Gesammelte Schriften: Zweiter Band: Verfassungsrecht – Völkerrecht. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.] 9783428506613, 9783428106615

Wie kaum ein anderer Jurist konnte Merkl die Verfassungsentwicklung Österreichs seit Beginn des ersten Weltkrieges aus n

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German Pages 806 [815] Year 2002

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Gesammelte Schriften: Zweiter Band: Verfassungsrecht – Völkerrecht. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.]
 9783428506613, 9783428106615

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ADOLF JULIUS MERKL · GESAMMELTE SCHRIFTEN

Adolf Julius Merkl

GESAMMELTE SCHRIFTEN Zweiter Band

Verfassungsrecht · Völkerrecht Zweiter Teilband Herausgegeben von

Dorothea Mayer-Maly · Herbert Schambeck Wolf-Dietrich Grussmann

Duncker & H u m b l o t · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Merkl, Adolf: Gesammelte Schriften / Adolf Julius Merkl. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly... - Berlin : Duncker und Humblot ISBN 3-428-07753-9 Bd. 2. Verfassungsrecht, Völkerrecht Teilbd. 2. - (2002) ISBN 3-428-10661-X

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druckvorlage: Ch. Weismayer, Salzburg/Österreich Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN ISBN ISBN ISBN ISBN

3-428-07753-9 3-428-07912-4 3-428-08128-5 3-428-09042-X 3-428-10661-X

(Gesamtausgabe) (Bd. 1/1) (Bd. 1/2) (Bd. 2/1) (Bd. 2/2)

Inhalt Α. Verfassungsrecht (Fortsetzung) 67. Regierungsbildung im Lichte der Verfassung

3

68. Die Verfassungsfragen der Wahlzeit

9

69. Der,,entpolitisierte 4' Verfassungsgericlitshof

21

70. Österreichs neue Verfassung

29

71. Verfassungsreform und Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich

35

72. Das rechtliche Ergebnis des Verfassungskampfes

43

73. Die Neuordnung des Verwaltungsgerichtshofes

69

74. Ist in Österreich ein Ausnahmszustand zulässig?

77

75. Die verfassungsgesetzlichen Grundlagen der Justiz im Deutschen Reiche. Zu dem Werke „Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung" ....

87

76. Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929

99

77. Die Finanzdiktatur der Nationalbank. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen.... 161 78. Einfache oder Zweidrittelmehrheit für Lausanne?

175

79. Legitime Diktatur

181

80. Die Verfassungskrise im Lichte der Verfassung

185

81. Der Verfassungskampf

191

82. Die Frage der Geltung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und seines Verhältnisses zur Verordnungsgewalt des Bundespräsidenten

197

83. Die Suspension der Pressefreiheit

211

84. Die Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit

215

VI

Inhalt

85. Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich 86. Den politischen Parteien ins Gewissen! „Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofes 44

219

233

87. Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofs

237

88. Das Bundesgerichtshofgesetz

239

89. Österreichs neue Verfassung

255

90. Die Wende des Verfassungslebens

263

91. Das berufsständische Prinzip in der neuen österreichischen Verfassung

269

92. Die Baugesetze des österreichischen Staates

275

93. Die Führerstellung des Bundeskanzlers

283

94. Die Antinomie zwischen dem Gleichheitsrechtssatz und der Gewährleistung ständischer Autonomie

303

95. Der Föderalismus im österreichischen Verfassungsleben

315

96. Vollendung des Verfassungswerkes und der Ständeordnung

329

97. Die Legitimation zur verwaltungsgerichtlichen Beschwerde als Ermessensfrage

337

98. Die Liquidierung der „kriegswirtschaftlichen 44 Ära. Kultureinheit und Rechtsunterschiede der Deutschen

359

99. Rechtsprobleme der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche... 367 100. Das Recht der Frau und das Gesetz. Die Gleichberechtigung der Geschlechter in Theorie und Praxis

397

101. Ein gesetzlicher Widerspruch zur Gleichberechtigung der Geschlechter

401

102. Rezension von: L. Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts. Fünfte Auflage, bearbeitet und ergänzt von H. Spanner (Rechts- und Staatswissenschaften: Band 3)

405

103. Die Rechtsstellung der Parteien in Österreich

415

104. Die Antwort der Verfassung

419

105. Pressefreiheit - unsere Existenzbedingung

427

106. Die rechtliche Bedeutung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für Österreich

431

Inhalt

107. Die Baugesetze der Österreichischen Bundesverfassung

108. Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung

B. Völkerrecht 1. Der Krieg als Rechtshandlung des Staates

2. Kriegserklärung

und Friedensschluß

3. Die kriegerische Besetzung 4. Die Staatsverträge mit den Feindesstaaten 5. Die Völkerbunds Verfassung im Lichte der Demokratie

6.

Völkerbund und Weltstaat

Rezension von: Dr. Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie 7. des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtstheorie

8. 9.

10. 11.

Rezension von: Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtstheorie Über Gegenwart und Zukunft des Völkerbundes Rezension von: Alfred Verdroß, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung Das angebliche Anschlußverbot für Österreich und der Eintritt des Deutschen Reiches in den Völkerbund Die Legende vom Anschlußverbot

12. Das Minderheitenschutzrecht der Friedensverträge 13. Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen 14. Deutschland und die Verfassung der UN in völkerrechtlicher Sicht 15. Das Problem der internationalen Organisation

16.

„Deutsches Eigentum44 und Österreichs Gegenrechnung

17. Österreichs Recht auf Freiheit

18.

Vili

Inhalt

19. Der „Anschluß" war völkerrechtlich null und nichtig!

699

20. Österreichs vermögensrechtliche Ansprüche an das heutige Deutschland

701

21. Das Deutsche Eigentum und vermögensrechtliche Ansprüche Österreichs

707

22. Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich - eine Geschichtslegende

719

23. Die Rechtsstellung des deutschen Eigentums in Österreich

725

24. Herr Nationalrat, das geht Sie an!

729

25. Österreichs Rechtslage 1938-1945 und ihre Behandlung in der österreichischen Rechtswissenschaft

735

26. Statt eines Epilogs. Der Kompromiß über das „Deutsche Eigentum" und der ungelöste Rechtskonflikt

749

27. Der Stillstand der österreichisch-deutschen Verhandlungen im Lichte des Völkerrechtes

759

28. Vor und nach dem Vertrag mit Bonn

765

29. Nachgewitter zum Vermögensvertrag

773

30. War sie gültig-oder nicht? Die „Volksabstimmung" vom 10. April 1938. Eine Untersuchung von nicht allein rechtshistorischem Interesse

779

31. Zur parlamentarischen Beratung des Staats Vertrages über das deutsche Vermögen

785

32. Rezension von: A. Verdroß, Die immerwährende Neutralität der Republik Österreich

789

33. 13. März 1938 - Schicksalstag als Rechtsproblem

791

34. Okkupation oder Annexion? Die Rechtsstellung Österreichs in der Zeit der Beherrschung durch das Hitler-Reich

801

Α. Verfassungsrecht (Fortsetzung)

Regierungsbildung im Lichte der Verfassung Eine Regierungsbildung steht sinngemäß erst in einem Zeitpunkt in Frage, wo eine Regierung nicht mehr besteht, gleichviel aus welchem Grunde sie ihres Amtes verlustig geworden ist. Wenn in Österreich mit dem Bekanntwerden des Ergebnisses der Nationalratswahlen die Frage nach der Neubildung der Regierung aufgetaucht ist und sich zu dem beherrschenden Problem der politischen Erörterung verdichtet hat, so kommt darin zum Ausdruck, daß die gegenwärtige Bundesregierung von allen diesen Fragestellern als politisch überlebt erachtet wird. In der Tat ist der Fortbestand einer Regierung, die aus welchem Grunde immer in einem eben neugewählten Parlament nicht über die Mehrheit verfügt, mit dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie, wonach die Regierung das Exekutivorgan der Parlamentsmehrheit ist, nicht in Einklang zu bringen. Dieser Grundsatz erleidet nur in dem Punkt eine Ausnahme, daß in der Wahlzeit der Bestand einer Minderheitsregierung in der Annahme gerechtfertigt ist, daß diese Regierung durch die Wahl die Mehrheit erlangen werde, da ja die Herrschaft der Parlamentsmehrheit wiederum nur dadurch gerechtfertigt ist, daß sie den Willen der Volksmehrheit darstellt. Die Einsetzung einer Minderheitsregierung, verbunden mit dem Appell von der Volksvertretung an das Volk selbst - was der Sinn einer Auflösung des Parlaments und der Ausschreibung von Neuwahlen ist - kann somit viel eher mit dem demokratischen Prinzip vereinbart werden, das noch immer das beherrschende Prinzip unserer Verfassung ist, als der Fortbestand einer Regierung, die nicht vom Vertrauen der Mehrheit des neugewählten Parlaments getragen ist. Wenn somit einerseits das Ergebnis der Nationalratswahl nach demokratischer Tradition die Demission der Regierung und im Falle, daß sie sich

Der österreichische Volkswirt, 23. Jg. (1930), S. 221-222.

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.A. Verfassungsrecht

nicht freiwillig zu diesem Schritt entschließt, deren Entlassung von Seiten des Bundespräsidenten nahegelegt hätte, so kann doch anderseits in dem Unterbleiben dieser Schritte keine Verfassungsverletzung erblickt werden. Die im Amt befindliche Regierung bleibt bis zur Stunde der Entlassung oder der auf ihren Wunsch ausgesprochenen Enthebung oder endlich bis zu einem Beschluß des Nationalrates, mit dem ihr das Mißtrauen ausgesprochen wird, die legitime Amtswalterin der Regierungsgeschäfte. Kommt indes dem von der augenblicklichen Mehrheit des Nationalrates in Aussicht gestellten Mißtrauensvotum nicht die Enthebung oder Entlassung der Regierung zuvor, so wird ihr äußerstenfalls das Mißtrauensvotum die rechtliche Existenzgrundlage entzogen haben. ,, Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister des Amtes zu entheben." (Art. 74 Abs. 1 B-VG) Dieser geradezu klassischen Kodifikation des parlamentarischen Vertrauensprinzips ist zu entnehmen, daß das Mißtrauensvotum nach österreichischem Recht sozusagen unbedingt tödlich wirkt. Diese unvermeidliche Folge eines Mißtrauensvotums ist ja wohl auch der Grund, daß es bisher noch in keinem einzigen Fall aktuell geworden ist, denn begreiflicherweise ist diese unausbleibliche Folge des Mißtrauensvotums eine zwingende Mahnung, es darauf nicht ankommen zu lassen, sondern ihm durch andere Mittel, äußerstenfalls durch die Demission, vorzubeugen, während in anderen parlamentarischen Staaten, insbesondere England und Frankreich, nicht selten ein Mißtrauensvotum riskiert wird, weil es der Regierung immerhin noch Entschlußfreiheit über ihren Amtsverzicht und dem Staatsoberhaupt Entschlußfreiheit über die Verabschiedung der Regierung offenläßt. So erklären sich ja auch die im Gang befindlichen Versuche nach einer Mehrheitsbildung als sachlicher Voraussetzung der Regierungsbildung, auf die noch zurückzukommen sein wird, denn die Strenge der Rechtsfolgen eines Mißtrauensvotums ist ein Zwang, einem solchen durch eine feste Koalitionsvereinbarung vorzubeugen. Die Verfassung eröffnet allerdings einen Ausweg, dem Mißtrauensvotum und seiner Folge, einer zwangsweisen Amtsentsetzung, sozusagen in letzter Stunde zu entrinnen, denn wenn es ein Fünftel der anwesenden Mitglieder verlangt, ist die Abstimmung über den Antrag, daß der Bundesregierung das Vertrauen versagt werde, auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen (Art. 74 Abs. 2 B-VG). Das beharrliche Überhören der Drohung mit dem Mißtrauensvotum erklärt sich augenscheinlich aus der Absicht, den

Regierungsbildung im Lichte der Verfassung

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Mißtrauensantrag zunächst mit einem auf diese Verfassungsbestimmung gegründeten Vertagungsantrag zu parieren. Man rechnet offenbar damit, daß mit dieser letzten 48stündigen Frist noch immer die genügende Zeit gewonnen sein wird, um dem Bundespräsidenten die Demission zugleich mit einer neuen Ministerliste zu überreichen und damit der Abstimmung über den Mißtrauensantrag zu entgehen. Andere Möglichkeiten, wie etwa die Verschleppung der Abstimmung über den Mißtrauensantrag durch einen Mißbrauch der Geschäftsordnung oder etwa die Beibehaltung der Portefeuilles ungeachtet eines Mißtrauensvotums, sollen hier nicht näher in Betracht gezogen werden, weil sie einen offenen Verfassungsbruch darstellen würden, den man sicherlich der Partei, die durch ein Jahrzehnt in der Hauptsache die Regierungsgeschäfte geführt hat, nicht zutrauen darf. Mit dem Scheiden der Bundesregierung ist die rechtliche Voraussetzung ihrer Neubildung gegeben. Wird auch die scheidende Regierung mit der Fortführung der Verwaltung nach Art. 71 B-VG betraut - was im Falle der Enthebung der Bundesregierung auf Grund eines Mißtrauensvotums zwar nicht ausdrücklich verwehrt, aber doch mit dem parlamentarischen Prinzip schwerlich vereinbar ist - , so steht eindeutig fest, daß sie in einem absehbaren, wenngleich gesetzlich nicht fixierten Zeitpunkt die Regierungsgeschäfte niederlegen muß. Erst mit dem Eintritt eines der Fälle, in denen die Bundesregierung verfassungsmäßig aus dem Amte scheidet - es sind dies die Enthebung der Bundesregierung auf ihren Wunsch oder in Vollzug eines Mißtrauensvotums, einer Entlassung von Seiten des Bundespräsidenten und einer Verurteilung durch den Verfassungsgerichtshof auf Grund einer Ministeranklage - , kann das verfassungsmäßige Verfahren der Regierungsbildung eingeleitet werden. Erst in diesem Zeitpunkt kann insbesondere der Bundespräsident einen präsumtiven Bundeskanzler designieren und dieser dem Bundespräsidenten eine Ministerliste präsentieren. Was sich gegenwärtig im Zeichen der Regierungsbildung abspielt, sind rechtlich völlig ungebundene und selbstverständlich auch unverbindliche Vorverhandlungen für das bevorstehende verfassungsmäßige Verfahren der Regierungsbildung. Die rechtliche Irrelevanz dieser Schritte allein rechtfertigt es denn auch, daß sie von der in der Regierung befindlichen Partei ausgehen, von deren Vertrauensmann unternommen werden. Seine Funktion ist nicht anders zu beurteilen, als wenn irgend ein Privatmann seine guten Dienste zur Entwirrung der politischen Lage zur Verfügung stellte. Auch die Besprechungen des Bundespräsidenten mit einzelnen Parteimännern sind im gegenwärtigen

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I A . Verfassungsrecht

Stadium nur nach jeder Richtung unverbindliche Informationsmittel, die die Designierung eines Bundeskanzlers im staatsrechtlich gegebenen Zeitpunkt erleichtern können und sollen. Daher steht es dem Bundespräsidenten von Verfassungs wegen auch vollkommen frei, mit welchen Parteiführern und in welcher Reihenfolge er sich mit ihnen beratschlagt. Wenn neuestens als Voraussetzung der Regierungsbildung die Mehrheitsbildung ausgegeben wurde, so findet ein solches Beginnen in der Verfassung keine Stütze. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, daß vordem Herangehen an Personenfragen auch nur die Konturen einer Mehrheit feststehen müßten, geschweige denn, daß durch koalitionsmäßige Bindungen eine kompakte Mehrheit sichergestellt sein müßte, ehe an die Regierungsbildung herangetreten werden könnte. Das Schlagwort von der Mehrheitsbildung wurde wohl nur zu dem Zweck erfunden, um die Diskussion über die Zusammensetzung der Regierung bis zur Vereinbarung eines neuen Koalitionspaktes zurückzustellen. Es liegt in der Natur einer Regierungsbildung in einer parlamentarischen Demokratie, daß sie Zug um Zug mit der Mehrheitsbildung oder umgekehrt die Mehrheitsbildung Zug um Zug mit der Regierungsbildung vor sich geht. Dieses Junktim erklärt sich aus der Eigentümlichkeit einer parlamentarischen Demokratie, daß in ihr nur eine vom Vertrauen der Mehrheit gestützte Regierung regierungsfähig ist, wie auch umgekehrt nur eine irgendwie zusammengefaßte parlamentarische Mehrheit die Regierung übernehmen kann. Sobald die Regierung aus dem Amte geschieden sein wird, ist für den Bundespräsidenten zugleich die Berechtigung und Verpflichtung gegeben, eine Person seines Vertrauens, von der zugleich zu gewärtigen ist, daß sie das Vertrauen einer wie immer zusammengefaßten Parlamentsmehrheit finden werde, mit der Bildung der Regierung zu betrauen. In der Auswahl der Partei, der der Bundespräsident diesen sogenannten homo regius entnimmt, ist er rechtlich völlig unbeschränkt. Wenngleich der Versuch einer dem Rücktritt der Regierung vorangehenden Mehrheitsbildung den Zweck verfolgt, den Bundespräsidenten auf eine bestimmte Parteiengruppe festzulegen, so wäre doch eine derartige Vereinbarung zwischen Parteien, die Regierungsbildung zu übernehmen, für den Bundespräsidenten rechtlich unverbindlich. Es bliebe dem Bundespräsidenten oder dem von ihm designierten Bundeskanzler unbenommen, die von ihm ausgewählte Regierung auf eine andere Parteiengruppierung zu stützen. Auch ein zwischen

Regierungsbildung im Lichte der Verfassung

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irgend welchen Parteien nach dem bekannten Vorschlag vereinbartes Regierungs- und Mehrheitsstatut wäre für den Bundespräsidenten (wie übrigens auch für die Kompaziszenten eines solchen Statuts) rechtlich unmaßgeblich, wobei in diesem Zusammenhang die Frage ununtersucht bleibt, inwieweit die Bestimmungen der Statutenentwürfe nicht etwa sogar den Versuch darstellen, verfassungsrechtlich gesicherte Freiheiten von Parlaments- und Regierungsmitgliedern auszuschalten. Selbst die Möglichkeit ist dem Bundespräsidenten unbenommen, die Regierung einer einzelnen beliebigen Partei zu entnehmen oder ein reines Beamtenkabinett zu ernennen, wenn nur im Zeitpunkt der Ernennung der Regierung die Gewähr besteht, daß sie die Unterstützung oder Duldung von Parteiengruppen erfahren wird, die in ihrer Gesamtheit die Mehrheit des Nationalrates ausmachen. Es sind eben nicht bloß offene, sondern auch stille Parteienkoalitionen denkbar. Nur das eine ist unter allen Umständen unzulässig: daß der Bundespräsident neuerlich den Nationalrat auflöst, weil die Regierung seines Vertrauens nicht das Vertrauen der Parlamentsmehrheit findet. Es wäre dies nämlich, da die letzte Auflösung, wenn auch ohne ausdrückliche Begründung, so doch offenbar aus dem Grunde erfolgt war, daß die vom Bundespräsidenten berufene Regierung nicht das Vertrauen der Parlamentsmehrheit gefunden hätte, unzweifelhaft eine Auflösung aus dem ,,gleichen Anlasse", also in Widerspruch zu Art. 29 des B-VG. Die Verfassungstreue des Bundespräsidenten, die sich meiner Überzeugung nach auch im Falle der Auflösung des letzten Nationalrates bewährt hat, läßt allerdings eine solche Lösung, die nach der heutigen Sachlage allein noch imstande wäre, der Neubildung der Regierung zu entgehen, gewiß nicht zu.

Die Verfassungsfragen der Wahlzeit Inter arma silent leges. Nun der Wahlkampf und der Waffenspuk vorüber und die so oft in Frage gestellte Einberufung des Nationalrates tatsächlich erfolgt ist, kann das Recht wieder zu seinem Rechte kommen und können insbesondere die Rechtsfragen, welche die Wahlzeit aufgeworfen hat, auch vor der Öffentlichkeit wieder sinnvoller Weise erwogen werden. Mit solchen Erwägungen soll nur der Klärung des Rechtes gedient, jedoch keinerlei ideelle Waffe für oder gegen Personen und Gruppen beigestellt werden, denen in Wahrheit am Recht oder gar an der Verfassung so wenig gelegen ist, daß sie gegen sie ohne weiteres, wenn sie könnten, ihre sehr reellen Waffen erhöben, und mit denen daher sich auf den Rechtsboden zu stellen, ein müßiges Beginnen wäre. Die vielen Streitfragen verfassungsrechtlicher Natur, die sich in der parlamentslosen Zeit herausgestellt haben, erklären sich zu nicht geringem Teil aus der Unklarheit, die das Bundesverfassungsgesetz in gewissen, durch die letzte Verfassungsreform geänderten Bestimmungen aufweist. War doch die Arbeit der Verfassungsredaktoren derart unter äußeren Zwang gestellt, daß man ein reifliches Durchdenken und Ausfeilen der neuen Verfassungsbestimmungen billigerweise nicht erwarten konnte. So kam es, daß aus dem neuen Verfassungstext in einzelnen Fragen nicht nur mit Scheingründen, sondern selbst mit Gründen einander widersprechende Auffassungen abgeleitet werden können, deren sich naturgemäß die Parteipolitik je nach dem Parteistandpunkt als willkommener Argumente bemächtigt. Die politisch vorurteilslose, rein juristische Kritik ist unter diesen Umständen mitunter genötigt, beiden gegnerischen Auffassungen zugleich recht und unrecht zu geben. 1. Dies gilt vor allem von der Auflösung des Nationalrates, die alle weiteren aktuellen Verfassungsfragen erst ausgelöst hat. Die Meinungsver-

Der österreichische Volkswirt, 23. Jg. (1930), S. 250-255. 2 A.J. Merkl

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I A . Verfassungsrecht

schiedenheiten, die sich an die Auflösung des Nationalrates knüpften, sind nur dadurch möglich geworden, daß es die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 unterlassen hat, die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des von ihr neu eingeführten Auflösungsrechtes des Bundespräsidenten in jenen Richtungen, die zu Zweifeln Anlaß geben können, zu klären. Der neue Verfassungstext beschränkt sich auf die Bestimmung: ,,Der Bundespräsident kann den Nationalrat auflösen, er darf dies jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß verfügen." Ausdrücklich ist damit nur eine einzige Voraussetzung der Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten ausgesprochen: die Erstmaligkeit des Anlasses. Eine wiederholte Auflösung aus gleichem Anlaß, das heißt wohl, die wiederholte Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten aus gleichen Gründen - derselbe Nationalrat kann natürlich nur einmal aufgelöst werden - ist hiedurch ausgeschlossen. Anderweitige Voraussetzungen oder rechtliche Hindernisse der Auflösung des Nationalrates könnten sich immerhin aus anderen Zusammenhängen der Verfassung ergeben. Es fehlt jedoch eine Bestimmung darüber, welchen Einfluß die Bestimmungen, welche die Tätigkeit des Nationalrates regeln, auf das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten haben. Insbesondere fragt es sich, ob nachstehende Bestimmung die Bedeutung einer rechtlichen Schranke des Auflösungsrechtes hat: „Wird vom Bundespräsidenten eine neue Bundesregierung zu einer Zeit bestellt, in welcher der Nationalrat nicht tagt, so hat er den Nationalrat binnen einer Woche zum Zwecke der Vorstellung der neuen Bundesregierung zu einer außerordentlichen Tagung einzuberufen." (Art. 70 Abs. 5 B-VG)

Diese Verfassungsbestimmung wurde bekanntlich als rechtliches Hindernis der Auflösung des Nationalrates gedeutet. Es muß daran erinnert werden, daß im Falle der Auflösung des letzten Nationalrates die Sachlage überhaupt nicht so beschaffen war, daß die zuletzt zitierte Verfassungsbestimmung hätte angewendet werden können. Der Nationalrat war bekanntlich gerade zu einer neuen Tagung einberufen, so daß der Bundespräsident zu einer Einberufung des Nationalrates gemäß Art. 70 Abs. 3 B-VG überhaupt nicht Gelegenheit gehabt hätte. Es kam nur die Berufung einer Sitzung des Nationalrates von Seiten seines Präsidenten im Sinne des Art. 28 Abs. 5 des B-VG in Frage und es wäre im Sinne derselben Gesetzesstelle der Präsident des Nationalrates verpflichtet gewesen, auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder eine Sitzung spätestens binnen fünf Tagen einzuberufen. In dem Fall, daß ein solches Verlangen gestellt worden wäre, hätte mit mehr Recht

Die Verfassungsfragen der Wahlzeit

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die Verfassungsmäßigkeit der Auflösungsverfügung bezweifelt werden können, denn in diesem Fall hätte die Auflösung den verfassungsmäßig geltend gemachten Anspruch der Minderheit auf Abhaltung einer Sitzung durchkreuzt. Selbst in diesem Falle hätte man jedoch der Behauptung, daß die nach Art. 28 Abs. 5 B-VG herbeigeführte Einberufung einer Sitzung des Nationalrates ein Hindernis der Auflösung sei, die unbedingte Fassung der Auflösungsbefugnis im Art. 29 B-VG entgegenhalten können. Vollends kann eine Pflicht des Bundespräsidenten, eine bestimmte Zeit zuzuwarten, ob der Präsident des Nationalrates von sich aus oder auf Verlangen der hiezu legitimierten Minderheit eine Sitzung einberuft, um einer neu ernannten Bundesregierung Gelegenheit zur Vorstellung zu geben, nicht entnommen werden. Um eine Rechtspflicht zur Vorstellung einer neu bestellten Bundesregierung für alle Fälle zu begründen, hätte nicht nur im Art. 70 B-VG der Bundespräsident verpflichtet werden müssen, den Nationalrat - wofern er nicht tagt - binnen einer Woche zu einer außerordentlichen Tagung einzuberufen, sondern hätte überdies für den Fall, daß der Nationalrat tagt, der Präsident des Nationalrates verpflichtet werden müssen, eine terminierte Sitzung einzuberufen, um der Regierung Gelegenheit zur Vorstellung zu geben, und hätten endlich diese Einberufungsverfügungen als Ausnahmen vom Auflösungsrecht des Bundespräsidenten vorgesehen werden müssen. Doch selbst für den Fall, daß der Nationalrat nicht getagt hätte und daher durch die Neubestellung der Regierung die im Art. 70 Abs. 4 B-VG vorgesehene Pflicht des Bundespräsidenten zur Einberufung des Nationalrates hätte aktuell werden können, läßt der Verfassungstext die Frage offen, ob diese Einberufungspflicht dem Auflösungsrecht vorgehe, oder ob nicht im Gegenteil die Auflösung die Erforderlichkeit der Einberufung des Nationalrates auszuschalten vermag. Um die eine oder andere dieser beiden Möglichkeiten sicherzustellen, hätten die Verfassungskodifikatoren entweder im Art. 29 B-VG aus dem dort vorgesehenen Auflösungsrecht des Bundespräsidenten den Fall ausnehmen müssen, daß sich eine neu bestellte Regierung dem Nationalrat vorzustellen hat, oder im Art. 70 B-VG von der dort aufgestellten Vorschrift der Einberufung des Nationalrates zum Zweck der Vorstellung den Fall ausnehmen müssen, daß der Bundespräsident die Auflösung des Nationalrates verfügt. Da weder die eine noch die andere Ausnahme gemacht wurde, spricht der Art. 29 B-VG für die Bedingungslosigkeit des Auflösungsrechtes, der Art. 70 B-VG für die Bedingungslosigkeit der Einberufungspflicht im Falle der Bestellung einer neuen Regierung. Wir stehen somit vor der typischen Lage, daß der Verfassungstext für zwei

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I A . Verfassungsrecht

widersprechende Auffassungen ins Treffen geführt werden kann. In dieser Lage kann aber nicht behauptet werden, daß der eine mögliche, und zwar der dem Bundespräsidenten günstigere Standpunkt unhaltbar sei. Würde das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten dadurch bedingt sein, daß sich die von ihm bestellte Regierung jedenfalls dem Nationalrat vorgestellt habe, so würde damit das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten letzten Endes doch nur mit Zustimmung der Mehrheit des Nationalrates ausgeübt werden können. Dadurch würde es um seine politische Funktion einer Handhabe des Staatsoberhauptes gegen ein überlebtes Parlament kommen und als parallele Kompetenz neben dem Selbstauflösungsrecht des Parlaments geradezu überflüssig werden. Müßte nämlich der Bundespräsident die Aufnahme der von ihm bestellten Regierung von Seiten des Nationalrates abwarten, so könnte dieser durch das Mißtrauensvotum in durchaus verfassungsmäßiger Weise die Bestellung einer Regierung seines Vertrauens erzwingen, von der er sicher ist, daß sie den nach Art. 67 B-VG erforderlichen Vorschlag auf Auflösung des Nationalrates dem Bundespräsidenten nicht erstatten werde. Einer vom Bundespräsidenten bestellten Regierung, die dem Nationalrat nicht diese Gewähr bietet, könnte er das Vertrauen versagen, wodurch der Bundespräsident in die Notwendigkeit versetzt wäre, eine neue Regierung zu bestellen und die von ihm beabsichtigte Auflösung des Nationalrates so lange zu verschieben, bis sich die neubestellte Regierung dem Nationalrat vorgestellt hat. Wäre auf diesem Wege die Entschließung des Bundespräsidenten von dem Vorschlag einer Regierung abhängig gemacht, der der Nationalrat zumindest durch Unterlassung des ermöglichten Mißtrauensvotums sein Vertrauen bekundet hat, so liefe dieser Zustand auf dasselbe hinaus, wie wenn der Bundespräsident bei der Auflösung des Nationalrates an dessen vorgängige Zustimmung gebunden wäre. Ein selbständiges Auflösungsrecht des Staatsoberhauptes, das ja gewiß nicht zu den wesentlichen Prärogativen eines Staatspräsidenten gehört, jedoch von der österreichischen Verfassung, gleichviel ob zweckmäßiger- oder unzweckmäßigerweise eingeführt worden ist, hat aber nur dann einen Sinn, wenn es auch gegen den Willen des Parlaments gehandhabt werden kann. So führt auch eine politische Deutung unserer Rechtseinrichtung zur Bejahung der Frage nach der Zulässigkeit der Auflösung des letzten Nationalrates. Auch die Berufung auf den Geist der Verfassung führt nicht notwendig zu einer die Auflösungskompetenz des Bundespräsidenten einengenden

Die Verfassungsfragen der Wahlzeit

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Auslegung. Dieser Geist der Verfassung liegt in der programmatischen Eingangsformel beschlossen: ,,Österreich ist eine demokratische Republik." Diese programmatische Erklärung präjudiziert aber nicht der Wahl zwischen einer Parlaments- und Präsidentschaftsrepublik und schließt insbesondere nicht ein unbedingtes Auflösungsrecht des Bundespräsidenten aus, das sich als Appell des Staatsoberhauptes von der Volksvertretung an das Volk selbst darstellt. Freilich entspricht die Parlamentsauflösung nur dann dem demokratischen Prinzip, wenn sie in der begründeten Annahme erfolgt, daß die Parlamentsmehrheit nur noch die Minderheit des Volkes repräsentiert, wogegen die Minderheit des Parlaments und eine Minderheitsregierung voraussichtlich die Volksmehrheit für sich hat. Wenn aber eine solche Annahme durch das Wahlergebnis keine Rechtfertigung erfährt, so könnte daraus wohl keinesfalls nachträglich ein Handeln gegen den Geist der Verfassung konstruiert werden. Viel anfechtbarer ist es im Lichte des Geistes der Verfassung, wenn eine ursprüngliche Minderheitsregierung, obwohl sie durch die Neuwahl nicht zur Repräsentantin der Parlamentsmehrheit geworden ist, weiter im Amte bleibt, im besonderen also, falls sie nicht selbst die Konsequenz der Demission zieht, vom Bundespräsidenten nicht entlassen wird. Auch insolange als das neugewählte Parlament nicht zusammengetreten und mithin die Mehrheit im Parlament selbst nicht zutage getreten ist, hat selbstverständlich die Regierung schon vom Bekanntwerden des Wahlergebnisses an den Charakter einer Mehrheits- oder Minderheitsregierung, je nachdem, ob die Parteien, denen sie entnommen ist, oder auf die sie sich stützt, die Mehrheit oder Minderheit der Mandate erlangt haben. Es kann durch keine Auslegungskünste weggeleugnet werden, daß das Wahlkabinett durch die letzte Nationalratswahl nicht zur Repräsentantin der Mehrheit des Nationalrates geworden und daß somit nach parlamentarischem Prinzip schon mit dem Wahlausgang der Zeitpunkt ihrer Demission oder Entlassung gegeben war. Der notwendige Zeitablauf zwischen der Wahl eines Parlaments und seinem Zusammentreten macht es allerdings der Parlamentsmehrheit unmöglich, das Gebot des Parlamentarismus allsogleich durch ein Mißtrauensvotum in Vollzug zu setzen, und ermöglicht es somit, wie die Erfahrung zeigt, einer in den Wahlen unterlegenen Regierung, trotz des Mißtrauensvotums, das sie von der Wählerschaft erhalten hat, bis zum Zusammentreten des Parlaments im Amt zu bleiben. 2. Die Entschließung des Bundespräsidenten, mit der er die Auflösung des Nationalrates verfügt hat, läßt eine Begründung vermissen. Die Kritik

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I A . Verfassungsrecht

an dieser formalen Seite des Auflösungsaktes ist sicherlich juristisch eher begründet als die im vorstehenden auf ihre juristische Berechtigung geprüfte Kritik am materiellen Gehalt der Entschließung des Bundespräsidenten. Die Zuständigkeitsnorm des Bundes Verfassungsgesetzes, die den Bundespräsidenten zur Auflösung des Nationalrates ermächtigt (Art. 29 B-VG), entbehrt allerdings jedweder Formvorschrift für diesen Akt des Bundespräsidenten; die Unterlassung einer Begründung setzt sich also keinesfalls zu einer positiven VerfassungsVorschrift in Widerspruch. Die Tatsache, daß die Verfassung für andere von ihr vorgesehene Staatsakte, zum Beispiel für den Einspruch des Bundesrates gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates (Art. 42 Abs. 2 B-VG) und für den Einspruch der Bundesregierung gegen Gesetzesbeschlüsse der Landtage (Art. 98 Abs. 2 B-VG) ausdrücklich eine Begründungspflicht statuiert, könnte sogar auf den ersten Blick die Folgerung nach dem Argument a contrario nahelegen, daß eine Begründung der Entschließung über die Auflösung des Nationalrats überflüssig sei. Indes ist der verfassungsgesetzlichen Beschränkung der Auflösungsermächtigung auf eine nur einmalige Auflösung aus ,,gleichem Anlaß" zu entnehmen, daß der Grund der Auflösung nicht gleichgültig, sondern im Gegenteil juristisch relevant ist. Damit steht aber auch die Erforderlichkeit einer Begründung fest, denn der Grund der Auflösung läßt sich möglicherweise nicht wie in dem jüngsten Fall der ersten Auflösung des Nationalrats durch den Bundespräsidenten aus konkludenten Umständen, sondern tatsächlich nur aus einer ausdrücklichen Begründung erkennen. Die Verfassungsredaktoren hätten gut getan, ausdrücklich die Begründung der Auflösungsverfügung vorzuschreiben. Da eine solche Vorschrift unterblieben und zumindest im fraglichen Fall der Auflösungsgrund - nämlich der Mangel des Vertrauens der Mehrheit des Nationalrates für die vom Bundespräsidenten bestellte Regierung - evident ist, kann die Unterlassung der Begründung nicht als Verfassungsbruch erkannt werden, wenngleich gewiß eine Begründung der Entschließung dem Sinne der Verfassung mehr entsprochen und zum Beispiel das Spielen mit der neuerlichen Auflösung des Nationalrates auf der Stelle als Drohung mit Verfassungsbruch entlarvt hätte. 3. Die Verfassung hat auch eine ausdrückliche Bestimmung über die Folgen der Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten unterlassen. Eine solche Anordnung wäre im Hinblick darauf wünschenswert gewesen, daß für die anderen Endigungsgründe des Nationalrats, das sind der normale Ablauf der Legislaturperiode und die Selbstauflösung des

Die Verfassungsfragen der Wahlzeit

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Nationalrats durch Gesetz, ausdrücklich die Rechtsfolge vorgesehen ist, daß der Nationalrat bis zu dem Tag, an dem der neugewählte Nationalrat zusammentritt, in Funktion bleibt (Art. 29 Abs. 3 B-VG). Das Unterbleiben einer parallelen Anordnung für den dritten Endigungsgrund - Auflösung durch den Bundespräsidenten - hat das Schwanken zwischen der Annahme einer Fortexistenz des Nationalrates trotz der Auflösung und seinem endgültigen Aus-dem-Leben-Treten ermöglicht. Bekanntlich hat sich selbst die Regierung, je nachdem ihr die eine oder die andere Auffassung günstiger war, bald auf den einen, bald auf den anderen Standpunkt gestellt. So setzte zum Beispiel die Einbringung des Finanzgesetzentwurfes beim Präsidenten des Nationalrates den Fortbestand, dagegen die Auflösung der Parlamentskommission die Endigung des Nationalrates voraus. Darüber ist gewiß kein Wort zu verlieren, daß nur entweder der eine oder der andere Standpunkt möglich und daß auch jede vermittelnde Stellung zwischen diesen beiden Standpunkten ausgeschlossen ist. Nicht so selbstverständlich ist aber die Antwort auf die Frage, welche der beiden Auffassungen der Verfassung entspricht. Doch gelangt man wohl auf dem Auslegungsweg zu dem eindeutigen Ergebnis, daß die Auflösung des Nationalrates durch den Bundespräsidenten seinen verfassungsmäßigen Tätigkeiten ein Ende setzt, soweit nicht die Verfassung selbst bestimmten Betätigungsmöglichkeiten Raum gibt. Der immanente Sinn einer Parlamentsauflösung ist - will man dem Wortsinn einer,, Auflösung" nicht Gewalt antun - Diskontinuität der parlamentarischen Tätigkeit. Diese begriffsnotwendige Folge einer parlamentarischen Auflösung wird von der Verfassung in dem Fall der Selbstauflösung ausdrücklich ausgeschlossen zugunsten einer Kontinuität zwischen dem aufgelösten und dem neu zu wählenden Nationalrat. In diesem Fall, aber auch nur in diesem, ist eine Erstreckung der Tätigkeit des Nationalrates über den Zeitpunkt der Auflösung hinaus durchaus sinnvoll, denn die Selbstauflösung kann wohl nicht als eine Mißtrauenskundgebung des Nationalrates gegen sich selbst zu deuten sein. Im Fall der Auflösung durch den Präsidenten wäre ja allerdings ein Fortleben des Nationalrates auch nicht schlechterdings ausgeschlossen, aber doch nur, da es sich um eine Modifikation des Sinnes der Auflösung handeln würde, kraft ausdrücklicher Verfassungsvorschrift. Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Der Nationalrat hat mit dem Zeitpunkt der Auflösung von Seiten des Bundespräsidenten zu bestehen aufgehört. Dasselbe gilt von allen Organen, deren Bestand nicht durch eine Sondervorschrift über den Zeitpunkt der Auflösung hinaus verlängert ist.

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Die Funktionäre des Nationalrates sind, soweit ihnen nicht irgend eine Sondervorschrift einen Wirkungskreis beläßt - so zum Beispiel das Geschäftsordnungsgesetz durch die Berufung des Präsidenten des letzten Nationalrates zum Vorsitz im neuen Nationalrat - , bloße Privatmänner geworden. 4. Aus der Diskontinuität des Nationalrates ergab sich für die Bundesregierung die Unmöglichkeit, der Vorschrift über die Einbringung des Bundesvoranschlages im Nationalrat (Art. 51 B-VG) zu entsprechen, denn in dem Zeitpunkt, da die Bestimmung, daß dem Nationalrat spätestens zehn Wochen vor Ablauf des Finanzjahres von der Bundesregierung ein Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben des Bundes für das folgende Finanzjahr vorzulegen ist, gab es keinen Nationalrat und damit auch keinen Präsidenten des Nationalrates, an den der Voranschlag adressiert worden ist. Der ,,ständige Unterausschuß des Nationalrates" hätte das Plenum des Nationalrates in seinem Budgetbewilligungsrecht nicht ersetzen können. Dieser ständige Unterausschuß - als das einzige Organ, das den Nationalrat von Verfassungswegen im Fall der Auflösung durch den Bundespräsidenten überlebt - ist zu der Mitwirkung an der Vollziehung zuständig, die nach dem Bundes Verfassungsgesetz sonst dem Nationalrat oder dessen Hauptausschuß zusteht (Art. 55 Abs. 2 B-VG). Der Wirkungskreis dieses ständigen Unterausschusses ist demnach nicht durch eine taxative Aufzählung seiner Agenden, sondern durch eine Verweisung auf die Kompetenzordnung des Nationalrates und seines Hauptausschusses umschrieben. Der Kreis dieser Angelegenheiten, die sich als Mitwirkung des Nationalrates und des Hauptausschusses an der Vollziehung darstellen, ist nicht eindeutig von der Verfassung umschrieben, sondern muß auf dem Auslegungswege ermittelt werden. Die Aufzählung einer Angelegenheit unter der Rubrik,,Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes" bietet zwar für die Feststellung der Angelegenheiten, die im Falle der Auflösung des Nationalrates durch den Bundespräsidenten dem ,,ständigen Unterausschuß" zustehen, einen gewissen Anhaltspunkt, aber keinen schlüssigen Beweis für die Zuständigkeit des Unterausschusses für alle, aber auch nur die unter dieser Rubrik aufgezählten Angelegenheiten. Die Titel der einzelnen Abschnitte des Bundesverfassungsgesetzes sind nur ein Wegweiser für seine Auslegung, aber kein Beweis dafür, daß alle einzelnen, unter einem solchen Titel getroffenen oder geregelten Einrichtungen begrifflich darunter gehören, wie auch dafür, daß sich nicht andere, unter denselben

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Titel subsumierbare Einrichtungen in anderem Zusammenhang geregelt finden. So findet sich im zweiten Hauptstück unter dem Titel ,,Gesetzgebung des Bundes" unter anderem die Bundesversammlung, obwohl sie ihr Wirkungskreis - Kriegserklärung, Anklage und Auslieferung des Bundespräsidenten - gewiß nicht zu einem Gesetzgebungsorgan stempelt. Anderseits schließt die taxative Aufzählung der Agenden des Bundespräsidenten im Art. 65 B-VG, der ex professo vom Wirkungskreis des Bundespräsidenten handelt, nicht aus, daß sich aus anderen Zusammenhängen der Verfassung noch eine lange Reihe weiterer Kompetenzen des Bundespräsidenten ergibt. Hieraus kann die Nutzanwendung gezogen werden, daß die systematische Stellung des Art. 51 B-VG, der das Budgetrecht des Nationalrates begründet und regelt, im Rahmen des Abschnitts, der von der Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes handelt, keinen Beweis dafür ausmacht, daß das Budgetrecht des Nationalrates im Falle der Auflösung auf den ständigen Unterausschuß übergeht. Aus dem Art. 42 Abs. 5 B-VG ergibt sich, daß die Bewilligung des Bundesvoranschlages an die Gesetzesform gebunden ist. Wenn man auch die Ausübung des Budgetrechtes sachlich als eine Mitwirkung des Parlaments an der Vollziehung deuten kann, so stellt sie sich doch kraft der Sonderbestimmung des Art. 42 B-VG als ein Akt der Gesetzgebung dar. Den ausnahmsweisen Weg der Gesetzgebung für Fälle, wo der Nationalrat ausgeschaltet (und überdies eine Reihe weiterer einschränkender Voraussetzungen erfüllt ist), weist der Art. 18 B-VG durch die Eröffnung des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten. Eine solche Notverordnung, mit der der Bundesvoranschlag bewilligt würde, wäre nicht einmal so sinnwidrig, wie es die inhaltsgleichen kaiserlichen Verordnungen gewesen sind, weil im Falle der Notverordnung des Kaisers dieser seiner eigenen Regierung die Zustimmung zur Führung des Staatshaushaltes gegeben hat, dagegen im Fall der Notverordnung des Bundespräsidenten doch eigentlich der Nationalrat durch die erforderliche Zustimmung des Unterausschusses des Hauptausschusses seine Zustimmung erteilt. Der bloße Beschluß des Unterausschusses des Hauptausschusses nach Art. 55 B-VG kann aber begreiflicherweise die Gesetzesform nicht ersetzen, denn er ist ungleich formloser und unterliegt bei weitem nicht solchen Kautelen wie eine Notverordnung des Bundespräsidenten und konnte daher auch nicht zu einer Genehmigung des Bundesvoranschlages genügen. Die Bundesregierung wird den Entwurf des Bundesfinanzgesetzes unverzüglich dem neugewählten Nationalrat vorzulegen haben, wobei ihr weder die Verzögerung über den im Art. 51 festgesetzten

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Termin zur Last fällt, noch aber auch der im selben Verfassungsartikel für den Fall einer zeitgerechten Einbringung des Bundesvoranschlages vorgesehene Vorteil eines automatischen zweimonatigen Budgetprovisoriums zugute kommt. Von der Opposition wurde dagegen in der letzten Sitzung des ständigen Unterausschusses die Kompetenz zur Erteilung eines Mißtrauensvotums im Sinne des Art. 74 B-VG in Anspruch genommen, vom Vorsitzenden des Unterausschusses jedoch in Abrede gestellt. Wenngleich sich der Art. 74 B-VG nicht im Rahmen jener Verfassungsbestimmungen findet, die ausdrücklich von der Mitwirkung des Nationalrates an der Vollziehung handeln, so gehört doch das parlamentarische Vertrauensprinzip in die Reihe der Einrichtungen, die einen Einfluß der Legislative auf die Exekutive sichern sollen. Das Mißtrauensvotum ist seinem Sinne nach das schärfste Mittel der politischen Kontrolle und steht somit in einer Reihe mit dem Interpellations-, Resolutions- und parlamentarischen Enqueterecht - Einrichtungen, die unter dem Titel,,Mitwirkung des Nationalrates ... an der Vollziehung" geregelt sind. Wenn die letztgenannten Kontrollmittel unangezweifelt vom ständigen Unterausschuß des Hauptausschusses gehandhabt werden dürfen, so muß folgerichtig auch die Kompetenz zur Erteilung eines Mißtrauensvotums dem ständigen Unterausschuß zustehen. War diese Folgerung unerwünscht, so hätte sie durch eine taxative Aufzählugn der Zuständigkeiten des ständigen Unterausschusses ausgeschlossen werden müssen. Es zeigt sich in diesem Fall, wie viel davon abhängt, in wessen Händen der Vorsitz in den parlamentarischen Kollegien gelegen ist, da ja letzten Endes die Auslegung der Kompetenzen Sache des Vorsitzenden ist. 5. Aus der Diskontinuität der Gesetzgebungsperioden des Nationalrates folgt nicht ohne weiteres die Zulässigkeit der Auflösung der ,,ständigen Parlamentskommission für Heeresangelegenheiten". Die Voraussetzung, von der diese Maßnahme ausgegangen war, trifft zu: daß nämlich das Nationalratsmandat der vom Nationalrat entsendeten Mitglieder dieser Parlamentskommission mit der Auflösung des Nationalrates erloschen war. Die Folgerung, daß damit auch die Funktion dieser ehemaligen Nationalratsmitglieder als Mitglieder der Parlamentskommission erloschen und damit die Parlamentskommission überhaupt funktionsunfähig geworden sei, war jedoch willkürlich. Die Existenz der Parlamentskommission gründet sich nicht auf das Bundesverfassungsgesetz oder das Geschäftsordnungsgesetz

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für den Nationalrat und die Geschäftsordnung des Bundesrates, sondern auf § 7 des Wehrgesetzes. Die ständige Parlamentskommission für Heeresangelegenheiten hat demnach nicht den Charakter eines verfassungsmäßigen oder geschäftsordnungsmäßigen Parlamentsausschusses, sondern ist ein Glied der wehrgesetzlichen Heeresverfassung, das nach einer wehrgesetzlichen Sonderbestimmung aus Parlamentariern zusammengesetzt sein muß. Die Schicksale der Parlamentskommission sind des weitern auch nicht dieselben wie die der echten parlamentarischen Ausschüsse, sondern sind nach dem Wehrgesetz zu beurteilen. Das Wehrgesetz stellt aber nur für die Berufung der Mitglieder der Parlamentskommission deren Zugehörigkeit zum Nationalrat oder Bundesrat zur Bedingung. Eine Berufungsbedingung ist aber nicht notwendig Bedingung für die Beibehaltung des Amtes. Der im Falle der Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten unvermeidliche Verlust der Mitgliedschaft im Nationalrat müßte positivrechtlich als Endigungsgrund für die Mitgliedschaft in der Parlamentskommission aufgestellt sein, wenn das Mitglied durch die Auflösung des Nationalrates Sitz und Stimme in der Parlamentskommission verlieren soll. Selbst wenn aber die Auflösung des Nationalrates die Rechtsfolge hätte, daß die Parlamentskommission nicht mehr gehörig zusammengesetzt wäre, so hätte doch dem Heeresminister die Legitimation gefehlt, die Parlamentskommission für aufgelöst zu erklären. Diese Maßnahme des Heeresministers bedarf wie jede Verwaltungshandlung nach Art. 18 B-VG einer gesetzlichen Grundlage, die jedoch hier nicht gegeben ist. Mit demselben Recht oder vielmehr Unrecht wie ein Mitglied der Parlamentskommission nach Auflösung des Hauses hätte ein vom Nationalrat gewähltes Regierungsmitglied im Falle der Auflösung des Nationalrates von irgend einem Regierungsorgan des Amtes verlustig erklärt werden können. Wenn man des weiteren in Betracht zieht, daß die strafprozessualen Bestimmungen über die Hausdurchsuchung zu einer einseitigen Waffenbeschlagnahme, die in der Maske einer Strafuntersuchung auftrat, verwendet worden sind und daß in der Wahlzeit die Preßfreiheit von Launen der Justizverwaltung abhängig gemacht war, so bedurfte es gewiß nicht der Behauptung eines rechtlichen Geburtsfehlers bei der Berufung der Regierung, um das Substrat für ein Mißtrauensvotum und sogar für eine Ministeranklage zu bieten.

Der „entpolitisierte" Verfassungsgerichtshof Das Motto der „Entpolitisierung", mit dem die Verfassungsreform einbegleitet wurde, sollte sich nach den ,,Erläuternden Bemerkungen" des Regierungsentwurfes insbesondere am Verfassungsgerichtshofe bewähren. Diese Absicht wäre in den Augen jedes Verfassungskenners die löblichste des ganzen Regierungsentwurfes gewesen, denn Aufgabe eines Gerichtes ist vor allem, in der Demokratie, deren öffentliches Leben ansonsten von Politik durchtränkt ist, nicht Politik zu machen, sondern das objektivierte Erzeugnis des politischen Strebens, das Recht, anzuwenden. Und vor allem das zum Schutze der Verfassung, als des Fundamentes der ganzen Rechtsordnung, berufene Gericht dürfte seine Aufgabe nicht darin erkennen, die Verfassung im Sinne irgend welcher politischer Wünsche im Einzelfalle zu korrigieren, sondern sie im Sinne des Gesetz gewordenen Wollens der Verfassungsschöpfer zu garantieren. Möglichste Sicherung in der Richtung, daß dem Verfassungsgericht das Recht, und nichts als das Recht, die Richtschnur seines Handelns sei, war und ist in einer jungen Demokratie, die überhaupt dadurch gekennzeichnet ist, daß die politischen Parteien auf dem Umwege der Rechtsanwendung zu erreichen suchen, was ihnen auf dem Wege der Rechtsetzung versagt geblieben ist, eine wahrhaft demokratische Forderung. Der ungewöhnliche Wirkungskreis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes bringt es mit sich, daß sein parteipolitisch unbeeinflußtes Funktionieren eine Forderung von nicht bloß akademischer Bedeutung, sondern von aktuellem praktischen Interesse ist. Denn der Verfassungsgerichtshof vereinigt in sich nicht nur die ehedem auf verschiedene Organe verteilten Funktionen eines Staatsgerichtshofes, Wahlgerichtshofes, Kompetenzkonfliktgerichtshofes und speziellen Verwaltungsgerichtshofes zum Schutze der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte, sondern ihm obliegt bekanntlich

Der österreichische Volkswirt, 22. Jg. (1930), S. 509-511.

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auch als eigentümlichste Kompetenz die Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen des Bundes und der Länder und deren Kassierung im Falle ihrer Rechtswidrigkeit. Mit dieser Kontrollmöglichkeit wird der Gebrauch der Kompetenzen selbst durch die obersten Staatsorgane der nur durch die Macht begrenzten Willkür entrückt und wie jede andere Rechtsanwendung rechtlichen Sanktionen unterworfen. Richterliche Gewalt über das höchste Staatsorgan, den Gesetzgeber, mit der Kompetenz, verfassungswidrige Gesetze zu kassieren, stempelt aber den Inhaber solcher Kompetenz zum höchsten Gericht. Eine fast zehnjährige Praxis des Gerichtes in diesem seinem umfangreichen Wirkungskreis hat es zu einer zwar viel angefochtenen, aber als unentbehrlich erkannten Institution des öffentlichen Lebens werden lassen. Gerade dieses scheinbar in den höchsten Regionen thronende Gericht hat nicht bloß dem Juristen interessante Rechtsfälle, sondern für jedermann wichtige Entscheidungen in kulturellen und wirtschaftlichen Fragen geboten. Aus der bunten Fülle seiner Erkenntnisse sei beispielsweise nur jenes erwähnt, womit es in der Inflationszeit den von einem Tiroler Landesgesetz versuchten Angriff auf die einheitliche Währung parierte, oder jenes andere, mittels dessen er den von einem Wiener Landesgesetz unternommenen Eingriff in die Einheitlichkeit des Arbeitsrechtes zurückwies. Man kann füglich behaupten, daß die bis auf wenige Fälle so strenge Wahrung der Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Ländern, die im Vergleich mit der Kompetenzverteilung zwischen dem ehemaligen österreichischen Reich und den Ländern beträchtlich kompliziert worden sind, der strengen Hut des Verfassungsgerichtshofes zu verdanken ist. Während in der Monarchie der einzige Riegel gegen Kompetenzüberschreitungen des Reichsrates und der Landtage die Sanktionsverweigerung des Kaisers war und dank der trotz Mangels der rechtlichen Voraussetzungen in nicht wenigen Fällen erteilten Sanktion eine Reihe verfassungswidriger Gesetze ins Leben trat, überschreiten Nationalrat und Landtage kaum einmal die Grenzen ihrer Kompetenz, seitdem sie auch in den Fällen, wo die Bundesregierung oder eine Landesregierung von ihrer Anfechtungsmöglichkeit keinen Gebrauch machen, Gefahr laufen, daß auf einem gelegentlich von mir empfohlenen und seitdem öfter betretenen Umweg irgend ein Privater die amtswegige Überprüfung von Gesetzen provoziert. Man darf eben die Wirksamkeit des Verfassungsgerichtshofes nicht nach der Zahl der von ihm ausgesprochenen Kassierungen von Gesetzen und Verordnungen beurteilen, sondern muß die prophylaktische Wirkung mit in Rechnung ziehen, die von einer zwar nur verein-

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zelten, aber zuverlässigen Judikatur dieser Art ausgestrahlt wird. Die wirtschaftlich bedeutsamste Leistung des Verfassungsgerichtshofes war wohl die Sicherung der Abgabenteilung zwischen Bund und Ländern vor gegenseitigen Einbrüchen. Auf ein ganz anderes Blatt gehört die Herstellung einer gewissen Stabilität in der Praxis der Ehedispense, die man aus Gründen der Rechtssicherheit begrüßen muß, auch wenn man sich gleich mir aus kulturpolitischen Gründen mit der Dispenspraxis an sich nicht befreunden kann.1 Des weiteren hat sich der Verfassungsgerichtshof als empfindlich - je nach dem Standpunkt auch als zu empfindlich - reagierendes Instrument in jenen Fällen erwiesen, wo er zum Schutze verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte angerufen wurde. Unvergessen ist wohl auch noch, daß der Verfassungsgerichtshof in seiner Eigenschaft als Wahlgerichtshof vor einer rigorosen Wahlprüfung nicht zurückgeschreckt ist, während das rechtstechnisch mangelhafte Wahlprüfungsverfahren in der Monarchie einen Freibrief für den Wahlschwindel bedeutet hat. Vielleicht mehr als jede andere macht es diese Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes zur Existenznotwendigkeit, daß in ihm parteipolitisch nach jeder Richtung unbefangene und unbeirrbare Richter den Ton angeben. Trotz gelegentlicher Entgleisungen, die auf das Konto der parteipolitischen Einschläge in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes zu setzen sind, wird gerade der parteipolitisch Unbefangene dem scheidenden Verfassungsgerichtshof das Zeugnis ausstellen, daß er sein ungewöhnliches Richteramt mit Erfolg versehen und immer steigende Beachtung und Achtung gefunden hat. Er hat sich in der Tat, um mit dem ,,Bericht des Verfassungsausschusses der Konstituierenden Nationalversammlung" zu sprechen, als ein,,Grundpfeiler der staatlichen Organisation" erwiesen,,,dessen grundsätzliche Bedeutung ... für einen Bundesstaat im allgemeinen wie im

1 Wenn gerade die einschlägige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes lebhaften Anstoß erregte, so hätte sich der Unmut der Kritiker vielleicht mit mehr Recht gegen die Kodifikatoren des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 21. Juli 1925 wenden müssen, denn der § 68 dieses Gesetzes hat nach meiner seit jeher vertretenen Auffassung durch die Regelung der Formen und Bedingungen einer Nichtigerklärung von Verwaltungsakten einer Überprüfung der Dispense durch die ordentlichen Gerichte den Boden entzogen. Wollte man diese Möglichkeit der Überprüfung auch in Hinkunft sichern, so hätte man sie im Gesetz verankern oder überhaupt das Gesetz anders fassen müssen. Es ist eine merkwürdige Zumutung an Verfassungsrichter, im Wege der Rechtsprechung das Versehen der Parteijuristen bei der Gesetzgebung gutzumachen.

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besonderen für die bundesstaatliche Organisation unseres Staatswesens nicht hoch genug eingeschätzt werden kann". Rückschauend kann man aus der Erfahrung bestätigen, daß der scheidende Verfassungsgerichtshof die Mission erfüllt hat, die ich in dem zitierten Ausschußbericht mit den Worten umschrieben habe: ,,Verfassungs- und Verwaltungsgericht sind gewissermaßen als die Klammern gedacht, welche die dualistische Konstruktion von Bund und Ländern zu einer höheren Einheit zusammenfügen und das nur zu leicht beziehungslose und anarchische Nebeneinanderfunktionieren der beiden organisatorischen Apparate zu einem harmonischen Zusammenwirken verbinden." 2 Bezeichnend für die Originalität der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist die ungewöhnliche Beachtung, die ihr in der Fachwissenschaft auch des Auslandes zuteil geworden ist. Die Tatsache, daß im Mittelpunkte der Betrachtungen der Wiener Tagung derVereinigung deutscher Staatsrechtslehrer die Verfassungsgerichtsbarkeit stand und daß eine umfangreiche Monographie in französischer Sprache den österreichischen Verfassungsgerichtshof zum Gegenstand hat, könnte der Regierung und den politischen Parteien Österreichs zu bedenken geben, was für ein wertvolles Rechtsgut sie im Verfassungsgerichtshofe zu behüten haben. In den Fachkreisen des Auslandes ist es auch bekannt, daß der Wiener Staatsrechtslehrer Professor Hans Kelsen der Erfinder der spezifisch österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit und daß es in der Hauptsache auch sein Verdienst ist, diese originelle Idee in seiner Eigenschaft als Mitglied und ständiger Referent des Verfassungserichtshofes in origineller Weise praktisch realisiert zu haben. Nur die österreichischen Parteien haben augenscheinlich von dieser geistigen Urheberschaft des im Ausland bekanntesten österreichischen Rechtslehrers nichts gewußt oder haben wenigstens aus dieser Tatsache nicht die naheliegende Konsequenz gezogen.

2 Nr. 991 der Beilagen der Konstituierenden Nationalversammlung. Daß man sich auch in Parteikreisen der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit für unseren Bundesstaat bewußt war, beweist unter anderem die Glossierung dieses von Dr. Seipel unterzeichneten und in seiner verfassungshistorischen Partie auch teilweise verfaßten Ausschußberichtes in der Nummer der „Reichspost4' vom 29. September 1920. Dort wird aus dem „für die Zukunft bedeutsamen Gesetzeskommentar des Berichterstatters 11 die auch hier wiedergegebene Stelle wörtlich zitiert - zugleich wohl als Beleg für die übertreibende und in bezug auf die Autorschaft mißverständliche Deutung des Berichtes als „eine der bewundernswertesten Arbeiten dieses reichen Geistes".

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Eine Reform des Verfassungsgerichtshofes war gewiß am Platze. Die Mitgliedschaft von Parlamentariern an einem zur Kontrolle parlamentarischer Tätigkeiten berufenen Gerichte widersprach dem Kardinalgrundsatz aller Gerichtsbarkeit, daß niemand Richter in eigener Sache sein dürfe. Aber die darüber hinausgehende Änderung in der Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes diente offenbar nicht der Entpolitisierung, sondern wohl nur - nach dem ehrlichen Geständnis eines maßgebenden Politikers - der Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes. Es verdient erwähnt zu werden, daß die Republik die deutschsprachigen Richter des altösterreichischen Reichsgerichtes, auch die vom Herrenhause vorgeschlagenen, soweit sie zustimmten, anstandslos in ihren Verfassungsgerichtshof übernommen hat. Es blieb einer konservativen Verfassungsreform vorbehalten, die von verfassungswegen auf Lebensdauer verliehenen Richterstellen mit einem Federstriche zu kassieren. Wenn ein solcher Anschlag auf die richterliche Unabhängigkeit von anderer Seite ausgegangen wäre, hätte man sich mit Recht über ,,bolschewikische Methoden" entrüstet. In unserem Falle hat offenbar der Zweck der sogenannten ,,Entpolitisierung" die bedenkliche Auffassung von der richterlichen Unabhängigkeit gerechtfertigt. Noch bedenklicher war freilich die Ungleichheit in der Behandlung jener Verfassungsrichter, die durch die Verfassungsreform nicht wegen Inkompatibilität ausgeschlossen waren. Den Verdacht parteipolitischer Einflüsse bei der Erstattung der Personal Vorschläge, den z.B. das großdeutsche Parteiblatt offen ausgesprochen hat, hätte man nur dadurch ausgeschlossen, daß man entweder alle den neuen rechtlichen Erfordernissen entsprechende Richter wiederberufen oder alle Richter erneuert hätte. Die Partialtrneuerung läßt die Frage nach den Gründen offen, warum der eine Richter auch in Zukunft der Mitgliedschaft würdig befunden wurde, der andere nicht. Daß die sachliche Qualifikation für die Auswahl bestimmend gewesen sei, wird niemand behaupten können, da sich unter den Nichtwiederberufenen auch drei anerkannte Lehrer des öffentlichen Rechts - Layer, Verdroß und bezeichnenderweise selbst oder gerade Kelsen - finden. 3

3 Es nimmt dies freilich angesichts der Erfahrungstatsache kaum wunder, daß z.B. bereits zugestandenermaßen bestimmte Freundschaften in Kollegenkreisen für die Behandlung von Fakultätsvorschlägen bestimmend waren.

3 A. J. Merkl

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Gerade der Ausschluß Kelsens enthüllt dem Eingeweihten die letzten Wurzeln dieser unter dem Prätext der Entpolitisierung unternommenen Neuordnung des Verfassungsgerichtshofes. Nun wird für jeden, der sehen will, offenbar, daß es schon in dem ursprünglichen Regierungsentwurf auf den Ausschluß Kelsens abgesehen war. Nur war die Einschränkung der Mitgliedschaft auf Personen, die die Eignung für ein richterliches Amt haben, offenbar ein Versuch mit untauglichen Mitteln, denn diese Voraussetzung traf unerwarteterweise im konkreten Falle zu. So erklärt sich ferner auch die auffällige Zurücksetzung des Verfassungsgerichtshofes hinter den Verwaltungsgerichtshof, die darin besteht, daß dieser ein Vorschlagsrecht hat, während jenem die Mitglieder von außenstehenden Faktoren oktroyiert werden. In einem sachlich orientierten Vorschlag des Verfassungsgerichtshofes hätte nämlich Kelsens Name gewiß nicht gefehlt - und über einen solchen Vorschlag des Verfassungsgerichtshofes wäre man schwerlich herumgekommen. Nur die eigentümliche gesetzliche Gestaltung des Vorschlagsrechtes hat es ermöglicht, den Namen Kelsens zu umgehen. Bemerkenswerterweise gibt es für die Regierung überhaupt nur in Graz und Innsbruck, nicht in Wien, Professoren des öffentlichen Rechtes. Bei aller Hochachtung für die wissenschaftliche Qualifikation der vorgeschlagenen Hochschullehrer, unter denen Namen von internationalem Rufe vorkommen, wird man doch wohl kaum behaupten können, daß sie den aus dem Verfassungsgerichtshof nunmehr ausgeschlossenen Repräsentanten der Rechtswissenschaft fachlich überlegen seien.4 Der Vorschlag mutet zum Teile so an, als ob beispielsweise der Justizminister in eine Kommission zur Reform des Strafrechtes statt eines Kriminalisten einen prominenten Rechtshistoriker berufen würde. Auch der Unterrichtsminister würde begründeterweise Bedenken tragen, mit der Leitung eines Institutes für Geschichtsforschung einen sei es auch noch so prominenten Geographen zu betrauen, solange ein Historiker - etwa gar von seinem Format - zu gewinnen ist. Vom Bundeskanzler, einem Mann von erprobter Sachlichkeit, befremdet der Vorschlag vielleicht am meisten. Von einem Manne, der sich über mißtönige, durch ihr plötzliches Verstummen als gemacht und unwahr erwiesene Schmähungen erhaben gezeigt hat, hätte man auch erwarten

4 Unter den Vorgeschlagenen findet sich bezeichnenderweise auch ein Schüler Kelsens, Professor Adamovich, von dem man freilich bis auf weiteres nicht erwarten darf, daß er ein ihm unter Brüskierung Kelsens angebotenes Amt annehmen werde.

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dürfen, daß er parteipolitischen Einflüsterungen, die hier offenbar am Werke waren, unzugänglich sein werde. Die vollzogene Ernennung befreit die Regierung nicht von ihrer moralischen Pflicht, ihre Vorschläge und die viel bedenklichere Unterlassung bestimmter Vorschläge zu rechtfertigen. Denn die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes ist eine öffentliche Angelegenheit und nicht etwa ein Gegenstand der nach dem Proporzsystem kontingentierten Parteiprotektion. Die Rechtfertigung ist unumgänglich, wenn nicht der Verdacht entstehen soll, daß die Vorschläge und Ausschlüsse im Hinblick auf die von den einzelnen Kandidaten zu gewärtigende Haltung in einzelnen Rechtsfragen erstattet worden seien. Solche Erwägungen und Erwartungen wären ein Hohn auf den in unserer Verfassung, ja mehr noch: in unserer Rechtskultur verankerten Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Für alle Fälle wollen wir aber im Interesse dieses Rechtsprinzipes und des Ansehens des österreichischen Verfassungsgerichtshofes der Erwartung Ausdruck geben, daß die künftigen Verfassungsrichter jene vielleicht von irgend einer Seite in sie gesetzten Erwartungen parteipolitischer Zuverlässigkeit durch ihre Rechsprechung zuschanden machen werden.

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Österreichs neue Verfassung Die verfassungstreue Tradition der österreichischen Republik hat über alle Pläne und Drohungen von Staatsstreich und Putsch gesiegt. Auf dem verfassungsmäßigen Wege der Verfassungsänderung ist die Verfassungsnovelle nach fast vierteljährigem, das Land erschütternden Verfassungskampf auf Grund eines stimmeneinhelligen Beschlusses des Nationalrats in den friedlichen Hafen des Gesetzblattes eingelaufen. Die verfassungsmäßige Durchführung der Verfassungreform brachte allerdings so einschneidende Eingriffe in den Reformentwurf mit sich, daß von dessen umstürzenden Plänen so gut wie nichts übrig blieb. Die für die Verfassungsvorlage erforderliche Zweidrittelmehrheit im Nationalrat war nur um den Preis zu erreichen, daß aus dem Verfassungsentwurf alles beseitigt wurde, was ihn für die sozialdemokratische Opposition zunächst unannehmbar gemacht hatte, nämlich die beabsichtigten Eingriffe in das demokratisch-parlamentarische System und in die Rechtsstellung der Stadt Wien als Land. Dagegen gab die sozialdemokratische Partei auch solchen Verfassungsänderungen, die von ihrem Standpunkt keine Verbesserung der heutigen Verfassung bedeuteten, ja selbst solchen, die ihr offenbare Machtverluste bringen, ihre zur Erreichung der Zweidrittelmehrheit erforderlichen Stimmen. Diese Selbstüberwindung zum freiwilligen Machtverzicht war das Mittel zur Vermeidung des Verfassungsoktrois, das der Sozialdemokratie unvergleichlich größere Opfer zugemutet, wenn es nicht gar das Bürgertum und die Arbeiterschaft in den unabsehbaren Abgrund eines Bürgerkrieges gerissen hätte. Das Verfassungskompromiß beschränkte sich indes nicht bloß auf wesentliche Abstriche vom Reformprogramm der Regierungsvorlage; es brachte auch beachtenswerte Neuerungen, die im ursprünglichen Entwürfe nicht vorgesehen waren. Das Ergebnis der Verfassungskämpfe ist somit eine Verfassungsnovelle, die trotz eines reichlichen Maßes von Neuerungen die

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Grundlagen der Bundesverfassung des Jahres 1920 unangetastet läßt. Dagegen eröffnet sich zwischen dem in diesen Blättern 1929 Sp. 1581* gezeichneten Bilde des Regierungsentwurfs und dem im folgenden zu zeichnenden Gegenbilde der Gesetz gewordenen Verfassungsnovelle eine Kluft, die die Schwierigkeit ihrer Überbrückung durch das Verfassungskompromiß begreiflich macht. Ist doch die Endgestalt in der Urgestalt der Verfassungsnovelle kaum wiederzuerkennen. Vor allem bleibt der Nationalrat das überragende Organ des ganzen staatlichen Organapparates. Es wird ihm zwar in der Person des Bundespräsidenten ein Gegenspieler gegenübergestellt, doch kann ihm dieser mit all seinen neuen Kompetenzen nicht gefährlich werden, während der Verfassungsentwurf dem Bundespräsidenten eine Handhabe geboten hatte, um in legitimer Weise den Nationalrat verschwinden zu lassen und eine Diktatur aufzurichten. Die Gesetzgebungsperiode des Nationalrates wird in Sessionen gegliedert, der Nationalrat wird demnach aus einem kontinuierlich zu einem intermittierend tätigen Gesetzgebungsorgan. Der Bundespräsident hat den Nationalrat jährlich zu einer mindestens zweimonatigen Frühjahrstagung und zu einer viermonatigen Herbsttagung einzuberufen, doch können die zwischen den ordentlichen Tagungen sich ergebenden Arbeitspausen auch durch außerordentliche Tagungen ausgefüllt werden. Solche darf der Bundespräsident nicht bloß nach eigenem Ermessen einberufen, sondern hat er binnen zwei Wochen auch einzuberufen, wenn es die Bundesregierung, der Bundesrat oder ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates verlangen. Innerhalb einer Tagung des Nationalrates hat dessen Präsident binnen 5 Tagen eine Sitzung einzuberufen, wenn es ein Viertel der Nationalratsmitglieder oder die Bundesregierung verlangen. Dieser doppelte Minderheitsschutz bietet der Opposition die Gewähr, daß ihr nicht auf die Dauer die parlamentarische Tribüne entzogen werden kann und machte für sie die Aufhebung der Permanenz des Parlamentes unbedenklich. Einschneidender ist das fast wörtlich aus Art. 25 der deutschen Reichsverfassung übernommene Auflösungsrecht des Bundespräsidenten, neben dem das Recht der Selbstauflösung durch einfaches Gesetz aufrecht bleibt. Nicht einmal im Falle der Auflösung des Nationalrates steht jedoch das parlamentarische Leben still; in diesem Falle übernimmt ein von der Verfassungsnovelle eingeführter ständiger Unteraus-

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Verfassungsreform in Österreich.

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schuß des Hauptausschusses gewisse Kompetenzen des Nationalrates zu seiner ständigen Kompetenz, die in der Genehmigung der Entwürfe zu den Notverordnungen des Bundespräsidenten besteht. Die wahlrechtlichen Rahmenbestimmungen der Verfassung wurden in folgenden Punkten geändert: das Wahlalter für das aktive Wahlrecht wurde auf das vollendete 21. Lebensjahr, für das passive Wahlrecht auf das 29. Lebensjahr erhöht. Durch einfaches Landesgesetz kann für das betreffende Land Wahlpflicht zum Nationalrat eingeführt werden. Grundlage für die Durchführung von Wahlen wie auch von Volksabstimmungen und Volksbegehren bilden ständige Wählerverzeichnisse. Die unitarische bundesverfassungsgesetzliche Schranke für die Wahlordnungen zu Landtagen und Gemeindevertretungen, daß die Bedingungen des Wahlrechts nicht enger gezogen werden dürfen als in der Wahlordnung zum Nationalrat, wurde in der Weise gelockert, daß die Landesgesetzgebung ermächtigt wurde, für das Wahlrecht zu den Ortsgemeindevertretungen das Erfordernis einjähriger Seßhaftigkeit einzuführen. Im Hinblick auf das durch eine unerhörte Arbeitslosigkeit gesteigerte Fluktuieren der Arbeiterschaft läuft diese Ermächtigung auf eine nicht unwesentliche konservative Wahlrechtsbeschränkung hinaus. Im übrigen besteht die Absicht, die Wahlordnung zum Nationalrat insbesondere durch Lockerung der auch hierzulande immer mehr angefochtenen ,,starren Liste" zu reformieren, doch sind sich noch nicht einmal die in der Regierung vertretenen Parteien über den vom Bundeskanzleramt verfaßten Referentenentwurf einer Regierungsvorlage zum neuen Wahlgesetze einig. Von der vielgenannten Ständevertretung, die der Lieblingsgedanke der Verfassungsreformer war, steht in der Verfassungsnovelle nur der Name „Ständerat" und das Prinzip fest, daß dieser aus den „Vertretern der Berufsstände des Bundesvolkes" zu bestehen habe. Im übrigen beschränkt sich die Verfassungsnovelle auf die Promesse, daß seine Zusammensetzung und die Grundsätze über seine Bestellung durch ein besonderes Bundesverfassungsgesetz geregelt werden. Einstweilen hat sich in der verfassungspolitischen Diskussion, die sich nach Verabschiedung der Verfassungsnovelle auf die Frage der Berufsständevertretung konzentriert hat, noch nicht einmal über die Grundfragen dieses neuen Repräsentantenkollegiums eine Mehrheitsmeinung herausgebildet. Dem Plan des Regierungsentwurfes, dem Ständerat im Wesen die gleiche Rechtsstellung wie dem Bundesrate, also das Recht der Gesetzesinitiative und des Einspruches gegen Gesetzesbeschlüsse des

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Nationalrates einzuräumen, trat dieser Tage der Vorschlag des vormaligen Bundeskanzlers, Professor Seipel, gegenüber, den Ständerat dem Nationalrate gleichzustellen, teilweise sogar vor ihm zu bevorrechten. Dagegen erklärt die Sozialdemokratie nur eine in der Hauptsache begutachtende Wirtschaftskammer nach Art des Reichswirtschaftsrates für annehmbar. Naturgemäß wachsen die Schwierigkeiten der Zusammensetzung einer solchen Kammer mit ihrem zunehmenden Wirkungskreis, denn die Verteilung der wenigen so kompetenzreichen Mandate auf die Berufsgruppen ist ein nicht klassenversöhnender, sondern -scheidender Streitgegenstand. Die Verfassungsnovelle hat zwar gefährlichsten Konfliktsstoff aus der Welt geschafft, aber, wie man sieht, doch noch manches aktuelle Verfassungsproblem ungelöst gelassen und somit den Verfassungsfrieden noch nicht gesichert. Die Neuerungen in der Einrichtung der Bundespräsidentschaft kommen relativ am weitesten den Vorschlägen des Regierungsentwurfs entgegen und bringen eine starke Annäherung an die Bestimmungen der Reichs Verfassung über den Reichspräsidenten. Der Bundespräsident wird in Hinkunft durch unmittelbare und geheime Volkswahl, für welche Wahlpflicht besteht, auf 6 Jahre gewählt. Gewählt ist, wer mehr als die Hälfte aller gültigen Stimmen auf sich vereinigt. Ergibt sich keine solche Mehrheit, so findet ein zweiter Wahlgang statt. Bei diesem können gültigerweise nur für einen der beiden Wahlwerber, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben, Stimmen abgegeben werden; es kann jedoch jede der zwei Wählergruppen, die diese beiden Wahlwerber aufgestellt haben, für den zweiten Wahlgang an Stelle des von ihr aufgestellten Wahlwerbers eine andere Person namhaft machen. Diese Austauschmöglichkeit im zweiten Wahlgang ist der Aufstellung und Wahl überparteilicher Kompromißkandidaten günstig. Die Absetzung des Bundespräsidenten durch das Bundesvolk ist - unter Aufrechterhaltung einer verfassungsgerichtlichen Amovierung wegen Verfassungsverletzung - genau nach dem Vorbild des Art. 43 der Reichsverfassung geregelt. Der bisher überaus enge Wirkungskreis des Bundespräsidenten wurde um das Recht der Ernennung und Entlassung der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister, um ein Notverordnungsrecht und um den Oberbefehl über die Wehrmacht erweitert. Das parlamentarische Vertrauensprinzip bleibt zwar in seiner ganzen Schärfe unberührt, wonach die Regierung oder der Minister, denen das Vertrauen des Nationalrates versagt wird, ohne weiteres, insbesondere ohne daß eine Demission abzuwarten wäre, vom

Österreichs neue Verfassung

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Bundespräsidenten enthoben werden muß. Im Grunde wird aber die Regierung zugleich auch vom Vertrauen des Bundespräsidenten abhängig. Denn dieser ist nicht bloß an Stelle des Nationalrates zuständig geworden, nach freiem Ermessen den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die übrigen Bundesminister zu ernennen, sondern auch - und zwar unbeschränkt durch irgendeinen Vorschlag oder eine Gegenzeichnung - berechtigt, den Bundeskanzler oder die gesamte Bundesregierung zu entlassen. Diese zweiseitige Abhängigkeit kann im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen der Pralamentsmehrheit und dem Bundespräsidenten zu einer dauernden Regierungskrise führen. Die dem Bundespräsidenten neu verliehene diktatorische Kompetenz reicht nicht im entferntesten an das Kompetenzausmaß des Art. 48 Reichsverfassung heran. Sie beschränkt sich nämlich auf ein vielfach verklausuliertes Notverordnungsrecht und enthält insbesondere nicht die Ermächtigung zur Suspension irgendwelcher Grundrechte, sodaß ein sogenannter Ausnahms- oder Belagerungszustand in Österreich nach wie vor ausgeschlossen ist. Die gesetzändernden Verordnungen des Bundespräsidenten sind an eine lange Reihe formaler und materieller Voraussetzungen geknüpft und unterliegen einer strengen, nicht bloß gerichtlichen, sondern auch parlamentarischen Kontrolle. Sie dürfen nur erlassen werden, wenn die sofortige Erlassung von Maßnahmen, die verfassungsgemäß einer Beschlußfassung des Nationalrates bedürfen, zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist. Sie sind überdies durch einen Vorschlag der - stets nur stimmeneinhellig beschließenden - Bundesregierung bedingt, welche ihrerseits zu ihrem Vorschlage die Genehmigung des vorerwähnten Unterausschusses des Nationalrates einzuholen hat. Eine „diktatorische" Maßnahme, die von der vorgängigen Zustimmung eines parlamentarischen Ausschusses und damit der Parlamentsmehrheit abhängig ist, ist offenbar denaturiert und für das parlamentarische Regime ungefährlich. Überdies sind dem Notverordnungsrecht inhaltliche Schranken gesetzt, insbesondere ein Eingriff in die Verfassung, in das soziale Recht, in das Koalitionsrecht und in den Mieterschutz verwehrt. Die Verordnung ist unverzüglich dem Nationalrat vorzulegen und dieser zum Zweck der Prüfung der Verordnung für einen der der Vorlage folgenden acht Tage einzuberufen. - Der Bundespräsident ist dem-

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nach gewiß nicht zu einem ebenbürtigen Gegenspieler des Nationalrates geworden. Den Polizeibehörden wurde ebenfalls ein selbständiges Verordnungsrecht, das ihnen bisher gefehlt hat, eingeräumt, jedoch mit der Beschränkung auf Fälle einer unmittelbaren Gefährdung der körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums. Die Eingriffe in die Rechtsstellung der Stadt Wien beschränken sich in der Hauptsache darauf, daß gegen die in den Angelegenheiten der Auftragsverwaltung des Bundes (der hier sogenannten „mittelbaren" Bundesverwaltung) ergehenden Verwaltungsakte des Bürgermeisters als Landeshauptmann in allen Fällen ein Rechtsmittelzug an den sachlich zuständigen Bundesminister zugelassen wurde. Bemerkenswert ist ferner die weitere Zentralisierung der ohnehin schon bisher sehr unitarischen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern; insbesondere nahm die Verfassungsnovelle die Gesetzgebung und Vollziehung in allen Polizeiangelegenheiten für den Bund in Anspruch. Nur die örtliche Sicherheitspolizei bleibt den Gemeinden, jedoch nur in der Gestalt einer Auftragsverwaltung, vorbehalten. Die einschneidenden Änderungen der für die österreichische Verfassung charakteristischen Verfassungsgarantien können zusammenfassend dahin beurteilt werden, daß einerseits die Kontrollmöglichkeiten der einschlägigen Bundesorgane gegenüber den Ländern noch erweitert, andererseits die parlamentarischen Einflüsse auf die Zusammensetzung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zurückgedrängt wurden. Abschließend kann festgestellt werden, daß die österreichische Bundesverfassung auch in ihrer erneuerten Gestalt den Normativbestimmungen, welche die Reichsverfassung für die Verfassungen der deutschen Länder aufstellt, vollauf entspricht.

Verfassungsreform und Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich Die Verwandtschaft zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich tritt - namentlich für den sachverständigen ausländischen Beurteiler - auf keinem Rechtsgebiete so sinnfällig in Erscheinung wie in den Verfassungen der beiden Nachbarstaaten, in die das deutsche Volk durch eine geschichtlich sinnlos gewordene Grenze noch geschieden ist. Von den drei unverkennbaren Vorbildern der in der Hauptsache heute noch geltenden österreichischen Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, nämlich der altösterreichischen Verfassung vom 21. Dezember 1867, die mit ihrem Dualismus von Reich und gesetzgebungsberechtigten Ländern schon unverkennbar bundesstaatsähnliche Züge aufgewiesen hatte, sodann der schweizerischen und nicht zuletzt der deutschen Reichsverfassung, hatte doch wohl die letzte am stärksten auf die österreichische Verfassung eingewirkt; im übrigen hat diese, namentlich mit der überaus originellen und auch außerhalb unserer Staatsgrenzen schon viel bemerkten Gestaltung der Verfassungsgarantien, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit, neue Rechtsgedanken verwirklicht. Die Novelle zum Bundesverfassungsgesetz, die nach schweren Verfassungskämpfen am 7. Dezember 1929 auf Grund eines Kompromisses zwichen den vier Parteien des Nationalrates - unerwarteterweise ebenso stimmeneinhellig wie das Bundes-Verfassungsgesetz des Jahres 1920 - verabschiedet wurde, vertieft nun in wichtigen Punkten, insbesondere in der Regelung der Staatspräsidentschaft, die Verwandtschaft der österreichischen mit der reichsdeutschen Verfassung. Während der Regierungsentwurf zum neuen Verfassungsgesetze den radikalen, auf der ganzen Erde einzig dastehenden Parlamentarismus der Bundesverfassung geradezu ins Gegenteil umzubiegen versucht hatte und durch ungewöhnliche diktatorische

Deutsche Richterzeitung, 22. Jg. (1930), S. 322-325.

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.A. Verfassungsrecht

Kompetenzen des Bundespräsidenten geradezu eine Handhabe zur legitimen Errichtung einer Diktatur geboten hätte, beschränkte sich die Verfassungsnovelle auf eine gewisse Abschwächung des extremen Parlamentarismus in der Richtung der Präsidentschaftsrepublik. Drohte anfänglich die Verfassungsreform den Rahmen der Normativbestimmungen, die der Art. 17 der deutschen Reichs Verfassung den Verfassungen der deutschen Länder gesetzt hatte, zu sprengen, so wird das Reformgesetz diesen Rahmenbestimmungen, die aus nationalpolitischen Gründen auch für jede Verfassung Österreichs oberste Richtschnur sein müssen, in jedem Punkte gerecht. Die für die Staatsform maßgeblichen Änderungen betreffen vornehmlich die Rechtsstellung des gesamtstaatlichen Parlamentes und des Staatsoberhauptes. War der Nationalrat bisher ausschließlich selbst über sich verfügungsberechtigt, insbesondere auch nur selbst zu seiner Auflösung berechtigt, so kann er nunmehr vom Bundespräsidenten vertagt und vor Ablauf seiner vierjährigen Gesetzgebungsperiode aufgelöst werden. Allerdings können der Bundesrat, die Bundesregierung und ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates das Wiederzusammentreten des vertagten Nationalrates verlangen; es hat die Bundesregierung die Neuwahl in diesem Falle so einzurichten, daß der neugewählte Nationalrat längstens am 90. Tage nach der Auflösung zusammentreten kann. Auch in der tagungsfreien Zeit ist durch den Bestand eines kontinuierlichen Unterausschusses des Hauptausschusses für die Fortführung der parlamentarischen Geschäfte Sorge getragen. Der Bundespräsident war bisher von der Bundesversammlung, die aus dem Nationalrat und dem Bundesrat besteht, auf vier Jahre zu wählen, wird jedoch in Hinkunft durch Volkswahl auf sechs Jahre zu berufen sein, wobei im ersten Wahlgang nur die absolute, im zweiten Wahlgang jedoch die relative Mehrheit zwischen den Kandidaten der beiden stärksten Parteien entscheidet. Wichtige Kompetenzen des Nationalrates gehen auf den Bundespräsidenten über, nämlich das Recht der Berufung der Bundesregierung und einzelner Bundesminister, wobei allerdings der Bundespräsident durch die strenge Durchführung des Vertrauensprinzipes in seinerAuswahl stark beschränkt ist, und der Oberbefehl über die Wehrmacht. Dem Nationalrat wurde überdies sein ausschließliches Gesetzgebungsrecht der Bundesgesetzgebung durch ein Notgesetzgebungsrecht des Bundespräsidenten beschränkt, freilich bei weitem nicht mit den weitausgreifenden Möglichkei-

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ten, die der Regierungsentwurf vorgesehen hatte. Selbständige Verordnungen des Bundespräsidenten sind insbesondere nur dann zulässig, wenn der Nationalrat nicht versammelt ist und nicht rechtzeitig zusammentreten kann, dürfen nur auf stimmeneinhelligen Vorschlag der Bundesregierung und mit Zustimmung des erwähnten Unterausschusses des Nationalrates erlassen werden und sind inhaltlich dahin beschränkt, daß sie weder in die Verfassung, noch in das soziale Recht, in das Koalitionsrecht und in den Mieterschutz eingreifen, außerdem keine finanzielle Belastung des Bundes, der Länder, Bezirke und Gemeinden und der Bundesbürger und keine Veräußerung von Staatsgut zum Gegenstande haben dürfen. Es bedarf keiner Ausführung, inwiefern ein derart beschränktes Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten auch hinter den diktatorischen Kompetenzen des deutschen Reichspräsidenten zurückbleibt. Die sogenannte diktatorische Kompetenz, die dem Bundespräsidenten mit dem Notverordnungsrechte eingeräumt werden sollte, kommt dadurch um ihren Sinn, daß ihre Ausübung an die Zustimmung eines nach dem Verhältniswahlsystem zusammengesetzten parlamentarischen Ausschusses gebunden ist. Übrigens unterliegen die Notverordnungen des Bundespräsidenten nicht bloß der vorgängigen Kontrolle eines Parlamentsausschusses, sondern auch der nachträglichen Kontrolle des Nationalrates selbst, dem die Verordnung des Bundespräsidenten unverzüglich vorzulegen und der für einen der der Vorlage folgenden acht Tage einzuberufen ist, um ihm zu dem binnen vier Wochen nach der Vorlage zulässigen Verlangen Gelegenheit zu geben, daß die Verordnung von der Bundesregierung sofort außer Kraft gesetzt werde. Nach Ablauf dieser Frist kann eine Notverordnung des Bundespräsidenten nur noch auf dem Wege der Bundesgesetzgebung aufgehoben werden. Abgesehen von dieser politisch-parlamentarischen Kontrolle unterliegen übrigens die Verordnungen des Bundespräsidenten auch noch wie alle Verordnungen einer rechtlichen Kontrolle, die auf Antrag einer Landesregierung oder eines beliebigen Gerichtes vom Verfassungsgerichtshofe in der Weise auszuüben ist, daß er die als verfassungswidrig erkannte Verordnung für aufgehoben erklärt. Die im Regierungsentwurfe - zurückhaltender als im Art. 48 der Reichsverfassung - vorgesehene Suspension gewisser Grundrechte ist nicht Gesetz geworden, so daß sich die österreichischen Polizeibehörden im Falle einer Bedrohung der öffentlichen Ruhe und Ordnung nach wie vor ohne irgendwelche Handhaben eines sogenannten Ausnahms- oder Belagerungszustandes behelfen müßten. Nur in einem Punkte hat die Verfassungsreform die Stellung der Polizeibehörden gestärkt. Während nämlich bisher auch Poli-

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I A . Verfassungsrecht

zeiverordnungen nur im Rahmen einfacher Gesetze erlassen werden, und daher im Verordnungswege keine nicht schon im Gesetz begründeten polizeilichen Gebote oder Verbote erlassen werden konnten, wurden nunmehr alle mit Aufgaben der allgemeinen Sicherheitspolizei betrauten Behörden ermächtigt, zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums innerhalb ihres Wirkungsbereiches die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen zu treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung zu erklären. Solche Anordnungen dürfen indes nicht gesetzändernder Natur sein und sind durch eine aktuelle Gefährdung der körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums bedingt; sie sind aufzuheben, sobald der Grund zu ihrer Erlassung weggefallen ist. Die vorgeführten Grundzüge der Verfassungsreform lassen so viel erkennen, daß der rechtsstaatliche Charakter der Verfassungseinrichtungen 1 fast unberührt geblieben ist; und wenn auch erstmals die letzte Verfassungsreform ein vorübergehendes parlamentsloses Regime ermöglicht hat, so hat sie es doch wahrhaftig nicht leicht gemacht. Vom Standpunkt des Richters mag an der Verfassungsreform vielleicht am meisten interessieren, daß sie auch die für die österreichische Verfassung besonders charakteristischen Verfassungsgarantien in die Reform einbezogen und in origineller Weise verstärkt hat. Die gesetzlichen Folgerungen aus der neuen Rechtslage hat bezüglich der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits ein Bundesgesetz vom 4. April 1930 (die sogenannte zweite Verfassungsgerichtshofsgesetz-Novelle) gezogen, wogegen der im März 1930 im Nationalrat eingebrachte Entwurf eines neuen Verwaltungsgerichtshofsgesetzes, der dazu bestimmt ist, die Einrichtung und das Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes seinen durch die Verfassungsreform des Dezember 1929 mit Wirksamkeit vom 1. Januar 1930 wesentlich erweiterten Kompetenzen anzupassen, noch nicht in parlamentarische Verhandlung gezogen wurde. Der Verfassungsgerichtshof mußte einzelne Kompetenzen, die sich ihrem Wesen nach als Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellen, an den Verwaltungsgerichtshof abgeben, hat jedoch seine sonstigen mannigfaltigen Funktionen

1 Über die typische Realisierung des Rechtsstaates in der republikanischen Verfassung Österreichs vgl. insbesondere mein ,, Allgemeines Verwaltungsrecht", Verlag Springer 1927, S. 168 ff.

