Sitz in Wien gegründet worden war.
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pierfabriken, Druckereien, Zeitungen, Verlage und Buchhandlungen zwecks zentraler Leitung zusammengefasst wurden. »Das Werk gedieh und wuchs in kurzer Zeit zum größten Verlagsunternehmen Österreichs heran. […] damit war nun die ganze Produktion, angefangen vom Papier bis zur Zeitung oder dem Buch in einem einzigen Unternehmen vereint.«183 Wie Deutsch in seinen Lebenserinnerungen betonte, gelang es ihm in seiner bis 1952 ausgeübten Tätigkeit als Verleger »bedeutende Schriftsteller, Gelehrte und Politiker des In- und Auslandes als Mitarbeiter zu gewinnen«: »Es ist nicht zuviel gesagt, daß die Verlagsanstalten der ›Konzentration‹ zu geistigen Sammelpunkten wurden, die mithalfen, der alten Kultur unseres kleingewordenen Landes zu dienen.« Deutsch, der in dritter Ehe mit der bekannten Schriftstellerin Adrienne Thomas verheiratet war, erneuerte seine früheren Verbindungen vor allem auch zu emigrierten Autoren, so zu Thomas Mann sowie zu Klaus und Erika Mann, zu Carl Zuckmayer und seiner Frau Alice Herdan-Zuckmayer, ebenso zu Erich Maria Remarque, Arthur Koestler oder Franz Theodor Csokor. Es kann daher nicht überraschen, dass jene Verlage, die sich unter dem Dach der »Konzentration« befanden, schon sehr früh Exilliteratur in ihr Programm aufnahmen; so kamen im Vorwärts Verlag Gedichte von Fritz Brügel heraus, bei Danubia Bücher von Hermann Kesten, Adrienne Thomas, Leo Lania, Ernst Lothar, Arthur Koestler und F. Th. Csokor, im Wiener Verlag erschienen 1946 Hans Weigels »utopischer Gegenwartsroman« Der grüne Stern und 1947 Hilde Spiels Flöte und Trommeln. Auf kommunistischer Seite war es der im Sommer 1945 gegründete Globus Verlag und die an ihn angeschlossenen Firmen, mit denen die Medienlandschaft im Nachkriegsösterreich oder jedenfalls die eigene Anhängerschaft strategisch erschlossen werden sollte. Es bildete sich, ähnlich wie bei den Sozialdemokraten, eine Konzernstruktur heraus, mit Verlagen (neben Globus, der auch Zeitungsverlag war, gehörten auch der Schönbrunn-Verlag und der Stern Verlag der KPÖ), einer großen Zeitungs- und Buchdruckerei (früher: Steyrermühl), fünf Buchhandlungen, einer Buchgemeinschaft »Die Buchgemeinde« sowie einem eigenen Buchimportunternehmen, das v. a. Bücher aus Osteuropa nach Österreich brachte.184 Zum ersten Direktor des Globus Verlags wurde Hans Eberhard Goldschmidt* (1908 Wien – 1984 Wien) bestellt, der 1946 auf offizielle Anforderung der KPÖ aus dem Londoner Exil zurückkehrte. Goldschmidt war als überzeugter Kommunist bereits 1932 in die Sowjetunion gegangen und hatte dort bis 1937 als Redakteur der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter (VEGAAR) gearbeitet.185 Nach seiner Rückkehr nahm er in Wien sein Universitätsstudium wieder auf, musste sich aber 1938 nach England in Sicherheit bringen. Nach Internierung als »enemy alien« war Goldschmidt als »helping hand« von Joseph Suschitzky 1941/1942 mit dem Aufbau der Antiquariatsabteilung der Buchhandlung Foyles beschäftigt. Die letzten Kriegsjahre bis April 1946 hörte er für die BBC deutsche und russische Sendungen ab und schrieb unter dem Pseudonym Hans Fischhof für mehrere Emigrantenzeitschriften Artikel über
183 Julius Deutsch: Ein weiter Weg. Lebenserinnerungen, S. 385. 184 Vgl. Köstner: Das Salz in der Suppe. Der Globus Verlag (2009); bes. S. 136‒138. 185 Siehe u. a. Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 248; Eckart Früh: Hans Eberhard Goldschmidt [Nachruf]. In: Kraus-Hefte, H. 31, Juli 1984, S. 15 f. – Ein literarisches Porträt von G. lieferte Thomas Bernhard in seinem Buch Die Billigesser (1980).
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österreichische Themen. Seine Direktorenfunktion im Globus Verlag übte Goldschmidt aber nur bis Dezember 1947 aus und übernahm dann – bis Dezember 1957 – die Leitung des Schönbrunn-Verlags, der neben Kinderbüchern linksgerichteter Autoren (Mira Lobe, Karl Bruckner) ein gemischtes Programm herausbrachte, darunter Rudolf Kalmars Zeit ohne Gnade (1946), Hermynia Zur Mühlens Eine Flasche Parfum. Ein kleiner humoristischer Roman (1947), Carl Zuckmayers Des Teufels General (1947), historische Dramen Ferdinand Bruckners (1948), Zolas Germinal oder Hugo Glasers Die Entdecker der Welt. Von Marco Polo bis zur Gegenwart und Die Entdecker des Menschen. Von Hippokrates bis Pawlow (1951, 1954). Goldschmidt schrieb außerdem von 1946 bis 1956 regelmäßig für die Volksstimme. Mit der Beendigung seiner Verlagsleitertätigkeit kam es auch zum endgültigen Bruch mit der KPÖ, 1957 trat Goldschmidt aus der Partei aus. Im Jahre 1958 übernahm er ein Antiquariat in Wien-Döbling, das nunmehr als Antiquariat Dr. Goldschmidt firmierte mit den Spezialgebieten Karl Kraus und Autographen.186 Später wurde es von dem Antiquar Georg Fritsch übernommen. Ein aus heutiger Sicht verwirrender Zufall wollte es, dass es im kommunistischen Bereich einen Namensvetter zu dem Direktor der sozialdemokratischen »Konzentration«-Holding gab: Julius Deutsch* (1902 Wien – 1987 Wien), der in Wien eine Buchhändlerlehre absolviert und auch in Buchhandlungen gearbeitet hatte, ehe er in der 1918 gegründeten KPÖ bis 1933 auch als Parteifunktionär tätig wurde. Dabei war er aber seinem erlernten Beruf treu geblieben und hatte in Wien eine Buchhandlung mit Antiquariat »Die Bücherquelle« geführt. Nach den Februarkämpfen 1934 wurde Deutsch wegen kommunistischer Betätigung zu sechs Wochen Lagerhaft in Wöllersdorf verurteilt und ihm auch die Gewerbeberechtigung entzogen. Im Anschluss emigrierte er in die Schweiz, war von 1936 bis 1938 in Paris im Organisationsapparat für die Spanienkämpfer tätig und organisierte 1937 an der österreichisch-schweizerischen Grenze Anlaufstellen für Brigadisten. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges flüchtete Deutsch weiter nach Bolivien, wo er in La Paz eine Librería América betrieb, außerdem im Rahmen der Federación de Austriacos libres en Bolivia weiterhin politisch aktiv blieb. 1946 kehrte Deutsch nach Wien zurück und nahm dort bald als Prokurist und Leiter des Buchvertriebs eine führende Stellung ein.187 Der Globus Verlag wurde besonders in der Anfangszeit von der Sowjetunion finanziell großzügig unterstützt und nahm konsequenterweise auch Funktionen eines Parteiverlags der KPÖ wahr, nicht zuletzt durch Herausgabe ihres Zentralorgans, der Tageszeitung Die Österreichische Volksstimme, verfolgte ansonsten aber keineswegs Richtlinien einer kommunistischen Literaturdoktrin, sondern ein betont breites »österreichisches« Programm, entsprechend der schon im Exil entwickelten KP-Linie eines eigenständigen, nationalbewussten Österreich, das allen großdeutschen Ideen gegenüber immun sein sollte. Der Verlag brachte auch schon sehr früh eine Reihe von
186 Siehe Köstner: Das Salz in der Suppe. Der Globus Verlag (2009). Der angesehene Buchhändler war Mitglied im Verband Österreichischer Schriftsteller, im Österreichischen Verlegerverband und im Verband der Antiquare Österreichs. 187 Köstner: »Wie das Salz in der Suppe«. Zur Geschichte eines kommunistischen Verlages – Der Globus Verlag (2001), S. 56 f.; Köstner: Das Salz in der Suppe. Der Globus Verlag (2009), S. 138; Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 184‒189 [online]; Hupfer: Zur Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 281.
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exilliterarischen Werken heraus; so erschienen in den Jahren 1946 bis 1948 Bücher von Theodor Kramer, Egon Erwin Kisch, Hermynia Zur Mühlen, Béla Balász oder Ernst Sommer. Weitere Schwerpunkte lagen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, der Lyrik und der internationalen Belletristik, auch der Reportage und des populärwissenschaftlichen Sachbuchs. Erneuert wurde von Globus auch die »Tagblatt-Bibliothek«, die 1923 ursprünglich vom Steyrermühl-Verlag ins Leben gerufen worden war; fast die Hälfte der Titel erschien in dieser Reihe. In den ersten zehn Jahren seines Bestehens sind so insgesamt 233 Bücher erschienen. Als Direktor des Unternehmens war Deutsch offiziell auch Geschäftsführer der Buchhandlung »Das internationale Buch« am Trattnerhof und 1948 Konzessionsnehmer für die ebenfalls dem Globus Verlag gehörende Erste Wiener Fachbuchhandlung. Die Globus Zeitungs-, Druck- und Verlagsanstalt GmbH war gut beraten, auch eigene Sortimente zu unterhalten, denn der größte Teil des traditionellen österreichischen Buchhandels lehnte Geschäftsverbindungen mit ihm ab; auch der verbreitete Antikommunismus der Bevölkerung setzte seiner Expansion bald enge Grenzen. Im Globus-Konzern, der allen Widerständen zum Trotz nach wenigen Jahren bereits rund tausend Mitarbeiter zählte, erhielt noch eine Reihe weiterer Remigranten eine berufliche Betätigungsmöglichkeit – was umso weniger verwundern kann, als ja die kommunistische Bewegung im Lande selbst weitgehend zerstört worden war. Als erster Geschäftsführer und kaufmännischer Direktor der Globus Zeitungs-, Druck- und Verlagsanstalt GmbH fungierte nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil im Mai 1945 Erwin Zucker-Schilling* (1903 Wien – 1985 Wien). Zucker-Schilling, seit 1925 Redakteur der Roten Fahne, war 1935 mit dem ZK der KPÖ in das tschechische Exil nach Prag gegangen; 1938 war er in Paris mit der Redaktion der Exilzeitung Nouvelle d’Autriche betraut und in Moskau hatte er als Chefredakteur am schwarzen »Sender Österreich« mitgewirkt. Parallel zu seiner Position im Globus Verlag war Zucker-Schilling von 1945 bis zu seiner Ablösung am 17. Parteitag 1957 Chefredakteur des KPÖ-Organs Volksstimme. Als kaufmännischer Direktor war im Globus Verlag auch der Moskau-Remigrant Aron Grünberg* (1893 Kolomea / Galizien − 1970 Sowjetunion) von Oktober 1948 bis Januar 1954 tätig, danach ging er wieder in die Sowjetunion. Nur kurze Zeit, 1946/1947, war im Globus Verlag der aus Palästina zurückgekehrte Willy Verkauf (-Verlon)* tätig; aus der KPÖ ausgeschlossen, gründete er seinen eigenen Buch- und Zeitschriftenverlag Willy Verkauf, in welchem er noch 1947 Franz Theodor Csokors Gedichtsammlung Das schwarze Schiff sowie die Zeitschriften Erbe und Zukunft sowie Bücherschau. Zeitschrift für den Bücherfreund und den internationalen Buchhandel publizierte. Sieben Jahre, von 1952 bis 1959, hat dagegen das KPÖ-Mitglied Herbert Steiner* (1923 Wien – 2001 Wien) als Lektor im Globus Verlag gearbeitet. Er hatte im Exil in Großbritannien einschlägige Berufserfahrung gesammelt, indem er sich am Aufbau der Jugendorganisation »Young Austria in Great Britain« beteiligt und Beiträge zu österreichischen Exilzeitschriften geliefert hatte; nach der Freilassung aus der Internierung hat er in einer Londoner Druckerei gearbeitet und war 1943 bis 1945 in London Gründer und Leiter des Verlags »Jugend voran«.188 Ebenfalls als Globus-Lektoren tätig waren um 1950 der aus dem britischen Exil zurückgekehrte Arthur West (geb. als Arthur Rosenthal; 1922–2000)
188 Seit 1959 war Steiner Sekretär und später langjähriger Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, dazu: Mit der Ziehharmonika 8 (1991) Nr. 2, S. 2.
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und die aus dem französischen und belgischen Exil remigrierte Gundl Herrnstadt (1916– 1998).189 Für die erfolgreichste Karriere innerhalb des Unternehmens steht aber der Name des Remigranten Heinz Zaslawski* (1924–2003): Er war 1938 als Jugendlicher nach Großbritannien gelangt, hatte sich in Manchester einer örtlichen Gruppe der Vereinigung Young Austria angeschlossen und war im Sommer 1946 nach Wien zurückgekehrt, um ein Studium aufzunehmen. Nach dessen Abschluss trat er 1951 in die Globus Zeitungs-, Druck- und Verlagsanstalt ein und war zuerst als Lektor im Buchverlag (bis 1956), dann als Leiter der Buchgemeinde (bis 1960), als Leiter des Buchverlags und der Werbeabteilung (bis 1964) sowie als stellvertretender Leiter des Buchvertriebs (bis 1967) tätig, bis er nach Übernahme der Gesamtprokura (1969) schließlich 1974 zum Generaldirektor des Globus-Konzerns bestellt wurde. Diese Funktion übte er bis zu seiner Pensionierung 1989 aus. Der Globus Verlag wurde 1993 aufgelöst. Auch jenseits der großen Konzerne trugen Remigranten zur Belebung der Szene bei. Der aus Palästina zurückgekehrte Jurist Hans Deutsch* (1906 Wien – 2002 Lausanne) betätigte sich nach 1950 als Anwalt in Wiedergutmachungsverfahren und betrieb die Prozesse um die Rückgabe von geraubten Kunstgegenständen mit beachtlichem Erfolg.190 Parallel dazu baute er den Hans-Deutsch-Verlag in Wien auf, in welchem er Bücher zum Thema Wiedergutmachung herausbrachte, aber auch Werke seines Freundes Max Zweig. Mit dem an den Verlag angegliederten Bühnenvertrieb suchte er auch die Dramen Max Zweigs an den Theatern unterzubringen. 1964 wurde Hans Deutsch in den großes mediales Aufsehen erregenden »Fall Deutsch« verwickelt und musste sich wegen angeblich gefälschten Beweismaterials verantworten.191 Eine bewegte Exilzeit hatte Alois G. Englander* (bis 1940: Engländer; 1907 Prag – 1996 Wien) hinter sich, als er 1947 als Remigrant in Wien eintraf.192 Dort war er 1935 stiller Teilhaber der Innenstadt-Buchhandlung Wilhelm Frick geworden, als Kompagnon von Heinrich (Harry) Fischer* (1903 Wien – 1977 London); Fischer, der auch als Geschäftsführer fungierte, war zuvor Teilhaber der Buchhandlung Berger & Fischer am Kohlmarkt gewesen. Neben der Buchhandlung forcierten die beiden Kollegen die Verlagsschiene des Unternehmens, mit einem gemischten, hauptsächlich auf österreichische Kultur abgestellten Programm.193 Als sich nach dem »Anschluss« ein »Ariseur« der Buchhandlung und des Verlags bemächtigte,194 flüchtete Heinrich Fischer nach London,195 während Engländer zunächst in seine Heimatstadt Prag zurückkehrte; von dort 189 Köstner: Das Salz in der Suppe, S. 140. 190 Emmenegger: Der Fall Deutsch. Ein Justizskandal; Max Zweig: Lebenserinnerungen, S. 200‒208; Wikipedia. 191 Nach achtjährigem Prozess wurde er freigesprochen und kämpfte zeitlebens um seine Rehabilitierung vor der Öffentlichkeit. Bereits seit geraumer Zeit in der Schweiz lebend, eröffnete er 1989 in Belmont-sur-Lausanne zur Unterbringung seiner seit der Nachkriegszeit aufgebauten Kunstsammlung ein Privatmuseum »Musée Fondation Deutsch«. 192 Vgl. Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 92‒98. 193 z. B. Franz Horch: Paula Wessely. Weg einer Wienerin. Wien: Frick 1938; Heinrich Kralik: Die Wiener Philharmoniker. Monographie eines Orchesters. Wien: Frick 1938. Letzterer Titel kann als eine frühe Form des »Coffeetable books« gelten. 194 Genaueres dazu bei Hall: 145 Jahre Wilhelm Frick in Wien. 195 Heinrich Fischer baute in London mit Marlborough Fine Arts eine der bedeutendsten Galerien für moderne Kunst weltweit auf; siehe hierzu das Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage.
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führte ihn sein Fluchtweg über Polen, das Baltikum, Stockholm, die UdSSR und Japan in die USA. Bis 1943 lebte er in New York, wo er als Filmproduzent arbeitete; daneben betätigte er sich, politisch der Sozialdemokratie nahestehend, in österreichischen Exilorganisationen und als publizistischer Mitarbeiter der Zeitschrift Freedom for Austria / Freiheit für Österreich. Von 1943 bis 1945 in Hollywood, machte Englander sich 1945 in New York als Verleger selbständig und produzierte in seiner Paramount Printing & Publishing Company Bücher für die deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen in den US-Lagern.196 Noch in den USA engagierte er sich als einer der Mitbegründer der »Austrian-American Chamber of Commerce« für die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu seinem Heimatland. Nach seiner Rückkehr nach Wien konnte Englander zunächst nur als öffentlicher Verwalter des ihm geraubten Unternehmens tätig werden; die – wohl absichtlich verzögerten – Rückerstattungsverhandlungen kamen erst 1953 bzw. handelsrechtlich 1955 zu einem Abschluss, mit dem Ergebnis, dass die ursprünglichen Inhaber ihre Anteile am Wilhelm Frick Verlag & Co. und der Wilhelm Frick Buchhandlung OHG zurückerhielten, wobei Heinrich / Harry Fischer seinen Anteil an Englander verkaufte.197 Im Verlag Frick erschienen nun wieder Bücher zu unterschiedlichen Themen, mit den Schwerpunkten Viennensia und Austriaca, darunter 1968 die Dialektgedichtsammlung hosn rosn baa von Friedrich Achleitner, H. C. Artmann und Gerhard Rühm, eine frühe, aufsehenerregende Manifestation der »Wiener Gruppe«. Englander war in Wien in den Folgejahrzehnten auf verschiedensten Gebieten tätig, auch auf politischer Ebene;198 Ende der 1960er Jahre verkaufte er Verlag und Buchhandlung; Letztere besteht, nach mehreren Besitzerwechseln, bis heute (2019) am Wiener Graben. Der wohl bedeutendste österreichische Verlegerremigrant war Paul Zsolnay* (1895 Budapest – 1961 Wien). Er hatte seinen seit 1923 rasch expandierenden Verlag199 in den 196 Der Verlag brachte hauptsächlich Bücher österreichischer Autoren heraus, wie Karl Farkasʼ Zurück ins Morgen (1946), Peter Roseggers Erzählungen aus der Waldheimat (1945) oder Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel (1945). – Siehe hierzu auch die Rechteanfrage von Alois G. Englander, Paramount Printing and Publishing Co., New York, an den Literaturagenten Barthold Fles vom 12. September 1945: »Dear Mr. Fles, we are publishing a series of German language books, which are to be used for the reeducation of Prisoners of War. We are anxious to publish the ›Der Untertan‹ by Heinrich Mann to which you hold the rights. Since this is a very important project, we are trying to keep the price of the book down as much as possible and would therefore appreciate very much if you could give us the rights at a special price, as discussed over the telephone.« (Deutsches Exilarchiv, DNB, NL Barthold Fles EB 89/21, I, A. 47). Da die Paramount Printing and Publishing Co. keine Genehmigung des Alien property custodian erhielt, wurde das Buch nicht publiziert. 197 Vgl. Ursula Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 92–98. 198 Als Honorarkonsul von Honduras erlangte Englander Diplomatenstatus; gemeinsam mit dem Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten gründete er die »Österreichische Gesellschaft für Außenpolitik und Internationale Beziehungen«. Er war in der Flüchtlingshilfe aktiv, besonders nach der gewaltsamen Beendigung des »Prager Frühlings« 1968; auch engagierte er sich für eine ökologische Politik und kann als Mitbegründer der Partei Vereinte Grüne Österreichs (VGÖ) (von der er sich kurz darauf distanzierte) und 1986 der Grünen Alternative (heute: Die Grünen) gelten. 199 Der einzige große belletristische Verlag in Österreich brachte zwischen 1924 und 1938 mehr als 650 Titel heraus, darunter ausgesprochene Erfolgsbücher, von Franz Werfel, aber auch von zahlreichen bedeutenden englischen und amerikanischen Autoren.
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1930er Jahren zunächst an das »nationale« Lager in Österreich und im weiteren dann an den NS-Funktionär Karl Heinrich Bischoff verloren,200 kehrte 1946 aus dem britischen Exil 201 nach Wien zurück und baute das Unternehmen als Paul Zsolnay Verlag mit Filialen in Hamburg und Berlin wieder auf, mit vielversprechenden Anfangsergebnissen.202 Im Grunde wäre der Verlag unter seinem um wertvolle Erfahrungen bereicherten Eigentümer für eine wirkungsvolle Positionierung der Exilliteratur auf dem Buchmarkt prädestiniert gewesen; Zsolnay kannte viele Exilautoren aus nächster Nähe. Stattdessen knüpfte er an seine internationale Programmlinie an, die er schon in den 1930er Jahren verfolgt hatte, und brachte wieder Bücher von John Galsworthy, Pearl S. Buck, A. J. Cronin oder Graham Greene; von den deutschsprachigen Schriftstellern wählte Zsolnay jedoch ausgerechnet Frank Thiess zum intensiv gepflegten Hausautor, was die Möglichkeiten für ein exilliterarisches Engagement entsprechend einengte. Immerhin erschienen bei Zsolnay Werke von Ernst Weiß, Leo Perutz, Hans Natonek, Albert Einstein oder Ernst Lothar – wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg. Diesen hatten die ersten Romane Johannes Mario Simmels: von Mich wundert, daß ich so fröhlich bin (1949) bis Gott schützt die Liebenden (1957) und Affäre Nina B. (1958). Über den Tod Paul Zsolnays im Jahr 1961 hinaus blieb das Unternehmen zwar einer der wenigen Publikumsverlage in Österreich; eine herausragende Marktposition hat es im deutschsprachigen Raum nicht mehr erringen können.203 Dynamisch zeigte sich dagegen der 1946 gegründete Verlag von Fritz Molden, wobei Molden kein ausgesprochener Emigrant war, aber – zeitweilig in der Schweiz – dem österreichischen Widerstand angehört hatte. Molden erregte 1970 mit dem Bestseller von Hildegard Knef Der geschenkte Gaul und weiteren spektakulären Lizenzgeschäften auf dem internationalen Buchmarkt Aufsehen, ging aber 1982 ebenso spektakulär in Konkurs.204 Im Rahmen seines Programms hatte er auch einige Neuauflagen von Exilwerken veranstaltet, von Arthur Koestler und Manès Sperber, also vorzugsweise von Renegatenliteratur, wie auch der autobiographische Bericht der Stalin-Tochter Swetlana Allilujewa – der Erwerb der Rechte und der anschließende Marktmisserfolg hatten letztlich den Konkurs bewirkt – einer antikommunistischen Zeitstimmung entsprach. Auch im Bereich der Bühnenverlage spielten Remigranten eine herausragende Rolle, insbesondere Thomas Sessler* (Geburtsname Zeiz, seit 1947 Adoptivname Sessler; 1915 Berlin – 1995 Dietersburg), der im Kapitel Literarische Agenturen bereits ausführlicher vorgestellt worden ist, auch mit seiner zwischen 1933 und 1945 geleisteten Tätigkeit im Widerstand. Nach Kriegsende kam Zeiz / Sessler zunächst nach Wien zurück, gründete – nach kurzem Zwischenspiel in Hamburg – 1952 in München den Thomas-Sessler-Verlag, 200 Der Verlag hat unter seinem »Arisierer« Karl H. Bischoff Anfang der 1940er Jahre von der damaligen Absatzkonjunktur stark profitiert; siehe Hall: Der Paul Zsolnay Verlag, S. 644‒ 769; sowie Fischer: »… mit nationalsozialistischer Gründlichkeit«, S. 206‒208. 201 In London war Zsolnay Mitgründer und Teilhaber des Verlags Heinemann & Zsolnay, siehe hierzu Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage. Dort auch Näheres zum Paul Zsolnay Verlag 1923 bis 1945. 202 Hall: Der Paul Zsolnay Verlag; Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 206. 203 Der Verlag wurde, nach mehrfachem Eigentümerwechsel, 1999 vom C. Hanser Verlag, München, übernommen. 204 Vgl. Molden: Der Konkurs. Aufstieg und Fall eines Verlegers.
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um die Bühnenpräsenz der Werke prominenter Theaterschriftsteller wie Ödön von Horvath, aber auch französischer, englischer, spanischer und italienischer Autoren zu sichern, und kaufte 1967, wieder in Wien, den Georg Marton Verlag nebst anderen kleineren Verlagen. Mit dem Thomas Sessler Verlag, Wien, der seit 1969 von Ulrich N. Schulenburg (Schwiegersohn von August Hermann Zeiz) geführt wird (seit 1984 als Miteigentümer), entstand der bedeutendste Bühnen-, Film- und Musikverlag in Österreich und einer der bedeutendsten des gesamten deutschsprachigen Raumes.205 1946 remigrierte der ehemalige Gründer und Dramaturg der Österreichischen Volksbühne Walter Firner* (Geburtsname Feinsinger, 1905 Wien – 2002 Wien) aus dem USamerikanischen Exil. Neben seiner Professur an der Akademie der schönen Künste in Wien und Regisseurstätigkeit an in- und ausländischen Bühnen206 nahm er auch die Position eines Direktors und Chefdramaturgen des Gloriette-Verlages, Wien und Basel, ein und war Inhaber des Bühnenverlags Athene-Edition, Wien, Zürich und New York. Aus der Emigration in Großbritannien kehrte die Hauptaktionärin der Universal Edition Jella Hertzka* (1873 Wien – 1948 Wien) zurück, die nach dem »Anschluss« Österreichs gezwungen worden war, ihre Anteile an dem weltbekannten Musikverlag zu veräußern.207 Seit 1946 bemühte sie sich in Wien um den Wiederaufbau des Verlages: Sie machte Alfred Schlee, der schon seit 1928 dem Unternehmen angehörte und während des Krieges versucht hatte, den Verlagsbetrieb aufrechtzuerhalten, zum Geschäftsführer und leitete die Universal Edition bis zu ihrem Tod 1948 als öffentliche Verwalterin.208 Die meisten der vor 1938 in leitender Stellung tätig gewesenen Mitarbeiter der Universal Edition hatten in ihren Exilländern die Möglichkeit wahrgenommen, bei bedeutenden US-amerikanischen und englischen Musikverlagen einzusteigen und dort auf internationaler Ebene Karriere zu machen.209 Ein Spätheimkehrer war 1958 Stefan Gustav Harpner* (geb. 1930), der als Achtjähriger mit seinen Eltern nach England gelangt und 1952 über Vermittlung von Alfred A. Kalmus* (den sein Vater in einem Internierungslager kennengelernt hatte) zur Londoner Zweigniederlassung der Universal Edition Ltd. gekommen war.210 Er setzte sich in der Universal Edition für die Erweiterung des Verlagsprogramms ein, u. a. für die »Rote Reihe« und die »Accademia musicale« und wurde nach dem Tod seines Schwiegervaters Alfred A. Kalmus 1972 Vorstandsmitglied der Universal Edition.211 Auch im Sortimentsbuchhandel Österreichs spielten ‒ anders als in Deutschland ‒ Rückkehrer aus dem Exil eine beachtenswerte Rolle. Zwar sahen sich hier die 1938 vertriebenen Buchhändler mit schwierigen, von Behörden absichtlich verzögerten Resti-
205 Vgl. auch die Lebenserinnerungen von Ulrich N. Schulenburg (unter Mitarbeit von Susanne F. Wolf): »Sie werden lachen, alles ist wahr«. Anekdoten eines Glücksritters, bes. S. 75‒83. 206 Lexikon der österreichischen Exilliteratur, S. 191 f.; Eintrag Firner, Walter, in: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft, Bd. 1, S. 320. 207 Näheres hierzu im Kap. 5.2.6 Musikverlage. 208 Fetthauer: Musikverlage, S. 474; Jella Hertzka. Frauen in Bewegung (Ariadne) [Online]. 209 Siehe hierzu das Kap. 5.2.6 Musikverlage. 210 Fetthauer: Musikverlage, S. 470 f.; Ilse Reiter: Gustav Harpner (1864‒1924). Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik. Wien: Böhlau 2008, S. 548‒553. 211 1985 schied er aus dem Unternehmen aus und übernahm eine leitende Position bei Ricordi in München.