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beibehalten, namentlich als Kompetenzkonfliktsgerichtshof (Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den verschiedenen Typen von Gerichten, zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden, zwischen den Ländern und zwischen dem Bund und einem Lande), ferner als Kausalgerichtshof (Entscheidung von Klagen, womit vermögensrechtliche Ansprüche des Bundes, der Länder, der Bezirke und Gemeinden gegeneinander geltend gemacht werden, sofern diese Ansprüche im ordentlichen Rechtsweg nicht auszutragen sind), als Garant der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte (Entscheidung über Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte durch Verwaltungsakte des Bundes und der Länder), als Staatsgerichtshof (Entscheidung von Anklagen des Bundespräsidenten, der Mitglieder der Bundes- und der Landesregierungen und sonstiger an rechtlicher Verantwortung gleichgestellter Personen), als Wahlgerichtshof (Entscheidung über Anfechtungen von Wahlen zu allen allgemeinen Vertretungskörpern), endlich als Gesetzes- und Verordnungsprüfungsgericht (Aufhebung verfassungswidriger Gesetze und gesetzwidriger Verordnungen). Die letztgenannte Funktion hat nun durch die Verfassungsreform eine bemerkenswerte Ausgestaltung erfahren. Während bisher der Verfassungerichtshof in die Prüfung eines Gesetzes nur von Amts wegen, und zwar dann, wenn ein solches Gesetz die Voraussetzung für ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes bildet, ferner in die Prüfung eines Landesgesetzes auf Antrag der Bundesregierung und in die Prüfung eines Bundesgesetzes auf Antrag einer Landesregierung eintreten durfte, wurde die Legitimation zur Anfechtung eines Gesetzes in der Weise erweitert, daß nunmehr auch der oberste Gerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof beim Verfassungsgerichtshof die Prüfung eines Gesetzes beantragen können, sofern ein solches Gesetz die Voraussetzung eines Erkenntnisses des antragstellenden Gerichtes bildet. Bei der bisherigen Regelung der Anfechtungslegitimation entschied der Zufall, ob ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz vom Verfassungsgerichtshof angewendet werden mußte, oder die politische Konstellation, die den Bund oder ein Land zu dem unfreundlichen Akt der Anfechtung eines Landes- oder Bundesgesetzes veranlaßte, darüber, ob ein verfassungswidriges Gesetz beseitigt wurde. Schon diese beschränkte Anfechtungslegitimation trug jedoch stark zur Reinigung der Gesetzgebungspraxis bei. Denn der Verfassungsgerichtshof benutzte, wenn sich Bundes- und Landesregierung nicht zur Anfechtung von verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetzen bereit fanden, jede auch noch so entfernte Gelegenheit, um von Amts wegen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Nach einem überausrigorosen Maßstab hat der Gerichtshof bisher

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in zehn Fällen teils ganze Gesetze, teils Gesetzesteile als verfassungswidrig aufgehoben; in viel zahlreicheren Fällen hat aber wohl die Gewißheit, daß eine beabsichtigte Verfassungswidrigkeit vor dem Verfassungsgerichtshof nicht bestehen werde, vorbeugend gewirkt. Die Erweiterung der Beschwerdelegitimation läuft in ihren Wirkungen geradezu auf die Eröffnung einer actio popularis gegen verfassungswidrige Gesetze hinaus; denn die Chance, daß die oberste Instanz in ordentlichen Rechtssachen und in Verwaltungsrechtssachen durch ihren Antrag beim Verfassungsgerichtshof jedem evident verfassungswidrigen Gesetze den Garaus machen wird, ist ein starker Ansporn, alle Rechtsmittel gegen einen Anspruch oder einen Verwaltungsakt, die sich auf ein evident verfassungswidriges Gesetz stützen, auszuschöpfen. Die Zunahme der Wahrscheinlichkeit, daß ein verfassungsrechtlich unhaltbares Gesetz gerichtlich kassiert werden wird, wird voraussichtlich in noch höherem Maße als bisher gewährleisten, daß die Kompetenz- und Verfahrensschranken der Gesetzgebung eingehalten werden. Die Verläßlichkeit des Verfassungsgerichtshofes als Garant der Verfassung gegenüber der Gesetzgebung steht und fällt begreiflicherweise mit seiner Unabhängigkeit von parlamentarischen wie überhaupt von politischen Einflüssen. Darum war die Tendenz der Verfassungsreform nach sogenannter Entpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes sachlich gewiß gerechtfertigt. Nur darf man füglich zweifeln, ob der Weg zu diesem Ziele völlig einwandfrei und zweckentsprechend war. Nach den bisherigen Organisationsvorschriften bestand für die Berufung von Parlamentariern in den Verfassungsgerichtshof nur ein numerus clausus, nicht aber eine Inkompatibilitätsnorm, die durch die Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes, die parlamentarische Tätigkeit auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren, gewiß nahegelegt war. Die Verfassungsreform hat in aller Strenge diese Inkompatibilität normiert, außerdem aber auch den parlamentarischen Einfluß auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes wesentlich abgeschwächt.2 Bisher waren der Präsident, der Vizepräsident und die Hälfte

2 Die Ausführungen in der Schrift des ,,Bundes zur Erneuerung des Reiches44 über die „Österreichische Verfassungsreform", S. 14, geben über die bisherige Organisation der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit ein ganz irrtümliches und irreführendes Bild. Wenn dort behauptet wird, daß Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof bisher hauptsächlich mit Politikern besetzt gewesen seien, die keine besondere Vorbildung aufzuweisen brauchten, daß der Verwaltungsgerichtshof seit seiner im Jahre 1876 erfolgten Gründung

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der Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes vom Nationalrat, die andere Hälfte der Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundesrat zu wählen. Jetzt werden sämtliche Funktionäre des Verfassungsgerichtshofes vom Bundespräsidenten ernannt; und zwar der Präsident, der Vizepräsident, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder auf Vorschlag der Bundesregierung, mit der Maßgabe, daß diese Mitglieder aus dem Kreise der Richter, Verwaltungsbeamten und Professoren der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten zu entnehmen sind, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder auf Grund von Dreiervorschlägen, die teils der Nationalrat, teils der Bundesrat aus dem Kreis der Personen zu erstatten haben, die bereits durch mindestens zehn Jahre eine Berufsstellung bekleidet haben, für die die Vollendung der rechtswissenschaftlichen Studien vorgeschrieben ist. Es ist natürlich eine Täuschung, daß durch die Beteiligung einer parlamentarischen Regierung auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes an Stelle des Parlamentes der politische Einfluß auf dieses Gericht vermindert sei. Er ist in Wirklichkeit nur zugunsten der Regierungsparteien verschoben. Das war ja wohl auch der Zweck der Reform. Dafür spricht die auffällige Tatsache, daß die Verfassungsrichter die einzigen Richter sind, die nicht auf Vorschlag eines richterlichen Senates zu berufen sind - ein solches Vorschlagsrecht wäre eine wirkliche Bürgschaft für Hochhaltung der richterlichen Qualitäten des Gerichtshofes und für seine Reinhaltung von politischen Einflüssen gewesen - , dafür spricht noch mehr die ungewöhnliche Tatsache, daß die Verfassungsnovelle sämtliche Richterstellen beim Verfassungsgerichtshofe, die die Bundesverfassung auf Lebensdauer gewährleistet hatte, mit einemmal kassiert hat. Diese Verfassungsbestimmung bot zu einem einschneidenden Revirement Gelegenheit, dem sämtliche Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes bis auf zwei zum Opfer fielen, offenbar, um genehmeren Kandidaten Platz zu machen. Jeder Richter wird diese Methode der Gesetzgebung, die besonders gewährleistete Unabsetzbarkeit von Richtern mit der unmittelbaren Absetzung kraft Gesetzes zu desavouieren, als einen Angriff

kraft gesetzlicher Organisationsnorm ein reines Juristengericht ist, dessen Mitglieder den Reihen der qualifiziertesten Verwaltungsbeamten und Berufsrichter entnommen waren. Die Mitglieder des erst nach dem Umsturz geschaffenen Verfassungsgerichtshofes mußten zwar bedauerlicherweise nicht juristisch vorgebildet sein, doch war die Zahl der parlamentarischen Laienrichter auf höchstens ein Drittel der gesamten Mitgliederzahl beschrankt und deren Einfluß durch die Mitgliedschaft der prominentesten Verfassungsjuristen kompensiert. 4 A. J. Merkl

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auf die richterliche Unabhängigkeit empfinden. Dieser unpolitische Akt im Dienste der Entpolitisierung des Gerichtshofes ist geeignet, auf die vorbildliche und vielbeachtete Idee der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit einen Schatten zu werfen. Die Reform des Verwaltungsgerichtshofes ging unanfechtbarer vor sich. In diesem Falle wurde nämlich das Vorschlagsrecht des Nationalrates und Bundesrates durch einen Vorschlag des Verwaltungsgerichtshofes selbst ersetzt, an den die Regierung bei ihren Besetzungsvorschlägen an den Bundespräsident gebunden ist. Zugleich wurden für die Mitgliedschaft im Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof eine Altersgrenze eingeführt, und zwar für jenes Gericht das vollendete 70., für dieses Gericht, sowie für die ordentlichen Gerichte, das vollendete 65. Lebensjahr.

Das rechtliche Ergebnis des Verfassungskampfes Eine an die demokratisch-parlamentarischen Grundlagen rührende Totalrevision der Verfassung war der Sinn des Verfassungsentwurfes, den die Regierung dem Nationalrat unterbreitet hat. Eine die Grundlagen der Verfassung wahrende, nur das demokratisch-parlamentarische System in der Richtung der Präsidentschaftsrepublik nuancierende Teilrevision ist, kurz vorweg genommen, das Ergebnis des Verfassungskampfes, in dem sich in augenfälliger Weise die Rollen von konservativ und radikal vertauscht haben, die traditionellen Träger des radikalen Prinzips als Hüter der bestehenden Verfassung, dagegen konservative Elemente als ungestüme Gegner des Bestehenden, als radikale Neuerer aufgetreten sind. Der beträchtliche Abstand zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Reformprogramm und Reformgesetz kommt äußerlich darin zum Ausdruck, daß sich die sogenannte „neue Verfassung" in einer relativ bescheidenen Verfassungsnovelle präsentiert, die den weitaus überwiegenden Teil der Verfassungsartikel unberührt läßt, und ohne die für Gesamtänderungen der Verfassung erforderliche Volksabstimmung durch ein verfassungsänderndes Gesetz vom Nationalrat allein in Kraft gesetzt werden konnte. Ist die politische Tragweite der Verfassungsnovelle so gering, daß die Träger des Reformgedankens in ihr nur einen Anfang in der Verwirklichung ihrer Pläne sehen und die Reform in Permanenz erklären, so birgt sie doch so viel des juristisch Interessanten, daß ihr rechtlicher Gehalt keinesfalls in einem Aufsatz ausgeschöpft werden kann und die juristische Behandlung sich in diesem Rahmen in der Hauptsache auf die Skizzierung der Hauptgegenstände der Reform beschränken muß.1 Diese Hauptgegenstände sind

Juristische Blätter, 59. Jg. (1930), S. 1-3,45-51. 1

Zur Verfassungsreform habe ich außerdem Stellung genommen in: „Verfassungsreform in Österreich", Deutsche Juristen-Zeitung (Berlin) vom 1. Dezember 1929, Sp. 1581, „Verwässerung oder Verbesserung des Verfassungsentwurfes?", Der österreichische Volkswirt (Wien) vom 2. November 1929, S. 130, „Verfassungsreform und Verfassungslegende",

4*

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Neuerungen in der Organisation der Gesetzgebung des Bundes, namentlich des Nationalrates, in der Organisation der obersten Vollzugsorgane des Bundes, namentlich des Bundespräsidenten und der Bundesregierung, in der Organisation der Länder, namentlich des Landes Wien, in der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, endlich in den Verfassungsgarantien, namentlich in der Rechnungskontrolle, Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Mochte im Entwürfe zwischen den verschiedenen Reformplänen ein innerer Zusammenhang bestanden haben, so ist dieser jedenfalls durch das Verfassungskompromiß zum guten Teil verloren gegangen; das Verfassungskompromiß hat eben willkürlich jene Punkte des Reformprogrammes herausgegriffen, über die eine Einigung am ehesten möglich war; ganz ohne Rücksicht darauf, welche Bedeutung sie im Gesamtprojekte hatten. Der legistischen Güte der Verfassungsnovelle war das politisch gewiß sehr begrüßenswerte Verfassungskompromiß im großen und ganzen, nicht von Vorteil. Gewisse Teile der Verfassungsnovelle, so insbesondere die Mehrzahl der neuen Kompetenzbestimmungen, fügen sich dem verbleibenden Verfassungstexte nur unvollkommen ein, und werden als unorganisch aufgepfropfter Fremdkörper dauernd kenntlich sein. Die Hast der Reform hat auch manche Unstimmigkeiten, um nicht zu sagen Unsinnigkeiten gezeitigt, deren rechtliche Tragweite heute noch nicht abzusehen ist, die aber möglicherweise vom juristischen Standpunkt eine neuerliche Verfassungsreform notwendig machen werden, ehe das politische Bedürfnis hienach unabweisbar geworden sein wird. * * *

Der Nationalrat war in der bisherigen Verfassung - im Vergleiche mit den Zentralparlamenten anderer Bundesstaaten - sozusagen überdimensioniert. Mehr noch als seine jeder Gewaltenteilung spottende Kompetenzfülle haben seine Unnahbarkeit für jedes andere Organ, namentlich auch für das Staatsoberhaupt, seine ausschließliche Disposition über Sein und Nichtsein und seine zeitliche Unbegrenztheit, der er nur selbst, gewissermaßen durch Selbstmord, ein Ende machen konnte, das parlamentarische System stärker als irgendwo ausgeprägt. Der Reformentwurf gedachte nicht nur am NatioDer österreichische Volkswirt vom 23. und 30. November 1929, S. 209 und 237, und „Epilog zum Verfassungskampf 1, Der österreichische Volkswirt vom 14. Dezember 1929, S. 293, sowie „Zur Verfassungsreform", in den Juristischen Blättern vom 23. November 1929, S. 469.

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nalrat, dieser tragenden Säule der ganzen Staatsorganisation, eine einschneidende capitis diminutio vorzunehmen, sondern hielt auch eine Handhabe bereit, um den Nationalrat ganz in der Versenkung verschwinden zu lassen. Die vorliegende Novelle schmälert nicht die Rechtsstellung des Nationalrates, stellt ihm jedoch in der Person des Bundespräsidenten einen im Vergleiche mit dem bisherigen Staatsoberhaupt wesentlich gestärkten Gegenspieler gegenüber. Von nun an kann der Bundespräsident in Sein und Wirken des Nationalrates eingreifen, ohne indes bei rechtmäßigem Gebrauch seiner Kompetenzen gegenüber dem Nationalrat für dessen Existenz und Funktion irgendwie gefährlich werden zu können. Alle seine Kompetenzen gegenüber dem Nationalrat kann er nämlich nur auf Vorschlag und mit Zustimmung der Bundesregierung ausüben, und in allen den Punkten, in denen der Nationalrat der Fremdbestimmung des Bundespräsidenten unterworfen wird, wird ihm wahlweise auch Selbstbestimmung gewährt, so daß er keinesfalls auf den guten Willen des Bundespräsidenten angewiesen bleibt. Der radikale Parlamentarismus der bisherigen Verfassung äußerte sich in der Permanenz des Parlamentes. Ohne Unterbrechung ging die Legislaturperiode dahin und in die nächste Legislaturperiode auf die Weise über, daß der scheidende Nationalrat bis zum Zusammentritt des neugewählten Nationalrates im Amte blieb. Das Parlament war sozusagen der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht; es spielte gewissermaßen die Rolle, die von der konstitutionellen Staatsauffassung dem Erbmonarchen zugeschrieben worden war. Es ist für den Abbau des Parlamentarismus, diesen einen Grundgedanken der Verfassungsreform, symbolisch, daß nun auch der Nationalrat gleich allen anderen Organen an Vergänglichkeit gemahnt und aus einem permanenten zu einem intermittierend tätigen Organe wird; und es ist für die Stärkung der Präsidentenmacht, diesen zweiten Grundgedanken der Verfassungsreform, bezeichnend, daß der Bundespräsident es ist, der dem Nationalrat die Zeit seines Handelns vorzeichnet. Er vermag dies dank seinen neugewonnenen Befugnissen zur Einberufung, Vertagung und Auflösung während des Laufes der Legislaturperiode. Während jedoch diese Befugnisse, in der Art, wie sie die Regierungsvorlage vorgesehen hatte, die Handhabe geboten hatten, mittels deren der Präsident zum Diktator hätte erhoben und der Nationalrat zu einem Schattendasein hätte verurteilt werden können, sind sie in der Verfassungsnovelle so gestaltet, daß sie für den Nationalrat nur einen kleinen Prestige- und fast keinen Machtverlust bedeuten. Die Verfassung zieht nämlich aus der Gliederung der Gesetzgebungs-

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periode in Sessionen keine der üblichen Folgerungen: nicht die der Diskontinuität der parlamentarischen Arbeit - selbst zwischen zwei Tagungen kann nach freiem Ermessen des Nationalrates die Arbeit der Ausschüsse fortgesetzt werden - nicht die des Immunitäts- und des Diätenverlustes, insbesondere aber auch nicht die, daß dem Plenum des Hauses die Hände gebunden wären. Denn der Bundespräsident beruft den Nationalrat zu einer außerordentlichen außerhalb der beiden ordentlichen Tagungen nicht bloß nach freiem Ermessen ein, sondern er ist ihn überdies einzuberufen verpflichtet, wenn es die Bundesregierung, der Bundesrat oder mindestens ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates - also etwa die gegenwärtige Oppositionspartei - verlangen. In dieser verfassungsmäßigen Gewähr dafür, daß einer qualifizierten Minderheit gegen ihren Willen nicht die parlamentarische Tribüne entzogen werden kann, verwirklicht sich die demokratische Forderung nach Minderheitsschutz, dessen Sinn - wofern nicht Demokratie ins Gegenteil verkehrt, Mehrheitsherrschaft zur Minderheitsherrschaft werden soll - nur darin bestehen kann, daß die Minderheit die Möglichkeit haben müsse, ihren Willen parlamentarisch zum Ausdruck zu bringen, nicht aber der Mehrheit aufzuzwingen. Der Bundespräsident kann die Tagung des Nationalrates überhaupt nicht nach freiem Ermessen, sondern nur auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses des Nationalrates schließen und ist in diesem Falle hiezu verpflichtet. Die Minderheit kann zwar gegen den Willen der Mehrheit den Schluß einer Tagung nicht verhindern, kann aber jederzeit binnen zwei Wochen durch die erwähnte Forderung nach Wiedereinberufung des Nationalrates eine neue Tagung herbeiführen. Es ist also dafür gesorgt, daß das Parlament gegen den Willen der Minderheit oder gar der Mehrheit verfassungsgemäß nicht außer Aktion gesetzt werden kann, dagegen vom Bundespräsidenten, der bei diesen Formalakten nur als Willensvollstrecker parlamentarischer Gruppen fungiert, auch gegen seinen Willen in Aktion gesetzt werden muß. Diese die Dispositionsfreiheit des Bundespräsidenten paralysierenden Garantien gegen eine parlamentslose Zeit werden erst dadurch voll verständlich, daß sie zugleich die Möglichkeit der Erlassung selbständiger Verordnungen beengen. Kann dem Zustand der Parlamentslosigkeit durch Initiative des Parlamentes jederzeit ein rasches Ende gesetzt werden, so ist damit erreicht, daß die neue, grundsätzlich bedeutsamste Kompetenz des Bundespräsidenten zur Erlassung selbständiger Verordnungen nur als echtes, das augenblicklich fehlende Parlament supplierendes Notverordnungsrecht benützt und nicht zu einer das Parlament ausschaltenden Gesetzge-

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bungspraxis mißbraucht werden kann. Solange es verfassungsmäßig zugeht, sind, wie man sieht, schon durch rechtliche Hemmungen der Dispositionsfreiheit des Bundespräsidenten gegenüber dem Parlament der Wiederkehr der berüchtigten § 14-Wirtschaft in Gestalt republikanischer Artikel 18-Verordnungen Riegel vorgeschoben. Indes wurde nach dem Vorbild der meisten Demokratien bekanntlich eine Handhabe zur längeren Ausschaltung des Parlamentes und zu voller Diskontinuität des parlamentarischen Betriebes eingeführt: das Recht des Bundespräsidenten, den Nationalrat vor Ablauf seiner Gesetzgebungsperiode aufzulösen, womit notwendig jedwede parlamentarische Tätigkeit erlischtzum Unterschied von dem Fall des normalen Ablaufes der Funktionsperiode durch Zeitablauf und auch dem von der Verfassungsnovelle beibehaltenen ungewöhnlichen Falle einer Auflösung des Nationalrates durch sich selbst in Form eines Gesetzes, dem Gegenstück der Auflösung des Hauses durch Entschließung des Bundespräsidenten. In den beiden vorerwähnten Fällen läuft die Gesetzgebungsperiode des Nationalrates bis zu dem Tag, an dem der neugewählte Nationalrat zusammentritt, so daß der bereits außer Funktion befindliche Nationalrat doch immer wieder in Aktion gesetzt werden kann. Es wäre zum Beispiel nicht nur die Bundesregierung verpflichtet, eine im Zuge der Neuwahlen erlassene gesetzändernde Verordnung dem scheidenden Nationalrat vorzulegen, sondern es wäre überdies der Bundespräsident verpflichtet, falls der neugewählte oder neuzuwählende Nationalrat bis dahin noch nicht aktionsfähig sein sollte, den scheidenden Nationalrat für einen der der Vorlage der Verordnung folgenden acht Tage zur Ermöglichung der Prüfung der Verordnung einzuberufen. Ein solches Fortleben des Nationalrates über seine ihm von der Verfassung oder von einem speziellen (Auflösungs-)Gesetz bemessene Zeit hinaus wäre jedoch im Falle der Auflösung von Seiten des Bundespräsidenten sinnlos. Denn die Auflösung von dieser Seite hat den Sinn eines Mißtrauensvotums durch eine zur Kontrolle berufene Instanz. Zu der rechtlichen Kontrolle der Tätigkeit des Nationalrates, die in der Beurkundung verfassungsgemäßer Gesetzesbeschlüsse durch den Bundespräsidenten und in der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof in Erscheinung tritt, tritt nunmehr in der Gestalt des Auflösungsrechtes des Präsidenten ein Mittel politischer Kontrolle der Tätigkeit und auch der Untätigkeit des Parlamentes ergänzend hinzu. Und auch dieses Mittel der Kontrolle ist aus dem Wesen der Demokratie zu rechtfertigen, denn wie die

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Mittel der rechtlichen Kontrolle die dauernde Übereinstimmung des Willens des Gesetzgebers mit dem in der Verfassung präformierten, so soll das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten die dauernde Übereinstimmung mit dem in den Wählermassen latenten Volkswillen sicherstellen. Wenn eine nicht mehr vom Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung getragene Parlamentsmehrheit begreiflicherweise nicht die Entschlußkraft zur Selbstauflösung aufbringt, womit sie ja den Ast absägen würde, auf dem sie sitzt, so ist nun eben das Staatsoberhaupt berufen, durch die Herbeiführung von Neuwahlen, die vom Standpunkte der Demokratie erforderliche, im Wesen einer Volksrepräsentation begründete Übereinstimmung zwischen dem Mehrheitswillen des Volkes und der Volksvertretung wieder herzustellen. In der Bedingtheit der Auflösung des Nationalrates durch einen Vorschlag der Bundesregierung und in deren Zustimmung in der Form der Gegenzeichnung, ferner in der Beschränkung auf eine einmalige Auflösung aus dem gleichen Anlaß, in der Vorschrift der befristeten Neuwahl des Nationalrates und endlich in der Möglichkeit, daß das Bundesvolk auf Vorschlag des Nationalrates den Bundespräsidenten absetzt, liegen die im Interesse der Demokratie erforderlichen, sicherlich ziemlich ausgiebigen Schranken einer mutwilligen Parlamentsauflösung. Immerhin bedeutet das Auflösungsrecht, das sich zumindest prophylaktisch auf die parlamentarische Aktion der Opposition auswirken dürfte, eine wirksame Beschneidung des extremen Parlamentarismus. Die Drohung der Auflösung des Nationalrates wird jedenfalls wirksamer als es die Handhaben der Geschäftsordnung vermochten, die Obstruktion zum Schweigen bringen, die den undemokratischen Versuch darstellt, die Gesetzwerdung des Mehrheitswillens statt mit den fehlenden oder versagenden intellektuellen mit mechanischen Mitteln zu verhindern. Im System der österreichischen Verfassung spielt überhaupt die Parlamentsauflösung von Seite des Bundespräsidenten mehr die Rolle eines Drohmittels gegen die Minderheit, deren die Mehrheit auf geschäftsordnungsmäßigem Wege nicht so leicht Herr werden kann oder die sie durch Neuwahlen zu schwächen hofft. Soll die Auflösung anderen Zwecken dienen, so steht ja nach wie vor der Weg der Selbstauflösung durch Gesetz frei. Die Unzulässigkeit der wiederholten Auflösung ,,aus gleichem Anlaß" 2 soll offenbar dem vorbeu2

Die Auslegung dieser Schranke hat an der Hand der deutschen Reichsverfassung, in der die gleiche Bestimmung enthalten ist, bereits eine eigene Literatur gezeitigt, denn die deutschen Reichspräsidenten haben von ihrem Auflösungsrecht bereits dreimal Gebrauch gemacht.

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gen, daß sich der Bundespräsident zu dem in den Neuwahlen geäußerten Volkswillen in Widerspruch setzt, den zu erkunden und allenfalls auch gegen die Volksvertretung durchzusetzen, gerade die demokratische Funktion der Parlamentsauflösung ist. Eine Abschwächung der Demokratie bedeutet es immerhin, wenn durch Inanspruchnahme des Auflösungsrechtes der Nationalrat ein volles Vierteljahr ausgeschaltet werden kann. Die Neuwahl ist nämlich im Falle der Auflösung des Nationalrates von der Bundesregierung so anzuordnen, daß der neugewählte Nationalrat längstens am 90. Tage nach der Auflösung zusammentreten kann. Die deutsche Reichsverfassung (Art. 25) findet mit einer höchstens sechzigtägigen Vorbereitungsfrist für die Neuwahlen das Auslangen. Nichtsdestoweniger bedeutet die Bestimmung der österreichischen Verfassungsnovelle einen wesentlichen Fortschritt im Vergleich mit dem Verfassungsentwurfe, der die grundsätzliche Terminierung der Neuwahlen mit dem sechzigsten Tag nach der Auflösung von der vagen Voraussetzung, daß ,,nicht außerordentliche Verhältnisse entgegenstehen", abhängig gemacht und damit geradezu die Blankettvollmacht zur legitimen Aufrichtung der Diktatur gegeben hatte. Immerhin gibt aber auch die Gesetz gewordene Befristung der Neuwahlen die Handhabe zu einem recht ausgiebigen außerparlamentarischen Regime des Bundespräsidenten und die Möglichkeit, durch reichliche Erlassung selbständiger Verordnungen den Nationalrat vor einschneidende vollzogene Tatsachen zu stellen, die dann, wenn der Bundespräsident im stillschweigenden Einverständnis mit der Parlamentsmehrheit vorgegangen ist, schwerlich wieder rückgängig gemacht werden können. In dieser Möglichkeit liegt die politische Bedeutung der vielfachen sachlichen Schranken des selbständigen Verordnungsrechtes des Bundespräsidenten, von denen noch die Rede sein soll. Die weitgehenden sonstigen Reformpläne der Regierungsvorlage hinsichtlich der Funktion des Nationalrates, insbesondere was den Weg der Gesetzgebung und das parlamentarische Budgetrecht betrifft, sind bekanntlich in der Verfassungsnovelle nicht verwirklicht worden. Insbesondere bleibt es bei dem Erfordernis der Zweidrittelmehrheit für verfassungsändernde Gesetzesbeschlüsse. Man durfte und darf sich gewiß mit Recht auf das demokratische Prinzip berufen, wenn man mit diesem Erschwerungsmittel der Gesetzgebung die Aufrechterhaltung gewisser Grundlagen der Rechtsordnung vor dem Zugriff der einfachen Mehrheit zugunsten einer

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qualifizierten Minderheit sicherstellen will, nur ist es eine Übertreibung, zu behaupten, daß mit diesem Formalerfordernisse des Weges der Verfassungsgesetzgebung der demokratische Charakter einer Verfassung stehe und falle. Beweis genug gegen eine solche Behauptung bilden wohl die englische Verfassung und auch die provisorische Verfassung der österreichischen Republik, deren Schöpfern man doch schwerlich vorwerfen kann und will, sie hätten die Demokratie verfälscht, weil sie von Formunterschieden zwischen einfachen und Verfassungsgesetzen abgesehen haben. Das Budgetrecht des Nationalrates wurde von der Verfassungsnovelle bekanntlich geändert, aber nicht nach dem Vorschlage der Regierungsvorlage, der dieses auch im parlamentarischen System durchaus sinnvolle, eine detaillierte Kontrolle und Kritik der Verwaltung von Seite des Parlamentes, insbesondere von Seite der Parlamentsminderheit ermöglichende Requisit der Volksvertretung illusorisch gemacht hätte, sondern in einer provisorischen Vorsorge für den Fall der nicht rechtzeitigen parlamentarischen Erledigung des Staatsvoranschlages. Wird der von der Bundesregierung zeitgerecht dem Nationalrat vorgelegte Bundesvoranschlagsentwurf vom Nationalrat nicht vor Ablauf des Finanzjahres verfassungsmäßig genehmigt und wird bis dahin auch keine vorläufige Vorsorge durch Bundesgesetz getroffen, so sind in den ersten zwei Monaten des folgenden Finanzjahres die Steuern, Abgaben und Gefälle nach den bestehenden Vorschriften einzuheben und die Bundesausgaben auf Rechnung der gesetzlich festzustellenden Kredite zu bestreiten, mit Ausnahme von Ausgaben, die im letzten Bundesfinanzgesetz ihrer Art nach noch nicht besonders vorgesehen waren. Der Sinn dieser Bestimmung ist der eines generellen verfassungsmäßigen Budgetprovisoriums für jeweils zwei Monate des neuen Finanzjahres; dieses generelle verfassungsmäßige Budgetprovisorium greift dann platz, wenn für die Haushaltsführung des Bundes weder durch das Finanzgesetz noch durch ein spezielles Budgetprovisorium für das neue Finanzjahr Vorsorge getroffen ist. Mit dieser Bestimmung ist das Budgetrecht des Nationalrates keineswegs geschmälert, sondern nur seine Ausübung erleichtert. Eine bisher nicht gewürdigte rechtliche Wirkung liegt darin, daß die nicht unbestrittene Lehrmeinung, wonach die jährliche Budgetbewilligung nach österreichischem Recht Bedingung der normalen Haushaltsführung, insbesondere der zwangsweisen Vereinnahmung der Bundesabgaben und der Erfüllung

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gesetzlicher Bundesleistungen ist, durch authentische Auslegung des Verfassungsgesetzgebers bestätigt wird. 3 * * *

Zu den besprochenen funktionellen kommen noch einige organisatorische Neuerungen in der Stellung des Nationalrates. Die Erhöhung des Wahlalters hat mehr prinzipielle als praktische Bedeutung; in ihr äußert sich der konservative Zug der ganzen Verfassungsreform, dem jedoch auf Schritt und Tritt die reaktionäre Spitze abgebrochen wurde. Die Erhöhung des Wahlalters kann jedenfalls dann nicht als ein Eingriff in die Allgemeinheit des Wahlrechtes betrachtet werden, wenn die verlangte Eigenberechtigung zur Bedingung des aktiven Wahlrechtes gemacht wird, da das Vorhandensein der nötigen physischen, psychischen und sittlichen Reife geradezu begriffsnotwendige Voraussetzungen eines demokratischen Wahlrechtes sind. Es war eine Inkonsequenz der Rechtsordnung, daß sie politische Handlungsfähigkeit vor der bürgerlichen eingeräumt hatte. Es läßt sich also kaum Stichhältiges dagegen einwenden, wenn die Verfassungsnovelle das aktive Wahlrecht grundsätzlich erst mit erlangter Eigenberechtigung eintreten läßt. Aus technischen Gründen konnte naturgemäß die Erlangung des Wahlrechtes nicht auf die 365 möglichen Geburtstage abgestellt werden, sondern wurde der I. Jänner des Jahres der Wahl als der gemeinsame Stichtag für alle Angehörigen eines Altersjahrganges festgesetzt. Beachtung verdient die bisher kaum gewürdigte Bestimmung, die im Zuge der Ausschußberatungen in den Kreis der Wahlrechtsbedingungen aufgenommen wurde. ,,Ob und unter welchen Voraussetzungen auf Grund staatsvertraglich gewährleisteter Gegenseitigkeit auch Personen, die nicht die Bundesbürgerschaft besitzen, das Wahlrecht zusteht, wird in dem Bundesgesetz über die Wahlordnung geregelt." Das politische Ziel dieser Bestimmung ist augenscheinlich dieses, deutschen Reichsbürgern das Wahlrecht zum Österreichischen Nationalrat einzuräumen; ihre rechtliche Beτ

Diesen Sinn habe ich bereits der bisherigen Gestaltung des österreichischen Budgetrechtes beigelegt. Ausführlich vertrete ich diese Auffassung in meinem Gutachten für den 35. Deutschen Juristentag „Empfiehlt es sich, die bestehenden Grundsätze über die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reiches und der Länder abzuändern ?" Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, 1928, S. 325 ff. - Dagegen insbesondere der Berichterstatter Dr. Kienböck.

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deutung liegt darin, daß sie formelle Voraussetzungen aufstellt, bei deren Zutreffen das sonst bestehende Erfordernis österreichischer Bundesbürgerschaft für die Wahl zum Nationalrat entfallen kann. Auf Grund dieser Verfassungsbestimmung kann die Wahlordnung als einfaches Gesetz Ausländern, bezüglich deren im Wege eines Staatsvertrages Gegenseitigkeit gewährleistet ist, das Wahlrecht zum Österreichischen Nationalrat gewähren.4 Die bisher bloß in der Nationalratswahlordnung vorgesehene bedingte Wahlpflicht wird nunmehr in der Verfassung verankert, und zwar in der Weise, daß Wahlpflicht für den Nationalrat in den Ländern statuiert wird, in denen sie durch Landesgesetz angeordnet wird. Es kann auf Grund dieser Ermächtigungsbestimmung die Landesgesetzgebung Wahlpflicht unmittelbar für den Nationalrat vorschreiben, die Festsetzung der näheren Bestimmungen über die allfällige Wahlpflicht wie über das Wahl verfahren ist jedoch Sache der Bundesgesetzgebung. Dieser ist bei der näheren Ausführung der Wahlpflicht durch die verfassungsgesetzliche Garantie der geheimen Wahl insbesondere die Schranke gesetzt, daß die Wahlpflicht jedenfalls nur die Gestalt einer Stimmzettelabgabepflicht annehmen kann, wodurch Gewissenszwang ausgeschlossen und das Recht der Parteilosigkeit trotz äußerlicher Teilnahme am Wahlakt gewährleistet wird. Eine verfahrenstechnische Neuerung des Wahlrechtes, die aber auch materiellrechtliche Folgen - Erhöhung des Wahlalters und Einführung des Seßhaftigkeitserfordernisses - hat, besteht in der verfassungsgesetzlichen Einführung ständiger Wählerverzeichnisse. Eine politisch tendenziöse, durch die Erfahrungen aber villeicht nicht ganz ungerechtfertigte Neuerung besteht in der Sondervorschrift, daß die Wählerverzeichnisse in Gemeinden, die zum Wirkungskreis einer Bundespolizeibehörde gehören, von dieser anzulegen sind. Freilich wird damit den Gemeinden, wenn die Wählerliste ihrer rechtlichen Zweckbestimmung nach nur bestehende Wahlberechtigungen registrieren und nicht fehlende Wahlberechtigungen supplieren soll, bloß ein Prestige- und kein Machtopfer zugemutet. Dieses Opfer wird überdies dadurch erträglich gemacht, daß die Wählerverzeichnisse von den Bundespolizeibehörden unter Mitwirkung der Gemeinden zu führen sind. Es wird selbstverständlich Sache der neuen Wahlordnung sein, das Zusammenwirken zwischen Bundespolizeiund Gemeindebehörden näher zu regeln. Die Hauptaufgabe der ausstehenden

4 Die völkerrechtlichen Schwierigkeiten einer derartigen einseitigen Ausdehnung des Wahlrechtes habe ich in meinem Aufsatz „Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsche und Österreicher", Deutsche Einheit 1927, Nr. 3, S. 1, aufgezeigt.

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Wahlreform dürfte allerdings nicht in der Anpassung der Wahlordnung an die neuen Normativbestimmungen für das Wahlrecht bestehen, sondern in der Herstellung eines wirklichen Wahlrechtes, das derzeit durch die starre Liste im Grunde zu einem Ernennungsrecht der Parteien verfälscht ist. Zu einer solchen Wahlreform bedurfte es allerdings keiner Verfassungsänderung, vielmehr ist eine solche Wahlreform schon durch den Geist der geltenden Verfassung, durch den Sinn eines demokratischen Wahlrechtes gefordert. Ein wahres Verhältniswahlrecht würde überdies ausschließen, daß die Willensäußerung selbst kleiner Volksteile vernachlässigt, sondern bedingen, daß auch sie entsprechend der Zahl der Gesinnungsgenossen berücksichtigt werde. Eine organisatorische Neuerung besteht in der Schaffung eines ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses des Nationalrates. Dieser Unterausschuß ist bekanntlich das rechtstechnische Mittel, das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten sozusagen zu parlamentarisieren. Denn da der Bundespräsident die Notverordnungen nur auf Grund eines Vorschlages der Bundesregierung erlassen darf, und die Bundesregierung ihren Vorschlag im Einvernehmen mit dem vom Hauptausschuß des Nationalrates einzusetzenden ständigen Unterausschuß erstatten muß, stellen sich diese sogenannten „Notverordnungen des Bundespräsidenten" als gemeinsame Willensäußerungen eines Rumpfparlamentes, ferner der Bundesregierung, endlich des Bundespräsidenten dar; und diese Mitwirkung eines parlamentarischen Organes gibt den Notverordnungen die Eigenschaft von Notgesetzen, bei denen sich der parlamentarische Anteil auf einen Ausschußbeschluß beschränkt und der fehlende Beschluß des Plenums des Nationalrates durch die Zustimmung des Bundespräsidenten suppliert wird. Das demokratische Bedürfnis, an der Notgesetzgebung in wesentlicher Weise auch ein parlamentarisches Organ zu beteiligen, war zwar der Anlaß für die Schaffung des bezeichneten Unterausschusses, es wurde ihm jedoch über diesen Anteil an der Notgesetzgebung hinaus überhaupt die Rolle eines Repräsentanten der intermittiernden Volksvertretung zuteil: „Wird der Nationalrat... vom Bundespräsidenten aufgelöst, so obliegt dem ständigen Unterausschuß die Mitwirkung an der Vollziehung, die nach diesem Gesetz sonst dem Nationalrat (Hauptausschuß) zusteht." Selbst die Auflösung von Seite des Bundespräsidenten kann demnach nicht alles parlamentarische Leben zum Erlöschen bringen, denn der Unterausschuß des Hauptausschusses ist es, der auch in diesem Falle die Kontinuität des parlamentarischen Betriebes aufrechterhält. Ihm steht in der Zeit zwischen der Auflösung von Seiten des Bundes-

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Präsidenten und dem Zusammentritt des neugewählten Nationalrates das abgeschwächte, von der gleichwertigen Mitbestimmung der Bundesregierung und des Bundespräsidenten abhängige Gesetzgebungsrecht und der unveränderte Anteil an der Vollziehung zu. Die Methode des Gesetzemachens, Sätze durch Klammern zu ersparen, hat allerdings die Unklarheit entstehen lassen, ob der ständige Unterausschuß in der angegebenen Zwischenzeit bloß den dem Hauptausschuß des Nationalrates oder auch den dem Plenum des Nationalrates zukommenden Anteil an der Vollziehung auszuüben habe. Man kann aber dem Unterausschuß schwerlich eine Kompetenzüberschreitung vorwerfen, wenn er beispielsweise ebenso das grundsätzlich dem Plenum zustehende Recht der Zustimmung zu Staatsverträgen wie etwa das dem Hauptausschuß übertragene Recht der Zustimmung zu gewissen Verordnungen in Anspruch nimmt. Dank seiner Zuständigkeit zur Mitwirkung an den gesetzändernden Verordnungen des Bundespräsidenten erinnert der Unterausschuß des Hauptausschusses an den außerordentlichen Kabinettsrat, von dessen Zustimmung die gesetzändernden Verordnungen der Bundesregierung zur Ergänzung des Genfer Sanierungsprogrammes abhängig gemacht waren. Dem ständigen Unterausschuß kommt mindestens dieselbe rechtliche und politische Bedeutung wie jenem außerordentlichen Kabinettsrat zu. Man darf übrigens annehmen, daß das Erfordernis der Mitwirkung eines parlamentarischen Faktors mehr noch als die anderen Kautelen den Gebrauch des Notverordnungsrechtes in die denkbar engsten Schranken bannen und seinen Mißbrauch auch unter geänderten Verhältnissen so gut wie ausschließen wird. Die letzte organisatorische Änderung betrifft die parlamentarische Immunität. Die Verfassungsnovelle hat gewiß nicht so an die Grundfesten des Staatsgebäudes gerührt, daß meine angesichts des Regierungsentwurfes ausgesprochene Besorgnis5 zutreffen würde, daß die parlamentarische Immunität ihren ursprünglichen Sinn - den Sinn des Schutzes des Parlamentariers vor einer übermächtigen Regierung - wiedererlangt hätte. Es bestanden somit keine Bedenken, dieses Vorrecht des Parlamentariers, das durch den komplementären Rechtsnachteil des vom Parlamentarier Verletzten oft so gehässig wirkt, wesentlich zu verengen. Die Verfassungsnovelle hat sich

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Vgl. meinen Artikel „Zur Verfassungsreform" in den Wiener Neuesten Nachrichten vom 20. Oktober 1929, S. 2, und vom 27. Oktober 1929, S. 2.

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zu einem solchen weitgehenden Schritte nicht verstanden, hat jedoch wenigstens dem Mißbrauch des Immunitätsrechtes gesteuert, insbesondere der Verschleppung der Auslieferungsanträge über den Verjährungstermin hinaus, wodurch unverantwortlicherweise ohne Rücksicht auf den konkreten Fall der Großteil der strafbehördlich verfolgten Abgeordneten der Strafverfolgung entzogen und die Verletzten um die Genugtuung gebracht wurden. Während nach der bisherigen Rechtslage der Nationalrat ausdrücklich seine Zustimmung zur Verfolgung geben mußte, wenn sie zulässig sein sollte, muß nach der neuen Rechtslage der Nationalrat binnen einer Verschweigungsfrist von sechs Wochen durch Beschluß das Verlangen stellen, daß die Verfolgung auf die Dauer der Gesetzgebungsperiode aufgeschoben werde, damit die Verfolgung gehemmt werde. Die angenehmere Rolle des Schweigens hat also die gegenteilige Rechtsfolge wie vordem - verhindert nicht mehr, sondern ermöglicht nach einer angemessenen Wartefrist die behördliche Verfolgung. Der Sinn des Auslieferungsantrages ist ins Gegenteil verkehrt: Schweigen bedeutet nunmehr auch in diesem Falle Zustimmung. Augenscheinlich, um eine der herrschend gewordenen Übung gerade entgegengesetzte Praxis zu verhüten, daß nämlich die behördliche Verfolgung durch Verschweigung in der Regel statthaft wird, verpflichtet die Verfassung den Präsidenten des Nationalrates, das Auslieferungsbegehren spätestens am vorletzten Tag der sechswöchigen Frist zur Abstimmung zu stellen. Die tagungsfreie Zeit des Nationalrates wird weder in die sechswöchige Frist zur Behandlung des Auslieferungsbegehrens noch in die Verjährungszeit eingerechnet. * * *

Die vorstehend dargestellte Schmälerung des Nationalrates kommt in der Hauptsache dem Bundespräsidenten zugute. Die prekäre Rechtsstellung des Bundespräsidenten, die dadurch noch problematischer erschien, als sie ohnehin schon ist, daß selbst die von der Verfassung eingeräumten Wirkungsmöglichkeiten nicht voll ausgeschöpft wurden, war der erste Anstoß der Verfassungsre/orm, und die Stärkung seiner Rechtsstellung wurde schließlich auch ihre auffälligste Neuerung. Diese Neuerung als „Stärkung der Staatsautorität" auszulegen, wie es die Regierungsvorlage versucht hat, beruht indes auf der irrigen Annahme, daß das sogenannte Staatsoberhaupt in höherem Maße „Repräsentant der Staatsgewalt" sei als eine parlamentarische Körperschaft, daß die Regierungstätigkeiten eine reinere, echtere Äußerung des Staatswillens seien als die Gesetzgebung.

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Die Volkswahl des Bundespräsidenten, die im Regierungsentwurfe geradezu zu einem bloßen Wahlvorschlag des Volkes an die um die Landesregierungsmitglieder erweiterte Bundesversammlung verzerrt war, wurde bekanntlich erst in der Verfassungsnovelle folgerichtig und großzügig verwirklicht - womit übrigens die oft wiederholte Behauptung, daß das Verfassungskompromiß die Gedanken des Entwurfes verwässert habe, ausreichend beleuchtet ist. Das Volk wählt den Bundespräsidenten unmittelbar in ein bis zwei Wahlgängen. Führt der erste Wahlgang, in dem die absolute Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen entscheidet, zu keinem Ergebnis, so findet ein zweiter Wahlgang statt, in den überhaupt nur noch zwei Wahlwerber eintreten können, jene, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben, oder Wahlwerber, die an ihrer Stelle von den Wählergruppen aufgestellt wurden, denen die Vorschläge für den ersten Wahlgang entstammen. In den ersten Wahlgang werden wohl immer nur Parteimänner eintreten, weil die Parteien zunächst wohl nur Vertrauensmänner vorschlagen werden. Aber die Möglichkeit, daß die beiden stärksten Parteien im zweiten Wahlgang ihre Kandidaten austauschen, bietet auch für überparteiliche Kandidaten Aussichten, da voraussichtlich die beiden stärksten Parteien, die im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit auf ihre Kandidaten zu vereinigen vermochten, versuchen werden, durch Aufstellung von Kandidaten, die auch außerhalb des eigenen Parteilagers genehm sind, die Stimmen der Angehörigen der kleineren Parteien und der Parteilosen, die durch die Wahlpflicht zur Stimmenabgabe verpflichtet sind, an sich zu ziehen. Zum Unterschied vom Verfassungsentwurfe, der die Wahl eines chirstlichsozialen Parteimannes so gut wie sichergestellt hätte, liegt nach der Verfassungsnovelle die Wahl eines Vertrauensmannes der parlamentarischen Minderheit oder wenigstens einer neutralen, von der Parlamentsmehrheit in jeder Hinsicht unabhängigen Persönlichkeit durchaus nicht außer dem Bereich des Möglichen. Durch diese Möglichkeit erlangt die Stärkung der Rechtsstellung des Bundespräsidenten, insbesondere seine Verselbständigung gegenüber dem Nationalrat, erst ihre hervorragende praktische Bedeutung. Denn wenngleich dem Bundespräsidenten trotz der wesentlichen Erweiterung seines Wirkungskreises durch das regelmäßige Erfordernis des Vorschlages und der Gegenzeichnung seiner Akte von Seite der Bundesregierung und mittelbar durch deren Abhängigkeit vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit volle Bewegungsfreiheit mangelt, so eröffnet doch die angedeutete Möglichkeit der Wahl eines politisch von der Parlamentsmehrheit abweichend orientierten Bundespräsidenten die Aussicht auf ein Gegen-

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spiel des Präsidenten gegen die Politik der Parlamentsmehrheit. Wer weiß, ob nicht die Aussicht auf einen Bundespräsidenten, der nicht als Vertrauensmann der Parlamentsmehrheit gelten kann, für die Mehrheitsparteien, die zum Teil unfreiwillige Gefangene ihres alten Vorschlages auf Parlamentswahl des Bundespräsidenten wurden, bestimmend war, auf die im Regierungsentwurfe vorgesehenen diktatorischen Kompetenzen des Bundespräsidenten zu verzichten, da sie ja auch auf die in der Regierungsvorlage vorgesehenen rechtlichen Kautelen für eine bürgerliche, im besonderen christlichsoziale Kandidatur verzichten mußten! Keine Partei gibt sich gern einen Herrn mit diktatorischen Kompetenzen, wenn sie nicht dessen sicher ist, gegen wen sich diese richten werden. Durch die Übertragung der Präsidentenwahl auf das Bundesvolk ist die Bundesversammlung zu einem rein dekorativen Organ geworden, denn sie wird tatsächlich nur noch alle sechs Jahre zur Entgegennahme der Angelobung der Bundespräsidenten zusammentreten müssen, da ihre sonstigen Aufgaben - Kriegserklärung, Anklage und Auslieferung des Bundespräsidenten - erfreulicherweise kaum aktuell zu werden versprechen. Die Stellvertretung des Bundespräsidenten soll in Hinkunft nicht unter allen Umständen dem Bundeskanzler und bei dessen Verhinderung dem Vizekanzler zukommen, sondern den Bedürfnissen des konkreten Falles angepaßt werden. „Dauert die Verhinderung voraussichtlich länger als zwanzig Tage, so ist die Vertretung bundesgesetzlich zu regeln." Es sollte und konnte mit dieser sanktionslosen Anordnung dem Gesetzgeber keine Vorschrift gemacht, sondern nur die Ermächtigung erteilt werden, bei voraussichtlich längerer Verhinderung des Bundespräsidenten seine Stellvertretung für den konkreten Verhinderungsfall abweichend und von der verfassungsgesetzlichen Vertretungsrege/ durch einfaches Gesetz zu regeln. Kommt es überhaupt nicht oder nicht innerhalb des von der Verfassung als Regel der Stellvertretung durch den Bundeskanzler in Aussicht genommenen 20tägigen Zeitraumes zu einer s/?ez/tf/gesetzlichen Vorsorge für die Stellvertretung, dann obliegt diese gemäß der generellen verfassungsgesetzlichen Kompetenznorm dem Bundeskanzler. Der Amtsverlust des Bundespräsidenten kann in Hinkunft auf drei Wegen erfolgen: Außer durch Amtsverzicht und durch ein verurteilendes Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes auch durch Absetzung im Wege einer Volksabstimmung. Dieses Mittel politischer Verantwortlichkeit des Staats5 A. J. Merkl

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Oberhauptes ist das Seitenstück seiner rechtlichen Verantwortlichkeit, die vom Verfassungsgerichtshof wahrgenommen wird, und ist als Korollar der beträchtlichen Machtsteigerung des Bundespräsidenten in die Hand des Wahlorganes, des Bundesvolkes, gelegt, das diesen contrarius actus der Wahl zwar nur auf Antrag der Bundesversammlung, sonst aber zum Unterschied von dem durch eine Verfassungswidrigkeit bedingten, auf Amtsverlust lautenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nach freiem Ermessen, und zwar wie in allen Fällen der Volksabstimmung, mit unbedingter Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen, setzen kann. Die Ablehnung der von der Bundesversammlung beantragten Volksabstimmung gilt als neueWahl und hat die Auflösung des Nationalrates zur Folge. Der Wirkungskreis des Bundespräsidenten wird außer um die schon besprochenen Einwirkungsmöglichkeiten gegenüber dem Nationalrat noch um die Kompetenz zur Regierungsbildung, ferner um eine militärische und eine gewissermaßen diktatorische Kompetenz erweitert. Der Übergang von der Wahl zur Ernennung der Regierung und ihrer einzelnen Mitglieder bedeutet seiner Idee nach eine teilweise Rückbildung des von der Bundesverfassung verkündeten Programmes der „Demokratisierung der Verwaltung", für die sie selbst (Art. 19 B-VG) durch die wahlweise Bestellung aller Spitzenorgane der Verwaltung, der von ihr sogenannten Volksbeauftragten, den Grund gelegt hatte. Freilich tut die Ernennung der Bundesminister der Herrschaft der Demokratie im allgemeinen und des parlamentarischen Systems im besonderen keinen Eintrag, weil der Bundespräsident durch das Erfordernis des Vertrauens der Parlamentsmehrheit für die Regierung in der Freiheit der Personenauswahl und noch mehr der Auswahl der zur Regierung berufenen Partei beschränkt ist. Diese Schranke ist für den Bundespräsidenten zum Unterschied von den Staatsoberhäuptern anderer parlamentarischer Staaten auffallend eng, weil die Bundesverfassung (Art. 74 B-VG) das Mißtrauensvotum zu einer unbedingt tödlichen Waffe des Nationalrates gegen die Regierung und deren einzelne Mitglieder gestaltet hat, wodurch in Österreich jede Minderheitsregierung ausgeschlossen ist. Die Neuerung in der Berufungsweise der Bundesminister bringt einfach das Erfordernis mit sich, daß die Ministerkandidaten sowohl dem Bundespräsidenten als auch der Mehrheit des Nationalrates genehm sein müssen, was im Interesse einer strengeren Siebung der Ministerkandidaten in der Regel von Vorteil sein mag, aber leicht zu Schwierigkeiten führen kann.

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Bei der Ernennung des Bundeskanzlers ist der Bundespräsident formell gänzlich ungebunden, denn der neuernannte Bundeskanzler ist es, der die Gegenzeichnung seiner eigenen Ernennungsurkunde vornimmt. Die Ernennung der übrigen Regierungsmitglieder bedarf des Vorschlages und der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers, der dank dieser entscheidenden Mitbestimmung über Beginn und Ende der Ministerfunktion seiner Ministerkollegen diesen gegenüber auch eine rechtlich überragende Stellung einnimmt, ohne indes nach Art des deutschen Reichskanzlers ausdrücklich zu verbindlichen Eingriffen in den Wirkungskreis der Ressortminister legitimiert zu sein. Mehr noch als das Ernennungsrecht stärkt die unbeschränkte Freiheit der Entlassung der Regierung den Einfluß des Bundespräsidenten auf die Zusammensetzung der Regierung und auf deren Geschäftsführung. Zur Entlassung des Bundeskanzlers und der ganzen Bundesregierung ist ein Vorschlag und eine Gegenzeichnung überhaupt nicht erforderlich; die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die in diesen Bestimmungen zum Ausdruck kommende Verfügungsfreiheit des Bundespräsidenten über die Zusammensetzung der Regierung nötigt diese offenbar, ihre Politik nicht bloß mit den Wünschen der Parlamentsmehrheit, sondern auch des Bundespräsidenten in Einklang zu halten, und führt einen ständigen Krisenzustand herbei, wenn Bundespräsident und Parlamentsmehrheit entgegengesetzte politische Richtungen repräsentieren. Denn macht es die Regierung dem Bundespräsidenten recht, so droht ihr das Mißtrauensvotum des Nationalrates, das den Bundespräsidenten unbedingt zur Entlassung verpflichtet, fungiert aber die Regierung als Willensvollstreckerin des Nationalrates, so kann sie der Bundespräsident aus eigener Initiative entlassen. Vielleicht wurde diese Labilität der Regierung bei Konstruktion ihrer zweiseitigen Abhängigkeit (gegenüber Nationalrat und Bundespräsident) nicht voll bedacht. Einen Ausweg aus einem solchen Konflikt eröffnet, wenn die einander widerstreitenden obersten Staatsorgane eine zwischen ihnen stehende Regierung nicht dulden, nur die Auflösung des Nationalrates, die der Bundespräsident auch mit Hilfe einer ihm ergebenen Minderheitsregierung herbeiführen kann. In der Zeit bis zum Zusammentreten des neugewählten Nationalrates genügt für eine Regierung begreiflicherweise das Vertrauen des Bundespräsidenten, ist aber der Nationalrat wieder versammelt, so ist für die Regierung Existenzbedingung, sich außer mit dem Bundespräsidenten auch mit der Mehrheit des Nationalrates auf guten Fuß zu stellen.

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Die Tatsache, daß die Verfassungsnovelle den Bundespräsidenten gerade bei den wichtigsten Akten der inneren Politik, als die wohl die Ernennung und Entlassung einer Regierung gelten dürfen, von jedem mitwirkenden Faktor emanzipiert, ist die gerade Umkehrung des bisherigen Rechtszustandes, wonach der Bundespräsident von der Regierungsbildung gänzlich ausgeschaltet war und im übrigen seine sämtlichen Kompetenzen nur auf Grund eines Vorschlages und der Gegenzeichnung von Regierungsmitgliedern ausüben konnte. Nicht so sehr die Kompetenzarmut als vielmehr der Mangel jedweder Initiative war ja der Grund der politischen Schwäche des Bundespräsidenten. Mit dem Einfluß des Bundespräsidenten auf die Regierungsbildung hängt auch die neue Kompetenz des Bundespräsidenten zusammen, die sachliche Leitung bestimmter, zum Wirkungsbereich des Bundeskanzleramtes gehörender Angelegenheiten unbeschadet des Fortbestandes ihrer Zugehörigkeit zum Bundeskanzleramt eigenen Bundesministern zu übertragen. Mit dieser Ermächtigung wurde erfreulicherweise die bisherige verfassungswidrige Praxis legalisiert, die darin bestand, daß innerhalb eines Ressorts Agenden auf mehrere Regierungsmitglieder verteilt worden sind. Nach Belieben des Bundespräsidenten kann sonach das Bundeskanzleramt - freilich im gedanklichen Widerspruch zum bureaukratischen Prinzip - außer der Leitung des Bundeskanzlers auch der Leitung eines oder mehrerer Ressortminister unterstellt werden, womit insbesondere eine rechtliche Handhabe geboten ist, für den Vizekanzler ein Ressort bereitzustellen. Wenn die Verfassungsnovelle auch den Oberbefehl über das Bundesheer vom Nationalrat auf den Bundespräsidenten überträgt, so hat diese Kompetenzerweiterung mehr dekorativen Charakter als praktische Bedeutung, denn der Oberbefehl schließt weder die „Verfügung" über das Bundesheer ein, noch deckt er sich mit der „Befehlsgewalt". Soweit nicht nach dem Wehrgesetz der Bundespräsident über das Heer verfügt, steht die ,, Verfügung" dem zuständigen Bundesminister innerhalb der ihm von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung zu; der zuständige Bundesminister, also der Heeresminister, übt auch die,,Befehlsgewalt " über das Bundesheer aus. Der sogenannte Oberbefehl des Bundespräsidenten entpuppt sich also als eine sogenannte nuda proprietas; unmittelbar anzuschaffen hat der Heeresminister, auf dessen Kommandoführung freilich der Bundespräsident durch sein Ernennungs- und Entlassungsrecht Einfluß nehmen kann.

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Die diktatorische Stellung, die der Regierungsentwurf in ausgiebigster Weise dem Bundespräsidenten zugedacht hatte, ist in der Verfassungsnovelle kaum wiederzuerkennen. Das konkurrierende Gesetzgebungsrecht, das in der Form von Verordnungen des Bundespräsidenten in Erscheinung getreten wäre, wurde im Verfassungskompromisse auf ein echtes Notverordnungsrecht zurückgeführt, die beabsichtigte Handhabe zur Suspension von Grundrechten ist überhaupt gefallen. Die Verordnungen des Bundespräsidenten dürfen nicht nur bloß zu einer Zeit erlassen werden, wo der Nationalrat nicht versammelt ist, sondern dürfen auch nur Maßnahmen betreffen, die zu einer Zeit notwendig werden, wo der Nationalrat nicht versammelt ist, dürfen also nur das fehlende, nicht das nach Meinung des Bundespräsidenten arbeitsunfähige Parlament supplieren. Es wäre ein aufliegender Verfassungsbruch, wenn nach dem Muster der Praxis der kaiserlichen Verordnungen nach § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung das tagende Parlament vertagt oder aufgelöst würde, um derart für Artikel-18-Verordnungen Raum zu schaffen - nur mit dem Unterschiede, daß die auf diesem Umweg erlassenen Verordnungen im Verfassungsgerichtshof ihren Richter fänden, wenn sie nicht früher auf parlamentarischem Wege verschwänden. In der Hast der Kodifikation wurde allerdings übersehen, die Frage gesetzgeberisch zu beantworten, die hinsichtlich der kaiserlichen Verordnungen eine lange ungelöste Kontroverse der Theorie und Praxis heraufbeschworen hatte-ob nämlich die Verordnungen des Bundespräsidenten vom Standpunkte des ordentlichen Richters als Gesetze oder Verordnungen zu behandeln seien. Mir scheint es durchaus zulässig, daß die Gerichte derartige Verordnungen unter dem Titel von „Verordnungen" der Überprüfung von Seite des Verfassungsgerichtshofes zuführen. Ohne der notwendigen Einzelkritik dieser interessantesten Neuerung der Verfassungsnovelle vorzugreifen, darf wohl der außerordentliche Abstand festgestellt werden, der gerade in diesem Punkte zwischen dem Regierungsentwurfe und dem Verfassungskompromisse klafft. War jener auf ein Verordnungsrecht des Bundespräsidenten ausgegangen, das bei weitem das Notverordnungsrecht des Kaisers übertrumpft hätte, so hat dieses dem Bundespräsidenten ein Notverordnungsrecht eingeräumt, das dank seinen prozessualen und inhaltlichen Beschränkungen wesentlich selbst hinter der analogen, im Art. 48 der Weimarer Verfassung begründeten Kompetenz des Reichspräsidenten zurückbleibt, dank der an anderer Stelle beleuchteten parlamentarischen Mitwirkung überdies geradezu seinen diktatorischen Wesenszug einbüßt. * * *

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Im Systeme der Bundesverfassung, die den Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung nicht nur in geradezu klassischer Weise formuliert (Art. 18 B-VG), sondern ihn auch in gerdezu völliger Reinheit durchgeführt hatte, erscheint nunmehr das selbständige Verordnungsrecht der Polizeibehörden, dessen in diesem Zusammenhang zu gedenken ist, viel eher denn das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten als systemwidrig. In ihrer endgültigen, im Vergleich mit dem Regierungsentwurf nicht wesentlich abgeschwächten Fassung geht diese Verordnungsermächtigung bekanntlich dahin, daß die mit der Führung der Angelegenheiten der allgemeinen Sicherheitspolizei betrauten Behörden zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums innerhalb ihres Wirkungskreises die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung erklären können. Mag ein solches Polizeiverordnungsrecht in anderen, selbst in demokratischen und republikanischen Rechtsordnungen als Selbstverständlichkeit gelten - freilich regelmäßig nicht kraft gesetzlicher Anordnung, sondern meist infolge einer juristisch anfechtbaren Auslegung und Handhabung vorkonstitutioneller Rechtsquellen - so ist die gleiche Einrichtung in unserer Rechtsordnung zweifellos ein Fremdkörper. Denn es ist ein Widerspruch, daß einerseits kraft des allgemeinen Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung (Art. 18 B-VG) jedwede, den Staatsbürger noch so begünstigende Verwaltungstätigkeit wirtschaftlicher oder kultureller Natur von formellgesetzlicher Ermächtigung abhängig ist, andererseits Polizeiverordnungen, die in Freiheit und Eigentum eingreifen, ohne formellgesetzliche Ermächtigung erlassen werden können. Das angebliche selbständige Verordnungsrecht der Gemeinden, das gelegentlich zur Verteidigung des neuestens allen Polizeibehörden eingeräumten selbständigen Verordnungsrechtes ins Treffen geführt wurde, besteht in Wirklichkeit spätestens seit dem Inkrafttreten des Art. 18 B-VG nicht mehr zurecht. Die formell-prozessualen Schranken, die dem Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten gezogen, und die Sicherungen, die gegen dessen Mißbrauch aufgerichtet sind, fehlen, abgesehen von der gerichtlichen Verordnungsprüfung, im Falle des Polizeiverordnungsrechtes gänzlich. Aber auch die ausdrückliche inhaltliche Schranke, daß solche Anordnungen der Polizeibehörden nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschriften verstoßen dürfen, ist höchst problematisch. Denn ihrer Natur gemäß stellen Polizeiverordnungen ein Verhalten, das der

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rechtsstaatlichen Regel entspricht „Alles was nicht gesetzlich verboten ist, ist erlaubt", unter Verbot und Strafe, und greifen, auch wenn sie nicht gegen ein einzelnes Gesetz verstoßen, doch in die bestehende Gesetzesrechtslage ein, indem von Gesetzeswegen erlaubtes Handeln oder Unterlassen im Verordnungswege verboten wird. Den verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheitsrechten der Untertanen tritt ein ebenso verfassungsmäßig gewährtes Recht der Polizeibehörden gegenüber, in diese Freiheitsrechte ohne besondere gesetzliche Grundlagen einzugreifen. Überdies haben die gesetzvertretenden Polizeiverordnungen auf Grund des Art. II, § 4 der Novelle zum Verfassungsübergangsgesetz paradoxerweise eine höhere rechtliche Kraft als die gesetzändernden Verordnungen des Bundespräsidenten. Denn während der Nationalrat mit unmittelbar verpflichtender Kraft das Verlangen stellen kann, daß die Bundesregierung eine Verordnung des Bundespräsidenten sofort außer Kraft setze, steht ihm zur Beseitigung der gesetzvertretenden Verordnung der nächstbesten Polizeibehörde nur die Wahl offen zwischen dem einem solchen Zweck doch schwerlich angepaßten Weg eines derogatorischen Gesetzes oder einer Resolution an die Adresse der Regierung, die Aufhebung der unerwünschten Polizeiverordnung zu veranlassen. In diesem Falle hängt es vom guten Willen der Regierung ab, ob sie dieser bekanntlich nicht rechtsverbindlichen Willensäußerung des Nationalrates Folge leistet, im übrigen gibt das Verfassungsgesetz den immerhin auch sehr dehnbaren Auftrag, gesetzvertretende Polizeiverordnungen aufzuheben, „sobald der Grund zu ihrer Erlassung weggefallen ist". Die Zustimmung zu einer derartigen partiellen Rückentwicklung des Rechtsstaates zum Polizeistaat - was ideologisch genommen der Sinn der in Rede stehenden Verordnungsermächtigung ist - mußte eine wirklich demokratische Partei ein größeres Überzeugungsopfer als alle anderen Neuerungen des Reformgesetzes kosten. Daß als einzige Gegenkonzession gegen das Zugeständnis einer solchen Ermächtigung die fragliche Bestimmung aus dem Bundes-Verfassungsgesetz in das Übergangsgesetz verlegt worden ist, schwächt das Zugeständnis nur in seiner optischen Wirkung, nicht aber in seiner grundsätzlichen Bedeutung ab. Obendrein ist die Bestimmung nun auch örtlich nicht am Platze, denn sie wird durch die Terminierung „bis zur Erlassung bundesgesetzlicher Bestimmungen" keineswegs eine „Übergangsbestimmung". Der gesamte Verfassungsinhalt besteht ja nur unvorgreiflich späterer abweichender gesetzlicher

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Anordnungen,wobei allerdings in unserem Falle bereits einem einfachen Bundesgesetze derogatori sehe Kraft zukommt. * * *

Die geplante Neuordnung der Länder ist nur zum geringeren Teile Wirklichkeit geworden, so daß man zu diesem Programmpunkte des Reformprogrammes zusammenfassend feststellen kann: Wien ist ein Land unter den anderen Ländern geblieben, nur freilich ein Land etwas abweichenden, und teilweise geschmälerten Rechtes geworden. Allgemein wird die Verfassungsautonomie der Länder insbesondere in folgenden Richtungen beschränkt: die Wahlrechtsbeschränkungen, die für den Nationalrat eingeführt wurden, gelten auch für die Landtage. Die für die Nationalratswahlen vorgeschriebenen ständigen Wählerverzeichnisse sind auch den Landtagswahlen zugrunde zu legen. Für die Mitgliederzahlen der Landtage und des Wiener Gemeinderates werden Höchstziffern aufgestellt. Hingegen wird die Normativbestimmung des Art. 119 B-VG, daß die Wahlordnungen für die Gemeindevertretungen die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts nicht enger ziehen dürfen als sie in der Wahlordnung zum Landtag gezogen sind, durch die Ermächtigung zu einer Wahlrechtsbeschränkung, nämlich zu einer Seßhaftigkeitsklausel für das Gemeindewahlrecht, abgeschwächt. Aus den sonstigen allgemein gültigen Bestimmungen über die Vollziehung in den Ländern verdienen folgende Maßnahmen hervorgehoben zu werden: Der Kreis der Angelegenheiten, für die in den Ländern bundeseigene Organe eingerichtet werden können, wird im Einklang mit der Kompetenzvermehrung des Bundes beträchtlich erweitert. Die Rechtsstellung der bundeseigenen Behörden, insbesondere der Bundespolizeibehörden, in den Ländern wird in der Weise geklärt, daß sie in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung dem Landeshauptmann unterstehen und an dessen Weisungen gebunden sind. In den Fällen, in denen die Bundespolizeibehörden in Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches der Länder Vollziehungsakte zu besorgen haben - z.B. bei der nunmehr (Art. 15 Abs. 3) verfassungsmäßig gewährleisteten Mitwirkung der Bundespolizeibehörden bei der Vollziehung der Theater- und Kinogesetze der Länder steht die Befugnis zu Weisungen an diese Bundesbehörden ebenfalls dem Landeshauptmann zu. Eine einschlägige Bestimmung des Übergangsgeset-

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zes (§ 19 Abs. 2) stellt denWaffengebrauch der Bundessicherheitswache, der bisher unglaublicherweise einer gesetzlichen Grundlage ermangelt hat, auf gesetzlichen Boden, indem der Sicherheitswache der Waffengebrauch in dem gleichen Umfang eingeräumt wird, wie er den Organen der Bundesgendarmerie seit jeher von Gesetzes wegen zusteht. Allgemeingültig gefaßt, von praktischer Bedeutung aber doch nur für das Land Wien, ist die Anordnung, daß im örtlichen Wirkungsbereich einer Bundespolizeibehörde, der eine Bundessicherheitswache beigegeben ist, von einer anderen Gebietskörperschaft ein Wachkörper nicht aufgestellt und unterhalten werden darf. Ein schier uferloses und kaum ganz ausgedachtes Blankett beinhaltet die Kompetenznorm, daß in dem Falle, als sich in einzelnen Gemeinden die Notwendigkeit ergibt, wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung besondere Maßnahmen zu treffen, der Bundesminister mit diesen Maßnahmen für die dauernde Gefährdung eigene Bundesorgane betrauen kann. Die vielgenannten Sonderbestimmungen für Wien betreffen in der Hauptsache den Instanzenzug, und zwar sowohl in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, als auch in Angelegenheiten der autonomen Landes Verwaltung. Die Neuerung auf dem Gebiete der mittelbaren Bundesverwaltung besteht darin, daß die städtischen Behörden jedenfalls nur eine einzige, und zwar die erste Instanz, regelmäßig aber nicht letzte Instanz, sondern nur eine Durchgangsstelle zur Ministerialinstanz darstellen. Der Magistrat und die magistratischen Bezirksämter haben als eine einzige Instanz namens des Bürgermeisters als Landeshauptmann zu entscheiden. Der Instanzenzug geht auch in den Fällen, wo er sonst bundesgesetzlich abgekürzt ist, an den zuständigen Bundesminister - ausgenommen den Fall, daß allgemein ein Rechtsmittel gegen den Bescheid der Bezirksinstanz ausgeschlossen ist. Diese Neuordnung des Instanzenzuges findet jedoch insoweit keine Anwendung, als Bundesbehörden, z.B. Bundespolizeibehörden, in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung mit der Vollziehung betraut sind. Die ratio der Zusammenlegung der Bezirks- und der Landesinstanz in einer Instanz und der Erstreckung des Instanzenzuges bis zum zuständigen Bundesministerium würde übrigens kaum weniger als für Wien auch für die anderen Länder zutreffen, denn das Weisungsrecht des Landeshauptmannes an die Bezirkshauptmänner schweißt Landesund Bezirksinstanz doch kaum anders zu einer Willenseinheit zusammen, als eine solche im Organapparat des Landes und der Gemeinde Wien anzutreffen ist. Für den Instanzenzug in Angelegenheiten der autonomen Verwaltung Wiens bringt die Verfassungsnovelle eine partielle Normativbestimmung,

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und zwar des Inhaltes, daß in den Angelegenheiten des Bauwesens und des Abgabewesens der Instanzenzug in besondere Kollegialbehörden münden muß, deren Zusammensetzung und Bestellung landesgesetzlich.zu regeln ist. * * *

Der komplizierteste und problematischeste Teil der Verfassungsnovelle sind die Neuerungen in bezug auf die Kompetenzverteilimg zwischen Bund und Ländern. Von einer wahren Verfassungsreform hätte der Jurist vor allem eine großzügige Zusammenlegung der überaus kasuistischen Kompetenzfälle und darüberhinaus eine Vereinfachung selbst der bisher schon überreichlichen Kompetenztypen erwarten dürfen. 6 Doch nichts davon - im Gegenteil: eine Steigerung der Kasuistik, in dem die neu in Streit gestellten Kompetenzen abermals zerrissen wurden, und eine völlig irrationelle Mehrung der schon bestehenden großen Kompetenztypen um eine Mehrzahl neuer Kompetenztypen, an denen sich nur seltene spezielle Fälle orientieren werden. Kurz, das strikte Gegenteil einer gesetzgeberischen Rationalisierung, die sich in der Kompetenzordnung als großzügige Kommassation der Kompetenzen - einerseits zugunsten des Bundes, andererseits zugunsten der Länder auswirken müßte! Ohne auf die Einzelheiten der neuen Kompetenzordnung einzugehen, die wohl nur für den theoretischen und praktischen Verfassungs')\\x\sitv[ von Interesse sind, können etwa folgende Neuerungen von allgemeinem Interesse festgestellt werden. Eine Reihe von Angelegenheiten, an denen bisher die Länder, sei es nun durch Gesetzgebung oder wenigstens durch Vollziehung beteiligt waren, fällt nunmehr zur Gänze dem Bunde zu, und zwar hauptsächlich Angelegenheiten polizeilicher Natur; im einzelnen sind diese für die Gesetzgebung und Vollziehung des Bundes neu in Anspruch genommenen Angelegenheiten die Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft gegen verbrecherische, ver-

6 Diese redaktionstechnischen Mängel der bisherigen Verfassung waren allerdings nicht professoralen Einfallen zuzuschreiben, wie ohne den Schatten eines Beweises ein „Verwaltungsfachmann" unter dem Schutze der Anonymität in der Tagespresse (Wiener Neueste Nachrichten) behauptet hat» sondern dem harten Kampfe zwischen den zentral istischen und föderalistischen Interessenten, deren schwer errungenes Kompromiß weniger darauf Bedacht nahm, daß Zusammengehöriges nicht zerrissen werde, sondern daß womöglich Bund und Länder an den umstrittenen Staatsaufgaben nebeneinander einen Anteil gewännen.

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wahrloste oder sonst gefährliche Personen, Enteignung zu Zwecken der Assanierung, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, ausgenommen die örtliche Sicherheitspolizei, Munitions- und Sprengmittelwesen, Schießwesen, Einrichtung beruflicher Vertretungen, soweit sie sich auf das ganze Bundesgebiet erstrecken, mit Ausnahme solcher auf landund forstwirtschaftlichem Gebiet, Regelung der Errichtung und der Organisierung sonstiger Wachkörper (außer der bisher schon ausschließlich dem Bunde vorbehaltenen Bundespolizei und Bundesgendarmerie), einschließlich ihrer Bewaffnung und des Rechtes zum Waffengebrauch. Die Reihe der bisher schon zurecht bestehenden, zahlreiche Fälle umfassenden Kompetenztypen der Artikel 10,11,12,15 und 97 Abs. 2 B-VG wird von der zweiten Bundes-Verfassungsnovelle namentlich um folgende Kompetenztypen ergänzt: Art. 10 Abs. 2 B-VG sieht für gewisse Fälle Durchführungsverordnungen vor, die zwischen Bundesregierung und Landesregierung zu paktieren sind. - Art. 11 Abs. 2 führt für das Verwaltungsverfahren, die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes, des Verwaltungsstrafverfahrens und der Verwaltungsvollstreckung, soweit sich diese Rechtserscheinungen auf Angelegenheiten der Landesgesetzgebung beziehen, den Typus bundesgesetzliche Bedarfsgesetzgebung ein. - Art. 15 Abs. 2 schafft eine mit Weisungsrecht verbundene Bundesaufsicht in Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei der Gemeinden, also ausschließlicher Landeskompetenz. - Art. 15 Abs. 3 begründet einen Anspruch auf Mitwirkung von Bundesverwaltungsorganen, und zwar Bundespolizeibehörden, an der Vollziehung der Bundesgesetze in Angelegenheiten des Theater- und Kinowesens, der öffentlichen Schaustellungen, Darbietungen und Belustigungen. - Nach Art. 15 Abs. 5 fällt die Vollziehung in Bausachen bundeseigener Gebäude, also die Vollziehung gewisser Landesgesetze, in die mittelbare Bundesverwaltung, mit der Maßgabe, daß der Instanzenzug bis zum zuständigen Bundesminister geht. Art. 15 Abs. 4 sieht übereinstimmende Gesetze des Bundes und des betreffenden Landes vor, inwieweit im örtlichen Wirkungsbereich von Bundespolizeibehörden diesen Behörden auf dem Gebiet der Straßenpolizei auf anderen als Bundesstraßen die Vollziehung übertragen wird also ein neuer Fall von konkurrierender Gesetzgebung. - Der praktisch bedeutsamste Fall der konkurrierenden Gesetzgebung in Angelegenheiten des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens gemäß § 42 des Übergangsgesetzes bleibt uns mit gewissen Modifikationen zum Überfluß

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erhalten, da eine definitive actio finium regundorum zwischen Bund und Ländern auf diesem kulturpolitisch umstrittensten Gebiete nicht gelungen ist. - Die Einführung von Verwaltungsstrafsenaten für die Rechtsprechung oberster Instanz im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden wegen Verwaltungsübertretungen wird endlich ebenfalls mit dem Prätext einer Kompetenzbestimmung im Rahmen des Art. 11 B-VG in Aussicht genommen, jedoch von einem Durchführungsgesetz des Bundes abhängig gemacht. Das einzig Erfreuliche an den die Zuständigkeitsfrage betreffenden Reformen ist abgesehen von der vorderhand uneingelösten Promesse ihr grundsätzlich unitarischer Zug, der zugleich die ,,Anschlußfähigkeit Österreichs zu erhöhen geeignet ist4'.7 Die Jurisprudenz hat an der nun erreichten Etappe der Rechtsenwicklung an die Adresse der Politik den dringlichsten Wunsch, sich des Zieles aller Dynamik der Rechtserzeugung zu besinnen: es ist dies die Statik des erzeugten Rechtes. Vollends die Verfassung eines Staates kommt um ihren tiefsten Sinn als Fundament der Rechtsordnung, wenn die Verfassungsreform in Permanenz erklärt wird. 8

7

Vgl. meinen Artikel in der „Deutschen Einheit" vom 31. Dezember 1929 ,,Verfassungsreform und Anschlußgedanke", S. 2. 8 Prof. Hans Kelsen gedenkt, in diesen Blättern noch Einzelfragen der Verfassungsreform zu behandeln, die im vorstehenden Aufsatz ausgeschaltet wurden.

Die Neuordnung des Verwaltungsgerichtshofes Zum Unterschied von der „Reform" des Verfassungsgerichtshofes, die zum beträchtlichen Teil nur Vorwand für Absichten war, die mit einer wahren Reform nichts zu tun hatten, sondern ihr wirkliches Ziel durch die Köpfung des ganzen Gerichtshofes deutlich genug bekundeten, hatte die Reform des Verwaltungsgerichtshofes in allem Wichtigen sachliche Ziele und verfolgte sie auf sachlichen Wegen. Dafür legt das Gesetz über die Einrichtung und das Verfahren des Verwaltungsgerichtshofes vom 16. Mai 1930, BGBl. Nr. 153 - in der Folge zitiert als VwGG - , das am 1. Juni 1930 in Kraft getreten ist, in seiner Gänze Zeugnis ab und steht somit in erfreulichem Gegensatz zum parallelen Durchführungsgesetz über den Verfassungsgerichtshof. Das Verwaltungsgerichtshofgesetz vom 22. Oktober 1875, RGBl. Nr. 86 aus 1876, das bis Ende Mai 1930 die Prozeßordnung des Verwaltungsgerichtshofes dargestellt hat, war weniger prozeßtechnisch veraltet, als für den um neuartige Kompetenzen erweiterten Wirkungskreis des Gerichtshofes unzulänglich geworden. Die Verfassungsnovellen vom 30. Juli 1925, BGBl. Nr. 268, und vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 392, haben dem Gerichtshofe, abgesehen von der Erstreckung der Beschwerdelegitimation auf den zuständigen Bundesminister in den durch die Generalklausel des Art. 129 B-VG gedeckten Angelegenheiten der Art. 11 und 12 B-VG eine neue Zuständigkeit in folgenden Fällen gebracht: Überprüfung von Verwaltungsstraferkenntnissen in bezug auf die Höhe der Strafe (Art. 130 Abs. 2 B-VG), Entscheidung über Klagen, womit gegen den Bund, die Länder, die Bezirke oder die Gemeinden vermögensrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden, sofern diese Ansprüche weder im ordentlichen Rechtsweg noch vor dem Verfassungsgerichtshof auszutragen sind (Art. 131 Abs. 1 B-VG), endlich Entscheidung von Streitfällen, die sich aus dem öffentlich-rechtlichen

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Dienstverhältnis der Angestellten des Bundes, der Länder, der Bezirke oder der Gemeinden ergeben (Art. 132 B-VG). Die einschneidenden Neuerungen finden sich mehr im 1. Hauptstück des neuen Gesetzes, das von der Einrichtung des VwGH handelt, weniger im 2. Hauptstück, wo das Verfahren des VwGH im allgemeinen und in den bundesgesetzlich bestimmten Fällen besonderer Kompetenzen geregelt ist. Zum guten Teile sind die Neuerungen übrigens nicht sachlicher, sondern bloß formeller Natur, denn es wurden nicht wenige Neuerungen aus der Dienstvorschrift für denVwGH vom 26. Juli 1919, StGBl. Nr. 419, nunmehr in das Organisationsgesetz übernommen. Die Berufung von Mitgliedern des VwGH ist schon verfassungsgesetzlich an Dreiervorschläge gebunden, die die Vollversammlung des VwGH zu erstatten hat. Das Durchführungsgesetz schreibt nur vor, daß die Dreiervorschläge auf Grund einer vorangegangenen allgemeinen Bewerbung zu erstatten sind. Beide Bestimmungen ergänzen sich in dem Bestreben, das Niveau des VwGH hochzuhalten und parteipolitische Einflüsse möglichst fernzuhalten und werfen ein eigentümliches Licht auf die Berufungsweise der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes, die teils der Nationalrat und der Bundesrat, teils die Regierung, unbehindert durch ein Vorschlagsrecht des Gerichtshofes selbst, unter dem Schutze eines geheimen Ausleseverfahrens dem Bundespräsidenten zu nominieren haben. Noch wichtiger als dieses gerichtliche Vorschlagsrecht für die Zusammensetzung eines Gerichtes ist aber für die Sicherung einer unparteilichen Rechtsprechung die Bildung ständiger Senate, auf die die Rechtssachen von einer festen Geschäftsteinteilung nach objektiven Merkmalen zu verteilen sind. Während nach der bisherigen Organisation des VwGH nur für Steuerund Gebührensachen ständige Senate bestanden, die Zusammensetzung der anderen Senate jedoch innerhalb der Bestimmungen des Gesetzes und der Geschäftsordnung dem Ermessen des Präsidenten überlassen war, sieht das neue Gesetz außer einer Fachgruppengliederung nach dem Vorbild der für die ordentlichen Gerichte geltenden Gerichtsverfassung die feste Verteilung der Geschäfte auf Senate vor, deren Zusammensetzung zum überwiegenden Teile im voraus feststeht. Die Fachgruppen bestehen aus den Mitgliedern der Senate, die für Rechtssachen ähnlicher Natur zuständig sind; sie werden von der Vollversammlung in der Geschäftseinteilung bestellt. Von den fünf

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Mitgliedern jedes Senates wird der Vorsitzende vom Präsidenten des Gerichtshofes bestellt, je drei ständige Mitglieder werden von der Vollversammlung in der Geschäftseinteilung bestimmt, ein weiteres Mitglied wird dem Senat fallweise vom Präsidenten aus den Mitgliedern der Fachgruppe zugewiesen. Das eine wechselnde neben den vier bleibenden Mitgliedern ermöglicht, der Vorschrift des Art. 135 Abs. 2 B-VG Rechnung zu tragen, wonach jedem Senat, der über eine Beschwerde in Angelegenheiten der Landesverwaltung oder über eine Klage gegen ein Land, einen Bezirk oder eine Gemeinde zu erkennen hat, in der Regel ein Mitglied angehören soll, das in dem betreffenden Land beruflich tätig war; eine völlig starre Zusammensetzung der Senate würde sich mit dieser Vorschrift nur in der Weise vereinbaren lassen, daß die Geschäfsteinteilung der Senate dem Territorialprinzip folgt und die Beschwerden oder Klagen, die ein Land, einen Bezirk oder eine Gemeinde dieses Landes betreffen, je einem Senate zuweist. Immerhin ist die vom Gesetze offen gelassene Variation der Senate nicht so einschneidend, daß sie zu einer ernsten Gefahr für die Objektivität der Rechtsprechung werden könnte. Gegen subjektive Beeinflussungen der Rechtsprechung richtet sich auch die Bestimmung des § 10 des Gesetzes, wonach weder dem Berichterstatter noch dem allfälligen Mitberichterstatter, abgesehen vom Fall einer längeren Verhinderung, die anhängige Rechtssache ohne seine Zustimmung wieder abgenommen werden darf. Eine zweckmäßige Verfahrensvereinfachung besteht in der folgenden Verfahrensbestimmung: Erledigungen bloß prozeßleitender Natur im Vorverfahren sowie Verfügungen, die lediglich zur Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung dienen, bedürfen nicht der Beschlußfassung durch den Senat, sondern können vom Vorsitzenden auf Antrag des Berichterstatters und, wenn ein Mitberichterstatter bestellt ist, mit dessen Zustimmung getroffen werden (§ 10 Abs. 4). Bemerkenswert ist die Vorsorge des Gesetzes für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung: Handelt es sich um eine grundsätzliche Rechtsauslegung von allgemeiner Bedeutung, so hat derVorsitzende des Senates die zu beantwortende Rechtsfrage der betreffenden Fachgruppe, oder, wenn die Rechtsfrage in ihrer Bedeutung über den Bereich der Fachgruppe hinausgeht, der Vollversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen. Überdies kann der Präsident des Gerichtshofes über grundsätzliche Rechtsauslegungsfragen jederzeit einen Beschluß der zuständigen Fachgruppe einholen. Die

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Beschlüsse der Fachgruppen und der Vollversammlung sind in der Form von Rechtssätzen zu fassen, die für die Entscheidung der einzelnen Rechtssache durch den Senat bindend sind. Beabsichtigt jedoch in der Folge ein Senat von einem solchen Rechtssatz abzugehen, so hat der Vorsitzende die Rechtsfrage der Fachgruppe oder der Vollversammlung zur neuerlichen Beschlußfassung vorzulegen (§§ 11 und 12). Das Verfahren des VwGH ist der Mehrung seiner Aufgaben gemäß nach dem neuen Gesetz differenzierter als bisher; nebst den für alle Verfahrensfälle gemeinsamen Vorschriften gibt es Sondervorschriften für Beschwerdefälle, Verwaltungsstrafsachen, vermögensrechtliche Ansprüche, Streitfälle aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis der Angestellten von Gebietskörperschaften, endlich für Schadenshaftungssachen, Gemeindevertretungsbeschlüsse in Abgabensachen und Invalidenentschädigungssachen. Aus den gemeinsamen Bestimmungen ist namentlich die von praktischem Interesse, daß die bisher streng genommen ausnahmslose Vorschrift, wonach jede Beschwerde an den VwGH mit der Unterschrift eines Rechtsanwaltes versehen sein mußte, von taxativ aufgezählten Ausnahmen durchbrochen ist (§ 17). An und für sich könnte die Durchbrechung des ohnehin auf die bloße Unterfertigung der Beschwerde oder Klage beschränkten Rechtsanwaltszwanges von mehr als einem Standpunkt aus bedenklich erscheinen, doch leuchten die Ausnahmsgründe ein. Das Erfordernis der Unterschrift eines Rechtsanwaltes entfällt nämlich, wenn die Beschwerde oder Klage von einem Organ des Bundes, eines Landes oder einer Stadt mit eigenem Statut oder von einer Stiftung, einem Fonds oder einer Anstalt, die von Organen einer dieser Gebietskörperschaften verwaltet werden, oder endlich in eigener Sache von einem dem Dienst- oder Ruhestand angehörenden rechtskundigen Angestellten des Bundes, eines Landes, eines Bezirkes oder einer Gemeinde eingebracht wird. Einfache Gemeinden müssen also ihre Beschwerden und Klagen von einem Rechtsanwalt fertigen lassen. Politisch interessant ist die weitgehende Vertretungsmöglichkeit bundesfremder Parteien durch Bundesorgane (§ 19). Die Vertretung des Bundes oder der Länder oder der Behörden dieser Gebietskörperschaften oder der von Organen einer dieser Gebietskörperschaften verwalteten Stiftungen, Fonds oder Anstalten kann auch der Finanzprokuratur, die Vertretung der Behörden der Länder, der Bezirke oder der Gemeinden auch Organen der sachlich in Betracht kommenden Bundesministerien übertragen werden. Es

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ist dies eine jener Einrichtungen, die für die Tendenz der bundesstaatlichen Gesetzgebung bezeichnend sind, den Dualismus von Bund und Ländern prozeßrechtlich zu überwinden. Die Bestimmungen über die Akteneinsicht (§ 20) sind zwar etwas ausführlicher geworden als die darauf bezüglichen Bestimmungen des Gesetzes aus dem Jahre 1875, haben aber an Klarheit verloren. Würden nicht die erläuternden Bemerkungen zum Regierungsentwurf die inhaltliche Übereinstimmung des neuen Gesetzestextes mit der bisherigen Rechtslage behaupten, so könnte man der textlichen eine bedeutende sachliche Änderung unterlegen. Nur die frühere Fassung des Gesetzes wahrte dem VwGH ein Ermessen, aus öffentlichem Interesse aus Eigenem die Akteneinsicht auszuschließen: die jetzige Fassung spricht für ein unbedingtes Recht der Partei auf Akteneinsicht, soweit es sich nicht um die in der taxativen Aufzählung des Gesetzes von der Einsicht ausgenommenen Aktenbestandteile handelt (Entwürfe zu Erkenntnissen und Beschlüssen, Niederschriften über Beratungen und Abstimmungen) oder nicht die Behörde bei Vorlage der Akten Teile bezeichnet hat, die im öffentlichen Interesse von der Einsicht und Abschrift,,auszuschließen sind". Des weiteren enthält das Gesetz erstmals Gründe der amtlich wahrzunehmenden Befangenheit und der Ablehnung von Richtern und von Schriftführern (§ 21); die einschlägigen Bestimmungen der Dienstvorschrift für den VwGH vom 26. Juli 1919, StGBl. Nr. 419, entbehrten der gesetzlichen Grundlage. Die in der Verfassungs-Novelle vom 7. Dezember 1929 neu eingeführte Legitimation des VwGH, beim Verfassungsgerichtshof die Überprüfung eines Bundes- oder Landesgesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit zu beantragen, sofern ein solches Gesetz die Voraussetzung eines Erkenntnisses des antragstellenden Gerichtshofes bildet, wird im § 25 des neuen Gesetzes näher ausgeführt. Bestehen in einer anhängigen Rechtssache gegen die Anwendung einer Verordnung aus dem Grund der Gesetzwidrigkeit oder gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken, so ist das Verfahren zu unterbrechen und der Antrag auf Prüfung der Verordnung oder des Gesetzes an den Verfassungsgerichtshof zu stellen. Die Unterbrechung des Verfahrens ist vom Vorsitzenden auf Beschluß des Senates auszusprechen; handelt es sich jedoch um die Frage 6 A. J. Merkl

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der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so muß auch noch ein Beschluß der Vollversammlung eingeholt werden. Während die bisherige Regelung der verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung die tatsächliche Überprüfung eines Gesetzes von den Zufälligkeiten der politischen Konjunktur abhängig machte, da abgesehen vom Falle amtswegiger Gesetzesprüfung durch den VerfGH selbst, nur die Bundes- und Landesregierung die Legitimation zur Beantragung der Gesetzesprüfung hatten, kann die neue Handhabe zur Gesetzesprüfung geradezu zu einer actio popularis gegen verfassungswidrige Gesetze werden. Die Anfechtung des nächstbesten Verwaltungsaktes, der auf Grund eines verfassungswidrigen Verwaltungsgesetzes ergeht, wird Gelegenheit geben, beim VwGH die Unterbrechung des Verfahrens zum Zweck der Veranlassung der Gesetzesprüfung zu beantragen. Zwar ist die vorerwähnte Verfahrensvorschrift, wonach insbesondere ein Beschluß der Vollversammlung eingeholt werden muß, der Gesetzesprüfung nicht sehr günstig, doch wird eine geschickte Ausnützung der erwähnten Handhabe durch'die Parteienvertreter in Verbindung mit einer rigorosen Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes von der ihm neuestens zuteil gewordenen Rolle als, wenn auch nur mittelbarer, Verfassungsgarant so ziemlich jedes verfassungsrechtlich bedenkliche Verwaltungsgesetz - und Verwaltungsgesetze sind ja der allergrößte Teil der Gesetze - vor das Forum des Verfassungsgerichtshofes bringen. Eine anerkennenswerte Verfeinerung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bringt die Einführung der Parteirechtsmittel, die bisher im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausgeschlossen gewesen waren, nämlich der Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 28) und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 29). Besondere Beachtung verdient wegen seiner möglichen praktischen Bedeutung der Wiederaufnahmsgrund, der darin besteht, daß nachträglich eine rechtskräftige, gerichtliche Entscheidung bekannt wird, die in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof den Einwand der entschiedenen Sache begründet hätte. Beträchtlich weicht auch die Regelung der Kostenfrage vom bisherigen Rechtszustande ab. Das Gesetz schließt sich im § 30 grundsätzlich dem Standpunkt des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes an, daß jede Partei, die ihr im Verfahren vor dem VwGH erwachsenden Kosten selbst zu bestreiten und, soweit nicht ausnahmsweise Abweichendes bestimmt ist, auch endgültig zu tragen hat. Im Verfahren über Beschwerdefälle steht einer

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Partei gegen eine andere ein Anspruch auf Ersatz der Kosten nur zu, wenn ihr in dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren nach den dafür maßgebenden Vorschriften ein solcher Ersatzanspruch zugekommen ist, oder im Falle des Obsiegens zugekommen wäre, oder wenn ihr besondere Kosten dadurch erwachsen sind, daß die andere Partei eine ihr im Verfahren vor dem VwGH gesetzte Frist nicht eingehalten hat oder das Verfahren durch Vorbringungen, die sie schon in einer früheren Lage des Verfahrens hätte geltend machen können, verzögert hat. Im Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen steht ein Anspruch auf Ersatz der Kosten nicht zu. Im Verfahren über vermögensrechtliche Ansprüche kann dem unterliegenden Teil auf Antrag der Ersatz der Kosten auferlegt werden. Die eingebürgerte 60tägige Frist zur Einbringung der Beschwerden beim VwGH ist entgegen einem abweichenden Vorschlag der Regierungsvorlage ungekürzt geblieben (§ 33). Dagegen wurde die vormalige strenge Bindung des Gerichtshofes an die geltend gemachten Beschwerdepunkte gelockert (§ 42). Der VwGH hat den angefochtenen Bescheid nur im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte zu überprüfen. Erachtet er jedoch, daß sich die Rechtswidrigkeit des Bescheides in einem der Beschwerdepunkte aus anderen als den in der Beschwerde geltend gemachten Gründen ergeben könnte, so hat er die Parteien zu hören und erforderlichenfalls eine Vertagung zu verfügen. Die österreichische Rechtsordnung ist bekanntlich von ihrem in dem B-VG vom 1. Oktober 1920 kodifizierten Programme einer meritorischen Judikatur des VwGH schon in der - allerdings in den Bestimmungen über den VwGH nie in Kraft getretenen - 1. Verfassungs-Novelle vom 30. Juli 1925 wieder zur Regel der bloß kassatorischen Erkenntnisse zurückgekehrt (Art. 132 Abs. 1). Die 2. B-VG-Novelle hält hieran fest (Art. 133 B-VG). In Konsequenz dieser verfassungsgesetzlichen Richtlinie bringt nunmehr der § 43 VwGG die genaue Formulierung der kassatorischen Sprüche. Diese geringe Tragweite der verwaltungsgerichtlichen Judikatur wird möglicherweise durch die neue Vorschrift der Verfassung wettgemacht, welche die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des VwGH entsprechenden Rechtszustand herzustellen (Art. 133 Abs. 3 B-VG). Mit der Verfahrensbestimmung für Schadenhaftungssachen (§ 64) erinnert das Gesetz an die Tatsache, daß bisher noch immer nicht Anstalten 6*

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getroffen sind, um die Promesse des Art. 23 B-VG - Einführung der Schadenshaftung auf dem Gebiet der Hoheitsverwaltung - zur Tat werden zu lassen. Mehr noch erinnern aber die im Vorstehenden angedeuteten rechtstechnischen Verbesserungen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes an den mangelhaften Zustand gewisser Gebiete der Verwaltung, deren Kontrolle unter anderem die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu dienen berufen ist. Die beste Kontrolle versöhnt nicht mit einem reformbedürftigen Objekt der Kontrolle; eine rationelle Gesetzgebung legt an dieses den Hebel der Reform an und setzt die gerichtliche Kontrolle nur als ultima ratio ein. Das Vorbild deutscher Länder hätte vielleicht die Einführung eines Unterbaues an Verwaltungsgerichten, eines verwaltungsgerichtlichen Instanzenzuges nahegelegt. Das vorliegende Gesetz hat auf diese Reformmöglichkeit - wie mir scheint: aus guten theoretischen1 und praktischen Gründen - endgültig verzichtet. Unter diesen Umständen wäre es aber an der Zeit, manche Verwaltungsgebiete, die von der großen Verwaltungsreform vom 21. Juli 1925 unberührt geblieben sind, z.B. die Steuerverwaltung, 2 aus dem heutigen Zustande rechtlicher Kulturlosigkeit herauszuheben und der verfeinerten Rechtskultur der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit anzugleichen.

1

Vgl. mein Allgemeines Verwaltungsrecht, Verlag Julius Springer, Wien 1927, S. 390 f.

2 Ein Dokument prozeßrechtlicher Ahnungslosigkeit ist z.B. das in Gebrauch stehende Formular der Personalsteuermandate!

Ist in Österreich ein Ausnahmszustand zulässig? Eine der radikal-demokratischen Gesten der Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 war die Abschaffung des Ausnahmszustandes als Verfassungseinrichtung. Der Weg dieses scheinbaren Wagnisses war die Streichung des Art. 20 aus dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, das im übrigen in den Katalog der Verfassungsrechtsquellen (Art. 149 B-VG) aufgenommen worden ist. Manche Juristen und Politiker des Auslandes, die von dieser österreichischen Eigentümlichkeit Kenntnis erhielten, taten über diese vermeintliche Überspitzung des Prinzips der bürgerlichen Freiheit erstaunt und fragten gelegentlich, wie ohne ein solches Notrecht ein Staat regiert werden könne. Die bald zehnjährige Staatspraxis seit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung widerlegt indes derlei Zweifel, und der österreichischen Öffentlichkeit kam das Fehlen einer verfassungsgesetzlichen Ermächtigung zur Verhängung eines Ausnahmszustandes eigentlich erst zum Bewußtsein, als nach dem denkwürdigen 15. Juli 1927 behauptet wurde, die Ereignisse hätten sich verhüten lassen, oder hätten wenigstens nicht ihren Umfang angenommen, wenn ihnen mit den Handhaben eines Ausnahmsgesetzes hätte vorgebeugt oder wenigstens entgegengetreten werden können. Die Richtigkeit dieser Behauptung mag dahingestellt bleiben; jedenfalls war nach diesen Vorgängen unter den mancherlei Unbegreiflichkeiten des Regierungsentwurfes der Verfassungsreform der Vorschlag der Wiedereinführung einer Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmszustandes am begreiflichsten. Ein solcher Vorschlag konnte nicht bloß mit der altösterrei-

Juristische Blätter, 59. Jg. (1930), S. 397-399. Diesem Artikel wurde von Merkl folgende Bemerkung vorangestellt: ,,Das Manuskript zu diesem Aufsatz liegt der Schriftleitung seit August vor. Heute hat es durch die unmißverstcindliche Drohung mit Verfassungsbruch, die der zum Hüter der Verfassung ausersehene Minister für gut befunden hat, unvermutet Aktualität gewonnen. Das Manuskript sei nur um die eine Feststellung ergänzt, daß auch der Gebrauch der Verfassung zu irgendwelchen Maßnahmen eines Ausnahmszustandes ein Verfassungsbruch wäre. Der Art. 102 B-VG böte zu solchen Maßnahmen keine Handhabe, sondern höchstens einen Vorwand."

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chischen Tradition, sondern auch damit gerechtfertigt werden, daß eine derartige Ermächtigung auch zum unangefochtenen Requisit unbezweifelbar demokratischer Staaten - z.B. Englands oder des Deutschen Reiches gehört. Selbst der strengste Kritiker des Verfassungsentwurfes mußte auch zugeben, daß die Fassung des Ausnahmszustandes im Regierungsentwurfe, verglichen mit dem Art. 20 des altösterreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger und insbesondere auch mit der Ermächtigung des Art. 48 der deutschen Reichsverfassung verhältnismäßig maßvoll war. Bekanntlich ist die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmszustandes dem Einsprüche der Opposition zum Opfer gefallen. Es war wohl mehr die Reminiszenz an die Erfahrungen mit dem Ausnahmezustände in der österreichischen Monarchie und wirklichkeitsfremder Doktrinarismus die Ursache davon, daß die Opposition den Ausnahmszustand um den Preis ihrer Zustimmung zu viel einschneidenderen Neuerungen, namentlich zur Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit und zur Einführung des selbständigen Verordnungsrechtes der Polizeibehörden unter allen Umständen abgelehnt hat. Fast scheint es nun, als wäre diese opferreiche Bekämpfung des Ausnahmszustandes nicht nur eine irrationelle, sondern auch eine vergebliche Bemühung gewesen, denn nach einer sehr beachtlichen, wenngleich meines Erachtens rechtsirrtümlichen Auslegung, hat nun doch die Ermächtigung zum Ausnahmszustand im B-VG Unterkunft gefunden, aber nicht in der harmlosen, den Vorbildern echter Demokratien folgenden Gestalt, die im Regierungsentwurfe vorgesehen war, sondern in einer durch ihre Uferlosigkeit höchst bedenklichen Fassung. Wo steckt nun und was besagt diese angebliche Ermächtigung zum Ausnahmszustand? Der letzte Absatz des Art. 102 B-VG, der im übrigen von der mittelbaren Bundesverwaltung handelt, lautet: „Ergibt sich in einzelnen Gemeinden die Notwendigkeit, wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung besondere Maßnahmen zu treffen, so kann der zuständige Bundesminister mit diesen Maßnahmen für die Dauer der Gefährdung eigene Bundesorgane betrauen." Es ist an und für sich sehr unwahrscheinlich, an diesem systematischen Ort die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmszustandes suchen zu müssen; indes zwingt, ja berechtigt nicht einmal diese Wendung, der zitierten Verfassungsbestimmung einen solchen Sinn zu geben. Diese Sinngebung wurde für mich

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überhaupt erst dadurch fraglich, daß sie kürzlich von sehr beachtlicher Seite versucht wurde. 1 Die grammatische Auslegung unserer Gesetzesstelle läßt nur so viel erkennen, daß irgend ein Bundesminister zu irgendwelchen Maßnahmen im Falle der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung irgendwelche Bundesorgane delegieren kann. Antwort versagt die Wortauslegung insbesondere auf die zwei Fragen, welcher Minister die gegenständliche Ermächtigung erteilen und auf welche Maßnahmen sie sich beziehen kann. Scheinbar liegt in dem Attribute „zuständig" (,,der zuständige Bundesminister") eine erschöpfende Antwort auf die erste der beiden Fragen. Indes in einem Sinne, der der Bestimmung die wertvollste aktuelle Anwendbarkeit nimmt. Als zuständig ist nämlich nur der Minister anzusehen, der durch Gesetz oder eine andere gesetzeskräftige Rechtsquelle für Verwaltungsakte bestimmter Art zuständig erklärt ist. Es ist eine typische Laienmeinung, daß sich die Zuständigkeit eines Ministers aus dem Agendenkreis seines Ministeriums von selbst verstehe, daß z.B. ein Minister für soziale Verwaltung für alle denkbaren Agenden der sozialen Verwaltung, ein Minister für Heereswesen für alle denkbaren militärischen Angelegenheiten zuständig sei, und daß der bestehende Wirkungskreis eines Ministers einen Rückschluß auf die Zuständigkeit in neu auftauchenden Angelegenheiten zulasse. Durch derart unbestimmte Blankette könnte allerdings die Zuständigkeit der einzelnen Minister geregelt sein; die tatsächliche Tätigkeit eines Ministers oder Ministeriums ergäbe sich bei dieser Ordnung aus der Summe der Möglichkeiten, innerhalb deren das mit der Blankettvollmacht ausgestattete Organ die engere Auswahl zu treffen für gut findet; das Verwaltungsorgan schafft sich bei dieser Methode der Zuständigkeitsregelung innerhalb eines vom Gesetz umschriebenen Rahmens nach freiem Ermessen seinen Wirkungskreis. Es bleibt dahingestellt, ob die Zuständigkeitsordnung der österreichischen Monarchie dieser geradezu landläufigen Vorstellung entsprochen hat. Ich habe dieser Annahme schon immer widersprochen, unterlasse aber den heute nicht mehr aktuellen Beweis für diese Behauptung. Sicher

1 In der Ausgabe der „Österreichischen Verfassungsgesetze 44 von Ludwig Adamovich und Georg Froehlich, 2. Aufl., Wien 1930, wird zur zitierten Verfassungsstelle bemerkt: „Welche Maßnahmen in diesem Fall zu treffen sind und welche Bundesorgane hiemit betraut werden sollen, hat der zuständige Bundesminister zu beurteilen. 44 (S. 99, Anm. 9)

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ist jedoch, daß eine solche Annahme der durch die Bundesverfassung geschaffenen Rechtslage nicht mehr entspricht. Auch die Bestimmung des Art. 102 Abs. 7 B-VG darf nicht bloß aus ihrer Wortbedeutung heraus, sondern nur aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsurkunde, im besonderen im Zusammenhalt mit den Art. 18 Abs. 1, und 77 Abs. 2 B-VG ausgelegt werden. Hienach unterliegt auch die Frage der Zuständigkeit eines Ministers - als eines obersten Verwaltungsorganes - dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Schon der Rechtssatz des Art. 18 Abs. 1 B-VG, wonach die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf, bedingt eine gesetzliche Bezeichnung des Organes, das zu den gesetzlich bestimmten Verwaltungshandlungen zuständig sein soll. Denn das Mindestmaß der gesetzlichen Konkretisierung einer Verwaltungstätigkeit besteht darin, daß nicht bloß die Tätigkeit bezeichnet wird, die der Staat verrichten darf oder soll, sondern daß auch das Organ namhaft gemacht wird, das namens des Staates handeln darf oder soll. Während es nun die Verfassung im allgemeinen der einfachen Gesetzgebung überläßt, die Organe zu bestimmen, die für die gesetzlich bestimmten Verwaltungshandlungen zuständig sein sollen, oder anders gesehen, den Wirkungskreis zu bestimmen, der den gesetzlich bestimmten Organen zustehen soll, gibt es gewisse Vollzugsorgane, für deren Rechtsstellung sich die Verfassung näher interessiert. Deren Organstellung wird teils zur Gänze unmittelbar von der Verfassung umschrieben, teils nur in bestimmten Punkten verfassungsgesetzlich geregelt. Jenes trifft namentlich vom Bundespräsidenten und von der Bundesregierung zu, dieses ist insbesondere bei den Bundesministern der Fall. Bis auf einen Punkt wird nämlich die Rechtsstellung der Minister, so die Bestellung, Abberufung, Verantwortlichkeit, erschöpfend von der Verfassung geregelt. Dieser eine verfassungsgesetzlich ungeregelte Punkt ist die Zuständigkeit der Ministerien und damit auch der Minister, denn die Minister sind nach Art. 77 Abs. 3 die Leiter der Ministerien und teilen als solche deren Wirkungskreis. Zur Bestimmung der Zuständigkeit der Bundesministerien und damit auch der Minister delegiert nun die Bundesverfassung die einfache Bundesgesetzgebung. ,,Die Zahl der Bundesministerien, ihr Wirkungskreis und ihre Einrichtung werden durch Bundesgesetz bestimmt." (Art. 77 Abs. 2 B-VG) Der Ton dieses Satzes liegt auf dem Worte Bundesgesetz, jedoch nicht etwa in dem Sinne, daß eine Erschwerung dieser Regelung durch Vorschreibung des legislativen an Stelle des administrativen Weges bewirkt werden soll, sondern in dem umgekehrten Sinne, daß für die nähere Regelung einer verfassungsmäßigen Institution, als die die Bundesmi-

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nisterien anzusehen sind, der Weg der einfachen Bundesgesetzgebung an Stelle der für die Regelung anderer Vollzugsorgane bemühten Verfassungsgtsetzgebung genügen soll. Den Bundesgesetzen stehen andere Rechtsquellen an Gesetzeskraft gleich, z.B. gesetzeskräftige Verordnungen aus der Zeit der Republik und ältere Rechtsquellen, die durch die Generalklausel des § 2 Verfassungsübergangsgesetz in Bundesgesetze transformiert worden sind. Die gegenwältige Kompetenz der Bundesministerien und Bundesminister summiert sich nun aus den Einzelkompetenzen, die in allen diesen Rechtsquellen, herkömmlich in der Vollzugsklausel, den einzelnen Ministern oder Ministerien übertragen worden sind. Die Kompetenz der österreichischen Bundesministerien oder Bundesminister ist also nicht durch eine Generalklausel sondern nach der Enumerationsmethode bestimmt. Diese Enumeration findet sich jedoch nicht in einer einheitlichen Rechtsquelle, sondern auf zahlreiche Rechtsquellen verstreut, nämlich in allen jenen Rechtsquellen, die mit ihrer Vollziehung den nämlichen Minister oder das nämliche Ministerium betrauen. Bei dieser Ermittlung der Kompetenz sind allerdings auch alle jene Kompetenzverschiebungen zu berücksichtigen, die sich aus der Errichtung oder Auflassung von Ministerien ergeben haben. Die bezüglichen Organisationsvorschriften haben die Bedeutung genereller Kompetenznormen, die sämtlichen Vollzugsklauseln derogieren, welche mit den neuen Organisationsnormen nicht in Einklang zu bringen sind. Wenn z.B. mit der Neugründung des Ministeriums ,,für soziale Fürsorge44 - nunmehr ,,für soziale Verwaltung44 - diesem Ministerium nebst anderen Agenden hauptsächlich die Aufgaben der staatlichen Sozialpolitik zugewiesen wurden, so wurde damit in Bausch und Bogen allen jenen Vollzugsklauseln derogiert, die anderen Ministerien Aufgaben der sozialen Verwaltung zugewiesen hatten. Im Hinblick auf diese derogatori sehe Funktion der Kompetenzordnung für neugegründete Ministerien gegenüber gesetzlichen Vollzugsklauseln, welche eine anderweitige Kompetenzregelung getroffen hatten, hat schon die Monarchie darauf geachtet, die Kompetenzen neugegründeter Ministerien in Gesetzesform zu regeln, und zwar in der Weise, daß außer der das Ministerium gründenden kaiserlichen Entschließung ein eigenes Kompetenzgesetz ergangen ist. Umsomehr wurde die Gesetzesform in der Republik gewahrt, wofür die Wiederherstellung des vorübergehend aufgelassenen Justizministeriums ein Beispiel bietet. Diese Rechtslage hat die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 angetroffen, ohne an ihr auch nur das Geringste, sei es auch mit Beschränkung auf die Handhabung des Art. 102 Abs. 7 B-VG zu ändern. Es wurde

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also durch diese Bestimmung nicht schon irgend ein Minister zu irgendwelchen Maßnahmen unmittelbar zuständig gemacht, sondern es ist die Bestimmung des,zuständigen" Ministers auch für das Anwendungsbereich unserer Verfassungsbestimmung der einfachen Bundesgesetzgebung oder ihr an rechtlicher Kraft gleichkommenden Rechtssatzformen vorbehalten. Ebenso wie die Frage, welcher Minister zu den die Ruhe und Ordnung sichernden Maßnahmen zuständig sein soll, ist auch die Art und Weise dieser Maßnahmen von Verfassungswegen offen und damit im Sinne des verfassungsgesetzlichen Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung der näheren Bestimmung im Wege der Bundesgesetzgebung vorbehalten geblieben. Denn dem Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG ist nicht schon damit Genüge getan, daß das Organ bezeichnet ist, welches irgendetwas unternehmen darf, sondern auch der Gegenstand der Organkompetenz muß erkennbar sein. Darum ist die Ermächtigung des Art. 102 Abs. 7 nicht nur mangels Individualisierung des zuständigen Organes, sondern auch mangels genügender Konkretisierung der Organfunktion nicht zur unmittelbaren administrativen Anwendung geeignet, sondern der legislativen Durchführung bedürftig. Für diese Durchführung gibt unsere Verfassungsbestimmung die Richtlinie, daß diese Maßnahmen wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung getroffen werden können. Damit sind die Voraussetzungen der fraglichen ministeriellen Maßnahmen eingeengt, ihr Inhalt ist aber doch noch nicht erkennbar konkretisiert. Dies ist der Grund, daß selbst bei genügender Individualisierung des Organes zur Konkretisierung seiner Kompetenz die Gesetzgebung bemüht werden muß. Für diese Durchführungsgesetze ergibt sich wiederum aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung die inhaltliche Schranke, daß die fraglichen Maßnahmen nicht verfassungsändernder Natur sein dürfen. Denn ein Gesetz, das verfassungsändernde Verwaltungsakte zuläßt, ist selbst verfassungsändernder Natur und somit an die Formen der Verfassungsgesetzgebung gebunden. Eine Ermächtigung zu verfassungsändernden Maßnahmen durch einfaches Gesetz oder gar durch Verwaltungsakt versteht sich nicht von selbst, sondern bedarf verfassungsgesetzlicher Zulassung. Allerdings brauchte eine solche Zulassung nicht explicite normiert zu sein, sondern könnte sich auch implicite verstehen. So könnte man vielleicht aus der Verfassungsbestimmung des Art. 102 Abs. 7 B-VG, wenn schon nicht eine Ermächtigung zu verfassungsändernden Verwaltungsakten, so doch wenig-

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stens zu verfassungsändernden Gesetzen mit der Begründung zu entnehmen versuchen, daß eine besondere Ermächtigung der Gesetzgebung zu nicht verfassungsändernden Maßnahmen nicht erforderlich sei und daß somit die Verfassungsbestimmung, wenn man ihr nicht die Ermächtigung zu verfassungsändernden Maßnahmen, sei es nun in Gesetzesform oder in Form von Verwaltungsakten, entnehmen könne, überflüssig und daher sinnlos wäre. Das ist sie aber, wie noch zu zeigen sein wird, nicht. Auch in der vorstehend dargelegten Auslegung, daß sowohl das Verwaltungsorgan als auch die Verwaltungshandlung durch Bundesgesetz zu bestimmen sind, und daß sich dieses Bundesgesetz im Rahmen der Verfassung halten muß, ergibt die Verfassungsbestimmung des Art. 102 Abs. 7 einen gewissen Sinn, wenngleich einen anderen, und zwar viel weniger weittragenden, als sich die Kodifikatoren gedacht haben mochten. Selbstverständlich wäre ein Verfassungsgesetz imstande gewesen, mit bestimmten Maßnahmen zur Sicherung oder Herstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, und zwar selbst zu verfassungsändernden Maßnahmen einen bestimmten Minister unmittelbar zu betrauen, doch hat die Verfassungsgesetzgebung diese ausnahmsweise unmittelbare Delegierung eines Vollzugsorgans zu verfassungsvollziehenden oder verfassungsändernden Maßnahmen unterlassen, sei es nun bewußter- oder bedachterweise, weil der Kodifikator in diesem Falle die Übergehung des Gesetzgebers vermeiden, an der dem Legalitätsprinzip eigentümlichen Mediatisierung der Verwaltungshandlungen durch einfache formelle Gesetze festhalten wollte, oder unbeabsichtigt, weil er irrtümlich durch die Delegation des ,,zuständigen" Ministers eine unmittelbar brauchbare Ermächtigung erteilt zu haben vermeinte. In diesem Falle bestünde freilich zwischen dem gesetzgebungspolitisch Erstrebten und gesetzestechnisch Erreichten ein unerhörter Abstand. Gibt uns der Auslegungsversuch der oben zitierten kommentierten Gesetzesausgabe einen Fingerzeig für die Absichten der Kodifikatoren, so war nicht weniger beabsichtigt, als daß der sachlich in Frage kommende Minister - etwa der Bundeskanzler oder auch der Heeresminister - alle Maßnahmen, die er im Interesse der Sicherung oder Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Ordnung erforderlich erachten wird, ohne Rücksicht auf ihre rechtliche Tragweite, im besonderen ohne Rücksicht auf ihren gesetzändernden oder gar verfassungsändernden Inhalt, unmittelbar auf Grund der Verfassungsbestimmung des Art. 102 Abs. 7 soll treffen können. Das wäre aber nicht weniger als die Ermächtigung zur Verhängung des

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Ausnahmszustandes, nur zum Unterschied von der analogen Ermächtigung der Verfassungen der Rechtsstaaten, z.B. der österreichischen Monarchie und des gegenwärtigen Deutschen Reichs, keine sachlich beschränkte, auf die Suspension taxativ bezeichneter Grundrechte abgestellte, sondern eine uferlose Ermächtigung. Kein Grundrecht, ja eigentlich keine einzige Verfassungseinrichtung wäre vor dem Zugriff einer solchen ministeriellen Ausnahmsverfügung sicher, wenn sie sich nur auf eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung berufen kann. Und dabei beständen keinerlei rechtliche Sicherheiten gegen den politischen Mißbrauch dieser uferlosen Vollmacht. Ausnahmsmaßnahmen, die in anderen Rechtsstaaten an komplizierte Formen gebunden sind, könnten nach der Absicht der österreichischen Verfassungskodifikatoren je nach dem Belieben eines Ministers in Verordnungs- oder Verfügungsform getroffen werden. Was in anderen Rechtsstaaten nur das Staatsoberhaupt oder die Regierung unter Kontrolle eines resolutiven parlamentarischen Veto vermag, das vermöchte in Österreich ein einzelner Minister, ohne daß irgend ein Kontrollorgan aus eigener Machtvollkommenheit diese Ausnahmsverfügungen aus der Welt schaffen könnte. Es würde zu weit führen, alle Absonderlichkeiten dieses Ausnahmszustandes ins Licht zu rücken, die Österreich gewiß eine Ausnahmsstellung unter den Rechtsstaaten gegeben hätten. Im Interesse der Reputation unseres Staates im Auslande muß man es begrüßen, daß diese vermutliche Absicht der Kodifikatoren gesetzestechnisch mißlungen ist.2 Der wahre, gesetzgeberisch verwirklichte Inhalt der Verfassungsbestimmung des Art. 102 Abs. 7 B-VG erschöpft sich in der Ermächtigung an den Bundesminister, der durch Gesetz oder eine andere Rechtsquelle von Ge-

Es ist typisch freirechtliche Methode, diese gesetzgeberisch verfehlte Absicht in das Gesetz hineinzudeuten und somit den Gesetzgeber im Sinne seiner Absichten zu korrigieren. Professor Adamovich ist ein viel zu gewiegter Verfassungskenner, um sich der kodifikatorischen Unzulänglichkeit der in Rede stehenden Verfassungsbestimmung nicht bewußt zu sein. Wenn in der von ihm gemeinsam mit Herrn Vizepräsidenten Froehlich herausgegebenen, gewiß sehr verdienstlichen Gesetzesausgabe die im Text dargestellte Ausnahmsermächtigung in den Verfassungstext hineininterpretiert wird, so erinnert dieses Verfahren an den Versuch, den Adamovich in seinem im ganzen und großen gewiß vorzüglich sachkundigen „Österreichischen Verfassungsrecht" unternommen hat, die Bestimmung des ursprünglichen Art. 35 B-VG, wonach bloß der Art. 35 B-VG nur mit Zustimmung des Bundesrates abänderbar sein sollte, auf interpretativem Wege auch auf den Art. 34 B-VG auszudehnen, der nur infolge eines aufliegenden Redaktionsversehens nicht zitiert worden war. Auch die freieste Rechtswissenschaft ist nicht dazu berufen, Redaktionsversehen des Gesetzgebers zu berichtigen.

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setzeskraft eigens hiezu ermächtigt ist, zu ebenfalls gesetzlich bestimmten Maßnahmen auf Dauer der Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung mit Beschränkung auf einzelne Gemeinden eigene Bundesorgane zu ermächtigen. Diese sonderbare Ermächtigung ist schon gegenwärtig im Verwaltungswege insoweit anwendbar, als Bundes- oder Landesgesetze bestimmte Maßnahmen gegen die Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung vorsehen. Der durch Bundesgesetz zuständig erklärte Minister kann bei dieser Rechtslage an Stelle der im Sinne des Gesetzes zuständigen Organe eigenen Bundesorganen die Vorkehrung dieser Maßnahmen übertragen. Es kann z.B. der zuständige Minister - in diesem Falle ist es der Bundeskanzler - die Anwendung des Waffenpatentes in irgend einer Richtung - z.B. hinsichtlich einer bestimmten Gemeinde - an Stelle der zuständigen Behörde, etwa einer Bezirkshauptmannschaft oder einer Statutargemeinde einem eigenen Bundesorgan, z.B. dem Polizeipräsidenten von Wien, vorbehalten. Hingegen kann der Art. 102 Abs. 7 unter keinen Umständen einen Rechtstitel zur administrativen oder selbst auch legislativen Suspension von Grundrechten, z.B. zu einem generellen Versammlungsverbot, zur Einführung des Konzessionssystems für Vereine oder Versammlungen, zur Wiedereinführung der Pressezensur und dergleichen mehr abgeben. Es kann nicht zeitlich und entschieden genug einer Gesetzesauslegung entgegengetreten werden, die dem Ausnahmszustand in unserer Rechtsordnung Raum gibt und auf die sich eine Ausnahmspraxis berufen könnte. Dieselbe rückhaltlose Entschiedenheit, mit der ich in diesen Blättern in den Kriegsjahren 3 gegen die Überspannung des Ausnahmszustandes aufgetreten bin, ist gegen dessen neuerdings versuchte Wegbereitung am Platze: ,,Principiis obsta!"

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Vgl. meine Artikelserie „Die Verordnungsgewalt im Kriege 4', Juristische Blätter, 44. Jg. (1915), S. 375,387,509; 45. Jg. (1916), S. 397,409,493,505,517; 48. Jg. (1919), S. 337.

Die verfassungsgesetzlichen Grundlagen der Justiz im Deutschen Reiche Zu dem Werke „Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichs Verfassung" 1

Die rechtspolitische Forderung, die in der Parömie ,,iustitia fundamentum regnorum" zum Ausdruck kommt, wurde in den Staaten, die trotz Überganges zur republikanischen Staatsform auf eine Kontinuität der von der Frage der Staatsform unabhängigen rechtsstaatlichen Rechtsgrundlagen bedacht waren, aus der Monarchie in die Republik übernommen. So kommt es, daß sich die demokratisch-republikanische Staatengruppe mit mehr oder minder großer Entschiedenheit einen Satz des Inhalts ,,iustitia est fundamentum rerum publicarum" zu eigen gemacht hat, wogegen die bolschewistisch-faschistische Staatengruppe nicht zuletzt durch rücksichtslose Einsetzung der Justiz für augenblickliche staatspolitische Zwecke - eine Renaissance der Kabinettsjustiz - ihre Verwandtschaft mit dem noch nicht aufgeklärten polizeistaatlichen Absolutismus verrät. Es darf als ein Zeichen des weniger zerstörenden als vielmehr reformatorischen Grundzuges des Umsturzes in deutschen Landen angesehen werden, daß er die in den konstitutionellen Monarchien sichergestellte Rechtsstellung der Justiz nicht nur unangetastet gelassen, sondern auch in den neuen revolutionären Verfassungen verankert hat. Die österreichische Bundesverfassung und die deutsche Reichsverfassung enthalten bekanntlich eingehende Normativbestimmungen über die Justiz. Damit gehen diese

Gerichts-Zeitung, 82. Jg. (193i), S. 97-101. 1

Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, herausgegeben von Prof. Dr. Hans Carl Nipperdey, Verlag von Reimar Hobbing in Berlin. Erster Band: Allgemeine Bedeutung der Grundrechte und die Artikel 102-117,412 S.

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Verfassungen über den Mindestgehalt einer Verfassungsurkunde hinaus, denn eine solche kann sich darauf beschränken, Erzeugungsregel für die Gesetzgebung zu sein und es dieser überlassen, nach völlig ungebundenem Ermessen dit Justiz- und Verwaltungsnormen aufzustellen. Auch inhaltlich sind diese Normativbestimmungen bedeutungsvoll, denn ihre Grundtendenz hat mit dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur demokratischen Republik einen Richtungswechsel und damit einen Bedeutungswandel erfahren. 2 Die Absonderung der Gerichtsbarkeit von den übrigen Staatsfunktionen und die Sicherung ihrer Unabhängigkeit richtet sich nicht mehr gegen eine monarchische Autorität und die vom Vertrauen eines Monarchen getragene Regierung, sondern gegen das vom Volk gewählte Parlament mit der von dessen Vertrauen getragenen Regierung. Die Stärkung der Justiz bedeutet eine Schwächung der Gesetzgebung und Verwaltung, die Freiheit der Justiz setzt der Gesetzgebung oder Verwaltung Schranken. Wiederum ist es vor allem eine Forderung der von der Herrschaft ausgeschlossenen oder doch wenigstens der bei der Staatswillensbildung nicht entscheidenden Kreise, daß ihnen die Justiz sozusagen ein Lebensrecht gewährleiste, nur sind dies nun vor allem jene Kreise, vor denen in früherer Zeit die politisch Zurückgesetzten in der Rechtseinrichtung der richterlichen Unabhängigkeit Schutz gesucht haben. Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung der Rechtslage weisen die Normativbestimmungen über die Gerichtsbarkeit in der österreichischen und deutschen Verfassung doch bemerkenswerte Unterschiede auf. Unter diesen Umständen verdient die auf drei Bände angelegte Ausgabe eines monumentalen Kommentars zum zweiten Teil der Reichsverfassung mit ihrem ersten Band, der nebst anderen Beiträgen den Ideengehalt der auf die Gerichtsbarkeit bezüglichen Bestimmungen ausschöpft, in den Kreisen der österreichischen Richterschaft sowie in allen an der Justiz interessierten Berufskreisen besondere Beachtung. Übrigens darf jeder Jurist nach dem bisher Gebotenen dem fortsetzenden und abschließenden Bande des Werkes mit größter Spannung entgegensehen. Mit der Justiz befassen sich im vorliegenden Bande die Beiträge von Kammergerichtspräsident Dr. von Staff über Richter

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Diesen Bedeutungswandel, den unter anderen monarchischen Institutionen auch die richterliche Unabhängigkeit erfahren hat, habe ich bereits in meiner Broschüre „Demokratie und Verwaltung", Wien M. Perles 1923 eingehend beleuchtet. Hiezu auch mein „Allgemeines Verwaltungsrecht", Wien 1927, Verlag Springer.

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(Art. 102 bis 104 der Reichsverfassung), Professor Graf zu Dohna über Ausnahmsgerichte (Art. 105) und über Militärgerichtsbarkeit (Art. 106), von Professor Anschiitz über Verwaltungsgerichte (Art. 107), von Reichsgerichtsrat Mende über Staatsgerichtshof {Art. 108), von Professor Mannheim über Freiheitsschutz- und Wohnungsschutz (Art. 115), von Professor Gerland über „nulla poena sine lege u (Art. 116). Es ist vor allem erklärungsbedürftig, wieso die Analyse der Bestimmungen über die Justiz, die sich in der deutschen Reichsverfassung ebenso wie in der österreichischen Bundesverfassung im Rahmen des organisationsrechtlichen Teiles (unter dem Titel ,,Aufbau und Aufgaben des Reichs") finden, in einem Werke über die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung Platz findet. Die juristische Natur dieser Bestimmungen ist zweifellos die von Normativbestimmungen, durch welche die Justizgesetzgebung, im besonderen die Gesetzgebung über die Organisation der Gerichte, inhaltlich gebunden werden soll. Doch hat auch die Betrachtung solcher Bestimmungen in einem System oder Kommentar der Grundrechte einen guten Sinn. Dieser findet sich in dem Satze angedeutet: ,,Der Zweck der Bestimmung ist selbstverständlich der, einen Schutz für die Rechtsuchenden, und nicht der, ein Monopol für die Richter zu schaffen." (Staff, \ S. 57) Zweifelsohne verfolgt die Aufnahme von organisationsrechtlichen Bestimmungen über Justiz oder Verwaltung über die bloße Absicht hinaus, diese Staatsfunktionen in bestimmter, für die einfache Gesetzgebung bindender Weise zu organisieren, auch den Zweck, den Untertanen eine verfassungsrechtliche Gewähr für ein bestimmtes Funktionieren der Justiz und Verwaltung zu bieten. Vereinzelt finden sich sogar bekanntlich in der Reihe der organisationsrechtlichen Rahmenbestimmungen über die Gerichtsbarkeit echte subjektive Rechte von der Art der Grundrechte eingestreut, so z.B. der in fast allen Verfassungen, so auch im Art. 83 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes und Art. 105 der Reichsverfassung wörtlich übereinstimmend wiederkehrende Rechtssatz ,,Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden". Damit wird bekanntlich die Einhaltung der organisationsgesetzlich begründeten gerichtlichen Zuständigkeit zu einem verfassungsmäßig gewährleisteten Recht des Untertanen. Allerdings beschränkt sich begreiflicherweise das zitierte Werk nicht auf die Herausstellung der auf die Rechtspflege bezogenen Grundrechte, sondern kommentiert den Abschnitt über die Rechtspflege, unbekümmert um den juristischen Charakter seiner Bestimmungen, im Zusammenhange. 7 A. J. Mcrkl

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Für die Methode der im einzelnen sehr verschiedenartigen Beiträge zum Kapitel der ,,Rechtspflege" ist übereinstimmend die Haltung der neuesten Verfassungslehre zum Problem der Grundrechte bestimmend. Während bis vor kurzem die Rechtswissenschaft geneigt war, die Grundrechtskataloge als überwiegend juristisch irrelevant abzutun, hat die deutsche Rechtswissenschaft neuerdings geradezu erst die verfassungsgesetzlichen Grundrechtskataloge als Fundstätten vielfachen juristisch relevanten Inhaltes entdeckt und ist soeben daran, diesen bisher noch fast ungehobenen Schatz an Rechtssätzen aufzudecken. Vorbildlich für diese Richtung der neuesten deutschen Staatsrechtslehre ist der einführende Artikel unseres Werkes aus der Feder Professor Thoma's über „Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze", der mit der Sonde eines ungewöhnlich einfühlenden und tiefbohrenden Entdeckersinnes bisher ungeahnte Normierungsmöglichkeiten der Grundrechtskodifikationen und im besonderen den ungewöhnlich reichen Inhalt der Grundrechtskodifikation der deutschen Reichsverfassung aufschließt. Es war gewiß nicht überflüssig, der deutschen Juristenwelt den ideellen Besitz vor Augen zu führen, den sie in dem Katalog der Grundrechte und Grundpflichten der Weimarer Reichsverfassung besitzt. Politisch hat die nachstehende Auffassung des genannten hervorragenden deutschen Staatsrechtslehrers gewiß ihre Berechtigung, wenngleich sie juristisch auf Grund des geschriebenen Verfassungsbuchstaben vielleicht nicht eindeutig erweisbar ist: ,,Wenn die Zweidrittelmehrheit eines Reichstags sich aus politischer Leidenschaft einmal dazu hinreißen lassen sollte, unter Durchbrechung generell weitergeltender Grundrechtsnormen eine sogenannte bill of attainder zu beschließen oder eine bestimmte Tätigkeit der Gewissensfreiheit oder wissenschaftlichen Forschung zu unterdrücken, oder bestimmte politische Gegner einer administrativen Einkerkerung oder Verbannung zu unterwerfen, oder ein individuelles Privat vermögen zu konfiszieren, oder irgend eines der anderen Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit unter die Füße zu treten, die in der ganzen heutigen Kulturwelt - mit Ausnahme des Faschismus und des Bolschewismus - heilig gehalten werden, so würde ich dem Reichspräsidenten das Recht zugestehen, einen solchen Beschluß als verfassungswidrig zu behandeln." Man darf freilich in der Politik nicht so viel Konsequenz erwarten, daß diejenigen, denen das liberal-demokratische System der Grund- und Freiheitsrechte ungestörte Gelegenheit gibt, für antidemokratische Staatsformen in einer Weise Propaganda zu machen, die in Staaten ihres Ideales in Blut und Kerker erstickt werden würde, die Vorzüge der von ihnen bekämpften freien Regierungsweise anerkennen

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würden; die geschmähte Demokratie ist ihnen nur ein taugliches Mittel zu antidemokratischen Zielen. Anderseits muß ein konsequenter Demokrat von den berufenen Hütern der Demokratie erwarten, daß sie den Schutz der demokratischen Freiheitsrechte auch deren Gegnern nicht versagen, solange sich deren politische Propaganda im Rahmen der Gesetze bewegt. Von dem aufrechten Bekenntnis zu den demokratischen Freiheitsrechten, das in den zitierten schönen Worten ThomcC s ausgedrückt ist, sticht sicherlich die Haltung jener Regierungen, welche den Staatsbeamten die Teilnahme an einem politisch unerwünschten und sachlich vielleicht höchst unbegründeten Volksbegehren verwehrt haben, beträchtlich ab. Die Rechtsstellung des Richters, welcher der ausführlichste Artikel des in Rede stehenden Werkes aus der Feder des Kammergerichtspräsidenten von Staff gewidmet ist, stimmt zwar im Grundsätzlichen im Deutschen Reiche und Österreich überein, weicht aber doch in beiden Staaten in Einzelheiten voneinander ab. Die Unabhängigkeit des Richters mit ihren Garantien einer bedingungsweisen Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit steht und fällt mit einem Mindestmaß an liberal-demokratischen Staatseinrichtungen und steht somit in einem gedanklichen Zusammenhang zum Katalog der Grund-und Freiheitsrechte. Bildet die richterliche Unabhängigkeit zusammen mit den Grund- und Freiheitsrechten einen herkömmlichen, ja geradezu selbstverständlichen Bestandteil einer liberal-demokratischen Verfassung und selbst schon solcher Verfassungen, die dem liberal-demokratischen Prinzip ein Mindestmaß an Zugeständnissen machen wollen, so ist es das Zeichen jeder Diktatur, die Gerichte zu einem willigen Instrument des herrschenden politischen Systems oder der herrschenden politischen Partei zu machen; wahre richterliche Unabhängigkeit, die sich als ein Stück Freiheit in der Staatsorganisation darstellt, ist nur bei Herrschaft eines politischen Systems möglich, das vor der Freiheit, insbesondere vor der Meinungsfreiheit seiner Untertanen Respekt hat. Interessanterweise haben gerade jene Kreise, die das herrschende politische System ablehnen, mit dem Wandel der Staatsform die richterliche Unabhängigkeit, die ihnen vor den neuen Machthabern Schutz verleiht, schätzen gelernt und sind ihre entschiedensten Anwälte geworden. Aber auch die Vertreter des demokratischen Prinzips hätten allen Anlaß, die richterliche Unabhängigkeit gerade aus Treue gegenüber dem demokratichen Prinzip entschiedener festzuhalten und hochzuhalten, als es nach den 7*

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Angaben der sachkundigen Verfasser gelegentlich der Fall ist. Unser Gewährsmann will „gezeigt haben, daß die bestehende Reichsverfassung die sachliche Unabhängigkeit der Richter gewährleisten und sicherstellen wollte, daß dabei aber doch noch manche Zweifel und Lücken Übriggeblieben sind". Bei der Prüfung der persönlichen Unabhängigkeit müsse man sich überzeugen, „daß es mit ihr wesentlich schlechter bestellt ist" (S. 82). Dabei legt allerdings der Verfasser, dem bei seiner Forderung nach wirksamsten Garantien der richterlichen Unabhängigkeit gewiß recht zu geben ist, einen so ungewöhnlich strengen Maßstab an, daß in anderen Staaten, die sich beglückwünschen könnten, wenn sie die Forderung der richterlichen Unabhängigkeit so ernst nähmen, wie es im Deutschen Reich der Fall ist, Mißverständnisse über die wirkliche Stellung der Justiz im Reiche entstehen könnten. Es darf daher wohl auch ein österreichischer Beurteiler der Verhältnisse feststellen, daß nicht nur tatsächlich die deutsche Justiz im Gesamtkalkül weit davon entfernt ist, eine Dienerin der politischen Machthaber zu sein, sondern daß auch die deutsche Rechtsordnung Anhaltspunkte für eine solche Mißdeutung völlig vermissen läßt. Die Weimarer Verfassung spricht zwar allen Richtern die Unabhängigkeit zu, beschränkt jedoch die Gewähr der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit auf die Richter der ordentlichen Gerichte, so daß zum Beispiel die Mitglieder der Verwaltungsgerichte der Unabhängigkeit bestenfalls auf einfach gesetzlicher Grundlage teilhaftig sind. Bleibt somit die verfassungsgesetzlich gewährleistete richterliche Unabhängigkeit in ihrem Geltungsumfang gegenüber der österreichischen Verfassung durch die Beschränkung auf die ordentliche Gerichtsbarkeit zurück, so sind auch die sachlichen Schranken der richterlichen Unabhängigkeit nach der Reichsverfassung nicht so eindeutig vorgezeichnet, wie sie es in der Bundesverfassung (Art. 87) sind, dank dem Zusatz „ i n Ausübung ihres richterlichen Amtes" und der näheren Erklärung, wann sich ein Richter in Ausübung seines richterlichen Amtes befindet. Auch fehlt in der deutschen Reichsverfassung ein Gegenstück zu unserer Normativbestimmung (Art. 87 Abs. 3 B-VG), wonach die Geschäfte unter die Richter eines Gerichtes für die in der Gerichtsverfassung bestimmte Zeit im voraus zu verteilen sind. Dagegen ist in bezug auf die juristisch noch nicht voll und befriedigend gelöste Frage, in welcher Richtung sich die richterliche Unabhängigkeit äußert, die deutsche Reichsverfassung einläßlicher als die österreichische Bundesverfassung, indem sie die Richter für „unabhängig und nur dem Gesetz unterwor-

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fen" erklärt. Indes trägt dieser der österreichischen Verfassung fremde Zusatz kaum zur Klärung bei, denn die herrschende Auslegung glaubt annehmen zu müssen, daß der Richter, ebenso wie dem Gesetze auch den gesetzmäßigen Rechtsverordnungen und umso mehr einer dem Gesetze ebenbürtigen Rechtsquelle, wie dem Völkerrecht, unterworfen sei. Die Auffassung der Theorie und der Praxis ist also dieselbe wie in Staaten, deren Verfassungen den zitierten Zusatz nicht aufweisen, nur mit dem Unterschiede, daß die erwähnte herrschende Auffassung angesichts des Zusatzes in der Verfassung fragwürdig wird. Unser Gewährsmann erkennt eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit vor allem in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, ,,zumal wenn sie bei Ausübung ihrer... weitgehenden Befugnisse sich nicht streng in dem Rahmen ihrer Aufgaben halten". Für eine illegitime Einflußnahme politischer Faktoren könnte allerdings kaum die Verfassung verantwortlich gemacht werden. Noch mehr gilt dies von der von unserem Gewährsmann beklagten Beeinflussung der Gerichte, die von der Großmacht der Tagespresse ausgehe; es wäre denn, daß man die Gesetzgebung für die Duldung derartiger Einflüsse verantwortlich macht. Hinsichtlich der verfassungsgesetzlichen Gewähr der persönlichen Unabhängigkeit tadelt der Verfasser mit Recht die schon erwähnte Beschränkung auf die ordentliche Gerichtsbarkeit, womit die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit anderer als ordentlicher Richter vom Zufall einfacher Mehrheiten in den Landtagen abhängig gemacht ist, sowie den Ausschluß der verschiedenen Laienrichter von einer gleichartigen oder gleichwertigen verfassungsgesetzlichen Garantie, was die Möglichkeit mit sich bringe, daß die Unabhängigkeit der Gerichte durch das Überwiegen eines des persönlichen Schutzes richterlicher Unabhängigkeit entbehrenden Laienrichtertums gefährdet werden kann. Aber selbst die den ordentlichen Richtern eingeräumten Garantien der Unabhängigkeit, die im deutschen Reich fast dieselben wie in Österreich sind, findet der Verfasser und mit ihm wohl auch ein Großteil deutscher Richter für unzulänglich. Insbesondere zeigt es sich, daß die fast allenthalben vorgesehenen Ausnahmen von den Garantien der Unabhängigkeit, wie z.B. Pensionierungs- und Versetzungsmöglichkeit im Falle einer Veränderung in der Gerichtsverfassung, in deutschen Richterkreisen durchaus nicht als selbstverständlich gelten, sondern ernstlich angefochten sind. Die strenge Auffassung von der richterlichen Unabhängigkeit spiegelt sich unter anderem in einer Bemerkung, welche die Erinnerung an die Auflösung

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des österreichischen Verfassungsgerichtshofes wach werden läßt: „Eine Umgehung der Unabsetzbarkeit bzw. der Unversetzbarkeit stellt auch die Aufhebung des gesamten Gerichtshofes dar, dem die Richter angehören, deren Beseitigung die Staatsregierung wünscht, wenn dies zum Zweck ihrer Amtsentsetzung geschieht. Diesen Geniestreich hat 1824 sich der nordamerikanische Teilstaat Kentucky geleistet." Es blieb, wie man weiß, Österreich vorbehalten, im Jahre 1929 diesem entlegenen und wenig ruhmreichen Vorbild zu folgen. Die richterliche Unabhängigkeit ist durch jene Verfassungsbestimmungen, die sich ex professo mit ihr befassen, noch nicht genügend gesichert. Es ist dem Verfasser jedenfalls beizupflichten, daß die Art der RichterbeStellung für ihre Unabhängigkeit oder den Grad ihrer Abhängigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Mit Recht bemerkt der Verfasser, daß die Justizverwaltung auch ohne die Möglichkeit der beliebigen Versetzung und Absetzung eines Richters Mittel genug in der Hand habe, dem einzelnen Richter das Leben angenehm zu gestalten oder zu verbittern. Er beruft sich auch nicht ohne Grund auf Maurice Hauriou, der in seinem „Précis de droit constitutionel" bemerkt, die richterliche Unabhängigkeit sei tatsächlich nicht so viel wert, weil die Beförderung in der Hand der Exekutive liege. Nichtsdestoweniger steht der Verfasser, wohl im Einklang mit der großen Masse der deutschen Richter, aus naheliegenden Gründen bedenkenlos auf dem Boden der Richter ernewiung, die der Art. 102 der Reichs Verfassung als ausnahmsloses Berufungsprinzip für Richter - unter Ausschluß der in anderen Demokratien herrschenden Volkswahl der Richter - festgelegt hat. Es darf allerdings nicht verkannt werden, daß die Vorzüge der Richterernennung vor der Richterwahl in dem Maße geringer werden, je mehr sich politische Rücksichten bei der Ernennung und bei der Beförderung der Richter geltend machen, und daß bei einem hohen Grade der Politisierung der Justizverwaltung der Punkt eintreten kann, wo das offenliegende politische Ausleseprinzip der Volkswahl der mit dem Anspruch der Unparteilichkeit auftretenden, aber ganz und gar politisch orientierten Ernennung vorzuziehen sein kann. Es ist ja selbstverständlich, daß in einer Diktatur nur der Anhänger oder Liebediener der herrschenden Partei im Ernennungswege einen Richterposten zu erwarten hat; eine ähnliche Situation kann aber bei einer rücksichtslosen Ausnützung des Besitzes der Herrschaft auch in einer Demokratie eintreten. Die große Aufgabe der Politik, Mittel zur Vermeidung des Mißbrauches der Macht einzusetzen, kann nicht überall und allezeit mit

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gleichen Methoden gelöst werden. Einen rühmens- und nachahmenswerten Versuch, unsachliche politische Einflüsse bei der Richerernennung nach Möglichkeit auszuschalten, stellt bekanntlich die Bestimmung des Art. 86 B-VG dar, der den ordentlichen Gerichten, wie übrigens auch dem Verwaltungsgerichtshofe (zum Unterschied vom Verfassungsgerichtshofe) das Recht einräumt, für die Richterernennung Besetzungsvorschläge zu erstatten; die Richterschaft ha ja ein begreifliches Standesinteresse daran, das Niveau des Richterstandes nicht durch parteipolitische Personalpolitik zu beeinträchtigen, während man ein gleiches Interesse am Standesansehen der Richterschaft und am Range der Rechtsprechung nicht bei jeder Justizverwaltung erwarten darf. Wenn die deutsche Reichsverfassung die Gewährung eines gleichartigen Vorschlagsrechtes an die Richterschaft vermissen läßt, so trägt dieser Mangel nicht unbeträchtlich zu dem Gesamtkalküle bei, daß die Garantien der Rechtstellung des Richters gemäß der österreichischen Verfassung vor den analogen Garantien der deutschen Reichs Verfassung den Vorzug verdienen. Die Bestimmungen über Ausnahmsgerichte und Militärgerichtsbarkeit, über die zwei feinsinnige Beiträge von Prof. Graf zu Dohna berichten, stimmen in den beiden Verfassungen in der Hauptsache ebenfalls überein, weichen aber wieder in Einzelheiten ab. Während die österreichische Verfassung (Art. 83 Abs. 3 B-VG) Ausnahmsgerichte nur in den durch die Gesetze über das Verfahren in Strafsachen geregelten Fällen für zulässig erklärt, schließt die deutsche Reichs Verfassung (Art. 105) Ausnahmsgerichte schlechthin aus, erhält jedoch die gesetzlichen Bestimmungen über Kriegsgerichte und Standgerichte ausdrücklich aufrecht. Die österreichische Verfassung gibt mithin der strafprozessualen Einführung von Ausnahmsgerichten einen größeren Spielraum als die deutsche. Die Militärgerichtsbarkeit wurde von der österreichischen Verfassung, getreu ihrer fast ausnahmslosen Tendenz, ihre Prinzipien unmittelbar wirksam zu machen, mit sofortiger Geltung aufgehoben (Art. 84 B-VG). Die Reichsverfassung (Art. 106) gibt der einfachen Gesetzgebung lediglich die Direktive: ,,Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe." Da die Gesetzgebung dieser Direktive bereits entsprochen hat, stimmt die Rechtslage in Österreich und im deutschen Reiche (abgesehen von der für das Reich allein in Frage kommenden Militärgerichtsbarkeit an Bord) überein. Zum Unterschied von der österreichischen Verfassung hat die deutsche Reichsverfassung ausdrücklich die militäri-

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sehen Ehrengerichte aufgehoben (Art. 5), woran der Verfasser scharfe Kritik übt. Bei aller Achtung vor dem grundsätzlichen Standpunkt des Verfassers und ohne jedes grundsätzliche Ressentiment gegen die Einrichtungen der vorrevolutionären Zeit darf doch vielleicht in der Haltung der deutschen militärischen Ehrengerichte, die z.B. Handküsse eines deutschen Feldmarschalls auf die zum Kusse dargereichte Hand seines obersten Kriegsherrn mit der Mannesehre eines deutschen Offiziers für vereinbar fanden, dagegen etwa die Eheschließung eines Offiziers mit einer tadellosen berufstätigen Frau für unvereinbar hielten, ein Erklärungsgrund erblickt werden, der die verfassungsmäßige Abschaffung solcher unzeitgemäßer Ehrengerichte verständlich macht. Freiheitsschutz und Wohnungsschutz - in der Terminologie der österreichischen Verfassung „Freiheit der Person" und „Hausrecht" - stimmen so weitgehend in beiden Verfassungen überein, daß nähere Ausführungen darüber an der Hand der überaus tiefgründigen Artikel Mannheims und Koettgens erübrigen. Der Staatsgerichtshof des Deutschen Reichs, dem Reichsgerichtsrat Dr. Mende seinen Beitrag widmet, ist mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof nur entfernt vergleichbar. Insbesondere fehlt ihm das Recht zur Gesetzesprüfung und -aufhebung, nebst einer Reihe weiterer Kompetenzen des ungewöhnlich kompetenzenreichen österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Organisatorisch ist bekanntlich der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches ein Annex des Reichsgerichtes. Funktionell ist der Staatsgerichtshof ein öffentlich-rechtliches Sondergericht mit disparaten Kompetenzen. Das Recht der Gesetzesprüfung, zu dem der Beitrag Staffs Stellung nimmt, steht im Reiche nach der herrschenden Theorie und Praxis (für die namentlich die Entscheidung des Reichsgerichtes vom 4. November 1925, RGZS, Bd. 3, S. 322 ff., Zeugnis ablegt) den ordentlichen Gerichten zu, allerdings mit der Maßgabe, daß das einzelne Gericht im konkreten Falle, in dem die Anwendbarkeit des Gesetzes fraglich wird, es im Falle der Annahme seiner Verfassungswidrigkeit unangewendet läßt. Wie zweifellos diese Kompetenz der Gerichte ist, so anfechtbar erscheint allerdings ihre reichsgerichtliche Begründung. Diese geht dahin, daß es eine Instanz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze geben müsse; da keine andere Behörde dazu geschaffen sei, so stehe die Prüfung eben den Gerichten zu. In der Erörterung der Vorteile und Nachteile, die Kompetenz zur

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Gesetzesprüfung in einem Sondergerichtshof zu zentralisieren, verweist der Berichterstatter (Staff) auf das Vorbild von Mexiko und Rumänien; das näherliegende Vorbild des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, das übrigens der deutschen Juristenwelt durch die Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 5 (,, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit"), nähergebracht worden ist, scheint dem Verfasser entgangen zu sein. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (gemäß Art. 107 Reichs Verfassung) ist Gegenstand eines Artikels des Prof. Gerhard Anschiitz, der als ein Kabinettstück der Darstellungskunst dieses deutschen Publizisten anzusprechen ist. Es ist vielleicht hiezu die eine Feststellung gestattet, daß die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit mangels des Ausbaues des im Art. 107 der Reichsverfassung verheißenen Reichsverwaltungsgerichtes und infolge der üblichen kasuistischen Begrenzung der Landesverwaltungsgerichtsbarkeit nach der Enumerationsmethode einen unfertigen Eindruck macht. Der Mangel einer instanzmäßigen Gliederung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit wird hingegen nicht bloß dadurch ausgeglichen, daß in sämtlichen Verwaltungsrechtssachen nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges die verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle zu Gebote steht, sondern daß seit der Verwaltungsreform des Jahres 1925 auch das allgemeine Verwaltungsverfahren in Österreich der Partei einen Rechtsschutz bietet, der kaum in einem Punkte hinter den Garantien des deutschen Verwaltungsstreitverfahrens zurücksteht. Im übrigen liegt die Materie dem Interessenkreise der Justizinteressenten so ferne, daß im Rahmen dieser Zeitschrift auf die in Frage stehende Materie nicht näher eingegangen werden kann. Im ganzen gibt das Werk zu allen grundlegenden Problemen der Justiz so ungewöhnlich reiche Anregungen und eröffnet einen so tiefen Einblick in die einschlägige Rechtslage im Reiche mit deren Vorzügen und Nachteilen im Vergleiche mit den analogen österreichischen Rechtseinrichtungen, daß das Werk jedem an der Justiz Interessierten nicht nachdrücklich genug empfohlen werden kann.

Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929 Früher und einschneidender als die anderen nach dem Umsturz auf deutschem Boden entstandenen Verfassungen ist die österreichische Bundesverfassung vom I. Oktober 1920 Gegenstand von Reformplänen und Reformen geworden. Nach der ersten Verfassungsnovelle vom 30. Juli 1925, die an zahlreichen Stellen des vor nicht ganz fünf Jahren in Kraft getretenen Bundes-Verfassungsgesetzes, ja insbesondere an dessen damals noch nicht in Kraft getretenen Kompetenzbestimmungen Änderungen vorgenommen hat, welche in der Hauptsache der Verfassung ein verstärktes unitarisches Gepräge gaben, ohne jedoch an deren Grundlagen zu rühren, versuchte der im Herbst 1929 von der Bundesregierung im Nationalrat eingebrachte Entwurf einer Verfassungsnovelle geradezu grundstürzende Änderungen, die bei Aufrechterhaltung der republikanischen Staatsform die Regierungsform aus der radikalsten parlamentarischen Demokratie der Erde in eine unbeschränkte Mehrheitsdiktatur mit den äußeren Formen einer Präsidentschaftsrepublik, jedoch mit auffälligem zäsaristischen Einschlag, umgewandelt haben würden. Das Ergebnis des um diesen Regierungsentwurf entbrannten Verfassungskampfes war das ,,Bundesverfassungsgesetz vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 392, betreffend einige Abänderungen des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 (Zweite Bundes-Verfassungsnovelle)", und das,,Bundesverfassungsgesetz vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 393, betreffend Übergangsbestimmungen zur Zweiten BundesVerfassungsnovelle". Diese beiden Reformgesetze haben das Reformprogramm der Regierungsvorlage zwar so beträchtlich abgeschwächt, daß von grundlegenden Forderungen des im Nationalrat eingebrachten Entwurfes zum Teil nur programmatische Ansätze Übriggeblieben sind, haben jedoch immerhin eine wesentlich weitergehende rechtliche Tragweite als die erste Verfassungsnovelle von 1925 und bedeuten wenngleich keinen grandie gen-

Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 10(1931), S. 161-212.

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den Wandel der Staats- und Regierungsform, so doch eine Abschwächung des vormaligen radikal-parlamentarischen Systems in der Richtung der Präsidentschaftsrepublik und eine Absclileifung radikal-demokratischer Spitzen der früheren Verfassung. Die Verfassungsreform trat nach den erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage und nach ergänzenden regierungs- und parteioffiziösen Kommentaren mit dem Anspruch auf, die Grundlagen der - bekanntlich von den Trägern der letzten Reform geforderten und verwirklichten - Bundesverfassung beizubehalten und nur in jenen Richtungen, die durch eine behauptetermaßen mißbräuchliche Nutzanwendung verdunkelt waren, reiner durchzuführen. Das gilt namentlich von dem grundlegenden politischen Prinzip der Bundesverfassung, nämlich der Demokratie, die - in der vermeintlichen Richtung ihrer Idee - aus einer bloß formalen in eine organische Volksherrschaft übergeführt werden sollte. Diese konservative Geste der Verfassungsreformbewegung, die indes schwerlich durch den ursprünglichen Reformentwurf, ja nicht einmal ganz durch die vorliegenden Reformgesetze gerechtfertigt wird, war nicht nur durch die Tatsache geboten, daß die Träger des Reformgedankens gerade im konservativen Lager zu finden waren und gerade der stärkste grundsätzliche Konservativismus mit dem radikalsten Reformismus gepaart war, sondern im besonderen auch durch die Tatsache, wie sich dieser Konservativismus seinerzeit auf die nach seiner Behauptung nunmehr so grundlegend reformbedürftige Bundesverfassung festgelegt hatte, die in ihren Grundlagen seine Idee und sein - wenngleich durch die Opposition nicht wenig beeinflußtes - Werk gewesen war. Es sei nur der eine bezeichnende Ausspruch des Berichterstatters des Verfassungsausschusses über den Entwurf der Bundesverfassung, Prof. Dr. Seipel zitiert, der in seinem Berichte in der hundertsten Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung am 29. September 1920 (stenographisches Protokoll, Seite 3375) am Eingang seiner sachlichen Ausführungen erklärte: ,,Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß."1

1 In der Verfassungsentwicklung Österreichs hat die Demokratie bezeichnenderweise ihre Schützer gewechselt. Während in der Zeit, da die Gefahr der bolschewistischen Diktatur drohte, gerade rechtsstehende Politiker an ihrer demokratischen Gesinnung nicht zweifeln und an den demokratischen Einrichtungen nicht rütteln lassen wollten, haben nach der Wendung der Machtverhältnisse zur Zeit der Möglichkeit einer faschistischen Diktatur auch solche Linksmänner ihre unbedingte Treue und Liebe zur Demokratie entdeckt, die vordem

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Diese programmatische Erklärung macht es begreiflich, daß auch die Verfassungsreform des Jahres 1929 mit dem Prätexte der Sicherung oder der reineren Realisierung der Demokratie aufgetreten ist und alle ihre weittragenden Forderungen aus dem gewiß dehnbaren Begriff der Demokratie ausgedeutet worden sind. Wenn sich im übrigen Vertreter der Reform auf ihre angeblich schon früher ablehnende Haltung gegen die Bundesverfassung im ganzen oder gegen einzelne Teile derselben berufen haben und wenn insbesondere mir jene gegen den Entwurf der Bundesverfassung erhobenen,, Vorbehalte" entgegengehalten wurden, 2 so sei aus der vorzitierten Rede des Berichterstatters nur so viel festgestellt, daß sich diese Vorbehalte ausschließlich auf den Mangel einer Kodifikation der Grundrechte, einer Regelung der Kompetenzen und einer Regelung der finanziellen Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern bezogen haben. Während die letzterwähnte gesetzgeberische Arbeit im Finanzverfassungsgesetz des Jahres 1922 beschlossen liegt, sind die beiden ersten gesetzgeberischen Arbeiten bisher ungeschehen geblieben, insbesondere auch durch die Verfassungsreform des Jahres 1929 weder bewerkstelligt noch auch nur versucht worden. Keine einzige Bestimmung des Regierungsentwurfes und der Verfassungsnovelle selbst trägt den bei der parlamentarischen Verabschiedung des Bundes-Verfassungsgesetzes vom Berichterstatter gemachten ,,Vorbehalten" Rechnung, so daß die jüngste Verfassungsreform, wie gerechtfertigt sie aus anderen Gründen sein mag, keinesfalls durch die im Jahre 1920 gemachten,, Vorbehalte" gerechtfertigt werden kann. Die Verfassungsreform erklärt sich einfach aus der Tatsache, daß die in die Bundesverfassung gesetzten Erwartungen ihrer Initiatoren enttäuscht worden sind und daß im vergangenen Jahre die Machtlage zugunsten der parlamentarischen Mehrheit sich in der Weise gestaltet hatte, daß die durch die Erfahrungen während der fast zehnjährigen Handhabung der Bundesverfassung laut

die Demokratie nur bedingt bejahten, daneben aber für die blutrünstigste und kulturfeindlichste Diktatur der Gegenwart (in Rußland) Verständnis und Sympathien übrig hatten. Es ist für die Demokratie kein schlechtes Zeugnis, daß sie die Verteidigungsstellung der jeweils politisch Schwächeren ist. Die Berufung des ständischen Faschismus auf die Demokratie ist allerdings ebenso unangebracht wie die Behauptung des Bolschewismus, daß er die wahre Demokratie verwirklicht habe; beide Staatsformen sind bestenfalls Zerrbilder der Demokratie, die freilich mit der parlamentarischen Form nicht wesensnotwendig verknüpft ist. 2

Seipel, Der Kampf um die Österreichische Verfassung, S. VIII.

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gewordenen politischen Forderungen der Mehrheitsparteien wenigstens teilweise verwirklicht werden konnten. Die politischen Leitgedanken der Reformbewegung, die in der Verfassung einen mehr oder minder deutlichen Niederschlag gefunden haben, zielten im einzelnen darauf ab, das Staatsoberhaupt zu heben und das Parlament zu schwächen, ferner den Bund überhaupt auf Kosten der Länder zu stärken, sodann die sogenannte Staatsgewalt zu steigern, endlich die Verfassung nach Möglichkeit überhaupt und insbesondere die Verfassungsgarantien zu entpolitisieren. Dieses verfassungspolitische Programm ist rechtstechnisch in einer Kompetenzerweiterung des Bundespräsidenten auf Kosten des Nationalrates, in einer Unitarisierung der rechtlichen Beziehungen zwischen Bund und Ländern, in Durchbrechungen des Rechtsstaates, endlich in einer Neuordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechnungskontrolle zum Ausdruck gekommen. Die weiteren Reformpläne, die auf eine Ergänzung der parlamentarischen Vertretung durch eine Ständevertretung, eine Neuordnung der Ländervertretung, insbesondere Ersetzung des gegenwärtig die Zusammensetzung des Bundesrates beherrschenden geometrischen durch das arithmetische Gleichheitsprinzip, endlich die capitis diminutio des Landes Wien zu einer sogenannten bundesunmittelbaren Stadt hinausgelaufen waren, wurden teils nur andeutungsweise, teils in einem bloßen, der Rechtsverbindlichkeit ermangelnden Programm, teils überhaupt nicht gesetzgeberisch zum Ausdruck gebracht.3 Stärkung des Bundespräsidenten und Schwächung des Nationalrates Mehr als ein bloßer Schönheitsfehler der Bundesverfassung von 1920 war die unverhältnismäßige Dimensionierung der beiden obersten Staatsorgane, die immer wieder miteinander in Vergleich gestellt zu werden pflegen und deren außerordentlicher Abstand hiedurch dem öffentlichen Bewußtsein immer lebendig blieb. Wir meinen die Rechtsstellung des Nationalrates als

Die redaktionstechnischen Mängel der Verfassungsnovelle, die im folgenden nur teilweise erwähnt sind, fallen viel weniger dem im allgemeinen sehr gut redigierten Regierungsentwurf, als der unter dem Druck politischer Pressionen stehenden und überlasteten parlamentarischen Beratung zur Last.

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des Trägers der zentralen Gesetzgebung im Vergleiche mit der des BundesPräsidenten als des Staatsoberhauptes. Die Bundesverfassung hatte sich nicht genug tun können, auf den Nationalrat Kompetenzen zu häufen, wie sie zum Teile keinem Parlament der Erde eigen sind, z.B. die Verfügung über die bewaffnete Macht und eine Kontrolle über die Regierung von der Art, daß ein Mißtrauensvotum automatisch die Enthebung der nicht genehmen Regierung oder des nicht genehmen Ministers auslöst. Dagegen hatte dieselbe Verfassung den Bundespräsidenten auf ein solches Minimum an Kompetenzen beschränkt und seine Initiative derart in Fesseln gelegt, daß durch die rechtlichen Attribute des Bundespräsidenten nur mit knapper Not das Existenzminimum eines als Staatsoberhaupt zu bezeichnenden Organes erfüllt war. Wenngleich man mit Recht festgestellt hat, daß in der zehnjährigen Praxis der Bundesverfassung die Kompetenzen des Bundespräsidenten durchaus nicht voll ausgeschöpft worden sind, konnte damit eine weitere Beibehaltung des bisherigen Kompetenzenstandes nicht gerechtfertigt werden, weil es von der Persönlichkeit des Bundespräsidenten abhängt, wieweit er von seinen verfassungsrechtlichen Handhaben Gebrauch macht, und man wohl jedem Staatsoberhaupt eine gewisse Spannung zwischen seinen potentiellen Wirkungsmöglichkeiten und seiner aktualisierten staatspolitischen Leistung zubilligen muß. Durch das erwähnte Mißverhältnis zwischen der Stellung des Nationalrates und des Bundespräsidenten war somit unabhängig von allen parteipolitischen Wünschen ein Stein des Anstoßes in die Verfassung gelegt, der, sobald sich genügend starke politische Kräfte an ihm stießen, eine Verfassungsreformbewegung auslösen mußte. In der Tat wurde das Verhältnis zwischen Nationalrat und Bundespräsidenten der Angelpunkt der Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929. Daß hier der locus minoris resistentiae und der Gegenstand eines sachlichen Reformbedürfnisses gelegen war, zeigen die Reformgesetze, indem sie an diesem Punkte die radikalen Reformvorschläge der Regierungsvorlage geradezu widerstandslos, weitergehend als alle anderen Reformpläne, verwirklicht haben. Der Nationalrat war nach der bisherigen Verfassung ewig, weil unsterblich. Nicht nur der natürliche Ablauf der Gesetzgebungsperiode, sondern auch die Selbstauflösung haben seiner Funktion kein starres Ziel gesetzt, denn er blieb im Amte und funktionsbereit, bis ihn sein Nachfolger, der neu gewählte Nationalrat, ablösen konnte. So wie die Monarchie den Monarchen, hatte die Republik die Volksvertretung gewissermaßen zum erblichen

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und unabsetzbaren Potentaten erhoben. Um so weniger als auf die Existenz konnte auf die Funktion des Nationalrates ein außenstehender Faktor Einfluß nehmen. Es ist in der Idee ein ungeheurer Wurf, mit dem die Verfasssungsnovelle den Nationalrat aus dieser schier unnahbaren Höhe in eine Sphäre gebannt hat, in der er mit andern demokratischen Parlamenten auf einer Stufe steht. Der Bundespräsident wurde vor allem ermächtigt, den Nationalrat aufzulösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Dieses Auflösungsrecht erlangt erst dadurch seine volle praktische Bedeutung, daß der Bundespräsident zugleich auch zur Bestellung der Regierung berufen wurde. Da ihm keineswegs verwehrt ist, eine Regierung zu bestellen, die ihm, jedoch nicht der Mehrheit des Nationalrates genehm ist, ist ihm mit Hilfe einer Regierung seines Vertrauens die Möglichkeit gegeben, den Nationalrat selbst gegen den Willen seiner Mehrheit aufzulösen. Die praktische Bedeutung dieses Auflösungsrechtes braucht nicht einmal so sehr in seiner tatsächlichen Anwendung zu liegen, es dürfte vielmehr unter Umständen schon die Möglichkeit der Auflösung auf das Verhalten der Parlamentsmehrheit oder -minderheit, gegen die sich die Auflösung kehren würde, bestimmend wirken. So gibt das Auflösungsrecht dem Bundespräsidenten eine legitime Handhabe, in den Betrieb der Gesetzgebung einzugreifen. Die Regierungsvorlage hatte sich allerdings mit diesem bloßen Auflösungsrecht nicht begnügt, sondern es auch dem Ermessen des Bundespräsidenten anheimgestellt, ob und wann eine Neuwahl des Nationalrates stattzufinden habe. Die Verfassungsnovelle vermeidet jedoch, auf diese Weise den Weg zu einer verfassungsmäßigen Diktatur zu eröffnen, sondern verpflichtet die Bundesregierung, für den Fall der Auflösung die Neuwahl so anzuordnen, daß der neugewählte Nationalrat längstens am 90. Tage nach der Auflösung zusammentreten kann. Das ist zwar im Vergleiche mit der Weimarer Verfassung ein reichlich großer Spielraum für die Wahl, aber doch auch wieder eine eindeutige Vorkehrung gegen die verfassungsmäßige Etablierung einer Diktatur. Die Permanenz des Parlamentes äußerte sich bisher nicht nur in der Erstreckung der Gesetzgebungsperiode bis zur Wahl des neuen Parlamentes, sondern in der ununterbrochenen Funktion des gewählten Parlamentes, dessen Gesetzgebungsperiode eine einzige Sitzungsperiode bildete. Eine weitere Neuerung der Verfassungsnovelle besteht nun in der obligatorischen Gliederung der Gesetzgebungsperiode in normalerweise acht Sitzungsperioden. Diese Gliederung der Funktion des Parlamentes gab Gelegenheit, auch im Laufe der Gesetzgebungsperiode dem Bundespräsidenten Einfluß

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auf den parlamentarischen Betrieb zu eröffnen. Denn der Bundespräsident ist es, der den Nationalrat zu seinen einzelnen Tagungen einberuft; zur Frühjahrstagung, die mindestens zwei Monate beträgt und nicht länger als bis zum 15. Juni währen soll, und zur Herbsttagung, die mindestens vier Monate beträgt und die nicht vor dem 15. Oktober beginnen soll, ist der Bundespräsident den Nationalrat einzuberufen verpflichtet, wobei ihm die angegebenen Termine bezüglich des Zeitpunktes des Tagungsanfanges eine gewisse Ermessensfreiheit lassen; zu außerordentlichen Tagungen darf der Bundespräsident den Nationalrat nach freiem Ermessen einberufen; er ist ihn auch einzuberufen verpflichtet, wenn es die Bundesregierung oder mindestens ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates, des Länderrates oder des Ständerates verlangen. Die Termine der Tagungen sind, wie sich zeigt, sehr beweglich gehalten, nur ihre t//iterschreitung, nicht ihre Überschreitung ist verfassungswidrig. Der Tagungsablauf hat keine andere juristische Bedeutung, als daß die Tätigkeit des Nationalrates ruht, um in der neuen Tagung nicht etwa von vorne begonnen werden zu müssen, sondern dort fortgesetzt zu werden, wo sie in der abgelaufenen Tagung abgebrochen wurde. Auf den Genuß der Immunität und der Entschädigung hat der Tagungsschluß keinen Einfluß. Mangels einer juristischen Bedeutung der Neuerung kann mithin die Einführung von Tagungen nur die eine politische Funktion haben, den Bundespräsidenten fortlaufend am parlamentarischen Leben zu beteiligen, da die gelegentlich aufgestellte Behauptung, die Einschaltung von Ruhepausen im parlamentarischen Betrieb diene der Befriedung des Landes, von der doch wohl übertriebenen Voraussetzung ausgeht, daß der Nationalrat das Haupt aller Unruhestifter sei. Durch die schon erwähnte Kompetenz der Bundesregierung und ferner je eines Drittels der Mitglieder des Nationalrates, des Länder- und des Ständerates, in einer für den Bundespräsidenten maßgeblichen Weise eine außerordentliche Tagung des Nationalrates zu verlangen, ist dafür Vorsorge getroffen, daß das parlamentarische Leben nicht gegen den Willen anderer oberster Bundesorgane, ja selbst nicht einmal gegen den Willen einer parlamentarischen Minderheit, still steht. Die Vertagung des Nationalrates darf der Bundespräsident überhaupt nicht aus eigener Initiative oder auf Vorschlag der Bundesregierung, sondern nur auf Grund eines Beschlusses des Nationalrates aussprechen. Die Vertagung ist mithin ein Akt, der nur durch Willensübereinstimmung zwischen dem Nationalrat, dem Bundespräsidenten und der zum Vorschlag und zur Gegenzeichnung berufenen Bundesregierung zustande kommen kann. Der Sinn dieser neuen Kompetenz des Bundespräsidenten ist also, daß 8 A. J. Mcrkl

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er die Beendigung der Tätigkeit des Nationalrates verhindern, nicht aber außer dem Falle der Auflösung - erzwingen kann. Nicht gerade auf eine Schmälerung des Nationalrates, wohl aber auf eine gewisse eng begrenzte Schmälerung seiner Basis im Volke laufen die Wahlrechtsänderungen der Verfassungsnovelle hinaus. Aktiv wahlberechtigt sind nunmehr die österreichischen Bundesbürger, die das 21. Lebensjahr vollendet haben. Der Stichtag, von dem das Wahlalter zu berechnen ist, wird durch die Regelung der ständigen Wählerverzeichnisse näher bestimmt. Die Grundlage für die Durchführung von Wahlen, Volksabstimmungen und Volksbegehren bilden ständige Wählerverzeichnisse; diese sind von den Gemeinden, sofern aber Gemeinden zum örtlichen Wirkungskreis einer Bundespolizeibehörde gehören, von dieser unter Mitwirkung der Gemeinde anzulegen und allährlich am 1. Januar und am 1. Juni durch einen Monat zur allgemeinen Einsicht aufzulegen. Als Stichtag für die Beurteilung der Wahlrechtserfordernisse hat jeweils der letzte Tag der Auflagefrist zu gelten. Wahlberechtigt ist somit nur der, der im Wählerverzeichnis verzeichnet ist; das Wahlalter ist in der Weise begrenzt, daß man bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen am 31. Januar oder am 30. Juni das 21. Lebensjahr vollndet haben muß, um in einem Wahlgang vor dem nächsten Stichtag wahlberechtigt zu sein. Eine Beschränkung der Allgemeinheit des Wahlrechtes kann indes in dieser bescheidenen Erhöhung des Wahlalters nicht erblickt werden, denn sie schließt sich im großen und ganzen der Grenze der Eigenberechtigung an; wie im allgemeinen bedeutet nun auch hinsichtlich des Wahlrechtes der Eintritt der Großjährigkeit jenen Zeitpunkt, von dem vermutet wird, daß der Staatsbürger jene körperliche, geistige und sittliche Reife erreicht habe, die ihn gerade nach demokratischer Auffassung zur Teilnahme an der Staatswillensbildung befähigen muß. Ziffernmäßig einschneidender, aber praktisch viel weniger bedeutsam ist die Erhöhung des Wahlalters für das passive Wahlrecht; dieses Wahlalter ist nicht mit der Auflegung der Wählerlisten in Zusammenhang gebracht, sondern auf einen einzigen fixen Tag in der Weise abgestellt, daß jeder Wahlberechtigte mit dem 1. Januar des Jahres wählbar wird, in dem er das 30. Lebensjahr vollendet. Bemerkenswerterweise eröffnet die Verfassungsnovelle auch die Handhabe für eine Erweiterung des Wahlrechtes in der Richtung, daß auch Ausländer vom Wahlgesetze mit aktivem und passivem Wahlrecht ausgestattet werden können. Es wird nämlich der Regelung durch das Bundesgesetz über die Wahlordnung anheimgestellt, ob und unter welchen Voraussetzungen auf Grund staatsvertraglich gewährleisteter Gegenseitigkeit auch

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solchen Personen, die nicht die Bundesbürgerschaft besitzen, das Wahlrecht zusteht. Die Ermessensfreiheit der Wahlordnung ist also bei Einführung dieser Neuerung in der Richtung beengt, daß von dem Staate, dessen Bürgern in Österreich das Wahlrecht zustehen soll, den Österreichern das gleiche Wahlrecht wie den eigenen Staatsbürgern vertragsmäßig verbürgt sein muß. Diese Bestimmung zielt offenbar darauf ab, so wie es schon die erste Wahlordnung der österreichischen Republik vorgesehen hatte, den deutschen Reichsbürgern in Österreich das Wahlrecht zu verschaffen. In ihrer gegenwärtigen Fassung ist indes diese Bestimmung ein bloßes vorsichtiges Programm, das erst der Durchführung durch Gesetz und Staatsvertrag bedarf, um ins Leben zu treten. Die Wahlpflicht kann in Hinkunft durch Landesgesetz unmittelbar für den Nationalrat eingeführt werden. Mit der planmäßigen Schwächung des vordem übermächtigen Nationalrates hängt auch eine echte organisatorische Neuerung zusammen. Die Verfassungsnovelle führt nämlich einen neuen obligatorischen Ausschuß des Nationalrates ein, der sich seiner Zusammensetzung nach als ein Unterausschuß des Hauptausschusses darstellt (Art. 55 Abs. 2 B-VG). Der Hauptausschuß hat die Mitglieder dieses ständigen Unterausschusses nach dem Grundsatz der Verhältniswahl zu wählen, wobei jedoch jede im Hauptausschuß vertretene Partei den Anspruch hat, durch mindestens ein Mitglied auch im Unterausschuß vertreten zu sein. Dieser Unterausschuß ist seiner tatsächlichen Zusammensetzung nach, wie es sich für einen Parlamentsersatz geziemt, ein Parteiführerkollegium. Er ist nämlich in der Hauptsache dazu bestimmt, auf Initiative der Bundesregierung und mit nachträglicher Zustimmung des Bundespräsidenten jene vereinfachten Gesetze zu beschließen, die die Verfassung im Einklang mit dem im ursprünglichen Entwurf vorgesehenen Entstehungsweg als ,, Verordnungen des Bundespräsidenten" bezeichnet. Der ständige Unterausschuß verdankt also der Einführung einer ,,Notgesetzgebung", die trotz Beteiligung eines Organes des Nationalrates einen Weg zur Erzeugung gesetzeskräftiger Verordnungen darstellt, seine Entstehung. Außer dieser Supplierung des Nationalrates auf dem Wege der Notgesetzgebung vertritt der Unterausschuß den Nationalrat und den Hauptausschuß in allen den Kompetenzen, die einen Anteil an der Vollziehung bedeuten, während der Zeit von der Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten bis zum Zusammentreten des neugewählten Nationalrates mit derselben Rechtswirkung, als ob der Nationalrat oder sein Hauptausschuß die Beschlüsse faßte.

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Eine letzte organisatorische Neuerung betrifft die Immunität der Nationalratsmitglieder. Auch in diesem Punkte handelt es sich um die Zurückdrängung einer Vormachtstellung des Parlamentes und des Parlamentariers. Die Immunität ist ihrer Idee nach eine rechtliche Schutzvorkehrung, dazu bestimmt, die unbeeinflußte und rückhaltlose Ausübung des Mandates zu sichern. Eine solche Schutzvorkehrung setzt einen dem Parlamente und dem Parlamentarier überlegenen Gegenspieler voraus, von dem der Mandatsausübung des Parlamentariers Hemmnisse erwachsen können. Bei Herrschaft des extremen Parlamentarismus hat die Einrichtung der Immunität ihren Sinn verloren, soweit nicht etwa die gleichen Gefahren wie in der konstitutionellen Monarchie von Seiten der Regierung dem ganzen Parlament, so in der extremen Demokratie der Parlamentsminderheit von der Mehrheit oder von der Regierung als dem Exponenten der Mehrheit drohen. Die Vorschläge der Regierungsvorlage waren wohl nur dahin gegangen, aufliegenden Mißbräuchen in der Auslegung und Anwendung des Rechtsinstitutes der Immunität zu begegnen, offenbar weil ja auch die Parlamentsmehrheit gezögert haben würde, sich der Vorteile aus dieser eingelebten parlamentarischen Einrichtung zu entäußern. Die Fassung, die die Verfassungsnovelle der Rechtseinrichtung der Immunität gegeben hat, stellt sich bloß als eine wesentliche Verbesserung des parlamentarischen Verfahrens in Immunitätsfällen dar. Während nach der bisherigen Rechtslage der Nationalrat ausdrücklich seine Zustimmung zur strafbehördlichen Verfolgung eines seiner Mitglieder geben mußte, wenn sie zulässig sein sollte, muß nach der neuen Rechtslage der Nationalrat binnen einer Verschweigungsfrist von sechs Wochen durch Beschluß das Verlangen stellen, daß die Verfolgung auf die Dauer der Gesetzgebungsperiode aufgeschoben werde, damit die Verfolgung gehemmt sei. Die angenehmere Rolle des Schweigens hat also die unangenehmere Rechtsfolge: sie verhindert nicht mehr, so wie vordem, sondern sie ermöglicht nach einer Wartefirst die behördliche Verfolgung. Der Sinn des behördlichen Auslieferungsantrages ist ins Gegenteil verkehrt: Schweigen bedeutet auch in diesem Falle Zustimmung. Da nun aber durch die Fortsetzung der bisherigen parlamentarischen Taktik des Schweigens in Immunitätsfällen, entgegen der bisherigen Regel der Straflosigkeit, die Strafverfolgung zur Regel werden könnte, verpflichtet die Verfassung den Präsidenten des Nationalrates, spätestens am vorletzten Tage der sechswöchigen Frist das Auslieferungsbegehren zur Abstimmung zu stellen. Die Schwächung des Nationalrates, die sich aus dem Kompetenzenzuwachs des Bundespräsidenten ergibt - diese Kompetenzerweiterung erfolg-

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te nämlich zur Gänze auf Kosten des Nationalrates - , und jene Eingriffe in den Wirkungskreis des Nationalrates, die sich zugleich als Eingriffe in das System des Rechtsstaates darstellen, werden unten4 zu beleuchten sein. Eine Hauptforderung der Verfassungsreformer, die zeitweilig vor allen anderen Forderungen in den Vordergrund trat, war die Ergänzung und Beschränkung des Nationalrates durch einen nach ständischem Prinzip zusammengesetzten Vertretungskörper. Von der Einführung einer Ständekammer, deren Rechtstellung von ihren Anhängern zumindest als dem Nationalrat paritätisch gedacht war, versprach man sich nichts weniger als den Ausbau der formalen zur organischen Demokratie.,, Formal" wurde die von einem modernen Parlament repräsentierte Demokratie offenbar deswegen genannt, weil dieses Repräsentativsystem die Staatsbürger als isolierte Einzelne, abstrahierend von ihren sozialen, vor allem beruflichen Bindungen, politisch zusammenfaßt, wogegen das ständische Vertretungssystem die Einzelnen nur als Glieder sozialer Gemeinschaften politisch organisiert. Indes stellte es sich bei der Verfassungsreform heraus, daß die Idee der Ständevertretung leichter zu propagieren als zu realisieren war. Mangels irgendwelcher greifbarer und von allen Anhängern des ständischen Prinzipes anerkannter Vorschläge für die Zusammensetzung und Berufungsweise der Ständevertretung wurde ihre Einführung einem künftigen Bundesverfassungsgesetz anheimgestellt (Art. 35 B-VG), zu allem Überfluß jedoch bereits die Fassung festgelegt, die das Bundes-Verfassungsgesetz nach der Einführung eines ,,Ständerates" haben soll. Daraus ergibt sich ein ganz vages Programm über die Zusammensetzung der Ständevertretung und über ihren Wirkungskreis, das indes für den Verfassungsgesetzgeber unverbindlich ist. Nach diesem Plan soll die Ständevertretung mit der Ländervertretung, dem heutigen Bundesrat, in einen organisatorischen Zusammenhang gebracht und ihm kompetenzmäßig gleichgestellt werden. Der Länder- und Ständerat (womit rein sprachlich zwei verschiedene und voneinander unabhängige Kollegien zusammengefaßt sind, die zusammen mit dem Nationalrat ein Dreikammersystem ergeben würden) soll sich in den Länderrat als die Gruppe der Ländervertreter und in den Ständerat als die Gruppe der Ständevertreter gliedern; der Ständerat soll aus Vertretern der,,Berufsstände" des Bundesvolkes bestehen, die bisher rechtlich noch nicht existent sind.

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Siehe S. 128 ff.