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tutionsverfahren konfrontiert, in den meisten Fällen konnte aber früher oder später doch die Rückstellung des Unternehmens erreicht werden. Nicht immer schloss sich daran noch eine Wiederaufnahme der buchhändlerischen Tätigkeit an, zumal die Betroffenen oft die Staatsbürgerschaft ihres neuen Heimatlandes erworben hatten (was ihre Rückstellungschancen durchaus verminderte) und an einer Berufsausübung in Österreich nicht mehr interessiert waren. Ein repräsentatives Beispiel dafür bietet die traditionsreiche, 1816 gegründete Universitätsbuchhandlung R. Lechner in bester Innenstadtlage: Max Faltitschek*, seit 1927 Miteigentümer des Unternehmens – wie u. a. auch Charles J. Riegler*212 – war nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland enteignet worden und in die USA emigriert, wo er 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarb. Nach 1945 betrieb er ein Rückstellungsverfahren, das erst im Februar 1957 positiv entschieden wurde; die tatsächliche Restitution erfolgte noch einmal drei Jahre später.213 Eine besondere Funktion in der Nachkriegsgeschichte der Universitätsbuchhandlung R. Lechner fiel dem ehemaligen Widerstandskämpfer Wilhelm Victor Steiner* (1896 Wien – 1964 Wien) zu, der im September 1946 von der amerikanischen Militärregierung als öffentlicher Verwalter von 1938 »arisierten« Buchhandlungen eingestellt wurde.214 Steiner, vor dem »Anschluss« Chefredakteur der Wiener Stadtstimmen, war nach einjähriger Haft in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald in die Niederlande emigriert, dort aber den deutschen Besatzern 1940 erneut in die Hände gefallen. Nach weiterer Zuchthaus- und KZ-Haft im Juli 1942 in die Wehrmacht eingetreten, arbeitete er als Agent eng mit der holländischen Widerstandsbewegung zusammen. Nach Kriegsende war er österreichischer Vertrauensmann in den Niederlanden und bis 1946 Mitarbeiter der Zeitschrift Austria in Amsterdam. Zurückgekehrt nach Wien, fungierte Steiner als öffentlicher Verwalter der Herbert Stubenrauch Verlagsbuchhandlung, des Walter Krieg Verlags und der Universitätsbuchhandlung R. Lechner (Walter Krieg), ab 1947 auch als Herausgeber der Halbmonatsschrift Das Antiquariat. Steiner konnte mit seinen buchhalterischen und kaufmännischen Kenntnissen die Unternehmen stabilisieren und deren Umsätze steigern, bis die öffentliche Verwaltung 1960 eingestellt wurde und er sein Amt abgab. In die Restitutionsgeschichte der Wiener Buchhandlungen gehört auch jene des Buchhändlers Maximilian Ferber* (1888 – nach 1962), der nach der »Arisierung« seiner Firma nach Großbritannien geflüchtet war und im August 1946 nach Wien zurückgekehrt die Rückgabe seiner Buchhandlung betrieb, die in einem verwahrlosten Zustand die Kriegszeit überdauert hatte.215 Nach Abschluss des Rückstellungsverfahrens baute Ferber sein Geschäft wieder neu auf; Ende 1953 erwarb er mit Leibrenten- und Fusions-
212 Riegler war 1938 nach Argentinien gegangen und von dort nicht mehr zurückgekehrt. 213 Pawlitschko: Jüdische Buchhandlungen in Wien, S. 78; Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 140‒149. Im Juli 1964 wurde das Unternehmen aus dem Handelsregister gelöscht. 214 Heuer: Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren deutscher Sprache, Bd. 3; Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 9; Schwarz: Das Wiener Verlagswesen der Nachkriegszeit, S. 139, 143. 215 Hupfer: Zur Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 212 f.
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vertrag das nahegelegene Buch- und Kunstantiquariat Malota, legte beide Unternehmen als Vereinigtes Antiquariat und Buchhandlung Ferber & Malota zusammen und führte es bis 1962. Auch an der Nachkriegsgeschichte der traditionsreichen Wiener Buchhandlung Kuppitsch hatten Rückkehrer aus dem Exil entscheidenden Anteil.216
Exilliteratur in österreichischen Verlagen der Nachkriegszeit Auf die exilliterarischen Werke, die in den parteieigenen Verlagen, dem Globus Verlag der KPÖ und den Verlagen der sozialdemokratischen Holding »Konzentration« sowie bei Zsolnay erschienen sind, ist oben bereits hingewiesen worden. Es gab allerdings noch eine Reihe weiterer Verlage, die sich auf diesem Feld engagiert haben, zum Teil noch in direktem Kontakt zu Exilverlagen. Dies trifft etwa auf den Verlag A. Sexl (Ringbuchhandlung) zu, der in einem von Berthold Viertel und dem Agenten Curt Ponger vermittelten Kontakt mit Wieland Herzfelde in New York stand und plante, in seiner Continental Edition eine Abteilung »Aurora-Bücherei« aufzunehmen.217 Tatsächlich erschienen sind 1946 und 1947 nur drei Titel – Ernst Waldingers Die kühlen Bauernstuben, Ferdinand Bruckners Jugend zweier Kriege und Ulrich Bechers und Peter Presesʼ Theaterstück Der Bockerer –, ehe der geschlossene Vertrag Mitte 1948 auslief und die »Aurora-Bücherei« in das Programm des Ostberliner Aufbau Verlags einging. Sexl hatte allerdings von der Erstausgabe 1946 des Bockerer nur zehn Exemplare verkauft, wodurch sich eine Weiterführung der Serie mehr oder minder von selbst verbot.218 Schon an dieser Stelle fällt auf, dass die österreichischen Verlage ganz überwiegend nur Werke österreichischer Exilschriftsteller publizierten – womit sie ihren Wirkungskreis logischerweise sehr beschränkten, auch als sich wieder Möglichkeiten zur Bücherausfuhr ergaben. Umgekehrt zogen es österreichische Exilautoren im Zweifelsfall vor, in deutschen Verlagen unterzukommen, um sich so einen größeren Resonanzraum (und günstigere Honorarbedingungen) zu sichern. Einen durchaus österreichischen Charakter hatte auch das Programm des nach Kriegsende in Wien aufgebauten Zweigs des Ullstein Verlags; hier war es der als Verwalter der Großdruckerei Waldheim-Eberle eingesetzte Fritz Ross, der österreichische Schwiegersohn von Hans Ullstein, der hier lange vor dem Berliner Haupthaus verlegerisch aktiv werden konnte und eine Reihe von Exilwerken herausbrachte, unter ihnen Bücher von Raoul Auernheimer (Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse und Bekenntnisse) und Franz Theodor Csokor (u. a. seinen autobiographischen Bericht Als Zivilist im Balkankrieg). Als weitere Beispiele können dienen der Verlag Neues Österreich, in welchem politische Essayistik des kommunistischen Politikers und Schriftstellers Ernst Fischer, später (1951) ein Roman von Gina Kaus erschien, oder der Bergland Verlag, der Ödön von Horvaths Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit herausbrachte.
216 Siehe hierzu in Fischer: Handbuch, die Artikel zu Grete Günther, Otto Günther, Monika Beer und Zita Seidl. 217 Vgl. Tribüne und Aurora. Wieland Herzfelde und Berthold Viertel. Briefwechsel 1940‒ 1949, S. 162‒180. 218 Tribüne und Aurora, S. 29. Die Verfilmung des Buches 1981 (zwischen 1996 und 2003 folgten weitere drei Teile) erwies sich dagegen Jahrzehnte später als Riesenerfolg.
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An dieser Stelle ist auch noch einmal auf den nach 1945 in Wien reaktivierten Bermann-Fischer Verlag zu verweisen, zu dessen Nachkriegsveröffentlichungen 1947 bis 1949 Bücher von Friedrich Torberg, Vicki Baum, Franz Werfel und Stefan Zweig gehörten. Während aber nun dieser Wiener Zweig geschlossen wurde, sobald Gottfried Bermann Fischer wieder in Deutschland verlegerisch tätig werden konnte, so erwies sich die Entscheidung eines anderen bedeutenden Exilverlegers als bemerkenswert nachhaltig: Emil Oprecht, der den vom Nationalsozialismus vertriebenen Schriftstellern in Zürich auf großzügigste Weise eine verlegerische Heimat geboten hatte, gründete im Jahr 1947 in Wien eine Niederlassung seiner Europa Verlags-AG und brachte hier von Anfang an Bücher heraus, die sich durch Qualität und Machart positiv vom Gros der sonstigen Produktion abhoben. Zu ihnen gehörten 1947 Robert Lucasʼ (d. i. Robert Ehrenzweig) Teure Amalie, vielgeliebtes Weib! Die Briefe des Gefreiten Adolf Hirnschal an seine Frau in Zwieselsdorf, die aus einer BBC-Sendereihe während der Kriegsjahre heraus entstanden waren; bei Europa erschienen ferner Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler, Alice Herdan-Zuckmayers Die Farm in den grünen Bergen oder Ludwig Marcuses Philosophie des Glücks. 1950 kam das aufsehenerregende Werk Ein Gott der keiner war heraus, in welchem Ignazio Silone, Richard Wright, André Gide, Louis Fischer und Stephen Spender ihre Abkehr vom Kommunismus schilderten. Der Europa Verlag wurde nach Oprechts Tod 1953 an den Österreichischen Gewerkschaftsbund verkauft und verfolgte weitere vierzig Jahre lang erfolgreich die freiheitlich-humanistische Tradition des Verlagsgründers; nach Stilllegung, mehrfachem Weiterverkauf und dem Erwerb 2012 durch Christian Strasser existiert der Verlag heute (2020) noch in München (2015 übernahm Strasser auch den Europa Verlag Zürich). Zu den größten Hindernissen für ein verlegerisches Engagement in Sachen Exilliteratur gehörte nach dem Krieg auch in Österreich ein politisch-gesellschaftliches Klima, das prinzipiell von einer (jahrzehntelang fortgesetzten) Weigerung zur kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit geprägt war; man zog es vor, sich als »erstes Opfer« Hitler-Deutschlands zu verstehen. Im Unterschied zu Westdeutschland war in Österreich die Kommunistische Partei zwar zu keinem Zeitpunkt verboten, auch wirkte den Zuspitzungen des Kalten Krieges nach dem Staatsvertrag 1955 die staatliche Neutralitätspolitik entgegen, dennoch kam es am Beginn der 1950er Jahre zu einem Erstarken antilinker Kräfte, das sich am deutlichsten im Kulturbereich, im bereits erwähnten Brecht-Boykott äußerte.219 Es waren hauptsächlich die selbst aus der Emigration heimgekehrten Hans Weigel und Friedrich Torberg, die – mit Unterstützung aus dem Ausland – dafür sorgten, dass zwischen 1953 und 1963 kein österreichisches Theater Stücke von Brecht aufführte (mit Ausnahme des Wiener Scala-Theaters, an dem mit dem Kommunismus sympathisierende Regisseure und Schauspieler tätig waren). Da Brecht stellvertretend für eine ganze, aus dem antifaschistischen Exil heimgekehrte Autorengeneration als Zielscheibe diente, war eine denkbar ungünstige Atmosphäre gegeben für die Propagierung einer Literatur, die in Teilen polemisch unter Kommunismusverdacht gestellt werden konnte. Infolgedessen gab es, wie in West-Deutschland,220 seit Mitte der 1950er Jahre auch in Öster219 Vgl. Palm: Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht und Österreich. 220 Ein Pendant zur deutschen Gruppe 47, mit der die »Daheimgebliebenen« die literarische Nachkriegsszene dominiert und Exilliteratur als veraltete, ideologisierte Ismen-Literatur zurückgewiesen hätten, hat es in Österreich allerdings nicht gegeben.
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reich keinen Verlag mehr, der eine konsequente exilliterarische Programmschiene entwickelt hätte; es blieb bei eher zufälligen Einzelpublikationen, die innerhalb der oft bunt zusammengewürfelten Verlagsprogramme keine Umgebung fanden, in der sie hätten zur Wirkung kommen können. Insgesamt waren in Österreich die Buchverlagsstrukturen so schwach entwickelt, dass sie einen offensiven Umgang mit dem Thema Exilliteratur kaum erlaubten. Zudem fokussierte sich die Publikationstätigkeit der Verlage fast zur Gänze auf die Werke österreichischer Exilanten der zweiten und dritten Reihe (die bedeutenderen Autoren waren schon im gesamten 20. Jahrhundert in deutsche Verlage abgewandert); auch dies limitierte die Möglichkeiten für ein Hineinwirken in den gesamten deutschsprachigen Raum. Im Grunde dauerte es Jahrzehnte, bis das Thema Exil in österreichischen Verlagen wieder einen Stellenwert bekam.221 Es war der Löcker Verlag, der mit ersten Wiederentdeckungen in den 1970er Jahren das Terrain neu bestellte (Alfred Polgar, Albert Fuchs, Emil Szittya, Fritz Grünbaum), später folgten andere Verlage, wie der 1984 gegründete Picus Verlag, der in der Reihe »Österreichische Exilbibliothek« erzählerische oder autobiographische Werke von Paul Elbogen, Richard A. Bermann (Ps. Arnold Höllriegel), Eva Kollisch, Hans Eichner, Leo Spitzer, Lore Segal, Jakov Lind und noch anderen veröffentlichte. Der Reihentitel ist abgeleitet aus der Kooperation mit der Österreichischen Exilbibliothek, die – angesiedelt im Literaturhaus Wien – seit ihrer Gründung 1993 ein Veranstaltungsprogramm betreibt, das zu zahlreichen literarischen Wiederentdeckungen geführt hat. Verdienste erworben hat sich auch die Theodor Kramer-Gesellschaft, die sich der Exilforschung verschrieben hat und neben einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift und einem Jahrbuch Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands (früher: Mit der Ziehharmonika) teils in Verbindung mit dem Verlag für Gesellschaftskritik / Döcker Verlag in dessen Reihe »Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte« zahlreiche Buchpublikationen herausgebracht hat, u. a. mit Werken von Stella Rotenberg, Anna Krommer, Theodor Kramer, Felix Pollak oder Berthold Viertel. Mit dem Erscheinen des Lexikons der österreichischen Exilliteratur im Jahr 2000 war dann auch ein Überblick über das gesamte Personen- und Themenfeld gegeben.
8.2
Wirkungsaspekte des Exils in internationaler Perspektive
Das Thema »Buchhandel im Exil« lässt sich, wie mehrfach angemerkt, nicht auf die Jahre 1933 bis 1945 einschränken; in diesen Zeitraum fallen oft nur die Anfänge der nicht selten über Jahrzehnte andauernden und in mancher Hinsicht bis in die Gegenwart spürbaren Wirksamkeit der buchhändlerischen Emigration. Zwangsläufig musste daher in den zurückliegenden Kapiteln bereits einiges über die zuweilen weit über 1945 hinausreichende und in vielen Fällen sogar erst nach 1945 einsetzende Tätigkeit emigrierter Verleger, Buchhändler, Antiquare und Literaturagenten berichtet werden. Von besonders nachhaltigem Effekt und auch staunenswerten Erfolgen geprägt war diese Tätigkeit
221 Vgl. zu diesem Thema auch Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung.
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in den USA und in Großbritannien, weshalb diesen beiden Ländern im Folgenden noch gesondertes Augenmerk geschenkt werden soll, wenn es darum geht, die Wirkungsgeschichte von Vertreibung und Exil in ihrer internationalen Dimension zu veranschaulichen.
Emigranten als »Kulturverleger« auf dem amerikanischen Buchmarkt Deutliche Spuren hinterlassen haben im amerikanischen Publishing Business bis in die Gegenwart zunächst jene Emigranten, die ein charakteristisch europäisches Verständnis von der Aufgabe des Verlegers eingebracht haben. Besonders in Deutschland hatte sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Typus des »Kulturverlegers« herausgebildet, der sich in erster Linie seiner kulturellen Aufgabe verpflichtet gefühlt hat und bereit war, seine ökonomischen Interessen hintanzustellen. Diese Interpretation verlegerischen Tuns – vor 1933 verkörpert von markanten Persönlichkeiten wie Samuel Fischer, Eugen Diederichs, in anderer Weise von Ernst Rowohlt und Gustav Kiepenheuer – repräsentierte unter den Emigranten niemand überzeugender als Kurt Wolff mit Pantheon Books. Bemerkenswert erscheint an der Geschichte des New Yorker Verlags, wie offensiv diese besondere Grundeinstellung über Jahrzehnte durchgehalten und verfochten worden ist, nämlich nicht allein von Kurt Wolff selbst, sondern ebenso von seiner Frau Helen, die an der Seite ihres Ehemannes und über dessen Unfalltod 1963 hinaus in dem Imprint Helen and Kurt Wolff Books den nicht zuletzt von intensiver Autorenpflege gekennzeichneten Kurs beibehalten hat. Unterstützung fanden die beiden in den Anfangsjahren (bis 1950) vor allem durch Jacques Schiffrin; eine glückliche Konstellation führte dazu, dass Pantheon Books – nachdem sich die Wolffs von dem Verlagshaus getrennt hatten – von Jacquesʼ Sohn André Schiffrin geleitet wurde, nunmehr aber unter dem Dach eines Konzerns. Rund 30 Jahre lang hat André Schiffrin diese Aufgabe im Sinne der Verlagsgründer wahrgenommen, bis er sich entschloss, mit The New Press einen eigenen, unabhängigen Verlag zu errichten. Wie er über die aus seiner Sicht fatale Entwicklung auf dem Buchmarkt dachte, geht u. a. aus seinen Büchern mit den sprechenden Titeln Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher222 und The Business of Books: How the International Conglomerates Took Over Publishing and Changed the Way We Read hervor.223 Aber auch in seinem Erinnerungsbuch Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers224 hat sich André Schiffrin ganz klar zur Tradition eines europäisch geprägten Kulturverlegertums bekannt. Vor diesem Hintergrund kann es als eine Art Ironie der Geschichte betrachtet werden, dass es deutsche Medienkonzerne waren – Bertelsmann und Holtzbrinck –, die seit den 1980er Jahren in den USA zahlreiche Traditionsverlage aufgekauft und unter ihren Konzerndächern vereinigt haben, somit als Speerspitze der rein auf Markterfolg abgestellten Buchproduktion gebrandmarkt werden konnten. Bertelsmann hatte erste Schritte zu seiner internationalen Expansion in den USA mit dem Erwerb von Bantam Books
222 Berlin: Wagenbach 2000; zuvor in französischer Sprache erschienen: L’édition sans éditeurs. Paris: La Fabrique 1999. 223 London: Verso 2001. 224 Berlin: Matthes & Seitz 2010; zuvor erschienen u. d. T. A Political Education: Coming of Age in Paris and New York. Hoboken, NJ: Melville House 2007.
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1977/1980 unternommen, 1986 Doubleday und 1998 Random House hinzugekauft, dazwischen und nachfolgend noch andere Verlage und Medienunternehmen; zeitweise war Bertelsmann der größte Medienkonzern der Welt. Holtzbrinck formierte 1985 die Henry Holt Book Company und kaufte 1994 die Mehrheitsanteile von Farrar, Straus & Giroux (darin auch Faber & Faber) und in den darauffolgenden Jahren 70 % der Macmillan Group sowie eine ganze Anzahl weiterer Verlage wie Picador, St. Martinʼs Press oder Tor Books (sämtlich unter dem Dach von Macmillan vereinigt). Auf diese Weise wurde die Konfrontation zwischen traditionalistischem Kulturverlegertum, wie es die deutschen und österreichischen Emigranten in erster und zweiter Generation vertraten, und scheinbar zukunftsweisender marketinggetriebener Konzernverlagsindustrie, wie sie von deutschen Großunternehmen repräsentiert wurde, auch auf US-amerikanischem Boden ausgetragen. Im Übrigen war die Geschichte von Pantheon Books als Emigrantenverlag mit dem Weggang André Schiffrins 1990 keineswegs zu Ende. Sein Nachfolger wurde Fred Jordan (eig. Rotblatt), geboren 1925 in Wien, der seit 1949 in verschiedenen US-Verlagshäusern tätig war.225 Jordan war 1939 mit Hilfe der zionistischen Jugendorganisation Youth Aliyah nach Großbritannien entkommen, hatte nach seinem Dienst in der britischen Armee Journalismus in London studiert, war aber noch 1946 nach Wien zurückgekehrt und arbeitete dort bis zum Abschluss seines Studiums für die Tageszeitung der amerikanischen Besatzungskräfte Basic News. Das Jahr seiner Anstellung 1956 bei dem bedeutenden New Yorker Verlag Grove Press markiert den Beginn einer steilen Karriere: Jordan begann als »sales and promotion manager«, wurde 1960 Editor-in-Chief und schließlich Vizepräsident. Rund 15 Jahre lang leitete er Grove Press, einen Verlag, der Autoren wie Samuel Beckett, Eugène Ionesco und Harold Pinter zu seinem Autorenstamm zählte. 1977 verließ er Grove Press und arbeitete bei Grosset and Dunlap Inc. in New York; 1979 kündigte er auch hier und wurde Präsident und Verleger bei Methuen Inc., ebenfalls in New York. 1981 machte er sich selbständig und gründete die Fred Jordan Books. Aufgrund seines verlegerischen Profils wurde er 1990 als Nachfolger André Schiffrins zum Leiter von Pantheon Books berufen und fungierte von 1991 bis 1993 als Chairman des Unternehmens. Damit repräsentiert Jordan den Typus des Verlegeremigranten, der seinen Beruf erst in den USA erlernt hat, der aber im Rahmen seiner von Managerpositionen geprägten Laufbahn immer wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt ist und insofern eine Synthese von europäischer und amerikanischer Expertise verkörpert. Die Fahne des konzernunabhängigen, kulturverlegerisch inspirierten Verlegertums wurde bis in die unmittelbare Gegenwart hochgehalten auch von Robert Weil, Sohn deutscher Hitleremigranten, der lange Zeit Executive Editor der 1923 gegründeten W. W. Norton & Company war, die sich heute mit berechtigtem Stolz als größter »independent« und zugleich »employee-owned publisher in the United States« bezeichnet.226 Der Verlag produziert in seinen »trade, college, and professional departments« jährlich an die 400 Titel und vertreibt seine Produktion weltweit. Bob Weil, der immer wieder
225 Vgl. u. a. Who’s Who in America, Ausgabe 2001; Saur: Deutsche Verleger im Exil 1933 bis 1945 (2008), S. 221 f. – 2013 wurde der Nachlass Fred Jordans vom Deutschen Exilarchiv Frankfurt am Main erworben. 226 Siehe die Homepage des Verlags: https://www.wwnorton.com/
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auch in Vorträgen und Diskussionen als Vertreter der europäischen Verlagsphilosophie hervortrat, ist zuletzt als Editor-in-Chief von Liveright tätig gewesen, eines Imprint von W. W. Norton, das sich durch eine illustre Autorenliste mit Namen wie William Faulkner, Gertrude Stein, E. E. Cummings, Sigmund Freud oder Bertrand Russell auszeichnet. In die typisch »europäische« Linie sind auch noch andere Verlage einzuordnen, so etwa Schocken Books, vor allem aufgrund seiner Kafka-Ausgabe, mit der der Prager Autor in den USA berühmt geworden und so in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen worden ist.227 Speziell auf College- und Universitätsebene wirksam in der Vermittlung europäischer Literatur war Frederick Ungar mit seinem über Jahrzehnte außerordentlich produktiven Verlag; er hat für Generationen amerikanischer Germanistikstudenten Lesestoff bereitgestellt. Die intellektuelle Debatte entscheidend befördert – meist über Themen der europäischen Geistesgeschichte – hat Dagobert Runes mit seiner breit angelegten »Philosophical Library«. Bemerkenswert aber auch sein unternehmerischer Stil: Selbst umfassend gebildet, hat er als Herausgeber von Textkompilationen und als Autor von Essaybänden, Nachworten oder lexikalischen Artikeln eine überaus aktive Verlegerrolle eingenommen; stets ging es ihm mehr um eine Förderung der Wissenskultur als um Markterfolge um ihrer selbst willen.
Die Rolle deutschsprachiger Emigranten im US-Taschenbuchmarkt und in Buchgemeinschaften Der aufstrebende amerikanische Taschenbuchmarkt bot seit den 1940er Jahren emigrierten deutschen Verlegern großartige unternehmerische Entfaltungsmöglichkeiten. Das Klischee vom »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« erwies sich hier in nicht wenigen Fällen als sehr realistisch, wie sich bereits am Beispiel von Kurt Enoch demonstrieren ließ, der einen erheblichen Anteil an der Entwicklung des amerikanischen Taschenbuchmarktes gehabt hat. Das moderne Taschenbuch war ja mitnichten eine englische oder amerikanische Erfindung; an seinem Beginn stand vielmehr ein von der Tauchnitz-Edition und Albatross abgeleiteter Buchtypus, an dessen Entwicklung Enoch als Mitinhaber des Albatross-Verlags in der Mitte der 1930er Jahre führend beteiligt war. Dieser Typus wurde von Allen Lane mit Penguin nachgeahmt und – wieder mithilfe Enochs als USRepräsentanten von Penguin – im gesamten englischsprachigen Raum popularisiert, von wo aus er nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland zurückgekehrt ist. In den Vereinigten Staaten eröffnete der in der Hauptsache von Enoch entwickelte Typus des »quality paperbacks« ein neues Segment innerhalb des Taschenbuchmarktes und belegt in seiner Person so die besonderen Fähigkeiten, die deutsche Verlegeremigranten in diesen Kernzonen des amerikanischen Verlagsgeschäfts entwickelten. Im Fahrwasser Enochs hat sich Peter Mayer* (1936 London – 2018 New York) sowohl im US-amerikanischen wie im britischen Taschenbuchmarkt an führender Position behauptet. Mayer war ein Repräsentant jener zweiten Generation, die in der Emigra-
227 Zum Schocken Verlag in den USA siehe u. a. Theodor Schocken: Schocken Books: TwentyFive Years of Judaica Publishing in America; sowie den entsprechenden Abschnitt im Kap. 5.2.3 Judaica-Verlage. Zu den im Folgenden erwähnten Exilverlagen von Ungar, Runes, Enoch und Koppell siehe die entsprechenden Abschnitte im Kap. 5.2.1 Belletristische Verlage.