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Man hat wohl die Stände Vertretung der Verwirklichung nicht näher geführt, hingegen die Übersichtlichkeit der geltenden Verfassung erschwert, wenn in den Verfassungstext an allen vom Bundesrat handelnden Stellen der Ständerat textlich, wenngleich mit Zukunftsgeltung, eingeführt wurde, so daß nunmehr für eine Reihe von Verfassungsartikeln eine doppelte - gegenwärtige und zukünftige - Lesart vorliegt. Die Verfassungsnovelle ist aber nicht bloß den angekündigten Einbau einer Ständevertretung, die für viele der Hauptzweck der Reform war, schuldig geblieben, sondern hat auch die Reorganisation der Ländervertretung, die im Verfassungsentwurfe vorgesehen war, unterlassen. Die Vertretung der einzelnen Länder ist nämlich proportional der Bürgerzahl der Länder, berücksichtigt also - nach dem Vorbild der Deutschen Reichsverfassung - die Größenunterschiede der Länder. Es war eine Abkehr vom Prinzip der organischen Demokratie und von der Rechtsangleichung an das Deutsche Reich - angeblichen Leitgedanken der Reform - , wenn der Verfassungsentwurf gemäß dem arithmetischen, also formalen Gleichheitsprinzip das amerikanische Vorbild einer gleichen Vertreterzahl der Gliedstaaten nachahmen wollte. Gerade durch die Beibehaltung der bisherigen Organisation des Bundesrates ist also die Verfassung den Leitgedanken der Verfassungsreform treu geblieben. Das Schwergewicht der Reform liegt in der Ausgestaltung der Bundespräsidentschaft. Vor allem ist die Änderung der Wahlmethode geeignet, die Rechtsstellung des Bundespräsidenten zu heben und ihn dem Parlamente gegenüber zu stärken. Die erste Bedingung einer gegenüber dem Parlament unabhängigen Politik des Staatsoberhauptes ist es, daß er nicht dem Parlament sein Amt verdankt. Bisher war der Bundespräsident nicht nur vom Nationalrat zu wählen, sondern er war auch während seiner ganzen Amtsführung der Gefangene der Regierung, die ihrer Berufung und Zusammensetzung nach nichts als ein Parlamentsausschuß war, und er mußte tatenlos zusehen, wie sich Nationalrat und Bundesregierung in typische Prärogativen eines Staatsoberhauptes teilten. Zum Unterschied vom Regierungsentwurfe, der ein inkonsequentes Kompromiß zwischen Parlamentswahl und Volkswahl des Bundespräsidenten mit der unverkennbaren Absicht vorgeschlagen hatte, letztlich doch die Wahl eines eigens zusammengesetzten, überwiegend parlamentarischen

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Wahlkollegiums entscheiden zu lassen, hatte die Verfassungsnovelle den Mut der Konsequenz, den Bundespräsidenten im Wege einer wirklichen und eben darum für die Parteien riskanteren Volkswahl berufen zu lassen. Das Volk wählt den Bundespräsidenten unmittelbar in geheimer Wahl. Stimmberechtigt ist jeder zum Nationalrat Wahlberechtigte. Für die Wahl des Bundespräsidenten besteht schon von Verfassungs wegen - nicht erst, wie im Fall der Nationalratswahl, kraft Einführung durch die einzelnen Landesgesetzgebungen - Wahlpflicht der Wahlberechtigten aller Länder. Gewählt ist, wer mehr als die Hälfte aller gültigen Stimmen, also die absolute Mehrheit, für sich hat. Mangels einer solchen Mehrheit findet ein zweiter Wahlgang statt. In diesen können nur noch zwei Wahlwerber eintreten, und zwar entweder jene beiden, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben, oder Austauschkandidaten, die an Stelle jener Wahl werber, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben, von ihren Wählergruppen aufgestellt werden. Diese Möglichkeit des Austausches der Parteikandidaten dient offenbar dem Parteienkompromisse, denn es werden sich die führenden Parteien voraussichtlich bemühen, durch Aufstellung von Kandidaten, die auch anderen Parteien genehm sind, die Stimmen anderer Parteien auf ihren Kandidaten zu ziehen. Das ist zugleich der Weg, auf dem denkbarerweise auch eine außerhalb des Parteigetriebes stehende Persönlichkeit zum Amte des Staatsoberhauptes gelangt. Allerdings ist durch diese ,, Wfa/î/methode" das Prinzip der Volkswahl denaturiert, denn wenn das Volk nur zwischen zwei Kandidaten die engere Wahl hat, die ihm von den beiden stärksten Parteien präsentiert werden, dann ist es in Wahrheit nicht das Volk, sondern ein Parteirat, der das Staatsoberhaupt kürt. Das Volk kann aber den Bundespräsidenten nicht nur berufen, sondern auch abberufen. Abgesehen von dem unausgesprochenen Falle des Amtsverzichtes und dem beibehaltenen Wege der strafweisen Absetzung des Bundespräsidenten wegen Verfassungsverletzung durch Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes führt nämlich die Verfassungsnovelle nach dem Vorbilde der Reichsverfassung die Absetzung des Bundespräsidenten durch Volksabstimmung ein. Diese hat den Sinn eines unmittelbar vollzogenen politischen Mißtrauensvotums von Seiten des als politischer Kontrollor des Bundespräsidenten funktionierenden Wahlorganes. Das Verfahren, das zu diesem Kontrollakte führt, ist indes so weitwendig, daß die Absetzung des Bundespräsidenten durch Volksabstimmung wirklich nur, wie selbstverständlich, als ultima ratio des Staatslebens in Frage kommen kann. Die

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Initiative steht dem Nationalrat zu, der mit Zweidrittelmehrheit die Einberufung der Bundesversammlung beschließen kann, damit diese in die Lage komme, die Durchführung einer Volksabstimmung über die Frage der Absetzung zu beschließen. Allerdings wird der Bundespräsident durch einen derartigen Beschluß des Nationalrates bereits an der ferneren Ausübung seines Amtes verhindert, d.h. dienstrechtlich gesprochen, vom Amte suspendiert. Die Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die rechtliche Wirkung einer Auflösung des Nationalrates von Seiten des Bundespräsidenten. Die Funktionsperiode des Bundespräsidenten wurde von vier auf sechs Jahre verlängert. Die Funktionsdauer des gegenwärtigen Bundespräsidenten wurde im Übergangsgesetz mit der Funktionsdauer des Nationalrates in ein Junktim gebracht. Die Ausschreibung der ersten Wahl eines Bundespräsidenten hat nämlich binnen zehn Wochen nach dem Zusammentreten des nächsten neugewählten Nationalrates zu erfolgen. Auch im Falle einer als neue Wahl des Bundespräsidenten zu bewertenden Ablehnung der Absetzung durch die Volksabstimmung darf die gesamte Funktionsperiode des Bundespräsidenten nicht länger als zwölf Jahre dauern. Abgesehen von der schon erörterten Zuständigkeit zur Auflösung und Vertagung des Nationalrates und seine Einberufung zu ordentlichen und außerordentlichen Tagungen, ferner abgesehen von den Kompetenzen zur Erlassung von Notverordnungen und zur Ernennung der Verfassungsrichter, wovon noch eingehend zu sprechen sein wird, hat die Verfassungsnovelle dem Bundespräsidenten an wichtigen neuen Aufgaben den Oberbefehl Uber die Wehrmacht und die Ernennung und Abberufung der Bundesregierung und der einzelnen Bundesminister als neue Kompetenzen eingeräumt. Daneben fällt die ebenfalls neugewonnene Zuständigkeit des Bundespräsidenten, auf Antrag des Bundespräsidenten den Sitz des Nationalrates und anderer oberster Bundesorgane von Wien in einen anderen Ort des Bundesgebietes zu verlegen, nicht ins Gewicht. Den Anteil des Bundespräsidenten an der Heeresverwaltung umschreibt die Verfassungsnovelle mit dem Satze: ,,Den Oberbefehl über das Bundesheer führt der Bundespräsident." Die Verfassung unterscheidet vom Oberbefehl die „ Verfügung" und ,,die Befehlsgewalt" über das Bundesheer. Damit sind drei Begriffe unterschieden, die ihrem Wesen nach ein Imperium

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auf dem Gebiete der Heeresverwaltung bedeuten, ohne daß aber ihre Grenzen dem Sprachsinne nach oder kraft einer Legaldefinition feststünden. Insbesondere ist die Unterscheidung zwischen dem ,,Oberbefehl über das Bundesheer" und der,,Befehlsgewalt über das Bundesheer" problematisch, ohne nähere gesetzliche Abgrenzung unverständlich und überdies gesetzesstilistisch anfechtbar, weil mit dem Worte ,,Befehlsgewalt" in den Verfassungstext, der von der üblichen Gewaltterminologie gereinigt war, der militaristische Ausdruck ,,Gewalt" wieder eingeschmuggelt wurde. Die ,,Verfügung" über das Bundesheer wird dem zuständigen Bundesminister innerhalb ,,der ihm von der Bundesregierung erteilten Ermächtigung" zugesprochen, ,,soweit nicht nach dem Wehrgesetz der Bundespräsident über das Heer verfügt". Damit hat zwar der Nationalrat die ihm verfassungsgesetzlich erteilte Verfügungsmöglichkeit verloren, der Bundespräsident jedoch noch keine Verfügungsmöglichkeiten erhalten, insolange nicht das Wehrgesetz geändert ist. Auch der Bundesregierung ist die ihr bisher vorbehalten gewesene Verfügungsmöglichkeit entzogen worden, offenbar um schon von Verfassungs wegen den Hauptanteil an der Verfügung über das Bundesheer von der Bundesregierung auf den Heeresminister zu übertragen. Insolange grundsätzlich die Bundesregierung über das Bundesheer zu verfügen hatte, hatte die Bestimmung einen guten Sinn, daß auf Grund einer Ermächtigung der Bundesregierung auch der zuständige Bundesminister über das Bundesheer verfügen kann. Nunmehr, da die Bundesregierung selbst keinesfalls über das Bundesheer zu verfügen hat, ist es befremdlich, daß der Bundesminister noch immer zur Verfügung über das Bundesheer einer Ermächtigung von Seiten der Bundesregierung bedarf. Der wenig sinnvolle Rest der Funktionen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Heeresverwaltung besteht also darin, den Bundesminister innerhalb der heeresgesetzlich vorgesehenen Verfügungsmöglichkeiten zu Verfügungen bestimmter Art zu ermächtigen. Den stärksten praktischen Anteil am politischen Leben erhält der Bundespräsident dadurch, daß er zur Regierungsbildung berufen und daß darüber hinaus die Regierung außer vom Vertrauen des Nationalrates auch vom Vertrauen des Bundespräsidenten abhängig gemacht wurde. Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten unter Gegenzeichnung des neubestellten Bundeskanzlers ernannt. Abgesehen von der Beobachtung der persönlichen Voraussetzungen eines Bundesministers (Wählbarkeit zum National-

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rat) ist der Bundespräsident in der Personenauswahl vollständig frei und insbesondere auch nicht zur Rücksicht auf Wünsche des Nationalrates verpflichtet. Eine gewisse tatsächliche Nötigung zu solcher Rücksichtnahme besteht nur infolge des von der Verfassungsnovelle unberührt gelassenen parlamentarischen Vertrauensprinzipes (Art. 74 B-VG). Eine Regierung, die von vornherein auf die Ablehnung der Parlamentsmehrheit stößt, wird kein langes Leben haben, denn der Bundespräsident wurde für den Fall, daß eine neue Bundesregierung außerhalb einer Tagung des Nationalrates bestellt wird, ausdrücklich verpflichtet, den Nationalrat binnen einer Woche zum Zweck der Vorstellung der neuen Bundesregierung zu einer außerordentlichen Tagung einzuberufen. Damit wurde der Bundespräsident gegebenenfalls auch verpflichtet, dem Nationalrat dazu Gelegenheit zu geben, daß er der durch das Vertrauen des Bundespräsidenten berufenen Regierung sein Mißtrauen ausspreche. In dieser Lage bleibt dem Bundespräsidenten keine andere Möglichkeit, als die fortgesetzt seines Vertrauens teilhaftige Regierung zu entheben, worauf er sie ja nach Belieben sofort wieder ernennen kann. Was bisher von der Bundesregierung gesagt wurde, gilt unverändert auch von einem einzelnen Bundesminister. Der Bundespräsident kann somit seinen Willen nach einer bestimmten Zusammensetzung der Regierung gegen den Willen des Parlamentes nur durchsetzen, wenn er zur Auflösung des Hauses bereit ist. Denn mit der Auflösung schafft er, wenngleich vorübergehend, den im parlamentarischen Vertrauensprinzip verkörperten Einfluß des Nationalrates auf die Zusammensetzung der Regierung in verfassungsmäßiger Weise aus der Welt. So wird das Recht des Bundespräsidenten zur Bildung der Regierung erst im Zusammenhalt mit dem Auflösungsrechte eine Handhabe selbständiger Personalpolitik, ohne die der Nationalrat den Bundespräsidenten durch beliebigen Gebrauch des Mißtrauensvotums ganz unter seinen Willen zwingen und zum formellen Vollstrecker seiner Wünsche bezüglich der Zusammensetzung der Regierung machen könnte. Die Bewegungsfreiheit des Bundespräsidenten gegenüber dem Nationalrat geht aber noch viel weiter dank dem ihm neu eingeräumten Recht der Entlassung der Bundesregierung und einzelner Bundesminister. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich; in diesem Punkte hat also der Bundespräsident ungehemmte Initiative. Er kann sich jederzeit eines Bundeskanzlers oder einer Bundesregierung entledigen, die nicht mehr sein Vertrauen genießen, um sie durch neue Personen seines Vertrauens zu ersetzen. Will der Bundespräsident einzelne Mitglieder der Bundesregie-

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rung entlassen, so bedarf er eines Vorschlages des Bundeskanzlers. In keinem Falle bedarf die Entlassung der Bundesregierung oder eines einzelnen Bundesministers einer Gegenzeichnung, was wiederum die Selbständigkeit des Bundespräsidenten bei diesem Akt erhöht. Die Ermöglichung einer Entlassung der Bundesregierung und der Bundesminister durch den Bundespräsidenten schafft ein vollwertiges Gegenstück für das dem Nationalrat zustehende Mißtrauensvotum, das durch die obligatorische Enthebung von Seiten des Bundespräsidenten ebenfalls zum Amtsverluste führt, und hat gleich diesem die juristische Bedeutung eines Vertrauensprinzipes. Die Bundesregierung und jeder einzelne Bundesminister ist nach der neuen Rechtslage in demselben Maße wie vom Vertrauen des Nationalrates auch vom Vertrauen des Bundespräsidenten abhängig - nicht dank der Ernennung, sondern infolge der rechtlichen Möglichkeit freier Entlassung. Die Verfassung mutet also der Regierung und den einzelnen Ministern zu, gleichzeitig zwei Herren zu dienen, was ja im allgemeinen möglich sein mag, dann jedoch unmöglich wird, wenn Nationalrat und Bundespräsident in einen Gegensatz geraten; auf wessen Seite sich die Bundesregierung oder der Bundesminister stellen mag, sie haben von der Gegenseite das ,,consilium abeundi" zu erwarten. Mehr noch als durch das Recht der Regierungsbildung kann, wie sich zeigt, der Bundespräsident dank seinem Entlassungsrecht - wiederum namentlich im Zusammenhalt mit dem Auflösungsrecht ein taktisch durchaus nicht unterlegener Gegenspieler des Nationalrates werden. Hervorhebung verdient auch noch die bereits erwähnte Einzelheit, daß die Entlassung eines einzelnen Ministers nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers erfolgen kann; damit ist es dem Bundeskanzler anheimgestellt, sein politisches Schicksal mit dem seiner Ministerkollegen zu verbinden oder den einen oder anderen preiszugeben. Dieses Vorschlagsrecht bringt die Bundesminister zum Bundeskanzler in eine neuartige Abhängigkeitsbeziehung, deren Bedeutung darin liegt, daß sie außer vom Vertrauen des Bundespräsidenten auch vom Vertrauen des Bundeskanzlers abhängig geworden sind. Eine verhältnismäßig unbeträchtliche neue Kompetenz des Bundespräsidenten hinsichtlich der Regierungstätigkeit besteht darin, daß er die sachliche Leitung bestimmter, zum Wirkungsbereich des Bundeskanzleramtes gehörender Angelegenheiten unbeschadet des Fortbestandes ihrer Zugehörigkeit zum Bundeskanzleramt eigenen Bundesministern übertragen kann; solche Bundesminister haben bezüglich der betreffenden Angelegenheiten

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die Stellung eines zuständigen Bundesministers. Damit wird eine bisher einer gesetzlichen Grundlage entbehrende, mithin verfassungswidrige Übung legalisiert; der Zweck der Ermächtigung ist der, überzählige Minister, insbesondere den Vizekanzler, aus dem - durch die Zusammenlegung mehrerer Ressorts entstandenen - Agendenkomplex des Bundeskanzleramtes mit einem persönlichen Ressort zu bekleiden.

Die Stärkung des Bundes und die Schwächung der Länder Hat schon die Bundesverfassung in ihrer Fassung vom 1. Oktober 1920 der Verfassung ein unter allen Bundesstaaten der Erde einzig dastehendes zentralistisches Gepräge gegeben und die Verfassungsnovelle des Jahres 1925 den Bund auf Kosten der Länder in wichtigen Punkten gestärkt, so hat die Verfassungsnovelle des Jahres 1929 diesen Zentralisierungsprozeß bis zu einem Punkte fortgesetzt, daß eine weitere Schwächung der Länder ohne Preisgabe des bundesstaatlichen Prinzipes kaum mehr denkbar ist. Die Neuerungen dieser Tendenz bestehen einerseits in einer weiteren Aushöhlung der ohnedies schon mehr als dürftigen Verfassungsautonomie der Länder, insbesondere Wiens, andererseits in Kompetenzübertragungen von den Ländern auf den Bund. Diese zentralistische Tendenz entsprang gelegentlich der letzten Verfassungsreform hauptsächlich dem Wunsche, das Land Wien zu einer sogenannten bundesunmittelbaren Stadt zu degradieren, die nur in gewissen Beziehungen, namentlich in bezug auf die Vertretung im Bundesrat, den übrigen Ländern gleichgestellt, ansonsten aber im großen und ganzen die Stellung einer mit eigenem Statut ausgestatteten Stadtgemeinde einnehmen sollte. Diese Absicht ist so weit zum gesetzlichen Ausdruck gekommen, daß alle Länder eine Minderung ihrer Rechte, das Land Wien überdies aber im Vergleiche mit den übrigen Ländern eine capitis diminutio erfahren hat, ohne daß jedoch die hauptsächlichen Attribute eines Landes gefallen wären. An der gesetzgeberischen Durchführung der Zentralisierungsmaßnahmen läßt sich nicht immer unterscheiden, was allen Ländern genommen wurde, um das Land Wien zu treffen, und was einer gegen alle Länder gerichteten Zentalisierungstendenz entsprungen ist. Begreiflicherweise mußte die starke Zentralisation der polizeilichen Agenden vornehmlich die Großstadt treffen und die Kompensationen für diese ungewöhnliche Zentralisierung in gewissen agrarischen Agenden kommen fast ausschließlich den Ländern außer Wien zugute.

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Die Kompetenzverschiebungen bewegen sich zum größten Teil in der Richtung von den Ländern zum Bunde. Eine Erweiterung der Zuständigkeit des Bundes auf dem Gebiet des Polizeiwesens bedeutet vor allem die Ordnung sämtlicher in die Freizügigkeit eingreifenden Maßnahmen, im einzelnen der Abschiebung, Abschaffung, Ausweisung und Auslieferung sowie Durchlieferung nach dem Kompetenztypus des Artikels 10 B-VG, also der ausschließliche Vorbehalt dieser Angelegenheiten, an denen bisher die Länder einen wenig rationell umschriebenen Anteil hatten, für den Bund. Eine bemerkenswerte Folgerung der Neuordnung dieser Kompetenz liegt auf dem Gebiete des Gemeinderechtes, indem die in der Reichsgemeindeordnung vom 5. März 1862 den Gemeinden vorbehaltene gemeindepolizeiliche Ausweisung den Charakter einer Angelegenheit des übertragenen Wirkungskreises der Gemeinden angenommen hat und nur von den Organen und nach dem Verfahren des übertragenen Wirkungskreises gehandhabt werden darf. Unter diesen Umständen wäre wohl das Einfachste gewesen, die Kompetenz der Gemeinden zur Ausweisung gänzlich aufzuheben und alle Eingriffe in die Freizügigkeit den politischen Behörden vorzubehalten. Auf dasselbe Blatt gehört die Überstellung der Angelegenheit,,Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft gegen verbrecherische, verwahrloste oder sonst gefährliche Personen, wie Zwangsarbeits- und ähnliche Anstalten" aus dem Artikel 12 in den Artikel 10 B-VG, was wiederum die Bedeutung des Vorbehaltes der Gesetzgebung und Vollziehung dieser Angelegenheiten für den Bund hat; die diesen Zwecken dienenden Landesanstalten werden somit seit Inkrafttreten der Verfassungsnovelle im übertragenen Wirkungskreise des Bundes geführt. Weiters wurde die Enteignung zu Zwecken der Assanierung dem Bunde vorbehalten (Art. 10 Z. 6 B-VG) und damit den Ländern eine namentlich für die Großstadt wichtige Aufgabe des Bauwesens entzogen. Der Kern des Polizeiwesens wurde für den Bund durch den neuen Kompetenzfall ,,Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, ausgenommen die örtliche Sicherheitspolizei", in Anspruch genommen. Selbst die örtliche Sicherheitspolizei, die seit der Zeit des absoluten Staates einen unangefochtenen Bestandteil des selbständigen Wirkungskreises der Gemeinden gebildet hatte, wurde einer eigentümlichen Zentralisierung unterworfen. Sie blieb zwar nach Gesetzgebung und Vollziehung grundsätzlich Sache der Länder, doch räumt die Verfassungsnovelle dem Bund die Befugnis ein, die Führung der Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei, ,,das ist des Teiles der Sicherheitspolizei, der das Interesse der Gemeinde zunächst berührt und innerhalb ihrer Grenzen durch ihre

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eigenen Kräfte besorgt werden kann", zu beaufsichtigen und wahrgenommene Mängel durch Weisungen an den Landeshauptmann abzustellen. Zu diesem Zweck können auch Inspektionsorgane des Bundes in die Gemeinden entsendet werden. Der Sinn dieser neuen Bestimmugn ist der, daß die Staatsaufsicht über die Gemeinde in dieser einen Angelegenheit des selbständigen Wirkungskreises verschärft, und zwar in ihrer bisherigen Gestalt als Aufsicht der obersten Landesbehörden durch eigentümliche Mittel einer bundesbehördlichen Aufsicht ergänzt wird. Mit dieser Neuerung wurde übrigens ein neuer Kompetenztypus geschaffen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß in einer Angelegenheit grundsätzlicher Landes- (im besonderen Gemeinde-)Kompetenz die Vollziehung des Landes (genauer der Gemeinde als Organ des Landes unter Mitwirkung des Bundes) vor sich geht. Es liegt mithin eine zentralisierende Abart des Kompetenztypus des Artikels 15 B-VG vor, die systematisch zwischen der reinen Vollziehung von Landesgesetzen durch Landesorgane nach Artikel 15 Absatz 1, und der unmittelbaren, wenn auch nur teilweisen Vollziehung von Landesgesetzen durch Bundesorgane nach Artikel 97 Absatz 2 einzureihen ist. Eine weitere Stärkung der polizeilichen Kompetenzen des Bundes ergibt sich daraus, daß neben dem Waffenwesen auch das Munitions- und Sprengmittelwesen, sowie das Schießwesen aus dem Artikel 11 in den Artikel 10 Abs. 1 Z. 7 B-VG überstellt und damit nach Gesetzgebung und Vollziehung für den Bund in Anspruch genommen wurde. Schließlich wurde in organisatorischer Beziehung der polizeiliche Wirkungskreis des Bundes erweitert, indem im Artikel 10 Absatz 1 Z. 14 die Regelung der Errichtung und der Organisierung sonstiger Wachkörper - außer der Bundespolizei und Bundesgendarmerie, die schon bisher ausschließlich in die gesetzgeberische und administrative Verfügung des Bundes gefallen waren - einschließlich der Bewaffnung dieser Wachkörper und ihres Rechtes zum Waffengebrauch dem Bunde vorbehalten wurde. Diese Bestimmung richtet sich offenkundig gegen den Bestand der Gemeindewachen, wie eine solche insbesondere von der Stadt Wien nach den Juli-Unruhen 1927 errichtet worden war. Diese Tendenz der Kompetenzbestimmung erhellt insbesondere aus dem Übergangsgesetz vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 393, das im Artikel 2 § 5 den Begriff des Wachkörpers als ,,bewaffnete oder uniformierte oder sonst nach militärischen Mustern eingerichtete Formationen" umschreibt, denen Aufgaben polizeilichen Charakters übertragen sind. Zu den Wachkörpern sind jedoch gemäß dieser Gesetzesstelle nicht zu zählen das zum Schutz einzelner Zweige der Landeskultur, wie der Land- und Forstwirtschaft, des Bergbaues,

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der Jagd, der Fischerei oder anderer Wasserberechtigungen aufgestellte Wachpersonal, die Organe der Marktaufsicht und der Feuerwehr. Diese Begriffsbestimmung des Wachkörpers hat trotz ihrer Stellung im Übergangsgesetz nicht den Charakter einer Übergangsbestimmung, sondern den einer authentischen Interpretation der Kompetenzbestimmung des Artikels 10 Absatz 1Z. 14. Diese Kompetenzbestimmung würde aber offenbar nicht ausschließen, daß durch Bundesgesetz eine Landes- oder Gemeindewache zugelassen wird. Zur Verhinderung einer Konkurrenz zwischen Bundes- und anderen Wachkörpern ordnet daher Artikel 102 Absatz 5 an: Im örtlichen Wirkungskreis einer Bundespolizeibehörde, der eine Bundessicherheitswache beigegeben ist, darf von einer andern Gebietskörperschaft ein Wachkörper nicht aufgestellt und unterhalten werden. Die Auflösung von Wachkörpern, deren Errichtung oder Beibehaltung im Widerspruch mit dieser Bestimmung steht, fällt in die Vollziehung des Bundes. Damit ist den bestehenden Gemeindewachen der rechtliche Boden entzogen. Doch findet sich eine Übergangsbestimmung, die den Charakter eines politischen Kompromisses deutlich an der Stime trägt, mit dem derzeitigen Zustande wiederum ab; es ist nämlich durch Verordnung der Bundesregierung zu bestimmen, wann die bestehenden Wachkörper der im Artikel 102 Abs. 5 bezeichneten Art aufzulösen sind. Diese Verordnung bedarf jedoch des Einvernehmens mit der in Betracht kommenden Landesregierung. Die Auflösung der gegenwärtig bestehenden, mit der Bundessicherheitswache konkurrierenden Wachkörper fällt somit gar nicht, wie man nach Artikel 102 Absatz 5 B-VG annehmen müßte, in die Vollziehung des Bundes, sondern ist eine gemeinsame Kompetenz von Bund und Ländern, die durch eine zwischen der Bundes- und einer Landesregierung vereinbarte Verordnung auszuüben ist. Auch damit ist ein neuer Kompetenztypus geschaffen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß die Vollziehung eines Bundesgesetzes gemeinsame Aufgabe von Bund und Land ist. Systematisch steht dieser Kompetenztypus zwischen den ursprünglichen Kompetenztypen der Artikel 10 und 11 B-VG, die die Vollziehung von Bundesgesetzen einerseits Bundesorganen, anderseits Landesorganen übertragen. Diesen zentralisierenden Kompetenzänderungen steht als Kompensation eine Ermächtigung an die Bundesgesetzgebung des Inhaltes gegenüber, daß in den nach Artikel 10 Absatz 1 Z. 10 erlassenen Bundesgesetzen, das ist in den Angelegenheiten des Bergwesens, Forstwesens, Wasserrechtes, der Regulierung und Instandhaltung der Gewässer, Wildbachverbauung, des Baues und der Instandhaltung von Wasserstraßen, der Normalisierung und

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Typisierung elektrischer Anlagen und Einrichtungen, des Starkstromwegerechtes, Dampfkessel- und Kraftmaschinenwesens, Vermessungswesens die Landesgesetzgebung ermächtigt wird, zu genau zu bezeichnenden einzelnen Bestimmungen Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Die Vollziehung der in solchen Fällen ergehenden Ausführungsgesetze steht dem Bund zu, doch bedürfen die Durchführungsverordnungen, soweit sie sich auf die Ausführungsbestimmungen des Landesgesetzes beziehen, des vorherigen Einvernehmens mit der betreffenden Landesregierung. Diese föderalistische Abschwächung einer von der Verfassungsnovelle des Jahres 1925 herbeigeführten ungewöhnlichen Zentralisation von Gegenständen, die seit dem Jahre 1861 teilweise zum traditionellen Besitzstande der Länder gehört hatten, stellt einen neuen Kompetenztypus dar: fakultative Grundsatzgesetzgebung des Bundes und Ausführungsgesetzgebung der Länder und, soweit von dieser Ausführungsgesetzgebung Gebrauch gemacht wird, fakultative Vollziehung durch Verordnungen, die zwischen Bund und Ländern vereinbart sind. Es handelt sich um eine föderalistische Variation des Kompetenztypus des Artikels 10 B-VG, die den Ländern nicht bloß auf dem Gebiet der Vollziehung durch vereinbarte Durchführungsverordnungen - wie im vorerwähnten Falle der Auflösung von Wachkörpern durch eine gemeinsame Verordnung der Bundes- und einer Landesregierung - eine Mitwirkungsmöglichkeit gibt, sondern den Ländern auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung in der Form von Durchführungsgesetzen einen Anteil eröffnet. Hingegen bleibt der föderalistische Einschlag dieses Kompetenztypus hinter dem im Wesen vergleichbaren Kompetenztypus des Artikels 12 B-VG zurück, denn durch diesen Verfassungsartikel ist den Ländern die Durchführungsgesetzgebung und die Vollziehung - bemerkenswerterweise gerade ausschließlich der vom Bund allein zu erlassenden Durchführungsverordnungen - von Verfassungs wegen gewährleistet, während die Kompetenz zur Durchführungsgesetzgebung in den Fällen des Artikels 10 Absatz 2 den Ländern im Einzelfall durch einfaches Bundesgesetz nach freiem Ermessen des Gesetzgebers zu erteilen ist. Der Gebrauch dieser Kompetenz der Länder hängt also ganz vom guten, rechtlich ungebundenen Willen eines Bundesorgans ab. Die Anwendungsfälle des Kompetenztypus des Artikels 11 B-VG sind durch die vorstehend dargestellte Erweiterung des Anwendungsbereiches des Kompetenztypus des Artikels 10 sehr vermindert und es wäre der Erwägung wert gewesen, eine Vereinfachung der Kompetenzordnung wenigstens durch Beseitigung des Kompetenztypus des Artikels 11 B-VG

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herbeizuführen. Doch weit davon entfernt, hat die Verfassungsnovelle sogar den in seiner Anwendungsmöglichkeit stark geschmälerten Kompetenztypus des Artikels 11 durch die Neueinführung einer Variante, und zwar einer Bedarfsgesetzgebung in einer Angelegenheit des Artikels 11 kompliziert. Das Verwaltungsverfahren, die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes, das Verwaltungsstrafverfahren und die Verwaltungsvollstreckung werden durch Bundesgesetz geregelt, und zwar, soweit ein Bedürfnis nach Erlassung einheitlicher Vorschriften als vorhanden erachtet wird, auch in den Angelegenheiten, in denen die Gesetzgebung den Ländern zusteht, insbesondere auch in den Angelegenheiten des Abgabewesens. Auch darin liegt eine föderalistische Abschwächung einer bisherigen ausschließlichen Bundeskompetenz, denn während bisher das Verwaltungsverfahren, die allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsstrafrechtes, das Verwaltungsstrafverfahren und die Verwaltungsvollstreckung auch in den Angelegenheiten, in denen die Gesetzgebung den Ländern zusteht, ausschließlich von der Bundesgesetzgebung zu regeln waren, steht diese Regelung dem Bunde jetzt nur noch im Bedarfsfalle zu. Der Gewinn, der sich aus dieser Abschwächung einer allerdings ungewöhnlich weit gespannten unitarischen Kompetenz für die Länder ergibt, ist allerdings noch problematischer als im Falle der vorerwähnten fakultativen Durchführungsgesetzgebung der Länder, da das in Frage stehende Bedürfnis durch keine objektiven Merkmale bestimmt, sondern nach der subjektiven Auffassung des Bundesgesetzgebers im Einzelfalle zu bestimmen ist. Die Frage eines solchen Bedürfnisses nach Erlassung einheitlicher Vorschriften ist überdies für das ganze Anwendungsbereich der Verwaltungsverfahrensgesetze vom 21. Juli 1925, das sich auf alle Landesbehörden erstreckt, bundesgesetzlich im bejahenden Sinne beantwortet, so daß es erst einer völlig unwahrscheinlichen Einengung des Anwendungsbereiches des geltenden Administrativverfahrensrechtes bedarf, um der aus der Beschränkung des Bundes auf die Bedarfsgesetzgebung resultierenden Gesetzgebungskompetenz der Länder in Angelegenheiten des Verfahrens der Landesbehörden praktisch Raum zu geben. Derselbe Verfassungsartikel bringt eine allerdings weniger bedeutende Kompetenzverschiebung zugunsten des Bundes. Es wird nämlich nicht nur die Zusammensetzung der Agrarbehörden durch verfassungsgesetzliche Grundsatzbestimmungen genauer geregelt als in der einschlägigen bisherigen Fassung, sondern überdies bestimmt, daß die Einrichtung, die Aufgaben 9 A. J. Mcrkl

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und das Verfahren der Agrarsenate sowie die Grundsätze für die Einrichtung der mit der Bodenreform sonst noch befaßten Behörden durch Bundesgesetz zu regeln sind. Damit ist für einen bestimmten Gegenstand der Grundsatzgesetzgebung des Bundes festgelegt, was zur Gänze durch Bundesgesetz zu regeln ist und somit nicht mehr der näheren Ausführung im Wege der Landesgesetzgebung offensteht. In den Zusammenhang der Bestimmungen über die ausschließliche Landeskompetenz (Art. 15 B-VG) wurden einige Neuerungen aufgenommen, die ebensoviele neue Kompetenztypen darstellen und den Gipfelpunkt an Kompliziertheit der Kompetenzordnung erklimmen. Von der Modifikation der bisherigen Kompetenz in Angelegenheiten der Lokalpolizei, die zum Gegenstande einer Art Auftragsverwaltung der Länder gemacht wurde, war schon an früherer Stelle die Rede, um ein einheitliches Bild der Rechtslage auf dem Gebiet des Polizeiwesens zu bieten. Außerdem wurden folgende einschlägige Neuerungen getroffen. ,,Die landesgesetzlichen Bestimmungen in den Angelegenheiten des Theater- und Kinowesens sowie der öffentlichen Schaustellungen, Darbietungen und Belustigungen haben für den örtlichen Wirkungskreis von Bundespolizeibehörden diesen Behörden wenigstens die Überwachung der Veranstaltungen, soweit sie sich nicht auf betriebstechnische, bau- und feuerpolizeiliche Rücksichten erstreckt, und die Mitwirkung in erster Instanz bei Verleihung von Berechtigungen, die in solchen Gesetzen vorgesehen werden, zu übertragen. 44 Zum Verständnisse des in die Kuriositäten der österreichischen Politik nicht eingeweihten Lesers muß erwähnt werden, daß die Landesgesetzgebung von Wien in verfassungsmäßiger Handhabung ihrer Kompetenz in Angelegenheiten des Theater- und Kinowesens den Vollzug dieser Gesetze, insbesondere auch die theaterpolizeiliche Überwachung öffentlicher Vorführungen, Landesorganen vorbehalten hatte. Nicht die Art der Überwachung, sondern die bloße Tatsache, daß als Ausfluß der neuen bundesstaatlichen Kompetenzverteilung die Handhabung des Theaterwesens in die Hände von Landesorganen übergegangen war, hatte jedoch in den Kreisen der Bundespolizei Anstoß erregt und so wurde die Gelegenheit der letzten Verfassungsreform dazu benützt, den aus der Monarchie überkommenen Rechtszustand auf dem Gebiet des Theaterwesens wenigstens teilweise wiederherzustellen. Diese Reform betraf hauptsächlich das Land Wien, dessen Landesgebiet sich zur Gänze mit dem Sprengel einer Bundespolizeibehörde deckt, während die andern Länder kaum berührt worden sind. Man darf ruhig behaupten, daß

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es in der Verfassungsgeschichte aller Staaten der Erde einzig dasteht, daß der Weg der Verfassungsgesetzgebung beschritten wird, um einer bestimmten Behörde die Theateraufsicht zu sichern. Bei einem solchen Maß von Originalität fällt die Tatsache schon weniger ins Gewicht, daß diese Reform auf dem Gebiete des Theater- und Kinowesens die Einführung eines neuen Kompetenztypus zur Folge hatte. Das Theater- und Kinowesen sowie die öffentlichen Darbietungen, Schaustellungen und Belustigungen sind nämlich - mit Beschränkung auf den örtlichen Wirkungskreis von Bundespolizeibehörden - eine Angelegenheit sozusagen aussschließlicher Landeskompetenz, bei der die Gesetzgebung des Landes von Bundesverfassungs wegen verpflichtet ist, den Landesbehörden bestimmte Akte der Vollziehung des Landesgesetzes vorzuenthalten, und von der Möglichkeit des Artikels 97, Absatz 2, - bei der Vollziehung eines Landesgesetzes die Mitwirkung von Bundesorganen vorzusehen - bei sonstiger Verfassungswidrigkeit dieses Landesgesetzes in bestimmter Richtung Gebrauch zu machen. Bei diesem Akt materieller Landesgesetzgebung ist also das Land in gleicher Weise bundesverfassungsgesetzlich gebunden wie bei der Ordnung seiner Verfassung an die für die Landesverfassung vorgezeichneten Normativbestimmungen der Bundesverfassung. Nur wird durch die in Rede stehende Bestimmung zum Unterschied von den Bestimmungen des vierten Hauptstückes des Bundes-Verfassungsgesetzes nicht, wie es in unitarischen Bundesstaaten üblich ist, die Verfassungsautonomie, sondern sogar die Gesetzesautonomie der Länder beschränkt. Des weiteren wurde für einen bestimmten Fall grundsätzlich ausschließlicher Landeskompetenz das Erfordernis paktierter Gesetze eingeführt, wie es bisher nur für gewisse Fälle der Schulgesetzgebung und für die Änderung der Landesgrenzen vorgesehen war.,,Inwieweit im örtlichen Wirkungskreis von Bundespolizeibehörden diesen Behörden auf dem Gebiet der Straßenpolizei auf anderen als Bundesstraßen die Vollziehung übertragen wird, wird durch übereinstimmende Gesetze des Bundes und des betreffenden Landes geregelt" (Art. 15 Abs. 4). Der juristische Sinn dieser Bestimmung kann wenn mit ihr vielleicht auch anderes beabsichtigt gewesen sein sollte - nur der sein, die aus dem Artikel 97 Absatz 2 B-VG sich ergebende Möglichkeit, Bundespolizeibehörden landesgesetzlich für die Vollziehung von Straßenpolizeigesetzen in Anspruch zu nehmen, in der Richtung zu erschweren, daß nicht wie im allgemeinen in den Fällen des Artikels 97, Absatz 2 B-VG eine formlose Zustimmungserklärung der Bundesregierung genügt, sondern daß 9*

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diese Zustimmung in Form eines mit dem betreffenden Landesgesetz übereinstimmenden Bundesgesetzes erteilt werden muß. Mangels der Erlassung eines solchen Bundesgesetzes könnte die Landesgesetzgebung eine Bundespolizeibehörde zur Vollziehung eines Straßenpolizeigesetzes nicht in Anspruch nehmen. Dagegen ergibt sich aus der Verfassung kein Anspruch des Bundes, daß sich die Länder um die gesetzliche Zustimmung des Bundes in Straßenpolizeisachen bewerben und der Mitwirkung der Bundespolizeibehörden bedienen. Betrauen sie mit der Vollziehung ihrer Straßenpolizeigesetze ihre eigenen Behörden, so sind sie nicht bloß auf dem Gebiete der Vollziehung, sondern auch der Gesetzgebung auf den Bund nicht angewiesen. Es war also juristisch genommen, ein Akt der Freiwilligkeit, wenn das Land Wien für die Erlassung des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1929, BGBl. Nr. 439 ,,über die Berufung der Bundespolizeidirektion in Wien zur Vollziehung auf dem Gebiete der Straßenpolizei auf anderen als Bundesstraßen" Gelegenheit gegeben hat. Eine weitere Kompetenzbestimmung aus diesem Zusammenhange gibt nur einem älteren Sondergesetze die Weihe der Verankerung in der Verfassung. Der Gegenstand steht freilich einigermaßen im Mißverhältnis zu dieser Solennitätsform: ,,Soweit Akte der Vollziehung in Bausachen bundeseigene Gebäude betreffen, die öffentlichen Zwecken, wie der Unterbringung von Behörden und Ämtern des Bundes oder von öffentlichen Anstalten - darunter auch Schulen und Spitälern - oder der kasernenmäßigen Unterbringung von Heeresangehörigen oder sonstigen Bundesangestellten dienen, fallen diese Akte der Vollziehung in die mittelbare Bundesverwaltung; der Instanzenzug geht bis zum zuständigen Bundesminister. Die Bestimmung der Baulinie und des Niveaus fällt jedoch auch in diesen Fällen in die Vollziehung des Landes." Das Niveau der Kleinlichkeit einer solchen Kompetenzordnung bleibe außerhalb unserer Betrachtung; nur das eine sei hervorgehoben, daß eine derartige Zerreißung zusammengehöriger Rechtsfragen nichts weniger als die bei jeder Gelegenheit berufene ,,VerwaItungsVereinfachung" zur Folge hat. Die juristische Bedeutung der zitierten Kompetenzbestimmung besteht in der Einführung eines neuen Kompetenztypus, der durch Landesgesetzgebung und teilweise Vollziehung des Landesgesetzes auf dem Wege mittelbarer Bundesverwaltung gekennzeichnet ist. Es liegt also wiederum ein zentralisierender Einschlag in die Landesgesetzgebung vor, jedoch abweichend von den Fällen des Artikels 97 Absatz 2 B-VG nicht eine fakultative, sondern eine obligatorische Überleitung des Landesgesetzesvollzuges auf das Geleise der Bundesverwaltung und mit der weiteren, relativ föderalistischen

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Besonderheit, daß die Vollziehung im Lande nicht durch eigene Bundesbehörden, sondern - im Unterschied von der Vollziehung sonstiger Landesgesetze - im übertragenen Wirkungskreise des Bundes von Landesbehörden besorgt wird. Ein die Schwierigkeiten der reformierten Kompetenzordnung nur andeutendes und nicht zur Gänze erhellendes Gesamtbild der kompetenzrechtlichen Neuerungen zeigt, daß die Verfassungsreform auf diesem Gebiete nicht nur nicht die im Dienste des politischen Endziels der Republik Österreich gebotene Vereinfachung und Zusammenlegung der Kompetenzen, sondern im Gegenteile eine die juristische Erkenntnis und die Rechtsanwendung heillos verwirrende Differenzierung bisher kompetenzmäßig einheitlich geregelter Gesetzgebungs- und Vollzugsgegenstände gebracht hat. Die organisatorischen Neuerungen der Verfassungsnovelle auf dem Gebiete des Landesverfassungsrechtes bedeuten durchwegs eine weitere Einengung der schon bisher wie nirgends beengten Verfassungsautonomie der Länder. Neu ist zunächst die Normativbestimmung für das Landtagswahlrecht, daß den Wahlen die ständigen Wählerverzeichnisse für die Wahlen zum Nationalrat zugrunde zu legen sind. Diese Bestimmung ist nicht nur an sich als Richtlinie für das Landtagswahlrecht unitarisch, sondern sie hat auch die zentralisierende Nebenwirkung, daß den Landtagswahlen die von Bundespolizeibehörden angelegten Wählerlisten zugrunde zu legen sind. Weiters wurden für die Zusammensetzung der Landtage nach der Bürgerzahl abgestufte Höchstziffern von Mitgliedern aufgestellt. Bei aller sachlichen Berechtigung einer solchen Normativbestimmung fällt sie doch dadurch auf, daß es zu der von der Regierung vorgeschlagenen Kürzung der Mitgliederzahl des Nationalrates an der erforderlichen Selbstentäußerung gefehlt hat. Der Nationalrat war den Landtagen gegenüber rigoroser als sich selbst gegenüber. Der Kreis jener Bundes Verwaltungssachen, für die in den Ländern eigene Bundesorgane bestellt werden können, wurde einigermaßen geändert - im Gesamtkalkül wohl zum Vorteil des Bundes: In den Angeigenheiten des Gewerbes und der Industrie und des hydrographischen Dienstes wurde dem Bunde die Möglichkeit der Errichtung eigener Bundesorgane, von der er übrigens bisher keinen Gebrauch gemacht hatte, genommen, dagegen die gleiche Möglichkeit bezüglich des Eintrittes in das Bundesgebiet und des Austrittes aus ihm, ferner des Paßwesens, Meldewesens, Waffen-, Munitions- und Sprengmittelwesens sowie Schießwesens dem Bund eröffnet.

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In diesem Zusammenhange wurde auch die Rechtsstellung der dezentralen Schulbehörden in zentralistischem Sinne geklärt. Vor allem spricht die Verfassungsnovelle in ihrer Regelung der Organisation der Schulbehörden den Grundsatz der hierarchischen Unterordnung der Landesschulräte sowie des Stadtschulrates von Wien und der ihnen unterstehenden Schulbehörden unter den zuständigen Bundesminister aus. Die Vorsitzenden der Landesschulräte, des Stadtschulrates für Wien, der Bezirksschulräte und ihre Stellvertreter werden, was sich übrigens aus der festgestellten Unterordnung gemäß dem Artikel 20 B-VG von selbst ergäbe, verpflichtet, den Weisungen der übergeordneten Schulbehörde Folge zu leisten. Solche Weisungen dürfen indes nur erteilt werden, soweit damit nicht in die Erledigung einer Angelegenheit eingegriffen wird, die gesetzlich der kollegialen Beschlußfassung der nachgeordneten Schulbehörden vorbehalten ist, es wäre denn, daß sich diese Weisung auf die Ausübung der dem Vorsitzenden gegenüber den Beschlüssen gesetzlich zustehenden Befugnisse bezieht. Die Verantwortlichkeit der Vorsitzenden der Landesschulbehörden wird nach dem Vorbild der verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Landeshauptleute in ihrer Eigenschaft als Organe der mittelbaren Bundesverwaltung in der Weise geregelt, daß sie aus den gleichen Gründen wie ein Landeshauptmann auf Grund eines Beschlusses der Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof angeklagt werden können. Wird die Ausführung eines kollegialen Beschlusses einer Schulbehörde vom Vorsitzenden auf Grund einer Weisung der übergeordneten Schulbehörde eingestellt, so kann der die Weisung enthaltende Bescheid der übergeordneten Schulbehörde, die den Beschluß gefaßt hat, im Instanzenzug und nach Erschöpfung des Instanzenzuges mit Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof angefochten werden. Endlich wurde der zuständige Bundesminister verfassungsgesetzlich ermächtigt, sich persönlich oder durch beamtete Organe des von ihm geleiteten Bundesministeriums fallweise von dem Zustand und den Leistungen auch jener mittleren und niederen Unterrichtsanstalten zu überzeugen, die nicht in der unmittelbaren Verwaltung des Bundesministeriums stehen. Das Land Wien allein betreffen folgende Neuerungen: Für den Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung im Lande Wien werden die Geschäfte der Bezirks- und der Landesinstanz vom Bürgermeister als Landeshauptmann und von dem ihm unterstellten Magistrat in einer Instanz geführt. Der Instanzenzug geht in allen Fällen, in denen nicht ein Rechtsmittel gegen den Bescheid der Bezirksinstanz ausgeschlossen ist, vom Bürgermeister als

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Landeshauptmann an den zuständigen Bundesminister; bundesgesetzlich sonst allgemein vorgesehene Abkürzungen des Instanzenzuges finden keine Anwendung. Diese Bestimmungen gelten jedoch nicht, soweit Bundesbehörden in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung mit der Vollziehung betraut sind. Damit wird das Land Wien als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung einem von den anderen Ländern zu seinen Ungunsten abweichenden Sonderrecht unterstellt. Das Land Wien wird nämlich - von den Fällen, wo Bundesbehörden in erster Instanz entscheiden, abgesehen um eine Instanz geschmälert, kann selbst keine Rechtsmittelinstanz in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung darstellen, sondern muß immer der Rechtsmittelkontrolle einer zentralen Verwaltungsbehörde des Bundes unterliegen. Eine derzeit noch nicht aktuelle Sonderbestimmung über Verwaltungsstrafsachen geht dahin, daß der Verwaltungsstrafsenat, der zur Rechtsprechung oberster Instanz für Strafsachen des selbständigen Wirkungsbereiches des Landes beim Magistrat der Stadt Wien als Amt der Landesregierung zu bilden sein wird, zugleich auch die Rechtsprechung oberster Instanz in den Verwaltungsstrafsachen der mittelbaren Bundesverwaltung zu besorgen haben wird. Zur Handhabung des gesetzlich vorgesehenen Gnadenrechtes wird in diesen Fällen auf Grund der Anträge des Verwaltungsstrafsenates der Bürgermeister als Landeshauptmann berufen. Der Grund dafür, daß nach Einführung der Verwaltungsstrafsenate der Rechtsmittelzug in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung bei einer Landesbehörde enden wird, ist wohl darin zu suchen, daß den Kodifikatoren dieser Bestimmung die Organisation der Verwaltungsstrafsenate, denen auch in den Fällen, wo sie bei Landesbehörden fungieren, zwei vom Bund bestellte Mitglieder anzugehören haben, genügende Garantien in der Richtung jenes Zieles zu bieten schien, das mit der grundsätzlichen Erstreckung des Instanzenzuges vom Lande Wien als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung zu den Bundeszentralbehörden angestrebt wurde. Die Bedeutung der zuletzt zitierten Verfassungsbestimmung liegt somit darin, daß das im allgemeinen für Wien bestehende Sonderrecht des Instanzenzuges in unserem Fall nach dem Vorbild der in den andern Ländern herrschenden Rechtslage geändert wurde. Ein Sonderrecht wurde schließlich auch für Angelegenheiten des selbständigen Wirkungskreises des Landes Wien statuiert. Die Verfassungsnovelle schrieb nämlich - übrigens im Einklang mit der schon bisher freiwillig geschaffenen Organisation der Wiener Landesverwaltung - zwingend vor, daß in den Angelegenheiten des Bauwesens und Abgabenwesens die Entscheidung in oberster Instanz besonderen Kollegial-

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behörden zustehe, deren Zusammensetzung und Bestellung landesgesetzlich zu regeln ist. Die Normativbestimmungen für die Gemeindeverfassungen wurden in einer Weise geändert, daß von einer gewissen Abschwächung des demokratischen Prinzips in der Gemeindeorganisation gesprochen werden muß. Die Landesgesetzgebung wurde nämlich ermächtigt, das aktive und passive Wahlrecht in die Ortsgemeindevertretung solchen Personen, die sich noch nicht ein Jahr in der Gemeinde aufhalten, dann abzusprechen, wenn ihr Aufenthalt in der Gemeinde offensichtlich nur vorübergehend ist. Damit wurde insbesondere eine Handhabe geboten, fluktuierende Arbeiter vom Gemeindewahlrecht auszuschließen. Mit unmittelbarer Verbindlichkeit ordnet die Verfassungsnovelle an, daß die Bestimmungen über die Wahlpflicht bei den Wahlen zum Landtag sinngemäß auch auf die Wahlen in alle Gemeindevertretungen anzuwenden sind. Durchbrechungen des Rechtsstaatsgedankens Der Rechtsstaatsgedanke wird im einzelnen durch die Einführung eines selbständigen Verordnungsrechtes des Bundespräsidenten, der Polizeibehörden und durch die Zulassung selbständigen militärischen Einschreitens durchbrochen. Der gemeinsame Beweggrund dieser Neuerungen ist die Stärkung der Staatsautorität. Die genannten Einrichtungen bedeuten indes keine Mehrung, sondern nur eine Verschiebung bestehender staatlicher Kompetenzen, und zwar hauptsächlich aus dem Funktionsbereiche des Gesetzgebungs- in den des Vollzugsapparates und damit aus dem Machtbereiche der die Gesetzgebung beeinflussenden Parteien in das Machtbereich der die Verwaltung beherrschenden Parteien. Eine Stärkung der Staatsautorität, die von der Regierungsvorlage als das Wesen dieser Kompetenzverschiebung gedeutet wird, könnte in ihr nur unter der Voraussetzung erkannt werden, daß die Verwaltung ein echteres oder intensiveres Ausdrucksmittel des Staatswillens wäre als die Gesetzgebung. Ist es jedoch die Eigentümlichkeit des Rechtsstaates, die Verwaltung zur Gesetzgebung in eine dienende Rolle gebracht zu haben, so hat er damit gerade die Gesetzgebung zum maßgeblicheren Ausdruck des Staatswillens gemacht. Man könnte somit aus der Ideologie des Rechtsstaates heraus, der die Gesetzgebung zur dominierenden Staatsfunktion gemacht hat, in der Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative eher sogar eine Schwächung als eine Stärkung der Staatsautorität erkennen.

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Die Vorstellung und Forderung einer Stärkung der Staatsmacht durch eine Machtverschiebung von der Gesetzgebung zur Vollziehung erheischte vor allem eine Beteiligung des Staatsoberhauptes an der Gesetzgebung. Eine Steigerung des Anteiles des Bundespräsidenten an der formellen Gesetzgebung über die ihm nach wie vor zustehende Beurkundung der Gesetzesbeschlüsse - eine zugleich dem Zwecke der Rechtskontrolle dienende Solennitätsform - kam ohne evidente Sprengung der Staastsform nicht in Frage, doch für eine bedingungsweise Übertragung der Gesetzgebungskompetenz vom Parlament auf den Bundespräsidenten boten sich naheliegende Vorbilder dar. Das diktatorische Verordnungsrecht des Deutschen Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung und das kaiserliche Verordnungsrecht nach § 14 des österreichischen Grundgesetzes über die Reichs Vertretung vom 21. Dezember 1867 bezeichneten die Extreme, innerhalb deren das dem Bundespräsidenten zugedachte gesetzeskräftige Verordnungsrecht abzustecken war. Das Bestreben der Kodifikatoren war dahin gegangen, an das kaiserliche Verordnungsrecht möglichst nahe heranzukommen, ohne es freilich schlankweg zu übernehmen. Dabei übersah man freilich, daß eine Kompetenz des Staatsoberhauptes, die übrigens selbst im Wortlaut dem kaiserlichen Verordnungsrechte nachgebildet war, das grundsätzlich aufrecherhaltene parlamentarische Regierungssystem nicht weniger in Frage stellen mußte, als das Verordnungsrecht des Kaisers einen Rückfall des Konstitutionalismus in den Absolutismus bedeutet hat. Indes trifft das von der Verfassungsnovelle überhaupt gültige Urteil vielleicht am auffälligsten von dem selbständigen Verordnungsrechte des Bundespräsidenten zu. Die Gestalt, die diese Neuerung im Urentwurf des Verfassungsreformgesetzes erhalten hatte, ist in deren zum Gesetz gewordenen Endgestalt kaum wiederzuerkennen. Im Artikel 18 Absatz 3 B-VG wird dem Bundespräsidenten tatsächlich das Recht eingeräumt, gesetzeskräftige, und zwar auch gesetzesändernde Verordnungen zu erlassen. Die Bedingungen dieses Verordnungsrechtes des Bundespräsidenten lassen es indessen als die Kompetenz eines in eigentümlicher Weise zusammengesetzten Organs erkennen, an dessen Gesamtakt der Bundespräsident bloß mit einem paritätischen Teilakt beteiligt ist. Die Verordnungskompetenz des Bundespräsidenten ist von einer Vielzahl von Bedingungen abhängig gemacht, die man in solche sachlicher, förmlicher und inhaltlicher Natur gruppieren kann.

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ΪΙ.Α. Verfassungsrecht

Die Verordnung des Bundespräsidenten muß eine Maßnahme zum Inhalt haben, die verfassungsgemäß einer Beschlußfassung des Nationalrates bedarf. Eine solche Maßnahme ist in erster Linie ein Akt der Bundcsgesetzgebung - mit den noch zu bezeichnenden Ausnahmen. An sonstigen Maßnahmen kommt wohl nur die Genehmigung von Staats Verträgen gemäß Artikel 50 B-VG in Frage. Selbst einen Staatsvertrag kann man allerdings schwerlich eine Maßnahme nennen, deren sofortige,,Erlassung" notwendig werden kann, doch braucht wohl die Supplierung der verfassungsmäßig erforderlichen Genehmigung des Nationalrates durch eine Verordnung des Bundespräsidenten an der sprachlichen Schwierigkeit, die durch den für alle Fälle verfehlten Ausdruck ,,sofortige Erlassung von Maßnahmen" entstanden ist, nicht zu scheitern. Viel gewichtiger ist in dem Falle der Staatsverträge das sachliche Bedenken, daß ein Akt des Bundespräsidenten den Nationalrat beim Zustandekommen eines Staatsaktes supplieren soll, der verfassungsmäßig (Art. 65 B-VG) gerade vom Bundespräsidenten, wenngleich im Einvernehmen mit dem Nationalrat, gesetzt werden muß. Denn das würde, wenn die Verordnungen des Bundespräsidenten wirklich nur Willensäußerungen des Bundespräsidenten allein wären, bedeuten, daß der Bundespräsident seinen eigenen Akten durch seine Zustimmung rechtliche Verbindlichkeit zu verleihen vermöchte. Eine derartige doppelte Willensäußerung des Bundespräsidenten wäre ein Nonsens. Daß die beiden Teilakte der innerstaatlichen Inkraftsetzung von Staatsverträgen - Genehmigung durch den Nationalrat und Ratifikation von Seiten des Bundespräsidenten durch einen einzigen Staatsakt, nämlich eine gesetzändernde Verordnung des Bundespräsidenten, ersetzt werden könnten, würde einen Bruch mit dem Prinzip der österreichischen Verfassung bedeuten, die ansonsten die Transformation von Staatsverträgen in Gesetze und Verordnungen ablehnt. Der Ersatz der Genehmigung des Nationalrates durch eine ,,gesetzändernde Verordnung des Bundespräsidenten" wird nur dadurch denkbar und sogar sinnvoll, daß die Verordnungen des Bundespräsidenten streng genommen zusammengesetzte Akte sind, an denen der Bundespräsident nur mit einem Teilakt beteiligt ist. Es wird sich noch zeigen, daß im Wege der sogenannten ,, Verordnung des Bundespräsidenten" doch wiederum der Nationalrat, freilich durch einen Ausschuß repräsentiert, dem Staats vertrage seine Zustimmung erteilt, so daß der Sinn einer Genehmigung des Staatsvertrages durch Verordnung des Bundespräsidenten der eine vereinfachte Genehmigung von Seiten des Nationalrates ist. Eine einwandfreie sprachliche Formulierung der Verordnungskompetenz hätte wenigstens die Frage ganz außer Zweifel zu

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stellen vermocht, welche Akte des Nationalrates durch Verordnung des Bundespräsidenten suppliert werden können; namentlich hätte eine Beschränkung der Notverordnungen auf Maßnahmen, die verfassungsmäßig normalerweise eines Gesetzesbeschlusses des Nationalrates bedürfen, das Anwendungsbereich des Notverordnungsrechtes ganz ins Klare gestellt. Von der Generalklausel, mittels deren das Anwendungsbereich der Verordnungen des Bundespräsidenten umschrieben wird, macht das B-VG (Art. 18 Abs. 5) nach der Enume rationsmethode eine längere Reihe von Ausnahmen. Die Verordnungen des Bundespräsidenten dürfen nicht eine Änderung bundesverfassungsgesetzlicher Bestimmungen bedeuten und weder eine dauernde finanzielle Belastung des Bundes noch eine finanzielle Belastung der Länder, Bezirke oder Gemeinden noch finanzielle Verpflichtungen der Bundesbürger noch eine Veräußerung von Staatsgut noch Maßnahmen in den im Artikel 10 Z. 11 B-VG bezeichneten Angelegenheiten, noch endlich solche auf dem Gebiete des Koalitionsrechts oder des Mieterschutzes zum Gegenstande haben. Diese Reihe der Ausnahmen ist heterogenen Ursprunges - zum Teil dem § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung entlehnt, zum Teil zur Sicherung der sogenannten sozialen Errungenschaften und des nach schwerem Kampf erarbeiteten Kompromisses über den gesetzlichen Mieterschutz bestimmt. Die inhaltlichen Schranken des Notverordnungsrechtes bedeuten im einzelnen, daß vor allem das ganze Bundesverfassungsrecht für die Notverordnungen ein noli me tangere ist, mag es nun in Form selbständiger Bundesverfassungsgesetze oder auch in Form von Verfassungsbestimmungen oder verfassungsändernder Staatsverträgen kodifiziert sein. Die Gleichstellung sogenannter Verfassungsbestimmungen und verfassungsändernder Staatsverträge mit den eigentlichen Verfassungsgesetzen, die freilich allein als Schranke für das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten angeführt sind, erklärt sich aus der allgemeingültigen Gleichordnung des in den verschiedenen möglichen Formen kodifizierten Verfassungsrechtes des Bundes. Die Schranke, die den mittels des Notverordnungsrechtes zu treffenden finanziellen Maßnahmenm gesetzt ist, schwankt je nach dem Subjekt der finanziellen Inanspruchnahme. Finanzielle Belastungen der Länder, Bezirke und Gemeinden sowie finanzielle Verpflichtungen der Bundesbürger dürfen auf dem Wege der Verordnungen des Bundespräsidenten keinesfalls herbeigeführt werden. Das bedeutet insbesondere, daß Abgabengesetze

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mittels des Artikels 18 B-VG keinesfalls in Kraft gesetzt werden dürfen; damit sind insbesondere auch eine Neuordnung der Abgabenteilung zugunsten oder ungunsten der Länder Schranken gezogen. Dem Bund darf mittels Verordnung nur eine dauernde finanzielle Belastung nicht aufgebürdet werden. Die mißbräuchliche Auslegung, die dieselbe Schranke des kaiserlichen Verordnungsrechtes in der Praxis der Monarchie erfahren hat, indem man in den Fällen der Anleiheermächtigungen auf Grund des § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung die Aufnahme einer schwebenden Schuld als erforderlich, aber auch als zulässig behandelte, mochte auch auf diesem Wege eine faktisch noch so dauernde Belastung des Staatsschatzes herbeigeführt werden, hat vergeblich als Warnung für die Fassung der neuen Verordnungsermächtigung gedient. Die Theorie wird auch in der Praxis der Republik im Falle einer Ermächtigung durch Verordnung des Bundespräsidenten keine Belastung des Staatsschatzes hinnehmen dürfen, die, sei es auch in der Form einer schwebenden Schuld, tatsächlich eine dauernde Belastung des Bundesschatzes herbeizuführen geeignet ist. Nun ist vielleicht bei gewissen Maßnahmen nicht abzusehen, ob sie sich als dauernde finanzielle Belastung des Bundes auswirken werden, die Voraussehbarkeit einer solchen Wirkung schließt aber schon den Gebrauch des Verordnungsrechtes aus. Finanzielle Hilfsmaßnahmen für gefährdete und bankrotte Banken, wie sie in den letzten Jahren wiederholt, zum Teil ohne rechtliche Grundlage, aber immer mit der Wirkung einer dauernden Schädigung des Bundesschatzes unternommen wurden, dürften mit Hilfe des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten keinesfalls in die Wege geleitet werden. In die Reihe der finanzrechtlichen Beschränkungen des Notverordnungsrechts gehört endlich die Unzulässigkeit der Ermächtigung zur Veräußerung von Staatsgut in Form von Verordnungen des Bundespräsidenten, so daß derlei Ermächtigungen nach wie vor gemäß Artikel 42 Absatz 5 B-VG an die Form von Bundesgesetzen gebunden sind. Neuartig sind die anderen inhaltlichen Schranken des Notverordnungsrechts. Eine Verordnung des Bundespräsidenten darf nicht Maßnahmen in Angelegenheiten des Arbeiterrechtes sowie Arbeiter- und Angestelltenschutzes, soweit es sich nicht um land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und Angestellte handelt, ferner des Sozial- und Vertragsversicherungswesens, der Kammer für Arbeiter und Angestellte, des Koalitionsrechts und endlich des Mieterschutzes treffen. Der Zweck der Exemtion dieser bunten Reihe von Angelegenheiten aus den Wirkungsmöglichkeiten des Notverordnungs-

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rechtes ist offenbar der, das Sozialrecht, an dem die Arbeiterschaft vornehmlich interessiert ist, durch Verordnungen des Bundespräsidenten nicht verschlechtern zu lassen. Infolge der unbedachten Verweisung auf den Artikel 10 Alinea 11 B-VG wurden allerdings manche Angelegenheiten vom Anwendungsbereich des Notverordnungsrechtes ausgenommen, bei denen die allgemeine ratio der Exemtionen gewiß nicht zutrifft, so ist nicht einzusehen, warum das Vertragsversicherungswesen gleich dem Sozialversicherungswesen vor Eingriffen durch Notverordnungen geschützt sein soll; denn während es einerseits durchaus einleuchtet, daß das Sbz/fl/versicherungswesen als ein Gegenstand der sozialen Verwaltung aus dem Anwendungsbereich der Notverordnungen des Bundespräsidenten ausgenommen wird, ist es anderseits nicht einzusehen, warum das Vkr/ragsversicherungswesen in bezug auf die Anwendungsmöglichkeit des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten anders als das Zivilrechtswesen behandelt wird, dem es zugehört. Ebensowenig ist es zu begreifen, daß die Kammern für Arbeiter und Angestellte nicht nach der Schablone der Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie (Art. 10 Z. 8 B-VG) behandelt werden. Diese Auseinanderreißung und ungleiche Behandlung gleichartiger Gegenstände erklärt sich vermutlich nur aus dem Zufall, daß der Punkt 11 des Artikels 10 B-VG verschiedenartige Gegenstände ziemlich kunterbunt zusammenfaßt. Zwar nicht ausdrücklich, aber doch sinngemäß, ist aus dem Anwendungsbereich des Notverordnungsrechtes schließlich jede Maßnahme ausgenommen, die die Abänderung eines Staatsvertrages in sich schließt, abgesehen von dem Fall, daß die Abänderung wiederum durch Staatsvertrag erfolgt. Diese unausgesprochene Ausnahme erklärt sich daraus, daß eine sogenannte,,gesetzeskräftige Verordnung" keine höhere Kraft als ein gewöhnliches Gesetz haben kann, daß aber auch ein formelles Gesetz als ein einseitiger Akt verfassungsmäßig nicht dem mit einem anderen Staate vereinbarten Inhalt eines Staatsvertrages derogieren kann. Die,,gesetzeskräftigen" Verordnungen des Bundespräsidenten können in dem derart umrissenen Anwendungsbereiche gleicherweise geltenden Bundesgesetzesrechten derogieren und inhaltlich neues Bundesgesetzesrecht schaffen; denn durch die Kennzeichnung als ,,gesetzeskräftig" werden die Verordnungen des Bundespräsidenten in der Stufenfolge der Staatsakte in die Akte auf der Gesetzesstufe eingereiht und hinsichtlich ihrer rechtlichen Kraft den einfachen formellen Bundesgesetzen gleichgestellt, soweit ihnen nicht ausdrücklich gewisse Wirkungsmöglichkeiten abgesprochen sind. Um so mehr können Verordnungen des Bundespräsidenten, die in den für

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gesetzeskräftige Verordnungen vorgeschriebenen Formen erlassen werden, dem Bundesrechte von niedrigerer Stufe, insbesondere also den Verordnungen jeder Bundesbehörde, derogieren. Die sachlichen Voraussetzungen der Erlassung gesetzeskräftiger Verordnungen des Bundespräsidenten sind erfüllt, ,,wenn die sofortige Erlassung von Maßnahmen, die verfassungsgemäß einer Beschlußfassung des Nationalrates bedürfen, zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist". In dieser Formel finden sich neben vagen Ermessensblanketten Voraussetzungen, deren Erfüllung objektiv überprüfbar ist und die somit eine objektive Schranke des Notverordnungsrechtes begründen. Der Zweck der Notverordnungen - Abwehr eines offenkundigen, nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit - gibt der persönlichen Auffassung des kompetenten Organs nahezu unbeschränkten Spielraum. Die Vorstellung eines ,,Schadens für die Allgemeinheit" schwankt unvermeidlich nach dem Parteistandpunkt; was vom Standpunkt der einen Partei als der Allgemeinheit schädlich erscheint, kann vom Standpunkt der anderen Partei als nützlich erscheinen und umgekehrt. Ob der voraussichtliche Schaden wiedergutzumachen ist, bedingt einen Vorausblick auf die Zukunft, über dessen Richtigkeit die Wissenschaft nicht richten kann. Wo der eine die Notwendigkeit der ,,sofortigen" Vorkehrung einer Maßnahme gegeben glaubt, bezweifelt der andere einen solchen Grad der Dringlichkeit, daß das Zusammentreten des Nationalrates nicht abgewartet werden könne. Die bisher erwähnten Bedingungen der Ausübung des Notverordnungsrechtes laufen demnach geradezu auf die Ermächtigung hinaus, gesetzkräftige Verordnungen zu erlassen, sobald es den hierzu zuständigen Organen dringlich geboten erscheint. Die retardierenden Momente, die die Verfassung der Erlassung gesetzkräftiger Verordnungen entgegenstellt, haben nur die optische Wirkung, aber doch nicht die juristisch faßbare Bedeutung von Hemmungen. Den Versuch einer objektiven Einschränkung stellt lediglich die weitere Bedingung dar, daß die Erlassung der Verordnung der Abwehr eines,,offenkundigen" Schadens dienen müsse. Die Voraussetzung der „Offenkundigkeit" eines Schadens ist jedoch noch problematischer als die eines nicht wiedergutzumachenden Schadens. Denn als offenkundig ist der Schaden anzusehen, der einem irgendwie umschriebenen Personenkreis bewußt ist.

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Es gibt je nach dem Umfange des Personenkreises, dem die Schädlichkeit einleuchtet, verschiedene Grade der Offenkundigkeit; letztlich kommt es wiederum darauf an, ob der Schade in den Augen der zuständigen Personen offenkundig erscheint - entscheidet also über die Offenkundigkeit wie überhaupt darüber, ob die Voraussetzungen der Erlassung einer ,,Verordnung des Bundespräsidenten" erfüllt sind, das unbeschränkte Ermessen der an einer solchen Verordnung beteiligten Organe. Die Voraussetzungen der Erlassung von Notverordnungen sind immerhin so gestellt, daß sie als bloßer durch die Umstände erzwungener Notbehelf an Stelle der Akte des normalerweise zuständigen Organes erscheinen. Sie sind jedenfalls nur rechtliche Handhaben für den Fall, daß der Nationalrat augenblicklich ausgeschaltet ist, und nicht Handhaben zu dem Zwecke, um den Nationalrat auszuschalten. Die Erlassung einer Notverordnung ist nämlich dadurch bedingt, daß ein an den Beschluß des Nationalrates gebundener Akt ,,zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist". Das bedeutet vor allem, daß während der Sitzungen des Nationalrates Notverordnungen keinesfalls erlassen werden dürfen. Aber die bloße Tatsache, daß der Nationalrat nicht versammelt ist, macht an sich noch nicht die Erlassung von Verordnungen zulässig. Es müßte vor allem erwogen werden, ob durch Einberufung des Nationalrates nicht die Maßnahme auf normalem verfassungsmäßigen Wege bewerkstelligt werden könnte. Die Beurteilung dieser Frage obliegt den an der Notverordnung beteiligten Organen unter Sanktion ihrer Verantwortlichkeit. Verwehrt nach Auffassung der zuständigen Organe die Dringlichkeit ein solches Zuwarten, so kann in diesem Falle die Notverordnung auch während einer Tagung erlassen werden. Eigenartig ist die Bestimmung, daß das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten nicht bloß den nicht verfassungsmäßig versammelten, sondern auch den durch höhere Gewalt in seiner Tätigkeit behinderten Nationalrat supplieren kann. Als höhere Gewalt kann nur ein außen stehender Faktor, seien es Menschen oder Naturkräfte, nie aber Erscheinungen des parlamentarischen Lebens selbst, insbesondere die Obstruktion einer Minderheit, angesehen werden. Für die Erlassung einer Notverordnung genügt nun aber nicht, daß der Nationalrat aus einem der drei genannten Gründe seiner verfassungsgemäßen Tätigkeit nicht obliegen kann, sondern es ist weiters vorausgesetzt, daß die Maßnahme, die durch Notverordnung getroffen werden soll, erst zu einer Zeit notwendig wurde,

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wo der Nationalrat auf die bezeichnete Weise an seiner Tätigkeit gehindert war. Hatte sich z.B. der Nationalrat bereits mit der Angelegenheit befaßt und nur wegen innerer Hemmungen keinen Gesetzesbeschluß zustande gebracht, so kann man nicht sagen, daß die Maßnahme ,,zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist". Auch mit den Worten ,,zu einer Zeit notwendig wird" ist ein positiv-rechtlicher Sinn verbunden, und dieser Sinn kann nur der einer weiteren - der eben dargestellten Einschränkung des Notverordnungsrechtes sein. Zieht man den Zeitpunkt, in dem die Maßnahme notwendig wird, nicht in Betracht, und werden demgemäß auch Verordnungen über Maßnahmen, mit denen sich vorher schon der Nationalrat befaßt hat, als zulässig angesehen, so behandelt man die Worte ,,zu einer Zeit notwendig wird" als inhaltloses Satzfüllsel. Diese Feststellungen werden durch die Erinnerung gerechtfertigt, daß die analoge Ermächtigung zu kaiserlichen Verordnungen im § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867 am häufigsten in dem Punkte überschritten wurde, daß kaiserliche Verordnungen unbekümmert um die Voraussetzung der Verfassung erlassen wurden, daß sich die Notwendigkeit der Maßnahme ,,zu einer Zeit herausgestellt hat, wo der Reichsrat nicht versammelt war". Im Gegensatz zu dieser ausdrücklichen Bedingung der Verfassung wurde vielmehr die Verordnungsermächtigung am häufigsten dazu gebraucht oder richtiger mißbraucht, um Maßnahmen auf dem Verordnungswege zu treffen, um deren gesetzgeberische Durchführung sich die Regierung vergeblich bemüht hatte. Diese geschichtliche Reminiszenz kann zur Auslegung der neuen Ermächtigung zu Notverordnungen beitragen.5 Oit formellen Voraussetzungen der Notverordnung sind nachstehende: Der Bundespräsident hat selbst in diesem Falle einer diktatorischen Kompetenz, in dem er den Gesetzgeber suppliert, einen Vorschlag der Bundesregierung abzuwarten. Die Bundesregierung darf diesen Vorschlag nicht selbständig erstatten, sondern hat zu ihrem Entwürfe der Notverordnung einen Beschluß eines vom Hauptausschuß des Nationalrates einzusetzenden ständigen Unterausschusses einzuholen. Wenn nach Vorschrift der Verfassung die Bundesregierung ihren Vorschlag im ,,Einvernehmen" mit diesem

5 Adamovich - Froehlich, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., Wien 1930, S. 39 f., führen in ihrer ansonsten vollständigen Aufzählung der Voraussetzungen des Notverordnungsrechtes die vorstehend besprochene nicht an.

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Unterausschuß zu erstatten hat, so bedeutet dies, daß ohne einen Beschluß dieses Unterausschusses, mittels dessen er dem Entwürfe der Notverordnung vorbehaltlos seine Zustimmung gegeben hat, ein Vorschlag der Bundesregierung unzulässig ist. Macht der Unterausschuß seine Zustimmung von gewissen Bedingungen abhängig oder erteilt er sie nur für einzelne Teile des Entwurfes, so muß die Regierung, wenn ihr an der Erlassung der Verordnung gelegen ist, vor der Vorlage des Entwurfes an den Bundespräsidenten diese Bedingungen erfüllen bzw. den Entwurf insolange modifizieren, bis er die ungeteilte Zustimmung des Unterausschusses - in Form eines Mehrheitsbeschlusses - gefunden hat. Anderenfalls könnte nicht von einem „Einvernehmen" mit dem Unterausschuß gesprochen werden. Erst nachdem die Bundesregierung und der erwähnte Parlamentsausschuß ihren Willen auf Erlassung der „Verordnung des Bundespräsidenten" kundgegeben haben, ist der Bundespräsident berechtigt, seinen Willensentschluß durch Unterfertigung des ihm vorgelegten Entwurfes zu äußern. Dem Bundespräsidenten steht nur frei, entweder sich den Entwurf unverändert zu eigen zu machen oder ihn zur Gänze abzulehnen. Der Bundespräsident hat mithin auf den Inhalt der ihm zugeschriebenen Verordnung keinen Einfluß, es wäre denn, daß er der Regierung von vornherein bedeutet hätte, daß er nur einen Entwurf bestimmten Inhaltes unterfertigen werde. Nach der Unterfertigung von Seiten des Bundespräsidenten ist der Verordnungstext von sämtlichen Mitgliedern der Bundesregierung gegenzuzeichnen und sodann im Bundesgesetzblatt kundzumachen. Damit ist die Notverordnung perfekt. Ihrem Zustandekommen nach ist somit die Notverordnung kein einseitiger Akt des Bundespräsidenten, sondern der Akt eines in eigentümlicher Weise aus parlamentarischen und außerparlamentarischen Faktoren, nämlich aus dem Unterausschuß des Hauptausschusses, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten, zusammengesetzten Organes. Die Teilakte der einzelnen Organe, aus denen sich die Notverordnung ergibt, werden von der Verfassung zwar verschieden bezeichnet, sind jedoch juristisch einander völlig gleichwertig; insbesondere ist ein Mehrwert des Anteils des Bundespräsidenten juristisch nicht festzustellen. Der Anteil aller drei Faktoren der Notverordnung ist eine in bezug auf die Frage des Ob gänzlich dem freien Ermessen anheimgegebene Willensäußerung. Nur die Reihenfolge der Teilakte ist verfassungsgesetzlich in der Weise gebunden, daß der Regierung die Initiative zusteht, sodann ein Parlamentsausschuß und nach diesem erst der Bundespräsident, falls ihnen der Vorschlag genehm ist, die Zustimmung erteilen und schließlich die Bundesregierung ihren Willen 10 A. J. Merkl

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durch die Gegenzeichnung bekräftigt. Am ehesten konnte man demnach den Anteil der Bundesregierung für gehoben finden, da sie ihre den beiden anderen Mitbeteiligten allerdings gleichwertige Willensäußerung zweimal, und zwar einleitend durch den Vorschlag und abschließend durch die Gegenzeichnung abzugeben in die Lage kommt. Dabei sei die Bundesregierung im Falle der Gegenzeichnung durchaus nicht an ihre durch den Vorschlag ausgedrückte Haltung gebunden. Diese Möglichkeit einer abweichenden Haltung kann von praktischer Bedeutung werden, wenn zwischen dem Akt der Initiative und der Gegenzeichnung ein Kabinettswechsel oder ein Ministerwechsel eingetreten ist, denn ein einzelner Minister kann durch die Verweigerung der Gegenzeichnung im letzten Augenblick das Zustandekommen der Notverordnung vereiteln. Die Verfassung hat, wie man sieht, zugleich mit der Einführung des Notverordnungsrechtes eine ganze Reihe von Hemmnissen seines Gebrauches und damit zugleich auch seines Mißbrauches eingeführt. Das bedeutendste retardierende Moment auf dem Entstehungsweg der Notverordnung ist die Mitwirkung eines parlamentarischen Ausschusses, der seiner Zusammensetzung nach ein Spiegelbild des parlamentarischen Plenums ist, denn durch diese Einschaltung eines parlamentarischen Faktors kommt das Notverordnungsrecht um seinen strengen juristischen Sinn eines administrativen Surrogates der Legislative und um seinen möglichen politischen Zweck einer Verdrängung der Legislative durch die Exekutive. In ihrer Gesetz gewordenen Gestsalt ist die Einrichtung der Notverordnung eine Variante der Bundesgesetzgebung; der komplizierte und zeitraubende Weg des ,,Gesetzgebungsverfahrens im Hause" ist auf einen ganz formlosen Ausschußbeschluß gekürzt und gewissermaßen zur Kompensation der im allgemeinen nur formale Anteil des Bundespräsidenten an der Gesetzgebung zu einer materiellen Mitbestimmung gesteigert. Zugleich bietet eine Gestalt der Notgesetzgebung, durch die nur längere parlamentarische Arbeit, aber nicht die Inanspruchnahme des Parlamentse überhaupt erspart wird, eine Gewähr dafür, daß der Weg der Notgesetzgebung wirklich nur dann beschritten wird, wenn die Maßnahme auf dem normalen Wege der Bundesgesetzgebung zu spät käme. Größere praktische Bedeutung dürfte wohl dem Notverordnungsrecht unter diesen Umständen nur in dem Falle zukommen, daß der Nationalrat aufgelöst ist und mithin bis zur Einberufung des neugewählten Nationalrates überhaupt kein funktionsfähiges Parlament vorhanden ist.

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Ist die Notverordnung nicht nur ihrer rechtlichen Wirkung nach, sondern auch gemäß dem Wege ihres Zustandekommens nur ein wenn auch formell vereinfachtes Gesetz, so unterscheidet sie sich wesentlich einerseits von den kaiserlichen Verordnungen auf Grund des § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichs Vertretung vom 21. Dezember 1867, anderseits von den Verordnungen des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 der Deutschen Reichsverfassung, denn die altösterreichische und die gegenwärtige Deutsche Reichsverfassung schalten die Parlamente vom Zustandekommen der Verordnungen des Staatsoberhauptes völlig aus, lassen sie vielmehr sich erst mit den kundgemachten Verordnungen befassen. Dieser nachträgliche Anteil ist dem österreichischen Nationalrat überdies auch gewahrt. Die Bundesregierung ist nämlich verpflichtet, jede Notverordnung unverzüglich dem Nationalrat vorzulegen. Die Form ist eine Regierungsvorlage, mittels welcher der Verordnungstext zur verfassungsmäßigen Behandlung gemäß Artikel 18 Absatz 4 B-VG übermittelt wird. Falls der Nationalrat im Zeitpunkt der Vorlage der Notverordnung keine Tagung hat, ist der Bundespräsident, falls er aber tagt, der Präsident des Nationalrates verpflichtet, das Haus für einen der der Vorlage folgenden acht Tage einzuberufen. Der Zweck dieser Vorschrift ist selbstverständlich der, dem Nationalrat Gelegenheit zu geben, sich mit der Notverordnung zu befassen. Die Vorschrift läßt indes den praktisch am nächsten liegenden Fall außer acht, daß der Nationalrat, sei es wegen Ablaufes der Gesetzgebungsperiode, sei es wegen Auflösung, überhaupt nicht zur Verfügung steht. In diesem Falle ist die Bestimmung des Bundes-Verfassungsgesetzes unanwendbar. Ist bereits ein neuer Nationalrat gewählt, so ist der Bundespräsident durch unsere Bestimmung verpflichtet, die Einberufung des neugewählten Nationalrates in der Weise zu beschleunigen, daß er binnen acht Tagen zusammentreten kann. Damit wird dem Bundespräsidenten denkbarerweise etwas technisch Unmögliches zugemutet. Das Verhalten des Nationalrates wird durch die Anordnung geregelt, daß er binnen vier Wochen nach der Vorlage entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder durch Beschluß das Verlangen zu stellen habe, daß die Verordnung von der Bundesregierung sofort außer Kraft gesetzt werde. Im letztgenannten Falle ist die Bundesregierung verpflichtet, diesem Verlangen sofort zu entsprechen. Nach dem Gesetzeswortlaut ist somit die Bundesregierung scheinbar vor eine Alternalo*

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tive gestellt, die beiden der Wahl des Nationalrates anheimgestellten Möglichkeiten sind: Ersetzung der Verordnung durch ein inhaltsgleiches oder auch ein inhaltlich abweichendes Bundesgesetz oder Fassung eines Beschlusses, der auf die ersatzlose Beseitigung der Notverordnung hinausläuft. Damit ist so viel sichergestellt, daß die Notverordnung gegen den geäußerten Willen der Parlamentsmehrheit nicht in Geltung bleiben kann. Der Nationalrat kann die Verordnung zwar nicht unmittelbar außer Kraft setzen, aber einen Beschluß fassen, der - vorausgesetzt, daß die Regierung ihre verfassungsgesetzliche Pflicht erfüllt - zwangsläufig zur Aufhebung der Verordnung führt. Allerdings ist ein solcher Beschluß mit dem Zeitraum von vier Wochen ,,nach der Vorlage" befristet. Mit dem ungenützten Ablauf dieser Frist hat sich der Nationalrat seiner Kompetenz, formlos die Außerkraftsetzung der Verordnung zu verlangen, begeben und die Verordnung kann infolge ihrer Gestzeskraft nur noch durch Bundesg£sefz aufgehoben werden. Da die Frist zu diesem bedeutsamen Akte parlamentarischer Kontrolle vom Zeitpunkt des Einlangens der Regierungsvorlage im Nationalrat und nicht etwa vom Zeitpunkt des Zusammentretens des Nationalrates läuft, zeigt sich wiederum die Notwendigkeit einer Sicherung des baldigen Zusammentretens des Nationalrates und damit eine Sicherung der Ausübung seines Kontrollrechtes gegenüber Notverordnungen. Gerade diese Sicherung fehlt aber, wie bereits erwähnt, für den Fall der Auflösung des Hauses; da dieser Fall nicht bedacht ist, kann der Nationalrat durch den Zeitablauf nach der Vorlage um die Möglichkeit der für diesen Fall zu kurz befristeten Prüfung kommen, es wäre denn, daß die Bundesregierung die Vorlage hinausschiebt, um damit auch den Ablauf der Prüfungsfrist zu verzögern, was jedoch mit der Verpflichtung zur sofortigen Vorlage nicht in Einklang zu bringen wäre. Außer einem Beschluß, der die Außerkraftsetzung einer Notverordnung heischt, stellt die Verfassung dem Nationalrat frei, an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen, als dessen Inhalt nur die Rezeption oder Abänderung der Verordnung in Frage kommt, da ja für die volle Aufhebung der Verordnung der besprochene Weg eines einfachen Beschlusses vorgesehen ist. Trotz der Imperativischen Ausdrucksweise hat jedoch die Verfassung mangels jedweder Sanktion ihrer Anweisung keine Rechtspflicht des Nationalrates begründet, einen der beiden vorbezeichneten Wege zu beschreiten. Was also dann, wenn der Nationalrat nichts dergleichen tut? Die Verfassung wollte augenscheinlich durch die Bereit-

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Stellung ihrer beiden Eventualitäten vermeiden, daß die Notverordnungen eine langlebige und quantitativ bedeutsame Rechtsquelle werden; es war offenbar beabsichtigt, daß die im Weg von Notverordnungen getroffenen Einrichtungen entweder in Gesetze transformiert werden oder verschwinden. Diese Absicht wurde jedoch kodifikationstechnisch verfehlt. Wenn der Nationalrat binnen der vierwöchigen Verschweigungsfrist von keiner der beiden Möglichkeiten Gebrauch macht, so bleiben die Notverordnungen einfach weiter in Geltung, ja sie gewinnen sogar durch diesen Fristablauf an rechtlicher Kraft, denn sie können von nun an nur noch durch formelle Gesetze aufgehoben werden, haben also durch den Zeitablauf volle und endgültige Gesetzeskraft erlangt. Der gesetztechnische Weg, die Verordnungen auf einfache Weise zu beseitigen, wäre der gewesen, sie an eine befristete Genehmigung des Nationalrates zu binden und die bloße Tatsache der nicht fristgerechten Genehmigung zum Rechtsgrund des unmittelbaren Außerkrafttretens der Verordnung zu erklären. In diesem Falle hätte bloßes Nichthandeln derogatorische Kraft gehabt. Tatsächlich werden aber durch die Verfassung die Notverordnungen konserviert und wird nur die Möglichkeit einer vereinfachten und befristeten Außerkraftsetzung durch positives Handeln eingeführt. Der Passus im Artikel 18 Absatz 4 „entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder" ist überflüssig, da dem Nationalrat wohl auch nach Ablauf der vierwöchigen Frist die Transformation der Verordnung in ein Gesetz oder ihre Abänderung und Aufhebung durch Gesetz freisteht. Eine besonders rigorose Auslegung könnte sogar zu dem Ergebnis kommen, daß mit dem Ablauf der vier Wochen alle von der Verfassung bezeichneten Möglichkeiten erschöpft seien und nur eine Verfassungsänderung imstande sei, die Notverordnung zu beseitigen oder in die Gesetzesform zu transformieren. Eine solche Rechtsfolge der Unterlassung der in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeiten wäre gewiß im höchsten Maße unzweckmäßig, aber die unglückliche Fassung der Kompetenzen des Nationalrates gegenüber den Notverordnungen gibt sogar dieser von jedem Standpunkt aus unerwünschten Auslegung Raum. Es ist sicherlich sehr bedauerlich, daß das Schicksal der am meisten umkämpften Rechtsquelle, eben der Notverordnungen, schließlich noch vom Zufall der Beantwortung einer strittigen juristischen Auslegungsfrage abhängig sein kann. Die Verfassung trifft schließlich non eine Bestimmung, die darauf abzielt, eine positive Stellungnahme des Nationalrates herbeizuführen. Zum Zweck der rechtzeitigen Beschlußfassung des Nationalrates hat nämlich der Präsi-

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dent die Vorlage spätestens am vorletzten Tag der vierwöchigen Frist zur Abstimmung zu stellen. Eine weitere Anordnung geht endlich dahin, daß in dem Falle, daß die Verordnung verfassungsgemäß von der Bundesregierung aufgehoben werden mußte, mit dem Tag des Inkrafttretens der Aufhebung die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit treten, die durch die Verordnung aufgehoben worden waren. Durch dieses automatische Inkrafttreten des vormaligen Rechtes wird vermieden, daß durch das Außerkrafttreten der Notverordnung ein rechtsleerer Raum entsteht. Außer dem Bundespräsidenten haben durch die Verfassungsreform auch die mit der Führung von Angelegenheiten der allgemeinen Sicherheitspolizei betrauten Behörden ein selbständiges Verordnungsrecht erhalten. Indes hat dieser weitere mit dem vorstehend besprochenen Verordnungstypus nur das gemeinsam, daß die einschlägigen Verordnungen nicht durch ein einfaches Gesetz bedingt sind und ebenfalls in Fällen ergehen, in denen ansonsten der Weg der Gesetzgebung beschritten werden müßte. Die tiefgreifenden Unterschiede betreffen das mit derVerordnungskompetenz betraute Organ, das Anwendungsbereich der Verordnungen, den Weg ihrer Erlassung und Außerkraftsetzung und die rechtliche Kraft der Verordnungen. Das Verordnungsrecht der Polizeibehörden ist im Bundesverfassungsgesetz vom 7. Dezember 1929, BGBl. Nr. 393 „betreffend Übergangsbestimmungen zur Zweiten Bundes-Verfassungsnovelle", verankert. Diese befremdliche systematische Stellung einer dem Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten verwandten Institution erklärt sich aus der Absicht, den Schein einer zeitlichen Befristung dieser Verordnungskompetenz und damit des Charakters dieser Bestimmung als einer bloßen „Übergangsbestimmung" zu erwecken. Die Verordnungskompetenz wird „bis zur Erlassung bundesgesetzlicher Bestimmungen über die Befugnisse der Behörden auf dem Gebiet der allgemeinen Sicherheitspolizei" erteilt. Die in dieser Form ausgesprochene Befristung ist aber nur scheinbar, denn es ergibt sich aus den wiedergegebenen Worten kein Anhaltspunkt dafür, daß und gegebenenfalls wann solche bundesgesetzliche Bestimmungen zu erlasssen sind, die der Kompetenz der Polizeibehörden zur Erlassung selbständiger Verordnungen ein Ende setzen. Die juristische Bedeutung des zitierten Gesetzespassus beschränkt sich darauf, daß ein einfaches Gesetz, und zwar das erwähnte Polizeikompetenzgesetz, das aus dem Übergangsgesetz sich ergebende selbständige Verordnungsrecht der Polizeibehörden abändern oder durch seine Nichtaufnahme unter die polizeilichen Kompetenzen zum Erlöschen bringen kann. Das

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Motiv der Verweisung dieser wichtigen Neuerung in das Übergangsgesetz zum B-VG liegt allerdings darin, den optischen Eindruck dieses weiteren Eingriffes in den Rechtsstaat einigermaßen abzuschwächen. Die in Rede stehende Verordnungskompetenz steht den mit Aufgaben der allgemeinen Sicherheitspolizei betrauten Behörden zu. Die Anwendungsbasis dieser Verordnungskompetenz und damit wohl auch die Chance der Anwendung ist unvergleichlich größer als im Falle der „Verordnungen des Bundespräsidenten". Die Voraussetzungen der Verordnungskompetenz treffen für Bundes- und Landesbehörden zu, und zwar im einzelnen für das Bundeskanzleramt als oberste Bundespolizeibehörde, für die Landeshauptleute und die Landesregierungsämter als Inhaber der zur mittelbaren Bundesverwaltung zweiter Instanz gehörigen Polizeiverwaltung, die Bezirkshauptmannschaften, die autonomen Städte, soweit ihnen nicht die Aufgaben der Bundespolizeiverwaltung abgenommen sind, und die Bundespolizeibehörden, die letzten drei Behördentypen als Inhaber der Bundespolizeiverwaltung erster Instanz. Der Umfang der selbständigen Polizeiverordnungskompetenz der genannten Behörden ist selbstverständlich je nach ihrem Wirkungskreis verschieden, weil sich auch diese außerordentliche Verordnungskompetenz nur innerhalb des allgemeinen Wirkungskreises der genannten Behörden bewegen kann. Die Zuständigkeit dieser Behörden, innerhalb ihres Wirkungskreises gesetzesvollziehende Verordnungen zu erlassen, wird durch die zusätzliche Kompetenz zur Erlassung selbständiger Polizeiverordnungen selbstverständlich in keiner Weise berührt. Diese soll ja gerade für jene Fälle dienen, wo mangels entsprechender gesetzlicher Grundlage die bloße Zuständigkeit zu gesetzesvollziehenden Verordnungen für die Bedürfnisse der polizeilichen Praxis nicht zureicht. Die erweiterte Verordnungskompetenz geht dahin, „zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums ... die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen zu treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung zu erklären". Der Zweck der zulässigen selbständigen Polizeiverordnungen ist also unvergleichlich enger als der des Bundespräsidenten, der außer polizeirechtlichen unzählige andere Verordnungen erlassen darf. Der polizeiliche Zweck der selbständigen Verordnungen der Polizeibehörden ist überdies noch inhaltlich mehrfach beschränkt. Die Verordnung darf nur zum Schutz der gefährdeten körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums dienen. Soll das

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Attribut nicht ein bedeutungsloses Wortfüllsel sein, so kann nicht eine abstrakte, sondern nur eine konkrete Gefährdung die Anwendung der Verordnungskompetenz rechtfertigen. Die Absicht, die Polizeibehörden für den gesetzlich unvorhergesehenen Fall von Gefährdungen der öffentlichen Ordnung auch mit genügend wirksamen rechtlichen Handhaben auszurüsten, ist ja der legislativpolitische Grund unserer neuen Polizeikompetenz. Zeigt sich nur die entfernte Möglichkeit einer Gefahr der körperlichen Sicherheit von Menschen oder des Eigentums, der mit den bestehenden rechtlichen Mitteln voraussichtlich nicht begegnet werden kann, so kann und soll nach wie vor der Weg der Gesetzgebung eingeschlagen werden. Die sich selbst mit Machtmitteln ausrüstende Polizeibehörde ist eine Reminiszenz an den Polizeistaat und soll, wenn sie schon im Rechtsstaat Eingang findet, doch wohl möglichst engen und strengen Schranken unterworfen werden. Eine solche Schranke bedeutet schließlich auch die Bestimmung, daß die Anordnungen zur Abwendung der Gefahr erforderlich sein müssen. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß die Polizeibehörde aus Anlaß der aktuellen Gefahr nicht etwa alle in ihren Wirkungskreis fallenden Anordnungen treffen darf, die ihr wünschenswert erscheinen, sondern daß die Anordnungen dem Zwecke in der Weise anzupassen sind, daß nur das zur Erreichung des Zweckes voraussichlich Erforderliche angeordnet wird. Das rechtliche Gebot eines solchen Maßhaltens erklärt sich daraus, daß sich polizeiliche Anordnungen naturgemäß als Eingriffe in die Individualsphäre darstellen. Unter den dargestellten Voraussetzungen dürfen Polizeibehörden, wie sich das Gesetz ausdrückt,,,Anordnungen treffen und deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung erklären". Wie sich aus offiziösen Aufklärungen ergab, wollte die Regierungsvorlage mit dem Gebrauche des Wortes „Anordnungen" andeuten, daß etwas von Verordnungen Wesensverschiedenes gemeint sei. Indes entspricht der sprachlichen Differenzierung zwischen „Verordnungen" und „Anordnungen" keine irgendwie faßbare begriffliche Differenzierung. Die in unserer Verfassungsbestimmung genannten „Anordnungen der Polizeibehörden" stellen sich infolge ihrer Eigenschaft als generell normierende Akte von Verwaltungsbehörden, in denen unter Strafsanktion ein bestimmtes Verhalten geboten oder verboten wird, als echte Verordnungen dar. Und zwar handelt es sich um Verordnungen, die infolge ihrer qualifizierten rechtlichen Kraft in der Stufenfolge der Verordnungen eine verhältnismäßig hohe Stufe einnehmen. Der Versuch, ihnen eine geringere rechtliche Bedeutung als den Verordnungen im allgemeinen beizule-

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gen, wird durch die verfassungsgesetzliche Regelung dieser Polizeiverordnungen restlos widerlegt. Was nun die rechtliche Kraft und damit den Rang unserer Polizeiverordnungen in der Stufenfolge der Staatsakte betrifft, bestimmt das Verfassungsgesetz: „Solche Anordnungen dürfen nicht gegen bestehende gesetzliche Vorschriften verstoßen". Damit ist den Polizeiverordnungen unmittelbar gesetzändernder Inhalt verwehrt. Um so weniger dürfen Polizeiverordnungen Rechtsquellen derogieren, denen höherer rechtlicher Rang als einfachen Gesetzen zukommt, namentlich Verfassungsgesetzen und Staatsverträgen. Hingegen müssen die durch die besondere verfassungsgesetzliche Ermächtigung zugelassenen Polizeiverordnungen eine höhere rechtliche Kraft haben als die auf der allgemeinen verfassungsgesetzlichen Ermächtigung des Artikels 18 B-VG beruhenden Verordnungen, denn sonst bedürfte es ja keiner Sonderermächtigung. Die Steigerung der rechtlichen Kraft unserer Polizeiverordnungen im Vergleiche mit den gewöhnlichen Durchführungsverordnungen besteht darin, daß sie unmittelbar auf Grund der sie ermächtigenden Verfassungsbestimmung, ohne ein ihnen zur Grundlage dienendes einfaches Gesetz, erlassen werden können. Da von Rechts wegen alles zulässig ist, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist es zwar unvermeidlich, daß eine nicht auf ein einfaches Gesetz gestützte Verordnung in die gesamte bestehende Gesetzesrechtslage eingreift, indem sie ein Verhalten, das nach der Gesetzesrechtslage statthaft ist, verbietet, aber diese Modifikation der geltenden Gesetzesrechtsordnung darf nicht einen Eingriff in ein Gesetz darstellen. Polizeiverordnungen auf Grund des Übergangsgesetzes von 1929 haben demnach insoferne Gesetzeskraft, als sie gleich einem einfachen Gesetz Eingriffe in Freiheit und Eigentum normieren können, ermangeln jedoch insoferne der Gesetzeskraft, als sie einem Gesetze selbst nicht derogieren können. Die systematische Stellung der Polizeiverordnungen auf Grund des Übergangsgesetzes in der Stufenfolge der Rechtsquellen ist demnach dahin zu bestimmen, daß sie einfachen Gesetzen nachgeordnet, Durchführungsverordnungen gemäß Artikel 18 B-VG übergeordnet sind. Dieses Rangverhältnis erklärt sich daraus, daß einerseits die fraglichen Polizei Verordnungen zwar nicht einem einfachen Gesetz, wohl aber jeder Durchführungsverordnung derogieren können, anderseits einer solchen Polizei Verordnung zwar jedes einfache Gesetz, jedoch keine Durchführungsverordnung derogieren kann. Da die Verordnungen des Bundespräsidenten den einfachen Gesetzen an rechtlicher Kraft gleichkommen, stehen ihnen die gesetzesvertretenden Polizeiverordnungen an rechtlicher Kraft in

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demselben Maße wie den einfachen Gesetzen nach. Man kann demnach die Polizei verordnungen auf Grund des Übergangsgesetzes von den Durchführungsverordnungen auf Grund Artikel 18 B-VG nicht durch das Attribut „gesetzeskräftig", sondern nur durch das Attribut „gesetz vertretend" unterscheiden. Der Abstand an rechtlicher Kraft, der zwischen den Verordnungen des Bundespräsidenten und den Polizeiverordnungen besteht, erklärt sich nicht bloß aus dem Abstand der Organstellung der mit dieser außerordentlichen Verordnungskompetenz betrauten Organe, sondern auch aus dem beträchtlichen Formunterschied bei Erlassung und Außerkraftsetzung der Verordnungen. Im Gegensatz zu den erschwerenden Verfahrensbestimmungen, denen eine Verordnung des Bundespräsidenten genügen muß, regelt die Verfassung in keiner Weise den Weg, der bei Erlassung der Polizei Verordnungen einzuschlagen ist. Das bedeutet, daß die einfachen Formvorschriften, die nach einfach-gesetzlicher Anordnung bei der Erlassung von Verordnungen überhaupt zu beachten sind, auch die ausschließliche Verfahrensregel für die Erlassung von Polizeiverordnungen darstellen. In derselben einfachen Weise, wie die generelle Exekutive eines Gesetzes oder einer Verordnung einer höheren Behörde durch eine gesetzvollziehende Verordnung vor sich geht, kann somit ein in der Verwaltungshierarchie subalternes Organ die Rolle eines Gesetzgebers spielen. Und während die Verordnungen des Bundespräsidenten durch die Verantwortung sämtlicher Minister gedeckt sind und außerdem der Nationalrat auf die Erlassung und auf den Bestand der Verordnungen des Bundespräsidenten maßgebenden Einfluß hat, kann eine Polizeibehörde rechtschöpfende Akte gleich einem Gesetze selbstherrlich, rechtlich nur durch die disziplinäre Verantwortung gehemmt, setzen. An Stelle der Kompetenz irgendeines Kontrollorganes, das etwa ermächtigt wäre, die Aufhebung einer solchen Verordnung zu verlangen, findet sich in der Verfassung bloß eine Anweisung, die Verordnung aufzuheben, sobald der Grund zu ihrer Erlassung weggefallen ist. Wünschen Nationalrat oder Landtage die Aufhebung einer solchen in ihren gesetzlichen Wirkungskreis eingreifenden Polizeiverordnung, so bleibt ihnen, wenn eine Resolution an die Regierung des Inhaltes, daß sie für die Aufhebung der Verordnung Sorge trage, versagt, kein anderer Ausweg als die Verabschiedung eines Gesetzesbeschlusses, mittels dessen die Polizeiverordnung für aufgehoben erklärt wird. Der allfällige Aufwand solcher gesetzestechnischer Mittel wäre vermieden worden, wenn die Verfassung in Anlehnung

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an ihre eigene Regelung des außerordentlichen Verordnungsrechtes des Bundespräsidenten angeordnet hätte, daß die Polizeiverordnungen auf Verlangen der parlamentarischen Körperschaft, in deren gesetzgeberischen Wirkungskreis sie eingreifen, von der diese Körperschaft verantwortlichen Regierung binnen einer bestimmten Frist außer Kraft zu setzen sind. Mit diesem selbständigen Verordnungsrecht haben die Polizeibehörden der Republik eine Kompetenz erhalten, die die Verfassung der Monarchie den Polizeibehörden ihrer Zeit versagt hatte und die sie sich auch in der Praxis der monarchischen Polizeiverwaltung nur zögernd und zurückhaltend herausgenommen haben. Die dritte Neuerung, die als Lockerung des Rechtsstaatssystems zu werten ist, besteht in der Ermächtigung militärischer Organe zu selbständigem militärischen Einschreiten. Die bisher ausnahmslose Regel war, daß die Wehrmacht ihre weitgehenden polizeilichen Kompetenzen, zu denen sie die einzigartige pazifistische Umschreibung ihres Wirkungskreises (Art. 79 B-VG) berufen hat, nur entfalten durfte, soweit die gesetzmäßige bürgerliche Gewalt ihre Mitwirkung in Anspruch nahm. Wenn die Bundesverfassung die Dienstleistung des Bundesheeres für innerstaatliche Zwecke von einer Anforderung militärischer Hilfeleistung von Seiten der für diese Staatsaufgabe zunächst zuständigen Zivilbehörde abhängig gemacht hat, so entsprach sie damit einer alten Vorstellung von der bürgerlichen Freiheit im Rechtsstaate, wonach der Bürger unmittelbar nur der Zivilbehörde Untertan sei; eine Aufbietung der Wehrmacht erschien dieser Ideologie mit der bürgerlichen Freiheit nur unter der Voraussetzung vereinbar, daß die Wehrmacht als ein um die Hilfeleistung ausdrücklich ersuchtes Hilfsorgan der Zivilbehörde auftritt. Der Verfassungsentwurf hatte zunächst eine Regelung vorgeschlagen, die mit der angedeuteten politischen Ideologie und rechtlichen Tradition des Rechtsstaates radikal gebrochen hätte. Die Gesetz gewordene Fassung der Ermächtigung zu selbständigem militärischen Einschreiten wahrt in der Hauptsache das Prinzip und läßt nur in Fällen, wo es praktisch unanwendbar ist, dem Militärorgan die Initiative. Selbständiges militärisches Einschreiten ist nunmehr zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen sowie zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Innern überhaupt und zur Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges zulässig, wenn entweder die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstand

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gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen und bei weiterem Zuwarten ein nicht wieder gutzumachender Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde, oder wenn es sich um die Zurückweisung eines tätlichen Angriffs oder um die Beseitigung eines gewalttätigen Widerstandes handelt, die gegen eine Abteilung des Bundesheeres gerichtet sind. Damit sind drei Gründe für selbständiges militärisches Einschreiten umschrieben. Wenn die Truppe nicht unmittelbar selbst berührt ist, wie in den Fällen eines tätlichen Angriffes auf sie oder eines gewalttätigen Widerstandes gegen sie - der freilich voraussetzt, daß sie legitimerweise in Aktion getreten ist - , so gibt nur die tatsächliche Unfähigkeit der Zivilbehörde, Militärassistenz zu erbitten, die Berechtigung zu selbständigem militärischen Einschreiten. Die zuständige Behörde muß durch höhere Gewalt, z.B. durch Isolierung von Seiten einer aufrührerischen Menschenmenge oder dadurch, daß sie eine Elementarkatastrophe von jedem Verkehr abgeschnitten hat, an der Inanspruchnahme der Militärassistenz gehindert sein, damit selbständiges Einschreiten zulässig werde. Ob die zuständige Zivilbehörde dieser Art außer Aktion gesetzt ist, hat der militärische Befehlshaber, der selbständig einzuschreiten im Begriffe steht, unter eigener disziplinärer Verantwortung zu beurteilen. Jedenfalls ist ein selbständiges militärisches Einschreiten insolange unzulässig, als der Zivilbehörde möglich wäre, mit dem Militärbefehlshaber in Verbindung zu treten, und ihr das militärische Einschreiten vielleicht unerwünscht erscheint. Die Kompetenzlage ist nunmehr immerhin in der Weise verschoben, daß die Beantwortung der Frage nach dem Ob und Wann des militärischen Einschreitens unter gewissen Umständen vom Zivilorgan auf ein Militärorgan übergegangen ist. Eine typische Einrichtung des Rechtsstaates ist ferner das parlamentarische Budgetrecht. So bedeutete auch der Versuch des Entwurfes zur Verfassungsnovelle, die Budgetbewilligung von Seiten des Nationalrates zu einer bloßen Formalität abzuschwächen, deren Nichterfüllung kein Hindernis für die Fortführung des Bundeshaushaltes sein sollte, einen Versuch der Durchbrechung des Rechtsstaates an einer anderen Stelle, doch mit demselben Endziel als in den bisher besprochenen Fällen, nämlich mit dem Ziele, den Einfluß der Volksvertretung auf die Führung der Staatsgeschäfte abzuschwächen. Das Ergebnis dieser Reformbestrebungen war zwar eine textliche und sachliche Änderung der auf das Budgetrecht des Nationalrates bezüglichen Verfassungsbestimmungen, jedoch nicht eine wesentliche Schwächung des Einflusses des Nationalrates auf die Aufstellung und

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Führung des Bundeshaushaltes. In einem Punkte kommt die neue Verfassungsvorschrift dem Nationalrat sogar weiter entgegen als das vormalige Recht, denn die Bundesregierung hat statt bisher spätestens acht Wochen in Hinkunft spätestens zehn Wochen vor Ablauf des Finanzjahres dem Nationalrat einen Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben des Bundes für das kommende Finanzjahr vorzulegen, womit die Gelegenheit für eine rechtzeitige Verabschiedung des Bundesvoranschlages verbessert wird. Die einschneidendere Neuerung im bisherigen Rechtszustande besteht nun in der Einführung eines kraft Verfassungsvorschrift für den Fall nicht rechtzeitiger Gesetzwerdung des Voranschlagsentwurfes eintretenden sogenannten Budgetprovisoriums. Die Verfassung bestimmt nämlich für den Fall, daß der Nationalrat den Bundesvoranschlagsentwurf nicht vor Ablauf des Finanzjahres verfassungsmäßig genehmigt und bis dahin auch keine vorläufige Vorsorge durch Bundesgesetz getroffen hat, daß in den ersten zwei Monaten des folgenden Finanzjahres die Steuern, Abgaben und Gefälle nach den bestehenden Vorschriften einzuheben und die Bundesausgaben auf Rechnung der gesetzlich festzustellenden Kredite mit Ausnahme von Ausgaben, die im letzten Bundesfinanzgesetz ihrer Art nach nichts besonders vorgesehen waren, zu bestreiten sind. Die Höchstgrenze der zulässigen Bundesausgaben bilden die in dem Voranschlagsentwurf enthaltenen Ausgabenkredite, wobei für jeden Monat ein Zwölftel dieser Kredite als Grundlage zu dienen hat. Die zur Erfüllung rechtsverbindlicher Verpflichtungen erforderlichen Ausgaben sind nach Maßgabe ihrer Fälligkeit zu bestreiten. Dienstposten werden während dieses verfassungsmäßigen Budgetprovisoriums auf Grund des Entwurfes des Bundesfinanzgesetzes besetzt. Im übrigen bleiben die Bestimmungen des letzten Bundesfinanzgesetzes auch während des zweimonatigen Budgetprovisoriums in Kraft. Der Sinn dieser neuen Bestimmungen ist eine Vorsorge für den Fall, daß weder das Bundesfinanzgesetz selbst noch in Ermanglung eines solchen ein besonderes einfach-gesetzliches Budgetprovisorium die Führung des Bundeshaushaltes während des neuen Finanzjahres oder eines zeitlichen Abschnittes des neuen Finanzjahres geregelt hat. In diesen Fällen tritt mit Beginn des neuen Finanzjahres nicht ein sogenannter ex lex-Zustand des Bundeshaushaltes ein, sondern wird automatisch die zitierte verfassungsgesetzliche Ermächtigung für die Regierung wirksam, den Bundeshaushalt teils nach Maßgabe des letzten Finanzgesetzes, teils nach den von der verfassungsgesetzlichen Ermächtigung vorweggenommenen Bestimmungen des Entwurfes des neuen Finanzgesetzes durch zwei Monate fortzuführen. Für die weitere Führung des

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Bundeshaushaltes ist allerdings die Vorsorge durch ein besonderes Bundesgesetz unvermeidlich. Daraus ergibt sich, daß die Verfassungsnovelle das Budgetrecht des Nationalrates sachlich nicht im geringsten geschmälert, sondern nur die bisherigen Rechtsfolgen der nicht rechtzeitigen Ausübung des Budgetrechtes um zwei Monate verzögert hat, was im Interesse der Regierung, aber auch des Nationalrates liegen kann. Die Fassung der neuen budgetrechtlichen Bestimmungen bestätigt übrigens authentisch die in der Theorie und Praxis wenig beliebte Auslegung, daß mangels budgetgesetzlicher Deckung jedwede, auch zur Erfüllung rechtsverbindlicher Pflichten erforderliche Ausgabe einer budgetgesetzlichen Ermächtigung bedürfe. 6 Denn wenn es die Verfassungsnovelle für notwendig erachtet, die Regierung ausdrücklich zu ermächtigen, während der Geltung des verfassungsgesetzlichen Budgetprovisoriums die zur Erfüllung rechtsverbindlicher Verpflichtungen erforderlichen Ausgaben nach Maßgabe ihrer Fälligkeit zu bestreiten, so spricht aus dieser Ermächtigung die Auffassung, daß erst durch sie die Leistung der fraglichen Zahlungen zulässig werde und daß mit dem Ablauf des Budgetprovisoriums auch die Zulässigkeit dieser Zahlungen zu Ende gehe. Die neuen Verfassungsbestimmungen bedeuten somit geradezu eine Stärkung des parlamentarischen Budgetrechtes, da es in seiner bisher angezweifelten radikalsten Gestalt nicht mehr angezweifelt werden kann. Eine weitere unscheinbare Bestimmung der Verfassungsnovelle dürfte von ihren Verfassern als weittragende Ermächtigung zu gesetzvertretenden oder vielleicht sogar gesetzändernden Maßnahmen gedacht gewesen sein, kann aber in ihrer vorliegenden Fassung nicht in diesem wohl beabsichtigten Sinne ausgelegt werden. „Ergibt sich in einzelnen Gemeinden die Notwendigkeit, wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung besondere Maßnahmen zu treffen, so kann der zuständige Bundesminister mit diesen Maßnahmen für die Dauer der Gefährdung eigene Bundesorgane betrauen." (Art. 102 Abs. 7 B-VG). Diese inhaltsarme Verfassungsbestimmung verdient in diesem Zusammenhange nur deshalb Erwähnung, weil sie kürzlich von einer Seite, die über die Absichten der Kodifikatoren vollauf unterrichtet

6 Diese Auslegung habe ich bereits in meinem schriftlichen Gutachten für den 35. Deutschen Juristentag über die Frage: „Empfiehlt es sich, die bestehenden Grundsätze über die Bewilligung der Einnahmen und Ausgaben für die Haushalte des Reiches und der Länder zu andern ?" und in der Diskussion über die Berichte der Minister Kienböck und HöpkerAschof in meiner Polemik gegen die beiden genannten Berichterstatter vertreten. Vgl. die Verhandlungsprotokolle (1928), S. 335 ff.

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sein muß, in einer Weise ausgedeutet wurde, die sie als die schrankenloseste Durchbrechung des Rechtsstaates erscheinen läßt.7 Die juristische Bedeutung dieser Bestimmung liegt in der verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Einführung eines Ausnahmszustandes, auf die die Regierung offenbar deswegen Gewicht legte, weil die vorerst nach alten Mustern vorgeschlagene Ermächtigung nicht die erforderliche Mehrheit fand. In der vorliegenden ungewöhnlich verklausulierten Fassung dürfte der Sinn der Verfassungsstelle als Ermächtigung zu Ausnahmsmaßnahmen, von den grundsätzlichen Gegnern eines Ausnahmszustandes verkannt, auf der anderen Seite aber wiederum übersehen worden sein, daß der Ausnahmszustand infolge der unbeabsichtigten oder unbedachten Einschränkungen hinter seinen geschichtlichen Vorbildern weit an Beweglichkeit zurückbleibt. Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß unsere Verfassungsbestimmung mit nickten irgendeinem Minister die Vollmacht erteilt, irgendwelche nicht schon durch einfaches Gesetz vorgesehene Maßnahmen nach freiem Ermessen ins Werk zu setzen. Eine solche Auslegung der Verfassungsbestimmung würde einem einzelnen Minister eine Kompetenz zusprechen, wie sie in keinem parlamentarischen Staate dem Staatsoberhaupt oder der Regierung zusteht, nämlich die Kompetenz, wenn er die öffentliche Ruhe und Ordnung gefährdet sieht, nach seinem Ermessen, allerdings nur gemeindeweise Gesetze außer Kraft zu setzen und ohne gesetzliche Grundlage gesetzeskräftige Verordnungen und Verfügungen zu erlassen. Es soll hier nicht untersucht werden, ob es zulässig ist, dem Nationalrat die Absicht dieses oder jenes Kodifikators zu imputieren, nachdem die offenkundige Ermächtigung zum Ausnahmszustand gefallen war, einer viel weitergehenden versteckten Ermächtigung in der Verfassung Raum zu geben. Es sei nur festgestellt, daß eine solche allfällige Absicht mit den aufgewendeten kodifikatorischen Mitteln nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte. Die geltende Ausnahmsermächtigung ist in der Weise beschränkt, daß ein Bundesminister von der vorliegenden Ermächtigung nur dann Gebrauch machen kann, wenn ein geltendes oder künftiges einfaches Gesetz zu solchen Maßnahmen die Ermächtigung erteilt, denn es ist nach Artikel 77 Absatz 2 B-VG Aufgabe

7

Adamovich/Froehlich sagen in ihrer sonst vorzüglichen kommentierten Textausgabe der „Österreichischen Verfassungsgesetze' 4, 2. Aufl. Wien 1930: „Welche Maßnahmen in diesem Falle zu treffen sind und welche Bundesorgane hiemit betraut werden sollen, hat der zuständige Bundesminister zu beurteilen" (S. 99, Anmerkung 9).

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der Bundes Gesetzgebung, die Zuständigkeit der Bundesminister zu regeln. Es wäre ein Mißverständnis, daß ein Minister schon von vornherein zu einem bestimmten Aufgabenkreise zuständig sei, es summiert sich vielmehr die Zuständigkeit eines Ministers aus Einzelkompetenzen, die in zahllosen Rechtsquellen verliehen sind und seit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung nur noch in Gesetzen und gesetzeskräftigen Verordnungen verliehen werden können. Es wäre eine typische Münchhauseniade, wollte die auf den Artikel 102 Absatz 7 B-VG gegründete Maßnahme eines Ministers zugleich auch erst die Zuständigkeit des Ministers zu eben dieser Maßnahme begründen. Die Zuständigkeit des Ministers (,,der zuständige Minister") muß vielmehr bereits auf verfassungsmäßigem Wege (also durch Bundesgesetz oder gesetzeskräftige Verordnung) bestimmt sein, damit die Kompetenz des Artikels 102 Absatz 7 überhaupt aktualisiert werden könne. Die rechtliche Neuerung der gewiß nicht klar gefaßten Bestimmung besteht darin, daß der auf diese Weise zuständig gemachte Minister mit den fraglichen Maßnahmen nötigenfalls andere als die im Gesetze bezeichneten Organe betrauen, z.B. bei Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung in einer Gemeinde die Aufgaben der Lokalpolizei der Gemeinde abnehmen und einem exponierten Bundesorgan übertragen darf. Bei dieser, aber auch nur bei dieser Auslegung verliert die Bestimmung des Artikels 102 Absatz 7 B-VG den Charakter eines - ansonsten unerhört weittragenden - Eingriffes in das Gefüge des Rechtsstaates. Alles in allem halten sich die Eingriffe in das System des Rechtsstaates, die in den Reformgesetzen vom 7. Dezember 1929 zum Durchbruch gekommen sind, in so engen Grenzen, daß zum Unterschied von den einschlägigen Bestimmungen der Regierungsvorlage von den Reformgesetzen selbst eine das Wesen des Rechtsstaates erschütternde Verfassungsänderung nicht herbeigeführt wurde. Es ist beim bloßen Versuch geblieben.

Entpolitisierung der Garantien von Verfassung und Verwaltung Die Verfassungsreform war überhaupt unter dem Leitgedanken der sogenannten Entpolitisierung gestanden; dieser Gedanke ist jedoch nur auf dem Gebiete der sogenannten Verfassungsgarantien gesetzgeberisch zum Ausdruck gekommen. Begreiflicherweise, denn die Rechtserzeugung und die Spitzenfunktionen der Verwaltung können, wenn sie demokratisch sein

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sollen, nur in dem hier in Frage kommenden Sinn politisch sein. Dagegen können organisatorische Einrichtungen, um die es sich im Falle der Verfassungs- und Verwaltungsgarantien handelt, ihrem Gegenstande nach sehr wohl und zweckmäßigerweise parteipolitischen Einflüssen entrückt werden. Indes haben die Kodifikatoren der Reformgesetze die Entpolitisierung als bloße Entparlamentarisierung der fraglichen Einrichtungen verstanden, als ob mit der Zurückdrängung legitimer parlamentarischer alle illegitimen parteipolitischen Einflüsse ausgeschaltet wären. Die einschlägigen Reformen betreffen im einzelnen die Verfassungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechnungskontrolle. Die Verfassungsgerichtsbarkeit als die unstreitig originellste Einrichtung der Bundesverfassung wurde nicht so sehr durch die Novellierung der organisatorischen Bestimmungen über den Verfassungsgerichtshof als vielmehr durch das in der Justizgeschichte Österreichs und wohl aller Rechtsstaaten einzig dastehende Revirement der Verfassungsrichter betroffen. In âtr Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes ist die neue Berufungsordnung besonders bemerkenswert. Während bisher die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes einschließlich des Präsidenten und Vizepräsidenten teilweise vom Nationalrat, teilweise vom Bundesrat, also ausschließlich von parlamentarischen Kollegien bestellt wurden, ist nunmehr der parlamentarische Einfluß auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes auf ein bloßes Vorschlagsrecht hinsichtlich eines Teiles seiner Mitglieder herabgemindert. Die Berufung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes wurde zu einer neuen Kompetenz des Bundespräsidenten, die er je zum Teil in Gemeinschaft mit der Bundesregierung, mit dem Nationalrat und mit dem Bundesrat ausübt. Den Präsidenten, den Vizepräsidenten, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung. Diese Mitglieder sind aus dem Kreise der Richter, Verwaltungsbeamten und Professoren an den rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten zu entnehmen. Die übrigen sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ernennt der Bundespräsident auf Grund von Dreiervorschlägen, die für drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied der Bundesrat erstattet. Während alle Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Richter des Verwaltungsgerichtshofes nur auf Grund von Vorschlägen richterlicher Senate ernannt werden dürfen, ist dem höchsten Gerichte, eben dem Verfassungsgerichtshof, jedes Vorschlagsrecht bezüglich seiner Besetzung entzogen. Diese Neuregelung des Berufungsweges dient offenbar nicht der Eman11 A. J. Merkl

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zipation des Verfassungsgerichtshofes von fremden politischen Einflüssen, sondern nur einer Verschiebung der politischen Einflüsse auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes innerhalb des Kreises der politischen Faktoren. Der Prätext der Entpolitisierung ist in keinem Punkte der Verfassungsreform in dem Maße eine Falschmeldung wie in dem für den Ernst des Entpolitisierungsprogrammes entscheidenden Punkte der Berufungsordnung des nur zu oft zur Kritik über parteipolitische Digressionen in Gesetzgebung und Verwaltung berufenen höchsten Gerichtes. Die neuen Bestimmungen über die persönlichen Voraussetzungen für das Richteramt bedeuten hingegen einen anerkennenswerten Fortschritt in der Richtung der Entpolitisierung. Das gilt vor allem von den Unvereinbarkeitsvorschriften. Dem Verfassungsgerichtshof können nämlich nicht angehören: Mitglieder der Bundesregierung oder einer Landesregierung, ferner damit bringt die Verfassungsnovelle Neues - Mitglieder des Nationalrates, des Bundesrates oder sonst eines allgemeinen Vertretungskörpers, ferner Personen, die Angestellte oder sonstige Funktionäre einer politischen Partei sind. Zum Präsidenten oder Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofes kann auch nicht bestellt werden, wer eine der vorbezeichneten Funktionen in den letzten vier Jahren bekleidet hat. Der Präsident, der Vizepräsident sowie die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes müssen die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien beendet und bereits durch mindestens zehn Jahre eine Berufsstellung bekleidet haben, für die die Vollendung dieser Studien vorgeschrieben ist. Mit diesen Vorschriften über die persönlichen Voraussetzungen für das Amt eines Verfassungsrichters ist jedenfalls dem jedwede Gerichtsbarkeit kompromittierenden Zustand ein Ende gemacht, daß Parlamentarier über die Verfassungsmäßigkeit parlamentarischer Akte, also sozusagen in eigener Sache, judizieren. Noch so weit gehende Inkompatibilitätsvorschriften sind aber keine Gewähr gegen eine parteipolitische Durchsetzung des Gerichtshofes, wenn nicht ergänzende positive Garantien für die Auswahl von Richterpersönlichkeiten, die pareipolitischen Einflüsterungen unzugänglich sind, hinzukommen. Der Wirkungskreis des Verfassungsgerichtshofes hat eine Schmälerung erfahren, die jedoch nur eine Zurückführung des Gerichtshofes auf den Aufgabenkreis eines reinen Verfassungsgerichtshofes bedeutet. Die reichlichsten Agenden des Verfassungsgerichtshofes, nämlich die Rechtsprechung über die aus einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis abgeleiteten Ansprüche der Angestellten des Bundes und der Länder, der Bezirke und

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der Gemeinden wurde als ein echter Fall von Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Verfassungsgerichtshof entzogen und dem Verwaltungsgerichtshof übertragen. Dasselbe gilt von vermögensrechtlichen Ansprüchen an den Bund, die Länder und die Gemeinden, die im ordentlichen Rechtsweg nicht auszutragen sind; jedoch blieb die Rechtsprechung über derartige Ansprüche, wofern sie der Bund, die Länder, die Bezirke oder die Gemeinden gegeneinander im Klagewege geltend machen, dem Verfassungsgerichtshof vorbehalten. Eine gewisse Entschädigung für diese Verengerung des Wirkungskreises des Gerichtshofes besteht in der Erweiterung der Möglichkeiten, ihn mit seiner vornehmsten, dem Wesen eines Verfassungsgerichtshofes nächstliegenden Aufgabe, der Gesetzesprüfung, zu befassen. Das Antragsrecht zur Überprüfung eines Gesetzes wurde nämlich auch dem Obersten Gerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof eingeräumt, sofern ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz die Voraussetzung eines Erkenntnisses dieser Gerichtshöfe bildet. Damit wurde die Wirkungsmöglichkeit der verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung um einen weiteren Schritt jener Rechtslage angenähert, die im Fall einer actio popularis gegen verfassungswidrige Gesetze bestünde. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat ebenfalls organisatorische und funktionelle Veränderungen erfahren, denen jedoch keinerlei politische Zweckbestimmung anhaftet, sondern sie sich als ein sachlicher Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellen. Die bisherige parlamentarische Mitwirkung bei der Berufung der Verwaltungsrichter wurde gänzlich beseitigt. Den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die übrigen Mitglieder ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung. Der Vorschlag der Bundesregierung beruht jedoch nicht mehr so wie bisher auf Vorschlägen des Nationalrates und des Bundesrates, sondern auf Dreiervorschlägen der Vollversammlung des Verwaltungsgerichtshofes. Nur bei ihren Vorschlägen bezüglich des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofes ist die Bundesregierung durch keinerlei Vorschlagsrecht oder Zustimmungserfordernis gebunden. Die Inkompatibilitätsvorschriften ähneln denen für den Verfassungsgerichtshof. Dem Verwaltungsgerichtshof können Mitglieder der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines allgemeinen Vertretungskörpers nicht angehören; für Mitglieder der allgemeinen Vertretungskörper, die auf eine bestimmte Gesetzgebungs- oder Funktionsperiode gewählt wurden, dauert die Unvereinbarkeit bis zum Ablauf der Gesetzgebungs- und Funktionsperiode fort. Die persönlichen Voraussetzungen für das Amt eines Verwaltungsrichters wurden dahin umII*

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schrieben, daß alle Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien vollendet und bereits durch mindestens zehn Jahre eine Stellung bekleidet haben müssen, für die die Vollendung dieser Studien vorgeschrieben ist. Nach wie vor muß wenigstens der dritte Teil der Mitglieder die Befähigung zum Richteramte haben, wenigstens der vierte Teil soll aus Berufsstellungen in den Ländern, womöglich aus dem Verwaltungsdienst der Länder, entnommen sein. Unter allen vorgeführten Bestimmungen dient wohl die Bindung der Richter an Vorschläge der Vollversammlung des Verwaltungsgerichtshofes am besten dem Zwecke, das Niveau des Gerichtes gegenüber parteipolitischen Einflüssen zu wahren.8 Der Wirkungskreis des Verwaltungsgerichtshofes wurde in einer rechtstechnisch vollkommeneren Weise als bisher umschrieben und um die vorerwähnten, bisherigen Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofes erweitert. Die Generalklausel, in die der Wirkungskreis des Verwaltungsgerichtshofes gefaßt ist, sucht ihresgleichen an Einfachheit und Prägnanz. ,,Der Verwaltungsgerichtshof erkennt über Rechtswidrigkeit von Bescheiden (Entscheidungen und Verfügungen) der Verwaltungsbehörden/' Die Ausnahmen von dieser Generalklausel sind rechtstechnisch besser und einfacher gefaßt als im bisherigen von der Verfassungsnovelle des Jahres 1925 herrührenden Verfassungstext, der insoweit allerdings noch nicht in Kraft getreten war. Von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes sind nunmehr ausgeschlossen: 1. Die Anglegenheiten, die zur Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes gehören, 2. die Disziplinarangelegenheiten der Angestellten des Bundes, der Länder, der Bezirke und der Gemeinden; 3. die Angelegenheiten des Patentwesens; 4. die Angelegenheiten, über die in oberster Instanz die Entscheidung einer Kollegialbehörde zusteht, wenn nach dem die Einrichtung dieser Behörde regelnden Bundes- oder Landesgesetz unter den Mitgliedern sich wenigstens ein Richter befindet, auch die übrigen Mitglieder in Ausübung dieses Amtes an keine Weisungen gebunden sind, die Bescheide der Behörde nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungsweg unterliegen, und nicht ungeachtet des Zutreffens dieser

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Die Entpolitisierungsmaßnahmen wurden in der Verfassungsnovelle - über den Regierungsentwurf hinausgehend - auch auf die ordentliche Gerichtsbarkeit, allerdings nur auf den Obersten Gerichtshof, auf den sich parteipolitische Einflüsse erfahrungsgemäß am leichtesten geltend machen, erstreckt. Für den Obersten Gerichtshof wurden nämlich dieselben Unvereinbarkeitsbestimmungen aufgestellt wie für den Verwaltungsgerichtshof.

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Bedingungen die Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes ausdrücklich für zulässig erklärt ist. Aus diesen Exemtionsgründen ergibt sich, daß der Weg zum Verwaltungsgerichtshof im allgemeinen nur in solchen Fällen abgeschnitten ist, wo ein anderes Gericht abschließend die gleiche Gewähr der Rechtmäßigkeit eröffnet oder schon das Verwaltungsverfahren durch die gerichtsähnliche Zusammensetzung der Verwaltungsbehörde bis zu einem gewissen Grade den Zweck der Verwaltungsgerichtsbarkeit erfüllt. Indes kann in diesen Fällen ein einfaches Gesetz die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes herstellen, so daß die verfassungsgesetzliche Exemtion des Verwaltungsgerichtshofes durch eine einfachgesetzliche Enumeration wieder wettgemacht werden kann. Die ursprüngliche Generalklausel ist übrigens nicht isoliert geblieben, sondern durch einige Spezialklauseln ergänzt worden. Als solche stellen sich einerseits die Umschreibungen der vom Verfassungsgerichtshof neu gewonnenen Kompetenzen, andererseits die schon aus der Verfassungsnovelle des Jahres 1925, jedoch in vereinfachter Fassung, übernommene Kompetenz in Verwaltungsstrafsachen dar. Es bedeutet eine partielle Ermessenskontrolle, wenn der Verwaltungsgerichtshof auf Beschwerde des Bestraften auch über die Höhe der in einem Straferkenntnis ausgesprochenen Strafe, und zwar ausnahmsweise meritorisch, zu erkennen hat, wofern es sich um eine Freiheitsstrafe von mehr als einer Woche und eine Geldstrafe von mehr als S 200, um die Strafe des Verfalles von Gegenständen in diesem Wert oder um die Strafe der Entziehung einer Berechtigung handelt. Mit dieser Spezialklausel sind die Voraussetzungen für die Korrektur des Strafausmaßes von Verwaltungsstrafen durch den Verwaltungsgerichtshof wesentlich vereinfacht. Endlich wird die Wirksamkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit dadurch gehoben, daß die Verwaltungsbehörden straffer als bisher an die in der Regel bloß meritorischen und daher einer verwaltungsbehördlichen Anwendung bedürftigen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes gebunden werden. Während nämlich die Verfassung bisher bloß vorgeschrieben hatte, daß die Verwaltungsbehörden bei dem unverzüglich zu erlassenden neuen Bescheid an die Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes gebunden ist, ordnet die Verfassung nunmehr an: ,,Wird der Bescheid der Verwaltungsbehörde aufgehoben, so sind die Verwaltungsbehörden verpflichtet, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Zustand herzustellen." Das Gesamtbild der Reform des Verwaltungsgerichtshofes ist somit vom rechtstechnischen und juristischen Standpunkt aus

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viel erfreulicher als das vorstehend gezeichnete Bild des reformierten Verfassungsgerichtshofes. Im weiteren Sinn kann zu den Garantien der Verfassung und Verwaltung auch die Rechnungskontrolle gerechnet werden, die von der Verfassungsreform zwar nicht organisatorisch, aber funktionell reformiert, nämlich außerordentlich erweitert wurde. Ohne daß die Einzelheiten der einschlägigen ziemlich komplizierten und weittragenden Änderungen vorgeführt werden könnten, seien zusammenfassend folgende Neuerungen festgestellt: Die Verfassungsnovelle des Jahres 1929 hat die durch die Verfassungsnovelle des Jahres 1925 für alle Länder außer Wien obligatorisch gemachte Kontrolle des Rechnungshofes auch auf Land und Stadt Wien erstreckt und damit eine bloß parteipolitisch erklärliche Exemtion den Forderungen der Sachlichkeit und Billigkeit gemäß gutgemacht. Zugleich wurde die bisher mehr formale Kontrolle der Finanzgebarung der Länder zu einer materiellen Kontrolle, die auch vor der Frage der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Gebarung nicht haltzumachen hat. Die Überprüfung darf jedoch nicht auch die für die Gebarung maßgebenden Beschlüsse der verfassungsgemäß zuständigen Vertretungskörper umfassen. Völlig neu ist die Ordnung der Gebarungskontrolle des Rechnungshofes gegenüber den Gemeinden. Obligatorisch ist die Gebarungskontrolle des Rechnungshofes gegenüber den Gemeinden mit über 20 000 Einwohnern. Die Überprüfung hat sich auf die ziffernmäßige Richtigkeit, die Übereinstimmung mit den bestehenden Vorschriften, ferner auf die Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Gebarung zu erstrecken. Die Überprüfung der Gebarung der Unternehmungen der Gemeinden ist von der Vorfrage abhängig, ob die Unternehmung Monopolcharakter hat oder nicht. Wenn die Unternehmung in der Privatwirtschaft der Gemeinde keine Konkurrenz hat, so ist die Kontrolle dieses Bereiches der Wirtschaftsverwaltung gleich der übrigen Gebarungkontrolle. Hinsichtlich anderer Unternehmungen ist die Kontrolle vom Ersuchen der zuständigen Landesregierung abhängig und ihrem Gegenstande nach beschränkt. Die Gebarungskontrolle gegenüber Gemeinden mit weniger als 20 000 Einwohnern ist nur fakultativ und darf nur auf begründetes Ersuchen der zuständigen Landesregierung fallweise vorgenommen werden. Die von einem nationalpolitischen Standpunkt für jede Verfassungsreform der Republik Österreich Ausschlag gebende Frage, ob und inwieweit die Reform Österreich seiner künftigen Rechtsstellung als Bestandteil des Deutschen Reiches nahegebracht hat, würde eine besondere Untersuchung

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erfordern. 9 Die Verfassungsreform stand unter anderm auch unter der Parole einer Angleichung der österreichischen Bundesverfassung an die Deutsche Reichsverfassung. Im Regierungsentwurf waren allerdings jene Bestimmungen, die tatsächlich eine solche Rechtsangleichung gebracht hätten, durch andere Bestimmungen kompensiert, die bisherige, dem Rechtszustande im Deutschen Reiche ähnliche Verfassungseinrichtungen in einem von diesen Verfassungseinrichtungen abweichenden Sinn abändern wollten, z.B. die Beschränkung aller Länder auf je zwei Vertreter im Bundesrat, wogegen der Bundesrat der Bismarcks chen Reichs Verfassung und der Reichsrat der Weimarer Verfassung durch eine weitgehende Berücksichtigung der Größenunterschiede in der Bevölkerungszahl der Länder gekennzeichnet waren. Die Verfassungsnovelle selbst bringt tatsächlich eine bemerkenswerte Rechtsangleichung der österreichischen Bundesverfassung an die Deutsche Reichsverfassung, die ihr insbesondere durch ihre Regelung der Präsidentschaft zum Vorbild gedient hat. Indes steht eine Rechtsangleichung der Bundesverfassung an die Reichsverfassung durchaus nicht notwendig im Dienste des Anschlußgedankens. Denn die rechtstechnische Aufgabe des Anschlusses ist nicht Angleichung der österreichischen Bundesverfassung an die Deutsche Reichsverfassung, sondern Umwandlung der Bundesverfassung in eine deutsche Landesverfassung. Diesem verfassungspolitischen Ziele, das indes bei der jüngsten Verfassungsreform kaum bewußt geworden ist, haben die einzelnen Neuerungen der Verfassungsnovelle teils genützt, teils geschadet. Im Gesamtkalkül darf man jedoch feststellen, daß der Weg ins Reich, diese wahre und letzte Verfassungsreform Österreichs, wenigstens nicht erschwert worden ist.

9 Vgl. meine andeutenden Ausführungen in der von der Österreich-deutschen Arbeitsgemeinschaft herausgegebenen „Deutschen Einheit44 vom Dezember 1929: „Verfassungsreform und Anschlußgedanke44.

Die Finanzdiktatur der Nationalbank* Die verfassungsrechtlichen Grundlagen Es war ein Erfordernis und eine Erfüllung des demokratisch-parlamentarischen Prinzipes, daß die österreichische Republik dem Verordnungswege, dieser geschichtlichen Einbruchstelle autokratischen Verwaltens, unter dem Eindrucke der Exzesse der Verordnungsgewalt in den letzten Jahren der Monarchie ungewöhnlich enge und hohe Dämme aufgerichtet hat. Der Art. 18 B-VG hat bekanntlich in seiner klassischen Formulierung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung auch alle Verordnungen - als die dem Gesetze nächstverwandten Äußerungen der Verwaltung - von einfachen Gesetzen abhängig gemacht und damit die Verordnungsgewalt auf Ausführungs-oder Vollzugs Verordnungen beschränkt. Allerdings glaubte selbst der Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 bei seiner Verteilung der Gesetzgeberrollen zwischen Legislative und Exekutive diese nicht gänzlich auf eine der einfachen Gesetzgebung gegenüber dienende Rolle beschränken zu können, sondern ihr doch auch für bestimmte Zwecke und für absehbare Zeit eine selbständige Rechtssatzungskompetenz einräumen zu sollen. Bekanntlich hat der § 7 des Verfassungs-Übergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920 das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom 24. Juli 1917, RGBl. Nr. 307, ausdrücklich aufrechterhalten oder, richtig gese-

Juristische Blätter, 61. Jg. (1932), S. 185-189. * Der ehrenden Einladung der Redaktion, zur staatsrechtlichen Seite der Devisenverordnungen Stellung zu nehmen, folge ich erst nach langem Zögern, nicht um mich der billigen Kritik an der Methode der Devisenbewirtschaftung anzuschließen, sondern um zur Klärung einer durch Literatur und Judikatur aufgeworfenen, aber noch nicht eindeutig beantworteten Frage beizutragen und zugleich das Bewußtsein für die politischen und rechtlichen Schranken der Verordnungsgewalt zu wecken. Durch solche Kritik im Dienste der rechtswissenschaftlichen Wahrheit kann den richtigen Zielen einer rechtlich nicht entsprechend gerüsteten Wirtschaftspolitik selbstverständlich ebenso wenig Abbruch geschehen, wie etwa durch meine in dieser Zeitschrift geübte systematische Kritik an den Kriegsverordnungen das Kriegsergebnis irgendwie beeinflußt werden konnte.

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hen, diesem eigentlich bis dahin verfassungswidrigen Verordnungsblankett erst eine verfassungsmäßige Grundlage gegeben. Daß sich aber eine derart weitgespannte Ermächtigung zu gesetzvertretenden Verordnungen nicht in das System einer demokratisch-parlamentarischen Verfassung fügt, brachten die Kodifikatoren damit zum Ausdruck, daß sie diese staatsrechtliche Reliquie der Kriegszeit als ein in der Übergangswirtschaft noch unentbehrliches Surrogat parlamentarischer Gesetzgebung in das Übergangsgesetz verwiesen, um von der Verfassungsurkunde einen solchen Schönheitsfehler fernzuhalten. 1 Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz konnte wohl nur dadurch bis heute konserviert werden, daß es nach anfänglich übermäßigem Gebrauch immer mäßiger in Anspruch genommen und schließlich völlig außer Gebrauch gesetzt wurde, um erst wieder in einem unvorhergesehenen Bedarfsfall aus der Reserve hervorgeholt zu werden. Den gegenwärtigen währungspolitischen Ausnahmszustand hat man wenigstens dadurch von einer gefährlichen staatsrechtlichen Streitfrage entlastet, daß man ihn nicht mehr auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gegründet, sondern eine andere verfassungsrechtliche Grundlage beschafft hat. Indes hat dieses gegenwärtig aktuellste Verordnungsblankett auch noch andere und näherliegende Vorläufer als das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz, selbst solche, die als Basis für das heutige geldpolitische Regime viel eher in Betracht gekommen sind. Vor allem gilt dies vom Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten, 2 das ja - von gewissen inhaltlichen Schranken abgesehen - als allgemeine Handhabe für Maßregeln von Gesetzeskraft gedacht war. Inhaltlich wären denn auch die Devisenverordnungen so gut wie gänzlich durch das Verordnungsblankett des Art. 18 Abs. 3 und 5 B-VG, gedeckt gewesen; nur die besonders erschwerenden Voraussetzungen für die Erlassung der Verordnungen des Bundespräsidenten wären im Falle der Devisenverordnungen nicht erfüllt gewesen. Denn in keinem Fall stand man vor der Situation, daß der Nationalrat nicht nur nicht versammelt war, sondern auch nicht rechtzeitig hätte zusammentreten können oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert gewesen

1

Die Stellung der Verordnung im System der Staatsakte überhaupt und ihre das Gesetz vertretende und verdrängende Funktion behandle ich eingehend in einem Buche, das noch im laufenden Jahre im Verlage Julius Springer (Wien) erscheinen soll. Andere Ermächtigungen zu gesetzvertretenden Verordnungen siehe bei L. Adamovich, Österreichisches Staatsrecht, S. 286.

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wäre. Wären bei solcher Verfassungsrechtslage die Devisenverordnungen in Form von Verordnungen des Bundespräsidenten erlassen worden, so wäre ihre Gültigkeit nicht minder fragwürdig gewesen als die meisten kaiserlichen Verordnungen, die auf Grund des § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung erlassen worden sind. Um unter den gegebenen parlamentarischen Verhältnissen Maßregeln von der Art der Devisenverordnungen auf administrativem Wege erlassen zu können, bedurfte es nicht einer Ermächtigung, wonach administrative Organe ein funktionsunfähiges parlamentarisches Organ ersetzen, sondern ein funktionsfähiges und funktionsbereites Organ in einem gewissen Teile seines Wirkungskreises beliebig ausschalten können. Diese für einen demokratisch-parlamentarischen Staat im allgemeinen auffällige und für das österreichische Verfassungssystem höchst befremdliche Ermächtigung erteilte nun das Bundesverfassungsgesetz vom 8. Oktober 1931, BGBl. Nr. 305, betreffend die Ermächtigung zur Erlassung gesetzändernder Verordnungen zum Schutze der Wirtschaft. Diese Ermächtigung wurde seither durch das Bundes Verfassungsgesetz vom 19. Februar 1932, BGBl. Nr. 70 mit gewissen Erschwerungen bis 30. September 1932 erstreckt. Verfassungspolitisch ist an diesem ebenso wortkargen wie weittragenden Gesetze nichts so bemerkenswert wie der Mangel jedweder Bezugnahme der Verordnungskompetenz auf die inhaltsgleiche Gesetzgebungskompetenz des Nationalrates. Dieser Mangel schließt die Deutung dieser Kompetenz als Ermächtigung zu Notverordnungen der Bundesregierung - analog der Ermächtigung von Bundespräsident und Bundesregierung zu selbständigen Verordnungen gemäß Art. 18 Abs. 3 B-VG - aus und zwingt zur Annahme einer partiell mit dem Nationalrat konkurrierenden Rechtssetzungskompetenz der Bundesregierung. Überhaupt weist die Verordnungsermächtigung des B-VG vom 8. Oktober 1931 eine Voraussetzungslosigkeit und Bedingungslosigkeit auf, die in demokratisch-parlamentarischen Staaten ziemlich vereinzelt dastehen dürfte. Außer dem Mangel der für ein Notverordnungsrecht wesentlichen Bedingung einer Inaktivität des normalen Gesetzgebungsorganes oder der Ungangbarkeit des normalen Gesetzgebungsweges fällt an der Verordnungsermächtigung verfassungsrechtlich folgendes auf: Das Fehlen einer Einschränkung auf ein irgendwie qualifiziertes Bedürfnis nach der im Verordnungswege zu erlassenden Maßnahme; in dieser Beziehung ist die

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Verordnungsermächtigung sogar weiter als die des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867, dessen berühmter § 14 doch wenigstens, wenn auch in wenig wirksamer Weise, die „dringende Notwendigkeit der Anordnung" vorausgesetzt hatte, ebenso auch weiter als die Ermächtigung des Art. 18 der Weimarer Verfassung, die gesetzeskräftige Verordnungen des Reichspräsidenten ausdrücklich nur zuläßt, ,,wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört und gefährdet wird". Weiters fehlt dem österreichischen währungspolitischen Ermächtigungsgesetz irgend eine zeitliche Begrenzung der auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen, wodurch diese Verordnungen gegenüber formellen Gesetzen in ihrer Geltung abgestuft werden würden. So hatte der zitierte § 14 den auf seiner Grundlage erlassenen Verordnungen zwar Gesetzeskraft, aber doch auch wieder nur provisorische Gesetzeskraft, eingeräumt und deren Erlöschen im Falle der Unterlassung der Vorlage der Verordnungen an den Reichsrat oder im Falle der Nichtgenehmigung durch eines der beiden Häuser des Reichsrates vorgesehen. Auch der Art. 48 der Reichsverfassung zieht seiner Verordnungsermächtigung die Schranke, daß die Maßnahmen auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen sind. Auch Art. 18 B-VG sieht für die Verordnungen des Bundespräsidenten einen im Vergleiche mit der formellen Gesetzgebung erleichterten Weg der Außerkraftsetzung vor. In derartigen Verfahrensbestimmungen äußert sich eine Rangminderung der fraglichen, zwar gesetzändernden, aber doch nicht voll gesetzeskräftigen Verordnungen. Anders im Falle unseres währungspolitischen Ermächtigungsgesetzes. Da dieses eine Verpflichtung zur Vorlage der Verordnungen an den Nationalrat und zu deren Außerkraftsetzung auf Verlangen des Nationalrates vermissen läßt, stehen als Mittel der Derogation währungspolitischer Verordnungen nur entweder der Weg einer derogatorischen Verordnung der Bundesregierung, die aber im ungebundenen Ermessen gelegen ist, oder der Weg eines derogatori sehen formellen Bundesgesetzes offen. Will also die Mehrheit des Nationalrates eine ihr nicht genehme währungspolitische Verordnung gegen den Willen der Bundesregierung beseitigen, so ist ihr eine verbindliche Resolution an die Adresse der Regierung versagt, und der weit umständlichere Weg der Gesetzgebung unvermeidlich gemacht. Dies sind zwar praktisch nicht allzusehr ins Gewicht fallende, verfassungsjuristisch oder gewiß beachtliche Unterschiede zwischen der in Rede stehenden und den in Vergleich gezogenen Verordnungsermächtigungen. Allerdings hat die Ermächtigung des währungspolitischen Ermächtigungsgesetzes mit der anderen bedeutsamen geltenden

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Ermächtigung zu selbständigen Verordnungen (Art. 18 Abs. 3 B-VG) die Verfahrensvorschrift gemeinsam, daß die Verordnungen der Zustimmung eines parlamentarischen Ausschusses (Hauptausschuß bzw. Unterausschuß des Nationalrates) bedürfen. Das ist gewiß eine wertvolle Sicherung dieser Verordnungsermächtigung im Sinne des parlamantarisch-demokratischen Prinzips, denn durch die Mitwirkung eines parlamentarischen Faktors wird das selbständige Verordnungsrecht denaturiert und verfahrensmäßig der Gesetzgebung angenähert. Doch ist diese Mitbestimmung eines parlamentarischen Ausschusses kein vollwertiger Ersatz parlamentarischer Selbstbestimmung, denn, wie die Erfahrung zeigt, werden von diesem geheim beratenden parlamentarischen Ausschuß Verordnungsentwürfe angenommen, die - selbst bei gleichen Mehrheitsverhältnissen - vor dem öffentlich tagenden Plenum der Volksvertretung nicht bestehen würden. Es fehlt an jeder rechtlichen und politischen Hemmung dafür, daß auf dem durch das Verordnungsblankett umschriebenen Sachgebiet nicht gerade das Gesetz wird, was einigen Regierungs- und Parlamentsfunktionären gut dünkt. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Prophylaxe einer Diktatur vor allem in verfahrensrechtlichen Bindungen der Staatswillensbildung besteht, so muß man in dem währungspolitischen Ermächtigungsgesetz eine Handhabe zu einer zwar partiellen, innerhalb ihres Wirkunsbereiches aber geradezu hemmungslosen Diktatur erkennen. Psychologisch verständlich wird eine solche Selbstentäußerung bei einem Parlament, das in seiner Aktionsfähigkeit durch nichts gehindert und dabei in seiner erdrückenden Mehrheit demokratisch eingestellt ist, wohl nur aus einer Scheu der Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen, die von fachlicher Seite als notwendig bezeichnet werden. Politisch hat aber ein Parlament auch Maßnahmen delegierter Organe zu verantworten, die man zu verhindern in der Lage wäre. Die einzigen verfassungsrechtlichen Schranken betreffen den Inhalt der diktatorischen Gewalt und ihre zeitliche Begrenzung. Wenn Verordnungen nur ,,zum Schutze der Wirtschaft" erlassen werden dürfen, so ist damit freilich kaum eine rechtsverbindliche Schranke gezogen, sondern bloß eine Richtlinie vorgezeichnet. Was ,,zum Schutze der Wirtschaft" dient, ist nicht objektiv vorgezeichnet, sondern steht im Flusse politischer Strömungen und subjektiver Meinungen. Nur den Worten ,,auf dem Gebiete des Geld- und Kreditwesens" ist eine inhaltliche Beschränkung der diktatorischen Gewalt zu entnehmen. Sie stellt sich danach als eine Art Finanzdiktatur dar. Infolge der möglichen Auswirkungen geld- und währungspolitischer Maßnahmen auf die gesamte Wirt-

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schaft ist aber die Sachlage kaum anders, als wenn das alte wirtschaftspolitische Ermächtigungsgesetz erneuert und obendrein verschärft worden wäre. Bezeichnenderweise ist sogar die strafrechtliche Schranke dieses Gesetzes gefallen, denn während in den Verordnungen, die auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassen werden, nur Verwaltungsstrafen bis zum Höchstausmaß von 2000 S und von 6 Monaten Arrest angedroht werden können, ist im währungspolitischen Ermächtigungsgesetz die Strafsanktion der delegierten Strafbestimmungen nicht begrenzt, so daß Kriminalstrafen bis zu lebenslänglichem Kerker angedroht werden dürfen. Tatsächlich geht ja die Strafdrohung des § 12 der ersten Devisenverordnung vom 9. Oktober 1931, BGBl. Nr. 306, auf ein Höchstmaß von 5 Jahren schweren Kerkers und 500.000 S in Geld. Ist auch die Ausnahme von dem kriminalpolitischen Prinzip „nullapoena sine lege " rechtlich einwandfrei, weil diese Verordnung ein Gesetz vertritt, so ist sie darum kriminalpolitisch doch nicht unbedenklich. Solchen, sozusagen aus dem Handgelenk geschüttelten administrativen Strafdrohungen fehlt dann doch die moralische Autorität eines inhaltsgleichen Gesetzes. Inhaber der diktatorischen Kompetenz ist im Sinne des Ermächtigungsgesetzes die Bundesregierung. Diese Kompetenzbestimmung ist an sich gewiß ein retardierendes Moment. Wenn in einem demokratisch-parlamentarischen Staatswesen in an sich systemwidriger Weise Kompetenzen der Legislative der Exekutive delegiert werden müssen, so ist es doch relativ am konsequentesten, die Regierung zu delegieren, oder wenigstens sie essentiell an der delegierten Kompetenz mitzubeteiligen, da die Regierung infolge ihrer rechtlichen und politischen Verantwortlichkeit die berufenste Stellvertreterin der Legislative ist. Die Verfassungsmäßigkeit der währungspolitischen Maßnahmen Das währungspolitische Ermächtigungsgesetz ist die Grundlage der Devisenverordnungen. In diesen wurde bekanntlich die Ausführung jener Maßnahmen, die auf Grund der verfassungsgesetzlichen Ermächtigung im Verordnungswege getroffen wurden, abgesehen von den Strafamtshandlungen, aussschließlich der Nationalbank übertragen. Unter den Maßnahmen, die in den Wirkungskreis der Nationalbank gestellt wurden, finden sich nun, mag auch die Abgrenzung obrigkeitlicher und nicht obrigkeitlicher Agenden strittig und bestreitbar sein, so zahlreiche und weittragende obrigkeitliche

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Aufgaben, daß man geradezu behaupten kann, die diktatorische der Nationalbank weiter übertragen worden.

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Gewalt sei

Eine solche Subdelegation ist zwar an sich zulässig, weil ja die Bundesregierung bei der Regelung der Kompetenz zu den von ihr vorgesehenen währungspolitischen Maßnahmen Gesetzgeberrolle hat. Bei Ausübung dieser Rolle ist sie allerdings wie der einfache Gesetzgeber an die inhaltlichen Schranken, wie sie im allgemeinen für die formelle Gesetzgebung bestehen, gebunden. Ein Widerspruch zu den Grundrechten ist insoweit keinesfalls festzustellen, als die Verfassung gesetzesförmige Eingriffe in die Grundrechte zuläßt. Das gilt besonders von der Erwerbsfreiheit und von der Unverletzlichkeit des Eigentums. Die auf Grund des währungspolitischen Ermächtigungsgesetzes erlassenen Verordnungen haben jene Gesetzeskraft, die erforderlich ist, um selbst die einschneidendsten Eingriffe in jene Grundrechte zu legitimieren. Hingegen ist Max Kößler beizupflichten, wenn er in seiner knappen aber treffenden Kritik der Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes (vom 18. Jänner 1932, Zahl 726/31 und 727/31)3 seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Devisenverordnungen darauf stützt, daß sie Geschäfte der Bundesverwaltung einem nicht gehörig qualifizierten Organ übertragen haben. Es steht zwar der Bundesgesetzgebung - und diese tritt in den Devisenverordnungen in Erscheinung - frei, beliebige auch bisher außerhalb der Verwaltungsorganisation stehende Personen und Institutionen mit Aufgaben der Bundesverwaltung zu betrauen, aber diese hiemit neugeschaffenen Organe müssen zugleich in das verfassungsmäßige System der Verwaltungsorganisation eingegliedert werden. Es würde zwar zu weit gehen, von allen Verwaltungsorganen Unterordnung unter die obersten Organe des Bundes oder der Länder zu fordern, denn die Verfassung macht selbst von dieser Regel der Art. 20 und 77 B-VG Ausnahmen - namentlich hinsichtlich des Rechnungshofes und der Selbstverwaltung - , aber soweit solche Ausnahmen nicht durch die Verfassung gedeckt werden, sind sie der einfachen Gesetzgebung verwehrt. Vorfrage unserer organisationstechnischen Frage ist offenbar, ob unser Gesetz überhaupt ein Organ der Verwaltung kreiert und delegiert hat. Ohne daß an dieser Stelle eine nähere Begründung gegeben werden könnte,4 sei festgestellt, daß

3 JBl. 1932, S. 142. Kößler in der Rechtsprechung 1932, Nr. 3. - Vgl. auch die sehr bemerkenswerten Ausführungen von Ratzenhofer und Demelius, JBl. 1932, S. 73 bzw. 75 ff. 4

Vgl. die Ausführungen zur Organlehre in meinem ,»Allgemeinen Verwaltungsrecht 44, Wien, Verlag Springer 1927.

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die Übertragung obrigkeitlicher Agenden, wie es z.B. die Kompetenz zur Erlassung von generellen oder individuellen rechtsverbindlichen Regelungen ist, eine Institution zum Organ, und wenn diese Agenden ihrem Inhalt nach - wie das Geld- und Kreditwesen - zum Wirkungskreis der Bundesvollziehung gehören, zum Bundesorgan macht. Des näheren ist ein solches Organ, da es weder der Gesetzgebung noch der Justiz zuzurechnen ist, als Verwaltungsorgan qualifiziert. Die Nationalbank ist demnach in ihrem durch die Devisenverordnungen geschaffenen behördlichen Wirkungskreis ein Organ der Bundesverwaltung. Nach dem Vorbild der den Ländern übertragenen mittelbaren Bundesverwaltung mag man die von der Nationalbank ausgeübte Bundesverwaltung, da ja die Nationalbank nicht bundeseigene Behörde nach Art. 102 B-VG ist, ebenfalls als „mittelbare Bundesverwaltung" bezeichnen. Die Bundesverfassung gewährt den Ländern gewiß kein Monopol zur mittelbaren Bundesverwaltung, sondern gewährleistet ihnen an dieser nur einen bestimmten minimalen Anteil. Es bleibt der Bundesgesetzgebung auch außerhalb dieses den Ländern vorbehaltenen Bereiches die Wahl zwischen eigenen ausschließlich dem Bunde dienenden Organen und der Indienststellung anderer Personen und Institutionen, die dann eben nur mit ihrer dem Bunde zurechenbaren Tätigkeit Bundesorgane sind. Das wichtigste Beispiel für eine altüberkommene mittelbare Reichsund nunmehrige Bundesverwaltung und für eine damit begründete partielle Organqualität ist die Funktion der Seelsorger staatlich anerkannter Kirchen und Gesellschaften als staatlicher Matrikenführer und Trauungsorgane. Als Organ der Bundesverwaltung muß aber die Nationalbank der Organisationsnorm des Art. 77 Abs. 1 B-VG genügen. „Zur Besorgung der Geschäfte der Bundesverwaltung sind die Bundesministerien und die ihnen unterstellten Bundesämter berufen." Die Subordination der Nationalbank in ihrer Eigenschaft als obrigkeitliches Vollzugsorgan der Devisenverordnungen ist somit eine Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen, die der Nationalbank einen obrigkeitlichen Wirkungskreis einräumen. Die Devisenverordnungen enthalten selbst keinen Anhaltspunkt für eine solche Subordinationsbeziehung, nicht einmal eine Vollzugsklausel, die in einer gesetzeskräftigen Verordnung nicht minder am Platze wäre wie in einem formellen Gesetze, und die wenigstens erkennen ließe, welcher Minister für die rechtmäßige Vollziehung der Verordnungen die politische und rechtliche Verantwortung zu tragen hat. Auch die Organisationsnormen der Nationalbank müssen indes zur Beurteilung ihres Verhältnisses zum

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Bund herangezogen werden. Nach den darauf bezüglichen Organisationsnormen (Art. 45 ff. der mit Bundesgesetz vom 14. November 1922, BGBl. Nr. 823, verlautbarten Satzungen der Nationalbank) unterliegt diese zwar der Staatsaufsicht, doch entspricht diese Kontrolle, wie überhaupt die meisten Formen rechtlicher Kontrolle, nicht dem Maß an Subordination, das die Art. 20 und 77 B-VG für Verwaltungsbehörden des Bundes fordern. 5 Zumindest soweit obrigkeitliche Funktionen der Nationalbank in Frage stehen, müßten also die zur Entscheidung über solche Funktionen angerufenen Gerichte an der Verfassungsmäßigkeit ihrer rechtlichen Grundlage Bedenken hegen und beim Verfassungsgerichtshof die Überprüfung der einschlägigen Bestimmungen beantragen. Sollen die einschlägigen Bestimmungen der Devi sen Verordnungen vor der Außerkraftsetzung durch den Verfassungsgerichtshof - und damit überhaupt die Finanzdiktatur in ihrer heutigen Form vor dem Zusammenbruch - rechtlich gesichert werden, so müßte eine Novelle zu den Devisenverordnungen bestimmen, daß die Nationalbank bei Handhabung aller oder wenigstens der obrigkeitlichen Agenden, die ihr die Devisenverordnungen übertragen, die Stellung einer Bundesverwaltungsbehörde gemäß den Art. 20 und 77 B-VG einnimmt. Gewiß ist das gegenwärtige Regime für beide Beteiligten bequemer, als es der verfassungsgemäße Zustand wäre, denn einerseits ist nicht nur der Nationalrat, sondern auch die Bundesregierung - der das Verfassungsgesetz die währungspolitische Ermächtigung erteilt hat - von der rechtlichen und unmittelbar auch von der politischen Verantwortung für das entlastet, was die Nationalbank auf währungspolitischem Gebiete tut und läßt, andererseits ist die Nationalbank auch in ihrer neuen behördlichen Stellung nicht durch das Weisungsrecht einer vorgesetzten Bundesbehörde - etwa des Finanzministeriums - , und durch die korrespondierende Gehorsamspflicht von der Art einer subalternen Behörde beengt. Aus diesem doppelten Vorteil kann man sich ja auch die ungewöhnliche Tatsache der dargestellten stufenförmigen Delegation diktatorischer Kompetenzen an ein Finanzinstitut erklären, das, abge-

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Soweit man den Organisationsnormen der Verwaltungsorgane, die aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Bundesverfassung stammen, eine solche hierarchische Unterordnung unter die Bundesministerien nicht entnehmen konnte, haben die Art. 20 und 77 B-VG ein solches Unterordnungsverhältnis begründet. Für die Zukunft haben aber die zitierten Verfassungsbestimmungen die Bedeutung einer materiellrechtlichen Determinante der Organisationsgesetzgebung, der Gesetze, die neue Bundesorgane kreieren, in der Weise genügen müssen, daß sie das neue Organ einem Bundesministerium unterstellen.

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sehen von der noch zu besprechenden gerichtlichen Kontrolle, aus der Hierarchie der Bundesbehörden ausgeschaltet und von jeder rechtlichen Verantwortung für seine Handhabung der währungspolitischen Ermächtigung frei ist. Legislativpolitisch steht man aber vor der Aufgabe, entweder ein bestehendes Organ der Behördenhierarchie mit dem neuen Wirkungskreise der Nationalbank zu betrauen oder die Nationalbank in die bestehende Behördenhierarchie einzugliedern. Erst dadurch werden die diktatorischen Kompetenzen des Ermächtigungsgesetzes mit dem herrschenden verfassungspolitischen System vereinbar geworden sein. Die Rechtskontrolle der Nationalbank als Bundesbehörde Doch auch unabhängig davon, ob der Rechtsstellung der Nationalbank die von Verfassungswegen erforderlichen Rechtsschranken gezogen sind, unterliegt sie bereits de lege lata einem System rechtlicher Garantien ihres obrigkeitlichen Wirkens, die nur freilich bisher nicht aktualisiert worden sind, obwohl gelegentlich ein Anlaß hiezu gegeben worden sein dürfte. Diese Rechtsgarantien ergeben sich aus der gleichviel wie immer umschriebenen Stellung der Nationalbank als Verwaltungsbehörde des Bundes. Den Charakter als Behörde und im besonderen als Verwaltungsbehörde erhält die Nationalbank durch ihren in den Devisenverordnungen umschriebenen obrigkeitlichen Wirkungskreis. Es kann und soll an dieser Stelle nicht die Summe der obrigkeitlichen Agenden der Nationalbank erschöpft werden, denn dies würde eine juristische Analyse sämtlicher Bestimmungen der Devisenverordnungen bedingen, in denen Kompetenzen der Nationalbank begründet sind. Auch sollen mit diesen andeutenden Ausführungen keine praktischen Winke in der Richtung gegeben werden, welche Erledigungen der Nationalbank von solcher Beschaffenheit sind, daß sie wegen ihrer obrigkeitlichen Natur den fraglichen Rechtskontrollen unterliegen. Vielmehr handelt es sich nur um einen Beweis des behördlichen Charakters der Nationalbank, der ja auch schon durch die geringste Zahl obrigkeitlicher Agenden erbracht ist. Auch sollen nicht gerade jene Grenzfälle von „Bescheiden" der Nationalbank herangezogen werden, denen der Verwaltungsgerichtshof in einer meines Erachtens nicht zwingenden Weise den Charakter verwaltungsrechtlicher Bescheide abgesprochen und damit den Charakter privatrechtlicher - und damit für ihn unüberprüfbarer - Willenserklärungen zugesprochen hat. Übrigens ist ja erfahrungsgemäß die Grenze

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zwischen diesen beiden Typen von Rechtsgeschäften fließend, wie gerade die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erweist, der z.B. die Aufnahme eines Fremden in den Heimatverband einer Gemeinde einmal als eine nach dem Privatrecht zu beurteilende Parteierklärung und dann als einen dem Verwaltungsrecht unterworfenen Bescheid gedeutet hat. Vor allem finden sich im Wirkungskreis der Nationalbank Verordnungen. So ist z.B. die Festsetzung der Preise, zu denen im Geltungsbereiche der Devisenverordnungen ausländische Zahlungsmittel gegen inländische Zahlungsmittel gehandelt werden dürfen, darum eine Verordnung, weil die Abweichung von dieser Preisnotierung und eine von der Verlautbarung derselben in der „Wiener Zeitung" abweichende Mitteilung über die Bewertung ausländischer Zahlungsmittel im Inland bei Strafe verboten ist. Viel zahlreicher sind die von den Devisenverordnungen vorgesehenen obrigkeitlichen Verfügungen der Nationalbank in Einzelfällen. Es ist zuzugeben, daß bei dem ziemlich unkritischen Gebrauch der juristischen Terminologie in den Verordnungstexten der Ausdruck „Bescheid" für den behördlichen Charakter des so bezeichneten Aktes nicht beweiskräftig ist, zumal da die obrigkeitliche Tätigkeit der Nationalbank bekanntlich nicht in den Anwendungsbereich des Allgemeinen VerwaltungsVerfahrensgesetzes vom 21. Juli 1925 fällt, dem ein Legalbegriff des Bescheides eigen ist. Es muß also einerseits, um die juristische Bedeutung des als Bescheid bezeichneten Aktes zu ermitteln, immer dessen Inhalt geprüft werden, und es kann nur in einem rechtsbegründenden oder feststellenden Akte von solcher Art, wie sie einem Privaten verwehrt ist, ein obrigkeitlicher „Bescheid", im besonderen eine Verfügung oder eine Entscheidung, erkannt werden. Andererseits ist es ohneweiters denkbar, daß ein weder als Bescheid, noch auch als Verfügung oder Entscheidung bezeichneter Akt doch dank seinem Inhalt in eine dieser Gruppen von Verwaltungsakten einzureihen ist. So sind namentlich die Bewilligung der Überweisung des Erlages und der Gutschrift in- und ausländischer Zahlungsmittel zugunsten eines Ausländers, die Bewilligung der Übersendung solcher Zahlungsmittel in das Ausland, die Bewilligung der Gewährung von Darlehen und Garantien für solche an Personen, die ihren Wohnsitz (Sitz) im Ausland haben, sowie der Aufnahme von Darlehen, und von Garantien für solche in ausländischer Währung echte rechtsbegründende Verfügungen, weil sie ein sonst verbotenes und strafbares Verhalten erlaubt machen. Typisches Imperium hat die Nationalbank auch durch die Kompetenz erhalten, „die Einhaltung dieser Verordnung" zu überwachen 12

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(§ 10 der 1. Devisenverordnung). Geradezu der Gipfelpunkt des Imperiums wird aber mit der der Nationalbank erteilten Ermächtigung erstiegen: „Sie kann durch ihre bevollmächtigten Organe bei allen Unternehmungen und Firmen in sämtliche Geschäftsbücher, Aufschreibungen, Korrespondenzen und Belege Einsicht nehmen/4 Mit dieser im Rahmen der sonstigen Kompetenzen der Nationalbank gewiß unentbehrlichen Ermächtigung wird nämlich der Nationalbank nicht weniger als das Recht erteilt, zu bestimmten Zwecken im eigenen Wirkungskreise Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Wenn dies alles zusammen - obwohl es nicht im entferntesten eine erschöpfende Aufzählung der obrigkeitlichen Kompetenzen der Nationalbank ist nicht deren Behördenstellung konstituieren soll, dann ist schlechterdings unerfindlich, welcher Begriff und Maßstab für eine Behörde bei der Feststellung des organisationsrechtlichen Charakters der Nationalbank angewendet wird. Gewiß - es fehlen mancherlei Züge zum hergebrachten Bild einer Behörde; so insbesondere der Mangel jedweder Verfahrensnorm für die Ausübung dieser behördlichen Kompetenzen, so daß dem Interessenten das Recht jeder Mitwirkung an der Setzung des behördlichen Aktes fehlt, das ihm jeder sonstigen Behörde gegenüber prozeßrechtlich gesichert ist. Und daneben widerstreitet der Einsicht in die Behördennatur der Nationalbank ihre zweite Natur als auf Gewinn abzielende Bankunternehmung, und das bedeutet in unserem Falle bisweilen so viel wie - Interessent an den Akten des behördlichen Wirkungskreises. Aber diese Denkschwierigkeiten können kein Hindernis sein, die Nationalbank als Behörde zu erkennen, sondern können höchstens eine Mahnung sein, sie in einer dem hergebrachten Typus der Behörde und nicht zuletzt dem verfassungsmäßigen Erfordernis einer Behörde gemäßen Weise umzugestalten oder auszugestalten. Aus der damit gewonnenen Einsicht in den Charakter der Nationalbank als Verwaltungsbehörde ergibt sich nun aber die Folge, daß die Nationalbank - wenn schon nicht besonderen, von den Devisenverordnungen vorgesehenen Rechtskontrollen - so doch jenen allgemeinen Garantien der Verfassung und Verwaltung unterliegt, die das Bundes-Verfassungsgesetz Verwaltungsbehörden gegenüber aufgerichtet hat. Das heißt im einzelnen: Die generell normierenden Akte der Nationalbank unterliegen als Verordnungen einer Bundesbehörde der Überprüfung des Verfassungsgerichtshofes gemäß Art. 139 B-VG; die individuellen Verwaltungsakte der Nationalbank sind dagegen als Bescheide einer Bundesverwaltungsbehörde gemäß Art. 129 B-VG beim Verwaltungsgerichtshof und, wenn in ihnen die Verlet-

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zung eines verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes erblickt wird, gemäß Art. 144 B-VG beim Verfassungsgerichtshof anfechtbar. Gewiß ist die praktische Auswertbarkeit dieser rechtlichen Handhaben in Anbetracht der besonderen Gestaltung der Funktionen der Nationalbank ziemlich beschränkt; im Rahmen des fast uferlosen Ermessens ist die Gelegenheit zu Rechtsverletzungen und die Möglichkeit ihres Nachweises gering. Indes könnte z.B. die Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes, gemäß Art. 129 B-VG auch Eriiiessensüberschreitungen zu kontrollieren, praktische Bedeutung gewinnen. Gewisse währungspolitische Maßnahmen legen die Frage nahe, ob die verfassungsmäßige Schranke der Gleichheit vor dem Gesetz immer beobachtet wurde. Desgleichen ist unschwer denkbar, daß der Verfassungsgerichtshof auf Anrufung einer durch den Bescheid der Nationalbank sich verletzt erachtenden Partei in die Lage kommen könnte, Eingriffe in das Eigentum, die nicht durch eine der Devisenverordnungen gedeckt sind, also sich als rechtswidrige Eingriffe in das verfassungsmäßig gewährleistete Recht des Eigentums darstellen, oder auch Eingriffe in das verfassungsmäßig gewährleistete Hausrecht festzustellen und dergleichen mehr. Auch in diese Richtung muß es abgelehnt werden, irgend welche praktische Winke prozessualer Natur zu geben, sondern sollte nur die theoretische Möglichkeit solcher Schritte gegen die behördlichen Akte der Nationalbank festgestellt werden. Mit der Erkenntnis, daß die Nationalbank in ihrer neu begründeten Behördenrolle der Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes unterliegt, erscheint sie doch wenigstens, insolange noch nicht ihre verfassungsmäßige Rechtsstellung gemäß Art. 20 und 77 B-VG hergestellt ist, in einer Hinsicht in die übrige Behördenorganisation eingeschaltet. Damit ist aber dem rechtspolitischen Bedürfnis nach jenem Minimum rechtsstaatlicher Garantien Genüge geleistet, wie sie z.B. selbst dann zurecht bestünden, wenn die heute der Nationalbank zustehenden behördlichen Kompetenzen unmittelbar dem Finanzministerium vorbehalten wären oder wenn gegen die behördlichen Entscheidungen der Nationalbank ein Einspruch an eine bundeseigene Behörde eröffnet wäre. Abschließend sei es nur gestattet, dem allfälligen Einwand zu begegnen, daß hier praktische Notwendigkeiten mit theoretischen Konstruktionen bekämpft werden. Dem wirtschaftspolitischen Ziele der in Frage stehenden währungspolitischen Maßnahmen kann in ebenso wirksamer, wenngleich vielleicht für die beteiligten behördlichen Stellen nicht gleich bequemer Weise gedient werden, wenn die im Vorangehenden angedeuteten verfas-

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sungsrechtlichen Schranken und rechtspolitischen Gebote berücksichtigt werden. Daß die Nationalbank in ihrem behördlichen Wirkungskreis aus der behördlichen Hierarchie eximiert und von den für Behörden gleicher Art bestehenden gerichtlichen Kontrollen freigehalten werde, ist jedenfalls kein währungspolitisches Erfordernis und kann der Nationalbank bei einwandfreier Führung ihrer währungspolitischen Aufgaben nicht einmal erwünscht sein. Sollten sich die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nicht der hier vertretenen Auffassung von ihrer Zuständigkeit als verfassungsrechtliche Garanten der Rechtmäßigkeit der Währungspolitik anschließen, so müßte für die Zukunft eine Ergänzung der Devisenverordnungen durch folgende authentische Interpretation gefordert werden: ,,Die Österreichische Nationalbank ist bei Anwendung dieserVerordnung Verwaltungsbehörde im Sinne der Art. 129 und 144 B-VG." Eine solche Rechtskontrolle der Verwaltungsakte der Nationalbank verweigern, hieße dieser eine Infallibilität zubilligen, die zu den Ergebnissen ihrer Geschäftsführung doch in zu grellem Gegensatze stünde.

Einfache oder Zweidrittelmehrheit für Lausanne? In meinem derzeitigen Aufenthaltsort erreicht mich der Artikel der „Reichspost" vom 26. Juli 1932 „Für Lausanne genügt die einfache Mehrheit" und das Ersuchen der Schriftleitung der „ W N N " um eine Gegenäußerung. Der längere Postenlauf ist der Grund, daß die „ W N N " nicht unmittelbar meine Gegenäußerung bringen konnten. In der „Reichspost" unternimmt ein Anonymus in gewiß geschickter und kenntnisreicher, darum aber noch nicht überzeugender Weise den Versuch, meine unter dem Titel „Lausanne braucht Zweidrittelmehrheit" von den „Wiener Neuesten Nachrichten" veröffentlichten Ausführungen zu entkräften. Vor allem möchte ich meinen Kritiker einladen, für seine wissenschaftliche Überzeugung nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit seinem vollen Namen einzutreten, durch den die Autorität der Argumente wohl nur gewinnen könnte - wie auch ich, und zwar nicht bloß aus diesem Anlaß, für meine Behauptungen rückhaltlos mit meinem wissenschaftlichen Namen einstehe. Mit unbekannten und unfaßbaren Gegnern streite ich nicht gerne, und würde es auch in diesem Falle nicht tun, wenn nicht unter den besonderen Umständen mein Stillschweigen den Regierungsadvokaten in gewissen Kreisen als Sieger in dieser Diskussion erscheinen lassen könnte. Damit, daß ich auf eine ungewöhnlicherweise anonyme Kritik überhaupt erwidere, billige ich selbstverständlich meinem Kritiker guten Glauben zu, und möchte nur für meine Person beifügen, daß ich es selbstverständlich mit den Pflichten eines akademischen Rechtslehrers für unvereinbar halte, die Äußerung einer Rechtsanschauung irgendwie von der politischen Überzeugung abhängig zu machen. Ich darf mich übrigens darauf berufen, daß ich im Herbste 1930, als die Bestellung einer Minderheitsregierung vielseitigen Bemängelungen auch vom juristischen Standpunkt aus begegnete, nicht gezögert habe, öffentlich den Vorgang als verfassungsrechtlich vertretbar zu

Wiener Neueste Nachrichten vom 1. August 1932, S. 3.

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bezeichnen, obwohl ich gewiß von der Einsetzung einer Trutzregierung um Strafellas willen nicht begeistert war. Ebensowenig würde ich zaudern, mein politisches und juristisches Urteil über Lausanne zu scheiden und mich für die Zulässigkeit oder Zulänglichkeit der einfachen Mehrheit auszusprechen, wenn ich nicht vom Gegenteile überzeugt wäre. Der verfassungsrechtliche Gewährsmann der,,Reichspost" hat, so viel ich sehe, fast alle Argumente, die überhaupt zur Widerlegung meiner Ausführungen und damit, wie die Dinge liegen, zur allfälligen parlamentarischen Rettung des Paktes von Lausanne ausfindig gemacht werden können, umsichtig gesammelt; freilich wie noch zu zeigen sein wird, durchaus formalistische Argumente, die sich mir bei der Selbstprüfung meines Standpunktes an der Hand denkbarer Einwände als unstichhältig herausgestellt haben. Nur ein denkbares weiteres Argument für den von mir schließlich abgelehnten Standpunkt vermisse ich, doch fühle ich mich nicht berufen, es meinem Gegner zu verraten, weil ich es schließlich auch als bloßen Scheingrund verwerfen mußte. Mein Kritiker klammert sich vor allem an das Wort, daß die Erneuerung und Verlängerung der Bindungen von Genf in die von Verfassungswegen zu Recht bestehende ,,Freiheit" Österreichs eingreife. Er findet keine Verfassungsbestimmung, die Österreichs Freiheit von den in Genf und Lausanne dekretierten Bindungen gewährleisten würde; daher sei das Protokoll von Lausanne in diesem Punkte, mit der Verfassung konfrontiert, in schönster Ordnung. Gewiß, die Freiheit von solchen Bindungen, wie sie das Lausanner Protokoll mit sich bringt, hat die Bundesverfassung des Jahres 1920 schon darum nicht festgelegt, weil sie damals nicht vorausgesehen werden konnten, implizite geht aber diese Freiheit trotzdem aus dem Verfassungsinhalt, den ein Jurist nicht über dem Verfassungstext übersehen darf, hervor. Für die juristische Betrachtung tritt die von mir kurz sogenannte Freiheit eines Staates in einem bestimmten Maße von Rechts- und Handlungsfähigkeit in Erscheinung, die wieder in bestimmten Kompetenzen verfassungsmäßiger Organe ihren Ausdruck findet. In diesem Sinne gehört es beispielsweise zur „Freiheit" Österreichs, mit anderen Staaten Staatsverträge aller Art zu schließen. Diese Freiheit kommt verfassungsmäßig in der von Art. 65 LVG dem Bundespräsidenten eingeräumten Kompetenz zum Abschluß von Staatsverträgen zum Ausdruck. Diese Kompetenz ist nur durch das im Art. 50 B-VG vorgesehene Mitbestimmungsrecht des Nationalrates be-

Einfache oder Zweidrittelmehrheit für Lausanne?

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schränkt. Aus dem Wesen eines Staatsvertrages ergibt sich die weitere Schranke, daß während des Bestandes eines Vertrages nicht mit einem anderen Staate ein weiterer Staatsvertrag abgeschlossen werden darf, der dem ersten Vertrage inhaltlich widerspricht. In meiner häufigen literarischen Befassung mit dem Problem der Staatsverträge ist mir nicht entgangen, daß bestehende Staatsverträge nicht bloß - worauf mich mein Kritiker aufmerksam macht - der künftigen Gesetzgebung, sondern auch der Kompetenz zum Abschluß weiterer Staatsverträge inhaltliche Schranken ziehen, ohne darum schon verfassungsändernder Natur zu sein. Diese Schranken der Vertragsfreiheit und der Gesetzgebungstermine, die im Wesen staatsvertragsmäßiger Bindung begründet ist, nimmt die Verfassung notwendig in Kauf, wenn sie überhaupt den Staatsvertrag als innerstaatliche Rechtsquelle delegiert, wie es in Österreich die Verfassungen der Monarchie und Republik getan haben. Nur übersieht mein Kritiker, daß der Vertrag von Lausanne nicht wie ein gewöhnlicher Staatsvertrag bloß einen bestimmten, abweichenden Vertragsinhalt ausschließt, daß er vielmehr für eine bestimmte Vertragszeit den Abschluß ganzer Gattungen von Staatsverträgen unmöglich macht. Nach der Interpretation, die der Haager Gerichtshof dem Vertrag von Genf gegeben hat - und diese Interpretation eines rechtskräftigen Urteils einer internationalen richterlichen Instanz müssen wir unserer innerstaatlichen Praxis zugrundelegen - verwehrt uns Genf und nunmehr auf einen verlängerten Zeitraum Lausanne, den Abschluß von Zollunionen und anderen Arten von Staatsverträgen, die engere wirtschaftliche oder politische Bindungen begründen, auch wenn sie mit Saint-Germain vereinbar wären. Nicht dadurch, daß der Staatsvertrag von Lausanne gewisse abweichende Vertragsinhalte ausschließen würde, was die Verfassung mit der Zulassung von Staatsverträgen sinngemäß als ohneweiters zulässig voraussetzt, sondern daß Lausanne ganze Kategorien von Staatsverträgen unmöglich macht, zu deren Abschluß nach Art. 65 B-VG Österreich legitimiert wäre, also in der durch Lausanne unternommenen Suspendierung einer auf den Art. 50 und 65 B-VG beruhenden Kompetenz des Nationalrates und des Bundespräsidenten, liegt der verfassungsändernde Charakter der fraglichen Vertragsbestimmung begründet. Man kann die Probe auf dieses Ergebnis machen, indem man sich fragt, wie auf bloß innerstaatlichem Wege die verfassungsmäßige Generaler-

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mächtigung zum Abschluß von Staatsverträgen überhaupt auf den Abschluß bestimmter Vertragstypen eingeengt werden könnte. Auch die „besondere Seite" der „Reichspost" dürfte bei der ihr unstreitig eigenen verfassungsrechtlichen Erfahrung nicht bestreiten, daß hiezu der Weg des verfassungsändernden Gesetzes beschritten werden müßte; man würde nach bekannten Mustern vermutlich das Übergangsgesetz etwa in der Weise novellieren, daß zu Art. 65 B-VG die „Übergangsbestimmung" getroffen würde, „Zollunionen (oder irgendein sonst umschriebener Vertragstypus) dürfen bis 1952 nicht abgeschlossen werden". Soweit aber die Formen eines verfassungsändernden Gesetzes notwendig sind, ist bei Wahl der Vertragsform auch die Beobachtung der erschwerenden parlamentarischen Formen des Art. 44 Abs. 1 B-VG unentbehrlich. Dieses Ergebnis wird auch dadurch nicht entkräftet, daß der Anonymus auf den Präzedenzfall der Genfer Protokolle verweist, die ebenfalls mit einfacher Mehrheit angenommen worden seien. Dieser schon von mir in meinem ersten Artikel hypothetisch angestellte Vergleich hinkt, weil nunmehr feststeht, daß durch die Genfer Protkolle Bindungen ganz anderer Art, viel weitgehender Natur intendiert wurden, als damals offiziell angenommen oder zugegeben wurde. Nun weiß man, daß Genf wie Lausanne unsere verfassungsmäßig vorgesehene Vertragsfreiheit in bezug auf ganze Kategorien von Staats Verträgen aufhebt - und hat daraus die verfassungsmäßige Konsequenz der Zweidrittelmehrheit zu ziehen. Würde übrigens der Anonymus der „Reichspost" falls nicht ein Unterwerfungsvertrag unter Vertragspartner von St. Germain, sondern der Anschlußvertrag an das Deutsche Reich, den jeder wirkliche Deutsche zu erhoffen nicht aufgibt, in Verhandlung stünde, ebenfalls die einfache Mehrheit für genügend finden? Zwar wäre es für diesen Fall nicht nötig, das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit wegzuinterpretieren, weil es eine leicht erfüllbare Formalität wäre, doch steht in der ganzen Anschlußliteratur außer Diskussion, daß dieses Formalerfordernis erfüllt werden müßte. Mit dem Argumente, das die Entbehrlichkeit der Zweidrittelmehrheit für Lausanne erweist, könnte man aber auch beweisen, daß der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich seinerzeit mit einfacher Parlamentsmehrheit bewerkstelligt werden kann, denn es gibt auch keine Verfassungsbestimmung, die Österreich ausdrücklich verpflichten würde, ein selbständiger Staat zu bleiben; also würde folgerichtig der Anschluß keine Verfassungsänderung bedeuten. Um die Konsequenzen der Beweisführung meines Kritikers an einem weiteren Beispiele zu demon-

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strieren, würde nicht einmal ein Abkommen, der es Österreich verböte, in den nächsten zwei Jahrzehnten überhaupt einen Staatsvertrag abzuschließen, verfassungsändernd sein, denn ein Verfassungsgesetz, „daß die Freiheit 4 Österreichs im Sinne unbeschränkter Handlungsfähigkeit festlegte", gibt es ja tatsächlich nicht. Ich glaube deutlich gemacht zu haben, daß die „besondere Seite" mit einem ganz ungewöhnlichen, viel zu engen Begriff der Verfassungsänderung operiert, der dann auch zu unzutreffenden Ergebnissen führt. Man brauchte sich danach nur zu vergewissern, ob eine Vertragsbestimmung nicht gegen eine ausdrückliche Verfassungsvorschrift verstößt, zum Beispiel die Todesstrafe für Fälle vorsieht oder vorschreibt, für die sie in der Verfassung verboten ist. Im übrigen könnte aber ein mit einfacherMehrheit genehmigter Staatsvertrag, wenn er nur Kollisionen-mit dem Verfassungstext vermeidet, Institutionen der Verfassung aushöhlen, den immanenten Sinn der Verfassung umbiegen. Das wäre übrigens ein bequemes Rezept, Novellierungen der Verfassung auf dem Weg von Staats Verträgen mit irgendeinem gefälligen Kleinstaat zu erreichen, wenn sich für den darauf abzielenden Gesetzesvorschlag nicht die erforderliche Mehrheit findet. Nur kann ich mir dieses Rezept nicht zu eigen machen. Unter Zugrundelegung der wissenschaftlich gangbaren Bedeutung einer Verfassungsänderung komme ich nach wie vor zu dem Ergebnis, daß das Protokoll von Lausanne schon infolge seiner Präambel mit ihrer Wiederholung und Verlängerung der Bindungen von Genf der Zweidrittelmehrheit bedarf.

Legitime Diktatur Das Diktaturgeflüster der letzten Monate hat sich gestern zur ersten quasi diktatorischen Maßnahme verdichtet. Diese Deutung wird wenigstens von offiziöser Seite der Verordnung des Bundesministers für Justiz über die Geltendmachung der im 7. Creditanstaltsgesetze angeführten Haftungen gegeben und damit verraten, daß es sich nur um den Auftakt zu wesensverwandten weiteren Maßnahmen handeln könnte. Dies ist auch der Grund, daß man sich mit der zitierten Verordnung ernster, als es ihr mehr zufälliger und gelegentlicher Inhalt - im Wesen der Nachtrag einer versäumten Bestimmung zum 7. Creditanstaltsgesetz - verdienen würde, befassen muß. Ich folge daher gerne der Einladung der Schriftleitung, mich als Verfassungsund Verwaltungsjurist zu der Verordnung und ihrer rechtlichen Grundlage zu äußern. Die Form der diktatorischen Maßnahme ist keine neue Erfindung, sondern eine mehr oder minder gute alte Bekannte, nämlich eine „kriegswirtschaftliche" Verordnung, wie sie während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren in Österreich zu Hunderten erlassen wurden. Diese Verordnungskompetenz, von der nach langer Pause derzeit wieder Gebrauch gemacht wurde, ist also nicht eine Nachahmung ausländischer Vorbilder, sondern ein altösterreichisches Erbstück aus dem Kriege. Gerade dieser Ursprung und die damit gegebene Zweckbestimmung des fraglichen Verordnungsrechtes läßt an seinem rechtlichen Bestände Zweifel entstehen. Der Jurist, der im Gesetze zu lesen versteht, muß jedoch diese Zweifel als unbegründet ablehnen und die Möglichkeit einräumen, daß auch heute noch sogenannte kriegswirtschaftliche Verordnungen erlassen werden können. Die Begründung dieser vielleicht paradoxen Behauptung liegt einfach darin, daß die rechtliche Grundlage des wirtschaftspolitischen Verordnungsrechtes streng genommen überhaupt nicht mehr im kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz selbst, sondern im Verfassungsübergangsgesetz des Jahres 1920 zu suchen ist, das jenes Verordnungsrecht zugleich legitimiert und modifiziert hat.