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tion aufgewachsen ist. Seine Familie stammte aus Essen, er selbst war bereits in London zur Welt gekommen und als Dreijähriger in die USA gelangt; nach Besuch des Columbia College und zwischenzeitlichem Studium der Politik, Volkswirtschaft und Philosophie in Oxford (GB) nahm er ein Studium für vergleichende französische und deutsche Literatur an der Universität Indiana auf. Zum Abschluss seiner Studien verbrachte er ein Jahr mit einem Fulbright-Stipendium an der Freien Universität in Berlin. 1960 nahm er seine erste Anstellung in einem Verlag an und kam 1963 als Lektor zu Avon Books, einem der größten Taschenbuchverlage in den USA, der zum Hearst-Pressekonzern gehörte. Bereits ein Jahr später war Mayer Editor-in-Chief und kurze Zeit darauf Vizepräsident des Unternehmens und Verlagsleiter.228 1971 gründete er zusammen mit seiAbb. 2: In Peter Mayer vereinigten sich wirtschaftlicher Spürsinn, jahrzehntelang nem Vater in New York einen eigenen Verlag, bewiesen auf dem US-Taschenbuchmarkt, Overlook Press Inc., bekam dann aber sehr bald die Chance, die Leitung der Pocket Book Diviund leidenschaftliches, europäisch geprägtes Verlegertum. sion von Simon & Schuster zu übernehmen. 1978 wurde er an die Spitze von Penguin International berufen und wechselte aus diesem Grunde wieder von New York nach London. Die Stellung als CEO hatte er 19 Jahre lang inne und gründete in diesem Zeitraum u. a. Penguin India (allen Hindernissen zum Trotz hielt er an der Publikation von Salman Rushdies Satanischen Versen fest) und Penguin China; auch war er maßgeblich daran beteiligt, die von Kurt Enoch ins Leben gerufene »New American Library« wieder in die Penguin-Strukturen zu integrieren. Ende 1997 zog sich Mayer aus Penguin International zurück, mit der Absicht, als unabhängiger Verleger weiter tätig zu bleiben – Overlook Press war in Woodstock / New York die gesamte Zeit über bestehen geblieben. Der general-interest-Verlag brachte an die 100 fiction und non-fiction Titel jährlich heraus, teils als Hardcover, teils als Taschenbuch, und führte eine Backlist von rund tausend Titeln: Romane, auch Dramentexte, Biographien, Bücher zu Geschichte und Design. 2002 beteiligte sich Overlook Press an Arvis Publishing, einem auf russische Literatur in englischer Sprache spezialisierten New Yorker Verlag, mit dem Mayer ein umfangreiches Übersetzungsprojekt in Gang setzte, sowie an Duckworth, einem Londoner Independent-Verlag, über den er für Overlook-Titel eine Brücke zum britischen Buchmarkt herstellte. Von früheren Mitarbeitern und Kollegen wird Mayer als ein Vertreter eines konservativen Geschäftsstils beschrieben, weil er stets sehr intensive Autorenbeziehungen pflegte, allerdings auch als außerordentlich dynamischer Vollblutverleger, der für den Paperback-Bereich kommerziell
228 Vgl. Aufbau vom 24. Juli 1970, S. 6.
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höchst erfolgreiche Marketingstrategien entwickelte: »He lives and breathes publishing and it was very infectous« (Mark Gompertz, Simon & Schuster).229 In Nachrufen wurde er – über 50 Jahre ein treuer Besucher der Frankfurter Buchmesse und Mitglied im Beirat des German Book Office New York – als »charismatic and influential book publisher« charakterisiert.230 Overlook Press wurde nach Mayers Tod an Abrams Books verkauft.
Emigranten im Musik-, Kunstbuch- und Sachbuchverlag Von Verlegeremigranten ausgelöste oder beförderte Tendenzen der Internationalisierung lassen sich nach 1945 in unterschiedlichsten Sparten beobachten, so z. B. im Musikverlagswesen. Das von Walter Hinrichsen gemeinsam mit seinem Cousin Walter Bendix in New York gegründete Zweigunternehmen von C. F. Peters liefert ein solches Beispiel, indem es nicht nur mit dem in Frankfurt am Main wiederaufgebauten Stammunternehmen, sondern auch mit dem in London errichteten Verlag seines Bruders Max kooperierte. Ähnliche Verbünde ergaben sich auch aus den Verlagsgründungen bzw. leitenden Positionen der Emigranten, die ehemals in der Wiener Universal Edition tätig gewesen waren, wodurch sich Brückenschläge zu amerikanischen Verlagen wie bei Boosey & Hawkes oder G. Schirmer (Hans W. Heinsheimer, Alfred A. Kalmus, Ernst Roth, Kurt Stone, Erwin Stein) ergaben, die in der Folge ebenfalls zu einer weiter fortschreitenden Globalisierung des schon zuvor relativ stark international ausgerichteten Musikverlagswesens beitragen sollten.231 In der amerikanischen Verlagsindustrie bildeten Verlage mit thematisch breit gestreuten, sich an ein großes Publikum wendenden Sachbuchprogrammen schon vor der Ankunft der Emigranten einen durchaus hoch entwickelten Bereich. Doch auch in diesem Sektor haben sich einige von ihnen in bemerkenswerter Weise in Szene setzen können. Erinnert sei etwa an die Chanticleer Press von Paul Steiner, der auf dem Gebiet der natur- und kunstgeschichtlichen Literatur nicht nur beachtlich erfolgreiche Serien u. a. in Gestalt von millionenfach verkauften »Pocket guides« herausbrachte, sondern mit großformatigen, aufwändig produzierten Fotobildbänden auch der Entwicklung des »coffee table book« entscheidende Impulse gab und dessen Geschäfte ebenfalls einen internationalen, Deutschland mit einschließenden Radius entwickelten.232 Beeindruckend, trotz oder wegen aller Höhen und Tiefen, Brüche und Neuanfänge, verlief die Verlegerkarriere von Frederick A. Praeger* (1915 Wien – 1994 Boulder /
229 New York Times v. 16. Februar 1998 (D, S.1; Late Edition, East Coast). ‒ Peter Mayer war auch als Herausgeber von Anthologien (The Pacifist Conscience) und literarischen Arbeiten verschiedener Art hervorgetreten; nebst anderen Auszeichnungen erhielt er 2007 den Poor Richard Award des New York Center for Independent Publishing und 2008 den Lifetime Achievement Award der London Book Fair. Vgl. Peter Mayer to be Honored at 2007 NYCIP Benefit (New York Center for Independent Publishing) [online]. 230 Hannah Johnson: Remembering Book Publisher Peter Mayer. In: Publishing Perspectives, 14. Mai 2018 [online]. 231 Siehe hierzu das Kap. 5.2.6 Musikverlage. 232 Siehe Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage.
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Colorado).233 Der Sohn des bekannten Wiener Buchhändlers Dr. Max (Mayer) Präger hatte in Wien und Paris Jura studiert und parallel dazu zeitweilig als Redaktionsmitglied des Judaica-Verlags R. Loewit gearbeitet.234 1938 konnte er in die USA entkommen, diente in der US-Army und war nach Kriegsende als Kulturoffizier des amerikanischen Military Government in Deutschland tätig. Nach seiner Rückkehr arbeitete er zunächst in New York in der Buchabteilung der Nassau Distributing Company, wo er die aus Mitteln des Marshall-Planes finanzierte »Frankfurter Internationale Verlagsauslieferung« für den Vertrieb amerikanischer Bücher in den westlichen Besatzungszonen in Deutschland organisierte und wenig später in New York Praegers Bookshop eröffnete. 1950 gründete er in Manhattan mit 4.000 geborgten Dollar den Verlag Frederick A. Praeger Inc. und nahm zunächst Sachbuchtitel englischer Verlage ins Programm; bald jedoch spezialisierte er sich, auch dank seiner guten CIA-Kontakte, auf internationale Politik und besonders auf Bücher über den Kommunismus (»The Praeger Publications in Russian History and World Communism«). Insgesamt waren es wohl mehr als 60 Titel, die den Verlag Frederick A. Praeger zum führenden Verlag von Büchern zum Kalten Krieg machten, mit Ausgaben von Howard Fasts The Naked God. The Writer and the Communist Party (1957), Milovan Djilas’ A new Class: An Analysis of the Communist System (1957)235 und von Alexander Solschenyzins One Day in the Life of Ivan Denisovich (1963; Nobelpreis 1970), absoluten Bestsellern ihrer Zeit; allein von Djilas wurden drei Millionen Exemplare verkauft. In einem Nachruf auf Praeger in der New York Times hieß es, sein Verlag habe für viele »Western readers« ihre »first incisive views of life under Communism« gebracht.236 Praeger belegt mit seinem Verlag schlagend die wichtige Rolle der Emigranten bei der Überwindung der isolationistischen Sicht Amerikas zugunsten eines verstärkten Interesses an einer transatlantisch geführten politischen Debatte; zugleich repräsentiert er den spezifischen Beitrag der Emigration zur Stärkung und Verbreitung eines ideologischen Antikommunismus in der Nachkriegswelt. Einen weiteren erfolgreichen Programmsektor hatte Praegers Verlag im Bereich der Kunst, u. a. mit der »Praeger World of Art«-Serie. Bereits in den späten 1950er Jahren übernahm er den US-Vertrieb des noch jungen, von Walter und Eva Neurath in London gegründeten Kunstbuchverlags Thames & Hudson, mit dem zusammen er für den ameri-
233 Schriftliche Auskünfte von Klaus G. Saur an den Verfasser, 18. Juli 2001; Koepke: Exilautoren und ihre deutschen und amerikanischen Verleger in New York, S. 1437; Edelman: Frederick A. Praeger: Apostle of anti-communism who built two publishing houses. 234 SStAL, BV, F 5.875 (Fa. Löwit, Wiesbaden, Berlin); Frederick A. Präger: Dr. Max Mayer Präger. In: Hugo Gold: Geschichte der Juden in Österreich. Tel Aviv: Edition Olamenu 1971, S. 112. 235 Der Autor Howard Hunt, Mitarbeiter in der CIA-Abteilung »Domestic Operations Division«, die unter der Leitung von Tracy Barnes die Nutzung von Literatur als antikommunistische Waffe forcierte, berichtete rückblickend: »[…] those covert action projects that came to me were almost entirely concerned with publishing and publications. We subsidized significant books, for example, The New Class by Milovan Djilas (the definitive study of Communist oligarchies), one of a number of Frederick A. Praeger Inc. so supported.« (Saunders: The Cultural Cold War, S. 207). Siehe hierzu auch das Kap. 8.1 Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich nach 1945. 236 Richard D. Lyons: Frederick A. Praeger Dies at 78; Published Books on Communism. In: The New York Times, 5. Juni 1994, S. 48.
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kanischen Buchmarkt die (in Deutschland gedruckte) Praeger Picture Encyclopedia of Art koproduzierte. Ertragreich und politisch einflussreich war das »Praeger Special Studies«-Programm: von Institutionen finanzierte Publikationen in limitierter Auflage zu Themen internationaler Ökonomie und Politik, deren Abnehmer Behörden, Forschungseinrichtungen und Führungskräfte waren. 1964 kamen in dem Verlag insgesamt immerhin 200 Hardcover- und 40 Taschenbuchtitel heraus, bis 1966 fast 1.500 Titel, mit Übersetzungen in 46 Sprachen. Damals, 1966, verkaufte Praeger den Verlag, von dem er 53 % der Aktien und sein Manager, der Wiener Emigrant George Aldor* (1910 Wien – 1999 Paris),237 einen 7,5 % -Anteil besaß, für 2,5 Millionen Dollar an die Encyclopaedia Britannica Inc.238 Er selbst setzte seine verlegerische Arbeit zunächst noch mit der Publikationsreihe »Praeger Library of US Government Departments and Agencies« fort, richtete sein verlegerisches Augenmerk in der Folge jedoch ganz auf Europa: Bereits seit 1962 hatte er als Vorstandsvorsitzender bei Weidenfeld & Nicolson in London fungiert (mit Weidenfeld teilte Praeger die strikte Ablehnung des Kommunismus), 1967 wurde er zusätzlich Vorstandsvorsitzender von Phaidon Press, dem von Béla Horovitz nach London verlagerten bedeutenden Kunstbuchverlag.239 Beide Posten legte Praeger 1968 nieder, nachdem er durch die Finanzierung seiner verlegerischen Aktivitäten in den Fokus der Öffentlichkeit geraten war. Er ging nach Deutschland und wurde dort Inhaber des Axel Juncker Verlags und 1971 in München Verleger des Schuler Verlags (bis 1974). In Österreich wurde Praeger Teilhaber des Verlages Fritz Molden (Wien, München) und erlitt bei dessen späterem Konkurs beträchtliche Vermögensverluste, wie zuvor schon bei seinem Engagement als Hauptgesellschafter des Axel Juncker Verlags. Sein Versuch, in Deutschland mit einem Kunstverlag Edition Praeger als selbständiger Verleger zu reüssieren, blieb ebenfalls glücklos.240 Nach diesen desaströsen Erfahrungen auf dem europäischen Buchmarkt kehrte Praeger 1975 in die USA zurück, wo er in Boulder, Colorado, zusammen mit seinem Freund und Partner Maurice Mitchell den wissenschaftlichen und technischen Verlag Westview Press gründete. Mit diesem Unternehmen eroberte Praeger seinen herausragenden Ruf als Verleger in eindrucksvoller Weise zurück, denn insbesondere mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen auf dem Gebiet der politischen Wissenschaften zog der Verlag einige Aufmerksamkeit auf sich, auch mit der Nachdruck-Reihe »Encore Editions«. Westview
237 Zu Aldors Stationierung als Soldat der US-Army in Deutschland siehe auch die Hinweise im Kap. 8.1 Das Nachleben des Exils in Deutschland und Österreich nach 1945. In New York startete Aldor seine Berufslaufbahn im Export-Import-Business, bevor er General Manager und Aktionär von Praeger Publishers wurde. Nach Praegers Abgang 1968 wurde Aldor Präsident des Verlages und wurde auch in den Vorstand von Phaidon Press berufen. Ab Mitte der 1970er Jahre arbeitete Aldor in Paris für Rizzoli Publishing New York als Berater und vermittelte Titel des europäischen Buchmarktes an das amerikanische Verlagshaus. Vgl. Publishersʼ Weekly, Oct. 25, 1999 [Nachruf; online]. 238 Die Encyclopaedia Britannica verkaufte Praeger 1976 an CBS, 1986 erwarb den Verlag Greenwood Press, heute befindet der Verlag sich unter dem Dach von Reed Elsevier. 239 Vgl. Fischer: The Phaidon Press in Vienna 1923‒1938. 240 Vgl. Tebbel: A History of Book Publishing in the United States, Vol. IV, S. 316. Bei Tebbel heißt es, dass Praeger nach 1968 nach Europa gegangen sei und in München eine »›mini‹ Company« errichtet habe, die er 1974 an den italienischen Verleger Fabbri verkauft habe.
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Press wurde drei Jahre vor Praegers Tod um 4 Millionen $ an SCS Communications verkauft, bis 1991 blieb er dem Unternehmen als Vizepräsident verbunden. Bemerkenswert an der Verlegerpersönlichkeit Praeger erscheinen insbesondere die Netzwerke, in denen seine verlegerischen Aktivitäten eingebettet waren: zum einen war das die Verlegeremigration selbst, zu den großen Buchkunstverlagen Thames & Hudson und Phaidon sowie zu Weidenfeld, zum anderen auf politischer Ebene zu Geheimdiensten und anderen US-Regierungsstellen, die seinen verlegerischen antikommunistischen Feldzug unterstützten. Diese Verbindungen hatte er schon als amerikanischer Kulturoffizier in der Nachkriegszeit angesponnen und dann weiter ausgebaut.
Innovation und Internationalisierung. Verlegeremigranten mit amerikanischem »Think big« im Wissenschaftsverlag Das Faktum, dass es bis zum Beginn der 1940er Jahre in den USA kaum private Wissenschaftsverlage gab, erscheint aus heutiger Sicht mehr als überraschend; tatsächlich aber waren auf diesem Sektor bis dahin hauptsächlich die an Universitäten angeschlossenen Verlage oder ausländische Verlage aktiv. Dies änderte sich durch die deutschen und österreichischen Immigranten in entscheidender Weise; mit den von ihnen aufgebauten Unternehmen haben sie nach 1945 einen nachhaltig wirksamen Beitrag zur Entstehung eines leistungsfähigen »scientific publishing« geleistet. Wenn die USA nach 1945 die eindeutig führende Wissenschaftsnation wurden, so ist der Grund dafür hauptsächlich in der mit die besten Köpfe umfassenden Immigration deutscher und österreichischer Wissenschaftler zu suchen; aber auch die Verlegeremigration hat einen gewissen Beitrag dazu geleistet.241 Die überzeugendsten Beispiele für herausragende Leistungen von Emigranten im amerikanischen Wissenschafts- und Fachverlagswesen lieferten Kurt Jacoby und Walter J. Johnson, die in Leipzig die Akademische Verlagsgesellschaft betrieben hatten und in den USA mit Academic Press einen noch größeren, leistungsfähigeren, weltumspannend tätigen Verlag aufbauten; in den 1990er Jahren brachte das Unternehmen mit zahlreichen Stützpunkten, Filialen und Repräsentanten in allen Erdteilen jährlich rund 400 Titel heraus, hatte 8.000 auf der Backlist und verlegte 180 Zeitschriftenserien. In Europa wurde in London ein eigener Zweig errichtet, von dem aus enge Beziehungen in andere Länder, u. a. nach Deutschland unterhalten wurden, denn Academic Press betätigte sich auch als Importeur europäischer Wissenschaftsliteratur. Innovativ war auch der Typus des Reprintverlags, den sowohl Walter J. Johnson mit der Johnson Reprint Corporation und parallel dazu H. P. Kraus mit Kraus Periodicals und der Kraus-Thomson Organization kreierten; sie haben jeweils viele tausend wissenschaftliche Buch- und Zeitschriftentitel als Reprint produziert, um damit die im Krieg entstandenen Lücken in den Bibliotheken weltweit zu füllen. Hier wie auch noch in vielen anderen Zusammenhängen bedeutete die Kenntnis des deutschsprachigen und europäischen Marktes einen unschätzbaren Vorteil.
241 Alle im nachfolgenden Abschnitt genannten Unternehmen wurden im Kap. 5.2.4 Wissenschafts-, Fach- und Spezialverlage genauer vorgestellt.
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Auch zur Entstehung des heute zu einer globalen, hochprofitablen Verlagsindustrie gewordenen »STM-Publishing« (Scientific, Technical and Medical Publishing) haben von Emigranten gegründete Unternehmen wesentlich beigetragen. Zu verweisen wäre hier auf Eric A. Proskauer, der in Deutschland der Akademischen Verlagsgesellschaft verbunden gewesen war und dessen im US-Exil 1940 gemeinsam mit Maurits Dekker gegründeter Verlag Interscience Publishers als Chemieverlag mit weltweit verbreiteter Produktion überragenden Erfolg hatte, auch mit Lehr- und Standardwerken, die mit deutschen Partnern koproduziert wurden. Im Medizinverlag war es Henry M. Stratton (fr. Slutzker), der die rasche Expansion und Verzweigung des Fachverlags Grune & Stratton vorantrieb und ihm auf mehreren Gebieten wie vor allem der Hämatologie, aber auch der Herz-Kreislauf-Medizin, der Nuklearmedizin und der Psychiatrie eine führende Stellung sicherte. In mehr als einem Fall eröffnete sich über die Exilgründungen nach 1945 auch für deutsche Verlagsunternehmen ein Zugang zum lukrativen US-Buchmarkt. Ein Beispiel dafür ist der nach dem Weltkrieg in Heidelberg angesiedelte wissenschaftliche Springer Verlag, für den Academic Press als Vertriebspartner fungierte;242 ein anderes Beispiel ist der Stuttgarter Thieme Verlag, der 1979 gemeinsam mit Grune & Stratton den Verlag Thieme Stratton Inc. gründete. Die Globalisierung der Buchwirtschaft wurde durch solche transatlantische Kooperationen zweifellos kräftig gefördert. Es gab aber noch andere Querverbindungen: Bei Grune & Stratton war seit 1945 auch der 1938 in die USA emigrierte Bernhard Springer tätig gewesen, bis er 1950 in New York einen eigenen medizinischen und psychologischen Fachverlag gründete, die Springer Publishing Company, die eine Zeit lang auch als Generalvertretung des deutschen Springer Verlags fungierte. Die nach seinem Tod 1970 von Bernhard Springers zweiter Frau Ursula geleitete Springer Publishing Company spezialisierte sich mit Erfolg auf Literatur zur Krankenpflege und benachbarte Gebiete. Aber nicht nur die Naturwissenschaften und Life Sciences, sondern auch die Geisteswissenschaften waren Schauplatz beachtlicher Verlegerlaufbahnen von Emigranten. So etwa hat Eric H. Boehm mit ABC-Clio einen der international bedeutendsten Reference-Verlage aufgebaut, der bibliographische Information über die Geschichtsforschung vermittelte; darüber hinaus hat er mit seiner Aufgeschlossenheit gegenüber innovativen Technologien Anerkennung erfahren. Unternehmen wie ABC-Clio haben jenem globalen System der Informationsversorgung das Terrain bereitet, das unsere heutige Welt des Wissens und der Wissenschaft prägt. Noch ein anderes Beispiel soll genannt werden: Unter den Emigranten, die kein eigenes Unternehmen geführt haben, aber in leitenden Stellungen im amerikanischen Verlagswesen tätig waren, verdient William H. Hendelson* (ursprgl. Willy Hendelsohn, 1904 Berlin – 1975 New York) besondere Hervorhebung. 1904 in Berlin zur Welt gekommen, wurde er bereits 1922 Mitgesellschafter im Knaur Verlag, wo er mit Knaurs
242 Vgl. etwa die »Co-publishing Agreements« des Heidelberger Springer-Verlags am Beginn der 1960er Jahre; als Partner (oder »Brückenköpfe«), die bei der Eroberung des englischsprachigen Markts Hilfestellung leisten sollten, werden ausdrücklich Academic Press, Interscience und Grune & Stratton genannt (Götze: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Teil II, S. 85 f.).
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Enzyklopädie und Knaurs Weltatlas zwei sehr erfolgreiche Verlagsobjekte herausbrachte.243 1934 mussten er und sein Bruder den Knaur Verlag dem Geschäftsführer Adalbert Droemer überlassen, Willy Hendelsohn ging 1938 nach New York und war dort 1940/ 1941 bei Doubleday, von 1941 bis zu seinem Tod 1975 bei dem Enzyklopädieverlag Funk & Wagnalls als leitender Redakteur und Herausgeber tätig. In diesen Jahrzehnten hat er die Entstehung einer bedeutenden Zahl von Enzyklopädien und Jahrbüchern beaufsichtigt, allen voran die Entwicklung der New Encyclopedia, die in 29 Bänden 1971 herauskam und nachfolgend immer wieder ergänzt und bearbeitet worden ist. Die Rechte an Funk & Wagnalls’ Encyclopedia wurden später von Microsoft erworben und lieferten die Basis für die erste, 1993 erschienene Ausgabe der von Microsoft auf CD-ROM vertriebenen Multimedia-Enzyklopädie Encarta, die nachfolgend durch weitere Zukäufe und die Entwicklung eigener Inhalte stark erweitert und aktualisiert worden ist. Auch wurden durch Redaktionen in mehreren Ländern, namentlich auch in Deutschland, diese Inhalte nicht nur in die jeweilige Sprache übersetzt, sondern »lokalisiert«, d. h. an die Rezeptionsvoraussetzungen in den einzelnen Gesellschaften angepasst (so etwa ist der Blick auf den Ersten Weltkrieg in Europa ein völlig anderer als in den USA). Der bis 2009 anhaltende, weltweite Siegeszug der (seit 2000 online zugänglichen) Encarta,244 die u. a. auch millionenfach beim Neukauf von PCs mitgeliefert wurde, hat somit seinen Ursprung nicht zuletzt im lexikonverlegerischen Knowhow von William H. Hendelson. Als Fazit lässt sich festhalten, dass deutsche und österreichische Emigranten in den Vereinigten Staaten sowohl für die strategische Erschließung und Durchdringung neuer Märkte und Marktsegmente wie auch für die Perfektionierung des Buchmarketings und die Optimierung von Produktionsabläufen und Vertriebsformen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Dabei beruhten viele erfolgreiche Karrieren auf einer Synthese von in Europa gesammelten Kenntnissen und Erfahrungen mit amerikanischer Großzügigkeit und Entrepreneur-Gesinnung. Indem die Immigranten bereit waren, nicht nur ihr mitgebrachtes Knowhow anzuwenden, sondern sich auch an die amerikanische Unternehmenskultur zu akkommodieren, haben sie innerhalb dieser Strukturen nicht selten eine herausragende Position erringen können; auch waren sie durch ihre besondere Stellung dafür prädestiniert, zur interkontinentalen Vernetzung der Buchindustrien beizutragen.
Emigranten auf dem britischen Buchmarkt Großbritannien war Schauplatz sowohl des Aufstiegs von Exilverlagen zu Weltunternehmen wie auch geradezu märchenhafter individueller Verlegerkarrieren von Emigranten der zweiten Generation. Einige Unternehmen aus dem Bereich des Kunstbuchverlags wie der Phaidon Verlag von Béla Horovitz und Ludwig Goldscheider sowie Thames &
243 Hendelsohn war auch persönlich haftender Gesellschafter des 1886 gegründeten Verlagshauses G. Hendelsohn, Berlin, und des Verlags Jugendhort (Walter Bloch Nachf.). 1933 wurde G. Hendelsohn als »erloschen« gemeldet. 244 2008 enthielt die Encarta Premium-Version mehr als 62.000 Artikel sowie umfangreiche Multimedia-Inhalte, darunter 25.000 Bilder und Illustrationen, mehr als 300 Videos sowie Musik-Clips, 3D Virtual Tours, interaktive Angebote, »Timelines«, zahlreiche Karten und einen Weltatlas, Wörterbücher, Essays von Wissenschaftlern u. a. m.
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Hudson von Walter und Eva Neurath wurden bereits näher beleuchtet; beide haben aus dem Londoner Exil heraus auf dem internationalen Kunstbuchmarkt eine führende Stellung erobert und stellen noch heute auf ihrem Feld zwei der bedeutendsten »Global Player« dar.245 Nach 1945 begann aber erst jene Ära des britischen Verlagswesens, die geprägt war von Namen wie Paul Hamlyn und André Deutsch, Tom Maschler und Tom Rosenthal, Marion Boyars, Ernest Hecht und Peter Owen sowie Robert Maxwell und Lord Weidenfeld. Diese neue Generation hochbegabter Verlagsgründer und -manager gilt es im Folgenden vorzustellen; ihre Erfolge lassen den Eindruck entstehen, als habe sie für die Jahrzehnte nach 1945 und fast bis zur Jahrtausendwende eine nachgerade beherrschende Stellung auf dem britischen BuchAbb. 3: Unter Thomas Neurath markt errungen. Dabei beeindruckt nicht allein wahrte der Verlag Thames & Hudson ihre unternehmerische Performance, sondern auf globalisierten Märkten auch die Tatsache, dass sie alle auch hohe ge- seine Unabhängigkeit. sellschaftliche Anerkennung errungen haben – in einem Land, das Immigranten den Aufstieg in die upper class nicht unbedingt leicht werden lässt. In zahlreichen Fällen waren es die direkten Nachkommen von Exilverlegern, denen – teils im familieneigenen Unternehmen, teils außerhalb – eine bemerkenswerte Laufbahn im britischen Verlagsbusiness gelingen sollte. Hier ist noch einmal auf Thomas Neurath (geb. 1940) zu verweisen, Sohn des Thames & Hudson-Verlegers Walter Neurath mit dessen zweiter Frau Margarete, der nach dem Tod seines Vaters 1967 als damals 27-Jähriger das verlegerische Erbe übernahm und das Unternehmen fast vier Jahrzehnte als Managing Director leitete – unterstützt von seiner Stiefmutter Eva Neurath, die als Mitbegründerin des Verlags bis zu ihrem Tod 1991 eine sehr aktive Rolle im Unternehmen spielte.246 Seit 2005 fungierte Thomas Neurath als Chairman von Thames & Hudson, seine Schwester Constance Kaine als stellvertretende Vorsitzende. Inzwischen sind auch zwei Töchter Thomas Neuraths im Verlag Thames & Hudson in leitender Stellung tätig. Der Verlag expandierte unter seiner Leitung weiterhin weltweit und erweiterte auch fortlaufend seine Produktpalette, zu der neben Kunst inzwischen auch Fotografie, Architektur, Grafik und Design sowie Geschichte und Archäologie, außerdem Garten, Mode, Inneneinrichtung und Lifestyle gehören. 2013 – im Jahr seines Rückzugs aus der Firma – erhielt Thomas Neurath für seine verlegerische Leistung im 245 Erinnert sei hier auch an Wolfgang Fogesʼ Adprint, die das Book Packaging-Verfahren in Großbritannien inauguriert und insofern auch einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung der Verlagsindustrie geliefert hat (ebenfalls beschrieben in Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage). 246 Siehe Kap. 5.2.5 Kunstbuchverlage.