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Der Grund für diese befremdliche Rezeption, die zugleich eine Perennierung der Verordnungsermächtigung werden sollte, war die Erkenntnis der rechtlichen Unhaltbarkeit des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes bei seiner gleichzeitigen rechtspolitischen Unentbehrlichkeit. Das Gesetz vom 17. Dezember 1917, RGBl. Nr. 365, das nur der Ersatz einer inhaltsgleichen kaiserlichen Verordnung aus dem Jahre 1914 gewesen war, hatte die Regierung ermächtigt, „während der Dauer der durch den Krieg hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse durch Verordnung die notwendigen Verfügungen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und mit anderen Bedarfsgegenständen zu treffen". Diese Ermächtigung sollte an bestehenden Gesetzen keine Schranke finden, sondern die Möglichkeit der Gesetzesänderung in sich schließen, da die altösterreichische Verfassung (ebenso wie nunmehr die Bundesverfassung) ohnehin eine Ermächtigung zu gesetzvollziehenden Verordnungen enthielt und somit nur ein Bedürfnis nach der weitergehenden Ermächtigung zu gesetzändernden Verordnungen bestand. Die Ermächtigung zu gesetzändernden Verordnungen durfte aber auch nach der Verfassung der Monarchie kein einfaches Gesetz, sondern nur wieder ein Verfassungsgesetz geben. Die Mehrheitsverhältnisse im Reichsrat zwangen nun aber - eine interessante Parallele zur parlamentarischen Behandlung des Paktes von Lausanne - auf ein Verfassungsgesetz, über dessen Notwendigkeit auch die Regierungsjuristen jener Zeit nicht in Zweifel sein konnten, zu verzichten, und sich mit einem einfachen Gesetz zu begnügen. Dies konnte man damals um so eher riskieren, als in der Monarchie die Rechtskontrolle von Verordnungen technisch völlig unzulänglich war. Anders wurde jedoch die Sachlage, als die republikanische Verfassung den Rechtsschutz auch gegenüber gesetzwidrigen Verordnungen und verfassungswidrigen Gesetzen in wirksamster Weise ausgebaut hatte. Unter Herrschaft dieser Rechtsschutzeinrichtungen wäre wohl keine der kriegswirtschaftlichen Verordnungen, auf die man weder zur Zeit der Republik, noch zur Zeit der Erlassung der Bundesverfassung verzichten mochte und konnte, vor der Anfechtung, Überprüfung und Aufhebung gefeit gewesen. Dies war der Grund, daß mit Zustimmung sämtlicher Parteien des Nationalrates das Übergangsgesetz zum Bundesverfassungsgesetz die Verordnungsermächtigung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes in seinem § 7 Abs. 2 übernahm und inhaltlich unverändert der Bundesregierung und

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den einzelnen Bundesministern übertrug. Damit war der rechtliche Mangel des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes saniert - es bleibe dahingestellt, ob mit Rückwirkung auf die vorher erlassenen kriegswirtschaftlichen Verordnungen - und solchen Verordnungen für die Zukunft eine rechtlich unanfechtbare Existenzgrundlage gegeben. Man spräche nach dieser Transformation der Verordnungsermächtigung allerdings besser schlechthin von wirtschaftspolitischen als von kriegswirtschaftlichen Verordnungen. Allerdings ist der Zusammenhang der Verordnungsermächtigung mit den Kriegsereignissen immerhin noch durch die etwas ungewöhnliche Befristung der Ermächtigung gewahrt geblieben. Der Endtermin der Ermächtigung ist nämlich weder in der Ermächtigung selbst kalendermäßig festgesetzt, noch auch von der Regierung zu bestimmen, vielmehr ist durch einfaches Bundesgesetz der Zeitpunkt festzustellen, wann die ,,durch die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse" „als behoben anzusehen sind" (§ 17 des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920). Diese Formel verfolgte den Zweck, die Gerichte und letztlich den Verfassungsgerichtshof von der Untersuchung der Frage, ob eine Maßnahme durch die Kriegsereignisse bedingt ist, zu entlasten und diese im Grunde politische Entscheidung dem Parlament vorzubehalten. Obwohl in der staatsrechtlichen wie in der politischen Publizistik (auch von mir) wiederholt auf die Unzeitgemäßheit der aus dem wirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz überkommenen Verordnungskompetenz aufmerksam gemacht wurde, hat der Nationalrat keine Anstalten getroffen, diese Ermächtigung durch Bundesgesetz zu beseitigen. Dieses Säumnis ist wohl darin begründet, daß die politischen Parteien die fragliche Verordnungskompetenz nicht mehr ernst genommen haben, da die Regierungen bisher gezögert haben, in jenen Fällen, in denen in den ersten Nachkriegsjahren das wirtschaftliche Ermächtigungsgesetz unbedenklich gehandhabt wurde, noch davon Gebrauch zu machen. Bezeichnend ist in dieser Richtung, daß in der letzten Verfassungsreform des Jahres 1929 ein Verordnungsrecht des Bundespräsidenten angestrebt wurde, das die Ermächtigung des kriegswirtschaftlichen Gesetzes weit in den Schatten gestellt und entbehrlich gemacht hätte, während allerdings das Gesetz gewordene Verordnungsrecht des Bundespräsidenten praktisch kaum verwendbar ist. Auch für die Devisenverordnungen wurde bekanntlich ein besonderes währungspolitisches Er-

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mächtigungsgesetz eingeholt, obwohl die Devisenverordnungen, soweit sie verfassungsmäßig sind (ihre verfassungsrechtlichen Mängel habe ich in den „Juristischen Blättern" im Mai 1932 aufgezeigt), mindestens ebensogut wie die nunmehr erlassene Verordnung, in der dem wirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz entlehnten Verordnungskompetenz ihre Grundlage gefunden hätten. In diesem Suchen nach neuen zeitgemäßeren Verordnungsermächtigungen für Zwecke, denen immerhin noch die aus dem Krieg übernommene Ermächtigung genügen würde, drückt sich jedenfalls das gesunde Gefühl dafür aus, daß der Gebrauch jener veralteten Verordnungsermächtigung rechtspolitisch bedenklich, wenn nicht gar ein Mißbrauch ist, selbst wenn er sich juristisch damit rechtfertigen läßt, daß der Nationalrat die schon überlang fällige Außerkraftsetzung dieser Ermächtigung bisher verabsäumt hat. Doch auch bis zu dem Zeitpunkt, wo der Nationalrat die Generalvollmacht zu wirtschaftspolitischen Verordnungen aufgehoben oder wenigstens in Spezialvollmachten mit wirksameren Schranken und Sicherungen übergeführt haben wird, bestehen gewisse rechtliche Kautelen dagegen, daß die Verordnungsermächtigung nicht in eine wirtschaftspolitische Diktatur ausarte. Denn die Regierung unterliegt nicht nur wegen des Gebrauches des Verordnungsrechtes der politischen Kontrolle, sondern es kann auch jede einzelne Verordnung, die sich auf die fragliche Ermächtigung stützt, nach Artikel 139 Bundesverfassungsgesetz vom Verfassungsgerichtshof überprüft werden. Und wenn auch die Frage der Verursachung durch die Kriegsereignisse durch die erörterte Verweisung der Feststellung dieser Kausalität auf den Weg der Bundesgesetzgebung dem Verfassungsgerichtshof entzogen ist, so bleibt ihm doch in jedem einzelnen Fall die freie Prüfung, ob die Verordnung zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen oder zur Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsgegenständen nötig war, bzw. ob sich die Regierung oder die Minister bei Beurteilung dieser Umstände eines Ermessensmißbrauches schuldig gemacht haben. Ob diese inhaltlichen Schranken des Ausnahmsverordnungsrechtes gewahrt sind, dies zu prüfen, dürfte vielleicht der Verfassungsgerichtshof schon aus dem gegenwärtigen konkreten Anlaß Gelegenheit bekommen.

Die Verfassungskrise im Lichte der Verfassung Unter dem unmittelbaren Eindruck der plebiszitären Sanktion eines diktatorischen Regimes im Deutschen Reiche sind nun auch in Österreich den jahrelangen Ankündigungen und Drohungen einer Diktatur die ersten Taten gefolgt. Mag auch der augenblickliche Stand der Ausnahmsmaßnahmen im Vergleich mit den analogen Maßnahmen im Deutschen Reich als erster bescheidener Versuch in dieser Richtung erscheinen, so gemahnt doch das von mir so oft als nachahmenswert hingestellte, diesmal aber warnende Vorbild des Reiches an den jahrtausendalten Spruch: Principiis obsta! Man darf nicht übersehen, daß die Reichsverfassung selbst diktatorischen Experimenten weitgehend entgegengekommen ist, indem sie nach altem demokratischen Herkommen ungewöhnliche diktatorische Kompetenzen in die Verfassung eingebaut hat, die dann aber, wie so oft in der Geschichte, den demokratischen Rahmen gesprengt und die Demokratie verdrängt haben, daß dagegen die Verfassung der Österreichischen Republik, gewitzigt durch die Erfahrungen der Monarchie, einer legitimen Diktatur kaum ein Ventil gelassen hat. Damit ist hierzulande jeder diktatorische Versuch genötigt, sich zur Verfassung in Widerspruch zu setzen, und wenn er dies nicht wahr haben will, sich selbst die Verfassungsmäßigkeit mit allen Mitteln der Propaganda zu attestieren, bis man es selbst glaubt und die öffentliche Meinung glauben gemacht hat. Rechtsfragen können aber nicht ebenso autoritär gelöst werden wie Machtfragen. Insoweit genügt nicht ein ,,Roma locuta est". Mit dem Standpunkt ,,das höhere Staatsinteresse - oder ehrlicher gesagt - das Parteiinteresse gebietet Maßnahmen, selbst gegen die Verfassung", würde sich nicht rechten lassen. Doch wenn sich die autoritären Maßnahmen immer wieder auf die Verfassung berufen und ihren Kritikern mangelndes Verständnis für die Verfassung vorgeworfen wird, dann hat die parteipolitisch unbeeinflußte

Der österreichische Volkswirt, 25. Jg. (1933), S. 584-585. Eine Kurzversion dieses Beitrages findet sich in: Die Stimme der Wissenschaft, WrPolBl 1. Jg. ( 1933), Nr. 1, S. 50-51. 13 A.J. Merkl

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Fachwissenschaft den Beruf der Wahrheit die Ehre zu geben und ihr kein Mäntelchen umhängen zu lassen. Prüfen wir die politischen Ereignisse der letzten zwei Wochen mit verfassungskritischer Sonde, so begegnet uns als Auftakt der Ereignisse und gewissermaßen als Legitimation der folgenden Regierungsmaßnahmen eine „nicht angenommene Demission" der Regierung. Wer die Bestimmung des Art. 74 B-VG kennt, wonach die Bundesregierung vom Bundespräsidenten auf ihren Wunsch des Amtes zu entheben ist, was die Herausgeber der Bundesverfassung, Adamovich und Froehlich, dahin erläutern, daß „kein Minister gegen seinen Willen zum Verbleiben im Amte gezwungen werden kann", der weiß, was er von einer solchen Demission zu halten hat. Nur eine Scheindemission ist der Bundespräsident nicht anzunehmen genötigt. Die derart bestätigte und legitimierte Regierung nahm den gewiß ehrlich gemeinten Wunsch des Bundespräsidenten mit auf den Weg, die Lage „ i m Geiste der Verfassung" zu entwirren. Wie dieser Wunsch verstanden wurde, zeigt die Tatsache, daß die Regierung die Immobilisierung des Nationalrates durch die übereilte Demission der drei Präsidenten nicht etwa zum Anlaß von Bemühungen gemacht hat, den parlamentarischen Betrieb so rasch wie möglich wieder in Gang zu bringen - wie es der „Geist" einer parlamentarisch-republikanischen Verfassung erfordert hätte - , sondern im Gegenteil die von anderer Seite unternommenen Bemühungen zur Flottmachung des Parlaments mit unbestimmten Drohungen einzuschüchtern suchte und sich der Gelegenheit des Regierens mit Notverordnungen erfreute. Die Regierung und Regierungspresse beschränkten sich dabei auf die bloße Behauptung, daß der vom dritten Präsidenten des Nationalrates, Dr. Straffner, eingeschlagene Weg „weitab von Recht und Gesetz" führe, enthoben sich aber jedes Beweises dieser Behauptung. Ich wüßte in der Tat keinen Verfassungsjuristen, der an diesem Weg, auf den ich übrigens in akademischen Kreisen völlig unabhängig von den späteren Beratern Straffners hingewiesen habe, etwas Bedenkliches finden könnte, sondern bin überzeugt, daß jeder beliebige zu Rate gezogene österreichische Staatsrechtslehrer das in diesem Fall so beunruhigte verfassungsrechtliche Gewissen des Herrn Bundeskanzlers beruhigen würde. Man bedenke, daß das Geschäftsordnungsgesetz (§ 2) die Präsidenten des letzten Nationalrates, selbst wenn sie nicht mehr in den neuen Nationalrat gewählt wurden, also unter Umständen Nichtmitglieder des Hauses sind, zur Eröffnung des neugewählten Natio-

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nalrates beruft, daß ferner das Geschäftsordnungsgesetz (§ 38) die Funktionen der Präsidenten und des Hauptausschusses bis zu dem Zeitpunkt verlängert, bis der neugewählte Nationalrat die Präsidenten und den Hauptausschuß neu gewählt hat. Beide angeführten Bestimmungen des Geschäftsordnungsgesetzes, auf die übrigens schon in der letzten Sitzung des Hauptausschusses gebührend hingewiesen wurde, treffen für eine normale Lage Vorkehrung, die der gegenwärtigen abnormalen vollauf ähnlich ist. Ist in Regierungskreisen die primitive Auslegungsregel des § 7 ABGB unbekannt, der da sagt: ,,Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandter Gesetze Rücksicht genommen werden." Der Einwand, daß bei Verfassungsfragen die Gesetzesanalogie unzulässig sei, ist an sich unrichtig, trifft aber überdies gar nicht den vorliegenden Fall, weil das Geschäftsordnungsgesetz nicht den Rang eines Verfassungsgesetzes hat. Für das Rechtsleben gibt es kein „non liquet", vielmehr ist in unserem Falle die analoge Anwendung der genannten Gesetzesstellen auf den gegenwärtig aktuellen, im Gesetz nicht ausdrücklich geregelten Fall nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, und zwar um so eher, als in unserem Falle nur eine Fortdauer der Funktion der abgedankten Präsidenten innerhalb der laufenden Gesetzgebungsperiode angenommen wird. Jeder der drei Präsidenten des Nationalrates ist also nach meiner Überzeugung berechtigt und verpflichtet, sein Amt so lange fortzuführen, bis der Nationalrat ein neues Präsidium gewählt hat. Dabei bleibt es für die Praxis gleichgültig, ob der Jurist die Rechtslage so deutet, daß die Präsidenten als solche, nur in statu demissionis, ihre Geschäfte fortführen oder ob sie durch ihren Amtsverzicht aufgehört haben, Präsidenten des Nationalrates zu sein, und nur als rechtlich delegierte Sachwalter für den kommenden Präsidenten fungieren. Dem durch das bürgerliche Gesetzbuch diktierten Analogieschluß und der hiedurch vollauf rechtlich legitimierten Einberufung des Nationalrates zu weiteren Sitzungen kann die Bundesregierung nur dadurch rechtmäßig entgehen, daß sie beim Bundespräsidenten die Auflösung des Nationalrates erwirkt. Gerade dieser Schritt wäre die naturgemäße Folge davon, daß die Selbstauflösung des Nationalrates bis heute noch nicht in Vollzug gesetzt ist, sondern daß der Nationalrat in diesem Fall ein Gesetz zu einer bloßen optischen Demonstration ohne ernste Absicht seiner Verwirklichung beschlossen hat. Ob freilich gerade die gegenwärtige Bundesregierung legitimiert wäre, dem Nationalrat 13*

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aus dieser seiner Passivität einen Vorwurf zu machen, muß für einen Verfassungsjuristen dahingestellt bleiben. Etwas Drittes neben der dargestellten Alternative gibt es nicht, es wäre denn, daß man trotz den de lege lata bestehenden Entwirrungsmöglichkeiten den Weg der Gesetzgebung beschreiten will. Doch selbst das lehnt ja die Regierung ab - ebenso wie das Zusammentreten oder die Auflösung des Nationalrates. Während aber die Regierung jeden legitimen Weg der Entwirrung der Lage ausschließt, scheint sie sich auf einen illegitimen Weg festlegen zu wollen, nämlich auf eine Novellierung der Geschäftsordnung des Nationalrates durch Verordnung des Bundespräsidenten. Gewiß ist eine Verordnung des Bundespräsidenten grundsätzlich fähig, das Geschäftsordnungsgesetz abzuändern oder zu ergänzen. Doch fehlen gerade in unserem Falle die verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer solchen Notverordnung. Es trifft nämlich nicht die Bedingung zu, daß der Nationalrat,,nicht versammelt ist und nicht rechtzeitig zusammentreten kann", vielmehr ist er, wie vorstehend ausgeführt wurde, voll aktionsfähig. Man darf der Regierung wohl auch nicht die Absicht unterschieben, die andere Voraussetzung der Beschreitung des Notverordnungsweges künstlich herstellen zu wollen, daß nämlich der Nationalrat ,,in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist" (Art. 18 Abs. 3 B-VG). Es würde also eine Notverordnung zur Flottmachung des Nationalrates gerade deswegen, weil er von Rechts wegen ohnedies voll aktionsfähig ist, verfassungsrechtlich bedenklich und der Gefahr einer Anfechtung beim Verfassungsgerichtshof ausgesetzt sein. Ein formelles Gesetz zur Novellierung des Geschäftsordnungsgesetzes bedingt aber das Zusammentreten des Nationalrates. Es bleibt also bei den beiden oben aufgezeigten Wegen: Auflösung des Nationalrates durch den Bundespräsidenten oder Einberufung des Nationalrates durch einen geschäftsführenden Präsidenten dieses Hauses. Die, wie gezeigt wurde, nicht rechtlich begründete, sondern rein tatsächliche Ausschaltung des Nationalrates wurde von der Bundesregierung zur Erlassung einer Reihe von „kriegswirtschaftlichen" Verordnungen benützt. Ich gebe, getreu meiner Aufgabe, nicht irgend einer Partei, sondern ausschließlich dem Rechte zu dienen, rückhaltlos meiner Überzeugung Ausdruck, daß die verfassungsgesetzliche Handhabe zur Erlassung sogenannter kriegswirtschaftlicher Verordnungen nach wie vor zu Recht besteht, und zwar insolange, als nicht gemäß § 17 des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920 ,,der Zeitpunkt, von dem an die erwähnten außeror-

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dentlichen Verhältnisse als behoben anzusehen sind, durch Bundesgesetz festgestellt" wurde. Da man trotz wiederholter Mahnungen und Erinnerungen (die auch ich mir übrigens schon vor Jahren erlaubt hatte) versäumt hat, dieses Gesetz zu betreiben und zu erlassen, besteht grundsätzlich heute noch die Möglichkeit, die so umstrittene Verordnungsermächtigung - und zwar nicht im Sinne des Gesetzes der Monarchie, sondern des Verfassungsübergangsgesetzes der Republik - zu benützen. Die dem Bundespräsidenten erteilte Verordnungsermächtigung hat nicht einfach die formell und materiell abweichende Ermächtigung zu wirtschaftspolitischen Verordnungen konsumiert, sondern sie höchstens dahin modifiziert, daß die nach Art. 18 Abs. 5 B-VG, dem Verordnungsrecht des Bundespräsidenten entzogenen Gesetzgebungsgegenstände auch der Regelung durch selbständige wirtschaftspolitische Verordnungen entzogen sind. Man kann also die jüngste Reihe kriegswirtschaftlicherVerordnungen nicht in Bausch und Bogen als verfassungswidrig abtun, sondern muß ihre einzelnen Anordnungen auf die Verfassungsmäßigkeit untersuchen. Ihre Verfassungsmäßigkeit hängt davon ab, ob die formellen und materiellen Schranken dieser Verordnungskompetenz eingehalten worden sind. Das Ergebnis dieser Untersuchung, die besonders erfolgen müßte, kann durch die Feststellung vorweggenommen werden, daß zwei Schranken der Verordnungskompetenz in mehreren Fällen ganz eindeutig und unzweifelhaft überschritten worden sind: Die Schranke einer wenigstens mittelbaren wirtschaftspolitischen Bedingtheit der Maßnahmen und die Schranke eines bloß gesetzändernden und nicht zugleich verfassungsändernden Inhaltes. Nicht viel größer ist aber die Bewegungsfreiheit, die die Verordnungskompetenz des Bundespräsidenten gewährt. Jede weitergehende Maßnahme ist angesichts der engen Begrenztheit des Blanketts versucht, den Rahmen der Verfassung zu überschreiten und damit der Gefahr der Anfechtung und in gewissen, bereits vorliegenden Fällen der Gewißheit einer Außerkraftsetzung durch den Verfassungsgerichtshof ausgesetzt. Auch, ja gerade der Verfassungsjurist muß auf Grund einer gewissenhaften Prüfung der Rechtslage feststellen, daß die gegenwärtige gefahrvolle Lage unseres Vaterlandes nicht durch verfassungswidrige Oktrois einer tatsächlichen Minderheit, sondern nur durch Kompromisse, die von der Verfassung einwandfrei gedeckt und in der Zustimmung der Mehrheit verankert sind, gemeistert werden kann.

Der Verfassungskampf Hat es überhaupt noch einen Sinn, unter den Drohungen einer verfassungsfeindlichen Bewegung, deren Führer wie Geführte für politische Freiheit kein Verständnis haben und sich eben darum zur politischen Herrschaft berufen fühlen, Verfassungsfragen aufzuwerfen? Gerade in solchen Krisentagen darf aber am allerwenigsten ein verfassungstreuer Verfassungslehrer resigniert schweigen, sondern es ist seine Pflicht, das Stück politischer Freiheit, das Österreich heute noch besitzt, vor allem die Freiheit der Wissenschaft und die schon angetastete Pressefreiheit, zu benüzen, um den Machthabern, die vor zwölf Jahren in der verfassunggebenden Nationalversammlung für die gegenwärtige Verfassung gestimmt oder sogar auf sie ein Gelöbnis abgelegt haben, das hoffentlich nicht ein Wort ohne verpflichtenden Inhalt war und ist, vor Augen zu führen, wie weit sich schon der heutige Kurs von der Verfassung entfernt hat. Diesmal soll die Verordnungspraxis in knappsten Zügen juristisch beleuchtet werden. Wiederum erfüllt sich die geschichtliche Rolle der Verordnungsvollmacht: Wie Altösterreich durch die kaiserlichen Verordnungen an den Rand des Absolutismus gebracht wurde, segelt Neuösterreich mittels des Steuers „kriegswirtschaftlicher Verordnungen" in die Diktatur. Mein Widerstand gegen diesen verderblichen Weg ist nicht von heute: ich würde mir selbst untreu werden, wenn ich mich zu der Sturzwelle kriegswirtschaftlicher Verordnungen, mit denen unser Land mitten im Frieden überschüttet wird, passiv verhielte, während ich mitten im Krieg an den Kriegsverordnungen immer wieder die so nötige verfassungsjuristische Kritik geübt habe. Es ist jedoch schlechterdings unmöglich, im Rahmen eines Aufsatzes dieser Zeitschrift die Fülle der Verfassungswidrigkeiten, die in jüngster Zeit - nicht schon durch den bloßen Gebrauch, sondern erst durch den Mißbrauch des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes - geschehen

Der österreichische Volkswirt, 25. Jg. (1933), S. 609-612. Vgl. Merkl, Der Verfassungskampf, AZ vom 26. März 1933, S. 5

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sind, gebührend ins Licht zu rücken. Nur die auffälligsten Überschreitungen des Blanketts des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920, das die Ermächtigung erneuert hat, seien in zusammenfassender Skizze vorgeführt. Damit ist zugleich schon meine Auffassung ausgedrückt, daß weder, wie von regierungsoppositioneller Seite behauptet wurde, der gesamte Inhalt der kriegswirtschaftlichen Verordnungen infolge seiner rechtlichen Form verfassungswidrig ist, noch auch, wie von regierungsoffiziöser Seite behauptet wurde, mit der Zulässigkeit dieser Verordnungsform der ganze bunte Inhalt, der in sie gepreßt wurde, in Bausch und Bogen gerechtfertigt sei. In der Reihe der kriegswirtschaftlichen Verordnungen ist vom verfassungsjuristischen Standpunkt nach wie vor die Verordnung der Bundesregierung vom 7. März 1933, BGBL 41 am bemerkenswertesten. Unter dem Titel „betreffend besondere Maßnahmen zur Hintanhaltung der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen Schädigungen des wirtschaftlichen Lebens" verbirgt sich bekanntlich ein Eingriff in die verfassungsgesetzlich gewährleistete Pressefreiheit. Ein vorläufiges Wort über die Verfassungswidrigkeit dieser Verordnung habe ich bereits in der „Neuen Freien Presse" vom 9. März 1933 gesprochen; an dieser Stelle mußte ich mir selbstverständlich eine kasuistische Kritik dieser Verordnung, für die übrigens auch hier nicht der entsprechende Raum ist, versagen. Nur seien in Kürze die Rechtfertigungsversuche angedeutet, mit denen man die Verfassungsmäßigkeit gerade dieser Verordnung, über deren Präjudizialität für unser ganzes Verfassungsleben man sich augenscheinlich in allen Kreisen klar geworden ist, zu retten sucht. Denn ist diese Verordnung verfassungsgemäß, dann wäre es ja auch eine auf demselben Wege unternommene Verlängerung der Gesetzgebungsperiode des gegenwärtigen Nationalrates oder der Funktion der gegenwärtigen Regierung. Der Versuch, den kriegswirtschaftlichen Verordnungen verfassungsändernde Kraft anzumaßen, die sie haben müßten, um das gesetzesfeste Grundrecht der Pressefreiheit zu beschränken, scheint tatsächlich durch einzelne Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes gerechtfertigt zu werden. Doch wird bei einer solchen Berufung auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zweierlei übersehen. Vor allem haben nur vereinzelte Einschränkungen von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Freiheitsrechten verfassungsändernden Charakter; zum überwiegenden Teil behält das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger die Möglichkeit von Beschränkungen

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der von ihm statuierten Freiheitsrechte im Wege formeller Gesetzgebung vor. Zum Beispiel schließt das Grundrecht der Freizügigkeit nicht einfachgesetzliche Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, das Grundrecht der Erwerbsfreiheit ebensowenig Beschränkungen der Erwerbstätigkeit, etwa durch den gewerblichen Befähigungsnachweis und das Konzessionssystem, und das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Eigentums die ganze Enteignungsgesetzgebung aus. Zum Unterschied von diesen nur vorbehaltlich einschränkender Gesetze bestehenden Freiheitsrechte gibt es aber auch sogenannte gesetzesfeste Grundrechte, die nicht durch einfaches Gesetz beschränkt, sondern nur durch Verfassungsgesetz abgeändert werden können. Hiezu gehören namentlich die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und die Pressefreiheit. Was das zuletzt genannte Grundrecht betrifft, hat nicht nur der sogenannte „Zensurbeschluß" der provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 ,,jede Zensur" für aufgehoben erklärt, sondern überdies der Artikel 149 B-VG - zugleich mit der verfassungskräftigen Rezeption des sogenannten Zensurbeschlusses - die Ermächtigung zur Suspension der Pressefreiheit beseitigt. Die Pressefreiheit darf also von keinem einfachen Gesetz und somit ebensowenig von einer gesetzeskräftigen Verordnung beschränkt werden. Selbst wenn die inhaltlichen Voraussetzungen einer kriegswirtschaftlichen Verordnung im Falle eines Eingriffes in die Pressefreiheit erfüllt wären, wäre also dieser Weg wegen der Unzulässigkeit einfachgesetzlicher Eingriffe in die Pressefreiheit unbedingt verschlossen. Ein letzter Rettungsversuch für die Verfassungsmäßigkeit der Presseverordnung stellt sich auf den Standpunkt, daß die Anordnung, Pflichtstücke einer Zeitung oder sonstiger Druckwerke eine gewisse Zeit vor Beginn der Verbreitung der Verwaltungsbehörde abzuliefern, überhaupt keine Zensur bedeute.Wozu sonst als zur präventiven Prüfung, ob das Erscheinen der Zeitung zulässig ist, soll aber eine solche Ablieferungspflicht dienen? Zensur ist jede präventive Prüfung noch nicht erschienener Druckwerke, zum Unterschied von der repressiven Kontrolle erschienener Druckerzeugnisse. Verbietet die Verfassung jede Zensur, so ist damitjede präventive Kontrolle von Druckerzeugnissen verwehrt. Der Versuch einer restriktiven Auslegung des verfassungsmäßigen Zensurbegriffes widerspricht der deutlichen Anweisung zu einer extensiven Auslegung dieses Begriffes, wie sie sich aus dem vorzitierten verfassungskräftigen Zensurbeschluß ergibt. Übrigens hat auch der Verfassungsgerichtshof alle Versuche einer einschränkenden Auslegung des Zensurbegriffes konsequent desavouiert und dem Grundrecht der „Freiheit von jeder Zensur" einen sogar weit über das Pressewesen hinausreichenden Anwendungsbereich geschaffen.

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Würde die Presseverordnung toleriert werden, so wäre dies für den ganzen Bereich der Freiheitsrechte präjudiziell, die schon seit dem Jahre 1867 ein unangefochtener Besitzstand der österreichischen Staatsbürger waren und gerade nach gut deutscher Staatsauffassung zum Existenzminimum eines freien Staatsbürgers gehören, das ernstlich durch undeutsche politische Strömungen, den Faschismus und Bolschewismus, angefochten wurde. Nur die Irreleitung großer Bevölkerungskreise durch diese politischen Strömungen macht es auch nötig, daß sich der Hüter der Pressefreiheit vor Verdächtigungen, daß er Presseexzessen die Mauer machen wolle, verwahren muß. Die Entwicklung im Deutschen Reich, die es rechtlich möglich macht, daß in Hinkunft „ i m Lande der Denker und der Bücher44 ein beliebiger Polizeileutnant inappelabel über das Erscheinen eines wissenschaftlichen Werkes entscheiden kann, müßte Mahnung genug sein, in Österreich kein Jota der Pressefreiheit fallen zu lassen. Und viel gefährlicher als der Mißbrauch rechtlicher Freiheit ist der Mißbrauch rechtlicher Macht! Eine andere öffentlich kritisierte Vorschrift der Presseverordnung muß übrigens vor einer Mißdeutung in Schutz genommen werden. Es darf zwar mit Grund bezweifelt werden, ob die Beleidigung namentlich einer ausländischen Regierung ein Tatbestand ist, der auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes mit Strafe bedroht werden kann. Und es ist eine sachlich völlig ungerechtfertigte rechtliche Anomalie, das Straferkenntnis der Verwaltungsbehörde erster Instanz in großem Umfang für endgültig zu erklären. Die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof in den Fällen des Art. 130 B-VG konnte jedoch durch die Beschränkung des „Berufungsrechtes 44 (das sich nach dem Strafgebrauch der österreichischen Gesetzgebung nur auf das Verfahren in der Verwaltung bezieht) nicht ausgeschlossen werden. Freilich kann die Strafbehörde das Beschwerderecht illusorisch machen, indem sie das Strafausmaß unterhalb der ziffernmäßigen Grenzen des Art. 130 B-VG bemißt. Die Novelle zur Gewerbeordnung, BGBl. 52 aus 1933, die sich unter den bedeutsamen kriegswirtschaftlichen Verordnungen inhaltlich am ehesten nicht zur Gänze - mit der verfassungsrechtlichen Verordnungsvollmacht vereinbaren läßt, macht sich selbst durch ein unglaubliches Redaktionsversehen verfassungswidrig. Der Verordnungstext läßt nämlich eine Berufung auf die Verordnungsvollmacht des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes vermissen, gibt sich somit als eine einfache Verordnung gemäß Art. 18

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Abs. 2 B-VG und macht als solche den unzulässigen Versuch, die Gewerbeordnung und deren Kundmachungspatent, also Akte von Gesetzeskraft, abzuändern. Die inhaltliche Überschreitung des verfassungsgesetzlichen Verordnungsblanketts ist bei den Novellierungen des Wehrgesetzes (BGBl. 62 und 67 aus 1933) am augenfälligsten. Hält die Bundesregierung ernstlich Vorschriften über den Soldateneid und die Verehelichung von Soldaten für Maßnahmen, die ,,zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und andern Bedarfsgegenständen" notwendig sind, wenn sie schon nicht vor der Profanierung säkularer religiöser Einrichtungen, die in ihrer Konstruktion als kriegswirtschaftliche Maßnahme gelegen ist, Bedenken getragen hat? Unstreitig liegt die Beurteilung der „wirtschaftlichen Notwendigkeit" im Ermessen der Bundesregierung, Ermessensmißbräuche bei der Beurteilung, die in keinem Falle so eklatant sind wie in diesem, hat aber der Verfassungsgerichtshof wahrzunehmen und sie müssen zur Aufhebung des rechtswidrigen Verordnungstextes führen. Die sozialpolitisch so weittragende Verordnung der Bundesregierung betreffend die Erleichterung der Personallasten der Bankaktiengesellschaften, BGBl. 68, ist verfassungswidrig, weil sie die im Artikel 18 Abs. 5 für Verordnungen des Bundespräsidenten aufgestellte inhaltliche Schranke, die nach dem Argument a maiori ad minus auch für Verordnungen der Bundesregierung gelten muß, nicht eingehalten hat. Was dem übereinstimmenden Zusammenwirken von Bundespräsident, Bundesregierung und parlamentarischem Ausschuß verwehrt ist, kann sinnvollerweise nicht die Bundesregierung für sich allein bewirken. Die Verordnung der Bundesregierung vom 20. März 1933 über die darlehensweise Hingabe von Vermögenschaften des Bundes an die Gesellschaft für Revision und treuhändige Verwaltung, BGBl. Nr. 69, will ein nach Artikel 42 Abs. 5 erforderliches formelles Bundesgesetz ersetzen und stellt den Ungedanken dar, daß sich die Bundesregierung selbst die Ermächtigung zu einer in ihrem Wirkungskreis liegenden finanzpolitischen Maßnahme erteilt. Das hiemit vorweggenommene Ergebnis einer umständlichen Beweisführung über die Verfassungswidrigkeit auch dieser Verordnung ist unmittelbar evident.

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Von den gegen die Vereins- und Versammlungsfreiheit gerichteten Maßnahmen ist mir namentlich die an die Landeshauptleute gerichtete Weisung, Versammlungen generell zu verbieten, bedenklich. Eine solche, für die Angewiesenen allerdings rechtsverbindliche Weisung stellt nämlich den unzulässigen Versuch dar, Versammlungen ohne Rücksicht auf das Vorhandensein der gesetzlichen Verbotsgründe im Einzelfall unmöglich zu machen, und stellt sich als eine generelle, zeitlich und örtlich unbeschränkte Aufhebung der verfassungsgesetzlichen Versammlungsfreiheit durch Verwaltungsverordnung dar. Wenn es auch erwünscht ist, in der Zeit politischer Hochspannung die Versammlungstätigkeit möglichst einzuschränken, so dürfte doch nicht den Verwaltungsbehörden die Möglichkeit einer individualisierenden Beurteilung der einzelnen Fälle gänzlich genommen werden. Wer durch ein derart fundiertes Versammlungsverbot betroffen ist, kann mit Grund im Sinne des Artikels 144 B-VG Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wegen Verletzung der verfassungsmäßig gewährleisteten Versammlungsfreiheit erheben In diesem Verfahren ist auch die bestehende generelle Weisung der Bundesregierung an die Landeshauptleute über das Verbot von Versammlungen der Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof ausgesetzt, da nach seiner ständigen Rechtsprechung auch Verwaltungsverordnungen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nach Art. 139 unterliegen. Man kann somit nicht zweifeln, daß dem Verfassungsgerichtshof durch die intensive Verordnungstätigkeit der letzten Wochen reichlich Kontrollmaterial geschaffen wurde, falls er nicht ähnlich wie der Nationalrat durch höhere Gewalt oder ähnliches in seiner verfassungsmäßigen Tätigkeit behindert wird. Wie man unter diesen Umständen die Einstellung einer so bedenklichen Verordnungspraxis von sachlichen Zugeständnissen der nicht in der Regierung vertretenen Parteien auf dem Gebiet der Verfassung und obendrein die parlamentarische Erledigung der gewünschten Verfassungsänderungen von einer Verordnung des Bundespräsidenten abhängig machen kann, für welche die rechtliche Voraussetzung der Aktionsunfähigkeit des Nationalrates fehlt, muß einem Verfassungsjuristen, wie so manche der jüngsten Geschehnisse in unserem Vaterlande, unverständlich bleiben.

Die Frage der Geltung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und seines Verhältnisses zur Verordnungsgewalt des Bundespräsidenten Zur Beurteilung der Frage, ob die Schranken einer Verordnungsvollmacht eingehalten worden sind, ist vor allem nötig, die Stellung der jeweiligen Vollmacht im Gesamtsystem der Rechtsordnung zu klären. Erst aus dem Zusammenhalt mit den fundamentalen Einrichtungen einer Staats- und Rechtsordnung ist nämlich zu entnehmen, in welchem Sinne eine Verordnungsvollmacht auszulegen ist. Die verfassungsgesetzlichen Ermächtigungen zu gesetzändernden Verordnungen welcher Art immer, sind im Rahmen der österreichischen Rechtsordnung keinesfalls in extensiver, sondern in restriktiver Weise zu interpretieren. Dieser Auslegungsgrundsatz für die genannten Verordnungsvollmachten ergibt sich insbesondere aus dem Charakter des Staates als Bundesstaat und aus der verfassungsgesetzlichen Verankerung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Vollziehung. Schon in den Worten des Art. 2 B-VG „Österreich ist ein Bundesstaat" liegt mehr als ein bloßes Programm der Verfassung, nämlich eine Auslegungsregel des Inhaltes, daß alle einschlägigen Verfassungsbestimmungen in einer dem Wesen des Bundesstaates entsprechenden Weise auszulegen sind. Die insbesondere die neuere deutsche Staatsrechtslehre beherrschende Einsicht, daß die der Weimarer Reichsverfassung nicht weniger wie der österreichischen Bundesverfassung eigentümlichen programmatischen Erklärungen doch auch einen juristisch relevanten Inhalt haben (vgl. insbesondere „Die Staatsformbestimmung der Weimarer Reichsverfassung" von Dr. Kurt Wilk, Berlin 1932), beruht auf der Vermutung, daß der Gesetzgeber im Zweifel Rechtssätze ausspreche. Das Wesen des Bundesstaates bedingt nun aber bekanntlich die Beteiligung einer Ländervertretung an der BunJuristische Blätter, 62. Jg. (1933), S. 137-141.

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desgesetzgebung, eine Folgerung, die von der österreichischen Bundesverfassung im Art. 24 B-VG durch dieAnordnung gezogen wird, daß die Gesetzgebung des Bundes der Nationalrat gemeinsam mit dem Länder- und Ständerat, derzeit noch mit dem Bundesrat, ausübt. Alle verfassungsmäßigen Wege der Notgesetzgebung schalten aber den Bundesrat oder eine sonstige Vertretung der Länder gänzlich von der zentralen Gesetzgebung aus und durchbrechen somit die bundesstaatliche Regel der Mitwirkung einer Ländervertretung an der Bundesgesetzgebung. Als Ausnahmserscheinung von der Normalform bundesstaatlicher Gesetzgebung ist das Funktionsbereich gesetzeskräftiger Verordnungen einengend abzustecken, wenn man den fundamentalen Charakter unserer Verfassung respektieren will. Zu demselben Ergebnis führt die Ausdeutung des Verfassungsgrundsatzes der Gesetzmäßigkeit der gesamten Verwaltung (Art. 18 B-VG). Dieser Verfassungsgrundsatz ordnet als Regel an, daß die gesamte Verwaltung, zu der auch Verordnungen gehören, nur auf Grund einfacher formeller Gesetze ausgeübt werden darf. Die Folgerung für Verordnungen zieht denn auch der Verfassungsartikel ausdrücklich im 2. Absatz mit der Ermächtigung, daß jede Verwaltungsbehörde ,,auf Grund der Gesetze", d.h .formeller, einfacher Gesetze Verordnungen erlassen kann. Ausnahmen von dieser Regel bedürfen ausdrücklicher verfassungsgesetzlicher Ermächtigung. Solche Ermächtigungen sind namentlich die Verordnungsvollmacht des Art. 18 Abs. 3 B-VG („Verordnungen des Bundespräsidenten") und die Vollmacht des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920, BGBL 365 („Kriegswirtschaftliche Verordnungen"). Ermächtigungen zu gesetzeskräftigen Verordnungen sind zufolge ihrer Eigenschaft als Durchbrechungen der verfassungsgesetzlichen Regel einer formellgesetzlichen Fundierung der Verwaltung überhaupt und der Verordnung im besonderen in einschränkendem Sinne auszulegen. Diese Auslegung kommt übrigens auch sinnfällig in dem der Wissenschaft wie der Staatspraxis eigentümlichen Sprachgebrauch für Verordnungen von der Art der kriegswirtschaftlichen Verordnungen zum Ausdruck. In dem Worte „Notverordnung" verrät sich die Einsicht in die Anomalie dieses Rechtsphänomens; die Notgesetzgebung ist nur ein ausnahmsweise zulässiges Surrogat für die normale verfassungsmäßige Gesetzgebung. Während die verfassungsmäßige Gesetzesform den verfassungsmäßigen Formen der Notgesetzgebung jeglichen Bewegungsraum nehmen darf, darf umgekehrt die Notgesetzgebung ihr Funktionsbereich niemals auf Kosten der normalen Gesetzgebung erweitern.

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Die Bundesregierung hat übrigens durch konkludente Handlungen zu erkennen gegeben, daß sie selbst die Auffassung teilt, wonach eine extensive Interpretation der Ermächtigungen zu gesetzeskräftigen Verordnungen unzulässig sei. Nur so erklärt es sich, daß wiederholt Spezialermächtigungen zu gesetzeskräftigen Verordnungen im Wege besonderer Verfassungsgesetze eingeholt wurden, obwohl die Zwecke, die man mit diesen Ermächtigungen verfolgte, bei extensiver Interpretation des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes auch auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage hätten erreicht werden können. Bezeichnend für diese Vorgangsweise ist namentlich das Bundesverfassungsgesetz vom 8. Oktober 1931, BGBl. 305, ,,betreffend die Ermächtigung zur Erlassung gesetzändernder Verordnungen zum Schutze der Wirtschaft". Daß die Bundesregierung für die gesetzeskräftigen Devisenverordnungen diese Sonderermächtigung einholte, kann sinnvoll nur so erklärt werden, daß sie Bedenken trug, die Devisenverordnungen auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz zu stützen; und doch hätten diese unstreitig wirtschaftspolitischen Maßnahmen noch viel eher auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gestützt werden können als die neuesten „kriegswirtschaftlichen" Maßnahmen von der Art der Novellierung des Preßgesetzes, Wehrgesetzes und verschiedener Gesetze sozialrechtlichen Charakters. Prüft man an der Hand der vorstehenden Auslegungsmaximen die Verordnungsvollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes bzw. des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes aus 1920, so fragt es sich vor allem, ob kriegswirtschaftliche Verordnungen überhaupt derzeit noch rechtmäßig erlassen werden können. Die Zulässigkeit kriegswirtschaftlicher Verordnungen überhaupt ist nicht durch die mangelnde Kausalität zwischen den gegenwärtigen im Verordnungswege bekämpften Erscheinungen und den Kriegs Verhältnissen und Kriegsfolgen fraglich geworden,1 sondern durch die Tatsache, daß die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 eine 1

Diese Frage wurde nämlich positivrechtlich ausgeschaltet, genauer gesagt, aus der Sphäre der Vollziehung in die Sphäre der Gesetzgebung gehoben. Denn wenn nach § 17 Verfassungsübergangsgesetz ein Bundesgesetz den Zeitpunkt „festzustellen" hat, von dem an die „durch die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918 hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse als behoben anzusehen sind44, dann braucht das verordnende Organ nicht in jedem Falle der Erlassung einer kriegswirtschaftlichen Verordnung nachzuprüfen, ob die fraglichen Verhältnisse noch fortdauern, und steht auch dem Verfassungsgerichtshof bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer kriegswirtschaftlichen Verordnung kein Prüfungsrecht in dieser Hinsicht zu.

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neue Vollmacht zu gesetzeskräftigen Verordnungen eingeführt hat, die sich teilweise mit der Verordnungsvollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes deckt. Eine objektive verfassungsjuristische Kritik kann indes die grundsätzliche Zulässigkeit kriegswirtschaftlicher Verordnungen auch für die Gegenwart und eine unbestimmte Zukunft nicht in Abrede stellen. Die Ermächtigung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes war von vornherein nicht auf Kriegsdauer abgestellt und wurde überdies im § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes auf unbestimmte Zeit erneuert. Über den Endtermin der Geltung der Verordnungsvollmacht spricht sich das Verfassungsübergangsgesetz vom 1. Oktober 1920 im § 17 Abs. 2 folgendermaßen aus: ,,Der Zeitpunkt, von dem an die erwähnten außerordentlichen Verhältnisse als behoben anzusehen sind, wird durch Bundesgesetz festgestellt." Ein solches Bundesgesetz ist bisher nicht erlassen worden. Es könnte also die fragliche Verordnungsvollmacht nur auf anderem mittelbaren Wege zum Erlöschen gebracht worden sein. Insbesondere steht in Frage, ob nicht die Bundes-Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929, BGBl. 392, der Verordnungsvollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes vom 17. Dezember 1917 bzw. des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920, BGBl. 2 ganz oder teilweise derogiert hat. Vor allem kann nicht bestritten werden, daß in einer Rechtsordnung verschiedene einander ergänzende oder auch einander überschneidende Verordnungsvollmachten nebeneinander bestehen können. Es wäre unzulässig, aus der Tatsache, daß die Bundes-Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 im Art. 18 Abs. 3 ff. B-VG eine neue Ermächtigung zu gesetzändernden Verordnungen erteilt hat, zu folgern, daß damit implicite die seinerzeit bestehenden gleichartigen Ermächtigungen konsumiert worden seien. Die Bundes-Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 erhebt in keiner Weise Anspruch auf Ausschließlichkeit des von ihr vorgezeichneten Weges der Notgesetzgebung, sondern läßt auch anderen derartigen Wegen zweifellos Raum. So hat schon das Verfassungsübergangsgesetz von demselben Tage, BGBl. 393, in § 4 eine gleichartige Ermächtigung zu selbständigen Polizeiverordnungen erteilt. Die Verordnungsvollmacht der Bundesregierung und der Bundesminister wäre in einer späteren verfassungsgesetzlichen Vollmacht nur dann aufgegangen, wenn sie in einer solchen vollständig enthalten gewesen wäre. Nun weichen aber die Verordnungsermächtigungen des

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Art. 18 Abs. 3 B-VG und des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes aus 1920, wenn man sie in ihrer ursprünglichen Fassung in Vergleich stellt, sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen der delegierten Verordnungen und des zulässigen Verordnungsinhaltes als auch in bezug auf das mit der Verordnungskompetenz ausgestattete Organ voneinander ab. Verordnungen gemäß Art. 18 B-VG dürfen nur unter besonders einengenden Voraussetzungen erlassen werden, nämlich dann, wenn eine der Beschlußfassung des Nationalrates bedürfende Maßnahme zur Abwehr eines offenkundigen nicht wieder gut zu machenden Schadens für die Allgemeinheit zu einer Zeit notwendig wird, in der der Nationalrat nicht versammelt ist, nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder in seiner Tätigkeit durch höhere Gewalt behindert ist. Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz dagegen läßt jede derartige Beschränkung seiner Verordnungsvollmacht vermissen. Die Verordnungsvollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes ist also in diesen Punkten wesentlich weiter als die des Art. 18 Abs. 3 B-VG, was sich darin äußert, daß die Erlassung von Verordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes bzw. des § 7 des Verfassungsübergangsgesetzes in Fällen zulässig ist, in denen es dem Bundespräsidenten verwehrt ist, eine Verordnung nach Art. 18 Abs. 3 B-VG zu erlassen. Beispielsweise darf die Bundesregierung oder ein Bundesminister eine kriegswirtschaftliche Verordnung erlassen, auch wenn der Nationalrat versammelt ist oder rechtzeitig zusammentreten könnte, während dem Bundespräsidenten unter diesen Umständen die Erlassung einer gesetzeskräftigen Verordnung verwehrt ist.2 Auch in dem Punkt ist die Verordnungsvoll macht des Bundespräsidenten nach Art. 18 B-VG enger als die Verordnungsvollmacht der Bundesregierung oder einzelner Bundesminister gemäß § 7 Verfassungsübergangsgesetzes, als der Bundespräsident eine Verordnung nur ,,zur Abwehr eines offenkundigen nicht wieder gut zu machenden Schadens für die Allgemeinheit", also in Fällen besonderer Dringlichkeit erlassen darf, während die Bundesregierung einer gleichartigen Beschränkung nicht un-

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Darum entspricht ja auch der von der Bundesregierung (hypothetisch, nicht aber aktuell) zur „Flottmachung 44 des Nationalrates vorgeschlagene Weg einer Ergänzung des Geschäftsordnungsgesetzes durch Notverordnung des Bundespräsidehten nicht der Verfassung, denn es trifft die Voraussetzung des Art. 18 Abs. 3 B-VG nicht zu, daß der Nationalrat „nicht versammelt ist" und „nicht rechtzeitig zusammentreten kann44. 14 A.J. Mcrkl

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terliegt. Dagegen ist die Verordnungsvollmacht des Bundespräsidenten bezüglich der Gegenstände der Verordnungskompetenz umfassender als die Verordnungsvollmacht im Sinne des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes. Während nämlich die kriegswirtschaftlichen Verordnungen schon ihrem Namen nach in einer Beziehung zur Wirtschaft stehen müssen, und zwar entweder zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen oder zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln oder anderen Bedarfsgegenständen dienen müssen, fehlt der dem Bundespräsidenten erteilten Verordnungsvollmacht eine derartige Bezugnahme auf wirtschaftliche Notwendigkeiten oder Bedürfnisse. Allerdings ist auch die Verordnungsvollmacht des Bundespräsidenten nicht unbeschränkt. Die inhaltliche Schranke ist aber rechtstechnisch und materiell anders gezogen als im kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz. Während das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz den zulässigen Inhalt der ihm entsprechenden Verordnungen positiv umschreibt, stellt Art. 18 Abs. 5 B-VG die Schranken des Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten in negativer Weise fest, indem von der Summe der grundsätzlich eine Beschlußfassung des Nationalrates unterliegenden Maßnahmen gewisse Gegenstände ausdrücklich von der Verordnungsvollmacht ausgenommen werden. Die Verordnungen des Bundespräsidenten dürfen nämlich nicht eine Abänderung bundesverfassungsgesetzlicher Bestimmungen bedeuten und weder eine dauernde finanzielle Belastung des Bundes noch eine finanzielle Belastung der Länder, Bezirke oder Gemeinden, noch finanzielle Verpflichtungen der Bundesbürger, noch eine Veräußerung von Staatsgut, noch Maßnahmen in den in Art. 10 Zahl 11 B-VG bezeichneten Angelegenheiten, noch endlich solche auf dem Gebiete des Koalitionsrechtes oder des Mieterschutzes zum Gegenstand haben. Mit der Verweisung auf den Art. 10 Zahl 11 B-VG sind des weiteren von der Verordnungskompetenz des Bundespräsidenten ausgenommen: das Arbeiterrecht sowie Arbeiter- und Angestelltenschutz, soweit es sich nicht um land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und Angestellte handelt, Sozial- und Vertragsversicherungswesen, endlich Kammern für Arbeiter und Angestellte. Mit diesen Exemtionen ist den Verordnungen des Bundespräsidenten mancher wirtschaftspolitische Inhalt versagt, der der Regelung durch kriegswirtschaftliche Verordnungen bei isolierter Betrachtung ihrer verfassungsgesetzlichen Grundlage fähig wäre. Dagegen können die Verordnungen des Bundespräsidenten mancherlei nicht wirtschaftliche Gegenstände erfassen, die den kriegswirtschaftlichen Verordnungen verwehrt sind. Wenn

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auch im Gesamtkalkül die Verordnungskompetenz des Bundespräsidenten inhaltsreicher sein mag als die Ermächtigung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes, so kann doch nicht die erstgenannte Verordnungsvollmacht als die weitere und die an zweiter Stelle genannte als die engere beurteilt werden, weil sich die eine nicht einfach im Rahmen der anderen hält, sondern sich die beiden Vollmachten in ihrer ursprünglichen Fassung kreuzen. Bei der Beurteilung des gegenseitigen Verhältnisses der beiden Verordnungsvollmachten darf auch nicht übersehen werden, daß trotz der relativen inhaltlichen Beschränkung der kriegswirtschaftlichen Verordnungen ihre Anwendungsmöglichkeit erfahrungsgemäß viel weiter geht als die der Verordnungen des Bundespräsidenten. Endlich ist auch der Träger der Verordnungsvollmacht in beiden Fällen ein anderer. Im Falle des Art. 18 Abs. 3 B-VG erscheint dem Sprachgebrauche nach der Bundespräsident als das zur Erlassung der Verordnung allein zuständige Organ. Indes ergibt sich aus den Vorschriften über das Verfahren bei Erlassung solcher Verordnungen, daß auch andere Organe am Zustandekommen der nach dem Bundespräsidenten benannten Verordnungen notwendig beteiligt sind. Die Initiative steht der Bundesregierung zu, da sie nach Art. 18 Abs. 3 B-VG einen Vorschlag zu erstatten hat. Des weiteren ist das Einvernehmen mit dem vom Hauptausschuß des Nationalrates einzusetzenden ständigen Unterausschuß, und das bedeutet ein zustimmender Beschluß dieses parlamentarischen Ausschusses, und erst als Schlußakt des Verordnungsverfahrens eine Entschließung des Bundespräsidenten erforderlich. Streng genommen ist also die Verordnungsvollmacht einem in eigentümlicher Weise zusammengesetzten Organ erteilt, dessen Teilorgane, und zwar Bundesregierung, Unterausschuß des Hauptausschusses und Bundespräsident, in der eben bezeichneten Reihenfolge in einem arbeitsteiligen Verfahren zusammenzuwirken haben, damit eine a potiori nach dem Bundespräsidenten benannte Verordnung zustande komme. Einer der Teilhaber der Verordnungskompetenz gemäß Art. 18 Abs. 3 B-VG, nämlich die Bundesregierung, außer ihr aber auch jedes einzelne ihrer Mitglieder, ist auch mit der Vollmacht zur Erlassung kriegswirtschaftlicher Verordnungen betraut. Von den beiden Vollmachtsträgern muß jedenfalls das aus dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und einem parlamentarischen Ausschuß zusammengesetzte Organ als das höhere im Vergleich mit der Bundesregierung allein oder einem einzelnen Bundesminister - als den Trägern der Vollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes - erkannt werden. Daraus ergeben sich aber wichtige Schlüsse für den Anwendungsbereich der beiden Vollmachten. 14*

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Die beiden im einzelnen dargestellten Verordnungsermächtigungen stehen zueinander im Verhältnis einer lex prior und einer lex posterior. Die rechtliche Geltung der beiden Ermächtigungen ist in Anbetracht ihres sich kreuzenden Inhaltes nach dem Verhältnis einer lex prior zu einer lex posterior zu beurteilen, d.h. es ist die ältere Verordnungsvollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes insoweit aufgehoben oder abgeändert, als sie mit der jüngeren Verordnungsvollmacht des Art. 18 Abs. 3 B-VG nicht vereinbarlich ist. Im allgemeinen können aber die beiden Verordnungsvollmachten miteinander vereinbart werden, wie ja überhaupt die Vermutung für den Fortbestand eines nicht ausdrücklich aufgehobenen älteren Gesetzes besteht. In einem Punkte schließt aber die jüngere Ermächtigung des Art. 18 B-VG die ältere Ermächtigung im Sinne des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes sinngemäß aus. Dies trifft insoferne zu, als gewisse Gegenstände der Regelung durch Verordnungen des Bundespräsidenten entzogen sind. Wenn auch solche Gegenstände zunächst durch die Vollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes gedeckt waren, so sind sie nunmehr ebenfalls der Regelung durch kriegswirtschaftliche Verordnungen entzogen. Zu diesem Ergebnis führt ein Schluß a maiori ad minus. Was einem unstreitig höheren Organ unter strengeren Bedingungen in einem komplizierteren Verfahren, wie es im Art. 18 B-VG vorgesehen ist, verwehrt wurde, das kann einem niedrigeren Organe in einem einfacheren Verfahren, bei dem es nicht an so einengende Voraussetzungen gebunden ist, unmöglich zustehen. Für die Argumentation des sogenannten Größenschlusses, der hier verwendet wird, mögen in aller Kürze zwei Zeugen sprechen. Pfaff-Hofmann sagt in seinem Kommentar zum österreichischen ABGB, 1. Band, 1. Abt., S. 179 ff.: ,,Über die Grenzen der Anwendbarkeit eines Gesetzes entscheidet nicht sowohl seine Wortfassung als vielmehr sein juristischer Grundgedanke; d.h. der in ihm mehr oder weniger ausdrücklich enthaltene Rechtssatz entscheidet." Der Grundgedanke der ausdrücklichen verfassungsgesetzlichen Exemtion gewisser Gesetzgebungsgegenstände aus dem Notgesetzgebungsrecht gemäß Art. 18 B-VG war nun aber der, gewisse als besonders schutzwürdig geltende Rechtseinrichtungen wie z.B. die Verfassung, aber auch das Sozialrecht und den Mieterschutz, dem Zugriff des Notgesetzgebers zu entziehen und ausschließlich dem ordentlichen Gesetzgeber vorzubehalten. Die Bestimmung des Art. 18 Abs. 5 B-VG käme aber völlig um ihren Sinn und ihre praktische Bedeutung, wenn

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gewisse, dem höheren Verordnungsorgan und dem rigoroseren Verordnungsverfahren des Art. 18 B-VG entzogene Gesetzgebungsgegenstände von den niedrigeren Verordnungsorganen in dem einfacheren Verordnungsverfahren gemäß dem wirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz beliebig geregelt werden könnten. Die Exemtion des Art. 18 Abs. 5 hat nur einen Sinn, wenn sie auch die Verordnungsvollmacht gemäß dem kriegswirschaftlichen Ermächtigungsgesetz in demselben Umfang einschränkt. Diese Argumentation macht die Inanspruchnahme jener weiteren berichtigenden Funktion des Größenschlusses entbehrlich, die z.B. Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts" (1. Band, S. 320 ff.) folgendermaßen umschreibt: „Dabei ist es gleichgültig, ob der Gesetzgeber mit Bewußtsein einen logischen Fehler gemacht hat, oder ob er nur versäumte, an die konsequenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt, in welch letzterem Falle man also voraussetzt, er würde unfehlbar ebenso verfügt haben, wenn man ihn nur auf diese Konsequenz aufmerksam gemacht hätte." Es kann vernünftigerweise nicht bezweifelt werden, daß der Gesetzgeber, der dem Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten die Gegenstände des Art. 18 Abs. 5 B-VG entzogen hat, dieselben Grenzen auch dem Notverordnungsrecht der Bundesregierung und der Bundesminister gezogen hätte, falls er sich bei Möglichkeit einer diese Schranken übersteigenden kriegswirtschaftlichen Verordnung bewußt gewesen wäre. Die Unterlassung einer ausdrücklichen teilweisen Derogation des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes im Umfang des Art. 18 Abs. 5 kann aber nach allem oben Ausgeführten nicht im Sinne eines unveränderten Fortbestandes der ursprünglichen Verordnungsvollmacht, sondern nur im Sinne einer stillschweigenden Abänderung dieser Verordnungsvollmacht im Einklang mit der ausdrücklichen Beschränkung der auf dem Art. 18 B-VG beruhenden Verordnungsvollmacht gedeutet werden. Die kriegswirtschaftlichen Verordnungen unterliegen somit zwei inhaltlichen Schranken: einer positiven und einer negativen. Die positive Schranke ergibt sich schon aus der ursprünglichen Fassung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes. Kriegswirtschaftliche Verordnungen dürfen nur dazu dienen, „die notwendigen Verfügungen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsgegenständen zu treffen". Damit ist unstreitig der Bundesregierung und den einzelnen Bundesministern ein beträchtlicher Ermessensspielraum hinsichtlich des Inhaltes der kriegswirtschaftlichen

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Verordnungen eingeräumt. Die Maßnahmen brauchen nicht einmal unmittelbar wirtschaftspolitischer Natur zu sein, sondern müssen nur den angegebenen wirtschaftlichen Zwecken zu dienen bestimmt sein. Damit ist aber doch noch nicht jeder beliebige, der Bundesregierung oder einem Bundesminister wünschenswert erscheinende Inhalt verfassungsgesetzlich gedeckt. Es genügt nicht die Behauptung einer wirtschaftlichen Zweckbestimmung, eine solche muß nachweisbar vorhanden sein. Der Verfassungsgerichtshof ist gegebenenfalls zu überprüfen berufen, ob die unter Berufung auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz getroffenen Maßnahmen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens als solche „zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen, und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsgegenständen" vernünftigerweise gedeutet werden können. Eine Ermessensüberschreitung und im besonderen ein Ermessensmißbrauch wird unter diesen Umständen bei kriegswirtschaftlichen Verordnungen nicht so einfach und relativ häufig festgestellt werden können, wie bei gewöhnlichen gesetzesvollziehenden Verordnungen, deren Gesetzwidrigkeit um so evidenter zu sein pflegt, je detaillierter das grundlegende Gesetz den Gegenstand regelt. Schon die mehrwöchige Dauer der neuen Notgesetzgebungspraxis hat aber eine Reihe von Beispielen geliefert, wo selbst das weite Ermessensblankett des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes eindeutig überschritten wurde. Namentlich die Novellierungen des Wehrgesetzes und der Strafprozeßordnung - wobei mir übrigens die Reform des Schwurgerichtes seit jeher als rechtsstaatliche Notwendigkeit erscheint3 - stellen den Beurteiler vor die peinliche Alternative, ob die Regierung in diesen Fällen allen Ernstes noch eine wirtschaftspolitische Zweckbestimmung behaupten will, oder ob sie sich unbekümmert um diese verfassungsgesetzliche Schranke hinwegsetzen wollte.

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Um unangebrachten Unterstellungen vorzubeugen, muß ich feststellen, daß meine Einstellung gegen die Schwurgerichte in ihrer bisherigen Verfassung nicht erst durch die Fehlurteile über Schattendorf und Simmering, ja nicht einmal dadurch ausgelöst wurde, daß ,,Volksrichter 44 immer wieder erwiesene Mörder wie einen Wimpassinger straflos auf das Volk losgelassen haben, sondern der grundsätzlichen Ablehnung einer anonymen und kontrollosen Rechtsprechung entspringt; die Enthebung von jeder Begründungspflicht ist aber eine tatsächliche Legitimation zu Willkür, sei es zugunsten oder ungunsten des Angeklagten. - Gleichwohl bleibt eine ,,kriegswirtschaftliche 44 Schwurgerichtsreform wegen Ermessensmißbrauch verfassungswidrig, ohne daß sie freilich von einzelnen Betroffenen, so wie vorgeschlagen wurde, durch Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof bekämpft werden könnte, da ja der Beschwerde nach Art. 144 BVG nur Bescheide von Verwaltungsbehörden und nicht Justizakte unterliegen.

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Die negative Schranke ergibt sich aus der vorstehenden Konfrontation des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes mit der späteren Ermächtigung zu selbständigen Verordnungen des Bundespräsidenten. Auch diese negative Schranke wurde durch mehrere kriegswirtschaftliche Verordnungen der letzten Wochen schon unzweifelhaft durchbrochen. Die Schranke, wonach kriegswirtschaftliche Verordnungen gleich den Verordnungen des Bundespräsidenten zwar gesetzändernden, nicht aber verfassungsändernden Inhaltes sein dürfen - was sich übrigens nicht bloß aus Art. 18 Abs. 5 B-VG ergibt - , wurde von der Verordnung der Bundesregierung vom 7. März 1933, BGBl. 41 (Presseverordnung) überschritten, indem diese Verordnung entgegen der verfassungsgesetzlichen Abschaffung jeder Zensur die Ermächtigung zur individuellen Anordnung der Pressevorzensur erteilt hat. Ausschließlich dank der Exemtionsbestimmung des Art. 18 Abs. 5 B-VG ist aber die Verordnung der Bundesregierung vom 19. März 1933, BGBl. 68, betreffend die Erleichterung der Personallasten der Bankaktiengesellschaften verfassungswidrig, denn sie regelt Fragen des Angestelltenrechtes und Angestelltenschutzes, und zwar zum allergrößten Teil im Widerspruch zu bestehenden Gesetzen, nämlich dem Angestelltengesetz, dem Angestelltenversicherungsgesetz und dem Kollektivvertragsgesetz. Gerade die Durchbrechung dieser Schranke der kriegswirtschaftlichen Verordnungen ist besonders präjudiziell, da die Pläne zu weiteren kriegswirtschaftlichen Maßnahmen hauptsächlich diese aus dem Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten ausgenommene Materie zu betreffen scheinen. Es scheint nun aber nicht bloß in der Juristenwelt, sondern auch im engsten Kreise der für den Inhalt der jüngsten Notverordnungen verantwortlichen Personen unbekannt zu sein, daß nicht bloß die vorhin skizzierte logische Auslegung, sondern auch eindeutige Willensäußerungen des Gesetzgebers die Gangbarkeit des Weges von Notverordnungen für Gegenstände der fraglichen Art ausschließen. Der Bericht des Verfassungsausschusses des Nationalrates über die Vorlage der Bundesregierung betreffend die 2. Bundes-Verfassungsnovelle (aus 1929), Nr. 405 der Beilagen der III. Gesetzgebungsperiode, besagt nämlich zu § 9 des Verfassungsgesetzes ausdrücklich folgendes: "Daß auch das Angestelltenrecht nicht Gegenstand einer Notverordnung bilden kann, wenn das Arbeiterrecht ausgeschlossen ist, bedarf wohl keiner besonderen Begründung. " Deutlicher und entschiedener kann sich wohl nicht in einem Motivenbericht der Wille des Gesetzgebers manifestieren als in diesem

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Bericht des Verfassungsausschusses, der von Doktor Schuschnigg - dem gegenwärtigen Bundesminister für Justiz - als damaligem Berichterstatter des Verfassungsausschusses des Nationalrates und Dr. Buresch als Obmann dieses Ausschusses gezeichnet ist. Es verdient übrigens auch die allgemeine Fassung der zitierten Feststellung des Berichterstatters Beachtung, wonach das Angestelltenrecht überhaupt nicht Gegenstand einer Notverordnung bilden könne, denn damit ist implicite auch durch die Autorität des Berichterstatters jene vorhin entwickelte Auslegung gedeckt, wonach das Arbeiterund Angestelltenrecht jeder Art von Notverordnung entzogen ist. Im Sinne des wissenschaftlichen und in der Rechtspraxis üblichen Sprachgebrauches sind bekanntlich die Verordnungen des Bundespräsidenten und die kriegswirtschaftlichen Verordnungen nur zwei verschiedene Erscheinungen der „Notverordnungen". Womöglich noch deutlicher hat aber der Berichterstatter in seinem mündlichen Berichte in der 110. Sitzung des Nationalrates vom 7. Dezember 1929 (stenogr. Protokolle des Nationalrates, S. 3005) seine Auffassung - und damit die des Gesetzgebers - über die Ungangbarkeit des Weges der Notverordnung für Angelegenheiten des Arbeiter- und Angestelltenrechtes, der Arbeiter- und Angestelltenversicherung und des Koalitionsrechts zum Ausdruck gebracht: ,,Im übrigen ist ausdrücklich festgestellt, obgleich dies vielleicht nicht einmal notwendig wäre, daß verschiedene Materien, die ganz natürlich niemals mit Notverordnungen gelöst werden können, von der Geltung dieses Notverordnungsrechtes ausgenommen und (soll wohl heißen: sind) beispielsweise Veräußerung von Staatsgut, um nur etwas besonders Krasses anzuführen, oder dauernde finanzielle Belastungen des Bundes oder finanzielle Belastungen der Länder, der Gemeinden oder der einzelnen Staatsbürger, oder endlich die ganze Materie des Arbeiter- und Angestelltenrechtes, der Arbeiter- und Angestelltenversicherung, des Koalitionsrechtes und des Mieterschutzes. Lauter Dinge, die nach meiner unmaßgeblichen Ansicht eigentlich nicht unbedingt hätten angeführt werden müssen, weil es sich um Materien handelt, die selbstverständlich für eine Regelung durch Notverordnung niemals in Betracht kommen können. Dieses, sein ,,Niemals " hat der gegenwärtige Justizminister - bei seiner unbezweifelbaren Rechtlichkeit gewiß unbewußter Weise - zumindest durch die von ihm mitunterfertigte „Bankenentlastungsverordnung" widerlegt, und soll augenscheinlich selbst weitergreifenden Plänen für Eingriffe in das Sozialrecht nicht im Wege stehen.

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Die Ratgeber der Regierung können es wohl kaum verantworten, daß sie ihr solche eindeutige Äußerungen, die überdies die Bedeutung einer Willensäußerung des Gesetzgebers haben, vorenthalten haben. Indes darf man nunmehr vielleicht erwarten, daß man in Hinkunft von kriegswirtschaftlichen Maßnahmen Abstand nehmen wird, die zwar nichts mit der Abwehr wirtschaftlicher Gefahren und gar des Bolschewismus zu tun haben, dagegen geeignet sind, höchsteigene Äußerungen von Regierungsmitgliedern ins Unrecht zu setzen.

Die Suspension der Pressefreiheit Den Wunsch der Redaktion, mich zu der neuesten kriegswirtschaftlichen Verordnung vom fachwissenschaftlichen Standpunkt zu äußern; erfülle ich aus der Auffassung heraus, daß es wenigstens eine moraliche Berufspflicht eines akademischen Lehrers ist, zu den in sein Fachgebiet einschlagenden Ereignissen und Aufgaben des öffentlichen Lebens öffentlich Stellung zu nehmen. Aus den mein Fachgebiet berührenden Anordnungen der Verordnung der Bundesregierung vom 7. März greife ich vorläufig die in die Preßfreiheit eingreifenden Maßnahmen heraus - nicht weil sie allein rechtlich bedenklich wären, sondern weil sie mir als das Kernstück und als der letzte Zweck der Verordnung erscheinen, und zugleich ein rechtspolitisches Problem aufrollen, das das Verfassungsleben Europas durch gut ein Jahrhundert in Atem gehalten hat. Wie anerkennenswert mir nun auch die Absicht der Regierung erscheint, zur Befriedung des politischen Lebens und mittelbar zur Erleichterung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten beizutragen, so kann ich doch den Eingriff in die Preßfreiheit nicht als taugliches Mittel zu diesem Ziel gelten lassen, weil er offenbar verfassungswidrig und, wie noch zu zeigen sein wird, schwerlich haltbar ist. Durch unhaltbare, sei es nun gerichtlich desavouierte oder freiwillig widerrufene Maßnahmen wird aber die Staatsautorität kaum gestärkt. Selbst wenn es gelänge, die Ermächtigung des Bundeskanzlers zum Verbot von Zeitungen im Sinne der verfassungsmäßigen Verordnungsvollmacht als eine „Verfügung zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens, zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen Bedarfsgegenständen", nachzuweisen (worunter weder der Juristen- noch der Laien-

Neue Freie Presse vom 9. März 1933 (Abendblatt), S. 2.

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verstand Zeitungsverbote vermuten wird), so wäre damit die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigung zur Vorzensur von Zeitungen nicht gerettet. Die Pressefreiheit ist durch den ,,Zensurbeschluß" der provisorischen Nationalversammlung vom 30. November 1918, StGBl. 3, wonach jede Zensur aufgehoben ist, beziehungsweise durch die von der Nationalversammlung (übrigens einstimmig) beschlossene Aufnahme dieses Beschlusses in den Verfassungskatalog des Artikels 149 des Bundes-Verfassungsgesetzes zu einem sogenannten gesetzesfesten Grundrecht geworden, das heißt kein einfaches Gesetz und ebensowenig eine gesetzeskräftige Verordnung kann dieses verfassungsmäßig gewährleistete Recht aufheben oder beschränken. Die Ermächtigung der kriegswirtschaftlichen Verordnung zur Unterstellung von Zeitungen unter eine Vorzensur stellt sich somit als eine Verfassungsänderung dar, die rechtmäßig durch keine Art Notverordnung, sondern nur in dem verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren gemäß Artikel 48 Bundes-Verfassungsgesetz herbeigeführt werden kann. Selbst das unbestrittenermaßen über alle Verordnungsermächtigungen der österreichischen Rechtsordnung hinausgehende Verordnungsrecht des deutschen Reichspräsidenten greift derartige Maßnahmen nur deshalb in sich, weil dem Reichspräsidenten ausdrücklich die diktatorische Kompetenz zur Außerkraftsetzung des Artikels 118 der Reichsverfassung eingeräumt ist, der die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse gewährleistet. Eine weitwendige rechtstheoretische Begründung der vorstehend festgestellten Schranke des Notverordnungsrechtes aus dem System der Rechtsquellen erübrigt sich somit. Wollte man aber um der Sache willen selbst eine Überschreitung der Verordnungskompetenz wagen, so konnte man sich doch wohl nicht der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit verschließen, daß zumindest dieser Punkt der kriegswirtschaftlichen Verordnung zur Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof gelangen kann. Abgesehen von der Möglichkeit, daß jede Landesregierung die Verordnung der Bundesregierung gemäß Artikel 139 des Bundes-Verfassungsgesetzes beim Verfassungsgerichtshof anficht, kann dieser unschwer in die Lage und Notwendigkeit kommen, die Verordnung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Man denke nur unter den verschiedenen Möglichkeiten an den besonders naheliegenden Fall, daß ein Zeitungsunternehmen die Anordnung des Bundeskanzlers, daß eine Zeitung zur Vorzensur vorzulegen sei, gemäß Artikel 144 der Verfassung beim Verfassungsgerichtshof mit der Behauptung an-

Die Suspension der Pressefreiheit

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ficht, durch diesen Bescheid in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht der Pressefreiheit, beziehungsweise der Unzulässigkeit der Zensur verletzt zu sein. Für mich kann aber nach dem Vorausgeschickten und nach allen Erfahrungen der verfassungsgerichtlichen Verordnungskontrolle das Ergebnis einer solchen gerichtlichen Überprüfung der kriegswirtschaftlichen Verordnung, wenigstens im Punkt der Pressezensur, nicht zweifelhaft sein. Rationell könnte ich also den unvermuteten Eingriff in die Pressefreiheit nur unter der Voraussetzung finden, daß er als Auftakt für viel radikalere Maßnahmen gedacht ist, die letzten Endes selbst vor dem Bestand des Verfassungsgerichtshofes nicht haltmachen dürften. Es liegt mir aber selbstverständlich fern, der Regierung derartige Maßnahmen zu imputieren, für die mir übrigens in Österreich, das sich bisher neben der Schweiz geradezu als das Paradies der persönlichen und politischen Freiheit im kontinentalen Europa rühmen konnte, alle politischen Voraussetzungen zu fehlen scheinen.

Die Beschränkungen der Vereinsund Versammlungsfreiheit Die liberale Tradition in Österreich ist nach den weitgehenden Freiheitsbeschränkungen während der Kriegszeit in der Republik nochmals so elementar, wenn auch bei den meisten ohne Verständnis für ihre geschichtliche Wurzel, zum Durchbruch gekommen, daß die verfassunggebende Nationalversammlung das der liberalen Idee entsprungene Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger stimmeneinhellig der republikanischen Verfassung einverleibte und zugleich jede Suspension dieser Grundund Freiheitsrechte verfassungsgesetzlich ausschloß. Erst fremdnationale politische Strömungen, namentlich die trotz des taktischen Gegensatzes so ideenverwandten Bewegungen des Bolschewismus und Faschismus, haben den in Österreich bis weit in das konservative Lager hinein verbreiteten Sinn für persönliche und politische Freiheit in weiten Volkskreisen ertötet und in der Überzahl der Jugend nicht mehr entstehen lassen. Nationale Demokraten werden aber an dieser besten Tradition Österreichs und damit auch an dem politischen Erbe des klassischen deutschen Idealismus, wie er etwa in Schiller, Kant und Humboldt verkörpert ist, unbeirrbar festhalten, selbst wenn die Wahrung der persönlichen und politischen Freiheit auch deren grundsätzlichen Gegnern, die in ihren Herrschaftsbereichen vor allem die Freiheit der politischen Meinungsäußerung ersticken und dem Gegner politische Rechte versagen, zugute zu kommen scheint. Diese grundsätzliche Feststellung wird die so nötige verfassungsjuristische Kritik an den jüngsten Regierungsmaßnahmen über den Verdacht erheben, irgendwelchen Parteien oder Personen dienen zu wollen. Hier handelt es sich um Höheres: um die Unversehrtheit der einstimmig und auch von manchen ihrer heutigen berufenen Hüter mitbeschlossenen Verfassung und die Hochhaltung der ihr zugrunde liegenden politischen Idee.

Neue Freie Presse vom 28. März 1933 (Abendblatt), S. 4.

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Die jüngsten Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit gründen sich nicht auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz, wie die hauptsächlich gegen die Preßfreiheit gerichtete kriegswirtschaftliche Verordnung vom 7. d., sondern sind rein intern administrativer Natur. Es ist übrigens nicht recht ersichtlich, warum sich die Bundesregierung nicht auch bei den Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit der Vollmacht des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes bedient hat, wenn sie sich, vielleicht gestützt auf gewisse mißverstandene Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes, überhaupt für legitimiert erachtet, in die Verfassung im allgemeinen und in die Freiheitsrechte im besonderen im Verordnungswege einzugreifen. Das sogenannte Versammlungsverbot besteht bekanntlich in einer auf dem Artikel 103 B-VG beruhenden Weisung an alle Landeshauptleute, Versammlungen, die im Sinne des Versammlungsgesetzes angemeldet werden, bis auf weiteres ausnahmslos zu untersagen. Von ähnlichen früheren Maßnahmen unterscheidet sich die jüngste Weisung dadurch, daß sie zeitlich und örtlich unbeschränkt ist, also geradezu auf eine völlige Aufhebung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Versammlungsfreiheit hinausläuft. Mit dem Auftrag an die Unterbehörden, jede angemeldete Versammlung mit einer stereotypen Begründung zu untersagen, wird es diesen Behörden zwar zur Pflicht gemacht, auch solche Versammlungen zu untersagen, für die möglicherweise die vom Gesetz vorausgesetzten Untersagungsgründe nicht gegeben sind, wird aber die Rechtslage der Veranstalter der Versammlung nicht modifiziert. Vielmehr bleibt ihnen nach Erschöpfung des durch eine solche Weisung allerdings völlig unwirksam gemachten administrativen Instanzenzuges, die Beschwerdemöglichkeit an den Verfassungs-, beziehungsweise Verwaltungsgerichtshof offen. Diese Gerichte sind an die Weisung nicht gebunden, sondern hätten zu prüfen, ob die Versammlungsbehörden von ihrem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht haben, was man bei so schablonenhaften Erledigungen gewiß nicht behaupten kann. Überdies unterliegt der Weisungserlaß selbst als Verwaltungsverordnung der Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof gemäß Artikel 139 B-VG und könnte einer solchen Prüfung infolge seines dem Versammlungsgesetz, ja geradezu dem Staatsgrundgesetz widersprechenden Inhaltes schwerlich standhalten. Will man die behördliche Praxis in Versammlungssachen mit der Verfassungslage in Einklang bringen, so müßte man bei aller Begründetheit des Bestrebens, das Übermaß an politischen Demonstra-

Die Beschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit

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tionen einzudämmen, doch die diesem Zweck dienenden Weisungen örtlich und zeitlich beschränken und der zuständigen Versammlungsbehörde die Möglichkeit einer individuellen Prüfung vorbehalten, ob die Untersagungsgründe des Gesetzes jeweils vorliegen. Die Vereinsfreiheit wurde durch die jüngsten Regierungsmaßnahmen generell zwar überhaupt nicht beschränkt, denn das wäre zu dem überaus liberalen Regierungsentwurf eines neuen Vereinsgesetzes doch wohl in zu auffälligem Gegensatz gestanden, doch verraten die bekannten Maßnahmen gegen die in Wien angemeldeten Versammlungen politischer Vereine die Tendenz, auch die Vereinsfreiheit in einer Weise zu unterbinden, die der konstitutionellen Monarchie ferngelegen war. Es wird behördlich nicht bestritten, daß die Versammlungen im Sinne des § 15 des Vereinsgesetzes ordnungsmäßig angemeldet worden waren. Wenn die Behörde Verdacht hatte, daß die Versammlungen in gesetzwidriger Weise vor sich gehen würden, so gab ihr dies doch zu keiner präventiven Verhinderung der Versammlungen, sondern nur zu repressiven Maßnahmen das Recht, falls sich der Verdacht in konkreten Fällen bestätigt hätte. Daß infolge der großen Zahl gleichzeitiger Versammlungen nicht immer Vereinsobmänner den Vorsitz geführt hätten, was man zur Rechtfertigung der Versammlungsverbote geltend machte, wäre aber gewiß kein Grund zum behördlichen Einschreiten gewesen. Übrigens unterliegen auch die aus diesem Anlaß erlassenen Untersagungsbescheide letztlich der Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof. Die Regierung scheint sich ja selbst der Unzulässigkeit des präventiven Verbotes von Vereinsversammlungen bewußt zu sein, weil sie sich nunmehr erst durch eine kriegswirtschaftliche Verordnung die rechtlichen Grundlagen hiefür schaffen will. Es wäre jedenfalls an der Zeit, sich der Erfahrungstatsache zu besinnen, daß durch Überspannung gesetzlicher Handhaben dem politischen Radikalismus nicht die Spitze abgebrochen, sondern im Gegenteil nur ein verstärkter Antrieb gegeben wird.

15 A.J. Mcrkl

Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich 1 Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Republik Österreich, über die zu berichten mir die Einladung der Schriftleitung des Verwaltungsarchivs willkommene Gelegenheit gibt, gilt mit Recht als die originellste Einrichtung der österreichischen Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920. Nicht, daß sie traditionslos und ursprünglich erst von der als definitiv gedachten Verfassung der Republik geschaffen worden wäre! Hatte doch der Träger der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verfassungsgerichtshof, seinen Vorläufer im Reichsgericht der konstitutionellen Monarchie, das, auf einem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 beruhend, zum Unterschiede vom deutschen Reichsgericht ein Spezialgericht des öffentlichen Rechtes, und zwar ein Verfassungsgerichtshof neben dem etwas später (1875) ins Leben gerufenen Verwaltungsgerichtshof war. Aber das Verfassungsgericht der Republik ist trotz der gedanklichen Anlehnung an das Reichsgericht der Monarchie, trotz Aufrechterhaltung einer sachlichen und persönlichen Kontinuität - wurden doch sämtliche Richter des monarchischen Reichsgerichtes (und zwar ehrenamtliche, nicht berufsamtliche Funktionäre), die sich zur

Verwaltungsarchiv, Bd. 38 (1933), S. 219-231. 1

Die wichtigsten literarischen Belege zum Gegenstand sind: Ludwig Adamovich, Grundriß des österreichischen Staatsrechtes, 2. Aufl. 1932, S. 240 ff. und 345 ff.; Georg Froehlich, Die Bundesverfassung der Republik Österreich, Manzscher Verlag, Wien 1930, S. 114 ff.; Hans Kelsen, Georg Froehlich und Adolf Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 (Kommentar), Verlag Franz Deuticke, Wien 1922, S. 247 ff.; Hans Kelsen, Die Verfassung Österreichs, Jahrbuch des öffentlichen Rechtes, Bd. IX, XI, XII, XV und XVIII; Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit in „Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer", Heft 5, Berichte von Heinrich Triepel und Hans Kelsen; Hans Kelsen in Zeitschrift für schweizerisches Recht Bd. 42; Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Dienste des Bundesstaates; Hans Kelsen, La garantie juridictionelle de la Constitution, Paris 1928, Girard; Adolf Merkl, Die gerichtliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen, Zentralblatt für die juristische Praxis, Wien, Bd. XL; Herbert Kier, Der österreichische Verfassungsgerichtshof im Rahmen der Verfassungspolitik in „Schriften des Verbandes der Staatswissenschafter der Universität Graz 4', III., Graz 1928.

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deutschen Nationalität bekannten, auf dieses bloße Bekenntnis hin in das Verfassungsgericht der Republik übernommen - seinem Wirkungskreise und damit auch seiner rechtlichen und politischen Bedeutung nach weit über seinen Vorgänger hinausgewachsen. Der langjährige österreichische Bundeskanzler Professor Seipel charakterisiert die Rolle des Verfassungsgerichtshofes im Systeme der österreichischen Bundesverfassung mit folgenden Worten seines Motivenberichtes zum Bundesverfassungsgesetz, den er in seiner Eigenschaft als Berichterstatter des Verfassungsausschusses der konstituierenden Nationalversammlung erstattet hat: ,,Das sechste Hauptstück schafft im Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof zwei Grundpfeiler der künftigen staatlichen Organisation, die mit besonderer Absicht unter dem Titel der Garantien der Verfassung und Verwaltung in den Verfassungsentwurf aufgenommen sind. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Gerichtshöfe für einen Bundesstaat im allgemeinen, wie im besonderen für die bundesstaatliche Organisation unseres Staatswesens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof sind gewissermaßen als Klammern gedacht, welche die dualistische Konstruktion von Bund und Ländern zu einer höheren Einheit zusammenfügen und das nur zu leicht beziehungslose und anarchische Nebeneinanderfunktionieren der beiden organisatorischen Apparate zu einem harmonischen Zusammenwirken verbinden." Mit diesem Bekenntnis zur Verfassungsgerichtsbarkeit übernahm Ignaz Seipel unausgesprochen, aber unverkennbar den auf uralter deutscher Rechts- und Staatstradition beruhenden Wahlspruch eines Habsburgerherrschers ,,iustitiafundamentum regnorum u für die Republik, die mit einer solchen Schöpfung in sinnfälligster Weise aus dem Umsturz zur Autorität des Rechtsgedankens zurückgefunden hatte. Die besondere geschichtliche Lage, der die Bundesverfassung entsprang, macht es begreiflich, daß Ignaz Seipel in den zitierten Worten seines Motivenberichtes vorzugsweise der Funktion des Verfassungsgerichtshofes im Dienste der bundesstaatlichen Idee, nämlich als gerichtsförmige Garantie der verfassungsgesetzlich kodifizierten Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und Ländergewalten gedachte. Die Verfassung selbst hat den Verfassungsgerichtshof, dem zusammen mit dem Verwaltungsgerichtshof ein ganzes, 20 Artikel zählendes Hauptstück der Verfassungsurkunde gewidmet ist, zu einem richterlichen Garanten der ganzen Verfassung ausgebaut, dessen verschiedene Funktionen in allen denkbaren Richtungen gleich sorgfältig durchgebildet sind.

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Seinem Wirkungskreise nach vereinigt der österreichische Verfassungsgerichtshof die Aufgaben eines Gesetzeskontrollors, Verordnungsgerichtshofes, Grundrechtsgaranten, Völkerrechtsgaranten, Staatsgerichtshofes, Wahlgerichtshofes, Kausalgerichtshofes und Kompetenzkonfliktsgerichtes. Diese scheinbar irrationelle Reihe von Kompetenzen läßt sich auf zwei Hauptgruppen zurückführen, die einerseits durch die Aufgabe der Verfassungsgarantie, andererseits der Völkerrechtsgarantie gekennzeichnet sind. Die Entscheidung von Kompetenzkonflikten, ferner die Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche, endlich die über Wahlrechtsfragen greift zwar teilweise über die beiden genannten Kompetenzkreise hinaus, erklärt sich aber daraus, daß teils wegen der Bedeutung dieser Gegenstände, teils wegen der Berührung mit Verfassungsfragen die höchste verfügbare richterliche Autorität für sie in Anspruch genommen werden sollte. Das Schwergewicht der formellen Verfassungsgerichtsbarkeit liegt sonach auch materiell in der Garantie der Verfassung, zumal da die spezielle verfassungsgerichtliohe Völkerrechtsgarantie mangels eines hierfür erforderlichen Ausführungsgesetzes bisher noch nicht aktualisiert werden konnte und nur auf dem unvollkommenen Umweg der ordentlichen und Verwaltungsgerichtsbarkeit geleistet werden kann. Seinen Gegenständen nach richtet sich der verfassungsgerichtliche Verfassungsschutz einerseits gegen die Gesetzgebung, andererseits, und zwar quantitativ bei weitem überwiegend, gegen die Verwaltung, indem verfassungswidrigem Vorgehen von Verwaltungsorganen vorgebeugt oder begegnet werden soll. Diese Zweckbestimmung macht die Verfassungsgerichtsbarkeit auch zu einem Problem der Verwaltungspolitik und gibt ihr den Sinn einer Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung. Ist ja doch die Verwaltung jene Staatsgewalt, von deren Tun und Lassen es abhängt, ob ein Staat den über jeden Wandel der Staatsform erhabenen Ehrentitel eines Rechtsstaates verdient. Die Kompetenzbestimmungen, wie übrigens auch die organisatorischen Bestimmungen über den Verfassungsgerichtshof sind in einem einfachen Bundesgesetz vom 18. Dezember 1925 (BGBl. Nr. 454) näher ausgeführt. In der Reihe der aufgezählten Kompetenzen ist rechtstheoretisch, zugleich aber auch praktisch-politisch die Gesetzeskontrolle die bedeutsamste. Der Verfassungsgerichtshof erkennt: a) über die Verfassungswidrigkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes auf Antrag des Obersten Gerichtshofes oder des Verwaltungsgerichtshofes, sofern ein solches Gesetz die Voraussetzung eines Erkenntnisses des antragstellenden Gerichtshofes, ferner von

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Amts wegen dann, wenn ein solches Gesetz die Voraussetzung für ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes selbst bildet; b) über Verfassungswidrigkeit von Landesgesetzen auch auf Antrag der Bundesregierung; c) über Verfassungswidrigkeit von Bundesgesetzen auch auf Antrag einer Landesregierung (Art. 140 B-VG). Eine derartige Kompetenz hat naturgemäß eine Rechtslage zur Voraussetzung, wonach die Gesetzgebung nicht unbeschränkt, sondern durch die höhere Rechtsautorität (oder in meiner Terminologie Rechtsstufe), 2 nämlich die Verfassung, zumindest formell, unter Umständen auch materiell gebunden ist. Mangels einer rechtlichen Differenzierung zwischen Verfassungsgesetzgebung und einfacher Gesetzgebung (und allfälligen sonstigen Gesetzestypen) hat ja jedes Gesetz die Kraft, einem älteren Gesetz, auch soweit es Bestandteile der Verfassung im materiellen Sinn des Wortes enthält, zu derogieren. Eine Verfassungsverletzung des Gesetzgebers wird erst dadurch denkmöglich, daß der Gesetzgeber an die höhere Autorität der Verfassung gebunden ist.3 Eine weitere Bedingung für die Begründung einer gerichtlichen Gesetzeskontrolle ist aber auch die klare rechtstheoretische Einsicht in die positivrechtliche Gegebenheit der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers.4 Erst damit wird man sich des rechtspolitischen Problems bewußt, den gewissermaßen über die Stränge schlagenden Gesetzgeber gerichtlich in seine Schranken zu weisen. Dieses rechtspolitische Problem wird besonders im Bundesstaate aktuell, wo zwei, zwar nicht rechtlich, aber politisch konkurrierende Gesetzgeber, und zwar der eine Bundes- oder Reichsgesetzgeber und eine Mehrzahl von Landesgesetzgebern in Versuchung stehen, einander in das verfassungsgesetzlich umgrenzte, aber nie eindeutig umgrenzbare 5 Gehege zu geraten. Der Verfassungsgerichtshof dient im Sinne der zitierten Zuständigkeitsnorm nicht bloß der Sicherung der Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Ländern,

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Vgl. unter anderem meine „Lehre von der Rechtskraft", Verlag Deuticke, 1923, S. 207 ff. und mein „Allgemeines Verwaltungsrecht", Verlag Springer, 1927, S. 157 ff. 3 Vgl. meine Abhandlung „Die gerichtliche Prüfung von Gesetzen und Verordnungen", Zentralblatt für die juristische Praxis, 40. Jg. 4

Vgl. die Abhandlung „Die Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers" von Alfred Verdroß in den „Juristischen Blättern", Wien 1916. 5 Vgl. meine Abhandlung „Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung", Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 2 (1921), S. 336-359.

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sondern überhaupt aller Schranken, die von Verfassungs wegen für die einfache Gesetzgebung aufgerichtet sind. So wurde er zum wertvollsten Minderheitsschutz gegen latente und gelegentlich auch aktuell gewordene Versuche, die Verfassung auf dem Weg einfacher Gesetzgebung zu durchbrechen. Die weitgespannte Legitimation zur Anfechtung von Gesetzen macht es nämlich fast jedem Interessenten möglich, ein verfassungswidriges Gesetz, durch das er sich benachteiligt fühlt, zur Überprüfung zu bringen, indem er im Zuge eines beliebigen Gerichts- oder VerwaltungsVerfahrens die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, auf Grund dessen er eine Klage oder einen Anspruch erhebt oder verklagt wird, aufrollt und nach Erschöpfung der Rechtsmittel, sei es nun beim Obersten Gerichtshof als dem höchsten Zivil- und Strafgericht, sei es beim Verwaltungsgerichtshof als der Rechtsbeschwerde-Instanz gegen sämtliche Verwaltungsakte der Bundesund Landesverwaltung, den vorerwähnten Antrag an den Verfassungsgerichtshof auf Überprüfung des fraglichen Gesetzes erwirkt. In einer Reihe von Fällen sah sich auch der Verfassungsgerichtshof bestimmt, aus Anlaß der Anfechtung einer Verordnung oder eines angeblich die Verfassung verletzenden verwaltungsbehördlichen Bescheides von Amts wegen das diesen Akten zugrunde liegende Gesetz zu überprüfen. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem ein Gesetz oder ein bestimmter Teil eines solchen als verfassungswidrig aufgehoben wird, verpflichtet den Bundeskanzler oder im Fall eines Landesgesetzes den Landeshauptmann (den Vorsitzenden der Landesregierung) zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung; die Aufhebung tritt am Tage der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine (höchstens einjährige) Frist bestimmt. Mit dem Außerkrafttreten des wegen Verfassungswidrigkeit aufgehobenen Gesetzes treten gegebenenfalls die gesetzlichen Bestimmungen wieder in Wirksamkeit, die ihrerseits durch das als verfassungswidrig erkannte Gesetz aufgehoben worden waren. Die praktische Bedeutung der Rolle des Verfassungsgerichtshofes als Gesetzeskontrollor darf man übrigens nicht bloß nach den mehr als 40 Überprüfungsfällen beurteilen, von denen genau die Hälfte zur Aufhebung des angefochtenen Gesetzes oder der fraglichen Gesetzesstelle führte, sondern man muß auch die prophylaktische Wirkung mit berücksichtigen, die von einer Gerichtsinstanz ausgeht, welche, noch dazu bei Anfechtungsmöglichkeiten, die einer actio popularis nahekommen, unerbittlich in bewährter Neutralität über die Einhaltung der Verfassungsschranken des Bundes- oder Landesgesetzgebers wacht.

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Der Rolle des Gesetzeskontrollors ist nächstverwandt die des Verordnungskontrollors. Der Verfassungsgerichtshof erkennt gemäß Art. 139 B-VG a) über Gesetzwidrigkeit von Verordnungen einer Bundes- oder Landesbehörde auf Antrag eines Gerichtes, sofern aber eine solche Verordnung die Voraussetzung eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes bilden soll, von Amts wegen; b) über Gesetzwidrigkeit von Verordnungen einer Landesbehörde auch auf Antrag der Bundesregierung; c) über Gesetzwidrigkeit von Verordnungen einer Bundesbehörde auch auf Antrag einer Landesregierung. Die Legitimation zur Anfechtung von Verordnungen ist im Vergleich mit der Gesetzesprüfung in der Richtung erweitert, daß jedes beliebige Gericht (einschließlich des Verwaltungsgerichtshofes) antragsberechtigt ist. Der durch eine vermeintlich gesetzwidrige Verordnung Betroffene braucht demnach nur bei irgendeinem Gericht in der Kläger- oder Beklagtenrolle einen Prozeß zu provozieren, für dessen Enscheidung die Gültigkeit der Verordnung Vorfrage ist, oder in gleicher Lage eine Rechtsbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof zu erheben, um damit Gelegenheit zu bekommen, vom Prozeßgericht den Antrag auf Überprüfung der Verordnung durch den Verfassungsgerichtshof zu erwirken. Die Chance der Beseitigung einer gesetzwidrigen Verordnung ist um soviel größer als die der Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes, als sich bei dem geringsten Zweifel über die Rechtmäßigkeit einer Verordnung unter der Vielzahl der zur Antragstellung legitimierten Gerichte gewiß eines finden wird, das auf Betreiben eines Interessenten von seiner Antragslegitimation Gebrauch machen wird. Das Erkennntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem die Verordnung als gesetzwidrig aufgehoben wird, verpflichtet wiederum die zuständige Behörde zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung. Die Aufhebung tritt am Tage der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt, die sechs Monate nicht überschreiten darf. Wenn die vom Gericht anzuwendende Verordnung mittlerweile bereits außer Kraft getreten ist, so hat sich das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes auf den Ausspruch zu beschränken, ob die Verordnung gesetzwidrig war. Die mehr als hundert Fälle der Überprüfung von Verordnungen auf ihre Gesetzmäßigkeit haben den Verfassungsgerichtshof geradezu zu einer Erziehungsanstalt für gesetzmäßige Verwaltung mit der Wirkung gemacht, daß die Masse der kleinen Grenzüberschreitungen, mit denen die Verordnungsgewalt in das Bereich der Gesetzgebung zu transzendieren pflegt, schlechterdings unmöglich geworden war. Gerade die Wachsamkeit, mit der der Verfassungsgerichtshof die

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Verwaltung unter der Botmäßigkeit des Gesetzes gehalten hat, sollte allerdings dem Verfassungsgerichtshof, wie noch zu zeigen sein wird, bedrohlich werden. Als Grundrechts garant erfüllt der Verfassungsgerichtshof eine Aufgabe, um derentwillen die Verfassung der Monarchie mit dem Staatsgrundgesetz über das Reichsgericht vom 21. Dezember 1867 dieses Gericht geschaffen hatte, um es aber aus ihrer liberal-individualistischen Einstellung heraus in der Hauptsache auch auf diese Aufgabe zu beschränken. Vom Standpunkt einer nationalkollektivistischen Staatsauffassung aus mag daher gerade diese Kompetenz eines Verfassungsgerichtes am umstrittensten sein, denn sie gewährleistet dem Individuum scheinbar gegen das nationale Kollektivum eine staatsfreie Sphäre. Indes wäre es eine Einseitigkeit, den Gedanken des Schutzes des Einzelnen gegen den Staat ebenso wie den des Rechtsstaates, mit dem er steht und fällt, ausschließlich für eine liberale Staatsauffassung zu reklamieren oder ihr allein zuzurechnen. Auch ein wahrer nationalkollektivistisch eingestellter Staat braucht ein Minimum gesicherter persönlicher Freiheit seiner Staatsbürger als Entwicklungsbedingung der organisierten Nation; 6 die rechtliche Gewährleistung von persönlicher Freiheit, Glaubensfreiheit, Gesinnungsfreiheit usw. sind nicht bloß individualistisch, sondern auch universalistisch - etwa als Schutz der Gemeinschaft vor Gesinnungsheuchelei des einzelnen - zu deuten und zu rechtfertigen. Nur ein solcher Deutungswechsel erklärt es, daß auch die konservativ und autoritär eingestellten Parteien der österreichischen Nationalversammlung und insbesondere eine so eindeutig antiindividualistische Persönlichkeit wie Ignaz Seipel dieses Erbe einer liberalen Staatsepoche, das übrigens der typisch germanischen Rechts- und Staatsideologie entsprungen ist, vorbehaltlos für die Bundesverfassung übernommen haben. Gemäß Art. 144 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen Bescheide (Entscheidungen oder Verfügungen) der Verwaltungsbehörden, soweit der Beschwerdeführer durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt zu sein behauptet. Die Beschwerde kann, sofern

6 Es darf wohl in diesem Zusammenhang an die zwar individualistisch fundierte, darum aber noch nicht undeutsche Begriffsbestimmung der Denkfreiheit bei Immanuel Kant erinnert werden, wonach sie das ,,einzige Kleinod ist, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschaffen werden kann".

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bundesgesetzlich nichts anderes bestimmt ist, erst nach Erschöpfung des Instanzenzuges erhoben werden. Diese Beschwerdelegitimation entspricht sachlich dem Staatsgrundgesetz aus dem Jahre 1867; der verfassssungsgerichtliche Grundrechtsschutz hat sich aber in der Republik dadurch etwas erweitert, daß einzelne Grundrechte, namentlich die Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, nach dem Umsturz vertieft, andere Verfassungseinrichtungen, die ehedem bloß sozusagen als institutionelle Garantien gegolten haben, zu subjektiven Rechten umgedeutet wurden. Die republikanische Verfassung hat zur Erleichterung des subjektiven Rechtsschutzes noch ein übriges getan, indem sie den Verfassungsgerichtshof verpflichtet, wofern er im Fall einer solchen Grundrechtsbeschwerde ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht nicht als verletzt erachtet, zugleich mit dem abweisenden Erkenntnis auf Antrag des Beschwerdeführers die Beschwerde zur Entscheidung darüber, ob der Beschwerdeführer durch den Bescheid in einem sonstigen Recht verletzt wurde, dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten. Als Staatsgeriehtshof fungiert der Verfassungsgerichtshof an Stelle eines vormaligen Sondergerichtes mit der erweiterten Kompetenz, die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit sämtlicher obersten Bundes- und Landesverwaltungsorgane für die durch ihre Amtstätigkeit erfolgten schuldhaften Rechtsverletzungen wahrzunehmen. Die Anklage kann erhoben werden: a) gegen den Bundespräsidenten wegen Verletzung der Bundesverfassung durch Beschluß der Bundesversammlung (die aus den Mitgliedern des Nationalrates und des Bundesrates besteht); b) gegen die Mitglieder der Bundesregierung und die ihnen hinsichtlich der Verantwortlichkeit gleichgestellten Organe (insbesondere den Präsidenten des Rechnungshofes) wegen Gesetzesverletzung durch Beschluß des Nationalrates; c) gegen die Mitglieder einer Landesregierung und die ihnen hinsichtlich der Verantwortlichkeit gleichgestellten Organe wegen Gesetzesverletzung durch Beschluß des zuständigen Landtages; d) gegen einen Landeshauptmann, dessen Stellvertreter oder ein Mitglied der Landesregierung wegen Gesetzesverletzung sowie wegen Nichtbefolgung der Verordnungen oder sonstigen Anordnungen (Weisungen) des Bundes in Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung, und wenn es sich um ein Mitglied der Landesregierung handelt, auch der Weisungen des Landeshauptmannes in diesen Angelegenheiten, durch Beschluß der Bundesregierung. Ein typisches Requisit des liberalen Rechtsstaates wurde durch diese Kompetenzbestimmungen noch beträchtlich ausgebaut; zur Ministerverantwortlichkeit ist insbesondere eine Verant-

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wortlichkeit des Bundespräsidenten hinzugekommen; eine völlig originelle Neuerung ist in diesem Zusammenhange aber die staatsgerichtliche Verantwortlichkeit jener Vollzugsorgane der Länder, die an leitender Stelle mit der Vollziehung der Bundesgesetze betraut sind. Die österreichische Bundesverfassung kennt keine Bundesexekution gegen das Land oder eine sonstige Kollektivhaftung des Landes und seiner Bewohner für die Gesetzwidrigkeiten und Auftragswidrigkeiten im Rahmen der ,,mittelbaren Bundesverwaltung", sondern hat eine Individualhaftung des Landeshauptmanns als des Chefs der mittelbaren Bundesverwaltung und der allenfalls sonst an der mittelbaren Bundesverwaltung beteiligten Mitglieder der Landesregierung eingeführt. Ihre Verantwortlichkeit wird durch Anklage von Seiten der Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof geltend gemacht. Zum Unterschied von den sonstigen Fällen der Staatsgerichtsbarkeit, wo die Verurteilung jedenfalls Amtsverlust des schuldigen Organes zur Folge haben muß, kann sich in den zuletzt erwähnten Fällen einer qualifizierten Disziplinargerichtsbarkeit der Verfassungsgerichtshof auf den Ausspruch beschränken, daß eine Rechtsverletzung vorliegt. In der leichten Realisierbarkeit einer derartigen justizförmigen Haftung liegt das Geheimnis ihrer praktischen Wirksamkeit, die sich als prophylaktische Wirkung geltend macht. So ersetzt diese staatsgerichtliche Haftungsform vollends die wuchtige, aber gerade darum vielleicht weniger wirksame Bundesexekution und sichert doch andererseits wiederum den Ländern den Vollgenuß der verfassungsgesetzlichen Autonomie, indem ihre Staatsgeschäfte ausschließlich von landeseigenen, von den Landtagen gewählten Organen geführt werden. Gerade dieser Kunstgriff der österreichischen Bundesverfassung, politische Machtkonflikte zwischen Oberstaat und Gliedstaaten durch Rechtssprüche zu entscheiden, rechtfertigt die Deutung des mit dieser Funktion betrauten Gerichtes als ,,Klammer" der bundesstaatlichen Konstruktion. Als „Wahlgericht " erkennt der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 141 B-VG über Anfechtungen der Wahl des Bundespräsidenten, von Wahlen zum Nationalrat, zum Bundesrat und zu den Landtagen sowie auf Antrag eines dieser gesetzgebenden Vertretungskörper auf Erklärung des Mandatsverlustes eines seiner Mitglieder. Er erkennt auch über die Anfechtungen von Wahlen zu allen anderen allgemeinen Vertretungskörpern, ferner auf Antrag eines dieser Vertretungskörper auf Erklärung des Mandatsverlustes eines seiner Mitglieder, schließlich über die Anfechtung von Bescheiden der Verwaltungsbehörden, durch die der Verlust der Mitgliedschaft zu diesen Vertretungskörpern ausge-

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sprochen wurde. Auch hat er über Anfechtungen des Ergebnisses von Volksbegehren und Volksabstimmungen zu entscheiden. Nach dem Verfassungsgerichtshofgesetz hat das Gericht einer Wahlanfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahl Verfahrens erwiesen wurde und auf das Wahlergebnis von Einfluß war. Auch mit dieser rationellen Einschränkung der Nichtigerklärung von Wahlen hat die im übrigen strenge Judikatur des Verfassungsgerichtshofes der Reinlichkeit der Wahlen in ganz anderem Maße gedient, als es der Rechtszustand in der Monarchie ermöglicht hat, wo das Parlament selbst zur Wahlkontrolle berufen war und somit die parlamentarische Mehrheit nach politischen Gesichtspunkten entscheiden konnte. Als sogenanntes Kausalgericht erkennt der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 137 B-VG über Klagen, womit vermögensrechtliche Ansprüche des Bundes, der Länder, der Bezirke und der Gemeinden, also sämtlicher österreichischer Gebietskörperschaften, gegeneinander geltend gemacht werden, sofern diese Ansprüche im ordentlichen Rechtsweg nicht auszutragen sind. Der ungleich größere Teil der Vermögensstreitigkeiten des öffentlichen Rechtes - Ansprüche dritter Personen gegen die Gebietskörperschaften - fällt in das Kompetenzbereich des Verwaltungsgerichtshofes. Endlich erkennt der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 138 B-VG über Kompetenzkonflikte a) zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden; b) zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und allen anderen Gerichten, insbesondere auch zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und dem Verfassungsgerichtshof selbst sowie zwischen den ordentlichen Gerichten und anderen Gerichten; c) zwischen den Ländern untereinander sowie zwischen einem Land und dem Bund. Mit der zuletzt genannten Zuständigkeit dient das Gericht im besonderen Maße der Sicherung der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Rechtstechnisch unerfreulich war und ist an dieser Kompetenz nur der Umstand, daß das Gericht erst angerufen werden konnte, wenn die bestrittene Kompetenz vom Bund oder einem Lande in Anspruch genommen wurde. Um eine offene Kompetenzfrage gerichtlich zu klären, mußte daher zunächst eine Kompetenzüberschreitung riskiert werden, ehe der Verfassungsgerichtshof in die Lage kam, die Kompetenzfrage zu entscheiden. Die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 ermöglicht nunmehr auch eine präventive Kompetenzentscheidung, denn der Verfassungsgerichtshof hat im Sinne dieser Neuerung auf Antrag der Bundesregierung oder Landesregierung festzustellen, ob ein Akt der Gesetzge-

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bung oder der Vollziehung gemäß der verfassungsgesetzlichen Kompetenzverteilung in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fällt. Eine derartige Kompetenzfülle, die den Verfassungsgerichtshof nicht nur über alle anderen Gerichte erhöht, sondern ihn sowohl gegenüber den Parlamenten als auch gegenüber den Regierungen zum Hüter der Verfassung macht, bedingt natürlich eine Organisation, die das erreichbare Höchstmaß innerer und äußerer Autorität des Gerichtes gewährleistet. Die Bundesverfassung hat dieses Organisationsproblem, für das es naturgemäß kein unfehlbares rechtstechnisches Mittel gibt, zunächst auf die Weise zu lösen unternommen, daß sie - gemäß ihrem streng parlamentarischen Wesenszug - parlamentarischen Kollegien, und zwar dem Nationalrat und dem Bundesrat, ausschlaggebenden Einfluß auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes einräumte, wobei der Gefahr einer einseitigen Politisierung des Gerichtes durch eine Art Kontingentierung der Mitglieder auf die Parteien vorgebeugt wurde. Die latente Gefahr einer Politisierung der Rechtsprechung, die ein solcher Wahlmodus mit sich bringt, ist freilich nur darum nicht aktuell geworden, weil sich fast ausnahmslos die persönliche und fachliche Autorität der durch diese ihre Eigenschaften sozusagen „berufenen" Richter durchgesetzt hat. Die Verfassungsnovelle vom 7. Dezember 1929 glaubte gleichwohl, gemäß ihrer antiparlamentarischen Tendenz, eine „Entpolitisierung" des Gerichtes durch Zurückdrängung des parlamentarischen Einflusses auf seine Zusammensetzung vornehmen zu müssen. Nach dieser Neuerung ergibt sich folgendes Bild der Organisation des Gerichtes: Der Verfassungsgerichtshof besteht aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, zwölf weiteren Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern. Den Präsidenten, den Vizepräsidenten und drei Ersatzmitglieder ernennt der Bundespräsident auf Vorschlag der Bundesregierung; diese Mitglieder sind aus dem Kreise der Richter, Verwaltungsbeamten und Professoren an den rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten zu entnehmen. Die übrigen sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ernennt der Bundespräsident auf Grund von Dreiervorschlägen, die für drei Mitglieder und drei Ersatzmitglieder der Nationalrat und für drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied der Bundesrat erstattet. Der Präsident, der Vizepräsident sowie die übrigen Mitglieder und die Ersatzmitglieder müssen die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien vollendet und bereits durch mindestens zehn Jahre eine Berufsstellung bekleidet haben, für die die Vollendung dieser Studien vorgeschrieben ist. Eine lange Reihe von Unver-

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einbarkeitsbestimmungen soll möglichste Unbefangenheit des Verfassungsrichters, insbesondere in politischer Hinsicht, gewährleisten. Eine absolute Sicherheit in dieser Richtung kann natürlich ebensowenig ein überragender Regierungseinfluß auf die Zusammensetzung des Gerichtes bieten, womit unter Umständen die parteipolitische Beeinflussung nur zugunsten der herrschenden Partei verschoben wird, noch auch eine überlange Liste von Unvereinbarkeitsbestimmungen, innerhalb deren ja immer noch hinlängliche Auslesemöglichkeiten nach unsachlichen Gesichtspunkten verbleiben. In der Tat hat sich der Verfassungsgerichtshof in seiner neuen wie in seiner alten Zusammensetzung nach übereinstimmendem Urteil, das nur politische Interessenten zu bestreiten wagen, trotz mancher begründbaren Einwendung gegen seine Rechtsprechung als mannhafter Hüter der Verfassung und damit der ihr zugrunde liegenden rechtsstaatlichen Idee bewährt. Gerade die Überzeugung, daß von dem Gericht keine Gefälligkeitsjustiz nach der einen oder anderen Seite zu erwarten sei, erklärt denn auch den jüngsten Anschlag, der zwar nicht gegen seinen Bestand, wohl aber gegen seine volle Aktionsfähigkeit unternommen wurde. Die österreichische Bundesregierung hat bekanntlich unter dem unmittelbaren Eindruck des Systemwechsels im Deutschen Reiche den Nationalrat unter dem Vorwand, daß er sich durch den Amtsverzicht seiner drei Präsidenten ,,selbst ausgeschaltet" habe, seit März 1933 nicht mehr zusammentreten lassen und erläßt seither in völliger Abkehr von der bis dahin ausschließlich parlamentarischen Gesetzgebung eine Fülle von Notverordnungen, die sich in Ermangelung einer genügend elastischen Kompetenz, etwa nach der Art des Art. 48 RV, auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom 24. Juli 1917, RGBl. 307, stützen. Der Großteil dieser Verordnungen wurde nun entweder von einer Landesregierung oder von Gerichten in dem oben besprochenen Verfahren beim Verfassungsgerichtshof angefochten, und das Gericht war im Juni 1J. im Begriffe, über diese Anfechtungen zu verhandeln, wobei ein beträchtlicher Teil der angefochtenen Verordnungen oder einzelner Verordnungsbestimmungen schwerlich dem Schicksal der Aufhebung entgangen wäre. In dieser Situation zeigte sich in Österreich zum ersten Male die Problematik einer gerichtlichen Judikatur in politischen Machtfragen. 7 - Nicht, als ob fraglich geworden wäre, ob sich Machtfragen auch juristisch entscheiden lassen, und ob sie vom Verfassungsgerichtshof streng nach dem Rechte

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Vgl. hierzu Franz Adler (Prag), Gerichtliche oder politische Garantie der Verfassung.

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entschieden worden wären, sondern weil sich das Rechtsinteresse schwächer als ein besonders potenziertes Machtinteresse erwiesen hat und daherwenngleich nach meiner Überzeugung nur vorübergehend - zum Schweigen verurteilt wurde. Einige der Regierung nahestehende Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes erklärten angesichts der Gefahr, daß das Gericht und wohl auch sie selbst in entscheidenden Fragen der Regierung unrecht geben müßten, ihren Rücktritt, worauf die Bundesregierung mit kriegswirtschaftlicher Verordnung vom 23. Mai 1933 angeordnet hat: „Die auf Vorschlag des Nationalrates oder auf Vorschlag des Bundesrates ernannten Mitglieder und Ersatzmitglieder dürfen nur dann an Sitzungen und Verhandlungen teilnehmen und hiezu eingeladen werden, wenn und solange dem Verfassungsgerichtshof sämtliche Mitglieder und Ersatzmitglieder angehören, die auf Grund solcher Vorschläge ernannt worden sind." So ist zwar nicht jede Tätigkeit des Verfassungsgerichtshofes, wohl aber die einem Senat von acht Mitgliedern vorbehaltene Verordnungsprüfung so lange unmöglich geworden, als nicht die Bemühungen der verfassungstreuen Kreise auf Ergänzung des Rumpfgerichtes Erfolg gezeitigt haben. Damit ist aber weder der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit noch dem Bestand des österreichischen Verfassungsgerichtshofes das Urteil gesprochen. Er hat sich im österreichischen Rechtsleben zu sehr eingelebt und dermaßen sich als Hort des Rechtsstaates erwiesen, als daß er nicht in der erneuerten Verfassung wiederkehren würde. Bezeichnenderweise sind in Österreich augenblicklich einerseits die nationalsozialistische, andererseits die sozialdemokratische Partei die lautesten und entschiedensten Verteidiger der in der Verfassungsgerichtsbarkeit kulminierenden Rechtsstaatsidee.8 Gerade diese Einstellung ist aber eine unwillkürliche Bestätigung der von Otto Koellreutter so treffend geformten Idee und Forderung des nationalen Rechtsstaates. Was in der Oppositionsstellung für richtig und gut befunden wird, kann durch den Stellungswechsel, der in der Übernahme zur Staatsmacht eintritt, nicht verwerflich werden. Auch der nationale Machtstaat kann nur als Rechtsstaat bei völliger Unabhängigkeit der Rechtsprechung von der Verwaltung gedeihen und der politischen Tradition des Deutschtums gerecht werden.

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Während des Druckes dieser Abhandlung erging die Verordnung der Bundesregierung vom 19. Juni 1933,,»womit der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) jede Betätigung in Österreich verboten wird". Damit ist die Rolle des politischen Hüters der rechtsstaatlichen Verfassung in Österreich ausschließlich der sozialdemokratischen Partei zugefallen.

Den politischen Parteien ins Gewissen! „Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofes" Als lehramtlicher Verfassungsjurist will ich mich der Aufforderung der Schriftleitung nicht entziehen, zu der brennendsten Verfassungsfrage dieser Tage, zur ,,Reform" des Verfassungsgerichtshofes Stellung zu nehmen. Es war kein Geringerer als Ignaz Seipel, der in seinem oft zitierten schriftlichen Bericht über den Entwurf des Bundes-Verfassungsgesetzes, den er als Berichterstatter des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung erstattet hat, den Verfassungsgerichtshof als die Klammer bezeichnet, die die dualistische Konstruktion der Bundes-Verfassung zusammenhält. Er war es auch, der in den Verfassungsverhandlungen das größte Gewicht auf eine umfassende Kompetenz dieses Gerichtshofes und auf die möglichste Stärkung seiner Autorität gelegt hat, weil er wohl die ideellen und materiellen Vorteile zu schätzen wußte, die in der damals nicht minder als heute politisch bewegten Zeit die Autorität eines unabhängigen Gerichtes für die Stabilität eines von staats- und rechtsfeindlichen Machtexzessen bedrohten Staatslebens zu bieten vermag. Die jüngsten Ereignisse um den Verfassungsgerichtshof legen tatsächlich die Frage nahe, ob man das geistige Erbe dieses großen Staatsmannes noch voll zu schätzen weiß. Wenn tatsächlich die Regierung, wie sie so oft durch ihre Mitglieder verkündet, der Überzeugung ist, daß ihre bisherige Verordnungspraxis, abgesehen vielleicht von kleinen Grenzüberschreitungen, die Linie der Verfassung eingehalten habe, so hätte sie sich nicht der Verdächtigung auszusetzen brauchen, daß sie ihre Tätigkeit der Beurteilung durch den gesetzlichen Richter entziehen wolle. Selbst unter der Voraussetzung, daß der eine oder andere unter parteipolitischem Einfluß bestellte Richter diesen Einfluß auch auf seine Rechtsprechung auswirken ließe, hätten ja die auf ausschließlichen Vorschlag der Bundesregierung bestellten Richter im Wiener Neueste Nachrichten vom 9. März 1933, S. 1-2. I 6 A . J . Merkl

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Verein mit den der Regierung nahestehenden, auf parlamentarischen Vorschlag bestellten Richter eine sichere Mehrheit zugunsten eines von der Verfassung gedeckten Regierungsstandpunktes ergeben. Der offenbar nicht spontane Amtsverzicht eines parteimäßig der Regierung nahestehenden Mitgliedes des Verfassungsgerichtshofes und der darauffolgende kriegswirtschaftlich dekretierte Eingriff in die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes würde daher die juristische Position der Regierung auch dann schwächen, wenn diese Maßnahme nicht in ihrem Inhalt und ihrer Begründung juristisch unhaltbar wäre. Die Ausschaltung oder Suspendierung von Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes ist nämlich durch die Organisationsbestimmungen des Art. 147 B-VG in keiner Weise gedeckt und stellt sich daher selbst als eine Verfassungsverletzung dar, deretwegen gegebenenfalls vor allem diese Verordnung vom Verfassungsgerichtshof auf Grund des Art. 139 B-VG aufgehoben werden müßte. Der Eingriff in die verfassungsgesetzlich gewährleistete richterliche Unabhängigkeit, der darin besteht, daß ein gehörig bestellter Richter ohne das gehörige Verfahren seinem Richteramte entzogen und daß überdies der Ermessensspielraum des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes durch einen verordnungsmäßigen Eingriff in die Organisation des Verfassungsgerichtshofes eindeutig überschritten wird, kommen als erschwerende rechtliche Bedenken hinzu: Auch die Annahme, daß der parlamentarische Vorschlag von Verfassungsrichtern, den ja die Republik aus der Monarchie übernommen hat, die parteipolitische Beeinflussung des Verfassungsgerichtshofs bedinge, und daß die rein administrative Bestellung von Verfassungsrichtern deren parteipolitische Neutralität sicherstelle, entspricht nicht den Tatsachen. Entscheidend für die Neutralität, Objektivität und Autorität eines höchsten Gerichtes ist einzig die Tatsache, daß seine Mitglieder jener geistigen Elite entnommen werden, die durch ihr wissenschaftliches und praktisches Wirken im Staatsleben bewiesen hat, daß sie ihre Rechtsüberzeugung durch keinerlei Einflüsse und Rücksichten erschüttern läßt! Es wäre eine durch nichts erhärtete Beleidigung der ausgeschalteten Verfassungsrichter, wenn man ihnen in Bausch und Bogen diesen unabhängig von ihrer Berufung bestehenden Beruf zum Verfassungsrichter abspräche. Doch was nun, nachdem jener Schritt getan ist, dem der um Autorität von Recht und Staat Besorgte am liebsten ungeschehen machen möchte? Juri-

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stisch beurteilt, ist der Verfassungsgerichtshof nach wie vor aktionsfähig. Nur freilich kann er, nachdem seine Mitgliederzahl fast bis zur Mindestzahl herabgesetzt wurde, durch kleine Zufälligkeiten außer Aktion gesetzt werden, wobei gar nicht die Eventualität in Erwägung gezogen werden soll, daß noch der eine oder andere der verbleibenden Verfassungsrichter im Laufe der Ereignisse sozusagen abkommandiert werden könnte. Da für die Verhandlungen des verkleinerten Verfassungsgerichtshofes auch das Reservoir der Ersatzmänner ausgeschöpft werden müßte, fällt noch ins Gewicht, daß einer der verbliebenen, weil seinerzeit von der Regierung vorgeschlagenen Ersatzmänner, Herr Sektionschef Dr. Hecht ist, der als ein bekannter spiritus rector der kriegswirtschaftlichen Verordnungspraxis doch unmöglich über diese Verordnungen judizieren kann; wäre er doch unstreitig in viel höherem Maße ,,Richter in eigener Sache" als jene Richter, die man mit dieser Begründung aus dem Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet hat, abgesehen davon, daß die Verwendung dieses nach wie vor im Dienst stehenden Verwaltungsbeamten als Verfassungsrichter der Unvereinbarkeitsvorschrift des Art. 147 Abs. 2 B-VG widerspricht. Man würde es verstehen, wenn die verbliebenen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes Bedenken trügen, unter diesen Umständen ihr Amt weiter auszüben, obgleich man es vom Standpunkt der Rechtsautorität und der Rechtssicherheit dringlichst wünschen muß, daß dieser letzte Pfeiler der Verfassung erhalten bleibe. Es wäre ja doch eine Ironie der Geschichte, wenn die Republik auf unbestimmte Zeit diesen Garanten der Verfassung verlöre, während sein Vorläufer, das Reichsgericht, zu den unantastbarsten Rechtseinrichtungen der Monarchie gezählt hat, deren Bestand und Zusammensetzung trotz der oft höchst unbequemen rechtsprechenden Tätigkeit keine kaiserliche Regierung in Frage zu stellen wagte. Man darf sich allerdings nicht verhehlen, welchen Einfluß derartige Eingriffe in die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes und damit in das Prinzip einer unabhängigen Rechtsprechung, wie sie sich nun schon zum wiederholten Male binnen weniger Jahre ereignen, selbst auf innerlich unabhängige Richter ausüben können. Muß sich ein Richter, der sich nach seiner Rechtsüberzeugung genötigt sehen wird, einen nicht geringen und gerade den wichtigsten Teil der angefochtenen Verordnungen für verfassungswidrig zu erklären, nicht vor Augen halten, daß eine weitere kriegswirtschaftliche Verordnung auch dem Rumpfgericht in die Arme fallen und auch den überzeugungstreu judizierenden Richter ausschalten wird? 16*

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Darum wäre es gerade für eine traditionsbewußte Staatsführung höchste Zeit, sich des schönen Wahlspruchs eines Österreichers zu besinnen, der da sagt: „Justitia fundamentum regnorumund die Öffentlichkeit und nicht zuletzt den Verfassungsgerichtshof selbst darüber zu beruhigen, daß diese Regierungsmaxime der Monarchie auch für eine in betont christlich-deutschem Geist regierte Republik ihre unveränderte Geltung hat.

Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofs Unter dem unmittelbaren Eindruck der plebiszitären Sanktion eines diktatorischen Regimes im Deutschen Reiche sind nun auch in Österreich den jahrelangen Ankündigungen und Drohungen einer Diktatur die ersten Taten gefolgt. Mag auch der augenblickliche Stand der Ausnahmsmaßnahmen im Vergleich mit den analogen Maßnahmen im Deutschen Reich als erster bescheidener Versuch in dieser Richtung erscheinen, so gemahnt doch das von mir so oft als nachahmenswert hingestellte, diesmal aber warnende Vorbild des Reiches an den jahrtausendalten Spruch: Principiis obsta! Man darf nicht übersehen, daß die Reichsverfassung selbst diktatorischen Experimenten weitgehend entgegengekommen ist, indem sie nach altem demokratischen Herkommen ungewöhnliche diktatorische Kompetenzen in die Verfassung eingebaut hat, die dann aber, wie so oft in der Geschichte, den demokratischen Rahmen gesprengt und die Demokratie verdrängt haben, daß dagegen die Verfassung der Österreichischen Republik, gewitzigt durch die Erfahrungen der Monarchie, einer legitimen Diktatur kaum ein Ventil gelassen hat. Damit ist hierzulande jeder diktatorische Versuch genötigt, sich zur Verfassung in Widerspruch zu setzen, und wenn er dies nicht wahr haben will, sich selbst die Verfassungsmäßigkeit mit allen Mitteln der Propaganda zu attestieren, bis man es selbst glaubt und die öffentliche Meinung glauben gemacht hat. Rechtsfragen können aber nicht ebenso autoritär gelöst werden wie Machtfragen. Insoweit genügt nicht ein „Roma locuta est". Mit dem Standpunkt „das höhere Staatsinteresse - oder ehrlicher gesagt, das Parteiinteresse - gebietet Maßnahmen, selbst gegen die Verfassung", würde sich nicht rechten lassen. Doch wenn sich die autoritären Maßnahmen immer wieder auf die Verfassung berufen und ihren Kritikern mangelndes Verständnis für die Verfassung vorgeworfen wird, dann hat die parteipolitisch unbeeinßußte

Wiener Neueste Nachrichten vom 9. März 1933, S. 1 f.

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Fachwissenschaft den Beruf der Wahrheit die Ehre zu geben und ihr kein Mäntelchen umhängen zu lassen. Hat es aber überhaupt noch Sinn, unter den Drohungen einer verfassungsfeindlichen Bewegung, deren Führer wie Geführte für politische Freiheit kein Verständnis haben und sich eben darum zur politischen Herrschaft berufen fühlen, Verfassungsfragen aufzuwerfen? Gerade in solchen Krisentagen darf am allerwenigsten ein verfassungstreuer Verfassungslehrer resigniert schweigen, sondern es ist seine Pflicht, das Stück politische Freiheit, das Österreich heute noch besitzt, vor allem die Freiheit der Wissenschaft und die schon angetastete Pressefreiehit, zu benützen, um den Machthabern, die vor zwölf Jahren in der verfassunggebenden Nationalversammlung für die gegenwärtige Verfassung gestimmt oder sogar auf sie ein Gelöbnis abgelegt haben, das hoffentlich nicht ein Wort ohne verpflichtenden Inhalt war und ist, vor Augen zu führen, wie weit sich schon der heutige Kurs von der Verfassung entfernt hat.

Das Bundesgerichtshofgesetz Nach Art. 180, dem Schlußartikel des 12. Hauptstückes der Verfassung 1934, das den Bundesgerichtshof zum Gegenstand hat, sind die näheren Bestimmungen über die Einrichtung und das Verfahren des Bundesgerichtshofes durch ein (einfaches) Bundesgesetz zu treffen. Dieses Bundesgesetz ist unter dem Titel ,,Bundesgerichtshofgesetz", offiziell abgekürzt BGG unter dem 12. Juli 1934, BGBl. 123, ergangen. Dieses Gesetz ersetzt zwei bisherige Gesetze, nämlich das ,,Verfassungsgerichtshofgesetz 1930", das durch Textverordnung vom 24. April 1930, BGBl. 127, verlautbart war, und das Verwaltungsgerichtshofgesetz vom 16. Mai 1930, BGBl. 153. Vorbild für das neue Gesetz war vorzugsweise das Verwaltungsgerichtshofgesetz und nur für die besonderen Verfahrensbestimmungen, die das Verfahren des Bundesgerichtshofes als Nachfolger des Verfassungsgerichtshofs regeln, das Verfassungsgerichtshofgesetz in der Fassung des Jahres 1930. Diese verschieden starke Anlehnung an die Vorbilder des älteren Rechtes erklärt sich auf natürliche Weise aus der Tatsache, daß im Wirkungskreis des neuen, gewissermaßen durch Zusammenlegung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes entstandenen einheitliche Gerichtes des ,,öffentlichen Rechtes" der verwaltungsgerichtliche Wirkungskreis den verfassungsgerichtlichen Wirkungskreis beträchtlich überwiegt. Die Nachahmung der beiden gesetzlichen Vorbilder des Bundesgerichtshofgesetzes hat übrigens nicht bloß in den einschneidenden verfassungsrechtlichen Neuerungen des 12. Hauptstückes der Verfassung 1934 eine Schranke gefunden, sondern wird auch durch wesentliche, nicht schon durch die neue Verfassungslage bedingte Neuerungen des vorliegenden Gesetzes selbst durchbrochen. Von einer durchgehenden Vergleichung der bisherigen und nunmehrigen Gesetzesbestimmungen muß aus Raumgründen abgesehen, die nachfolgende Betrachtung vielmehr in der Hauptsache auf die neue Rechtslage abgestellt werden.

Juristische Blätter, 63. Jg. (1934), S. 421-425.

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Die einleitenden Paragraphen des Gesetzes sind nur negativ bemerkenswert, indem sie die „Leitung" des Bundesgerichtshofes ganz nach dem bewährten Vorbild des Verwaltungsgerichtshofes wie überhaupt der älteren Gerichtsbarkeit gestalten und dem „autoritären" Prinzip - in Anwendung auf den staatlichen Organapparat „Führerprinzip" genannt - , keinerlei Zugeständnisse machen. Es kann vielmehr schon in diesem Zusammenhange festgestellt werden, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes als eines obersten Gerichtes im Sinne der jahrhundertalten österreichischen und gesamten deutschen Rechtstradition eingerichtet ist. Das autoritäre Prinzip tritt im Rahmen des Bundesgerichtshofes nur bei Funktionen der Justizverwaltung in Erscheinung, die Justiz selbst ist zur Gänze kollegial gestaltet und Eingriffen des Präsidiums oder höherer Stellen entzogen, bedient sich also der jahrtausendalten Technik der Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip, die nur ein geschichtlich ahnungsloses Schlagwort als revolutionäre Erfindung eines individualistischen oder rationalistischen Zeitalters hinstellen konnte. Auch in diesem Punkte ist also das autoritäre Österreich Rechtsstaat geblieben, wie es seine geschichtlichen Vorgänger gewesen sind. Die organisationsrechtlichen Bestimmungen über den Bundesgerichtshof sind durch seine Doppelfunktion insofern kompliziert, als er außer seinen ordentlichen Mitgliedern, die sich als Berufsrichter darstellen, auch vier außerordentliche Mitglieder sowie deren Ersatzmänner aufweist, die für Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit heranzuziehen sind und in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Bundesgerichtshofs ein Ehrenamt bekleiden. Die Verschmelzung der bisherigen beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist keine äußerliche oder oberflächliche; dies zeigt sich insbesondere an der organisationsrechtlichen Bestimmung, daß die ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder zusammen das Plenum (die Vollversammlung) des Gerichtshofes bilden. Die Gliederung des Gerichtshofes in Fachgruppen, wie sie § 6 VerwGG vorgesehen hatte, wurde fallen gelassen. Unter den Bestimmungen, die die Rechtsstellung der einzelnen Mitglieder regeln, sind von allgemeinem Interesse jene, die über die Disziplinarbehandlung der Richter und über die Bestellung neuer Mitglieder handeln. Für die Disziplinarbehandlung von ordentlichen Mitgliedern und für deren unfreiwillige Versetzung in den Ruhestand gelten „entsprechend" die für Richter sonst geltenden Vorschriften. Als Disziplinargericht fungiert die Vollversammlung des Gerichtshofes. Für die Disziplinarstrafe der Dienst-

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entlassung ist das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit aufgestellt. Der Generalprokurator hat im Disziplinarverfahren gegen die ordentlichen Mitglieder des Bundesgerichtshofs dieselben Aufgaben, wie im Disziplinarverfahren gegen Richter des Obersten Gerichtshofes. Für die außerordentlichen Mitglieder erfahren die vorerwähnten Disziplinarvorschriften die in ihrer ehrenamtlichen Stellung begründete Modifikation, daß an die Stelle der Versetzung in den Ruhestand und der Dienstentlassung die Enthebung vom Amte tritt. Den Verlust des Amtes hat für die außerordentlichen Mitglieder auch die Feststellung des Verfassungssenates zur Folge, daß ein außerordentliches Mitglied drei aufeinanderfolgenden Einladungen zu einer Verhandlung des Verfassungssenates ohne genügende Entschuldigung keine Folge geleistet hat. Für die Bestellung von Senatspräsidenten und Räten, also von ordentlichen Mitgliedern des BGH, sieht das BGG in Ergänzung der organisationsrechtlichen Bestimmungen der Verfassungsurkunde und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der übrigen österreichischen Gerichtsorganisation eine Mitwirkung des Gerichtes selbst vor. Die fragliche Gesetzesbestimmung (§ 12) ist also sachlich das Gegenstück zu den Absätzen 1 und 2 des Art. 102 der Verfassungsurkunde als jener Gesetzesstelle, die das Vorschlagsrecht der ordentlichen Gerichte verfassungsgesetzlich gewährleistet, und ein, allerdings sehr abgeschwächter Ersatz der Bestimmungen des § 5 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes. Die Bundesregierung erstattet die Vorschläge zur Ernennung von Senatspräsidenten und Räten des BGH nach Anhörung des Präsidenten dieses Gerichtshofes an den Bundespräsidenten. Den Vorschlägen hat die Ausschreibung der Stellen zur allgemeinen Bewerbung voranzugehen. Die Bewerbungsgesuche sind beim Präsidenten des BGH einzubringen und von diesem mit seinem ,,Gutachten" dem Bundeskanzler zu übermitteln. Das sonst geltende Vorschlagsrecht ist also zu einer bloßen Empfehlungsmöglichkeit abgeschwächt. Das Vorschlagsrecht hinsichtlich der außerordentlichen Mitglieder steht bekanntlich gemäß Art. 179 Verfassung 1934 dem Staatsrat und dem Länderrat zu. Die kollegialen Organe des BGH sind die Vollversammlung und die Senate. Der Vollversammlung als der Gesamtheit der ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder obliegt außer der schon besprochenen Rolle als Disziplinargericht die Beschlußfassung über die Geschäftsordnung, über die Geschäftseinteilung, in der die Zahl und der Wirkungsbereich der Senate

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und deren ständige Mitglieder regelmäßig für ein Kalenderjahr bestimmt werden, ferner die Beschlußfassung über ,,Rechtssätze", „Rechtsgutachten", und über den Tätigkeitsbericht. Die Vollversammlung ist an ein Quorum von zwei Drittel der Mitglieder gebunden. Die Senatsverfassung ist durch die Differenzierung in Dreiersenate, Fünfersenat und verstärkte Senate gekennzeichnet. Der Normaltypus ist der Fünfersenat, der außer dem Vorsitzenden aus drei ständigen, in der Geschäftseinteilung bestimmten Mitgliedern und einem weiteren, vom Präsidenten fallweise zugewiesenen Mitglied besteht; auch der Vorsitzende wird vom Präsidenten bestellt. Eines der Mitglieder fungiert in der gewohnten Weise unter dem ungewöhnlichen Titel eines „Berichters". Als Dreiersenat fungiert das Gericht allgemein in Verhandlungen über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen, außerdem fallweise in Rechtssachen, in denen die Rechtsfrage besonders einfach oder durch die bisherige Rechtsprechung bereits genügend klargestellt ist. Und zwar wird in diesen Fällen der Dreiersenat auf Antrag des Berichters mit Zustimmung des Vorsitzenden zuständig. Derart zusammengesetzte Senate beschließen auch über die Einstellung des Verfahrens infolge Zurückziehung der Beschwerde, Klaglosstellung oder Versäumung einer zur Behebung von Mängeln gesetzten Frist. Der „verstärkte Senat" ist keine obligatorische, sondern nur eine fakultative Einrichtung. Wenn ein Fünfersenat eine besonders schwierige oder grundsätzliche Rechtsfrage zu entscheiden hat, der von einer im früheren Erkenntnissen des Bundesgerichtshofes niedergelegten Rechtsanschauung abgehen will, ist der Senat auf Verlangen zweier Mitglieder oder des Vorsitzenden durch zwei weitere Mitglieder zu verstärken. Diese Mitglieder bestimmt der Präsident unter Bedachtnahme auf die Vorschläge des Senates. Jedem Senat muß nicht nur wenigstens ein Mitglied angehören, das die Befähigung zum Richteramt hat, sondern es ist auch dem Gegenstand der Rechtsprechung in der Weise Rechnung getragen, daß bei Entscheidung über Rechtssachen der allgemeinen (politischen) Verwaltung im Dreiersenat wenigstens ein Mitglied im Fünfersenat noch ein zweites und im verstärkten Senat ein drittes Mitglied die Befähigung für den politischen Dienst haben muß. Entsprechendes gilt in Beschwerdefällen, bei denen eine Finanzbehörde des Bundes (also nicht auch anderer öffentlicher Körperschaften) belangt ist, für die Zuziehung von Mitgliedern, die für den höheren Finanzdienst befähigt sind. Bei der Ladung der Ersatzmitglieder für verhinderte außerordentliche Mitglieder ist auch „womöglich" zu berücksichtigen, ob das verhinderte Mitglied auf Grund eines Vorschlages des Staatsrates oder des Länderrates ernannt worden ist. Der

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Präsident hat jede anfallende Rechtssache einem Mitglied des Senates als „Berichter" zuzuweisen; für die Beratungen der Vollversammlung über Rechtssätze und Rechtsgutachten ist ein zweites, nötigenfalls - also nach Ermessen des Präsidenten - ein drittes Mitglied als Mitberichter zu bestellen. Für den Verfassungssenat und die Vollversammlung können auch außerordentliche Mitglieder zu Berichtern oder Mitberichtern bestellt werden. Anordnungen prozeßleitender Art im Vorverfahren, Verfügungen, die zur Vorbereitung der Verhandlung dienen, ferner Entscheidungen und Verfügungen in Armenrechtssachen trifft der Berichter ohne Senatsbeschluß, der einzige Fall der Einzelgerichtsbarkeit beim BGH. Während die, übrigens der Natur der Sache entsprechenden Bestimmungen über Beratung und Abstimmung nur Interna des Gerichtshofes betreffen, sind die im Vergleich mit der früheren Rechtslage verschärften Vorschriften zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Verfassungs- und Verwaltungsrechtssachen, die in den bekannten Einrichtungen zur Sicherung der Einheitlichkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit ihr wenigstens grundsätzliches Vorbild haben, von allgemeinem Interesse. Wenn ein Senat des BGH über eine grundsätzliche Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung zu entscheiden hat, kann der Vorsitzende beim Präsidenten beantragen, daß die Frage der Vollversammlung zur Beschlußfassung vorgelegt werde. Ein solcher Beschluß kann über grundsätzliche Rechtsauslegungsfragen auch auf Initiative des Präsidenten des BGH jederzeit eingeholt werden. Die Beschlüsse der Vollversammlung sind in die Form von Rechtssätzen zu kleiden. Diese Rechtssätze sind für die Senate insofern bindend, als sie von einem solchen Rechtssatz nur abgehen dürfen, wenn die Vollversammlung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen einen neuen Rechtssatz beschließt. Doch nicht nur diese auf Plenarbeschluß beruhenden Rechtssätze, sondern selbst einfache Erkenntnisse oder Beschlüsse eines Senates erhalten eine gewisse Präjudizialwirkung. Von der in einem Erkenntnis oder Beschluß eines Senates niedergelegten Rechtsanschauung darf nämlich nur ein verstärkter Senat unter der weiteren formellen Voraussetzung abgehen, daß sich wenigstens fünf Stimmen dafür aussprechen. Von einer in einem Erkenntnis oder Beschluß des Verfassungssenates niedergelegten Rechtsanschauung darf nur der Verfassungssenat abgehen, wenn sich wenigstens sieben Stimmen dafür aussprechen. Allerdings reicht auch die Präjudizialität

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der Beschlüsse des BGH nicht über den Gerichtshof hinaus. Diese Schranke ist für die Verwaltung noch empfindlicher als die analoge Schranke für die Justiz, da in der Verwaltung die Rechtsanschauung des BGH, selbst wo die einzelne Behörde sich ihr freiwillig zu unterwerfen bereit ist, im Weisungswege durchkreuzt werden kann. Ein rechtsstaatliches Postulat wäre es, daß administrative Weisungen in Rechtssätzen des höchsten Verwaltungsgerichtes ihre Schranken finden. Immerhin ist schon die interne Präjudizialität gewisser Akte des BGH ein rechtstechnischer Gewinn, der zu der durch die Verfassungsänderung herbeigeführten Beweglichkeit der Rechtsetzung unverkennbar kontrastiert. Für das Verfahren läßt das Gesetz zunächst alternierend zu, daß die Parteien entweder ihre Sache vor dem Gerichtshof selbst führen, oder sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Anwaltszwang ist aber doch wiederum in dem Umfange aufgestellt, daß Beschwerden, Klagen und Anträge auf Entscheidung eines Kompetenzkonfliktes mit der Unterschrift eines Rechtsanwaltes versehen sein müssen. Vom Rechtsanwaltszwang sind jedoch derartige Eingaben an den Gerichtshof ausgenommen, wenn ein Organ des Bundes, eines Landes oder einer landesunmittelbaren Stadt, eine Stiftung, ein Fonds oder eine Anstalt, die von Organen einer dieser Gebietskörperschaften verwaltet werden, oder endlich in eigener Sache ein dem Dienst- oder Ruhestand angehörender rechtskundiger Angestellter des Bundes, eines Landes, einer Ortsgemeinde oder eines Ortsgemeindeverbandes die Beschwerde, die Klage oder den Antrag einbringen. An dieser Exemtion fällt auf, daß die berufständischen Körperschaften, deren Organen jedenfalls die passive Klagslegitimation als Verwaltungsbehörden im Sinne des Art. 164 der Verfassung 1934 zukommt, nicht ebenfalls vom Rechtsanwaltszwang ausgenommen sind; im System der Verfassung wäre ihre Exemption, wie übrigens auch die ihrer rechtskundigen Angestellten, begründet gewesen, da die berufständischen Körperschaften eine den territorialen Selbstverwaltungskörpern gleichartige Rechtsstellung einnehmen werden. Die Bestimmungen über die Akteneinsicht sind im wesentlichen aufrecht erhalten, vom Standpunkt des Parteischutzes aus gesehen aber insofern verbessert, als die Stellungnahme der Verwaltungsbehörde nicht mehr, wie nach der bisher herrschenden Rechtsauffassung, unbedingt maßgeblich ist. Der gesetzliche Grundsatz, daß sowohl die Gerichtsakten als auch die den Gegenstand betreffenden Administrativakten sowohl der Einsicht als auch

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der Abschrift von Seite der Parteien unterliegen, erleidet bekanntlich die Ausnahme, daß die Administrativbehörden bei Vorlage von Akten an den BGH verlangen können, daß bestimmte Akten oder Aktenteile im öffentlichen Interesse von der Einsicht und Abschrift ausgeschlossen werden. Die neue Vorschrift geht nun dahin, daß der Berichter die Behörde, wenn er das Verlangen für zu weitgehend erachtet, über seine Bedenken zu hören und allenfalls einen Beschluß des Senates einzuholen hat. Doch darf ohne Zustimmung der belangten Behörde die Einsicht in jene Akten oder Aktenteile nicht gewährt werden, ,,die die Behörde in Verwaltungsverfahren der Parteieinsicht zu entziehen nach geltender Vorschrift berechtigt war". Damit ist die Disposition der Administrativbehörde über die Akteneinsicht in gewissem Umfang der Kontrolle des BGH unterworfen. - Befangenheit und Ablehnung von Richtern und Schriftführern sind inhaltsgleich dem § 21 des bisherigen VwGG geregelt. Besteht in einer Rechtssache gegen die Anwendung einer Verordnung oder gegen die Anwendung eines Gesetzes wegen Rechtswidrigkeit des anzuwendenden Aktes Bedenken, so ist dies wie bisher ein obligatorischer Unterbrechungsgrund, nur mit der Änderung, daß nicht etwa an ein anderes Gericht ein Prüfungsantrag zu stellen ist, sondern daß der Präsident die Rechtssache dem Verfassungssenat zur Entscheidung dieser Vorfrage zuzuweisen hat. Dieselbe Rechtslage tritt ein, wenn zwischen dem BGH und einem anderen Gericht ein bejahender Zuständigkeitsstreit entstanden ist. Die Zuweisung der Rechtssache an den Verfassungssenat bewirkt Unterbrechung des anhängigen Verfahrens und gilt als Einleitung des Verfahrens beim Verfassungssenat. Erachtet eine Partei eine auf den anhängigen Rechtsfall anzuwendende Verordnung oder ein derartiges Gesetz für rechtswidrig, so wird sie eine Unterbrechung des Verfahrens und Zuweisung der Sache an den Verfassungssenat in den beschriebenen Formen zu erwirken haben. Die Bestimmungen über (mündliche) Verhandlungen, über Erkenntnisse und Beschlüsse, über die Wiederaufnahme des Verfahrens, über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und über die Kosten sind fast wörtlich den §§ 26-30 des VwGG entnommen. Insbesondere ist an dem Prinzipe unverändert festgehalten, daß die Verhandlung - vorbehaltlich einer Vertagung aus erheblichen Gründen - in einem Zuge durchzuführen und, wofern sie in Anwesenheit der Parteien stattgefunden hat, mit der Verkündung des ,,Er-

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kenntnisses44 und der wesentlichen Entscheidungsgründe abzuschließen ist. Die Verkündung des Erkenntnisses entfällt, wenn sich die Parteien vorzeitig entfernt haben, oder wenn die Beratung zur Einholung eines Beschlusses der Vollversammlung, des Verfassungsenates oder eines verstärkten Senates oder aus anderen Gründen vertagt werden muß. In allen diesen Fällen wird das Erkenntnis der Parteien nur in schriftlicher Ausfertigung zugestellt. Die Verschiebung der Verkündung auf einen späteren, sofort bekanntzugebenden Tag, wie es § 27 Abs. 4 VwGG vorgesehen hat, ist also nicht mehr statthaft; kann das Erkenntnis nicht zum Abschluß der mündlichen Verhandlung verkündet werden, so ist es nur noch in schriftlicher Ausfertigung zuzustellen. Bemerkenswert ist auch die Verlängerung der Frist zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von einer Woche auf zwei Wochen, womit diese Frist der gleichartigen Frist im Wiederaufnahmeverfahren angeglichen ist. Neu ist die Bestimmung über das Armenrecht; für die Voraussetzungen und die Wirkungen der Bewilligung des Armenrechtes gelten entsprechend die Vorschriften über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und über die Ausstellung von Armenrechtszeugnissen. Zuständig zur Bewilligung des Armenrechtes ist der Berichter des Senates. Durch die Bewilligung erhält die Partei auch das Recht, daß ihr ohne weiteres Begehren zur Abfassung und Unterfertigung der Beschwerde oder eines Antrages auf Wiederaufnahme, auf Wiedereinsetzung oder auf Entscheidung eines Kompetenzkonfliktes und zur Vertretung bei der mündlichen Verhandlung ein Rechtsanwalt beigestellt werde. Die Bestellung des Rechtsanwaltes obliegt dem Ausschuß der zuständigen Rechtsanwaltskammer, dem der Beschluß über die Bewilligung des Armenrechtes zuzustellen ist. Für die Verhandlung hat gemäß § 67 ZPO, der „entsprechend gilt 44 , der Ausschuß der Wiener Kammer einen Anwalt zu bestellen. Im übrigen, also auch abgesehen von den „Voraussetzungen und den Wirkungen der Bewilligung des Armenrechtes 44, für die eben „entsprechend die Vorschriften für das Verfahren in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten und über die Ausstellung von Armenrechtszeugnissen gelten44, ist für das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof die entsprechende Anwendung der Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes und des Verwaltungsstrafgesetzes vorgeschrieben (§ 35). Zum Unterschied von der bisherigen Rechtslage, derzufolge nur die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes, soweit sie Zustellungen, Fristen, Ordnungsund Mutwillensstrafen betreffen, anwendbar waren, sind nunmehr die genann-

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ten Verwaltungsprozeßgesetze überhaupt zur suppletorischen Prozeßordnung der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit geworden. Inwieweit das AVG und inwieweit das VStG (dieses natürlich nur in seinem verfahrensrechtlichen Teil) dem Verfahren des BGH zugrunde zu legen ist, bringt das Gesetz nicht zum Ausdruck. Dem VStG ist wohl nur insoweit Maßgeblichkeit zugedacht, als sich der BGH mit Verwaltungsstrafsachen befaßt. Eine Vollstreckung der Erkenntnisse des BGH kommt in dem weitaus überwiegenden kassatorischen Teil seines Wirkungskreises der Natur der Sache nach nicht in Frage. In den Erkenntnissen, mit denen der BGH in der Sache selbst entscheidet, hat er selbst die Verwaltungsbehörde zu bestimmen, die das Erkenntnis oder den Beschluß zu vollstrecken hat. Erkenntnisse, mit denen der BGH gemäß Art. 167 Abs. 4 in der Sache selbst entschieden hat, sowie Erkenntnisse über Verfahrenskosten, Mutwillens- und Ordnungsstrafen werden schon nach der Vorschrift des Art. 176 Verfassung 1934 von den ordentlichen Gerichten vollstreckt. Die meri torischen Erkenntnisse gemäß Art. 167 sind die Erkenntnisse in jenen Fällen, wo der BGH angerufen wird, weil die oberste Administrativinstanz nicht binnen sechs Monaten in der Sache entschieden hat. Die hier vorgesehene Vollstreckung von Erkenntnissen des BGH durch die ordentlichen Gerichte bedeutet eine wertvolle Stärkung der Rechtsschutzfunktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit; wenn die Entscheidungskompetenz in einer Verwaltungssache wegen Untätigkeit der Verwaltungsbehörde an das Verwaltungsgericht devolviert, so ist es nur konsequent, daß der Verwaltungsbehörde auch die Vollstreckung entzogen wird, weil es ja ansonsten der Verwaltungsbehörde möglich gemacht wäre, die Sabotage des fraglichen Falles in der Weise fortzusetzen, daß sie einfach das Erkenntnis des BGH frustriert. Die fragliche Rechtseinrichtung ist, auch wenn sie wenig aktualisiert werden mag - denn ihr Sinn ist ja nicht der, Gerichten Arbeit zuzuschanzen, sondern die Verwaltungsgehörden zu rascher Arbeit zu veranlassen - , in unserem Rechtssysteme darum von grundsätzlicher Bedeutung, weil die durchgängige Devolution einer Verwaltungskompetenz auf die Gerichtsbarkeit (gleichviel ob öffentlichrechtliche oder ordentliche Gerichtsbarkeit), ein leises Abrücken vom Typus des Verwaltungsstaates und eine Annäherung an den Justizstaatstypus bedeutet. Freilich geschieht dieser Systemwandel nicht um seiner selbst willen, sondern um das gehörige Funktionieren der Verwaltungsbehörde sicherzustellen. Jede Verwaltungsbehörde kann ihre

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gesetzliche Entscheidung und Vollstreckungskompetenz wahren, indem sie rechtzeitig entscheidet. Die Bevorzugung des Justizweges in den fraglichen Fällen erfolgt nicht um seiner selbst willen, sondern um die Partei vor Rechtsvereitlung zu schützen. Ihren letzten Grund hat ja die Einrichtung in der mit der Abkürzung des Instanzenzuges bewirkten regelmäßigen Rolle von Landesbehörden als letzte Administrativinstanzen in Bundes- wie in Landesverwaltungssachen. Versagen sie in dieser Rolle, dann tritt der Apparat der Bundesgerichtsbarkeit in Aktion - der BGH als Entscheidungsinstanz und die ordentlichen Gerichte als Vollstreckungsinstanz. Sind zur Vollstreckung der Erkenntnisse des BGH die ordentlichen Gerichte zuständig, so bildet das Erkenntnis oder der Beschluß den Exekutionstitel. Dem allgemeinen (1.) Teil der Verfahrensnormen folgen in einem 2. bis 9. Teil Sonderbestimmungen über Beschwerden, Invalidenentschädigungssachen, Klagen, Rechtsgutachten, Zuständigkeitsfragen, Prüfung von Verordnungen, Prüfung von Gesetzen, Anklagesachen. Die Anordnungen schließen sich in freilich sehr ungleichem Maße an die entsprechenden Partien des Verwaltungs-und Verfassungsgerichtshofgesetzes an, nur der 5., über Rechtsgutachten handelnde Teil ist gänzlich neu, weil er ja eine völlig neue Kompetenz des BGH betrifft. Der häufigste Kompetenzfall, der zugleich für die Rechtssuchenden der praktisch bedeutsamste ist, ist der Fall der Beschwerden (Art. 164 Verfassung 1934). Vor allem ist die Herabsetzung der Beschwerdefrist von 60 Tagen (§ 33 VwGG) auf sechs Wochen zu beachten. Diese Frist gilt nur, wofern das Gesetz nicht ausdrücklich bestimmt, daß die Beschwerde jederzeit zulässig ist. Wenn kein Bescheid ergangen ist, kann die Beschwerde nach Ablauf der verfassungsmäßig festgetzten Frist jederzeit erhoben werden; es kann also die Beschwerde nach Ablauf von sechs Monaten erhoben werden, nachdem die Partei die oberste Instanz, die der Beschwerdeführer anzurufen rechtlich in der Lage war, tatsächlich angerufen hat. Diese sechsmonatige Frist kann durch Bundes- oder Landesgesetz verkürzt werden. Die Frist läuft von dem Tag, an dem das Parteibegehren bei der zur Erledigung zuständigen Behörde eingelangt ist. Die Vorschriften über die Instruktion der Beschwerden sind im wesentlichen unverändert geblieben. Nur verlangt § 40 BGG zum Unterschied von § 34 VwGG, daß nicht die,,Beschwerdepunkte 4' angeführt werden, sondern ,,das Recht bezeichnet" werde, ,,in dem der Beschwerdeführer verletzt zu

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sein behauptet". Dieses Erfordernis ist indessen nicht immer wörtlich zu erfüllen, es wäre denn, daß das,,Recht auf gesetzmäßige Verwaltung" als verletzt bezeichnet wird, eine Formel, deren Unbestimmtheit wiederum dem Verfahren gar nicht dienen würde. Der Absicht des Gesetzgebers, die aber nicht sehr glücklich zum Ausdruck gekommen ist, dürfte es entsprechen, wenn die Gesetzesstelle zitiert wird, zu der der Bescheid vermeintlich in Widerspruch steht. - Neu sind auch die Erfordernisse, daß ein bestimmtes Begehren gestellt werde und daß Angaben gemacht werden, die beurteilen lassen, ob die Beschwerde rechtzeitig eingebracht ist. Beschwerden in den Fällen des Nichthandeins der letzten Administrativinstanz unterscheiden sich formal von den übrigen Beschwerden dadurch, daß naturgemäß die Angaben über den angefochtenen Bescheid, über die belangte Behörde und über die Gründe der Rechtswidrigkeit entfallen. Als belangte Behörde ist in derartigen Beschwerdefällen die oberste Instanz zu bezeichnen, die der Beschwerdeführer in der Rechtssache angerufen hat. Ferner ist glaubhaft zu machen, daß die sechsmonatige (oder allenfalls durch Gesetz verkürzte) Frist abgelaufen ist. Den Beschwerden kam schon bisher und kommt auch in Hinkunft an sich eine aufschiebende Wirkung nicht zu, was nunmehr auch ausdrücklich von den Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist ausgesprochen wird. Jedoch hatte und hat auch in Hinkunft der Beschwerdeführer einen bedingten Anspruch auf die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung von Seite der belangten Administrativbehörde. Die Bedingung dieses Anspruchs besteht darin, daß durch die Vollstreckung ein nicht wieder gutzumachender Schade eintreten würde und nicht öffentliche Rücksichten die sofortige Vollstreckung gebieten. Diese Bestimmung bezog sich schon nach der ehemaligen Rechtslage auch auf die Verwaltungsstrafsachen, die noch außerdem in § 49 VwGG ausdrücklich geregelt waren. § 49 VwGG wurde durch die Verwaltungsgerichtshofgesetznovelle vom 21. Juli 1933, BGBl. 324 geändert und ging in dieser Fassung auch in das neue Gesetz über, das bestimmt: ,,Ιη Verwaltungsstrafsachen hat die Behörde, sofern nicht öffentliche Rücksichten die sofortige Vollstreckung gebieten, die aufschiebende Wirkung insbesondere zuzuerkennen, wenn eine Freiheitsstrafe oder die Strafe des Verfalls oder der Entziehung von Berechtigungen zu vollziehen wäre." Mit diesem Satze wird zum Ausdruck gebracht, daß auch für Verwaltungsstrafsachen das allgemeine Prinzip gilt, wonach die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch das Zusammentreffen einer gewissermaßen 17 A.J. Mcrkl

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subjektiven und objektiven Bedingung bedingt ist. Es genügt also nicht die bei Verhängung einer Freiheitsstrafe jedenfalls zutreffende Bedingung, daß durch die Vollstreckung ein nicht wieder gutzumachender Schade eintreten würde, sondern es dürfen überdies auch öffentliche Rücksichten nicht die sofortige Vollstreckung der Freiheitsstrafe gebieten. Es hängt sonach rechtlich vom Ermessen der Administrativbehörde ab, ob die Beschwerde an den Bundesgerichtshof gerade in den schwereren Fällen von Verwaltungsstrafen eine praktische Bedeutung haben kann, oder ob sie nur der allfälligen Feststellung dienen kann, daß die Verwaltungsstrafe zu Unrecht verhängt und - vollzogen wurde. Der Anspruch des Bundesministers auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung für Beschwerden, die sich auf die in die Vollziehung der Länder fallenden Angelegenheiten der Bundesverwaltung beziehen, ist unverändert geblieben. Neu ist die Legaldefinition der „Partei" im bundesgerichtlichen Verfahren und die Regelung der Parteistellung (§ 45). Der Begriff der „Partei" ist naturgemäß weiter als der des Beschwerdeführers, denn Parteien im Beschwerdeverfahren sind der Beschwerdeführer, die belangte Behörde und die Personen, denen die Aufhebung des angefochtenen Bescheides zum Nachteil gereichen würden, gleichgültig, ob sie schon in der Beschwerde als Mitbelangte bezeichnet worden sind oder nicht. Auch wenn in der Beschwerde Mitbelangte nicht bezeichnet sind, ist darauf Bedacht zu nehmen, daß alle an der Rechtssache beteiligten Parteien gehört werden und Gelegenheit zur Wahrung ihrer Rechte erhalten. Ist die Beschwerde zur weiteren Behandlung geeignet, insbesondere also weder wegen Versäumung der Einbringungsfrist, wegen offenbarer Unzuständigkeit des Bundesgerichtshofes, wegen res iudicata oder mangels der Beschwerdelegitimation zurückzuweisen, noch wegen formeller oder inhaltlicher Mängel zurückzustellen, so ist jedenfalls das Vorverfahren einzuleiten. Das Vorverfahren des BGH über Beschwerden ist nach dem Vorbild des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens über Beschwerden (§ 38-40) VwGG geregelt. Eine bemerkenswertere Neuerung besteht darin, daß die Frist zur Einbringung der Gegenschrift mit längstens sechs Wochen zu bemessen ist. Die Erweiterung der Zuständigkeit des BGH wirkt sich in der Vorschrift aus, daß in den Fällen des § 39 (Beschwerden in Fällen, in denen kein Bescheid ergangen ist) der belangten Behörde freizustellen ist, statt der Einbringung einer Gegenschrift innerhalb der hiefür bestimmten Frist den versäumten Bescheid zu erlassen und eine Abschrift des Bescheides dem BGH vorzulegen. Ist die belangte Behörde eine nicht ständig tagende

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Kommission, so ist die Frist auf Antrag so zu verlängern, daß sie bis über die nächste, nach ordentlichem Geschäftsgang anzuberaumende Sitzung der Kommission hinausreicht. Lautet der Bescheid abweisend, so gilt er als bereits angefochten; der Beschwerdeführer hat jedoch das Recht, binnen sechs Wochen nach Zustellung des Bescheides die Beschwerde zu ergänzen. Der belangten Behörde steht sodann das Recht zu, zu der Ergänzung der Beschwerde binnen einer mit längstens sechs Wochen festzusetzenden Frist eine Gegenäußerung zu erstatten. In den in Rede stehenden Fällen (Beschwerden ohne zugrunde liegenden Bescheid) kann dem Beschwerdeführer aufgetragen werden, zur Gegenschrift binnen einer mit höchstens sechs Wochen festzusetzenden Frist eine schriftliche Gegenäußerung zu erstatten. Wird dieser Auftrag nicht befolgt, so gilt die Beschwerde als zurückgezogen. In diesem Zusammenhang zeigt es sich, daß die Intervention des BGH bei Untätigkeit der Behörde vom Gesetzgeber nur als Motivation zum rechtzeitigen Tätigwerden der Behörde gedacht ist. Für den Fall, daß der BGH genötigt ist, an Stelle der säumigen Behörde meritorisch zu entscheiden, steht es ihm frei, das zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes erforderliche Ermittlungsverfahren durch die von ihm selbst zu bestimmende Gerichts- oder Verwaltungsbehörde durchführen oder ergänzen zu lassen. Für den Gang der Verhandlung findet sich die interessante Neuerung (§ 50), daß der Vorsitzende des Senates den Zutritt von Parteien zur Verhandlung auf höchstens fünf Personen beschränken darf, wenn die Zahl der Parteien, deren Interessen gleichgerichtet sind, mehr als fünf beträgt. Einigt sich diese Gruppe von Parteien nicht auf bestimmte Personen, so kann der Senat bestimmen, welche Parteien zu laden sind. Veranlaßt wurde diese Bestimmung vermutlich durch das an Volksversammlungen gemahnende Massenauftreten von Beschwerdeführern, insbesondere von Beamten, die beim Verfassungs- bzw. Verwaltungsgerichtshof gleichgerichtete Beschwerden eingebracht hatten. Der BGH kann von einer mündlichen Verhandlung außer den sonstigen, im Gesetz taxativ aufgezählten und der bisherigen Rechtslage entsprechenden Gründen auch dann absehen, wenn der Beschwerdeführer in der Beschwerde nicht beantragt hat, eine Verhandlung anzuordnen und ein solcher Antrag auch weder von der belangten Behörde noch von einer anderen Partei innerhalb der Frist zur Erstattung der Gegenschrift gestellt worden ist. Während nach der bisherigen Rechtslage, wie sie im Sinne der Verwaltungs17*

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gerichtshofgesetze bis zur schon erwähnten VwGG-Novelle bestanden hat, der Beschwerdeführer auf die Verhandlung ausdrücklich verzichten mußte, um dem VwGH zu ermöglichen, von der Verhandlung Umgang zu nehmen, muß er nach der Vorschrift der zitierten Novelle, die in das BGG übernommen wurde, ausdrücklich in der Beschwerde die Durchführung einer Verhandlung beantragen, wenn er sie gesichert wünscht. Schweigt der Beschwerdeführer in der Beschwerde über die Frage der Verhandlung, so hat der Gerichtshof in dieser Richtung freie Hand. Die Bestimmungen des Verwaltungsgerichtshofgesetzes über Verwaltungsstrafsachen entfallen naturgemäß zugleich mit der bezüglichen verfassungsgesetzlichen Kompetenznorm. Straferkenntnisse sind beim BGH mit Beschwerden in dem für Beschwerden maßgeblichen Verfahren anzufechten. 1 Für das Verfahren über Klagen gelten die für Beschwerden erlassenen Vorschriften, doch sind an Stelle der Vorschriften des AVG die Vorschriften der ZPO und des Einführungsgesetzes zur ZPO entsprechend anzuwenden. Das Verfahren zur Erstattung von Rechtsgutachten über die Auslegung von Verwaltungs Vorschriften (Art. 166 Verfassung 1934) geht dem eigenartigen Gegenstande des Verfahrens gemäß besondere Wege. Der Antrag auf Erstattung eines Rechtsgutachtens hat entweder die Rechtsansicht der Stelle, die das Gutachten einholt, samt den Gründen, die ihr für diese Ansicht maßgebend zu sein scheinen, oder die Gründe des Auslegungszweifels (?) zu enthalten. Das Gutachten ist in die Form eines mit einer Begründung versehenen Rechtssatzes zu kleiden. Dieser Rechtssatz ist im Gesetzblatt zu verlautbaren. Ein Abgehen von der Rechtsansicht dieses Gutachtens ist einem Senate nur gestattet, wenn die Vollversammlung mit Zweidrittelmehrheit einen anderen ,,Rechtssatz" beschlossen hat. Bei der Regelung der Zuständigkeitsfragen - einerseits Zuständigkeitsstreite nach Art. 138 Verfassung, anderseits Gutachten in Zuständigkeitsfragen (Art. 171 Verfassung) - , sodann der Prüfung von Verordnungen, der Prüfung von Gesetzen, und endlich des Verfahrens in Anklagesachen (Funk-

ln diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die Zuständigkeit des VwGH in Verwaltungsstrafsachen, die an sich in der Generalklausel des Art. 164 Verfassung 1934 Inbegriffen ist, durch das Verfassungsgesetz vom 24. September 1934, BGBl. 254, wesentlich eingeschränkt wurde.

Das Bundesgerichtshofgesetz

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tion als Staatsgerichtshof) schließt sich das Gesetz eng, überwiegend sogar wörtlich der Regelung der analogen Verfahrenswege des vormaligen Verfassungsgerichtshofes an. Die wenigen sachlichen Änderungen betreffen hauptsächlich Fristbestimmungen, wobei die Tendenz besteht, die Fristen zugunsten des Gerichtshofes und sonstiger Behörden zu verlängern. Sondervorschriften über das Verfahren bei Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte fehlen folgerichtig, weil von Verfassungswegen wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte nur die allgemeine Rechtsbeschwerde offensteht, die sonach auch nicht den Verfassungssenat, sondern einen gewöhnlichen Senat des BGH zu beschäftigen hat. Problematisch ist das Fehlen von Sonderbestimmungen über das Verfahren im Kompetenzfall des Art. 172 Verfassung 1934: Beschwerden gegen die Bestellung der Mitglieder der beratenden Organe der Gesetzgebung, Anfechtung der Bestellung von Organen, die von einem der vorgenannten Organe zu bestellen sind, Anfechtung des Ergebnisses von Volksabstimmungen, Anträge auf Erklärung des Verlustes der Mitgliedschaft in den vorgenannten Kollegien und Beschwerden gegen Verwaltungsbescheide, die einen solchen Ausspruch enthalten. Diese Kompetenz des BGH, die an die Stelle der Funktion des VerfGH als Wahlgerichtshof getreten ist, muß sonach erst durch ein Sondergesetz aktualisiert werden. Ein solches Gesetz wird selbstverständlich erst mit dem Inslebentreten der entpsrechenden organisatorischen Einrichtungen (Wahlrecht und Nominationsrecht zu bestimmtenVertretungskörpern u. dgl.) dringlich. Die Unterlassung der Bedachtnahme auf die neue Rechtsstellung der Stadt Wien, z.B. in den §§ 73, 75 und 80, wo nur von den „Regierungen", nicht aber von den obersten Organen der Stadt Wien (Bürgermeister, „Wiener Bürgerschaft"), die Rede ist, beruht offenbar auf einem Redaktionsversehen, das sich ja in der Verfassungsurkunde selbst auch findet. 2 Die Kodifikatoren stehen eben noch unter dem Banne der Vorstellung von Wien als Land. Es dürfen wohl unbedenklich die den Ländern eingeräumten Kompetenzen in Ausdeutung des Art. 136 Verfassung auch der Stadt Wien zugebilligt werden.

2 Vgl. Art. 173 Verfassung, wo pari passu mit den Ländern auch die Stadt Wien genannt ist, dagegen Art. 164, 165, 169, 170, 171, 177, wo die Stadt Wien nicht genannt ist, obwohl diese sich auf die Länder beziehenden Bestimmungen in Sachen der Bundesgerichtsbarkeit zweifellos auch für die Stadt Wien gelten sollen.

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I A Verfassungsrecht

Im übrigen ist die Diktion des Bundesgerichtshofgesetzes im Vergleiche mit dem Verwaltungsgerichtshofgesetz und insbesondere dem Verfassungsgerichtshofgesetz sowohl juristisch, z.B. durch Ausmerzung des laienhaften Ausdruckes „gesetzgebende Körperschaften" als auch stilistisch merklich verbessert.

Österreichs neue Verfassung Die offiziöse Bekanntgabe der Grundzüge von Österreichs künftiger Verfassung hat nach allen bisherigen Ankündigungen kaum noch ein Geheimnis enthüllen können. Denn soviel stand fest, daß die künftige Verfassung drei Grundgedanken in sich vereinigen werde: das ständische, das föderative und das autoritäre Prinzip. Offen war nur die Frage geblieben, in welchem Maß und in welcher Weise diese heterogenen Baugesetze kombiniert werden würden. Selbst das ist aber kaum noch eine Überraschung, daß die Dominante unter den formgebenden Grundsätzen der künftigen Verfassung und zwar nicht bloß der provisorischen, deren Grundzüge vorläufig noch nicht der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurden, sondern auch der als endgültig gedachten Verfassung, das autoritäre oder mit dem gebräuchlich gewordenen deutschen Ausdruck das Führerprinzip ist. Freilich handelt es sich dabei nur um den vorläufigen Eindruck, den die bekanntgegebenen Grundzüge vermitteln. Erst der endgültige Verfassungstext wird ein abschließendes Urteil erlauben, zumal da dem Laien als nebensächlich erscheinende Bestimmungen das Gesamtbild einer Verfassung für die rechtswissenschaftliche Betrachtung wesentlich beeinflussen können. Unter Ausschluß jeder transzendenten Kritik soll an der Hand der bekannt gewordenen Grundzüge im folgenden darzustellen versucht werden, ob und wie die Verfassung den ihr gesteckten programmatischen Richtlinien entspricht. Auch die an die Spitze gestellte Selbstbeurteilung der Verfassung als ständischer Bundesstaat hat ja an sich nur den Charakter einer programmatischen Erklärung, die sich erst durch den Verfassungsinhalt bewähren muß. Andererseits ändert die Weglassung der an die Spitze der Bundesverfassung aus 1920 gestellten Erklärung Österreichs als demokratische Republik nichts an der Tatsache, daß die Verfassung unzweifelhaft republikanisch ist, und würde auch nicht zu hindern vermögen, daß sie bei Erfüllung der

Wiener Neueste Nachrichten vom 1. April 1934, S. 2-4.

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II.A Verfassungsrecht

Merkmale einer Demokratie eine Demokratie zu nennen wäre. Denn das eigene Urteil einer Verfassung über die Staatsform ist weder wesentlich bekanntlich verzichten Monarchien in der Regel auf eine programmatische Erklärung des monarchischen Prinzips - noch auch unbedingt maßgeblich, sondern hat nur die Bedeutung einer programmatischen Festlegung jener Eigenschaften der Verfassung, auf die der Verfassungsgeber das Schwergewicht legt. Selbst die ausdrückliche Berufung auf Gott als die oberste Quelle der Rechts- und Staatsautorität, die der künftigen Verfassung eigentümlich sein wird, hat lediglich den Charakter eines solennen Bekenntnisses der Weltanschauung der Verfassungsschöpfer, läßt aber keinerlei Rückschlüsse auf den Inhalt der Verfassung und insbesondere die Staatsform zu; bezeichnenderweise wird Österreich diese metaphysische Verankerung seiner Rechtsordnung mit der Schweiz gemeinsam haben, deren Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 unter Berufung auf Gott den Allmächtigen das typische Gebäude einer, wenn auch antiparlamentarischen Formaldemokratie - und zwar der reinsten und radikalsten, die es auf der ganzen Erde gibt - errichtet und somit durch ihren Inhalt für das neue österreichische Verfassungswerk nur wenig beispielgebend gewesen sein mochte. Ist die Verfassung sozusagen die Erzeugungsregel der Rechtsordnung, so müssen ihre Baugesetze vor allem in der Ordnung der Gesetzgebung in Erscheinung treten. Hier zeigt sich nun vor allem das negative Merkmal, daß nicht nur der sogenannte Parlamentarismus im Sinne einer qualifizierten Vorherrschaft des Parlamentes, sondern überhaupt parlamentarische Einrichtungen im hergebrachten Sinne fehlen werden. Damit tritt die neue Verfassung nicht nur zu den Verfassungen der Jahre 1918 und 1920, die das durchaus nicht wesenhaft mit dem Parlamentarismus verknüpfte demokratische Prinzip - vielleicht in Verkennung dieser Wesensverschiedenheit mit einer radikal parlamentarischen Organisationstechnik verbunden haben, sondern auch zur konstitutionellen Verfassung der Monarchie Österreich, die, wenn auch nicht das parlamentarische System, so doch Parlamente nach der hergebrachten Schablone errichtet hatte, in den auffälligsten Gegensatz. Soviel die Verlautbarungen über den Verfassungsinhalt erkennen lassen, wird es nur ein zentrales Gesetzgebungskollegium und neun lokale Gesetzgebungskollegien geben. Das ständische Prinzip wird sonach nur in der Zusammensetzung dieser Gesetzgebungskollegien, nicht aber in der Errichtung eigener rein ständischer Gesetzgebungskollegien in Erscheinung tre-

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ten. Sowohl das zentrale Gesetzgebungsorgan, der Bundestag, als auch die lokalen Gesetzgebungsorgane, die Landtage, sollen ständische Elemente, und zwar wenigstens der Bundestag sogar einen knapp überwiegenden ständischen Einschlag aufweisen, ohne daß freilich hiedurch die gesetzgebungsberechtigten Kollegien reine Ständevertretungen sein werden. Im Bundestag bilden nämlich die Delegierten des Bundeskulturrates und Bundeswirtschaftsrates gewissermaßen die ständischen Kurien, denen indes die Delegierten des Staatsrates und des Länderrates ein annäherndes Gegengewicht bieten. Der Bundeskulturrat und der Bundeswirtschaftsrat selbst können wegen ihrer bloß vorberatenden Rolle ebenso wenig wie der Staatsrat und Länderrat als Gesetzgebungskollegien beurteilt werden. Soweit ersichtlich, unterscheiden sich ja diese Räte ihrer Wirkungsmöglichkeit nach nicht wesentlich von den heute schon zur Begutachtung von Gesetzentwürfen berufenen Kammern. Diese wohlerwogene vorsichtige Einsetzung ständischer Elemente zur Staatswillensbildung mag die radikalen Vertreter des Ständestaatsgedankens vielleicht enttäuschen. Der unvoreingenommene Beurteiler wird jedoch wohl gerade in dieser Zusammensetzung der verfassungsmäßigen Kollegien einen originellen Kunstgriff der Verfassung und eine weise Einsicht in die augenblicklichen Verwendungsmöglichkeiten der politisch traditionslosen ständischen Vertretungskörper erkennen. In meiner Abhandlung über den staatsrechtlichen Gehalt der Enzyklika,, Quadragesimo anno " (Zeitschrift für öffentliches Recht, April 1934) setze ich auseinander, daß die Gesetzgebungsaufgaben, die in der ständestaatlichen Literatur den ständischen Vertretungskörpern zur selbständigen Besorgung zugedacht werden, durchaus nicht die scheinbar zunächst interessierten ständischen Gruppen allein berühren, sondern meist echte Gemeininteressen betreffen. Der Verfassungsentwurf trägt diesem Bedenken Rechnung, indem er Gesetzentwürfe, wie etwa den Entwurf eines Schulgesetzes oder einer Gewerbeordnung, von dem zunächst beteiligten ständischen Vertretungskörper, im ersten Fall vom Kulturrat, im zweiten Fall vom Wirtschaftsrat, vorberaten läßt, den entscheidenden Beschluß jedoch dem Bundestag vorbehält, der sich aus den verschiedensten Bevölkerungselementen rekrutiert und daher den so nötigen Ausgleich zwischen dem Gruppeninteresse und Gemeininteresse herstellen kann. An nichtständischen Elementen wird der Bundestag teils Delegierte des Staatsrates, teils solche des Länderrates enthalten, also teils die Elemente eines Oberhauses von der Art des Herrenhauses, teils eine Länderkammer von der Art des gegenwärtigen Bundesrates enthalten. Wir finden somit im Bundestag die

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verschiedenen Elemente parlamentarischer Kammern unter Vermeidung des schwerfälligen Apparates eines Zwei- oder Mehr-Kammersystems geschickt vereinigt. Nur eines dieser herkömmlichen Elemente, und zwar gerade das für die heutigen Gesetzgebungskollegien charakteristischeste, fehlt in der Zusammensetzung des Bundesrates, nämlich eine Repräsentanz des Gesamtvolkes. Wegen dieses bewußten und beabsichtigten Mangels dürfte denn auch die internationale wissenschaftliche Kritik dem Bundestag den Charakter eines Parlamentes absprechen und ihn als ein Gesetzgebungskollegium besonderer Art qualifizieren. Der Staatsrat im besonderen und seine Delegation im Bundestag kann bei entsprechender Zusammensetzung Gelegenheit geben, das durch das Proporzsystem so verkürzte intellektuelle Element wiederum politisch zur Geltung zu bringen. Es hat ja gewiß dem parlamentarischen Betrieb in Österreich nicht zur Ehre gereicht, wenn in Anbetracht der Spärlichkeit von Fachleuten der verschiedenen Gesetzgebungsmaterien die Ministerialbürokratie nicht nur fast alle Gesetzentwürfe verfassen mußte, sondern auch die meisten Berichte der Ausschüsse des Nationalrates zwar von einem Mitglied des Nationalrates als Berichterstatter gezeichnet waren, aber irgendeinen Regierungsvertreter zum Verfasser hatten. Es war dies durchaus nicht immer Beweis der Unfähigkeit der Berichterstatter, die Gesetzgebungsmaterie, die ihnen anvertraut war, zu meistern, sondern der physischen Unmöglichkeit, daß der so enge Kreis der parlamentarischen Fachmänner allen Aufgaben des parlamentarischen Betriebes gerecht werde. Man möchte nur hoffen, daß von dem vermutlich unbeschränkten Ermessen bei Berufung der Mitglieder des Staatsrates nicht im Hinblick auf bestimmte Majoritätsbedürfnisse, sondern in dem Sinne Gebrauch gemacht werden, daß aus dem Gesamtkreise der Bevölkerung, soweit sie deutsch und österreichisch fühlt und aufbauende Staatsgesinnung erwarten läßt - und das ist gewiß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung - eine nicht nach politischen, sondern nach sachlichen Gesichtspunkten orientierte Auslese vorgenommen werden wird. Die föderativen Elemente der Verfassung werden außer den ihrerseits wiederum wenigstens teilweise ständisch aufgebauten Landtagen der Länderrat und die Delegation des Länderrates im Bundestag abgeben; dieser Länderrat und seine Delegation im Bundestag treten an die Stelle des bisherigen Bundesrates, kommen ihm aber doch - trotz seiner gewiß nicht prominenten Stellung - kaum an politischer Bedeutung gleich. Bei der Zusammensetzung des Länderrates wurde auf den Plan der ersten christlich-

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sozialen Verfassungsentwürfe aus dem Jahre 1919 zurückgegriffen, die Länder ohne Rücksicht auf ihre Bevölkerungszahl mit der gleichen Mandatszahl auszustatten. Jedes Land einschließlich der bundesunmittelbaren Stadt Wien wird im beratenden Länderrat durch zwei Vertreter und im beschließenden Bundestag durch einen Vertreter repräsentiert sein. Damit entfernt sich die Verfassung von dem Vorbild der Bismarckschen Verfassung, die der politischen Bedeutung der einzelnen Länder für den Gesamtstaat durch eine gewisse Differenzierung der Stimmenzahl gerecht zu werden strebte, und folgt in diesem Punkte den Verfassungen der Schweiz und der nordamerikanischen Union, die das formal arithmetische Gleichheitsprinzip auch auf die Vertretung der Gliedstaaten im Staatenhaus (Länderrat) anwenden. Noch mehr als durch die Zusammensetzung wird aber der Bundestag durch seinen Wirkungskreis von den hergebrachten Volksvertretungen abweichen. Während die begutachtenden Vertretungskörper (Staatsrat, Kulturrat, Wirtschaftsrat und Länderrat) immerhin meritorische, wenn auch nicht verbindliche Abänderungsvorschläge zu den Gesetzentwürfen der Bundesregierung machen können, wird das beschließende Gesetzgebungskollegium, nämlich der Bundestag, im allgemeinen auf sogenannte en bloc- Abstimmungen über Regierungsvorlagen beschränkt und insbesondere nicht der für ein echtes Gesetzgebungskollegium charakteristischen Gesetzesinitiative teilhaftig sein. Diese außergewöhnliche Beschränkung des Wirkungskreises unterscheidet den Bundestag noch mehr als eine Zusammensetzung von einer typischen Volksvertretung und verleiht der Verfassung vielleicht den stärksten autoritären Charakterzug. Denn bei dieser Kompetenzverteilung ist die Regierung dank der ihr vorbehaltenen Gesetzesinitiative die eigentliche Herrin des Gesetzgebungsverfahrens und der Bundestag im Grunde auf ein bloßes Vetorecht beschränkt; das trotz seiner Absolutheit wegen der ausgedehnten Möglichkeiten der Notgesetzgebung doch kaum gefährlich werden kann. Hier liegt auch jene Schranke des föderativen Einschlags der Verfassung, die im ausländischen fachlichen Urteil zur Leugnung des bundesstaatlichen Charakters der österreichischen Verfassung führen dürfte. Wenn schon die bisherige, reichlich unitarische Gestaltung der Verfassung mehrfach zu dem Urteil geführt hat, die Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat nicht den Tatsachen entspreche, so wird ein solches Urteil begreiflicherweise dadurch bestärkt, daß der Ländervertretung nunmehr sogar die von der Bundesstaatstheorie als grundlegend

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beurteilte Gesetzesinitiative der Bundesvertretung und ein an der Bundesgesetzgebung entscheidend mitwirkendes selbständiges Vertretungsorgan versagt sein wird. Die Existenz der Landtage allein genügt natürlich nicht zur Begründung des bundesstaatlichen Charakters, denn dank den Landtagen wäre ja nach einer solche Auffassung schon die österreichische Monarchie Bundesstaat gewesen und hätte es der Bundesverfassung nicht mehr bedurft, um Österreich zum Bundesstaat zu machen. Dieser offenbare Selbstwiderspruch des Verfassungstextes könnte wohl durch eine nicht allzu einschneidende Ergänzung beseitigt werden. Die Einrichtungen des sogenannten Staatsnotrechtes gehen zwar in ihren Wirkungsmöglichkeiten über die des Notverordnungsrechtes des Kaisers gemäß dem § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichs Vertretung vom 21. Dezember 1867 hinaus, bieten aber den Vorteil bestimmter Schranken, und sollen insbesondere nach der Interpretation des in den Verfassungstext eingeweihten Herrn Sektionschefs Hecht auch das überpositive naturrechtliche Staatsnotrecht ausschließen, das Sektionschef Hecht zur Ergänzung der bisherigen Verfassung unter Berufung auf Autoritäten, die im übrigen als Repräsentanten des liberalen Staatsrechtes gelten, und die daher der Autor im übrigen kaum als Gewährsmänner gelten lassen dürfte, herangezogen hat. Jede Positivierung und Umgrenzung des Notrechtes ist natürlich ein unschätzbarer rechtlicher Fortschritt. Die Möglichkeit und Nützlichkeit einse solchen Notrechtes habe ich wiederholt - namentlich in meinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" (S. 166) - anerkannt. Von jedem politischen Standpunkt aus dürfte es auch anerkannt werden, daß die Verfassung die typischen rechtsstaatlichen Einrichtungen, welche die Republik aus der österreichischen Monarchie übernommen hatte, ihrerseits ebenfalls, wenn auch mit gewissen Beschränkungen, übernehmen will, namentlich den Grundsatz der Gesetzesherrschaft, die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, sowie die Rechnungskontrolle. Wenn auch diese Rechtseinrichtungen ebenso wie die gleichfalls rezipierten Grund- oder Freiheitsrechte liberalen Ursprungs sind, so macht man sich durch deren Übernahme doch nicht mit den Auswüchsen des Manchesterliberalismus gemein, sondern übernimmt Rechtsgedanken, die den Rechtsordnungen und Parteiprogrammen selbst unzweifelhaft konservativen Ursprungs als so selbstverständlich verwoben sind, daß ihr liberaler Ursprung kaum mehr bewußt ist.

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Darüber kann kein Zweifel bestehen: die neue Verfassung schließt eine Rechtsentwicklung ab, die mit dem entscheidungsreichen Jahr 1848 begonnen und, bald durch retardierende, bald akzelerierende Ereignisse unterbrochen, bis 1933 gewährt hat, und schlägt ein neues Buch der Geschichte Österreichs auf; doch dürfen wir Deutsche Österreichs dieser neuen Geschichtsepoche getrost entgegengehen, wenn sie nur im richtigen Geiste eingeleitet wird, der wichtiger ist als alle papierenen Verfassungseinrichtungen: im Geiste der Enzyklika, der, ins Staatliche gewendet, den Geist der wahren Volksgemeinschaft bedeutet.

Die Wende des Verfassungslebens Der erste Mai soll in Hinkunft für Österreich epochale staatsrechtliche Bedeutung haben. Dieser Tag wird zwar nicht der Tag des Inkrafttretens jener neuen österreichischen Verfassung sein, die Österreich aus einem demokratisch-parlamentarischen in einen ständischen Bundesstaat verwandeln will, aber immerhin wird er die Bedeutung des wichtigsten Schrittes zu dieser neuen Verfassung, des wichtigsten Vorbereitungsaktes haben. Denn am ersten Mai soll jenes Verfassungsgesetz in Kraft treten, mit welchem das bisherige höchste Staatsorgan, der vom ganzen Bundesvolk gewählte Nationalrat, abdankt und einem neuen autoritären Gesetzgebungsorgan Platz macht, in dem die ganze gesetzgebende Gewalt, ja mehr noch, die verfassungsgebende Gewalt unseres Staates, konzentriert sein wird. Und so hat dieses auf den ersten Blick unscheinbare Ermächtigungsgesetz vom 30. April die denkbar weitestgehende verfassungsrechtliche Tragweite: Es liquidiert die verfassungsgeschichtliche Entwicklung Österreichs seit dem Jahr 1848, freilich nicht, um endgültig einen neuen Absolutismus zu etablieren, sondern mit der Promesse, daß das Volk nach einer so kurz wie möglich bemessenen Übergangsfrist in anderen als den seit 1848 angestrebten und verwirklichten Formen, nämlich in ständischer Gliederung, an der Staatswillensbildung Anteil erhalten werde. Die verfassungsgeschichtliche Rolle dieses Ermächtigungsgesetzes, derzufolge man nicht ohne Grund den Tag seines Inkrafttretens als den Geburtstag des ,,neuen Österreich" deutet, gibt schon diesem Gesetze für sich allein und um so mehr jener Verfassungsurkunde, die es sanktioniert, den Charakter einer Gesamtänderung der bisherigen Verfassung. Der bekannte Entstehungsweg der neuen Verfassung bedingt, daß sich unser Land dem als endgültig betrachteten Verfassungszustand nur in Etappen, und zwar in mindestens zwei Etappen, nähert. Schon die mit der

Wiener Neueste Nachrichten vom 1. Mai 1934, S. 1-2.