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Familienunternehmen, das sich die Unabhängigkeit bis in die Gegenwart bewahrt hat, den »Kraszna-Krausz Foundation’s Outstanding Contribution to Publishing Award«.
Thomas M. Maschler als Verlagsleiter bei Jonathan Cape Auch in der Emigrantenfamilie Maschler kam es zu beruflicher Kontinuität, allerdings nicht im familieneigenen Unternehmen. Über Kurt Leo Maschler* (1898 Berlin – 1986 London) ist bereits in vielfältigen Zusammenhängen berichtet worden, über den Beginn seiner verlegerischen Laufbahn u. a. als Inhaber des Axel Juncker Verlags und seit August 1933 des wichtigsten deutschen Kinderbuchverlags, des Williams Verlags, dessen Hauptautor Erich Kästner war; über die 1934 in Basel erfolgte Gründung des Atrium Verlags, der hauptsächlich der Verwertung der Rechte der in NaziDeutschland verbotenen Bücher Erich Kästners im Ausland dienen sollte; über seine verlegerische Tätigkeit von Mährisch-Ostrau und Wien aus sowie über seine Flucht im Frühjahr 1939 nach London. Ebenso wurde Maschler als Mitbegründer von Lincolns-Prager Publishers Ltd. vorgestellt, sein Engagement bei den Firmen Fine Art Engravers Ltd. und Latimer Trend Abb. 4: Tom Maschler war nicht nur Ltd. und die gemeinsam mit Faber & Faber mit dem Literaturverlag Jonathan Cape vorgenommene Errichtung des Fama Verlags, erfolgreich, sondern gab als Gründer des Booker Prize dem englischen der auf dem internationalen Kunstbuch-Sektor Buchmarkt wichtige Impulse. agierte. Ergänzen ließe sich dieser Überblick durch Hinweise auf vielfältige Aktivitäten, die Maschler u. a. als Netzwerker und Ratgeber für Verlegerkollegen entwickelte;247 in jedem Fall war er nach 1945 eine einflussreiche Persönlichkeit im internationalen Verlagsbusiness. Bemerkenswert erscheint, dass seinem Sohn Thomas / Tom M. Maschler* (geb. 1933 Berlin) eine mindestens so glanzvolle Verlegerlaufbahn beschieden war; gemeinsam mit Tom Rosenthal gehörte er zu den dynamischsten Vertretern der Verlegeremigranten zweiter Generation.248 Er war mit seiner Mutter im Kindesalter 1937/1938 über
247 Etwa gegenüber George Hill vom Cassirer Verlag: »Persönlich und geschäftlich von größtem Gewicht war für Hill jedoch die Freundschaft und der Gedankenaustausch mit dem erfolgreichen Kurt Maschler, der nicht nur die Rechte Erich Kästners verwaltete, Teilhaber oder Besitzer verschiedener Verlage war, sondern grundsätzlich das Verlagswesen im Inund Ausland überblickte.« (Rahel Feilchenfeldt: Abschied von Berlin, S. 333). 248 »Von der jüngeren Generation prägten den britischen Verlagsbuchhandel nach dem Krieg vor allem Tom Maschler, als Leiter von Jonathan Cape ab 1970 einer der erfolgreichsten
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Österreich nach England emigriert und betätigte sich nach der Schulzeit, weil er keineswegs in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, als Reiseveranstalter. 1955 wechselte er dann aber doch in die Verlagswirtschaft, zunächst als »production assistent« bei André Deutsch Ltd., London (siehe weiter unten); es folgte 1956 bis 1958 eine Anstellung als »editor« bei MacGibbon & Kee und von 1958 bis 1960 als »fiction editor« bei Penguin Books. Einen Karrieresprung bedeutete 1960 der Einstieg als »editorial director« bei Jonathan Cape, wo er 1966 als »managing director« die Leitung übernahm. Maschler machte das renommierte, bei seinem Eintritt jedoch wirtschaftlich schwächelnde Verlagshaus in den folgenden zwanzig Jahren, beginnend mit Joseph Hellers Catch-22, und im Weiteren mit Thomas Pynchon, John Fowles, Kurt Vonnegut, Philip Roth, Roald Dahl, Ian McEwan, Malcolm Lowry (Under the Volcano), Julian Barnes, Bruce Chatwin und zahlreichen Nobelpreisträgern (u. a. Doris Lessing, Gabriel García Márquez, Salman Rushdie) zu einem der erfolgreichsten Literaturverlage Großbritanniens: »From the early 1960s to late 1980s, Tom Maschler was Britainʼs most high-profile and successful literary publisher.«249 Als Hauptinitiator des Booker Prize realisierte er ein Buchpromotionkonzept, das für die gesamte britische Buchwirtschaft enorme Bedeutung gewann. In den späten 1980er Jahren wurde Jonathan Cape in Random House eingegliedert, Maschler blieb im Vorstand, war aber nicht mehr aktiv im Verlagsgeschäft tätig. Sein Memoir Publisher (2005) gibt ein anschauliches Bild der internationalen Verlagsgeschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.250 In der Außensicht erntete Tom Maschler viel Bewunderung, vor allem für die von untrüglichem Instinkt geleitete Zielstrebigkeit, mit der er auf dem Buchmarkt agierte, er machte sich aber durch seine Neigung zu verlegerischem Freibeutertum nicht nur Freunde. Insgesamt überwog jedoch die Anerkennung seiner Leistung, wie etwa im Urteil des Literaturagenten Peter Straus: For my generation of publishers he was an inspirational figure. His knowledge of the industry and the market were second to none. […] For years at the Frankfurt book fair people from all over the world would come and buy whatever he had because they knew they would be getting a quality product, literary or more popular, that they knew they could sell.251
André Deutsch: Renommee in England, Engagement in Afrika Anders als die beiden Vorgenannten war André Deutsch* (1917 Budapest – 2000 London) nicht erblich vorbelastet.252 Er war auch um einiges älter und kann deshalb als eine Art Wegbereiter gelten; tatsächlich hat er nicht nur Tom Maschler Gelegenheit gegeben, den Verlegerberuf kennenzulernen. Deutsch hatte bereits einige Semester an den Univer-
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britischen Verleger, und Tom Rosenthal, Verlagsleiter von Thames and Hudson, Secker and Warburg, Heinemann Group und André Deutsch.« (Joos: Trustees for the Public?, S. 179). Nicholas Wroe: Tom Maschler, Talent Spotter. In: The Guardian, 12. März 2005 [online]. Tom Maschler: Publisher. London: Picador 2005 (mit Ill. von Quentin Blake). Wroe: Tom Maschler, Talent Spotter. Siehe u. a. John Calder: André Deutsch [Nachruf]: In: The Guardian, 12. April 2000 [online]; Athill: André Deutsch: The Great Persuader.
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sitäten in Budapest, Wien und Zürich studiert, ehe er 1939 nach England emigrierte, um dort sein Studium an der London School of Economics fortzusetzen. Nach Kriegsbeginn als »enemy alien« auf der Isle of Man interniert, lernte er dort neben dem Schriftsteller Arthur Koestler auch den Verleger Ferenc Aldor kennen, der ihn in das Verlagswesen einführte.253 Nach seiner Entlassung fand Deutsch 1942 eine Anstellung im Londoner Verlag Nicholson & Watson; über Vermittlung von George Weidenfeld lernte er in der Folge Diana Athill kennen, mit der er unmittelbar nach dem Krieg in London Allan Wingate Publishers Ltd. gründete.254 Der Verlag konnte 1949 mit Norman Mailers The Naked and the Dead einen Sensationserfolg verbuchen; ein Bestseller war zuvor schon, 1946, George Mikes How to be an Alien gewesen. Als Deutsch 1951 vom Anteilseigner Anthony Gibbs ausmanövriert wurde, baute er, wieder mit tatkräftiger Unterstützung von Diana Athill, die André Deutsch Ltd., London, auf.255 Zu den Autoren des nicht sehr großen, aber schon bald hoch renommierten Hauses zählten Jack Kerouac, Norman Mailer, Philip Roth und John Updike; der erste Bestseller waren 1952 die Memoirs von Franz von Papen, Vizekanzler in Hitlers erstem Kabinett. Deutsch genoss in der Kollegenschaft inzwischen große Anerkennung und behauptete auf der Frankfurter Buchmesse lange Zeit den Status als prominentester Vertreter des britischen Verlagswesens. Nach dem 1984 erfolgten Eintritt Tom Rosenthals als Teilhaber blieb Deutsch zwar im Unternehmen, war aber hauptsächlich in Repräsentativfunktionen tätig: 1984 bis 1987 als Chairman and Managing Director, 1987 bis 1989 als Joint Chairman und 1989 bis 1991 als President. Bereits seit den 1960er Jahren hatte Deutsch sein Betätigungsfeld in Richtung Afrika erweitert; 1962 gründete er in Lagos (Nigeria) die African Universities Press und 1964 in Nairobi (Kenia) das East Africa Publishing House (EAPH). Dieses bis 1988 bestehende Unternehmen, das zum Vorbild selbständiger afrikanischer Verlage wurde, betrieb Deutsch gemeinsam mit dem East African Institute of Social and Cultural Affairs. Das EAPH ging nach Auszahlung der Anteile Deutschs 1966 vollständig in das Eigentum des East African Educational Trust über. Heute ist der Verlag André Deutsch ein Imprint der Carlton Publishing Group.
Max Reinhardt: vom kleinen Wirtschaftsverlag zu The Bodley Head und Nonesuch Press Noch zwei Jahre älter als André Deutsch war Max Reinhardt* (1915 Konstantinopel – 2002 Richmond Park, London), der als Kind österreichischer Eltern in Konstantinopel
253 Joos: Trustees for the Public?, S. 178 f. 254 Der Anstoß für die Gründung eines eigenen Verlags erscheint bemerkenswert; er ergab sich aus der Ablehnung von George Orwells politischer Zeitsatire Animal Farm durch den Verlagsleiter von Nicholson & Watson. Deutsch, der mit Orwell befreundet war und das Manuskript kannte, zeigte sich als Mitarbeiter von Nicholson & Watson davon tief betroffen und wollte das Werk, das zuvor bereits von mehreren Verlagen zurückgegeben worden war, nun in einem eigenen Verlag herausbringen. Zwar zerschlug sich dieser Plan – Animal Farm erschien im August 1945 bei Secker & Warburg –, aber Deutsch setzte in diesem Zusammenhang doch den entscheidenden Schritt in die Selbständigkeit. (Joos: Trustees for the Public?, S. 178, S. 179, Fn. 584). 255 Siehe dazu u. a. Marcum: Allan Wingate, S. 342; Rose: André Deutsch Limited.
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aufgewachsen war.256 Nach einem Studium in Paris wollte er in London eine Filiale des »Comptoir d’Anatolie« seines Onkels eröffnen, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Er trat der Royal Air Force bei, wurde 1942 ausgemustert und studierte an der London School of Economics weiter. 1947 erwarb er den kleinen Wirtschaftsbuchverlag H Foulks Lynch; über seine erste Frau, die Schauspielerin Margaret Leighton, bewegte er sich in Künstler- und Schriftstellerkreisen. Auf Anraten von Freunden veränderte Reinhardt sein verlegerisches Profil und gründete Max Reinhardt Ltd. als belletristischen Verlag: sein erster Titel war der Briefwechsel von G. B. Shaw mit Ellen Terry. 1953 übernahm er den Vertrieb der typographisch exklusiven Bücher der Nonesuch Press. 1956 heiratete er in zweiter Ehe Joan MacDonald, die Tochter eines amerikanischen Stahlmagnaten, und vergrößerte sein Portfolio mit dem Zukauf des einstmals renommierten, in der Zwischenzeit herabgewirtschafteten Verlags The Bodley Head: Reinhardt machte den Verlag, in welchem Charly Chaplins Autobiographie und Werke u. a. von Graham Greene, Agatha Christie und Eric Ambler erschienen, zu einer der prominentesten Marken im englischen Buchhandel. Unter dem Imprint Bodley Head erschienen auch hochwertige Kinderbücher und Bücher zu Typographie und Design. 1973 formte er gemeinsam mit Jonathan Cape und Chatto & Windus eine kleine Verlagsgruppe, um den beginnenden Konzentrationsbewegungen im Medienbereich besser standhalten zu können. Trotzdem konnte er als Hauptaktionär den Zerfall der Gruppe, der später auch Virago beigetreten war, nicht aufhalten. 1987 versuchte Reinhardt ein Comeback als unabhängiger Verleger: Er startete mit Unterstützung seines Freundes Peter Mayer unter dem Dach von Penguin Books das Imprint Reinhardt Books, Autoren seines Verlages waren wieder Graham Greene und Maurice Sendak. Im Jahr zuvor hatte er bereits die Nonesuch Press erworben, deren Buchgestaltungstradition er aufrecht hielt. The Bodley Head wurde 1987 von Random House gekauft, stellte seine Verlagstätigkeit 1990 ein und wurde 2008 von Random House reaktiviert.
Paul Hamlyn, eine Schlüsselfigur des britischen Verlagswesens Eine atemberaubende Laufbahn als Verleger war Paul Hamlyn* (Geburtsname Paul Bertrand Wolfgang Hamburger, 1926 Berlin – 2001 London) beschieden.257 Er war 1933 im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern258 nach Großbritannien gekommen und musste sich nach dem Tod seines Vaters 1941 als Angestellter in Zwemmer’s Bookshop in der Londoner Charing Cross Road und als Bürojunge des Magazins Country Life seinen Lebensunterhalt verdienen. Zu diesem Zeitpunkt änderte er seinen Nachnamen. Nach Kriegsende startete Hamlyn seine Karriere als »self-made man« im Verlagsgeschäft: Auf dem Londoner Camden Market begann er als Kleinhändler von
256 Cameron: Max Reinhardt: Shrewd Businessman, Publisher of Famous Authors; Adamson: Max Reinhardt: A Life in Publishing. 257 Zu Hamlyn siehe u. a. Jarvis / Thomson: Paul Hamlyn: »There Must Be Another Way; Stevenson: Book Makers: British Publishing in the Twentieth Century, bes. ab Kap. 6, S. 133‒ 164; Saur: Deutsche Verleger im Exil 1933 bis 1945, S. 214, 220 f.; Newcomer’s Lives. The story of immigrants as told in obituaries from The Times. 258 Unter ihnen Michael Hamburger, der sich als Lyriker und Übersetzer einen Namen machen sollte.
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Second-Hand-Büchern und Restexemplaren, erkannte aber bald in der Massenproduktion von billigen Büchern, verbunden mit dem Absatz in Supermärkten und Warenhäusern, ein enormes Marktpotential und gründete 1949 den Buch- und Tonträgerverlag Hamlyn Publishing Group, in dem er billig in der Tschechoslowakei gedruckte Buchreihen für ein großes Publikum herausbrachte (»Books for Pleasure«, »Golden Pleasure Books«). Dieses Konzept entwickelte er ab 1960 weiter mit Kunstdrucken (»Prints for Pleasure«) und Schallplatten (»Records for Pleasure« seit 1961 gemeinsam mit einem New Yorker Verlag; »Music for Pleasure« seit 1965 gemeinsam mit der E.M.I.). Erster Erfolgstitel mit dem Imprint Paul Hamlyn war Cookery in Colour (1960) – das erste durchgehend in Farbe gedruckte Kochbuch in Abb. 5: Wagemut bewies Paul Hamlyn Massenauflage, das über viele Jahre immer nicht nur als junger Verleger; auch als wieder in Neuauflagen erschien. Baumeister einer riesigen Verlagsgruppe 1964 verkaufte Hamlyn den Verlag an die agierte er mit bemerkenswerter Umsicht. International Publishing Corporation (IPC), deren Direktor mit Verantwortung für alle Buchveröffentlichungen er von 1965 bis 1969 war. Der Millionendeal war innerhalb des britischen Buchbusiness der erste in einer solchen Größenordnung, die Verlagsgruppe umfasste Odhams, Newnes, Butterworths, Ginn, Temple Press und Country Life, wo Hamlyn als Junge angefangen hatte. Über Nacht war er einer der größten Verleger Großbritanniens, die Hamlyn Group expandierte in die überseeischen Märkte nach Australien und Neuseeland. Die Übernahme von IPC durch Reed führte 1969 zum Rückzug Hamlyns aus dem Vorstand; binnen kürzester Zeit formte er jedoch 1970/1971 im Rahmen seiner Funktion als Joint Managing Director von Rupert Murdochs Firma News International seinen neuen Verlag Octopus. Auch mit diesem Verlag produzierte er Bücher für große Kaufhausketten nicht nur in England, sondern weltweit auf allen englischsprachigen Märkten; zwölf Jahre nach der Gründung wurde Octopus bei seinem Börsengang 1983 mit 55 Millionen Pfund bewertet. Dazwischen lagen strategisch wichtige Marktaktivitäten: der Aufbau von Mandarin Publishers in Hong Kong durch Hamlyns ehemaligen Designer Geoff Cloke; die Gründung von Sundial Publications (zusammen mit David Frost); die Schaffung der Octopus-Marke »St Michael« für die Kaufhauskette Marks & Spencer (mit dem Megaseller Microwave Cookery Book mit über einer Million Auflage) und, 1976, zusammen mit Heinemann, der Start der preiswerten LiteraturReihe »Heinemann / Octopus Library«. Dem Börsengang folgte eine Reihe von Übernahmen: 1984 erwarb Octopus den Kinderbuchverlag Brimax Books und im gleichen Jahr den Paperback-Distributor Webster Group (»Bounty Books«). Im Juli 1985 kam es zum Zusammenschluss von Octopus und der Heinemann Gruppe, die über 8.000 Verlagstitel in das gemeinsame Unternehmen einbrachte. 1986 kaufte Hamlyn von Reed seinen ehemaligen Verlag Hamlyn zu-
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rück und erweiterte sein Portfolio mit Pan Books und Mitchell Beazley. 1987 wurde die gesamte Octopus Verlagsgruppe von Reed International für 500 Mio. Pfund übernommen, wobei Hamlyn einen Großteil der Aktien behielt und bis zu seinem Ausscheiden 1997 in der Unternehmensspitze mitarbeitete. Danach gelangten die Paul Hamlyn Group und die Octopus Publishing Group unter das Dach von Hachette Livre. Hamlyn, der in Nachrufen als »father of illustrated publishing« und als eine der Schlüsselfiguren des britischen Verlagswesens im 20. Jahrhundert bezeichnet wurde,259 war Träger hoher und höchster Auszeichnungen: 1993 wurde er zum »Commander of the Order of the British Empire« ernannt, 1998 in den Adelsstand erhoben. Da er nie vergaß, aus welchen bescheidenen Anfängen er sich im Verlagsbusiness hochgearbeitet hatte, setzte er das erwirtschaftete Vermögen für umfangreiche Wohltätigkeitsinitiativen ein und erwarb sich namentlich mit der 1972 gegründeten Paul Hamlyn Foundation260 große Verdienste als Mäzen: Er spendete u. a. erhebliche Summen an die Bodleian Library in Oxford; die Präsenzbibliothek im British Museum trägt in Würdigung seiner Förderung seinen Namen; die Paul Hamlyn Foundation / CODE Europe Special Collection on Publishing in Africa in der Oxford Brookes University Library ist eine der bedeutendsten Sammlungen zu Buchhandel und Buchproduktion in Afrika.
Ein umstrittener Medientycoon: Robert Maxwell Auch Robert Maxwell* (geb. als Ján Ludvík Hoch, 1923 Selo Slatina (ČSR, heute Ukraine) – 1991 vor Teneriffa) zählt zu der Gruppe der Verlegeremigranten zweiter Generation.261 Er entstammte einer jüdischen deutschsprachigen Familie aus Ruthenien; 1939 wurde die karpato-ukrainische Region von Ungarn besetzt und ein Großteil der Familie fiel dem Holocaust zum Opfer. Als Jugendlicher von der ungarischen Untergrundbewegung als Fluchthelfer rekrutiert, wurde Hoch vom Horthy-Regime gefangen genommen und wegen Spionage zum Tod verurteilt. Er konnte fliehen und gelangte 1940 nach Großbritannien; dort diente er im Zweiten Weltkrieg, nunmehr als Robert Maxwell, in der britischen Armee, 1946 wurde er als britischer Beschaffungsoffizier in Frankfurt a. M. eingesetzt. In dieser Funktion half er Ferdinand Springer, dessen Verlag in Heidelberg wieder aufzubauen, u. a. auch in der Weise, dass er in London im März 1947 über die eigens von ihm gegründete Firma European Periodicals, Publicity and
259 Nicholas Faith: Obituary: Lord Hamlyn. In: The Independent, September 4, 2001 [online]; More tributes to Paul Hamlyn. In: The Bookseller, 3. September 2001. 260 Die philanthropische Gesinnung des Stifters spiegelt sich in der Selbstvorstellung der Foundation (Homepage): »Our founder, Paul Hamlyn (1926–2001), believed in a fair society in which people could achieve their potential, free from prejudice and disadvantage. He wanted people to access, enjoy and benefit from the arts, and he wanted to improve opportunities and life chances for young people. He was also a risk-taker, who built his success on developing new approaches to overcoming challenges«. 261 Zur Lebensgeschichte Maxwells siehe Haines: Maxwell. Macht und Medien; Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 204; Greenslade: Maxwell: The Rise and Fall of Robert Maxwell and his Empire; Henderson: The dash and determination of Robert Maxwell. Champion of dissemination; Saur: Deutsche Verleger im Exil, S. 215, 222 f.; Stevenson: Book Makers: British Publishing in the Twentieth Century, bes. Kap. 8, S. 203‒244.
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Advertising Corp. (EPPAC) und ab 1949 mit einem zweiten Unternehmen, Lange, Maxwell & Springer, zusammen mit Springer den weltweiten Vertrieb von wissenschaftlicher, medizinischer und technischer Literatur und von Fachjournalen organisierte. In ähnlicher Funktion war er auch für andere deutsche Verlage tätig, u. a. für de Gruyter & Co. und Urban & Schwarzenberg. Danach kam Maxwells verlegerische Karriere erst richtig in Schwung. Nachdem das englische Verlagshaus Butterworth seine Anteile aus einem 1948 begonnenen Gemeinschaftsprojekt mit Springer an Maxwell verkauft hatte, formte er daraus 1951 seinen eigenen Verlag für Wissenschaftsliteratur, die Pergamon Press, Ltd., mit der amerikanischen Tochter Pergamon Press, Inc.; der von ihm mit unternehmerischem Weitblick geführte Fachverlag hatte mit dem ehemaligen Springer-Lektor Paul Rosbaud*262 einen ausgewiesenen Fachmann im Lektorat und erwarb sich bald hohes Ansehen bei der internationalen Wissenschaftselite. Mit einer geschickten Einkaufspolitik gelang es Maxwell in den folgenden beiden Jahrzehnten, seinen Verlagskonzern zusammenzubauen und von dem bis Ende der 1970er Jahre anhaltenden Boom des wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarktes zu profitieren (u. a. mit der 1961 gegründeten Reihe »The Commonwealth and International Library of Science, Technology, Engineering«; die 1971 rund tausend Bände umfasste). Als »Dealmaker par excellence« erweiterte Maxwell sein unternehmerisches Portfolio auch durch die Produktion von Opern- und Ballettverfilmungen; außerdem gründete bzw. erwarb er im Laufe seiner Verlegerkarriere eine Reihe weiterer Firmen, in den 1960er Jahren beispielsweise Buchhandlungen (Bookshops u. a. in London, Glasgow, Edinburgh), Verlage und Druckereien, die er aber wieder schloss, wenn sie keinen Gewinn abwarfen. 1967 erwarb Maxwell, zu dieser Zeit auch Direktor des Pariser Verlags Gauthier-Villars, die britische Verlagsgesellschaft Caxton Holdings und formte das Unternehmen International Learning Systems Corp. Ltd., um den Weltmarkt für Nachschlagewerke zu erobern. In diesem Zeitraum begann sich die immer stärker werdende Überschneidung von Maxwells geschäftlichen und politischen Aktivitäten abzuzeichnen: Von 1964 bis 1970 und ab 1974 war er Parlamentsabgeordneter der Labour Party für den Wahlkreis Buck-
262 Paul Rosbaud (1896 Graz – 1963 London) war vor 1933 Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Naturwissenschaften und Mitarbeiter im Julius Springer Verlag, wo er führende deutsche Physiker und Chemiker kennenlernte. In der NS-Zeit verhalf er einer Reihe von Juden, darunter 1938 der Physikerin Lise Meitner, zur Flucht; als Wissenschaftsspion lieferte er unter dem Decknamen »Griffin« (»Greif«) London detaillierte Geheiminformationen über Hitlers Forschungsprogramm zur Kernspaltung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Rosbaud aus Berlin nach London herausgeschleust. Er war maßgeblich am Zustandekommen eines joint venture zwischen Ferdinand Springer und der Firma Butterworth Scientific Publications Ltd. beteiligt, jener Allianz, der 1951 Maxwells Pergamon Press entstammte. Nach dem unvermeidlichen Bruch mit Maxwell ging Rosbaud 1958 zu dem von Eric Proskauer* mitbegründeten Unternehmen Interscience Publishers, wo er erneut auf viele wissenschaftliche Mitarbeiter stieß, die in die Emigration gegangen waren und die er noch aus seiner Zeit bei Julius Springer kannte. Vgl. Kramish: Der Greif. Paul Rosbaud – Der Mann, der Hitlers Atompläne scheitern liess; Götze: Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Teil II: 1945‒1992, S. 28 f.; Edelman: Maurits Dekker and Eric Proskauer: A synergy of talent in exile.
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ingham, 1968 bis 1970 führte er als Mitglied des Europarates den stellvertretenden Vorsitz im Ausschuss für Wissenschaft und Technik. Pergamon war bereits 1964 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden, mit Maxwell als geschäftsführendem Direktor (bis 1969). Das Unternehmen verzeichnete Rekordumsätze und expandierte weltweit; von besonderer Bedeutung war dabei der New Yorker Zweigverlag, der von dem Emigranten Otto Rapp* aufund ausgebaut worden war. Rapp, Sohn eines Wiener Buchhändlers, war über die Schweiz in die USA gelangt und hatte zunächst bei Stechert-Hafner Inc. in New York eine Anstellung gefunden. Nach 1941 wechselte Rapp zu Walter J. Johnsons Unternehmen Academic Press Inc. und Walter J. Johnson, Inc. Über drei Jahrzehnte lang, von 1959 bis zum Ruhestand 1989, war Rapp bei Pergamon Press Inc., New York, Abb. 6: Robert Maxwell, in allen als Executive Vice President tätig – einer von seinen Unternehmungen bis zuletzt nur wenigen Managern, die sich in Maxwells eine schillernde Figur. Verlagsimperium unangefochten behaupten konnten. Seine ausgezeichneten Branchenkenntnisse und sein Kommunikationstalent boten mit die Voraussetzung für den Aufbau eines verzweigten Buchhandels-Vertriebssystems, mit dem Pergamon sein sprunghaft wachsendes wissenschaftliches Fachbuch- und Zeitschriftenprogramm auf dem US-amerikanischen und kanadischen Markt platzieren konnte; unter Rapps Führung unterhielt der Unternehmenszweig ausgezeichnete Kontakte auch zu Bibliotheken, Universitäten und anderen Institutionen und zeichnete verantwortlich für das monatlich erscheinende Pergamon Bulletin.263 Pergamon Press unterhielt allerdings auch Zweigstellen in New Delhi, Sydney (unter zeitweiliger Leitung von Andrew Fabinyi*) und Tokio. 1974 brachte Maxwell Pergamon, von der nur mehr 28 % der Aktien in seinem Besitz war, mit einem Zeichnungsgebot wieder mehrheitlich an sich. Anfang der 1980er Jahre, nachdem die Bibliotheksbudgets staatlicherseits wieder zurückgefahren worden waren, wandte Maxwell sich dem lukrativen Zeitungs-, Medienund Unterhaltungsmarkt zu und legte auch beim Zusammenbau von Medienunternehmen eine erstaunliche Geschicklichkeit an den Tag: Er erwarb 1981 die British Printing Corporation (BPC), die er zu Europas größtem Druckkonzern machte. Mit den Gewinnen kaufte er 1984 die Mirror Newspaper Group mit ihren in Millionenauflage verbreiteten Massenblättern Daily Mirror und Sunday Mirror, beteiligte sich mit 25 % an dem Musiksender MTV und kaufte Kredit finanziert den New Yorker Macmillan Verlag und The New York Daily News. Damit war die Maxwell Communication Corp. endgültig zu einem »Global Player« geworden. Nach dem Zusammenbruch der DDR investierte
263 Henderson: The dash and determination of Robert Maxwell, S. 68.
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Maxwell große Summen in die Neuorganisation der ostdeutschen Medienlandschaft; zusammen mit Gruner + Jahr erwarb er das ehemalige SED-Blatt Berliner Zeitung, 1990 gründete er die europäische Wochenzeitung The European. 1991 wurde Pergamon mit seinen mehr als 400 Zeitschriften um 770 Millionen $ an Elsevier verkauft.264 Maxwell, dessen Geschäftspraktiken durchaus umstritten waren, starb unter ungeklärten Umständen. Die Söhne Ian (geb. 1956) und Kevin (geb. 1959) bemühten sich vergeblich, das überschuldete und im Grunde überdehnte väterliche Imperium zusammenzuhalten: Wenige Monate nach Maxwells Tod kollabierte die börsennotierte Mirror Group, Treuhänder und Zwangsverwalter übernahmen die Abwicklung der rund 400 ineinander verflochtenen Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen.
Zwischen Verlagswesen und großer Politik: Lord Weidenfeld Lord Weidenfeld ist nicht nur als einer der prominentesten Verleger der neueren Zeit in Erinnerung, sondern auch als herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte, als jemand, der auch auf diplomatischem und weltpolitischem Parkett Gewicht hatte. Georg(e) Weidenfeld (1919 Wien – 2016 London) wurde als Sohn des klassischen Philologen Max Weidenfeld geboren.265 Als Jugendlicher trat er »Brit Trumpeldor« bei, einer paramilitärisch organisierten, rechtszionistischen Jugendorganisation, zudem war er zu Beginn seines Jurastudiums und an der Konsularakademie Mitglied der jüdischen Schüler- und Studentenorganisation »Giskala«. Nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland war ihm eine Fortsetzung seines Studiums aus »rassischen« Gründen verwehrt. Weidenfeld emigrierte im Sommer 1938 nach der Festnahme seines Vaters »penniless« mit einem Drei-Monate-Visum nach Großbritannien, wo er von der British Refugee Relief Organization als Volontär an die Zionist Federation of Great Britain vermittelt wurde: hier lernte er nachmals berühmte Persönlichkeiten der Bewegung kennen, darunter Chaim Weizmann. 1939 bis 1946 war Weidenfeld bei der BBC als Journalist tätig: bis 1942 beim Abhördienst, von 1942 bis 1946 als Moderator der politischen Sendung »The Axis Conversation«. Zusammen mit Nigel Nicolson (1917‒2004), dem Sohn von Harold Nicolson und Vita Sackville-West, gründete Weidenfeld 1945 die europäische Kulturzeitschrift Contact. Da wegen Papierknappheit damals keine neuen Zeitschriften zugelassen waren, erschien Contact unter der Herausgeberschaft Philip Toynbees zwischen 1946 und 1949 alle zwei Monate in Buchform. Autoren des Organs für Kunst und Zeitgeschichte waren u. a. Benedetto Croce, Sebastian Haffner und Arthur Koestler, als erster Titel aber Harold Wilsons New Deal for Coal.266 Aus der Zusammenarbeit in Contact Publications
264 William E. Schmidt: Maxwell Selling Pergamon, Cornerstone of his Empire. In: New York Times, 29. März 1991 [online]. 265 Siehe v. a. die Autobiographie: George Weidenfeld: Remembering my Good Friends. London: HarperCollins 1994 (dt. Von Menschen und Zeiten. Wien, München: Europa Verlag 1995). Vgl. ferner: Nigel Nicolson: Long Life: Memoirs. London: Weidenfeld & Nicolson 1997; John Curtis: George Weidenfeld: A Publisher of Inexhaustible Vitality and a Renowned International Figure. In: Immigrant Publishers, S. 165‒184; Iain Stevenson: Book Makers: British Publishing in the Twentieth Century, bes. S. 189 f. 266 Joos: Trustees for the Public?, S. 179.
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erwuchs 1948 die Gründung des Verlags Weidenfeld & Nicolson (W & N), der ähnliche Ziele verfolgte und dessen Vorsitz Weidenfeld übernahm.267 Das Verlagsprogramm setzte sich zusammen aus Belletristik (wie Nabokovs Lolita), populärwissenschaftlichen Werken, zahllosen Reihen (»Introduction to Positive Economics«, »History of Civilization«, »History of Religion«, »The World University Library«) und Memoiren Abb. 7: Eine imposante Persönlichkeit prominenter zeitgenössischer Persön- in Verlagswelt und Politik – Lord Weidenfeld lichkeiten, darunter de Gaulle, Ade- of Chelsea. nauer, Henry Kissinger und Harold Wilson. Als leidenschaftlicher Zionist verstand sich der Verleger als Botschafter des jüdischen Staates und brachte im Programm von W & N die Memoiren zahlreicher jüdischer Persönlichkeiten: David Ben-Gurion, Golda Meir, Moshe Dayan, Yitzhak Rabin, Teddy Kollek. Weidenfeld erkannte als einer der ersten seiner Zunft die kommerziellen Erfolgschancen des »Politainment«: ob mit Vladimir Dedijers Bestseller Tito Speaks oder Stalin Means War, Hitlers Tischgesprächen oder den Memoiren von Benito Mussolini und von Albert Speer. W & N agierte bald in großem Maßstab: Koproduktionen mit internationalen Partnern, Lizenzausgaben und konzertierte Aktionen gehörten zum innovativen Management des Konzerns; so beruhte der mit 10.000 $ ausgelobte Verlegerpreis »Prix Formentor« auf einer Idee Weidenfelds. Der Verlag wuchs mit Tochtergesellschaften, Zukäufen (Grove Press) und Marken (JM Dent, Everyman Paperbacks) zu einem der umsatzstärksten Medienkonzerne Großbritanniens heran. 1991 stimmte Weidenfeld dem Vorschlag Anthony Cheethams zu, W & N unter das Dach des neu zu gründenden Verlagskonglomerats Orion Books zu integrieren, das die Paperback-Verwertung von W & N-Titeln mit übernehmen sollte. 1998 erfolgte die Übernahme der Mehrheitsanteile von Orion (inklusive des in der Zwischenzeit hinzugekommenen Verlags Chapman Publishers und von Littlehampton Book Services) durch Hachette Livre, 2003 wurde Hachette Livre alleiniger Eigentümer von Orion. Im Zuge von Zukäufen und Neugruppierungen wurden die Weidenfeld Imprints nun zusammen mit Verlagsteilen von Cassell & Co. unter dem Namen Weidenfeld & Nicolson Ltd. neu formiert. Weidenfelds verlegerische Leistung gilt als singulär: »None of the other houses created by the publishers who emigrated from Europe in the mid-twentieth century has come anywhere near the breadth and internationale stature of W & N« (John Curtis). Seinen Jugendtraum von einer diplomatischen Karriere realisierte Weidenfeld auf spezifische Weise: Seit seiner Beraterfunktion als »chef de cabinet« für den israelischen Ministerpräsidenten Chaim Weizmann 1949/1950 spielte er in der internationalen Politik
267 Vgl. Parker: Weidenfeld and Nicolson.
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eine nicht unerhebliche Rolle als »Networker« und Brückenbauer: so initiierte er, unterstützt vom deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, einen Kreis hochrangiger Politiker und Intellektueller für den deutsch-jüdischen Dialog und regte an der Universität Oxford die Gründung des Institute of European Studies an, in dessen Leitungsgremium er berufen wurde. 1969 wurde Weidenfeld auf Empfehlung des Labour-Premiers Harold Wilson, zu dessen engstem Kreis er gehörte, zum Sir gekürt, 1976 folgte die Erhebung ins Oberhaus, wo er als Lord Weidenfeld of Chelsea europäische Politik mitgestaltete.
Marion Boyars Ltd. – ein Verlag zwischen Avantgarde und Nobelpreisträgern Anerkennung und Bewunderung fand in Großbritannien nicht allein die Leistung von Medienmoguln und Konzernherren, sondern durchaus auch die Arbeit jener Verlegerinnen und Verleger, die statt auf Größe des Unternehmens auf die Qualität ihrer Programme setzten. Perfekte Repräsentanten dieser Richtung finden sich unter den deutschen und österreichischen Immigranten gleich mehrfach, so etwa mit Ernest Hecht, Peter Owen, Tom Rosenthal oder Marion Boyars. Marion Boyars* (1927 Hamburg – 1999 London),268 Tochter des Verlegers Johannes Asmus269 und der Lehrerin Hertha FeinerAsmus,270 hatte nach Absolvierung der Internatsschule in der Schweiz ein Studium in England aufgenommen und an der Keele University in Staffordshire einen Abschluss in Politologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften erworben. Nach einem Aufenthalt in den USA und Eheschließung mit dem Fabrikanten George Lobbenberg wieder in England in Shrewsbury lebend, erwarb sie auf eine Zeitungsanzeige hin einen 50 %Anteil am Verlag von John Calder, der seit 1964 unter Calder & Boyars firmierte – Marion war inzwischen in zweiter Ehe verheiratet mit dem Schriftsteller und Übersetzer Arthur Boyars. Der Verlag zeichnete sich durch ein entdeckungsfreudiges, gelegentlich kontrovers diskutiertes und literarisch anspruchsvolles Programm aus, mit Werken von damals oder nachmals bedeutenden Autoren wie Samuel Beckett, Jean Genet, Pirandello, Marguerite Duras, Eugene Ionesco, William S. Burroughs, Ken Kesey (One Flew Over the Cuckoo’s Nest) sowie dem zuvor lange verbotenen Roman von Henry Miller Tropic of Cancer; auch der französische Nouveau Roman (Alain Robbe-Grillet, Claude
268 Zur Biographie der Verlegerin siehe u. a. Katherine McNamara: A conversation with Marion Boyars. 3 Teile. In: Archipelago http://www.archipelago.org/vol1-3/boyers1.htm [online]; Peter Owen: Pioneer publisher of the avant-garde. In: The Guardian, 2. Februar 1999 [online]; John Calder: Marion Boyars (Obituary). In: The Independent, 9. Februar 1999 [online]. 269 Johannes Asmus war mit seinem Verlag 1938 nach Leipzig übersiedelt und hatte dort hauptsächlich Kunstbücher publiziert; 1946 erwarb er die Lizenz für eine Verlagsgründung in Konstanz, er verlegte den Sitz des Unternehmens aber 1954 nach Stuttgart, 1959 nach Mannheim; seit 1960 war es wieder in Hamburg angesiedelt. 270 Als Jüdin wurde Hertha Feiner 1933 aus dem Schuldienst entlassen, ihre Ehe mit Johannes Asmus wurde geschieden. Seit 1935 lebte sie als Hilfslehrerin an einer jüdischen Schule in Berlin, zusammen mit ihren beiden Töchtern, die ab 1939 in einem Internat am Genfer See lebten. Hertha Feiner wurde gezwungen, an der Administration jüdischer Deportationen mitzuarbeiten; selbst nach Auschwitz deportiert, nahm sie sich auf dem Weg dorthin am 12. März 1943 das Leben. Vgl. Rita Bake: Wer steckt dahinter? Nach Frauen benannte Straßen, Plätze und Brücken in Hamburg. 5. Aufl., Hamburg 2009, S. 85 [online].
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Simon) war vertreten. Hubert Selbys Jr. Last Exit Brooklyn zog 1966 eine Anklage wegen Obszönität nach sich, die der Verlag erst in der Berufungsinstanz erfolgreich abwehren konnte. 1975 wurde der Verlag zwischen Calder und Boyars geteilt; die Aufteilung der Autoren verlief allerdings nicht problemlos und war erst 1980 abgeschlossen. In Marion Boyars Ltd. brachte die Verlegerin sowohl im Bereich »fiction« wie »non-fiction« jährlich rund zwanzig und insgesamt rund 400 Titel heraus, darunter Werke mehrerer Nobelpreisträger wie Elias Canetti, Heinrich Böll, Eugenio Montale und Kenzaburo Oe sowie von Pauline Kael, Henri-Pierre Roche (Jules et Jim), Julio Cortázar, Witold Gombrowicz, Georges Bataille, Ivan Illich, Ingmar Bergman u. a. m. In dem der literarischen Avantgarde verpflichteten Verlag, der auch einen Ableger Marion Boyars Inc. in New York unterhielt, erschienen Übersetzungen aus mehr als zwanzig Sprachen; viele von ihnen, namentlich aus Osteuropa, waren Neuentdeckungen für die englischsprachige Lesewelt. Wie manche andere Autoren verdankte Michael Ondaatje Boyars entscheidende Unterstützung beim Start seiner schriftstellerischen Laufbahn, Julien Green bei der Wiederbelebung seiner Karriere. Agenturen und konkurrierende Verlage beobachteten ihre Aktivitäten sehr genau und warben gelegentlich auch Autoren ab, die durch sie bekannt geworden waren. Der Ehemann der Verlegerin, selbst Herausgeber eines Magazins und von umfassendem literarischem Horizont, nahm durch beratende Tätigkeit Einfluss auf das Verlagsprogramm; so etwa bildete sich eine spezielle Programmnische im Bereich der modernen Musik, mit Schriften von John Cage, Charles Ives, Igor Strawinsky oder Karlheinz Stockhausen. Darüber hinaus erschienen Bücher zu Theater und besonders Film, sozialkritische Veröffentlichungen und schwerpunktmäßig auch Biographien und Autobiographien. Boyars galt als energievolle, überaus engagierte und wagemutige Verlegerin, die ausschließlich Bücher ihrer eigenen Wahl herausbrachte. Sie pflegte Freundschaften mit zahlreichen Autoren sowie vielfältige gesellschaftliche Kontakte; der Besuch der Frankfurter Buchmesse war stets in Fixtermin für sie. Nach ihrem Tod 1999 wurde der Verlag von ihrer Tochter Catheryn Kilgarriff als Managing Director weitergeführt; im Herbst 2009 musste das Unternehmen – unter Verkauf zahlreicher Werkrechte an Penguin Modern Classics – seinen Betrieb stark einschränken.271
Ernest Hecht und die Souvenir Press Ähnlich wie Paul Hamlyn galt Ernest Hecht* (1929 Prostejov, ČSR – 2018 London) unter den britischen Verlegern als ein herausragender Vertreter der »zweiten Emigrantengeneration«.272 Er entstammte einem assimilierten jüdischen Elternhaus: sein Vater Richard Hecht war ein gebürtiger Wiener, der in Brünn ein mittelständisches Textilunternehmen führte und im retrospektiv berühmt gewordenen jüdischen Wiener Fußballteam Hakoah mitspielte. Um der nationalsozialistischen Bedrohung zu entgehen, wurde Hecht
271 Publisher Feature: Marion Boyars. The Life and Survival of an Avant-Garde publisher. Rosy Barnes interviews Catheryn Kilgarriff, Managing Director of the publisher Marion Boyars [online]. Alison Flood: Publisher Marion Boyars driven out of business. In: guardian.co.uk, 10. September 2009 [online]; Verlags-Homepage: www.marionboyars.co.uk/. 272 Hecht: Balancing the books; Liz Thomson: Ernest Hecht Obituary. In: The Guardian, 19. Februar 2018 [online].
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1939 mit einem Kindertransport nach England geschickt. Im Krieg wurde er von der ersten Unterkunft in London zusammen mit zahlreichen anderen Kindern aufs Land nach Wiltshire und Minehead evakuiert. Er besuchte die Polytechnic Secondary School und studierte am Hull University College bis 1950 Wirtschaftswissenschaften. 1951 gründete er in London mit einem Kleinkredit seines Vaters den belletristischen Verlag Souvenir Press. Aus diesen bescheidenen Anfängen heraus nahm das Unternehmen eine überaus günstige Entwicklung und konnte sich über Jahrzehnte hinweg dank einer klug ausbalancierten Programmpolitik mit entsprechender »Mischkalkulation« seine Unabhängigkeit bewahren. Unter den Autoren der Souvenir Press befanden sich mehrere Literaturnobelpreisträger (darunter Knut Hamsun, Pablo Neruda, Albert Einstein) ebenso wie der RevoAbb. 8: Mit seiner Souvenir Press zielte lutionär Ernesto »Che« Guevara, der BestsellerErnest Hecht nicht auf den Aufbau von autor Arthur Hailey mit Airport, der humorisKonzernstrukturen; dem extravaganten tische britische Schriftsteller P. G. Wodehouse, Verleger ging es um innovatives, originelles Publishing. der Abenteurer und Forschungsreisende Thor Heyerdahl mit Kon-Tiki oder der mit dem PräAstronautik-Thema auch in England erfolgreiche Erich von Däniken. Die Reihe »Condor Quality Paperbacks« versammelte anspruchsvolle Autoren wie Pablo Neruda oder Jorge Luis Borges; einen ganz anderen Aspekt repräsentierte dagegen die auf mehr als 70 Titel anwachsende Reihe »Human Horizons« mit Fachliteratur zur Thematik geistig und körperlich Behinderter. Zudem brachte der Verleger mancherlei exzentrische Titel heraus und erkannte auch die Chancen, die sich mit der Pop- und Rock-Kultur eröffneten: Souvenir Press wurde zum ersten Rock’n’RollVerlag in Großbritannien. Als bekennender Fußballfan ‒ Hecht war lange Zeit Sponsor von Arsenal London, er selbst fungierte als literarischer Agent von Pelé ‒ hat er außerdem viele Bücher über diese Sportart herausgebracht. Bei Uwe Westphal findet sich der Hinweis auf ein exil(verlags)geschichtlich höchst bemerkenswertes Treffen, das zahlreiche deutsche und österreichische Verlegeremigranten in Wien als »Mannschaft« zusammenführte: It is Hecht who recounts the ironic anecdote of an International Publishers’ Congress held in Vienna in the late 1950s when amongst the group wearing badges labeled Großbritannien were Hamlyn, Weidenfeld, Deutsch, Foges, Neurath, Kraszna-Krausz and Hecht himself – this in a city where not so long before Jews had been hounded to exile and to death.273
273 Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 205 f.
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Zum 65-jährigen Bestandsjubiläum durfte sich Souvenir Press Ltd. als der letzte größere unabhängige Publikumsverlag Englands betrachten: »In an age of corporate gigantism, [Hecht] keeps alive the original entrepreneurial spirit of publishing«.274 Für seine Lebensleistung wurde Hecht, Vorsitzender der Society of Bookmen, mit dem British Book Awards 2001 Lifetime Achievement Award geehrt; 2003 rief er die Ernest Hecht Charitable Foundation ins Leben, deren Ziele sowohl in der Förderung benachteiligter Menschen wie auch der Weiterentwicklung der Künste und des Bildungswesens bestanden, hauptsächlich durch Stipendien an Personen oder durch finanzielle Zuwendungen an einschlägige Institutionen.275 2015 wurde Hecht in Ansehung seiner Verdienste als Verleger und Philanthrop die hohe Auszeichnung des »Order of the British Empire« verliehen, als »one of a number of émigrés who changed the face of British publishing after the Second World War alongside George Weidenfeld, Paul Hamlyn and André Deutsch«.276 Mit ihm verstarb 2018, ohne Nachkommen, die letzte große, der Zwangsemigration nach 1933 bis 1938 entstammende Verlegerpersönlichkeit.277
»Publishing the exciting, the difficult«: Peter Owen Als Sohn einer Engländerin wurde Peter Owen* (ursprgl. Peter Offenstadt, 1927 Nürnberg – 2016 London) als Fünfjähriger zum Spracherwerb zu seinen Großeltern nach England geschickt.278 Seine Eltern folgten unmittelbar nach der NS-»Machtergreifung«, um der rassistischen Verfolgung zu entgehen, der später die im Lande verbliebenen Teile der Verwandtschaft zum Opfer fielen.279 Über Vermittlung seines Onkels, der Zwemmer’s Bookshop leitete, kam Owen in Kontakt zu Verlegern und war kurzzeitig bei einschlägigen Unternehmen tätig, darunter Bodley Head. Danach diente er sechs Monate bei der Royal Airforce und tat sich anschließend, ausgestattet mit einer Papierzuteilung, mit Neville Armstrong zur Gründung eines Verlags zusammen, trennte sich aber bald wieder von seinem Partner. 1951 startete er auf eigene Faust eine Verlegerkarriere, zunächst als Einmann-Unternehmen von der »Bettkante« aus, danach in einem kleinen Büro in Old Brompton Road; seine erste Lektorin war die später berühmt gewordene Schriftstellerin Muriel Spark. James Laughlin von New Directions Publishers überließ ihm kommissionsweise einige literarische Titel. Zwar versäumte Owen die Gelegenheit, Samuel Beckett in Verlag zu nehmen, Ende der 1960er Jahre hatte er jedoch mit der englischen Übersetzung von Hesses Roman Siddharta, der zum Kultbuch der Hippies wurde, einen
274 Jason Cowley: The last of the literary entrepreneurs. In: The Times, 11. November 2000 [online]. 275 Ernest Hecht Charitable Foundation [Homepage: http://ernesthechtcharitablefoundation.org/]. 276 Sarah Shaffi: Swainson, Hecht, Campbell and Bond honoured by Queen. In: The Bookseller, 12. Juni 2015. 277 Jason Cowley: The death of Ernest Hecht, the last great émigré publisher, marks the end of a special era. In: NewStatesman, 22. Februar 2018 [online]. – Souvenir Press wurde Anfang 2019 von Profile Books übernommen und soll im Sinne ihres Gründers weitergeführt werden. 278 Siehe u. a. Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 205 f.; Peter Owen, publisher – obituary. In: The Telegraph, 31. Mai 2016 [online]. 279 Der Vater Owens war in Großbritannien im Import / Export-Geschäft tätig, führte aber eine Zeitlang zusammen mit seinem Schwager einen kleinen Verlag Vision Press.
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echten »Steadyseller« im Programm mit einer Auflage von über 400.000 Exemplaren. Zu den international bekannten Autoren (darunter insgesamt zehn Nobelpreisträger wie Ezra Pound, Isaac Bashevis Singer, Octavio Paz, Boris Pasternak, Cesare Pavese, Shusaku Endo u. a. m.) seines unabhängigen Literaturverlages280 zählten auch Doris Lessing, Anaïs Nin, Henry Miller, Yukio Mishima und Jean Cocteau, aber auch Namen wie Apollinaire, Paul und Jane Bowles, Blaise Cendrars, Lawrence Durrell, Gérard de Nerval, André Gide, Jean Giono, Julien Green, Gertrude Stein finden sich im Programm. Als ein »pioneer of quality world literature in translation« wurde Owen für seine Verdienste um das britische Literaturleben 2014 mit der Aufnahme in den »Order of the British Empire« geehrt. Aufschlussreich die Beschreibung seiner verlegerischen Praxis in den Nachrufen: »publishing the exciting, the difficult, the foreign, the unpopular and, occasionally, the downright weird, including a fistful of Nobel Prize winners, Yoko Ono’s bland ›Grapefruit‹ and Salvador Dalí’s only novel«, auch habe der Verleger in der konkreten Geschäftstätigkeit ein Konzept strikt eingehalten: Within the publishing world Owen was known for his careful accounting; he paid minimal advances, negotiated subsidies for translations and his prices were higher than the norm, but he paid his staff well and only took a small wage himself; he also typed out his authors’ royalty statements with two fingers on an old typewriter. Wherever translations were concerned, he bought them cheaply from the author’s American publishers. He was also a supreme seller of foreign rights.281 Der Schriftsteller J. G. Ballard wird auf der Homepage des (2019) nach wie vor bestehenden, von Tochter Antonia Owen geführten Verlages282 mit einer Anspielung auf die bescheidenen Anfänge des »flamboyanten« Verlegers Owen zitiert: »Never has an investment of £ 900 produced such vast riches«.283
Verlegerisches Downsizing: Tom Rosenthal Wie Paul Hamlyn, Ernest Hecht und Peter Owen gehörte Thomas (Gabriel) Rosenthal* (1935 London – 2014 London) der »zweiten Emigrantengeneration« an; anders als diese wurde er allerdings bereits im Exil geboren, als Sohn des Orientalisten und Judaisten Erwin Isak Rosenthal (geb. 1904 Heilbronn), der 1933 nach England geflüchtet war und zunächst am University College, London, danach von 1936 bis 1944 an der Manchester University und schließlich in Cambridge als Professor wirkte.284 Thomas Rosenthal er280 Nach einem halben Jahrhundert seines »independent publishing« ist erschienen: Peter Owen: Everything is Nice and Other Fiction. The Peter Owen 50th Anniversary Anthology. London: Peter Owen 2001. 281 Martin Childs: Peter Owen, obituary. In: The Scotsman, 7. Juni 2016 [online]. 282 Erst im April 2016, kurz vor seinem Tod, hatte Peter Owen den auf südosteuropäische Literatur spezialisierten Verlag Istros Books zugekauft. 283 https://www.peterowen.com/about-us/ 284 Werke Tom Rosenthals in Auswahl: European Art History. Cambridge 1960; American Fiction since 1900. Cambridge 1962; The Art of Jack B. Yeats. London 1993; Joseph Albers. Formulation : Articulation. London 2006. – Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 198, 205; Life in books: Friends of Tom Rosenthal celebrate his
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langte in Cambridge den PhD in Kunstgeschichte und ging 1959 zu dem inzwischen bestens eingeführten Kunstbuchverlag Thames & Hudson, wo er als »assistant to the sales manager« eine profunde Lehrzeit absolvierte. Vom Verlagsgründer und -leiter Walter Neurath in unterschiedliche Aufgabenstellungen eingewiesen, erlebte er die Expansion des Unternehmens mit und wurde schließlich Managing Director. Schon seit 1961 machte Rosenthal auch als Chairman der Society of Young Publishers auf sich aufmerksam. 1971 suchte er eine größere Herausforderung und wechselte zum renommierten Literaturverlag Secker & Warburg Ltd., wo er als Verlagsleiter innerhalb eines Jahrzehnts mit einer Mischung aus anspruchsvoller und gut verkäuflicher Literatur, mit Büchern von David Lodge, Tom Sharpe, Saul Bellow, James Michener, Carlos Fuentes, J. M. Coetzee, Heinrich Böll, Günter Grass, Umberto Eco oder Italo Calvino für eine Verfünffachung des Umsatzes sorgte. Schon von 1980 bis 1984 war Rosenthal auch im Vorstand der Heinemann Publishing Group tätig, zu der Secker & Warburg gehörte. Dieses »big business« sagte ihm allerdings nicht zu, zumal Heinemann 1983 einem noch größeren Firmenkonglomerat eingegliedert wurde, und so übernahm er 1984 den Verlag André Deutsch Ltd. von dessen Gründer. Da die Zusammenarbeit zwischen den beiden höchst unterschiedlich strukturierten Persönlichkeiten nicht gut funktionierte, zog sich André Deutsch auf Repräsentativfunktionen zurück. Der Verlag selbst stand vor schwer überwindbaren Schwierigkeiten: er war unterkapitalisiert, vor allem fehlte ihm ein Taschenbuch-Zweig zur eigenen Verwertung der Rechte und Substanzen; immerhin zählten Norman Mailer, John Updike und dann auch Gore Vidal zum Autorenstamm. Aufgrund finanzieller Engpässe wurden 1988 und dann noch einmal 1994 Teile des Archivs abgestoßen, 1990 auch die Kinderbuchabteilung. 1998 verkaufte Rosenthal André Deutsch Ltd. und wandte sich einem neuen Tätigkeitsfeld zu: Noch im gleichen Jahr gründete er gemeinsam mit dem Antiquariatsbuchhändler Rick Gekoski die Bridgewater Press, in der auf 138 Exemplare limitierte, autorensignierte Kleinauflagen von zeitgenössischen Schriftstellern wie William Boyd, John Banville oder Ian McEwan herauskamen, sorgfältig gedruckte Bücher, die allerdings auch bei komplettem Verkauf der Auflage nicht viel mehr als die Kostendeckung abwarfen. Der letzte Titel dieser Presse – Sebastian Barrys A Tale With Two Joes in It – erschien 2010.285
seventieth birthday. Ed. Anthony Rudolf. London 2005 [Festschrift]. ‒ Tom Rosenthal: Walter and Eva Neurath: Their books married words with pictures. 285 Neben seiner Tätigkeit als Verleger war Rosenthal aber immer auch als Kunstkritiker (u. a. für The Listener, New Statesman, Independent, Spectator, auch für die BBC) und Autor von Monographien zu zeitgenössischer Kunst tätig; 2005 erschien für den distinguierten Londoner Verleger eine Festschrift in nummerierter Auflage, zu der befreundete Schriftsteller wie William Boyd, Günter Grass, David Lodge, Nicholas Mosley, Salman Rushdie und Gore Vidal Beiträge lieferten. Einen Monat vor seinem Tod übergab Rosenthal seine Sammlung von 2.000 Kunstbüchern als Schenkung an die Bibliothek des Pembroke College. In den Nachrufen wurde er als »one of the most eminent publishers of his generation« gewürdigt, siehe Tom Rosenthal – obituary. In: The Telegraph, 22. Januar 2014 [online]. – Ion Trewin: Tom Rosenthal – obituary. In: The Guardian, 6. Januar 2014 [online]; anon. Obituary: Tom Rosenthal. In: Publishers Weekly, 7. Januar 2014 [online; mit Berichtigungen seitens Tom Rosenthals Sohn Daniel R.].
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Selbstverständlich gab es in Großbritannien in der Zeit nach 1945 neben den genannten großen Verlegerpersönlichkeiten auch eine ganze Reihe weniger prominenter Emigranten, die sich nach ihrer Flucht vor dem Nationalsozialismus verlegerisch betätigt und auf ihre Weise zu der eindrucksvollen Gesamtbilanz dieser Gruppe beigetragen haben. Zwei Beispiele seien stellvertretend für andere genannt, Paul Elek und John Calmann. Paul Elek* (1906 Budapest – 1976 London), Sohn eines ungarisch-jüdischen Druckers, war 1938 nach Großbritannien emigriert und hatte während des Zweiten Weltkrieges in London begonnen, in einer kleinen Druckerei Jahrbücher zu drucken und zu verlegen.286 Nach 1945 gründete er im Stadtteil Hatton Garden Elek Books Ltd., später Paul Elek Ltd. In den 1950er Jahren erzielte er mit der Reihe »Camden Classics«, sorgfältig edierAbb. 9: Tom Rosenthal, ten und von angesehenen Illustratoren ausgeals Literaturverleger höchst erfolgreich bei Secker & Warburg, statteten Klassikerausgaben, einen beachtlichen weniger erfolgreich als Nachfolger Erfolg; die Buchreihen »Vision of England« von André Deutsch. (1946 bis 1950) und »Cities of Art« standen am Beginn seines Segments an sorgfältig ausgestatteten Reiseführern. Auch im »book-packaging« war Elek tätig; so beteiligte er sich mit Time Life an den Serien »Coaching« und »The Grand Tour«. Binnen drei Jahrzehnten verlegte Elek über 1.000 Titel, heute erkennt man in den reich bebilderten Englandbüchern seines Verlages Dokumente von unschätzbarem zeithistorischem Wert. Im Verlag von Elek und bei Béla Horovitz (Phaidon) erlernte John Calmann (1935 – 1980), der als Kind nach England gekommen war und am Christ Church College in Oxford studiert hatte, das verlegerische Knowhow, bevor er 1979 seinen eigenen Verlag John Calmann & Cooper (später John Calmann & King) gründete.287 Nach seinem Tod übernahm seine Schwester Marianne Calmann, die zuvor bei Mary Glasgow Publishers als Verlegerin tätig war, die Firma, die Ende der 1990er Jahre mit Büchern zu den Themen Kunst, Design, Musik, Architektur und Fotografie einer der führenden »book-packager« Englands war.
286 Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 205; A Vision of England. The decade after World War II was a golden age of illustrated topographical books on Britain. Among the finest were those published by Paul Elek. In: Apollo, 1. April 2008 [online]. 287 The Letters of John Calmann 1951‒1980. Ed. Diana Davies. London: J. Murray 1986; Westphal: German, Czech and Austrian Jews in English Publishing, S. 205.
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Andrew Fabinyi: Impulse für den Buchmarkt in Australien Die Wirkungsgeschichte des verlegerischen Exils reicht bis nach Australien. Hauptverantwortlich dafür war Andor / Andrew Fabinyi* (1908 Budapest – 1978 Hornsby, Sydney); er hatte in Budapest ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen und, nach zeitweiliger Tätigkeit in der Lauffer’schen Buchhandlung, 1932 einen Importvertrieb englischer Bücher gegründet.288 Aus Sorge vor der ungarischen Revisionspolitik und dem Erstarken nationalsozialistischer Volksgruppenpolitik suchte er um ein Ausreisevisum nach Neuseeland an. Als er am 17. Juli 1939 Melbourne erreichte, entschied er sich, in Australien zu bleiben, weil er sofort eine Anstellung in der Buchhandlung F. W. Cheshire erhielt. Im Mai 1940 erlangte Fabinyi, nun mit anglisiertem Vornamen, die Aufenthaltsgenehmigung, 1944 die Einbürgerung; zwischen 1942 und 1946 diente er in den Citizen Military Forces. Als Geschäftsführer des der Buchhandlung angeschlossenen kleinen Verlags war Fabinyi seit 1954 gemeinsam mit Frank Walter Cheshire maßgeblich beteiligt an der Aufwärtsentwicklung des Verlagshauses F. W. Cheshire Publishing Pty Ltd. Dessen verlegerisches Konzept beruhte auf einem breit aufgefächerten Programm, das zeitgenössische belletristische Autoren ebenso umfasste wie politische und landwirtschaftliche Sachbücher, Kunstbände und Lehrbücher. Obwohl zahlreiche Titel aus Großbritannien importiert wurden, schuf der mit Filialen in Canberra und Sidney expandierende Verlag doch auch die Basis für eine genuin australische Buchproduktion und regte, vor Gründung der kontinentalen Universitätsverlage, ein eigenständiges wissenschaftliches Publikationswesen an. Als Fabinyi 1968/1969 den Vorstandsposten bei Cheshire innehatte, umfasste die Gruppe auch die Lansdowne Press, Jacaranda Press und Bellbird Books. 1969 wechselte er in leitender Funktion zu Pergamon Press (Australia) und war von 1975 bis 1977 Direktor des Unternehmens. Da er aber den Kurs des Pergamon-Eigentümers Robert Maxwell nicht mittragen wollte, verließ er das Unternehmen und widmete sich fortan vermehrt dem Schreiben,289 insbesondere als »Research Fellow« an der University of New South Wales. Dem Buchhandel und Verlagsgeschäft blieb Fabinyi jedoch als Direktor des La Trobe University Bookshop (seit 1970) und von Longman Cheshire (seit 1977) bis zu seinem Tod verbunden. Fabinyi, der 1960 mit dem »Order of the British Empire« geehrt wurde, wirkte auf vielen buchhandelsorganisatorischen, kulturellen und kulturpolitischen Ebenen: er führte u. a. die »Australian Book Week« ein, war Präsident des »Australian Bookfair Committee« (1955‒1960), Vorsitzender des »Australian Book Trade Advisory Committee« (1966‒1968), Präsident der »Australian Book Publishers Association« (1965‒1970), Abteilungsdirektor der »Library Association of Australia« und von 1966 bis 1977 in leitenden Positionen in der UNESCO tätig. Unter dem Pseudonym Peter Pica schrieb Fabinyi in der Australian Book Review Glossen zu allen Fragen
288 Vgl. A nation apart. Essays in honour of Andrew Fabinyi; John Curtain: Art. Fabinyi, Andrew. In: Australian Dictionary of Biography. Vol. 14, Melbourne University Press 1996 [online]; Art. Fabinyi, Andrew. In: Monash Bibliographical Dictionary of 20th Century Australia. Port Melbourne Vic.: Reed Reference Publishing 1994, S. 175. 289 Unter den von Andrew Fabinyi verfassten Werken erscheinen besonders bemerkenswert: The Australian Literary Scene. Canberra: News and Information Bureau 1960; Social and Cultural Issues of Migration, Sydney: Pergamon Press 1970.
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des kontinentalen und asiatischen Buchhandels. Der australische Schriftsteller und Verlegerkollege Max Harris nannte Fabinyi »the most practical visionary in the history of modern Australian publishing«.290
Sortimentsbuchhandlungen als Stützpunkte des internationalen Buchhandels und der Emigrantenkultur Beachtlich war der Zugewinn, den die Buchwirtschaft und Buchkultur weltweit verzeichnen konnten, nicht allein auf der Ebene der Verlage. Auch im Sortimentsbuchhandel hat das buchhändlerische Exil nachhaltige Wirkung entfaltet, und anders als bei den auf die USA und Großbritannien konzentrierten Verlegerkarrieren waren es im Einzelbuchhandel über viele Länder und Kontinente verstreute Orte, an denen aus Deutschland und Österreich stammende Hitlerflüchtlinge Stützpunkte des vertreibenden Buchhandels errichtet haben. Ein Teil der Firmen, die unmittelbar in den Jahren nach der erzwungenen Auswanderung entstanden waren, blieb nach Kriegsende erhalten, zahlreiche weitere Unternehmen kamen aber noch hinzu. Die meisten von ihnen sind bereits im Kapitel Sortimentsbuchhandel vorgestellt worden, und immer wieder war dabei auch von der Kultur- und Vermittlungsfunktion die Rede, die einzelne Buchhandlungen durch den Handel mit deutsch- und fremdsprachigen Büchern schon in der eigentlichen Exilphase entwickelt haben. Diese interkulturelle Brückenfunktion konnte nach Kriegsende und nach Wiederaufnahme freier Handelsbeziehungen weiter und z. T. im großen Stil ausgebaut werden, indem sich die Emigranten, vielfach unter Ausnützung ihres aus der Heimat mitgebrachten Knowhow und der in den Aufnahmeländern erworbenen Spezialkenntnisse, erfolgreich als Import- und Exportbuchhändler betätigt und auf ihre Weise zur Verdichtung des globalen Buchhandels beigetragen haben. Dies gilt besonders für Nordamerika, für die bereits vorgestellten, hauptsächlich im Buchimport tätigen Emigranten Arthur M. Adler*, Friedrich Krause*, Gerard J. Fuchs* oder Mary S. Rosenberg*, ebenso jedoch für Südamerika.291 Als der Leiter (seit 1964 offizieller Direktor) der Frankfurter Buchmesse Sigfred Taubert 1961 im Auftrag des Börsenvereins eine Rundreise durch Lateinamerika machte, um die Absatzmöglichkeiten für das deutsche Buch zu erkunden, war er positiv überrascht von der Vielfalt und Leistungsfähigkeit jener international ausgerichteten Buchhandelslandschaft, an der gerade die aus Deutschland stammenden den größten Anteil hatten. Zu den schon in den 1930er und 1940er Jahren errichteten, florierenden Firmen der Geyerhahns*, Guttentags*, Henschels*, Ungars* u. a. waren noch weitere hinzugekommen, so etwa in Bogotá mit Karl Buchholz, der sich 1951 hier angesiedelt hatte und als repräsentatives Beispiel für jene international operierenden deutschsprachigen Buchhändler gelten kann, die zu mehreren nationalen Buchmärkten in Europa und Übersee Geschäftskontakte unterhielten. Eine wichtige Verbindungsfunktion nicht nur nach ihrem Stützpunkt in Rio de Janeiro nahm auch Susan Eisenberg-Bach mit ihrer Buchimport/-exportfirma mit Versandantiquariat wahr; sie hat in den 1950er Jahren als erste damit begonnen, brasilianische
290 Zit. n. John Curtain: Art. Fabinyi, Andrew [online]. 291 Zu diesen und den nachfolgend genannten Namen siehe das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel.
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Bücher zu exportieren und amerikanische sowie europäische Bibliotheken und Institutionen zu beliefern.292 Die schweren personellen Verluste, die der deutsche Buchhandel durch die Ausgrenzung und die Vertreibung mit der besten seines Metiers durch den nationalsozialistischen Ideologie- und Rassenwahn zu büßen hatte, ließen sich durch die neugewonnenen Geschäftsbeziehungen ins Ausland zwar nicht ausgleichen. Aber nach 1945 profitierte die deutsche Buchwirtschaft doch ganz entschieden von diesen über die gesamte Welt verstreuten Stützpunkten des Buchexports; die zahlreichen, vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und auch von der Bundesregierung an Exilbuchhändler vergebenen Auszeichnungen sind als Beleg dafür zu werten. Neben der buchhandelstechnischen Vernetzung hatten viele im Exil gegründete Buchhandlungen aber auch noch eine andere, nicht minder wichtige Funktion: als Anlaufstelle für die jeweiligen lokalen Gruppen der deutschsprachigen Emigration, die in den dort angebotenen Büchern ein Stück Heimat fanden und sich auch mit dem Buchhändler oder als Kunden untereinander austauschen konnten. Solche Treffpunkte waren in den entlegenen Ländern des südamerikanischen Kontinents sicherlich von besonderer Bedeutung, aber auch in den Großstädten der USA und Europas haben sich buchhändlerische Kristallisationspunkte der Emigration gebildet, die eine soziale und kommunikative Funktion wahrnahmen. In New York etwa galt das, mindestens für begrenzte Zeit, für die Buchhandlung von Peter Thomas Fisher, Künstlerkreise und Kunstbuchliebhaber trafen sich bei Wittenborn* & Schultz*; von beiden Buchhandlungen haben sich Gästebücher erhalten, in denen sich diese gesellschaftliche Funktion aus Schönste dokumentiert. Parteikommunisten fanden bei Herman Kormis* einen Anlaufpunkt, und als ein großes Auffangbecken der jüdischen Emigration bot New York auch der orthodoxen Judenschaft buchhändlerisches Asyl, vor allem mit der Buchhandlung von Philip Feldheim*, die aufgrund ihres umfangreichen Sortiments an jüdischer Literatur Berühmtheit erlangte, aber auch als ein Ort des Informationsaustausches. Ähnliches kann auch aus Europa berichtet werden, und im Falle der Londoner Firma von Joseph Suschitzky* ist bereits ausführlich dargelegt worden,293 wie sehr die 1946 gegründete »Libris«-Buchhandlung mit Antiquariat einen besonderen Anziehungspunkt für die deutschsprachige Emigrantengruppe bildete, indem sie seit 1951 in der Boundary Road nicht nur das umfangreichste Lager an deutschsprachigen Büchern in ganz Großbritannien unterhielt, sondern auch bis zum Beginn der 1970er Jahre jeden Samstag zu einem literarischen Salon einlud, der sich großer Beliebtheit erfreute.
292 Als ein europäisches Beispiel und gleichzeitig als Beleg für die lange Nachwirkung des Exils kann die erst 1958 in Lissabon errichtete Buchhandlung von Alfons Cassuto* (1910 Hamburg – 1999) betrachtet werden. Cassuto war, kurz vor seiner akademischen Abschlussprüfung stehend, am 1. April 1933 mit seinen Eltern aus Hamburg und unter Mitnahme einer wertvollen, über Generationen zusammengetragenen Sammlung jüdischer und sephardischer Bücher über Amsterdam nach Portugal geflüchtet, wo er zunächst in Porto als Hebräischlehrer tätig war und auch wissenschaftlich publizierte. Später zog er nach Lissabon und eröffnete dort 1958 die Livraria Cassuto, nachfolgend nach seinem Schwiegersohn Livraria Rosenthal benannt. Die Buchhandlung hatte bis 1988 Bestand. 293 Zu den Genannten Wittenborn, Schultz, Feldheim und Suschitzky siehe das Kap. 6.2 Sortimentsbuchhandel.
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Diese sozial-kommunikative Rolle von Buchhandlungen ist auch in Paris auf geradezu paradigmatische Weise realisiert worden: mit den beiden legendär gewordenen Buchhandlungen und Antiquariaten von Martin Flinker und Fritz Picard, die Jahrzehnte lang Anlaufstellen für in Paris lebende Schriftsteller, Literaturinteressierte, Intellektuelle und Künstler gewesen sind, ebenso jedoch für durchreisende Buchliebhaber aus Deutschland und aller Welt. Ihre Inhaber waren hochgeschätzte Repräsentanten einer Buchkultur, die von ihren Buchläden musterhaft verkörpert wurde: Bücherlabyrinthe, in denen für Kenner – oder für jene, die sich kundiger Führung überließen – Überraschungsfunde garantiert waren.
Die Librairie Martin Flinker in Paris und Fritz Picards Librairie Calligrammes Martin Flinker* (1895 in Czernowitz/Österreich-Ungarn – 1986 Paris) hatte in Wien seit 1931 eine auf den Handel mit moderner Literatur spezialisierte Sortimentsbuchhandlung geführt, die mit Kunden wie Stefan Zweig, Joseph Roth, Elias Canetti, Robert Musil oder Franz Werfel rasch zu einer bekannten literarischen Institution wurde, zumal Flinker auch Almanache (Dr. Martin Flinker’s Ratgeber für Bücherfreunde, 1933, unter wechselndem Titel bis 1938) publizierte und Dichterlesungen veranstaltete.294 Unmittelbar nach der Annexion Österreichs flüchtete er mit seinem 13-jährigen Sohn Karl unter Verlust des gesamten Sortiments295 nach Zürich und von dort – nachdem seine mit Hilfe Thomas Manns unternommenen Bemühungen um ein Aufenthaltsvisum für die Schweiz aussichtslos erschienen –, weiter nach Frankreich, zunächst nach Paris und im Frühjahr 1939 in die Normandie. Nach Kriegsbeginn wurde Flinker interniert, während sein Sohn in Limoges von der Militärzensurbehörde als Übersetzer für die Post deutscher Kriegsgefangener dienstverpflichtet wurde. Aufgrund seiner Kontakte gelang es Karl, dass sein Vater aus dem Internierungslager entlassen wurde. Von Limoges aus flüchteten beide im Juni 1940 nach Bordeaux, und von dort nach Marokko, wo sie in Tanger die Jahre des Krieges überdauerten. Nach Kriegsende erfuhr Flinker vom Tod seiner Frau im KZ Theresienstadt und entschloss sich Ende 1945, nach Frankreich zurückzukehren. 1947 errichtete Flinker in Paris am Quai des Orfèvres, 68, mit finanzieller Hilfe des französischen Abgeordneten und späteren Ministerpräsidenten Robert Schuman, eine deutsche Buchhandlung, die Librairie Martin Flinker.296 Um seine Schulden begleichen zu können, hielt er die Buchhandlung jahrelang bis tief in die Nacht geöffnet, was sie
294 Siehe u. a. Scherer: Martin Flinker, der Buchhändler; Scherer: Erinnerung an Martin Flinker (1895‒1986); Martin et Karl Flinker. De Vienne à Paris. [Ausstellungskatalog] Paris 2002; Scheuer-Weyl: Der Buchhändler Martin Flinker Wien / Tanger / Paris 1895‒1986. – Der Nachlass Martin Flinkers (»Librairie allemande Martin Flinker«) befindet sich im IMEC Institut Mémoires de L’Édition Contemporaine, Paris. 295 Hupfer: Zur Geschichte des antiquarischen Buchhandels in Wien, S. 260. 296 Flinkers Verdienste um die deutsch-französische Verständigung und den Kulturaustausch wurden 1973 mit seiner Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion gewürdigt, 1977 erhielt er die Ehrenmedaille des Börsenvereines. Dazu: Bbl. (Ffm) Nr. 49 vom 21. Juni 1977, S. 6; Bbl. (Ffm) Nr. 55 vom 12. Juli 1977, S. 13 f.; Bbl. (Ffm) Nr. 75 vom 20. September 1977, S. 16 (Berichtigung).
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Abb. 10: Martin Flinker und sein Sohn Karl bei der Eröffnung der Buchhandlung in Paris, die zu einer beliebten Anlaufstelle für Bücherliebhaber und Literaturfreunde werden sollte. Einige Berühmtheit erlangte später das handgeschriebene Schild, man dürfe den Laden nur zum Einkauf, nicht zum Stöbern betreten.
zu einem vielbesuchten Intellektuellentreffpunkt machte. Flinker betätigte sich gelegentlich auch verlegerisch und brachte in den Éditions Flinker u. a. zwei Gedichtbände von Henri Michaux heraus; außerdem veröffentlichte er auch hier wieder zwischen 1954 und 1958 seine nunmehr zweisprachigen literarischen Almanache und publizierte eigene literaturkritische Essays über Thomas Mann, Robert Musil, Rudolf Kassner und Joseph Roth. Bis zu seinem Tod 1986297 leitete er seine Librairie mit Antiquariat; von ihm gibt es zahlreiche journalistische Porträts sowie Berichte über Erlebnisse in der Buchhandlung, die sich den Besuchern eingeprägt haben.298
297 Nachruf: Bbl. (Ffm) Nr. 54 vom 8. Juli 1986, S. 1896. 298 Beispiele: Florian Welle: Der Buchhandelskünstler. Paris erinnert an Martin und Karl Flinker. In: SZ, 24. April 2002, S. 18; Ralf Klingsieck: Bei Flinker in Paris gestöbert. Erinnerung an einen legendären Buchhändler. In: Bbl. Nr. 43 vom 31. Mai 2002, A271‒A274. ‒ Flinkers Sohn, der Anfang der 1950er Jahre in der Schweiz eine verlegerische Ausbildung erhalten und bis 1960 in der väterlichen Buchhandlung und im Verlag mitgearbeitet hatte, betrieb danach im Quartier Latin eine Galerie für zeitgenössische Kunst; er starb 1991. Zuvor hatte der Berner Buchhändler Kurt Salchi 1989 von ihm die Buchhandlung Flinker erworben, doch entgegen seiner ursprünglichen Absicht das Geschäft nicht fortgeführt; die Librairie Martin Flinker schloss 1990. Dazu: Bbl. Nr. 22 vom 16. März 1990, S. 952 (Schließung der ältesten deutschsprachigen Buchhandlung in Paris).
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Tatsächlich gab es wohl selten bessere Kulturbotschafter als jene Buchhändleremigranten, die ihre Läden zu einem Ort machten, an welchem sich Literaten, Intellektuelle und Künstler aus vor kurzem noch kriegsgegnerischen Ländern zu gemeinsamem, freundschaftlichem Gespräch zusammenfanden. Einen solchen völkerverbindenden »salon littéraire« führte in Paris auch Fritz Picard* (1888 Wangen – 1973 Paris).299 Als Ernst Friedrich Pickard am Bodensee geboren, war er schon als Gymnasiast ein Buchliebhaber, arbeitete aber nach seiner Schulzeit zunächst in kaufmännischen Berufen.300 Nach Ende des Ersten Weltkriegs beteiligte er sich aktiv an der Novemberrevolution in Straßburg, Berlin und Konstanz; ab 1921 arbeitete Picard als bald sehr erfolgreicher Verlagsvertreter, zunächst für den Avalun-Verlag und E. P. Tal, beide in Wien, dann für die Verlage Die Schmiede, Jakob Hegner und vor allem für Bruno Cassirer.301 Er verkehrte damals in Künstlerkreisen in Berlin und lernte dort viele Schriftsteller und Maler kennen (u. a. Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam, Erich Kästner, Max Liebermann, George Grosz sowie Ludwig Meidner), die z. T. zu lebenslangen Freunden wurden. Nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 gewährte Picard einigen politisch exponierten Verlegern und Buchhändlern Unterschlupf, so Wieland Herzfelde, den er zuvor oft in dessen Malik-Verlag besucht hatte, und Joseph Lang, Buchhändler sowie Funktionär in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Durch einen amtlichen Irrtum ‒ an seiner Stelle wurde ein Bruder aus Deutschland ausgewiesen ‒ lebte Picard unbehelligt bis 1938 in Deutschland, konnte als Verlagsvertreter auch Auslandsreisen unternehmen, wobei er illegale Kurierdienste für den antifaschistischen Widerstand leistete. Nachdem er von der Reichsschrifttumskammer – wie viele andere – die amtliche Mitteilung erhalten hatte, er sei als Jude nicht befähigt, zur Verbreitung deutschen Schrifttums beizutragen, verließ er Deutschland unter Zurücklassung seiner Bibliothek von 7.000 Bänden, ebenso wie seine Hauptauftraggeber Bruno Cassirer, der nach England ging,302 und Jakob Hegner, der nach einem Zwischenaufenthalt in Österreich ebenfalls in England landete. Picard ging nach Paris und lebte dort zunächst von Übersetzungsarbeiten, etwas später zog er mit Familie in die Normandie. Nach Kriegsbeginn wurde Picard in verschiedenen Internierungslagern festgehalten, zuletzt in der Nähe von Limoges; dem Zugriff der Gestapo konnte er sich 1942 durch eine abenteuerliche Flucht in die Schweiz entziehen. Dort kam er erneut in ein Lager, wurde aber auf Gesuch von Ruth Fabian entlassen, damals Angestellte des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks.303 Da Picard aus früherer 299 Anlässlich des 20jährigen Bestehens von Calligrammes wurde Picard im April 1971 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels für seine Verdienste um die Verbreitung des deutschen Buches geehrt. 300 Siehe HABV / DNB (Briefe); Sammlung Fritz Picard – Librairie Calligrammes Paris. Antiquariatskatalog d. Antiquariats Die Silbergäule, Hannover 1992 (mit ausführlicher, dokumentengestützter biogr. Skizze) sowie Fischer: Handbuch, mit Hinweisen u. a. auf zahlreiche Bbl.-Artikel. 301 Vgl. Fritz Picard: Wie ich zum Buchhandel kam. In: Der Junge Buchhandel, Beilage z. Bbl. (Ffm) Nr. 65 v. 14. August 1964, S. J127 f. 302 Zu Picard / Cassirer siehe Feilchenfeldt: »Alles ist umständlich, schon wegen der Sprache, geht langsam …«. 303 Ruth Fabian* (1907 Bockow bei Berlin – 17. 3. 1996 Paris), Tochter von Alwin Loewenthal, des Mitbegründers des Welt-Verlags und Gesellschafter des Jüdischen Verlags, hatte Jura studiert, war aber 1933 als »Nicht-Arierin« aus dem Referendariat am Berliner Kammer-
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Zeit gute Beziehungen zum Schweizer Buchhandel hatte, durfte er sich dort bis 1945 in eingeschränkter Weise buchhändlerisch betätigen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging er, Ruth Fabian folgend, nach Paris, mit einem Kapital von 100 Franken und dem Auftrag von zwei Züricher Antiquaren, in Paris deutsche Bücher zu kaufen. Von einer Wohnung aus baute er nachfolgend einen eigenen Grundstock an Büchern auf und eröffnete zusammen mit Ruth Fabian Anfang 1950 im Quartier Saint-Germain-dePrès die Librairie Calligrammes (Librairie Allemande Calligrammes), wobei das erste Geschäftslokal in der Rue du Dragon nicht viel mehr war als »25 Quadratmeter mit Waschbecken«. Nach zweimaligem Ortswechsel wurde die Buchhandlung mit Antiquariat immer mehr zu einem Treffpunkt deutscher und französischer Autoren, Künstler und Studenten: Ein Büchergewölbe, ein expressionistischer kleiner Tempel, in dem die aufgestapelten Bücher wie schräge Säulen, nur von guten Geistern festgehalten, bis unter die Decke reichten. Auch auf dem Schreibtisch waren die Bücher so dicht gestapelt, dass für Fritz Picard nur eine kleine Öffnung blieb, durch die er mit seiner weissen Löwenmähne über der hohen Stirn und der obligatorischen, gepunkteten Fliege dem Besucher mit freundlicher Aufmerksamkeit durch seine fokussierende Lupenbrille entgegenblickte.304 Benannt nach Guillaume Apollinaires Gedichtsammlung Calligrammes führte die Buchhandlung hauptsächlich deutschsprachige Bücher des Expressionismus, Dadaismus und der Literatur der 1920er Jahre, aber auch Lichtenberg, Goethe, Hölderlin und Nietzsche; hier fanden sich die Künstler und Literaten der frühen Moderne selbst ein, Max Ernst, Raoul Hausmann, Hans Richter, Walter Mehring, Franz Jung und andere, auch Annette Kolb und Vertreter der Pariser Kunst- und Intellektuellenszene. Lesungen und Vorträge hielten u. a. Hannah Arendt, Claire Goll und Paul Celan. Nach Fritz Picards Tod 1973 wurde die Buchhandlung noch über 25 Jahre lang von Ruth und Walter Fabians Tochter Annette Antignac* (8. 3. 1940 Paris) weitergeführt. Sie hatte das buchhändlerische Handwerk zunächst im Otto Maier Verlag in Ravensburg gelernt, später beim Atlantis Verlag und bei Nathan in Paris. Mitte der 1960er Jahre trat sie in die Librairie Calligram-
gericht entlassen worden. Selbst Mitglied der SPD, hatte sie mit ihrem ersten Mann, dem sozialdemokratischen Politiker Walter Fabian, bis 1935 den Widerstand der Sozialistischen Arbeiterpartei organisiert, war dann in die ČSR und von dort nach Paris emigriert, wo sie ihren Lebensunterhalt mit den Einkünften aus einem von ihr gegründeten Zeitungsausschnittbüro bestritt. Seit 1939 war sie mit Fabian für das Emergency Rescue Committee von Varian Fry tätig, seit 1940 in Marseille. 1942 flüchtete sie mit ihrem Ehemann und Tochter Annette in die Schweiz, und erhielt dort aufgrund des noch unter fünf Jahre alten Kindes eine Aufenthaltserlaubnis. Nach Ende des Krieges ging Fabian nach Paris zurück, wo sie Vorstandsmitglied der »Solidarité«, der Hilfsorganisation für deutsche und österreichische jüdische NS-Opfer in Frankreich und Lebensgefährtin von Fritz Picard wurde. Siehe Deutsches Exilarchiv / DNB, Teilnachlass mit Lebensdokumenten EB 92/128; Zum Tode von Ruth Fabian [Nachruf von Klaus Voigt] in: Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung Nr. 7, Juni 1996, S. 6 f. 304 Ulrike Ottinger: Zwei deutsche Patriarchen in Paris [online].
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Abb. 11: Fritz Picard vor seiner 1950 gemeinsam mit Ruth Fabian gegründeten Buchhandlung »Calligrammes« im Quartier Saint-Germain-de-Près, beliebt bei Autoren, Künstlern und Intellektuellen.
mes ihres »zweiten Vaters« Fritz Picard ein, und führte nach Übernahme der Buchhandlung die Praxis fort, im Rahmen der deutsch-französischen Annäherung literarische Veranstaltungen zu organisieren. Ende März 1999 musste Antignac, nachdem sie schon zuvor den Laden verkleinert hatte, die Librairie Calligrammes aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben.
Zur Wirkungsgeschichte des Exils im Antiquariatsbuchhandel nach 1945 Unternehmerische Höhenflüge wie im Verlagsbereich können im Antiquariatsbuchhandel nur selten gelingen. Und doch hat die deutschsprachige Emigration Antiquarspersönlichkeiten aufzuweisen, deren Karrieren vergleichbar eindrucksvoll sind und die in den Jahrzehnten nach 1945 ihrem Metier im internationalen Maßstab den Stempel aufgedrückt haben. Diese Persönlichkeiten und ihre Firmen sind in diesem Band im Kapitel Antiquariatsbuchhandel bereits ausführlich vorgestellt worden, an ihrer Spitze H. P. Kraus, in seiner Zeit sicherlich die auffälligste Erscheinung im gesamten internationalen Antiquariatsbuchhandel. Kraus sprengte mit seiner Art der Berufsausübung alle damals bekannten Grenzen, nicht nur in finanzieller Hinsicht: Mehr als 220 hervorragend bear-
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beitete Kataloge, generell die Hochwertigkeit der von ihm gehandelten Ware, ein Kundenstamm, zu dem die bedeutendsten Büchersammler der Zeit gehörten, spektakuläre Aktionen auf Buchversteigerungen waren die Ingredienzien einer außerordentlichen Karriere, die von einem Wiener Außenbezirk in die Mitte von Manhattan geführt hat. H. P. Kraus hatte in den USA allerdings eine ganze Reihe von Kollegen, deren Erfolg im Geschäftsleben auf ihren jeweiligen Gebieten ebenfalls beachtlich war, wenn auch weniger spektakulär. Dies gilt etwa für William Henry Schab, Otto Ranschburg oder Herbert Reichner ebenso wie für die Ehepaare William und Marianne Salloch sowie Frederick und Ilse Bernett, Walter Schatzki, Kurt L. Schwarz oder Erwin und Bernard M. Rosenthal. Die meisten hatten stupende Fachkenntnisse mitgebracht und nutzten ihre Chance, im neuen Umfeld eine herausgehobene Position zu erringen. Einige äußere Faktoren kamen ihnen dabei entgegen: nicht nur gab es ein aufnahmefähiges Sammlerumfeld, auch die amerikanischen Rare Book Departments erwiesen sich als gute Kunden. Zudem wussten die emigrierten Antiquare, auf welchen Wegen sie in Europa für ihre Abnehmer in den USA an hochwertiges Material – von Handschriften und Inkunabeln bis zu illustrierten Drucken aus allen Jahrhunderten und spezifischer Wissenschaftsliteratur – herankommen konnten; gerade die unmittelbare Nachkriegszeit bot dafür besondere Möglichkeiten. Die Frage nach Bedeutung und Einfluss der Immigranten aus dem kontinentalen Europa ist bereits 1986 von einem ihrer wichtigsten Repräsentanten, Bernard M. Rosenthal, untersucht und auch beantwortet worden: Danach wurde die Antiquariatslandschaft in den USA im Rahmen dieser »Gentle Invasion« nicht bloß am Rande, sondern »dramatisch und permanent verändert«.305 Auch die Tatsache, dass mehrere von ihnen zu Präsidenten und Vizepräsidenten der Antiquarian Booksellers Association of America (ABAA) berufen worden sind, gibt einen Hinweis darauf, wie rasch sie in das Geschäftsleben integriert wurden und wie sehr ihr Wirken unter der amerikanischen Kollegenschaft Anerkennung gefunden hat. Und wenn der am 14. Januar 2017 im 97. Lebensjahr als letzter großer Vertreter einer Antiquarsdynastie, ja einer Ära des Antiquariatsbuchhandels verstorbene Bernard M. Rosenthal in den Nachrufen mit Attributen wie »The most respected man in the booktrade«, »a giant in the field«, »a scholar and a gentleman« bedacht wurde, dann lässt auch dies auf eine Wertschätzung schließen, die größer kaum gedacht werden kann.306 Großbritannien hatte bei Ankunft der Emigranten eine vergleichsweise höher entwickelte Antiquariatslandschaft als die USA; trotzdem gelang es auch hier zahlreichen Neuankömmlingen, sich neu zu etablieren und sich in der ersten Liga des Antiquariatsbuchhandels festzusetzen. Dafür stehen Namen wie Ernst Weil, Louis Bondy, Hans Preiss, Ernest Seligmann oder Heinrich Eisemann, der schon seit seiner Vertreibung aus Frankfurt am Main, ähnlich wie später Bernd Breslauer, für Spezialkunden tätig war und in der kommissionsweisen Vermittlung von wertvollen Handschriften und Inkunabeln sowie Autographen und Gemälden einen ersten Rang beanspruchen durfte. Dass nach Ende des Weltkriegs auch in anderen Ländern Emigranten aus Deutschland nachhaltig auf die Antiquariatslandschaft vor Ort eingewirkt haben, soll mindestens
305 Vgl. hierzu das Kap. 6.3 Antiquariatsbuchhandel. 306 Quellennachweise bei Fischer: Bernard M. Rosenthal (1920–2017). Ein Nachruf.
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angedeutet werden. Ein schlagendes Beispiel dafür findet sich in Kanada: Dort hat Bernard Amtmann nicht bloß durch seine weit ausgreifende Tätigkeit als Antiquar, sondern auch als Betreiber einer Buchauktions-Plattform, als Gründer eines eigenen Berufsverbandes und nicht zuletzt durch die von ihm initiierte Canadian National Bibliography den Antiquariatsbuchhandel entscheidend vorangebracht. In Kontinentaleuropa fällt der Blick u. a. auf das Erasmus-Antiquariat in Amsterdam, in welchem Abraham Horodisch zum 50-jährigen Bestandsjubiläum 1984 auf eine überaus erfolgreiche Tätigkeit zurückblicken konnte, für die er denn auch zahlreiche hohe Auszeichnungen erhielt.
Emigranten und Remigranten und die Internationalisierung der Frankfurter Buchmesse Die Frankfurter Buchmesse errang nach ihrer Wiederbegründung 1949 erstaunlich rasch jene internationale Dimension, die sie bis heute auszeichnet.307 In gewisser Hinsicht war die Buchmesse der erste Ort, an dem – nach den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem weite Teile Europas verheerenden Weltkrieg – die Reintegration Deutschlands in die internationale Völkergemeinschaft befördert wurde: »Zu Anfang waren es die etwa 200 deutschen Verleger, die äußerste Dankbarkeit erwiesen für alle Kontakte mit Kollegen aus aller Welt, die zuerst wieder die geistige und ökonomische Isolierung überbrücken halfen.«308 Unter den Faktoren, die diese bemerkenswerte Entwicklung begünstigt haben, verdient die Rolle der aus Hitlerdeutschland vertriebenen Buchhändler und Verleger besondere Beachtung. Nur einige wenige von ihnen waren nach 1945 auf Dauer nach Deutschland zurückgekehrt, die meisten aber, die sich in ihren Fluchtländern eine neue Existenz aufgebaut hatten, kamen nun als Repräsentanten ihrer ausländischen Unternehmen nach Frankfurt und erneuerten so immerhin für eine Woche im Jahr die Verbindung zur einstigen Heimat. Beide, Rückkehrer und Nicht-Rückkehrer, haben auf ihre Weise dazu beigetragen, die Frankfurter Buchmesse zu einem Fenster in die Welt und zur führenden Plattform des internationalen Handels mit Buchrechten auszugestalten. Der prominenteste Vertreter der Gruppe der Remigranten war zweifellos Gottfried Bermann Fischer. Er verkörperte die positiven Wirkungen des in der Emigration erworbenen und dann in Deutschland zielstrebig für die Verlagsarbeit fruchtbar gemachten internationalen Horizonts auf eindrucksvolle Weise. Bereits auf der zweiten Buchmesse 1950 erzeugte das Programm des nunmehr in Frankfurt am Main angesiedelten S. Fischer-Verlags einiges Aufsehen. In Bermann Fischers Erinnerung hat sich dieser erste Messeauftritt seines Verlages nach dem Krieg tief eingeprägt: Es war zum erstenmal nach Beendigung des Krieges, daß eine solche Fülle von seit langer Zeit aus Deutschland verschwundener Literatur dem deutschen Lesepublikum wieder zugänglich gemacht wurde. […] Auf der zweiten Buchmesse, die am 20. September 1950 in der Paulskirche eröffnet wurde, war der S. Fischer Verlags-
307 Eine ausführlichere Darstellung dieses Themas bei Fischer: Rückkehr nach Deutschland. Die Rolle der Emigranten und der Remigranten bei der Internationalisierung der Frankfurter Buchmesse. 308 Heinz Neumann: Gedanken zur Buchmesse von Schweden aus gesehen. In: 25 Jahre Buchmesse. In: Bbl. (Ffm), Nr. 29 (1973), H. 81, S. 1743.
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stand die Sensation, von früh bis spät dicht von Neugierigen, von Käufern und Lesern umlagert. Der S. Fischer Verlag hatte sich damit von neuem in Deutschland etabliert. Der Kreis war geschlossen. Von Berlin über Wien – Stockholm – New York – Amsterdam wieder in Berlin und schließlich in Frankfurt, der neuen Arbeitsstätte.309 Von der Rückkehr des S. Fischer-Verlags profitierten die deutschen Literaturliebhaber, denen viele Jahre lang ausländische Literatur nur in sehr selektiver Weise zugänglich gewesen war; dazu kamen nach und nach auch die erstmals in Deutschland publizierten Werke der deutschen Exilliteratur. Und noch andere, im Nationalsozialismus verfemte Autoren galt es wiederzuentdecken: So hatte Bermann Fischer von dem zunächst nach Palästina, dann in die USA emigrierten Verleger Salman Schocken die Rechte an den Werken Franz Kafkas erworben; vor allem Kafkas Roman Der Prozeß traf den existentialistisch gestimmten Zeitgeist sehr genau und fand bei den deutschen Lesern höchstes Interesse. Umgekehrt profitierte Bermann Fischer in diesen Jahren nicht wenig von den im Exil geknüpften geschäftlichen Kontakten: Nach meiner langen Tätigkeit als Verleger in den Vereinigten Staaten waren mir die dortigen wie auch die englischen Verleger und literarischen Agenten wohl bekannt. Einige zählte ich zu meinen Freunden. […] So wußte ich, was im Kommen war und konnte mir rechtzeitig die mich interessierenden Autoren sichern […].310 Mit Rudolf Hirsch, der in der Emigration in Amsterdam mit Fritz Landshoff bei Querido zusammengearbeitet hatte und seit 1948 als Lektor für den Bermann-Fischer / QueridoVerlag tätig war, gewann Bermann Fischer 1950 einen literarischen Berater, der ebenfalls mit einem im Ausland erweiterten Horizont zum Aufbau eines internationalen Programms beitragen konnte. Solche Unterstützung brauchte Bermann Fischer auch zur Etablierung eines Taschenbuchprogramms, für das er bereits 1940 mit der »Forum«Reihe und 1945 mit der für deutsche Kriegsgefangene in den USA produzierten Reihe »Neue Welt« Erfahrungen gesammelt hatte. Der Verleger selbst sprach davon, dass er am Beginn der 1950er Jahre »englisch-amerikanische Verlagsmethoden« praktiziert und in diesem Zusammenhang (wie kurz zuvor auch Rowohlt) Herstellungsverfahren und Ausstattungsmomente eingeführt habe, die neuartig waren und für die deutsche Verlagslandschaft den Aufbruch in die moderne Zeit bedeuteten. Früh schon gab es aus dem Kreis der Remigranten noch andere Aussteller, Jakob Hegner zum Beispiel, der in Augenzeugenberichten immer wieder als eine der zentralen Persönlichkeiten des verlegerischen Lebens jener Zeit erwähnt wird. Der für die gediegene typographische Gestaltung seiner Bücher bekannte Hegner war 1933 zunächst nach Österreich, später nach London gegangen; sein nach 1945 gegründeter Verlag hatte ein zweites Standbein in der Schweiz. Eine auffällige Erscheinung des Messebetriebs war von Anfang an auch Paul von Zsolnay. Zsolnay war in den 1920er Jahren in Wien die erfolgreichste Neugründung eines belletristischen Verlags mit internationalem Programm gelungen; nach 1938 ist ihm, allen von London aus unternommenen Versuchen 309 Bermann Fischer: Bedroht – bewahrt, S. 328 und 330. 310 Bermann Fischer, S. 343.
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zum Trotz, neben dem Eigentum auch jede Einflussnahme auf die Verlagsgeschäfte entzogen worden. Nach Rückgabe des »arisierten« Verlags an ihn gelang es ihm nicht, den Verlag zu früherer Bedeutung zurückzuführen, seine konsequente Messeteilnahme in jenen Jahren unterstreicht aber die Ernsthaftigkeit dieses Bemühens. Unter den frühesten ausländischen Messebesuchern befanden sich auch Emigranten, die ihren Besuch nicht nur für die Anbahnung von Geschäftsbeziehungen nützen, sondern auch erste persönliche Eindrücke von der Situation in Nachkriegsdeutschland sammeln wollten. Einem von ihnen, George Weidenfeld, verdanken wir in seiner Autobiographie Von Menschen und Zeiten sehr plastische Schilderungen der Atmosphäre, die in den ersten Jahren auf der Buchmesse geherrscht hat: Als ich 1951 zum erstenmal die Frankfurter Buchmesse besuchte, war die deutsche Verlagswelt im Umbruch. Ich übernachtete in einer kleinen Pension und ging durch ruinengesäumte Straßen zur Messe. Die Stadt war völlig zerbombt, um Verkehrsmittel war es schlecht bestellt, und viele Menschen schliefen auf der Straße. Alle sahen grau, hungrig und müde aus. Die Buchmesse war seit ein paar Jahren wieder aufgelebt; es ging noch ziemlich primitiv zu, aber Hoffnung und Ehrgeiz lagen in der Luft. Wie alle anderen Berufszweige befanden sich die deutschen Verlage in einem Erneuerungsprozeß. Man mußte erfinderisch sein, um die materiellen Probleme zu überwinden. Da kein gewöhnliches holzfreies Papier zu bekommen war, druckte Rowohlt große Werke der Weltliteratur wie Zeitungen auf Rotationsmaschinen. Andere Verlage brachten Erstausgaben wichtiger europäischer und amerikanischer Autoren heraus, die vom NS-Regime verboten worden waren. Einige der altehrwürdigen Verleger waren wegen ihrer Beziehungen zu den Nazis in Mißkredit geraten, andere saßen hinter dem Eisernen Vorhang fest.311 Weidenfeld registrierte auf seinem ersten Messebesuch die Anwesenheit einer »ganzen Reihe von Überlebenden aus den goldenen Tagen der Weimarer Republik«, unter ihnen Jakob Hegner, Ernst Rowohlt und seinen Sohn Ledig-Rowohlt, Peter Suhrkamp, Joseph Witsch sowie Gottfried Bermann und Brigitte Fischer, die ihm, ebenso wie Rudolf Hirsch, allerdings so reserviert erschienen, dass sie »schon fast arrogant« wirkten. Überhaupt dürften sich die Beziehungen unter den aus- und inländischen Messeteilnehmern gelegentlich etwas schwierig gestaltet haben; es galt, eine gewisse Entfremdung, vielleicht auch Verlegenheit zu überwinden, ehe man zu echter Begegnung fand. Wenn für die Emigranten in mancher Hinsicht ein Startvorteil gegeben schien ‒ durch Kenntnis der Sprache, Kenntnis der Verhältnisse im Buchhandel ‒, so schlug dieser Vorteil nach der Erfahrung Weidenfelds nicht immer in positiver Weise durch. Vielmehr zeigten sich noch einmal die fatalen Folgen jener sozialen Entwurzelung, die das Schicksal der Vertriebenen allgemein kennzeichnete: Als Brite österreichischer Herkunft befand ich mich in einer merkwürdigen Lage. Die Créme der deutschen Verleger blickte noch verächtlicher auf mich herab als meine britischen Kollegen. Obwohl es in gewisser Hinsicht leichter war, ins Ge-
311 Weidenfeld: Von Menschen und Zeiten, S. 328.
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schäft zu kommen, weil man dieselbe Sprache sprach und die Mentalität verstand, bevorzugten viele die etablierten britischen Verlage – das galt aber nicht für die neuen Verlegerpersönlichkeiten, mit denen ich zusammenarbeitete.312 Erst auf das Ende der 1950er Jahre datierte Weidenfeld eine markante Änderung der Stimmung: In Frankfurt sei inzwischen eine internationale Atmosphäre entstanden, die die Barrieren des Provinzialismus niedergerissen habe: »Verlage in aller Welt konkurrierten miteinander um den An- und Verkauf von Rechten. Das Zeitalter der Koproduktion war angebrochen.«313 Auch Max Tau unterstrich die Funktion der Messe für die Wiederherstellung der früher geknüpften und durch den Krieg unterbrochenen Beziehungen. Der erste Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1950, der als Autor, aber auch als Exilverleger (Neuer Verlag, Stockholm) geehrt worden ist, erinnerte sich anlässlich der 25. Buchmesse 1973 in der Sondernummer des Börsenblatts: Die Frankfurter Buchmesse, die ich im Jahre 1951 zum ersten Mal besuchte, wurde mir zu einem unvergeßlichen Erlebnis. Bewegt konnte ich meine Beschützer aus schwerer Zeit und alte Verlagsfreunde wieder erleben. Eine besondere Freude war es für mich, die ausländischen Verleger wiederzusehen und Sir Stanley Unwin 1953 zu begrüßen, der auch gekommen war, die alten Bande neu zu knüpfen. Hier begann der Dialog des Verstehenwollens, der zur Freundschaft führen kann.314 Zweifellos ist den deutschen Emigranten nach 1945 für die Normalisierung der internationalen Beziehungen – im Buchhandel und auch in anderen Bereichen ‒ eine bedeutsame Vermittlerrolle zugekommen. Jedenfalls fällt das Faktum in die Augen, dass die Verlegeremigranten mit zu den ersten gehörten, die mit den von ihnen vertretenen Unternehmen nach Frankfurt gingen. So findet sich im Messekatalog des Jahres 1952 u. a. auch der Name von André Deutsch mit seinem jungen Londoner Verlag, ferner finden sich die Namen der Imago Publishing Corporation, London, des »Hausverlags« der Psychoanalyse Sigmund Freuds, oder der Verlag des bedeutenden wissenschaftlichen Antiquariats von Wilhelm Junk, das 1937 nach Den Haag verlagert worden war. Besondere Erwähnung verdienen die beiden Londoner Kunstverlage, die bis zum heutigen Tag eine herausragende Stellung behaupten: der Verlag Thames & Hudson des Ehepaars Walter und Eva Neurath sowie der Phaidon Verlag Béla Horovitzʼ, der übrigens auch mit dem 1951 gemeinsam mit Joseph Witsch in Köln gegründeten deutschen Zweigverlag von Phaidon auf der Messe vertreten war und so in schlagender Weise die Brückenfunktion der Verlegeremigration dokumentierte. Von den bereits 1952 vertretenen britischen Verlagen ist hervorzuheben der Verlag Faber & Faber, denn mit diesem Verlag stand damals der umtriebige Emigrant Kurt Leo Maschler in enger Verbindung. Maschler hat seine Kollegen im Ausland offenbar sehr engagiert zum Besuch der Frankfurter Buchmesse zu bewegen gesucht. Jedenfalls be-
312 Weidenfeld, S. 332. 313 Weidenfeld, S. 359. 314 Max Tau in: 25 Jahre Buchmesse. In: Bbl. (Ffm), 29 (1973), H. 81, S. XVI.
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richtete Peter du Sautoy, Präsident der Groupe des Éditeurs de Livres de la C.E.E., in seiner in der Jubiläumsnummer des Börsenblatts zur 25. Buchmesse 1973 abgedruckten Glückwunschadresse, er sei vor zwanzig Jahren das erste Mal zur Messe gekommen und habe sie seither nur ein einziges Mal aus dringenden persönlichen Gründen versäumt. Zu seinem ersten Messebesuch habe er aber erst überredet werden müssen: I was originally urged to go by someone very knowledgeable about European publishing, Kurt Maschler, who has been happily associated with Faber & Faber over a long period. It took a couple of years or so to persuade me or to persuade my firm, that it was worth our while to make the visit, but eventually I set out.315 Peter du Sautoy betonte, diese Entscheidung habe sich sehr gelohnt; die Möglichkeiten zu internationalen Kontakten, die immer mehr auch freundschaftlichen Charakter gewonnen hätten, seien einzigartig. In diesem Zusammenhang hob er einen weiteren Namen hervor: But there is one person whom I must mention, because I think of him as my publishing mentor and he was certainly someone whom I specially looked forward to seeing at Frankfurt, though I might well have visited him elsewhere during the course of the year: the late Kurt Wolff, in those first years with Pantheon and later with Harcourt Brace. Together with his wife Helen, still happily a regular Frankfurt visitor, he set an example to all aspiring publishers.316 Einmal mehr wird hier die Bedeutung der Buchmesse als Treffpunkt des Weltbuchhandels unterstrichen, zugleich die Bedeutung emigrierter deutscher Verleger als Integrationsfiguren dieses Metiers – Kurt und Helen Wolff gehörten hier mit ihren Pantheon Books in die allererste Reihe. Wenn Lord Weidenfeld in seinen Memoiren im Blick auf die Entwicklung der Buchmesse feststellte, dass sich in den 1950er Jahren die amerikanischen Häuser allmählich ihrer Macht bewusst geworden seien und großen Einfluss gewonnen hätten, dann hat er damit auch einige Unternehmen angesprochen, die von emigrierten deutschen Verlegern gegründet worden waren. In der Tat belegt der Messekatalog von 1953 eine markant gestiegene Beteiligung US-amerikanischer Verlagshäuser, an deren Spitze oder in deren Hintergrund Emigranten tätig waren. Dies lässt sich etwa an dem Kunstverlag von Harry N. Abrams aus New York demonstrieren, der wohl deshalb so früh nach Frankfurt gekommen war, weil im Jahr zuvor Fritz H. Landshoff führender Mitarbeiter des Unternehmens geworden war. Wie Landshoff in seinen Erinnerungen Amsterdam, Keizersgracht 333 berichtet, war er 1953 von Abrams mit der Errichtung einer europäischen Filiale in Amsterdam beauftragt worden; es war nur ein logischer Schritt, dass Landshoff für eine Repräsentanz des Verlags auch auf der Buchmesse sorgte.317
315 25 Jahre Buchmesse, S. XVI. 316 25 Jahre Buchmesse, S. XX. 317 Landshoff: Amsterdam, Keizersgracht 333, S. 173.
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Unter Marktgesichtspunkten bedeutsamer war in diesem Jahr 1953 aber das Auftreten großer amerikanischer Wissenschaftsverlage wie Academic Press oder Interscience Publishers. Academic Press war damals bereits nicht nur im Bereich der Chemie und Biochemie, sondern auch in den sich rasch entwickelnden Feldern der Physik, v. a. der Elektronik, durch wissenschaftliche Zeitschriften und Buchreihen, auch durch innovative Publikationsformen bestens etabliert und expandierte in den 1960er Jahren mit einem Umsatzvolumen von 10 Millionen Dollar zu einem der größten wissenschaftlichen Verlage der Welt. Auch Interscience Publishers, mitbegründet von dem Chemiker Eric (Erich) A. Proskauer, war damals schon im internationalen Maßstab erfolgreich, nicht zuletzt deshalb, weil Proskauer von den in Deutschland geknüpften Beziehungen zu Forschern bzw. Autoren Gebrauch machte und seinen Verlag zu einer Agentur des beidseitigen Wissenstransfers ausbaute. Mehrfach wurden Interscience-Titel mit deutschen Partnern koproduziert und avancierten in den 1950er und 1960er Jahren zu Standardlehrbüchern an deutschen Universitäten. Die Frankfurter Buchmesse gab für diese Art von Geschäften einen idealen Rahmen ab. Im Bereich des großen Publikums- bzw. Taschenbuchverlags wurde die »New American Library of World Literature« (NAL) 1953 erstmals auf der Ausstellerliste geführt. Im Hintergrund stand Kurt Enoch, der aus der von ihm aufgebauten amerikanischen Penguin-Filiale zusammen mit Victor Weybright seit 1947 diese NAL geformt hatte. Damit hatte Enoch beachtlichen Einfluss auf das amerikanische Taschenbuchgeschäft gewonnen, auch folgten dem von ihm 1948 etablierten Typus des »quality paperback« die in Deutschland vom Rowohlt- und Fischer-Taschenbuch verfolgten Konzeptionen. Es versteht sich, dass die NAL einen großen Bedarf an Verlagslizenzen auch von Werken europäischer Autoren entwickelte und Enoch die Frankfurter Buchmesse als Plattform des Lizenzhandels bestens nutzen konnte. Das Jahr 1953 bezeichnete einen Einschnitt, weil erstmals die Zahl der ausländischen Aussteller mit 494 von insgesamt 969 Verlagen jene der inländischen überwog. Aber dieser Trend setzte sich fort, und so stießen auch in späteren Jahren noch weitere Repräsentanten der Verleger- und Buchhändleremigration dazu. Ein Schlaglicht, auf das Jahr 1957 geworfen, zeigt als neue Messeteilnehmer den bedeutenden medizinischen Verlag S. Karger aus Basel, der Messekatalog nennt aber auch Frederick A. Praeger mit seinem auf internationale Politik und besonders auf Bücher über den Kommunismus spezialisierten Verlag. Im wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang muss an dieser Stelle noch einmal auf ein spezifisches Exil-Phänomen hingewiesen werden: das gehäufte Auftreten von Literaturagenten. In dem Maße, in welchem die internationale Verflechtung des Buchhandels zunahm, gewann die Funktion der literarischen Agenturen an Bedeutung und dementsprechend spielten sie bald auch im Messegeschehen eine herausgehobene Rolle. So etwa berichtete Hein Kohn in der Messe-Sondernummer des Börsenblatts 1973, dass in den Anfangsjahren die meisten deutschen Verleger noch keine rechte Vorstellung von der Arbeit eines Literaturagenten gehabt hätten. Dies habe sich jedoch rasch geändert: »Im Lauf der Jahre ist die Frankfurter Buchmesse immer mehr eine Messe zur Vergabe von Lizenzen und Autorenrechten geworden. Frankfurt ist einmal im Jahr der Treffpunkt der literarischen Agenten und Verleger aus allen Ländern der Welt.«318 Neben den einge318 25 Jahre Buchmesse. In: Bbl. (Ffm), 29 (1973), H. 81, S. 5367.
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sessenen englischen und amerikanischen Agenturen haben Emigranten wie der in den Niederlanden tätige Hein Kohn mit seinem Internationaal Literatuur Bureau nicht wenig dazu beigetragen, den Handel mit Verlagsrechten weiterzuentwickeln; im besonderen Maße gilt dies für die Züricher Agenturen von Lothar Mohrenwitz oder Ruth Liepman. Eine spezielle Bedeutung nicht nur auf beruflicher, sondern auch auf persönlicher Ebene gewann die Frankfurter Buchmesse für Emigranten, die als Sortimentsbuchhändler nach ihrer Wieder- oder Neuetablierung an ihren jeweiligen Zufluchtsorten – ob in Paris oder New York, in Rio de Janeiro oder in Bogotá – in ihren Ladengeschäften deutschsprachige Bücher verkauften. Erst recht gilt dies für jene, die schwerpunktmäßig im Bereich des Buchimports und -exports tätig waren und für die der Messebesuch gleichsam obligatorischen Charakter hatte, – jedenfalls soweit die Betreffenden darauf Wert legten, mit dem persönlichen Besuch der Messe Abrechnungsgeschäfte zu verbinden. Ein Beispiel dafür stellte Werner Guttentag dar, der nach seiner politisch bedingten Flucht aus Deutschland 1945 in Cochabamba in Bolivien die Buchhandlung »Los Amigos del Libro« gegründet hatte und sich auch als Buchimporteur und Grossist betätigte. Die Firma entwickelte sich mit fünf kleineren und größeren Filialen zur bedeutendsten fremdsprachigen Buchhandlung des Landes. Guttentag kam allerdings erst in den frühen 1960er Jahren das erste Mal nach Frankfurt: Nach mehr als 25 Jahren betrat ich wieder deutschen Boden. Inhaber einer Buchhandlung, die als einzige im Lande deutsche Literatur vertreibt, und eines kleinen Verlages, war ich sehr stolz, als offizieller Vertreter meiner neuen Heimat von dem Land eingeladen zu werden, aus dem ich seinerzeit flüchten mußte, und Bolivien innerhalb seiner Buchproduktion auf der Frankfurter Messe zeigen zu dürfen.319 Guttentag hatte es nicht leicht, sich in der für ihn verwirrenden Vielzahl der Länder und Aussteller zu orientieren; der Messedirektor Sigfred Taubert habe ihm aber dabei geholfen, »mir, der aus dem versteckten, grünen Tal Cochabambas gekommen war, die weite Welt der Bücher auf dieser riesigen Buchmesse begreifen zu lernen; die Vielfalt des Buchwesens, die harten Geschäfte des Buchhandels, die Erhöhung des Buches durch die Verleihung des Friedenspreises und die langsam erwachende Erkenntnis, daß mein Wissen über das Buch mithelfen kann, zwei Länder, ja vielleicht zwei Kontinente, näherzubringen.« Es war dieses völkerverbindende Moment seiner Tätigkeit, das 1973 mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse der Bundesrepublik Deutschland an Guttentag eine offizielle Würdigung erfuhr. Für vergleichbare Verdienste wurden auch noch andere Persönlichkeiten der Buchhändleremigration ausgezeichnet, zu einer Ikone des Frankfurter Messegeschehens geworden ist aber einzig Mary S. Rosenberg, allein schon durch ihre prägnante Erscheinung320 und ihr Temperament:
319 25 Jahre Buchmesse, S. 5368. 320 »Mary Rosenberg ist dafür bekannt, daß sie in ihrer überdimensionierten Umhängetasche neben einer Tüte mit Äpfeln auch die Abrechnungen des vergangenen Jahres mit sich führt. Auch Pfennigbeträge reklamiert sie detailbesessen, auch dann, wenn sich der Verlag zu ihren Gunsten verrechnet haben sollte. Denn darin ist sie, ganz Buchhändlerin alter Schule, peinlich genau und von einer Hartnäckigkeit, die fast ebenso berühmt ist wie sie selbst.« (Anna-
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Sie ist mit Vergnügen streitbar, und durch die Gelassenheit des Alters bricht plötzlich ein unverwüstliches Temperament. Zum elder statesman eignet sie sich vielleicht nicht, aber einen energischeren und klügeren ambassador fürs deutsche Buch können wir uns nicht vorstellen.321 Mary Rosenberg war nicht nur eine markante Erscheinung, sondern auch die perfekte Repräsentantin jener Vermittlungsarbeit, die nach 1945 von den Buchhändleremigranten für das deutsche Buch im Ausland erbracht worden ist. Für ihre jahrzehntelange Tätigkeit als Importeurin deutscher Bücher in die USA erhielt sie 1966 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik; 1980 wurde sie für ihre Verdienste mit der Förderurkunde des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Es gehörte zu ihrer AufAbb. 12: Die Importbuchhändlerin fassung vom Importgeschäft, auf der Messe den Mary S. Rosenberg (hier in ihrem direkten Kontakt mit ihren Lieferanten und mit New Yorker Bücherlager) besuchte dem Buchhandelsgeschehen in Deutschland zu dreieinhalb Jahrzehnte hindurch pflegen. Aus dieser Motivation heraus hat sie die Frankfurter Buchmesse. schon sehr früh und dann regelmäßig bis 1991 – insgesamt wohl 35mal – die Messe besucht und ist so zu einer Institution geworden. Sigfred Taubert hat in seinen Erinnerungen Mary S. Rosenbergs Leistung (und die Leistung vieler ihrer ebenfalls emigrierten Kolleginnen und Kollegen) in treffende Worte gefasst: Ohne tätigem[!] Interesse ausländischer Buchhändler hätte es das deutsche Buch nach 1945 sehr schwer gehabt, jenseits unserer Grenzen zur Kenntnis und aufgenommen zu werden. Oft waren es wie Mary Rosenberg, New York, ehemalige jüdische Mitbürgerinnen und -bürger, die nach Vertreibung und Flucht aus der Heimat während der NS-Jahre in der Fremde Sicherheit und neue Existenz gefunden hatten und die sich trotz erlittenen Leids für das deutsche Buch einsetzten.322 Ohne diese vorbehaltlos gewährte Unterstützung seitens der Emigranten wäre die Frankfurter Buchmesse sicherlich nicht in so kurzer Zeit zum Zentralplatz des internationalen
Luise Knetsch: »Ich habe nie etwas anderes getan, als deutsche Bücher zu verkaufen«. Ein Porträt der New Yorker Buchhändlerin Mary S. Rosenberg. Rundfunksendung, HR 2, 18. August 1988, Typoskript). 321 Georg Ramseger: »Findall New York«. Mary S. Rosenberg: 40 Jahre Publishers, Booksellers, Importers. In: Bbl. (Ffm) Nr. 10, 1. Februar 1980, S. 223 f. 322 Taubert: Mit Büchern die Welt erlebt, S. 447.
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Buchhandelsgeschehens aufgestiegen, und auch der deutsche Buch- und Rechteexport wäre nicht so rasch in Gang gekommen. Die zahlreichen Auszeichnungen, die Emigranten seitens des deutschen Staates oder des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für dieses Verdienst erhalten haben, belegen dies nachdrücklich.323 Als Fazit bleibt: Das Exil der aus Hitlerdeutschland vertriebenen Verleger, Buchhändler und Antiquare hat die Welt des Buches tiefgreifend verändert. Wenn viele Schicksale dieser Berufsgruppen im Dunkel der Geschichte versunken sind, nicht wenige von ihnen leidvolle Erfahrungen machen mussten, so stellen sich doch auch zahlreiche Lebensläufe als eindrucksvolle »success stories« dar. Es ist bemerkenswert, wie entschieden diese Emigrationsgruppe die Chancen eines Neuanfangs in der Fremde wahrgenommen hat. Manche haben die in Deutschland in einem hochentwickelten Buchhandelssystem gesammelten beruflichen Erfahrungen gewinnbringend in ihr neues Tätigkeitsumfeld einbringen können; anderen hat das Buch in der Fremde überhaupt erst Halt und eine neue Perspektive gegeben. Noch in der zweiten Generation wirkte europäisches verlegerisches und buchhändlerisches Selbstverständnis nach und verband sich mit der für viele Gastländer typischen liberalen Wirtschaftspraxis, die individuelle Entfaltung und ein Arbeiten im großen Stil erlaubte, was wiederum zu markanten Entwicklungsimpulsen teils auf lokal / regionaler, teils nationaler und internationaler Ebene geführt hat. Durch das hochmotivierte Wirken der Emigranten sind an zahlreichen Orten weltweit neue Ankerpunkte der Buchkultur entstanden. So brachte die Vertreibung der Verleger, Buchhändler und Antiquare – ein in mancher Hinsicht paradoxer Effekt – statt Vereinzelung und Isolation sogar einen merklich höheren Grad an internationaler Vernetzung der Bücherwelt hervor, durch Belebung des Im- und Exports, durch Forcierung des Lizenzhandels, durch länderübergreifendes Co-Publishing, Bildung transkontinentaler Unternehmensstrukturen und anderes mehr. Auf die Leistungen der Emigranten für den globalen Kulturaustausch trifft wohl zu, was Thomas Mann 1941 in seinen Rundfunkreden »Deutsche Hörer« über das Exil als Vorklang einer zukünftigen Weltbefindlichkeit gesagt hat: »Das Exil ist etwas ganz andres geworden, als es in früheren Zeiten war. Es ist kein Wartezustand, den man auf Heimkehr abstellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nation an und auf die Vereinheitlichung der Welt.«324
323 Neben den bisher genannten Empfängern des Verdienstkreuzes der Republik kommen noch folgende Verleger und Buchhändleremigranten hinzu: Adolf Aber, Karl Buchholz, Helmut Dreßler, Curt von Faber du Faur, Felix Guggenheim, Hans Jaeger, Ludwig Lazarus, Johan Luzian, Rudolf Simon, Max Tau, Rudolf Ullstein und Oswald Wolff; die Auszeichnung »Förderer des deutschen Buches« wurde u. a. Martin Flinker und Kurt Wolff zuerkannt. 324 Thomas Mann: Deutsche Hörer. In: Gesammelte Werke, Bd. 13. Frankfurt am Main: S. Fischer 1974, S. 747.
Apparat
Quellen- und Literaturverzeichnis A.
Quellen
Archivalien: Bundesarchiv Potsdam / Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) Bundesarchiv Potsdam: NL Ernst Heidelberger; 90 Schw 6/2 NL Leopold Schwarzschild (eingesehen am 30. Oktober 1991); NL Ernst Leonard 90 Le 5 (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde: BArch N 2173/ alte Signatur. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [fr. Potsdam]: Bestand EA 1306/2: Die Bewegung Freies Deutschland in Lateinamerika. Erinnerungen, Dokumentationen und Berichte von Paul Merker. Bundesarchiv Koblenz Aktenstück des Auswärtigen Amtes über einen Bericht der Deutschen Botschaft in Paris, Oktober 1933, R 56 V, 169 fol. 1‒5. Archiv der Akademie der Künste der DDR, Berlin Aufzeichnungen über die Fraktionssitzungen des SDS von Erich Weinert 196 18/15. Tagebuch Rudolf Leonhard, Sign. 762. Sammlung Alfred Neumann, Berlin. Willi Bredel-Archiv, Nr. 765. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStAL) Zahlreiche, hier nicht einzeln aufzuführende Firmenakten des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, Bestand Nr. 21765 (Zitierweise: SStAL, BV, F X.XXX). Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main (DEA / DNB) Unterlagen des Deutschen PEN-Clubs im Exil: 1933‒1940, EB 75/175‒787; Archiv der American Guild for Cultural Freedom; Sammlung Verlagsprospekte; Bestand Tarnschriften; sowie zahlreiche (Teil- und Splitter-)Nachlässe, u. a. NL Zadek EB 87/089; NL Kracauer (u. a. Abrechnungen des Verlags Allert de Lange); TLN Berendsohn EB 54b/7; TNL Barthold Fles EB 89/21 (Briefe); NL Wilhelm Speyer EB 96/107 (bes. Korrespondenz mit dem Literaturagenten Franz Horch); NL /TNL Alfredo Cahn EB 2001/66; TNL Anna Lifczis EB 87/70; TNL Hein Kohn EB 94/294; Splitter-NL Susanne Bach-Eisenberg EB 91/292 (Manuskript ihrer Memoiren, Korrespondenz, Lebensdokumente); TNL Ruth Fabian EB 92/128 (mit Lebensdokumenten); TNL Samuel A. W. Schmitt EB 88/153; NL Karl Retzlaw EB 80/169; NL 273 Fritz Picard EB 2011/67; Splitternachlass A. Vallentin NL 163 EB 2001/072; NL Ernst Loewy EB 95/075; TNL Raoul Auernheimer EB 2008/35; NL Heinz Liepman EB 2011/147; NL Walter Zadek EB 87/89. Dort auch eingesehen: James Friedmann: Muttersprache – das Vaterland der Heimatlosen. Erinnerung und Dokumentation eines deutschen Verlegers in der Emigration mit anschliessender Anthologie aus vergriffenen Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Argentinien 1938‒1946. Buenos Aires 1963 [Unveröff. Typoskript mit hs. Ergänzungen und Korrekturen, EB 68b/1]. Historisches Archiv des Börsenvereins, Deutsche Nationalbibliothek (HABV / DNB) 25, 1–6: Splitternachlass James Illy Friedmann. https://doi.org/10.1515/9783110303353-010
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Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N. (DLA) Mehrere Schriftstellernachlässe, darunter NL A: George 75.3366/6; NL Schickele, Zugangsnummer 60.672, 7‒12; NL Alfred Neumann, NL René Schickele. New York Public Library, Manuscripts and Archives Division Kurt Enoch Papers, Box 1 (darunter Briefe, u. a. an Karl H. Pressler 1979 /1980; Memo regarding Kurt Enoch / Allen Lane Relationship 1937‒1947, June 16, 1971; sowie: Memoirs of Kurt Enoch. Written for His Family. Privately Printed by His Wife, Margaret M. Enoch. New York 1984 (Privatdruck). Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg Im Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg wird im Material zur Wissenschaftsemigration 1933–1945 ein Konvolut Bernard Rosenthal aufbewahrt. Es handelt sich im Wesentlichen um die Fragebögen, die von den in die USA emigrierten deutschen Antiquaren oder ihren Nachkommen ausgefüllt worden sind. Dieser ›questionnaire‹ diente Bernard M. Rosenthal zur Vorbereitung seiner Sol M. Malkin Lecture The Gentle Invasion. Continental Emigré Booksellers of the Thirties and Forties and their Impact on the Antiquarian Booktrade in the United States (1987). Harry Ransom Humanities Research Center (HRHRC), The University of Texas at Austin PEN – German Centre 1926–1933 (PEN Letters, PEN Recip., PEN Misc. ‒ nicht katalogisiert). Paris, Préfecture de Police Bureau des Associations, AC 09013 (bes. zum SDS im Exil, Paris, u. a. Meldung an das Bureau des Associations KE 33073 v. 28. November 1938, gezeichnet von Rudolf Leonhard und Alfred Kantorowicz). Leo Baeck Institute, New York Archivforschungen im New Yorker Leo Baeck Institut vom März 1996, inzwischen auch Nutzung der Online-Recherchemöglichkeiten in den Leo Baeck Institute Archives (http://www.archive. org/), z. B. LBI Digital Collections, Berthold Winter Collection, 1964–1983; Alfred Neumann Collection AR 4983, Autographs 2 [online; http://www.archive.org/stream/alfredneumannf004#mode/1up]. (Briefe Alfred Neumanns aus Florenz an Alexander Moritz Frey); unveröffentlichte Autobiographie Paul Steiners im Typoskript (Acc. No. ME 938). M. E. Grenander Department of Special Collections & Archives, German and Jewish Intellectual Emigré Collection, University at Albany / State University of New York Frederick Ungar Papers, 1940‒1988 (GER-092), mit dem Archiv des Frederick Ungar-Verlags; in der John M. Spalek Collection (GER-106) auch Interviews zu Ungar, u. a. mit dessen Frau Hansi 1991; Alexander Gode von Aesch-Collection, Papers 1924–1976 (GER-107); Storm Publishers Records, 1940‒1968 (GER-090). Ferner: Max Knight Papers 1909‒1993 (GER050). In der John M. Spalek Collection (GER-106) eingesehen wurde auch das Transkript eines Gesprächs von John M. Spalek mit dem Musikverleger Walter Bendix (German Intellectual Émigré Tape Recordings). Literaturhaus Wien, Österreichische Exilbibliothek Nachlass Max Knight N1.EB-7 Institut für Zeitgeschichte, München (IfZ / BA) Im IfZ in München befindet sich auf Mikrofiche ein Biographisches Archiv, eine Materialsammlung zu den veröffentlichten, aber auch den nicht veröffentlichten Beiträgen für das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration, die vom Verf. eingesehen werden
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konnte. Einen wichtigen Quellenbereich bilden dabei die von den Zeitzeugen ausgefüllten Fragebogen (Beispiel: Fragebogen J. Luzian).
Oral History-Quellen Nach Aufrufen zum Stichwort »Emigration deutscher Buchhändler nach 1933«, die Anfang 1992 im New Yorker Aufbau sowie in den Israel Nachrichten und in mb, dem Nachrichtenblatt des Irgun Olej Merkas Europa, erschienen sind, haben sich einige Zeitzeugen beim Verf. gemeldet, überwiegend aus Israel. Der Interviewreise nach Israel im Oktober 1992 konnten dann, dank der Unterstützung durch die Historische Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, in den darauffolgenden Jahren noch mehrere solcher Reisen nach London, New York und in die Niederlande folgen. Dabei wurden, teilweise mit Unterstützung meines damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiters Ulrich Bach, Interviews mit Tonaufzeichnung geführt; die Transkripte sind in das Oral History-Archiv des Börsenvereins eingegangen. Daneben wurden, auch außerhalb dieser Reisen, Gespräche informelleren Charakters geführt, denen der Verf. aber ebenfalls manchen wichtigen Hinweis verdankt. Das Gleiche gilt für die vor und nach den Interviews bzw. anstelle von Interviews geführte Korrespondenz. Solche brieflichen Auskünfte habe ich beispielsweise 1992 von Carola Gross und 1993 über Vermittlung von Gerhard Kurtze von Ilse Blumenfeld (Givatajim / Israel, mit Unterstützung von Esther Parnes und Loni Kahn, beide Tel Aviv) erhalten können. Als ein weiteres Beispiel möchte ich die Zuschriften des Ehepaar Gerrard in Großbritannien erwähnen, dem ich u. a. den Zugang zu dem unveröffentlichten Typoskript der Autobiographie Hilde Gerrards We were lucky [1984] verdanke. Gespräche und Interviews in chronologischer Ordnung: Interview mit Gottfried Bermann Fischer und Brigitte Bermann Fischer am 14. Juni 1990 in Camaiore, Italien. Gespräch des Verfassers mit Susanne Bach am 2. Mai 1991 in München. Korrespondenz und Telefonate des Verfassers mit Reuben Avnari (1910 Gleiwitz – 2003 Haifa / Isr.), Stiefsohn von Dr. Felix Kauffmann, im Februar / März 1992 sowie Zusammentreffen mit ihm am 26. März 1992 in München. Öffentliches Interview des Verf. mit Mary S. Rosenberg in einer Buchhandlung in Fürth am 19. Mai 1992. Israel, Oktober 1992: Interview mit Walter Zadek, geführt am 19. und 23. Oktober 1992 in Holon. Korrespondenz 1991‒1992. Interview mit Erwin Lichtenstein am 20. Oktober 1992 in Kfar Shmarjahu; Korrespondenz mit L. und seiner Tochter Ruth Shany 1992 bis 1993. Interview mit Schalom Ben-Chorin am 21. Oktober 1992 in Jerusalem. Interview mit Felix Daniel Pinczower am 21. Oktober 1992 in Jerusalem; Korrespondenz Oktober 1991 bis Juli 1992. Interview mit Hermann Joseph Mayer am 22. Oktober 1992 in Jerusalem. Interview mit Shalom Miron am 22. Oktober 1992 in Tel Aviv. Gespräch mit Ernst Laske am 23. Oktober 1992 in Tel Aviv; Brief von E. Laske an den Verf. vom 21. September 1992. Telefonische Auskünfte von Avraham Frank am 17. und 23. Oktober 1992. Den Haag, Oktober 1994: Interview mit Hans Jacoby am 3. Oktober 1994. London, April 1995: Interview, gem. m. Ulrich Bach, mit Hanna Weil, Tochter von Ernst Weil, am 30. April 1995. Interview, gem. m. Ulrich Bach, mit Nicolas Barker (über die Rolle der deutschsprachigen Emigranten im englischen Antiquariatsbuchhandel) am 30. April 1995.
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Interview, gem. m. Ulrich Bach, mit Albi Rosenthal am 30. April 1995 (2. Gespräch Mai 1997). Interview, gem. m. Ulrich Bach, mit H. A. Feisenberger am 1. Mai 1995. Telef. Interview des Verf. mit Hans Fellner am 1. Mai 1995. Die meisten dieser Gespräche wurden aufgezeichnet und transkribiert, blieben aber als reine Arbeitsgrundlage in privatem Besitz. New York, März 1996: Interview, gem. m. Ulrich Bach, mit Bernd H. Breslauer am 19. März 1996. Interview des Verfassers, gem. m. Ulrich Bach, mit Ilse Bernett, Larchmont / New York am 22. März 1996 (Oral History-Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels). Gespräch mit Will Schaber am 22. März 1996. Gespräch mit Roland Folter (über H. P. Kraus) am 21. März 1996, Larchmont / New York. New York, März 2001: Gespräch mit Herbert Gstalder (Kraus Reprint) am 12. März 2001. Gespräch mit Hanni Kraus am 12. März 2001. Interview mit Hildegard Bachert am 13. März 2001 in der Galerie St. Etienne, New York, über Otto Kallir. Interview von Ulrich Bach mit Martha Schwarz am 10. Januar 1995 in Los Angeles. Gespräch des Verfassers mit Abraham Melzer am 10. Oktober 2010 in Frankfurt am Main.
B.
Literatur
Das Literaturverzeichnis enthält in erster Linie Forschungsliteratur. An Primärquellen wurden nur autobiographische Werke aufgenommen, nicht aber die im Text erwähnten Publikationen von Exilverlagen oder Artikel aus Exilperiodica. Nicht oder nur in selektiver Weise aufgenommen wurde im weitesten Sinne periphere Literatur, wie Lexikonartikel, Zeitungs- oder Börsenblatt-Artikel, Nachrufe in Tageszeitungen, Internet-Seiten (ausgenommen Volltext-Publikationen). Alle im Literaturverzeichnis nicht aufgeführte Literatur wird in den Fußnoten mit kompletten Angaben zitiert. Im Darstellungsteil abgekürzt zitierte oder gesigelte Titel: AdA Aus dem Antiquariat AGB Archiv für Geschichte des Buchwesens Bbl. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel NDB Neue Deutsche Biographie BHB1 Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. Hrsg. v. Werner Röder u. Herbert A. Strauss. München, New York, London, Paris: K. G. Saur 1980. BHB2 International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933– 1945. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Hrsg. v. Werner Röder u. Herbert A. Strauss. Bd. 2.1, München: K. G. Saur 1983. Schroeder: »Arisierung« I: Schroeder, Werner: Die »Arisierung« jüdischer Antiquariate zwischen 1933 und 1942. In: AdA N. F. 7, 2009, Nr. 5, S. 29–320. Schroeder: »Arisierung« II: Schroeder, Werner: Die »Arisierung« jüdischer Antiquariate zwischen 1933 und 1942. Teil II. In: AdA N. F. 7, 2009, Nr. 6, S. 359–386.
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