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Kundmachung des Ermächtigungsgesetzes vom 30. April geschaffene Rechtslage bedeutet die endgültige Aufhebung der parlamentarischen Demokratie und ihre programmgemäße Ersetzung durch eine Art Übergangsdiktatur. Diese dürfte in einer zweiten Etappe ihres Bestandes, durch das im Artikel 182 der neuen Verfassungsurkunde angekündigte „Bundesverfassungsgesetz betreffend den Übergang zur ständichen Verfassung" zwar den Formen der endgültigen Verfassung angenähert werden, aber in ihrem Wesen unveränder bleiben. Das Inkrafttreten der ständischen Verfassung selbst hat sodann einen neuen Wandel der Staatsform zur Folge, nämlich die Ersetzung der als bloße Durchgangsform des Staatslebens gedachten diktatorischen durch eine neue Gestalt der konstitutionellen Republik. Die Endgestalt der laufenden Verfassungsentwicklung soll also immerhin mit dem bisherigen Verfassungszustand dank der Erneuerung einer konstitutionellen Mitherrschaft der Bevölkerung mehr Ähnlichkeit haben, als der in sich wiederum gegliederte Übergangszustand. Ja, die Einsicht in die Relativität der Staatsformen offenbart selbst zwischen dieser diktatorischen Übergangsverfassung und ihrer unmittelbaren Vorgängerin, von der sie wie durch eine Welt getrennt sein will, eine höhere politische Einheit: denn diese, wie viele andere Verfassungsformen liegen zwischen den beiden Polen der verfassungspolitischen Skala, die einerseits durch absolut autoritätslosen Anarchismus, anderseits den extrem autoritären, aber die Staatsautorität in kulturfeindlichem Sinn mißbrauchenden Bolschewismus gekennzeichnet sind. Ein geschichtliches Urteil wird denn auch der Bundesverfassung die eine Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, daß sie von der großen Mehrzahl ihrer ursprünglichen Bejaher als Ablehnung des in ihrer Entstehungszeit nicht ungefährlich drohenden Bolschewismus gedacht war und auch zu dessen Abwehr gedient hat. Die Abkehr von der Bundesverfassung bedeutet, rechtsvergleichend gesehen, daß Österreich die gewissermaßen verwandtschaftlichen Beziehungen zu der westeuropäischen oder richtiger gesagt nordeuropäischen Staatengruppe abbricht, und nun auch verfassungspolitisch in jenen mitteleuropäischen Staatenkreis eintritt, in den es naturgemäß seit jeher auch in anderer Hinsicht eingeschlossen ist. Die parlamentarische Demokratie hat sich gewissermaßen an die Peripherie Europas zurückgezogen, von der sie ehedem ihren Ausgang genommen hatte und wo sie auch heute noch, repräsentiert namentlich durch England, die skandinavischen Staaten, die Niederlande und Belgien, ihre hauptsächlichsten und stabilsten Sitze hat;

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Frankreich mit seiner unvergleichbar wechselvollen politischen Geschichte würde besser nicht als Schulbeispiel der parlamentarischen Demokratie benützt werden. Gerade an den genannten Vergleichsstaaten zeigt sich auch am deutlichsten, welche Stabilisierungsmittel und retardierenden Kräfte den unvermittelt proklamierten beiden deutschen Demokratien gefehlt haben: es waren dies das monarchische Prinzip und die Tradition einer langen, folgerichtigen demokratischen Evolution. Der neue Verfassungszustand Österreichs weist, unbeschadet einer verschiedenen politischen Ideologie, institutionell eine unverkennbare Parallele mit der Verfassungsrechtslage des heutigen deutschen Reiches auf; der Hauptunterschied liegt bloß darin, daß das reichsdeutsche Recht neben der Regierungsgesetzgebung die Möglichkeit der parlamentarischen Gesetzgebung offengelassen hat, wogegen in Österreich bis auf weiteres ausschließlich der Weg autoritärer Rechtsetzung offensteht. Der künftige Verfassungszustand dürfte - insolange die Frage der endgültigen Deutschen Reichsverfassung offen ist - in der italienisch-faschistischen Verfassung sein nächstverwandtes Vergleichsobjekt finden, wobei gewiß eine beträchtliche Reihe spezifisch österreichischer Eigentümlichkeiten, die namentlich in der Übernahme der Einrichtungen bisheriger österreichischer Verfassungen ihren Ursprung haben, nicht übersehen werden soll. Es wäre vermessen, über die vorliegende Verfassungsurkunde, deren Inhalt das künftige österreichische Staatsrecht ausmachen soll, zur Stunde, sei es im positiven oder negativen Sinn, ein abschließendes fachwissenschaftliches Urteil abzugeben. Das Produkt eines monatelangen Arbeitens, Bosseins und Ausfeilens am Tage seines Erscheinens in allen seinen Einzelheiten zu überschauen, ist auch einem an zahlreichen geschichtlichen und gegenwärtigen Verfassungen geschulten Blick schlechterdings unmöglich. Der erste Eindruck des vorliegenden Werkes ist wohl für jeden, der nicht faktiös urteilt, unvorgreiflich der Beurteilung des Verfassungsinhaltes, der einer überaus gründlichen und auch sachverständigen redaktionellen Arbeit, die gewiß dank ihrer langen Reifezeit Entgleisungen von jener Art, wie sie gelegentlich bei überhasteten Novellierungen des Bundesverfassungsgesetzes unterlaufen sind, - man denke beispielsweise an die unbewußte und unbeabsichtigte Erklärung der Wiener Hochquellenleitungen zu verfassungswidrigen Einrichtungen! - vermieden hat. Die Redaktoren haben jedenfalls gut daran getan, daß sie sich trotz der Ausweitung und Umbiegung des Rechtsstoffes an das theoretisch wohlfundierte System des Bundesver18 A. J. Merkl

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fassungsgesetzes gehalten und auch, soweit nicht politisch neue Lösungen erstrebt wurden, im großen und ganzen dessen Text übernommen haben, womit man das Urteil über die Technik dieses Verfassungswerkes vom Urteil über seinen Inhalt unabhängig gemacht hat. Ihrem Inhalt nach verstärkt die vorliegende Verfassungsurkunde den schon durch den ersten Inhaltsauszug erweckten Eindruck des Überwiegens des autoritären Zuges über die beiden anderen Baugesetze, die ihr zugrunde liegen, nämlich das föderalistische und das ständische Prinzip. Die Verfassung ist ein in sich durchaus folgerichtiges Kompromiß der drei genannten Ideenrichtungen, die einander weder kongruent, noch auch parallel sind. Je mehr das autoritäre Prinzip in dem Sinn, wie es von den Kodifikatoren verstanden wird, Herrschaft von einer gewissermaßen in sich selbst beruhenden persönlichen Staatsspitze aus - durchgebildet ist, desto weniger ist in derselben Verfassung für das föderative und ständische Prinzip Raum und umgekehrt. Das zugleich auf Staatsautorität, ständischen und föderativen Charakter abzielende Verfassungsprogramm präjudiziert eben nicht dem Mischungsverhältnis dieser drei Prinzipien, so daß auch bei grundsätzlicher Bejahung der drei Baugesetze der Verfassungsurkunde verschiedene Auffassungen über die Zweckmäßigkeit ihrer Durchführung und Dosierung möglich sind. So können beispielsweise grundsätzliche Vertreter des ständischen Gedankens finden, daß der starke autoritäre Einschlag in der Gesetzgebung, wonach die Regierung das entscheidende Gesetzgebungsorgan ist und ein Gesetzgebungskollegium die Rolle eines gewiß nicht paritätischen Faktors der Gesetzgebung spielt, den ständischen Anteil an der Staatswillensbildung allzu sehr einenge; denn das Mißtrauen, das sich in der Versagung der Gesetzesintitiative und Gesetzeskorrektur äußert, richtet sich im System der neuen Verfassung nicht gegen parlamentarische, sondern gegen ständische Organe. Schon Freiherr vom Stein, ein im tiefsten Grunde konservativer und autoritär gesinnter Staatsmann, meinte in einem seiner bedeutenden Gutachten: ,,Will man das Recht, auf Gesetze anzutragen, allein der Regierung erteilen, so benimmt man der Nationalversammlung einen der wesentlichsten Vorteile ihrer Einrichtung, den Einfluß auf das Fortschreiten der Gesetzgebung im Verhältnis des jedesmaligen Zustandes der bürgerlichen Gesellschaft." Mit solchen und manchen anderen lehrreichen Ansichten vermeinte vom Stein, der von ihm erstrebten Stärkung und Konsolidierung Preußens und Deutschlands zum Endkampf mit Napoleon durchaus nicht bedrohlich zu werden, sondern im Gegenteil dienlich zu sein. Die außerordentliche Konzentration von Kompetenzen in der Hand des Bundespräsi-

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denten und der Bundesregierung verwischt auch die traditionelle Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, die schon die so gemäßigte, gegenüber den Ergebnissen der französischen Revolution so skeptische Staatsdoktrin des klassischen Idealismus geradezu als Palladium der bürgerlichen Frieheit hingestellt hatte; man denke nur an die Definition der bürgerlichen Freiheit und des Despostismus bei Kant, der in seinem institutionellen Programm gewiß viel eher an Montesquieu als an Rousseau orientiert war. Diese Beispiele, die an der Hand selbst einer unzweifelhaft konservativen Staatsliteratur beliebig vermehrt werden könnten, eröffnen die Möglichkeit einer immanenten Entwicklung der Verfassung, mit der sie ihren selbstgesetzten und im Proömium so schön zum Ausdruck gebrachten Richtlinien durchaus treu bleiben würde. Denn ebensowenig wie die Bundesverfassung das letzte Wort im Verfassungsleben Österreichs sein konnte, kann und wird dies die jüngste Verfassung unseres Staates sein. Eine solche geschichtlich begründete Prognose legt es nahe, von vornherein auf die organischen Entwicklungsmöglichkeiten einer Verfassung Bedacht zu nehmen. Der Nationalrat hat der Verfassungsurkunde die rechtliche Sanktion erteilt, wobei an die wissenschaftliche Frage, ob die erstrebte Rechtskontinuität voll gewahrt worden ist, an dieser Stelle unerörtert bleiben muß. Die notwendige politische Sanktion des Verfassungswerkes wird aber erst in seiner praktischen Bewährung liegen, die wiederum davon abhängig ist, daß es die innere Zustimmung der Volksgenossen gewinnt. Der bedeutendste christliche Staatsphilosoph Thomas von Aquin hat für das Staatsleben den Erfahrungssatz ausgesprochen, der wahrhaft aristotelische Weisheit verrät: ,,Νοη potest enim diu conservari, quod votis multorum répugnât." In freier Übersetzung: Nichts hat Bestand, was dem Willen des Volkes widerspricht.

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Das berufsständische Prinzip in der neuen österreichischen Verfassung Im Gegensatz zu alten Verfassungen, die nur ein Baugesetz enthalten, z.B. die absolute Monarchie das autoritäre Prinzip, enthalten moderne Verfassungen, und insbesondere die österreichische Bundesverfassung 1920 und 1934, eine Vielheit von Baugesetzen. Mit Ausnahme des berufsständischen Prinzipes sind sämtliche Baugesetze der Verfassung 1934 schon in der Verfassung 1920 enthalten, nur ihre Dosierung und die Technik ihrer Kombination ist verschieden. Das föderalistische und das berufsständische Prinzip werden nun nicht nur deswegen in den Vordergrund gestellt, weil sie in der Präambel und in Art. 1 und 2 der Bundesverfassung betont werden, sondern weil sie sich durch die ganze Verfassung als Abschwächung des autoritären Prinzipes ziehen. Die Rolle des berufsständischen Prinzipes kann daher nur im Zusammenhang mit dem autoritären verstanden werden, wobei aber bemerkt werden muß, daß das berufsständische Prinzip nicht notwendig das autoritäre als Ergänzung verlangt, sondern daß die Kombination der beiden Prinzipien in unserer Verfassung historisch bedingt ist. Die Betonung des Christlichen in der Präambel findet ihre Durchführung im Ständegedanken. Gerade das Antiabsolutistische liegt der christlichen Staatsidee näher als das Absolutistische. Die ersten Vertreter von Grundund Freiheitsrechten finden sich ja im theologischen Schrifttum. Das ständische Prinzip bedeutet gerade den Durchbruch der Selbstverwaltung, der Autonomie, gegenüber der vom Gewaltunterworfenen unabhängigen Willensbildung, der Heteronomie, welche dem autoritären Prinzip eigen ist. Es werden die ständische Gesellschafts- und die ständische Staatsordnung oder kürzer Ständeordnung und Ständestaat unterschieden. Gemeinsam ist beiden der ständische Charakter, verschieden ist dessen Erscheinungsform, im ersten Fall das Sozialleben, im zweiten Fall der Staatsappa-

Anwalts-Zeitung, 12. Jg. (1935), S. 67-70.

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rat. Unter „ständisch" versteht man nun die Zusammenfassung einer Gruppe von Menschen, die durch gewisse gemeinsame Merkmale verbunden sind. Die berufsständische Gliederung unterscheidet sich von der nach Gebietskörperschaften dadurch, daß bei ihr persönliche Beziehungen das konstitutive Element sind, während bei letzterer Wohnsitz oder Aufenthalt in einem Territorium, also eine örtliche Beziehung maßgebend ist. Die historischen Stände waren neben dem Monarchen Träger der Staatsgewalt. Die moderne Staatsrechtslehre deutet dies allerdings nicht im Sinne einer dualistischen, einer geteilten Staatsgewalt, sondern bloß als Beschränkung der monarchischen Gewalt, und faßt die Verwaltungsbefugnisse der Stände als Selbstverwaltung auf. Die historischen Stände waren nicht Berufsstände, vielmehr waren es verschiedene Momente, welche die Zugehörigkeit zum Stand bewirkten, wie die Geburt (hoher und niederer Adel), das Amt (Prälaten) oder die Zugehörigkeit zu einer Gebietskörperschaft (Bürger und Bauern). Man spricht wegen ihrer Funktion als Teilhaber der Staatswillensbildung von politischen Ständen. Im Gegensatz zu diesen historischen Ständen geht die moderne Ständeliteratur vom Berufsstand aus. Ignaz Seipel spricht von der Zusammenfassung aller in einem Produktionsprozesse von unten bis oben Tätigen, also von einer Ständebildung nach der vertikalen Gliederung. Ebenso schränkt die Enzyklika „Quadragesimo anno" den Ständebegriff auf den Berufsstand ein und hofft durch die ständische Solidarität den Klassenkampf zu überwinden. Inwiefern ist das berufsständische Prinzip in der Verfassung 1934 verankert? Die Präambel spricht von einem Bundesstaat auf ständischer Grundlage, Art. 2 von einem ständisch geordneten Bundesstaat. Hiebei geht Art. 2 in seiner Tragweite über die Präambel hinaus, da „Grundlage" auch als etwas Außerrechtliches, rein Soziales aufgefaßt werden kann, während „geordnet" bedeutet, daß die Rechtsordnung die ständische Idee rezipiert und zu ihrem Bestandteil macht. Zwischen dem föderalistischen und dem berufsständischen Prinzip besteht das Gemeinsame, daß beide eine Dezentralisation der Staatswillensbildung darstellen; es ist ebenso möglich, daß die Staatsfunktionen zwischen einer Mehrzahl von Gebietskörperschaften, nämlich einer zentralen Autorität und einer Reihe von Gliedstaaten geteilt werden, wie zwischen einem Gesamtverband der Staatsbürger und einer Mehrzahl von bestimmten Personenverbänden. Die Dekonzentration kann

Das berufsständische Prinzip in der neuen österreichischen Verfassung

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aber auch in Form einer Kombination von Gebietskörperschaften und Personenverbänden erfolgen. Dies ist der Fall in unserer Verfassung. Sie bezeichnet zwar Österreich nicht in gleicher Weise als Ständestaat wie als Bundesstaat, setzt also das berufsständische Prinzip formal hinter dem föderalistischen zurück, in Wahrheit aber setzt sie dem berufsständischen Prinzip weniger Hemmungen entgegen als dem föderalistischen. Das ständische Prinzip ist in der Verfassung dadurch verankert, daß einerseits die Stände unter Aufsicht der Berufskörperschaften ein Eigenleben führen, andererseits an der Willensbildung der Gebietskörperschaften durch Delegierte aus ihrer Mitte teilzunehmen haben. Dieses Ergebnis zeigt aber erst die juristische Interpretation; auf den ersten Blick macht der Beobachter die verblüffende Feststellung, daß den Ständen nicht wie den Ländern ein eigenes Hauptstück in der Verfassung zugewiesen ist, sondern daß die auf sie bezüglichen Bestimmungen in den verschiedenen Hauptstücken verstreut sind. Die wesentlichen Bestimmungen sind in Art. 32 (im Hauptstück: Allgemeine Rechte der Staatsbürger) und in Art. 48 Abs. 4 (Weg der Bundesgesetzgebung) enthalten. Es ist auffallend, daß gerade das universalistische Ständeprinzip im Anhang an das extrem liberale der freien Berufswahl geregelt ist. Diese Artikel enthalten bloß Normativbestimmungen, antworten nur auf einzelne Fragen, während eine Reihe von Fragen der einfachen Gesetzgebung überantwortet ist. So beantwortet die Verfassung die in der Literatur entstandene Streitfrage, ob die Stände Körperschaften sind (die Literatur faßt hiebei Körperschaft meistens nicht im juristischen, sondern im soziologischen Sinn auf), daß die Stände Körperschaften öffentlichen Rechtes, nicht bloße Privatrechtssubjekte sind. Sie sind auf dem personellen Prinzip beruhende Selbstverwaltungskörper, wie wir sie schon in den Arbeiter- und Handelskammern, Rechtsanwalts- und Ärztekammern kannten, sie sind aber nicht eine bloße Repräsentation, sondern die Zusammenfassung aller Berufstätigen. Der Selbstverwaltung entspricht die in Art. 32 Abs. 3 mit dem Worte „Satzungen" bezeichnete Verordnungsgewalt, wobei das Wort „Satzung" nicht glücklich gewählt ist, da dadurch der Anschein eines in Wahrheit nicht bestehenden Unterschiedes zu den Verordnungen der Gebietskörperschaften erweckt wird. Die Selbstverwaltung der Stände unterscheidet sich dadurch von der lex generalis über die Selbstverwaltung (Art. 11), daß im Art. 32 nur die Aufsicht, nicht aber wie im Art. 11 auch die Leitung des Staates vorgesehen ist, entspricht daher einer wahren Selbstverwaltung.

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Dagegen läßt die Verfassung drei Fragen im wesentlichen unbeantwortet, nämlich wie die Stände ins Leben gerufen werden sollen, wie sie zusammenzusetzen sind und was ihr Wirkungskreis zu sein hat. In der Literatur werden zwei Ansichten vertreten, die eine, daß die Stände sich organisch zu entwickeln haben und die andere, daß der Staat die Stände durch bewußten Kreationsakt erst zu schaffen habe. Die österreichische Gesetzgebung hat sich für die zweite Ansicht entschieden und die Stände bewußt durch Gesetz geschaffen. Was die Zusammensetzung der Stände betrifft, so schweigt Art. 32 darüber. Der Ständegedanke soll nicht dazu dienen, neue Zäsuren zu schaffen, sondern bestehende zu verschließen. Es sollen daher nur diejenigen Berufe zu einem Berufsstand zusammengefaßt werden, zwischen denen schon ein bestimmter Zusammenhang besteht, der vom Gesetze nur auszugestalten ist. Die Verfassung hat nun trotz der vielfach unklaren und unpraktischen Vorschläge der Literatur in Art. 48 Abs. 4 die denkbar klarste und durchsichtigste Gliederung getroffen, und zwar in Land- und Forstwirschaft, Industrie und Bergbau, Handel und Verkehr, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen, freie Berufe und öffentlichen Dienst. Hinsichtlich des Wirkungskreises der Stände stehen sich in der Literatur radikal etatistische und radikal antietatistische Auffassungen gegenüber. Vertreter der letzteren Richtung hoffen, den Gebietskörperschaften einen Großteil ihrer Agenden abnehmen und sie den Ständen übertragen zu können, der Praktiker wird aber schrittweise und zögernd vorzugehen haben. Die Verfassung spricht nur ganz allgemein von ,,berufseigenen" Angelegenheiten, gibt daher eine unpräjudizielle Blankettnorm. Die Absicht, den Ständen in Standesangelegenheiten die uneingeschränkte Gesetzgebung zu überlassen, übersieht die Tatsache, daß diese ja nicht nur die Standesgenossen, sondern meist auch den im Stande nicht vertretenen Dritten trifft. Daher hat die österreichische Gesetzgebung den Ständen nicht die Gesetzgebung überlassen, sondern den Gebietskörperschaften vorbehalten und ihren Einfluß auf die Gesetzgebung durch das Recht, Mitglieder in die Gesetzgebungsorgane zu entsenden, gewährleistet. Gewisse, das Gemeininteresse besonders berührende und personell überhaupt nicht abgrenzbare Verwaltungstätigkeiten, wie Straßenbau, Heerwesen und Polizei könnten ebenfalls den Ständen nicht überlassen werden.

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Daß die Stände durch Entsendung von Vertretern an der Gesetzgebung teilnehmen, gehört gar nicht zum Wesen des ständischen Prinzipes. Die österreichische Gesetzgebung hat die strittige Frage, mit welcher Zahl von Vertretern jeder Stand zu vertreten sein hat, autoritär unter Rücksichtnahme auf die Zahl der in den einzelnen Ständen Berufstätigen festgesetzt. Dies war der einzig mögliche Weg, da ein Kompromiß unter den Ständen nicht zu erzielen gewesen wäre, wie es das Beispiel des Reichswirtschaftsrates in Deutschland gezeigt hat. Das berufsständische Prinzip ist nun einerseits durch das demokratische, andererseits durch das autoritäre Prinzip eingeschränkt. Demokratisch ist in der Verfassung die Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Ausschluß des imperativen Mandates, ferner daß bei der Festsetzung der Zahl der Ständevertreter auf die Zahl der im Stand Berufstätigen Rücksicht genommen wurde. Daß es in den Gesetzgebungsorganen Abstimmung und Wahl gibt, ist nicht eine Folge des demokratischen Prinzipes, sondern eine notwendige Voraussetzung der Willensbildung eines Kollegialorganes. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der grundsätzliche Anspruch der Haftpflicht der Staatsorgane, die Trennung der Justiz von der Verwaltung, der Anklageprozeß und die Laienbeteiligung im Strafprozeß, schließlich die Anerkennung der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Aufzählung der allgemeinen Rechte der Staatsbürger sind nicht so sehr demokratisches, wie liberales Gedankengut. Jetzt herrscht infolge des Ermächtigungsgesetzes vom 30. April 1934, wonach der Bundesregierung das Recht der einfachen und der Verfassungsgesetzgebung zusteht und welches gemäß § 56 des Verfassungsübergangsgesetzes bis zum Ablauf der Funktion der gegenwärtigen ernannten Mitglieder des Bundeswirtschafts-und Bundeskulturrates bestehen bleibt, das autoritäre Prinzip bei weitem vor. Aber auch nach Wegfall des Ermächtigungsgesetzes bleiben in der definitiven Verfassungsurkunde viele autoritäre Bestandteile, wie das ausschließliche Recht der Bundesregierung zur Gesetzesinitiative, die Notgesetzgebung usw. Der Ständestaat bedeutet die Indienststellung der Stände für die Bildung des Staatswillens. Hiefür ist nicht notwendig, daß die Stände alleinbestim-

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mend, sondern nur daß sie mitbestimmend sind. Der Ständestaat kann also ein autoritärer sein, wenn die Stände nur eine Lockerung des autoritären Prinzips mit sich bringen, oder er ist als demokratischer Ständestaat möglich, in welchem die Stände in einer zweiten Kammer auf die erste, nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht gewählte Kammer hemmend einwirken. Österreich ist sonach als autoritärer Ständestaat zu kennzeichnen. Die Entwicklung kann aber dahin gehen, daß sich der Schwerpunkt vom Autoritären zum Ständischen verschiebt. Ebenso wie im Jahre 1918, wo der Marxismus theoretisch und praktisch völlig unvorbereitet zur Herrschaft kam, ist derzeit auch der Ständegedanke noch nicht völlig erörtert, die politische Realisierung ist von Improvisationen abhängig. Da aber die praktische Realisierung des Ständegedankens die bedeutendste und originellste Neuerung der Verfassung 1934 bedeutet, so kann die Wissenschaft gewiß mit mehr Berechtigung von einem Ständestaat Österreich als von einem Bundesstaat sprechen.

Die Baugesetze des österreichischen Staates Die politische Umwälzung Mitteleuropas steht bei aller Gegensätzlichkeit der die neue Ordnung gestaltenden Ideologien und dem schon nicht mehr so weit getriebenen Unterschied der Institutionen doch unter der Herrschaft des einen gemeinsamen Leitmotivs: Verlagerung des Schwergewichtes des Staatslebens vom Einzelnen auf die Gemeinschaft, Verdrängung der plebiszitären durch eine autoritäre, d.h. nicht durch die Zustimmung der Untertanen bedingte Staatswillensbildung. Unbestrittenermaßen ist dies der Charakterzug des Faschismus und Nationalsozialismus, zweier politischer Grundrichtungen, die hierin im Nachkriegseuropa einen ideologischen Antipoden, nämlich den Bolschewismus, zum Vorläufer und Vorbild hatten. Dutzende offizielle Kundgebungen, die den Sinn des heutigen österreichischen Regimes gedeutet haben, lassen aber auch keinen Zweifel, daß Österreich in gewissem Sinn den Anschluß an diese Staatengruppe vollzogen hat. Denn die Leitgedanken der Verfassung 1934 sind: Unbedingte Unterordnung des einzelnen unter die Gemeinschaft, Prinzip der selbstverantwortlichen, an Stelle der plebiszitär oder repräsentativ delegierten Staatsführung. Das bedeutet den Übergang von der bei uns ungenau westlich genannten, in Wirklichkeit von Finnland über Skandinavien, England, Frankreich nach Spanien reichenden, durch die Schweiz noch immer nach Mitteleuropa vorgeschobenen Staatengruppe zur zentral- und osteuropäischen Staatskonstruktion. Zwar hat auch die heutige österreichische Staatlichkeit durch die programmatische Zielgebung eines Stände- und Bundesstaates sich grundsätzlich den antiautoritären (darum selbstverständlich noch nicht autoritätslosen) ,,westlerischen44 Staat zum Vorbild gesetzt, dessen Typus Österreich vom ersten Verfassungs versuch des Jahres 1848 bis zu der technisch vollendetsten Verfassung des Jahres 1920 in steigenden Vollkommenheitsgraden zu verwirklichen versucht hat. Dem Gedanken der Aufspaltung der Staatswillensbildung in eine Mehrzahl von Willensrichtungen (als der Eigenart

Der österreichische Volkswirt, 1936, S. 303-305.

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der föderalistischen Dezentralisation) und dem Gedanken der Mitbestimmung der Untertanen an der Staatswillensbildung ist nun in der besonderen Technik der Berufsständevertretung Raum gegeben. Aber die Verfassung macht den autoritären Zug doch zur Dominante des Staatslebens, neben der das Ständische und Föderative nur gewissermaßen als sordinierte Töne mitschwingen, die durch die neben der konstitutionellen wahlweise offenstehende rein autoritäre Gesetzgebung im Sinne des Ermächtigungsgesetzes nach Ermessen der Regierung ganz ausgeschaltet werden können. Das staatspolitische Konzept hat somit die Brücke zur österreichischen Vergangenheit der letzten Menschenalter und damit zum konstitutionellen und dezentralisierten Staat gewiß nicht abgebrochen. Die als Übergangszustand funktionierende Staatsverfassung steht aber ebenso gewiß dem rein autoritären Staatstypus um vieles näher als seinem Gegenspiel. Übrigens bedeutet auch das Anerbieten der österreichischen Regierung an die Schweiz, die heute noch am reinsten den liberal-demokratischen Staatstypus repräsentiert, eine Absage an jene politischen und wissenschaftlichen Kreise, die der sogenannten formalen Demokratie jede Möglichkeit von Kultur absprechen, und eine Kundgebung des Willens, mit beiden Staatengruppen kulturelle Beziehungen aufrechtzuerhalten. Rezipierter Rechtsstoff Dieses fast rein autoritäre Österreich steht aber mehr als irgend ein autoritärer Staat der Gegenwart dem Typus des totalen Staates fern. Und zwar nicht bloß deswegen, weil in einem hochentwickelten interventionistischen Staat die Staatsumwälzung keinesfalls mit allen überkommenen Institutionen aufräumen kann, sondern sich vorläufig mit der Erneuerung der verfassungsmäßigen Grundlagen bescheiden und die Anpassung der sonstigen Rechtseinrichtungen an die neue politische Ideologie einem günstigeren Zeitpunkt vorbehalten muß und nur in einer schrittweisen Staatsreform verwirklichen kann. In einem Staat mit häufigem politischem Systemwechsel, wie ihn insbesondere seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts Frankreich, seit dem Revolutionsjahr 1848 aber auch Österreich erlebt hat, finden wir unter der Decke der Verfassung Schichten von rezipiertem Rechtsstoff aus verschiedenen Verfassungsären, die, vergleichbar geologischen Schichten, übereinander gelagert sind. Wenn auch die offizielle Politik und Jurisprudenz diesem rezipierten Rechtstoff einen der zur Herrschaft gelangten neuen Staatsideologie entsprechenden neuen Sinn zu geben ver-

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sucht, wodurch das Beharrungsvermögen dieser aus fremden Ideologien stammenden Rechtsbestandteile gesteigert wird, so kann doch nicht die mosaikartige Struktur einer solchen von Umbruch zu Umbruch fortgeerbten Rechtsordnung weginterpretiert werden. Und da eben das geschichtliche Österreich nicht erst seit der Revolution des Jahres 1918, sondern schon seit den Konstitutionen der Jahre 1861 und 1867, ja selbst schon seit den Konzessionen des Absolutismus an den politischen Individualismus im 18. und 19. Jahrhundert mit Institutionen individualistischen Gepräges durchtränkt wurde, zeigt sich dem geschichtlich geschulten Beurteiler der scheinbar unausgeglichene Gegensatz zwischen einer autoritären Verfassung und einer mit individualistischem Geist durchtränkten Rechtsordnung. Der Rechtsstaat Schon der Rechtsstaat an sich ist eine Erfindung des politischen Individualismus. Denn er entspringt der einzelmenschlichen Skepsis gegen das staatliche Kollektivum und sucht diesem Zügel anzulegen, die Zügel des Rechtes. Der Rechtsstaat macht das staatliche Handeln von der Bedingung abhängig, daß der Staat zu seinem Handeln gesetzlich ermächtigt sei, und läßt auch dieses Handeln nur in der Weise zu, die das Gesetz vorhergesehen hat. Zugleich wird dieses Handeln von der Mitbestimmung des Untertanen abhängig gemacht, da das Gesetz im Rechtsstaat Ausdruck des von einer Volksvertretung ausgesprochenen Volkswillens ist, und die Gerichtsbarkeit und Verwaltung nichts als Vollziehung des Gesetzes sind. Das Individuum hat dem Staat in seinem Interesse wortwörtlich das Gesetz seines Handelns vorgezeichnet: das ist der Rechtsstaat, der seinen geschichtlichen Vorgänger, den Polizeistaat, eine Spielart des autoritären Staates, überwunden hat. Die dieserart gezügelten und nach dem Rezept des Rationalismus vorhersehbar und berechenbar gemachten Erscheinungen der Staatsautorität haben viel von ihrem Nimbus verloren. Der Staat ist profaniert, die Staatsautorität denn auch dieser Staatstypus ist, wie seine heutigen Repräsentanten namentlich England, Frankreich und die Schweiz zeigen, nicht einfach autoritätslos - beruht auf dem latenten und periodisch aktualisierten Konsens seiner Untertanen. Der so entstandene und gestaltete Rechtsstaat wurde mit dem Wandel der politischen Ideologie nicht einfach über Bord geworfen, sondern grundsätzlich auch vom autoritären Staat rezipiert. Diese Rezeption einer fremden

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politischen Idee mochte in dem einen Fall in der Unkenntnis ihres indvidualistischen Ursprungs, im anderen Fall in der Einbürgerung dieser Idee im politischen Denken aller Schichten des Staatsvolkes ihren Grund haben. Der individualistische Ursprung des modernen Rechtsstaates wurde zugleich auch mitunter durch eine neue universalistische Sinngebung und durch eine Aushöhlung des individualistischen Begriffsinhaltes und Ausfüllung des so gewonnenen Leerraumes mit gegensätzlichem Denken entsprungenen Rechtsinstituten verdunkelt; die rechtswissenschaftliche Erkenntnis untersteht aber der Wahrheitspflicht, den individualistischen Ursprung des Rechtsstaates mit allen seinen inhaltlichen Attributen festzustellen und festzuhalten, gleichviel, ob der wissenschaftliche Beurteiler die Idee des Rechtsstaates bejaht oder verneint. Die Bestätigung dieses individualistischen Ursprunges des Rechtsstaates dokumentiert sich literarisch in der betonten Ablehnung der Forderung des Rechtsstaates und noch mehr seiner einzelnen Attribute, wie etwa der Bindung der Verwaltung an das Gesetz, noch dazu an ein solches, das von der Zustimmung der Untertanen abhängig gemacht ist, von Seiten der ehemaligen literarischen Anwälte des durch die Rechtsstaatsideologie bedrohten Autoritätsstaates. Rechtsmittel Die Skepsis des liberalen Bourgeois gegen den Staat begnügte sich jedoch nicht mit der Fesselung des Staatshandelns durch Handlungsregeln, an deren Erzeugung der Untertan mitzuwirken berufen wurde, sondern forderte darüber hinaus auch Sicherungen gegen die rechtswidrige und sogar gegen die zweckwidrige Anwendung dieser Rechtsregeln von Seiten des staatlichen Behördenapparates. Dieser individualistischen Forderung verdanken die meisten heute eingebürgerten Rechtsinstitute des Prozeßrechtes und der Verwaltungskontrolle ihren Bestand. Der folgerichtig etatistisch-universalistisch Denkende kommt gar nicht auf den Gedanken, daß das staatliche Handeln in den Formen der Justiz und Verwaltung irgend welchen Kautelen und Kontrollen unterworfen werden müsse, sondern hält das Staatsinteresse und, soweit er einem solchen Raum geben kann, auch das Privatinteresse in den Händen des staatlichen Organapparates in bester Hut. Nur der Individualist verfällt auf die Vorsichtsmaßregeln, den Gang des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens durch die Gewährleistung einer Intervention des Individuums im Interesse des Individuums zu beeinflussen. Erscheinungen einer rechtlich garantierten Intervention des Individuums im Prozeß sind,

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abgesehen vom Parteiantrag oder der Parteianklage, der Anspruch auf „rechtliches Gehör" im Verfahren, auf Akteneinsicht, auf Erledigung des Falles (Rechtsverweigerungsverbot), unter Umständen sogar der Anspruch auf eine befristete Entscheidung (Entscheidungspflicht im österreichischen Verwaltungsverfahren), die Begründungspflicht, welche die Bedeutung einer Rechtfertigung des Staatsaktes vor dem Untertanen hat, die Pflicht zur Rechtsmittelbelehrung, die dem Untertan die Bekämpfung des Staatsaktes erleichtern soll, ein ganzes System von Rechtsmitteln zur Verfügung der Partei, schließlich die Rechtskraft, derzufolge der von der Partei ,,erstritiene" Staatsakt von der Behörde nicht mehr widerrufen oder abgeändert werden darf. Dazu kommt die Verwaltungskontrolle in Gestalt der Verwaltungsgerichtsbarkeit, womit dem Untertan die Handhabe geboten wird, den Staat nicht bloß wie im Polizeistaat in Gestalt des Fiskus, sondern auch in Gestalt der Obrigkeit, der höchsten Verwaltungsbehörde, vor einer unabhängigen Instanz zu belangen. Diese objektive, gegen den vermeintlich rechtswidrigen Staatsakt gerichtete Kontrolle wird ergänzt durch das subjektive Kontrollmittel der Ministerverantwortlichkeit, der zufolge der für das rechtswidrige Handeln verantwortliche höchste Staatsfunktionär für die Rechtsverletzung persönlich mit strafrechtlichen Mitteln haftbar gemacht wird, und endlich in einzelnen Staaten durch eine zivilrechtliche Haftpflicht des schuldigen Staatsorgans für den Schaden, den der Untertan durch rechtswidriges Organhandeln erlitten hat: ein ganzes Arsenal rechtlicher Waffen, die individualistisches Denken dem Untertan gegen die offenbar mit größtem Mißtrauen bedachte Staatsgewalt zur Verfügung gestellt hat. Es bedarf indes keines umständlichen Nachweises, daß der Großteil dieser individualistischen Erfindungen, die übrigens teilweise schon der neuzeitliche Liberalismus als Erbe älterer individualistischer Rechtsepochen übernommen hatte, mit gewissen Adaptierungen - meist Abschwächungen, durch die diese Waffen des Individuums mehr oder weniger abgestumpft und für den Staat unschädlich gemacht werden - vom autoritären Staat rezipiert und seinem Rechtssystem assimiliert worden sind. Wiederum entweder infolge Unkenntnis des individualistischen Ursprungs oder weil diese Arabesken des Rechtsstaates für wesensnotwendige Attribute dieses Staatstypus angesehen worden sind, oder weil ein gewisses Minimum an individualistischen Einrichtungen von der öffentlichen Meinung einfach als selbstverständliches Existenzminimum einer wahren Rechtsordnung empfunden wird.

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Selbstverwaltung Auch der Pluralismus an öffentlichen Körperschaften, die einander ergänzen und - Konkurrenz machen, ist individualistisch gefordert und ideologisch im Individualismus begründet, wiewohl gerade eine moderne Richtung des Universalismus diesen Pluralismus an Körperschaften für sich reklamiert und als Überwindung der individualistischen Atomisierung der Staatsgesellschaft deutet. Der Geschichtskundige kann nicht leugnen, daß die tatsächlich vom Absolutismus infolge der Aushöhlung aller ständischen Einrichtungen bewirkte Atomisierung der Gesellschaft in deutschen Landen erstmals durch die Einrichtung der gebietskörperschaftlichen Selbstverwaltung überwunden wurde, die eine Forderung und ein Werk des Liberalismus gewesen ist. Ja, die Gemeindeautonomie hat gemäß der liberalen Ideologie hie und da, vor allem in der provisorischen österreichischen Gemeindeordnung des Jahres 1849, eine so überspannte, geradezu groteske Gestalt angenommen, daß es universalistisch eingestellte Staatsführungen begreiflicherweise als ihre Aufgabe angesehen haben, diese Überspanntheit auszumerzen. Auch dem sonstigen Organisationswesen gegenüber hat sich der Liberalismus nicht ablehnend verhalten, was schon in der Proklamierung des Grundrechtes der Vereinsfreiheit zum Ausdruck kommt, nur wurden nach dem Personalprinzip organisierte Körperschaften in der Regel nicht von staatswegen ins Leben gerufen, sondern ihre Gründung und ihr Bestand der Privatinitiative anheimgegeben. Nichts anderes fordern indes die päpstlichen Enzykliken ,,Rerum novarum" und „Quadragesimo anno" vom sozialen Organisationswesen. Auch kann nicht behauptet werden, daß die aus einer Stammesgemeinschaft erwachsene Siedlungsgemeinschaft, wie sie namentlich in der Gemeinde in Erscheinung tritt, eine weniger urwüchsige und organische Gemeinschaft darstelle, als irgend eine ständische Organisation. Auch im erneuerten Staats- und Gesellschaftsgefüge Österreichs bleibt die Gebietskörperschaft in Form von Bund und Ländern dem Personalverband, und zwar selbst in der heute bevorzugten Gestalt des Berufstandes, hierarchisch übergeordnet und kompetenzmäßig weit überlegen. Letzten Endes kulminieren alle Gebietskörperschaften und Personalverbände in einer höchsten Gebietskörperschaft, dem Staat.

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Staatszweck Unstreitig hat sich der moderne Staat, gleichviel ob autoritär oder demokratisch, im wesentlichsten Programmpunkt des Liberalismus von diesem am weitesten entfernt. Allenthalben überwunden ist die Beschränkung des Staats auf den sogenannten Rechtszweck, das heißt auf die Bewahrung der Ordnung und Sicherheit, die mit Recht am meisten zur moralischen Disqualifikation des Liberalismus beigetragen hat, weil er mit diesem Programmpunkt bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt, der Herrschaft des wirtschaftlich Starken über den wirtschaftlich Schwachen, der Ausbeutung und Klassenbildung schrankenlos Raum gegeben hat. Jeder Staat von heute würde sich schämen, ,,Nachtwächterstaat" zu sein. Jeder hat den Ehrgeiz, als Kultur- und Wohlfahrtsstaat wenigstens zu gelten. Und doch finden wir, selbst unter der Herrschaft einer entgegengesetzten politischen Ideologie und Staatsform, Strömungen des Anti-Etatismus, der Ablehnung staatlicher Intervention, der Beschränkung der öffentlichen Hand, die ihre Begründung ganz und gar dem Ideenkreis des Manchesterliberalismus entlehnen, hie und da offiziell gefördert. Individualistisches und universalistisches Rechtsgut Inwiefern dieses individualistische und im besonderen liberale Erbe auch in der österreichischen Rechtsordnung zutage tritt, ist jedem gebildeten Juristen bekannt. Und doch denkt niemand ernstlich daran, dieses Erbgut, nachdem es nun einmal im autoritären Staat Platz gefunden hat, auszumerzen. Wer würde beispielsweise ernstlich die Errungenschaften der österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze vom 21. Juli 1925 preisgeben, die unter anderm den Zweck des Ermittlungsverfahrens - als der Hauptetappe des Verfahrens - in echt individualistischer Weise dahin bestimmen, ,,den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben", eine Formel, die bekanntlich so wie der ganze individualistische Inhalt dieser Prozeßgesetzgebung die einstimmige Genehmigung des Nationalrates gefunden hatte. Selbst die ständisch-autoritäre Verfassung vom Jahre 1934 gibt noch einem so typischen Requisit des politischen Individualismus, wie es die zivilrechtliche Schadenshaftung der öffentlichen Körperschaften für fehlerhafte Verwaltung ist, wenigstens programmatisch Raum und verschiebt die Erfüllung dieses Programms nicht aus ideologischen, sondern aus fiskalischen Bedenken. Und auch im übrigen 19 A. J. Mcrkl

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ist der gewiß überwiegend autoritär-universalistisch gerichtete Verfassungsinhalt zum guten Teil durch individualistische Einschläge vorwiegend liberaler Herkunft ergänzt, wie ich in meiner Schrift: „Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" (Verlag Springer, Wien 1935) an nicht wenigen Stellen aus wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit festzustellen genötigt war. Was ist aber die Erklärung dieser scheinbaren Paradoxie, daß ein neues politisches System bei seinem wirklichen oder vermeintlichen geistigen Antipoden Anleihen macht? Die nächste Erklärung liegt darin, daß im Einzelemenschen und vollends im Staatsvolk Ideen und Institutionen nicht so reinlich geschieden sind, wie sie die theoretische Erkenntnis scheiden muß. Es leben gewissermaßen, wenn auch oft unbewußt, zwei politische Seelen in einer Brust: eine universalistisch und eine individualistisch fühlende. Was man an fremdem Ideengut willensmäßig bejaht, das sucht man eher umzudeuten als preiszugeben. Ein weiterer Erklärungsgrund für die Vereinigung individualistischen und universalistischen Gedankengutes in ein und derselben Rechtsordnung liegt darin, daß in der Übernahme bewährter und allgemein anerkannter Einrichtungen einer früheren Rechtsepoche ein unausgesprochenes Zugeständnis an die grundsätzlichen Anhängereiner früher herrschend gewesenen Ideologie gelegen ist; dies wird den stillschweigenden Konsens für die durch den Systemwechsel bedingten rechtlichen Neuerungen, in unserem Fall für die Ausflüsse des autoritären Prinzips erleichtern und fördern. Der letzte und tiefste Erklärungsgrund liegt aber darin, daß der Universalismus keine einheitliche Ideologie ist, sondern verschiedene Spielarten aufweist, die zum Teil in ihren Stellungnahmen zum Staate kraft ideologischer Notwendigkeit dem politischen Individualismus nahekommen. Das gilt namentlich von dem in Österreich ja geradezu dominierenden christlich-religiösen Universalismus, der etatistische und antietatistische Forderungen in durchaus folgerichtiger Weise in seinem Programm vereinigt. Und so findet sich im österreichischen Staatsgefüge ein weiser Ausgleich des einen mit dem anderen Universalismus, ja selbst ein verständnisvolles Kompromiß zwischen den beiden Gedankenwelten des Individualismus und Universalismus.

Die Führerstellung des Bundeskanzlers 1. Führerprinzip und Führerstaat Das Führerprinzip als ein scheinbar modernes, originelles Baugesetz des Staates kommt in den Staatsordnungen der beiden großen Nachbarstaaten Österreichs, einerseits des Deutschen Reiches, andererseits Italiens, in den Titeln führender Staatsorgane und in einer den Titeln adäquaten rechtlichen Stellung dieser Organe zum Ausdruck: Der „Führer und Reichskanzler" und der „Duce" sind stilreine rechtliche Realisierungen jener politischen Idee, die diesen ihren Repräsentanten den Namen gegeben hat, eben des Führerprinzips. Die österreichische Verfassung macht sich diese politische Idee nur zögernd zu eigen, und gibt ihr noch zurückhaltender Ausdruck. Bloß der Art. 81, der die Organisationsbestimmungen über die Bundesregierung einleitet, spricht von der „Führung": „ M i t den obersten Verwaltungsgeschäften des Bundes sind, soweit sie nicht dem Bundespräsidenten übertragen sind, der Bundeskanzler, der Vizekanzler und die übrigen Bundesminister betraut. Sie bilden in ihrer Gesamtheit die Bundesregierung unter der Führung des Bundeskanzlers." Der Bundeskanzler wird also - wenigstens nach dem Wortlaut der Verfassung - mit der Führung der Bundesregierung betraut. Das ist offenbar um vieles weniger als die Staatsführung. Staatsführung ist das Amt eines von der Verfassung berufenen Führers schlechthin. Diese Führerrolle wird aber von der österreichischen Verfassung weder dem Bundeskanzler, der gewiß das kompetenzreichste unter allen Einzelorganen unseres Staatswesens und in diesem Sinne das prominenteste Staatsorgan ist, noch einem anderen Organe ausdrücklich zugeteilt. Das Führerprinzip kommt somit nur versteckt und abgeschwächt zum Ausdruck. Allerdings hängt kein Amt von seiner rechtlichen Bezeichnung, sondern nur von seiner rechtlichen Gestaltung ab. Es kann ein Organ Staatsführer

Juristische Blätter, 65. Jg. (1936), S. 177-183. 19*

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sein, ohne daß es von der Rechtsordnung so genannt wird. Und in der Tat, ,,Staatsführer" ist gewissermaßen ein Modewort, jedenfalls ein zeitbedingter Ausdruck. Die Institution aber, die es bezeichnet, ist wahrhaftig keine Erfindung von heute, sondern ein Staatstypus vom Alter der Staatsgeschichte. Und somit ist auch das sogenannte Führerprinzip ein moderner Ausdruck für eine uralte Sache. Wenngleich aber die Rechtsstellung des Bundeskanzlers im System der autoritären Verfassung wesentlich höher gehoben ist, als es der bescheidene Ausdruck Führung an jener Stelle, an der er verwendet ist, erkennen läßt, so sind doch die weittragenden Folgerungen, die an diesen Ausdruck geknüpft werden, kaum im Inhalt der Verfassung begründet. Der Verfassungsinhalt berechtigt kaum zu dem Urteil, daß die Verfassung das Führerprinzip in jenem Sinne, wie es durch die Vorbilder der nationalsozialistischen und selbst der faschistischen Verfassung gangbar gemacht ist, verwirkliche und daß somit Österreich ein Führerstaat sei. Der Ausdruck Staatsführung kann selbstverständlich mit verschiedenen Begriffen verbunden werden. Legt man aber den Begriff zugrunde, der durch die heute so genannten Führerstaaten verwirklicht ist, so zeigt sich, daß nicht jede Staatsführung einen Anwendungsfall des Führerprinzips bedeutet. Kein Staat ohne Staatsführung, denn es ist kein Staat denkbar, in dem nicht bestimmte Organe letztlich für alles, was namens des Staates geschieht, bestimmend sind. Die Staatsführung in diesem Sinne kann, um nur die polaren Fälle als Beispiele zu nennen, ebensowohl bei der aus sämtlichen Bürgern zusammengesetzten Volksversammlung wie bei einem über sämtliche Untertanen emporgehobenen Herrscher liegen. Staatsführung in diesem Sinne bedeutet nur die höchste Kompetenz zur Staatswillensbildung und ist in der plebiszitären Demokratie nicht weniger als in der absoluten Monarchie anzutreffen, weil vom Staate als einer willensmäßig geleiteten Organisation nicht wegzudenken. Doch hat es offenbar keinen Sinn, darum schon jeden Staat einen Führerstaat zu nennen; das Führerprinzip will eine besondere rechtliche Technik der Staatswillensbildung wenigstens in deren höchsten Stufen verwirklichen, der Führerstaat will nicht ein jeder Staat, sondern ein Staat mit ausgezeichneter Staatsform sein. Nun kann man gewiß das Führerprinzip in verschiedenen Merkmalen verwirklicht sehen. Im politischen und juristischen Sprachgebrauch vermischt sich die Bedeutung des Führerstaates mehr oder weniger mit der des autoritären und selbst des totalitären oder totalen Staates. Sogar einen

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Sprachgebrauch, der diese Ausdrücke synonym verwendet, kann man nicht als falsch, sondern nur als unzweckmäßig erweisen. So viel steht fest, daß es unter der Fülle von Staatstypen mehrere gibt, von denen man ihrem rechtlichen Gehalte nach den einen als totalen Staat, den anderen als autoritären Staat und wiederum einen, von ähnlichen Staatstypen unterscheidbaren, in zweckmäßiger, insbesonder der Sprachdeutung entsprechender Weise als Führerstaat bezeichnet. Ein jüngst erschienenes geistreiches Buch über den autoritären Staat1 bezeichnet es als ,,eine falsch gestellte Aufgabe", ,,einen Begriff des totalen oder autoritären Staates zu bestimmen". Die Ausdrücke total und autoritär seien „politische Symbole, die nur zu verstehen sind aus einer bestimmten Kampfsituation, in der es darum geht, einen Zustand politischer Zersplitterung zu liquidieren und neue Autoritäten aufzurichten" (a.a.O., S. 53). Wenn aber auch die genannten Termini noch so stark im Flusse der politischen Entwicklung stehen, so steht doch jede wissenschaftliche Befassung mit ihnen und mit den Gegenständen, zu deren Bezeichnung sie verwendet werden, vor der Aufgabe, entweder nachzuweisen, daß diesen Termini als bloßen Schlagworten des politischen Jargons kein wissenschaftlich faßbarer Gegenstand in der Welt der politischen und rechtlichen Erscheinungen entspricht, und somit diese Ausdrücke aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu verweisen, oder diese Ausdrücke zu legitimieren und dann die ihnen zugeordneten Begriffe zu definieren. Im vorliegenden Zusammenhang ist selbstverständlich eine Auseinandersetzung mit den gangbaren Deutungen und Begriffsbestimmungen der genannten Begriffe ausgeschlossen, sondern nur - als theoretische Voraussetzung unserer Problemstellung - eine allgemeine Verständigung über die den vorligenden Ausführungen zugrunde gelegten Bedeutungen möglich und erforderlich. Mit den Worten total und autoritär werden in der Regel und so auch hier disparate Begriffe verbunden. Wenn man einen Staat total nennt, so denkt man immer irgendwie an seine Funktionen im Verhältnis zu den Funktionen der Gesellschaft, und lehnt eine grundsätzliche Grenzabscheidung zwischen

„Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem" von Prof. Erich Voegelin, Wien: Julius Springer 1936.

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Staat und Gesellschaft ab. Der Staat wird nicht einfach als omnipotent angesehen, denn potentiell stehen dem Staate auch im Sinne mancher nicht totalitären Staatsauffassung alle gesellschaftlichen Funktionen offen; der Staatszweck ist vielmehr als expansiv zu denken, und eine rechtliche Schrankenziehung, sei es nun zugunsten des Individuums oder anderer Gemeinschaften als der Staat selbst, wird abgelehnt. Somit ist die rechtliche Eigentümlichkeit des totalen Staates die rechtliche Schrankenlosigkeit der Intervention, wogegen der liberale Staat - der eigentliche Gegensatz des totalen Staates - dem Staatshandeln durch die Statuierung von Freiheitsrechten, durch die Bindung des Staates an die Gesetze usw., rechtliche Schranken zieht. Die Staatstotalität in diesem Sinne tritt also nicht in der Organisation, sondern in der Funktionsordnung, nicht im Wege der staatlichen Willensbildung, sondern in deren Inhalt in Erscheinung. Unter dem autoritären Staat versteht man meist jenen Staatstypus, wo die Willensbildung der staatstragenden Organe nicht durch die periodische Zustimmung und laufende Mitbestimmung der Untertanen bedingt ist, insbesondere aber auch die leitenden Organe nicht einer Übertragung von unten, sondern einer Selbstinthronisation oder einer Kreation von oben ihre Rechtsstellung verdanken. Das autoritäre Prinzip bedeutet sonach nicht die Selbstverständlichkeit, daß der Staat Autorität hat oder nicht - ein schlechthin autoritätsloser Staat ist schlechterdings undenkbar - , sondern bedeutet eine bestimmte Organisation und eine dieser organisatorischen Eigentümlichkeit entsprechende Willensbildung. Der Gegensatz des autoritären Staates ist sonach der demokratische Staat in dem international feststehenden Sinne dieses Wortes, nämlich der Staat, dessen Führung auf Delegation von Seite der Geführten beruht und von der periodischen Zustimmung der Geführten und laufenden Mitbestimmung abhängig ist. An diesem Gegensatz erweist sich der autoritäre Staat nur als Neuauflage des autokratischen Staates, wofern man Autokratie nicht mit Einherrschaft gleichsetzt und so als eine besondere Art des autoritären Staatstypus erscheinen läßt. Diese andeutende Feststellung des Bedeutungskernes der in Rede stehenden Begriffe zeigt, daß diese Begriffe weder identisch noch ausschließend sind. Der totale Staat kann autoritär, der autoritäre Staat total sein, und ist es, wofern eine unabhängige, nur sich selbst verantwortliche Autorität keinerlei Rechtsschranken ihres Handelns gelten läßt. Der absolutistische Polizeistaat des ancien regime in Frankreich oder der Wohlfahrtsstaat in

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deutschen Landen waren total und autoritär zugleich. Einen totalen Staat hat aber auch manche geschichtliche Demokratie gebildet, so daß Totalität des Staates nicht notwendig mit autoritärer Technik der Staatswillensbildung verbunden ist. Daß aber ein autoritärer Staat nicht zugleich totaler Staat sein muß, zeigt vielleicht am vollendetsten die österreichische Verfassung 1934, indem sie verfassungsfeste Freiheitsrechte von Individuen anerkennt und die Autonomie von außerstaatlichen Korporationen, namentlich von Gemeinden, Berufskörperschaften und religiösen Verbänden, bei diesen gesteigert bis zum Grade der Gleichberechtigung mit dem Staate, anerkennt. Der Ausdruck Führerstaat als synonyme Übersetzung von autoritärer Staat ist entbehrlich. Dagegen ist derselbe Ausdruck für eine besondere Gestalt des autoritären Staates durch den Sprachsinn nahegelegt und somit eine sprachgemäße Bezeichnung eines besonderen Begriffes. Das Führerprinzip in diesem besonderen, engeren, Sinne bedeutet die monokratische Variante des autoritären Prinzips. „Autoritär" kann auch ein Kollegium sein, Führer aber nur ein einzelner oder mehrere unverbundene Einzelne. Autoritär ist auch eine aristokratische Herrschaft zu nennen, dem Führerprinzip im engsten Sprachsinne entspricht aber nur eine monokratische Herrschaft. Diese besondere Form hat dem autoritären Prinzip mit vollem Bewußtsein der Nationalsozialismus gegeben. Er erfüllt damit die programmatische Forderung in Hitlers „Kampf": „Der Grundsatz des Aufbaus unserer ganzen Staatsverfassung hat zu sein: Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben", also eine Hierarchie von Einzelorganen, die nach unten unverantwortlich, nach oben verantwortlich sind. An der Spitze dieser Hierarchie steht der politisch und rechtlich unverantwortliche - wenngleich gern als verantwortlich bezeichnete - „Führer". Eine solche Einherrschaft ist an sich nichts Neues, sondern geschichtlich vielfach verwirklicht gewesen. Das Eigenartige des einherrschaftlichen Autoritätsstaates, den der Nationalsozialismus geschaffen hat, ist wohl nur die Personalunion zwischen Parteiführer und Staatsführer, die übrigens infolge der rechtlichen Notwendigkeit der personellen Identität mit der sogenannten Realunion verglichen werden kann. „Die Partei ist im Einparteienstaat somit der einzige Träger und Gestalter des Staates. Sie verkörpert nach der politischen Anschauung des Nationalsozialismus und Faschismus die Nation und wird deshalb auch vom Verfassungsrecht offiziell anerkannt. Der Führer der Partei im Einparteistaat ist gleichzeitig der politische Repräsentant der Nation." (Otto Koellreuter, Grundriß der allgemeinen Staatsieh-

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re, 1933, S. 166) Ob und inwieweit diese Struktur des Führerstaates im faschistischen Italien infolge des Dualismus von Re und Duce modifiziert ist, kann hier nicht untersucht werden. Unsere Frage ist nur die, ob und inwieweit dieser Typus des autoritären Staates, der durch die einherrschaftliche Staatsspitze gekennzeichnet wird, von der österreichischen Verfassung verwirklicht ist. 2. Der österreichische Bundeskanzler als „Führer" der Bundesregierung Der einzige Anhaltspunkt für die Annahme des Führerprinzips in der österreichischen Verfassung ist, wie bereits einleitend vermerkt wurde, der Artikel 81, indem diese Gesetzesstelle die Bundesregierung unter die Führung des Bundeskanzlers stellt. Gestützt auf die vorstehenden theoretischen Ausführungen will die nachstehende Untersuchung die juristische Bedeutung der zitierten Verfassungsbestimmung klarlegen. Die Interpretation des in Rede stehenden Verfassungsrechtssatzes und allfälliger sonstiger Rechtssätze, die diesen Verfassungsrechtssatz näher ausführen, ist nämlich Voraussetzung für die Antwort auf die Frage, ob Österreich nach dem Vorbild seiner beiden großen Nachbarstaaten Führerstaat ist und ob im besonderen der Bundeskanzler von Verfassungs wegen die Führerrolle in diesem Führerstaat bekleidet. Die vielleicht etwas befremdende systematische Stellung, in der sich das Zugeständnis der österreichischen Verfassung an das durch die ausländische Rechtsentwicklung hochaktuell gewordene Führerprinzip findet - von einem ausdrücklichen Bekenntnis zu diesem kann vorläufig wenigstens noch nicht gesprochen werden - , erlaubt jedenfalls keine Schlüsse in bezug auf die grundsätzliche Haltung der Verfassung zum Führerproblem. Gewiß tritt das Führerprinzip, wenn es im Zusammenhang mit der Organisation der Bundesregierung positivrechtlich zum Ausdruck kommt, nur ziemlich versteckt in Erscheinung, doch die Verfassungssystematik wird überhaupt, wie schon wiederholt bemerkt wurde, dem Verfassungsinhalt nicht voll gerecht,2 da sie offenbar unter dem nachwirkenden Eindruck der konstitutionell-monarchischen und demokratisch-republikanischen Verfassung den autoritären

2

Vgl. hiezu Erich Voegelin, a.a.O., S. 261 ff.

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und radikal gewaltenverbindenden Verfassungsinhalt in das Prokrustesbett eines gewaltentrennenden Verfassungssystems zwingt. Am auffälligsten wird dieser Widerspruch von Form und Inhalt in dem mit „Verwaltung" überschriebenen Abschnitt des mit „Vollziehung des Bundes" betitelten 5. Hauptstückes, indem die jedenfalls zu den wichtigsten Organen des gesamten staatlichen Organapparates emporgewachsenen Organe, namentlich der Bundespräsident, die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die übrigen Bundesminister in bescheidenem Gewände abhängiger Vollzugsorgane und im besonderen als Verwaltungsorgane erscheinen, obwohl insbesondere die Bundesregierung zum wichtigsten Faktor der Gesetzgebung geworden ist. „Führung der Bundesregierung" könnte somit im Systeme der Verfassung eine viel weiter reichende Bedeutung haben, als die systematische Stellung dieser Verfassungsbestimmung auf den ersten Blick annehmen läßt, nämlich nicht bloß einen noch näher zu bestimmenden Vorrang innerhalb eines Verwaltungsorganes, sondern einen Vorrang im ganzen Staatsapparat bedeuten. Die isolierte Betrachtung des Art. 81 Abs. 1 Verfassung 1934 erlaubt nur Folgerungen bezüglich der Rechtsstellung des Bundeskanzlers im Rahmen der Bundesregierung als jenes zusammengesetzten Organs, das aus sämtlichen Bundesministern einschließlich des Bundeskanzlers besteht. Die analoge Bestimmung der Bundesverfassung 1920 hatte gelautet: „Sie (die Bundesminister) bilden in ihrer Gesamtheit die Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers." Die sprachlich geringfügige, begrifflich aber einschneidende Neuerung besteht also in dem Ersatz des Wortes „ Vorsitz" durch das Wort ,,FührungDieser Wechsel des Ausdrucks hat keine geringere Bedeutung, als daß die Bundesregierung aus einem Kollegialorgan, das sie unter der Herrschaft der Verfassung 1920 war, zu einem monokratischen oder bürokratischen Organe geworden ist, falls diese Folge nicht etwa durch eine rückläufige oder berichtigende Verfassungsbestimmung hintangehalten wird. (Vgl. meine Schrift „Die ständisch-autoritäre Verfassung", Verlag Julius Springer 1935, S. 85 ff.) Ein zusammengesetztes Organ, wie es beispielsweise die Bundesregierung, aber auch ein Bundesministerium, die Landesregierung und die Landeshauptmannschaft, die Wiener Bürgerschaft und der Magistrat sind, kann zwei verschiedenen Organisationsprinzipien folgen: dem kollegialen und dem monokratischen Prinzip (vgl. mein „Allgemeines Verwaltungsrecht", Springer 1927, Wien, S. 325 ff.) Der Unterschied zwischen diesen beiden Organisationsformen

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besteht in dem gegenseitigen Verhältnis, der in beiden Fällen erforderlichen Einzelorgane, namentlich im Verhältnis eines einzelnen überragenden Organs zu allen übrigen Einzelorganen und - als Folge dieser internen Rechtsbeziehungen - in der verschiedenen Methode der Willensbildung des zusammengesetzten Organs. Man kann den Unterschied der beiden Organisationsformen ungefähr auf folgende kürzeste Formel bringen: Die mehreren Einzelorgane des Kollegiums sind einander gleichgeordnet und haben an den Akten des Kollegiums in gleicher Weise durch Beratung und Abstimmung teilzunehmen. Der Wille des Gesamtorgans ist das Produkt des gleichartigen, wenn auch nicht gleichgerichteten Zusammenwirkens der Einzelorgane. Das über seine Kollegen hinausreichende Einzelorgan, das freilich auch dem Kollegium nicht fehlt, hat von Rechts wegen keinen überragenden, die anderen Einzelorgane bestimmenden Willen, sondern nur die besondere prozessuale Aufgabe, die Willensbildung des Kollegiums zu bewerkstelligen, mit einem Wort: den Vorsitz im Kollegium. Die mehreren Einzelorgane eines bürokratisch organisierten Gesamtorgans, kurz gesagt, eines Bureaus, sind dagegen einander unter- und übergeordnet und haben an den Akten des Gesamtorgans in abgestufter Weise teilzunehmen. An den Akten des Bureaus hat nur ein Organ entscheidenden Anteil, wogegen alle anderen Teilorgane, soweit sie überhaupt, materiell oft sehr weitgehend, beteiligt sind, nur Vorbereitungshandlungen vornehmen. Das über alle anderen Einzelorgane hinausgehobene und dadurch als relativ oberstes gekennzeichnete Organ kann die Kompetenzen des Gesamtorgans, soweit es sie sich nicht selbst von vornherein (durch das Approbationsrecht) vorbehält, doch nach Belieben an sich ziehen oder wenigstens durch Weisungen beeinflussen; es ist nicht Vorsitzender, sondern Vorgesetzter der Einzelorgane, die mit ihm zusammen das Gesamtorgan bilden, Chef des Bureaus, oder, zeitgemäß ausgedrückt, in einem bestimmten Organ- und Funktionskreis „Führer". Die soeben angestellten kurzen Überlegungen zeigen, wie weit in der Geschichte der Staatsorganisation das sich gelegentlich so überaus originell gehabende „Führerprinzip" zurückreicht. Sogar in ihrer Spitze demokratisch organisierte Staaten kennen es seit alters her und bevorzugen es für den Unterbau des Staatsapparates, weil es die Unterordnung der Organhierarchie unter die obersten, selbst allerdings vorzugsweise kollegial - statt monokratisch - organisierten Organe am sichersten gewährleistet. (Vgl. meine Abhandlung „Demokratie und Verwaltung", Wien, M. Perles, 1923, insbesondere S. 76 ff., und „Allgemeines Verwaltungsrecht", S. 335 ff.) Sobald das Führerprinzip an die Spitze des staatlichen Organ-

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apparates vorgedrungen ist, spricht man heute vom Führerstaat. Führerstaat ist ein Staat, dessen Gesamtstruktur nach Art eines ,,Bureaus" gestaltet ist. Ist der Bundeskanzler gemäß der Verfassung 1934 tatsächlich, wie der Wortlaut erwarten läßt, aus dem bloßen Vorsitzenden zum Führer der Bundesregierung geworden, dann hätte die Bundesregierung die grundlegende organisationstechnische Wandlung aus einem Kollegium, das die Staatsregierungen nach den meisten Verfassungen sind, zu einem Bureau erfahren, das eine Regierung nur ausnahmsweise, bei Herrschaft des sogenannten Reichskanzlersystems, ist. Die Bundesregierung hätte nicht mehr, wie es dem Wesen eines Kollegiums entspricht, über die Gegenstände ihrer Kompetenz abzustimmen, wobei dem Bundeskanzler ebenso nur eine Stimme wie seinen Ministerkollegen, jedenfalls aber kein Einfluß auf die Haltung der übrigen Minister zukommt. Falls die Bundesregierung zur Gänze, wie der uneingeschränkte Gebrauch des Wortes „Führung" vermuten läßt, als Bureau einerichtet worden ist, so wäre ausschließlich der Wille des Bundeskanzlers maßgebend, der sich ja immerhin des Rates der übrigen Mitglieder der Bundesregierung bedienen und zur Feststellung der Meinungen auch Abstimmungen veranstalten könnte, die freilich für ihn nicht verbindlich wären. Die Akte der Bundesregierung würden streng genommen nicht auf „Beschlüssen" ihrer „Mitglieder", die in Wirklichkeit Hilfsorgane, wie das einem Minister unterstehende Personal des Ministeriums, geworden wären, sondern auf Willensäußerungen des Bundeskanzlers beruhen. Man darf füglich zweifeln, ob sich der Kodifikator dieser Tragweite seiner kodifikatorischen Neuerung bewußt gewesen ist. Die einschlägigen sonstigen Bestimmungen lassen wohl erkennen, daß der Kodifikator zwar von dem mit Unrecht als demokratisch abgestempelten Kollegialprinzip abrücken wollte (das wir tatsächlich in allen aristokratischen Ordnungen, namentlich in der katholischen Kirche mit ihren zahlreichen bedeutenden Kollegialorganen in voller Reinheit antreffen können), daß er aber anderseits auch nicht eine klare Entscheidung zugunsten des Bureauprinzips getroffen hat, wovor sich eine bis in die letzten Folgerungen konsequente Ideologie von der Art des Nationalsozialismus nicht gescheut hat. Mit der kompromißlosen Rezeption des Führerprinzips wäre die österreichische Verfassung bewußt oder unbewußt dem Vorbild des Deutschen Reiches gefolgt, das in strenger Stileinheit nicht bloß in der Staatsspitze, sondern

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auch in der ganzen Verwaltungshierarchie das Bureauprinzip zur Geltung gebracht hat.3 Schon in meiner Abhandlung „Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" habe ich die Annahme wenigstens als möglich bezeichnet, „daß die Verfassung mit Übertragung der Führerrolle in der Bundesregierung an den Bundeskanzler die Regierung doch nicht aus einem Kollegium in ein Bureau habe überführen, sondern nur in der Terminologie der herrschenden politischen Ideologie habe Rechnung tragen wollen". 4 Die hiemit angedeutete Möglichkeit soll nun als Wirklichkeit erwiesen werden. Der schon damals zur Begründung des Zweifels an der Ernstlichkeit der totalen Ausschaltung des Kollegialprinzips herangezogene Art. 94 scheint mir in gewissem Umfang das Kollegialprinzip im Wirkungskreis der Bundesregierung unzweifelhaft zu bedingen. Der Erkenntnisgrund eines solchen Urteils ist folgender, der Weimarer Verfassung fast wörtlich entnommener Satz. „Die Bundesminister haben der Bundesregierung alle Gesetzentwürfe, ferner Angelegenheiten, für die Verfassung oder Gesetz es vorschreiben, sowie Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die die Zuständigkeit mehrerer Bundesminister berühren, zur Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten" (Art. 94 Abs. 1). Diese Gesetzesstelle regelt den Weg der Willensbildung der Bundesregierung, und zwar in einer Weise, die dem Kollegialsystem entspricht. Beratung und Beschlußfassung ist die typische Methode der Willensbildung eines Kollegiums. Im Rahmen des Art. 94 ist sonach das Führerprinzip durch das Kollegialprinzip ausgeschaltet oder ausgehöhlt. Der Art. 94 stellt sich mit dieser partiellen Anordnung des Kollegialprinzips als lex specialis im Verhältnis zu der das Führerprinzip anordnenden lex generalis des Art. 81 dar.

3

Vgl. ,,Deutsche Verwaltung'4 von Arnold Koettgen, Deutsches Druck- und Verlagshaus GmbH, Mannheim 1936, insbesondere S. 79: „Die Neuerungen, die das Jahr 1933 auf dem Gebiete der Verwaltung gebracht hat, bezogen sich bekanntlich mit in erster Linie auf die Umstellung der Verwaltungsorganisation auf das Führerprinzip. Aus diesem Grunde sind daher alle bisher bestehenden Kollegialbehörden beseitigt worden. An der Spitze jeder Dienststelle steht ein leitender Beamter, der allein die Verantwortung trägt, dem allerdings in zunehmendem Umfange beratende Beiräte an die Seite gestellt worden sind44 (a.a.O., S. 79). Der Verfasser ist sich offenbar der Alternative von Kollegial- und Bureau- oder Führerprinzip voll bewußt. 4

A.a.O., S. 87.

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Fraglich ist aber geblieben, in welchem Umfange einerseits das Führerprinzip, andererseits das mit ihm unvereinbarliche Kollegialprinzip Geltung haben sollen. Mangels des Bewußtseins dieser Unvereinbarlichkeit ist offenbar eine eindeutige Grenzziehung unterblieben. Die Auslegungsschwierigkeit ergibt sich insbesondere daraus, daß die Verfassung die Verfahrensnorm, wonach die Bundesregierung in gewissen Angelegenheiten zu beraten und Beschluß zu fassen hat, mit einer Kompetenznorm verquickt. Mangels dieser Verfahrensnorm würde das eingangs des Abschnittes statuierte Führerprinzip Platz greifen, dem ja ebenfalls der Sinn einer abbreviatorischen Verfahrensnorm innewohnt. Die Unklarheit der Tragweite des Kollegialprinzips wird noch durch den wenig glücklichen Passus gesteigert:,, An Gelegenheiten, für die Verfassung oder Gesetz es vorschreiben." Es könnte zweifelhaft werden, ob damit alle de lege lata der „Bundesregierung" eingeräumten Kompetenzen oder ob nur weitere Angelegenheiten gemeint sind, für die Verfassung oder Gesetz in Hinkunft die ausdrückliche Vorschrift treffen, daß sie von einem Bundesminister der Bundesregierung ,,zur Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten" seien. Diese Alternative führt zu weit voneinander entfernten Ergebnissen, denn die erste Annahme würde bedeuten, daß die kollegiale Behandlung der Kompetenzen der Bundesregierung die ausnahmslose Regel, die zweite Annahme jedoch, daß sie eine verhältnismäßig seltene, nämlich auf die Verabschiedung der Gesetzentwürfe, auf die Ausübung des Schiedsrichteramtes zwischen mehreren in derselben Sache zuständigen Ministern und endlich auf erst anzuordnende Fälle beschränkte Ausnahme wäre. Die Quelle des Verfassungsartikels 94, der, wie gezeigt, aus der Reichsverfassung von Weimar übernommen worden ist, läßt aber keinen Zweifel daran, daß die Summe der gesetzlich der Bundesregierung eingeräumten Agenden gemeint ist.5 Ungeachtet der verfassungsmäßigen Anordnung des Führerprinzips im Art. 81 wird also von Art. 94 die Gesamtheit der Kompetenzen der Bundesregierung der kollegialen Beratung und Abstimmung im Ministerrat unterstellt, also einer selbstherrlichen Führerentscheidung entzogen.

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Vgl. zu Entstehung und Inhalt des identischen Art. 57 Weimarer Reichsverfassung unter anderen Friedrich Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 8. Aufl., S. 154 f.; Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 13. Aufl., S. 284 f.; Fritz Poetzsch-Heffter, Handausgabe der Reichsverfassung, 2. Aufl., S. 106 f.

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3. Das Richtlinienweisungsrecht des Bundeskanzlers Das bisherige Auslegungsergebnis scheint dem Auslegungsgrundsatz zu widerstreiten, wonach die Vermutung für die rechtliche Kraft einer Gesetzes- und im besonderen einer Verfassungsbestimmung spricht. Unter diesen Umständen bleibt noch zu untersuchen, ob die Führerrolle des Bundeskanzlers, die der Art. 81 programmatisch ausspricht, und der der Art. 94 scheinbar den Boden entzieht, indem er am traditionellen Kollegialprinzip festhält, nicht etwa durch andere Verfassungsbestimmungen, wenigstens teilweise und annähernd, konkretisiert ist. In der Tat schlägt die Literatur des österreichischen Verfassungsrechtes den Weg dieser in ihrem Ergebnis selbstverständlich das Führerprinzip stark einengenden Auslegung ein; namentlich der hervorragendste Kenner des österreichischen Verfassungsrechtes, Ludwig Adamovich, findet das im Art. 81 Verfassung verkündete Führerprinzip - ungeachtet des von ihm in diesem Zusammenhang nicht erwähnten Art. 94 - durch eine Reihe verfassungsmäßig begründeter Kompetenzen des Bundeskanzlers bestätigt.6 Es besteht kein Zweifel, daß der Wirkungskreis des Bundeskanzlers auf Kosten verschiedener Organe, selbst auch auf Kosten des Kollegiums der Bundesregierung, in der Verfassung 1934 weit über den Stand der Verfassung 1920 hinausgehoben ist. Nur möchte ich darin nicht ein Symptom der Führerstellung erblicken, weil Führung im Rechtssinn immer den Sinn einer Überordnungsbeziehung zu Geführten hat. Selbst in der auffälligsten neuen Kompetenz des Bundeskanzlers, in seiner Zuständigkeit zur Sanktion der Landesgesetzesbeschlüsse, womit der Bundeskanzler eine vormalige Prärogative des Kaisers übernimmt, tritt offenbar ein großes Vorrecht, aber kein Vorrang, keine Überordnung gegenüber den anderen Bundesministern in Erscheinung. Ja sogar das Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers bezüglich der Ernennung der Bundesminister begründet nicht jene Abhängigkeit zwischen dem Bundeskanzler und den übrigen Bundesministern, die man zutreffend als Führung bezeichnet, denn dann wäre um so eher der Bundespräsident kraft seines Ernennungsrechtes als Führer der einzelnen Bundesminister (aber wohl schon nicht mehr als Führer der Bundesregierung) zu bezeichnen, und würde ebensowohl der Landeshauptmann, der nach Art. 114 Abs. 5 die Mitglieder der Landesregierung zu ernennen hat, als Führer der Landesregierung zu bezeichnen sein. Auffälli-

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Grundriß des österreichischen Staatsrechtes, 3. Aufl., S. 125 ff.

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gerweise spricht aber der Art. 114 zum Unterschied von dem korrespondierenden Art. 81 dem Landeshauptmann eine solche Führerrolle nicht zu. Ebensowenig vermag ich als die juristische Bedeutung oder als rechtliche Folge der im Art. 81 statuierten Führerrolle eine Demissionspflicht des dissentierenden Ministers zu erkennen. Echte Führung bedingt nicht Zustimmung und noch weniger Übereinstimmung der Geführten, sondern rechtliche Unmaßgeblichkeit des von den Geführten in welchem Sinne immer geäußerten Willens. Ludwig Adamovich scheint, wenn ich den Verfasser recht verstehe, das Schwergewicht der Führerrolle des Bundeskanzlers in die ihm von Art. 93 eingeräumte Kompetenz zu legen. Dieser Auffassung kann ich weitestgehend beipflichten. Mir erscheint sich die im Art. 81 verkündete Führerrolle geradezu in der hier begründeten Kompetenz zu erschöpfen, was freilich m.E. eine starke Abschwächung des Programms bedeutet. Der Art. 93 Verfassung 1934 besagt: ,,Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig." Namentlich mit Beziehung auf diese Gesetzesstelle interpretiert der genannte Verfasser die fragliche Bestimmung des Art. 81 dahin: ,,Ιη richtiger Konsequenz spricht daher auch Art. 81 (1) Verfassung von der ,Führung4 der Bundesregierung durch den Bundeskanzler, er legt also im Sinne des Führerprinzips die Unterstellung der anderen Mitglieder der Bundesregierung unter die allgemeine politische Leitung des Bundeskanzlers ausdrücklich fest." 7 Die juristische Bedeutung des Art. 93 erhellt aus seiner Geschichte. Die Bestimmung ist eine Anleihe bei Art. 56 der Deutschen Reichsverfassung von Weimar vom 11. August 1919. Art. 56 dieser Verfassung lautet: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag." Diese Verfassungsbestimmung ist das Ergebnis einer Entwicklung, die das Verhältnis zwischen Kanzler und Ministern von dem hierarchischen Verhältnis im Sinne der Bismarckschen Verfassung in der Richtung des kollegialen Verhältnisses der demokratisch-parlamentarischen Verfassungen zurückbildet,

7

A.a.O., S. 125.

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während die österreichische Verfassung den Typus der demokratisch-parlamentarischen Verfassung in der Richtung des Kanzlerprinzips fortbildet. Die beiden in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Entwicklungslinien haben sich ungefähr auf halbem Weg getroffen; den Treffpunkt kann man etwa kennzeichnen als Kanzlersystem mit kollegialem Einschlag oder besser als Kollegialsystem mit monokratischem Einschlag. Der monokratische Ursprung der deutschrechtlichen Bestimmung, die ihr eigentümliche Einschränkung der Führerrolle des Kanzlers gegenüber den Ministern, tritt in der rechtswissenschaftlichen Auslegung deutlich in Erscheinung. So wenn Gerhard Anschütz in seinem Kommentar der Verfassung des Deutschen Reichs8 ausführt: „Was damals freiwillige Selbstbeschränkung war (daß sich nämlich der Reichskanzler auf die Bestimmung der leitenden Grundsätze der Reichsverwaltung beschränkte), ist nunmehr verfassungsmäßige Pflicht geworden": Der Reichskanzler soll sich mit der Bestimmung der ,,Richtlinien der Politik" begnügen und die ressortmäßige Durchführung dieser Richtlinien den Nachfolgern der Staatssekretäre, den Fachministern, unter ihrer eigenen Verantwortung überlassen. Damit ist der Reichskanzler über die anderen Minister bedeutsam hinausgehoben und ihm die Stellung eines nicht für die Einzelheiten, sondern für das Ganze verantwortlichen leitenden Staatsmannes angewiesen.9 Die Kompetenz zur „Aufstellung von Richtlinien" bedeutet für die österreichische Rechtsordnung die Einführung einer ungewöhnlichen Funktionsweise. Mangels einer Legaldefinition des Begriffes „Richtlinie" ist es Sache der Auslegung, das Wesen der Richtlinien zu bestimmen. Dem Sprachsinn nach kann eine Richtlinie eine unverbindliche Empfehlung und einen verbindlichen Befehl bedeuten. Da aber die Verfassung die Richtlinien als Schranke für die Tätigkeit der einzelnen Bundesminister behandelt - denn nur „innerhalb dieser Richtlinien" leitet jeder Bundesminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig - , so beabsichtigt die Verfassung die Verbindlichkeit der Richtlinien, gibt ihnen also, mit dem terminus technicus gesprochen, den Charakter von Weisungen. Doch ist die Ermächtigung an den Bundeskanzler, den Bundesministern Weisungen zu erteilen,

8

13. Aufl., 1930, S. 282.

9 In ähnlicher Weise äußert sich zur Richtlinienkompetenz der Reichskanzler. Giese, Verfassung, 8. Aufl., S. 153 f.

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nicht einfach eine Nutzanwendung der allgemeinen Weisungskompetenz vorgesetzter gegenüber nachgeordneten Organen neu gemäß Art. 11 Abs. 1 Verfassung 1934. Eine Weisung, wie sie Art. 11 vorsieht, kann begrifflich abstrakt und konkret sein, d.h. sich entweder an einer Vielzahl nach gemeinsamen Merkmalen bestimmter Organe oder an ein individuelles Organ richten. Man würde dem Sprachsinn der Richtlinie Gewalt antun, wollte man beide Möglichkeiten von Weisungen als gegeben annehmen. Mit dem Ausdruck „Richtlinie" beschränkt vielmehr die Verfassung das Weisungsrecht des Bundeskanzlers gegenüber den ürbrigen Bundesministern (zum Unterschied etwa von seinem Weisungsrecht gegenüber den Organen seines Ressorts) auf allgemeine Weisungen, sogenannte Verwaltungsverordnungen. Es ist sonach nicht vorgesehen, daß der Bundeskanzler (oder auch die Bundesregierung) in eine konkrete Ressortangelegenheit eingreifen: insoweit wird vielmehr dem Minister verfassungsmäßig Selbständigkeit gewährleistet. Es bleibt ihm allerdings unbenommen, auch in solchen Fällen, wie es ja in der Praxis oft genug vorkommt, die Wohlmeinung des Bundeskanzlers oder der Bundesregierung einzuholen, diese Meinungsäußerung ist aber unverbindlich und der fragliche Akt hat weder auf Auftrag oder Ermächtigung irgend eines anderen Organs, sondern im Namen und auf Verantwortung des zuständigen Fachministers zu ergehen. Außer der formalen Schranke, daß die Richtlinien nur generell-normativ sein dürfen, ist der Verfassung aber auch die materielle Schranke zu entnehmen, daß sie nur politische Fragen, wohl zum Unterschied von Rechtsfragen, zum Gegenstande haben dürfen; anders ausgedrückt: die Richtlinien dürfen nur das Ermessen im Wirkungskreise der einzelnen Bundesminister einschränken und äußerstenfalls ausschöpfen, nicht aber der Rechtsauslegung von Ressortfragen vorgreifen. Beispielsweise wäre die Weisung, den Unterbehörden, etwa den Landeshauptleuten, in gewissen Verwaltungssachen unbegrenzt Spielraum zu lassen, oder bei Vorliegen gewisser Tatbestände ein öffentliches Interesse als gegeben anzusehen, oder die Verwaltungsstrafrechtspflege zu verschärfen oder zu mildern, durch die Ermächtigung des Art. 93 gedeckt, nicht jedoch die Weisung, bestimmten Rechtssubjekten Parteistellung im Verwaltungsverfahren einzuräumen, oder die Weisung, eine offene Dienstrechtsfrage in einem bestimmten Sinne auszulegen, denn hiebei handelt es sich um juristische und nicht um politische Fragen. Zweifelhaft kann nur sein, ob Richtlinien der Politik in der gesamten Ermessenssphäre zulässig sind oder ob sie vielleicht nur einen Ausschnitt 20 A. J. Merkl

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des Ermessens im Bereiche der Bundesverwaltung, etwa Probleme der „Regierung" zum Unterschied von der Verwaltung im engeren Sinn, betreffen dürfen. Eine solche Problemstellung würde aber hier zu weit führen. Eine andere Auslegungsfrage geht dahin, ob und bejahendenfalls auf welche Weise die vom Bundeskanzler aufgestellten Richtlinien sanktioniert sind. Da ein Bundesminister als solcher nicht Beamter ist, mangelt den Richtlinien die typische dienstrechtliche Sanktion des Disziplinarrechtes. Ob die Weisung durch die allgemeine staatsrechtlicheVerantwortlichkeit der Bundesminister nach Art. 173 Abs. 2 lit. a gewährleistet ist, kann fraglich werden, da die Anklage an den Bundesgerichtshof nur auf Gesetzesverletzung lauten kann, eine Richtlinie aber an sich nicht Gesetzescharakter hat, so daß im Falle ihrer Verletzung nur von einer mittelbaren Gesetzesverletzung gesprochen werden könnte. Kommt man zu dem Ergebnis, daß die Vernachlässigung einer Richtlinie keine vom Bundesgerichtshof zu ahndende Gesetzesverletzung ist, so wäre die Verbindlichkeit der Richtlinien des Bundeskanzlers nicht vollwertig, weil sanktionslos. Die Kompetenz des Bundespräsidenten, einen Minister auf Vorschlag des Bundeskanzlers zu entlassen, kann nicht als Sanktion gelten, weil die Ausübung dieser Kompetenz durch keinerlei Rechtswidrigkeit bedingt ist. Eine letzte Interpretationsfrage, die der Art. 93 aufgibt, geht dahin, welcher Geschäftskreis des Ministers durch Richtlinien determiniert werden kann. Bekanntlich hat ein Ressortminister einen doppelten Wirkungskreis: den Wirkungskreis als Chef eines Ministeriums und dessen Unterbehörden, und den Wirkungskreis als Mitglied der Bundesregierung. Der zweite Satz des Artikels, wonach jeder Bundesminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig leitet, deutet auf die Ressortangelegenheiten hin. Es ist aber logisch nicht unvermeidlich, das Weisungsrecht des Bundeskanzlers auf die Ressortangelegenheiten zu beschränken, und sonach die Annahme zulässig, daß der Bundeskanzler durch Richtlinien der Politik die Bundesminister in allen Materien von politischer Relevanz determinieren darf. Der Bundeskanzler ist sonach legitimiert, den Bundesministern allgemeingültig vorzuschreiben, sowohl in ihrem Ressort als auch im Ministerrat eine bestimmte Haltung einzunehmen. Er kann etwa in der Sitzung des Ministerrates erklären, daß eine von ihm bei diesem oder einem anderen Anlaß aufgestellte „Richtlinie der Politik" die Abstimmung in einem von ihm bezeichneten Sinn bedinge. Die Abstimmung der Minister in solchen Angelegenheiten ist dann nicht mehr sozusagen „frei", sondern außer durch

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Gesetz und Rechtsverordnung auch durch Verwaltungsverordnung des Bundeskanzlers gebunden. Freilich muß auch diese Richtlinie immer die logische Struktur einer allgemeinen Maxime haben und darf sich also nicht in der Weisung, zu einem konkreten Antrag ja oder nein zu sagen, erschöpfen. Immerhin gibt diese Kompetenz dem Bundeskanzler eine Rechtsstellung, die man als, wenn auch inhaltlich beschränkte, Führung der einzelnen Bundesminister und auch der Bundesregierung bezeichnen kann, so daß die derart ausgelegte Weisungkompetenz als positivrechtliche Konkretisierung der programmatischen Führerrolle des Bundeskanzlers gegenüber den einzelnen Bundesministern und deren Gesamtheit gelten darf. Immer muß aber bedacht werden, daß diese Führerrolle und die daraus sich ergebende Vorgesetzteneigenschaft des Bundeskanzlers nur auf die Fälle des Art. 93 beschränkt ist, und daß er im übrigen im Verhältnis zu den Bundesministern nur Kollege unter Kollegen, im Verhältnis zur Bundesregierung nur Vorsitzender und nicht Chef ist. 4. Die positivrechtlichen Hemmungen des Führerprinzips Keinesfalls ist aber dem Art. 93 die letzte Konsequenz des Führerprinzips zu entnehmen, daß der Bundeskanzler, wenngleich mit der Beschränkung auf allgemeine Fragen der Verwaltungspolitik, seinen Willen an die Stelle jener der einzelnen Bundesminister und deren Gesamtheit setzen dürfe. Ein Kollegialbeschluß ist condicio sine qua non des Zustandekommens einer Willensäußerung der Bundesregierung, auch soweit der Bundeskanzler zur Aufstellung von Richtlinien ermächtigt ist. Wie überhaupt, so bedürfen auch die Beschlüsse der Bundesregierung in den Fällen, in denen der Bundeskanzler von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch macht, der Stimmeneinhelligkeit. Den Erkenntnisgrund dieses Erfordernisses sehe ich nicht, wie in der Literatur gemeiniglich angenommen wird, in der Verantwortlichkeit der Bundesminister für die Akte der Bundesregierung, denn keine Norm bestimmt, daß ein Bundesminister für alle Akte der Bundesregierung verantwortlich zu machen ist. Es ist geradezu eine typische Erscheinung, daß Mitglieder eines Kollegiums nur für die Akte verantwortlich sind, an denen sie sich selbst positiv beteiligt haben. Die Rechtsordnung kann darüber hinaus das Mitglied eines Kollegiums - ob billigerweise oder nicht, ist eine andere Frage - ohne Rücksicht auf seine eigene Haltung für alle Akte des Kollegiums verantwortlich machen (,,mitgefangen - mitgehangen"). Wie immer aber die Verantwortlichkeitsfrage gelöst ist, erlaubt sie keine Rück20*

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schlüsse auf Quorum und Stimmenerfordernis des Kollegiums. Die Abgrenzung der Verantwortlichkeit der Mitglieder der Bundesregierung ist aber nur in objektiver Hinsicht vom Gesetze vorgenommen, in subjektiver Hinsicht also eine Auslegungsfrage. 10 Es wären sonach Mehrheitsbeschlüsse der Bundesregierung ohne weiteres denkbar, außer man folgert aus dem Wesen des Kollegiums als eines aus gleichgestellten Organen zusammengesetzten Organs, daß im Zweifel Anwesenheit und Zustimmung sämtlicher Mitglieder erforderlich seien, falls nicht die rechtliche Organordnung ein bestimmtes Quorum und eine bestimmte Mehrheit der Mitglieder genügen läßt. Nach dieser Deutung des Wesens des Kollegiums ist, da die Verfassung zum Unterschied von anderen von ihr eingerichteten Kollegialorganen für die Bundesregierung weder ein Quorum, noch eine bestimmte Majorität vorsieht, persönliche oder vertretungsweise Beteiligung sämtlicher Mitglieder der Bundesregierung und Willensübereinstimmung als erforderlich anzunehmen. Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers erleichtert selbstverständlich die Erfüllung dieses Erfordernisses in jenen Angelegenheiten, in denen von ihr Gebrauch gemacht wird. Ein dissentierender Minister kann aber unter allen Umständen auf Dauer seiner Ministerschaft das Zustandekommen eines gültigen Ministerratsbeschlusses verhindern. Die Absenz oder das Kontra-Votum ist im allgemeinen durchaus zulässig, wird aber in den Fällen, wo der Bundeskanzler von seinem Weisungsrecht Gebrauch gemacht hat, rechtwidrig, ohne daß freilich die Richtlinie das Votum des dissentierenden Ministers ersetzen könnte. Für die Annahme einer Demissionspflicht des Ministers als Ausweg aus dieser Situation scheinen mir Anhaltspunkte in der Verfassung zu fehlen. Der einzige Weg, in einer Angelegenheit im allgemeinen und auch in einer solchen, die durch eine Richtlinie des Bundeskanzlers determiniert ist, zu einem Ministerratsbeschluß zu gelangen, scheint mir die Entlassung des fraglichen Mitgliedes und Bestellung eines Nachfolgers zu sein, von dem zu gewärtigen ist, daß er sich freiwillig oder gegebenenfalls kraft Weisung des Bundeskanzlers den Intentionen des Kanzlers fügen werde. Für die juristische Betrachtung hält sich sonach die Führerstellung des österreichischen Bundeskanzlers in den bescheidenen Grenzen, die die 10 Die Verfassung (Art. 173) läßt den Bundesminister für „Gesetzesverletzungen 4' haften. Ob eine vorliegende Gesetzesverletzung einem bestimmten Bundesminister zugerechnet werden kann, ist Sache der richterlichen Beurteilung.

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republikanisch-demokratische Verfassung des Deutschen Reiches dem Reichskanzler eingeräumt hat, und steht sonach selbst gegenüber dem ursprünglichen Reichskanzlertyp weit zurück. Ebensowenig aber wie der Bundeskanzler uneingeschränkt nach geltendem Verfassungsrecht als Führer des Kabinetts gedeutet werden kann, bekleidet er nach berühmten Mustern das Amt eines Staatsführers Die Summe der Staatsgewalt ist vielmehr auf zwei oberste Organe, einerseits den Bundespräsidenten, anderseits die Bundesregierung, von denen freilich diese das kompetenzenreichere und politisch mächtigere Organ ist, verteilt. Wenngleich auch der Bundeskanzler innerhalb der Bundesregierung eine überragende, gegenüber dem früheren Recht gehobene Stellung einnimmt, hat doch die Verfassung im allgemeinen nicht auf die Gegengewichte, die im Kollegialprinzip gelegen sind und die den Bundeskanzler auf die Mitwirkung seiner Mitarbeiter verweisen, verzichten zu können geglaubt. An der Spitze des Staatsapparates sind sonach monokratisches und kollegiales Prinzip in einer Weise gemischt, daß man schwerlich das Überwiegen des einen oder anderen Prinzips feststellen kann. Dieses Kompromiß von monokratischem und kollegialem Prinzip schließt aber im Zusammenhalt mit dem Organdualismus Bundespräsident - Bundesregierung den Typus des reinen Führerstaates mit seiner einherrschaftlichen Staatsführung im System der österreichischen Verfassung unzweideutig aus.

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Nur nebenbei sei erwähnt, daß der österreichische Bundeskanzler auch nicht - nach dem Muster echter Führerstaaten - Parteiführer ist. Die „Vaterländische Front" hat zwar eine ähnliche Aufgabe sogenannter politischer Integration zugewiesen erhalten, wie in den Einparteienstaaten die monopolistische Staatspartei, und kann wegen dieses ihres Wirkungskreises, wie übrigens auch wegen ihrer Organisation mit den Staatsparteien der Einparteienstaaten verglichen (nicht gleichgesetzt) werden, doch sieht das Organisationsgesetz (BGBl. II, 4 aus 1934) keine Personalunion zwischen der Leitung der „Vaterländischen Front 44 und der „Staatsführung 44 oder irgend einem leitenden Staatsamt vor.

Die Antinomie zwischen dem Gleichheitsrechtssatz und der Gewährleistung ständischer Autonomie Nicht bloß ein theoretisches Problem von seltenem Reiz, sondern auch ein juristisches Problem von stärkster, bisher nicht gewürdigter Tragweite für die Praxis wird durch die Tatsache aufgegeben, daß die Verfassung 1934 nebst anderen heterogenen politischen Ideen auch das demokratische und das ständische Prinzip in sich vereinigt: diesem wird insbesondere durch die Gewährleistung ständischer Autonomie und Selbstverwaltung Raum gegeben, jenem aber weniger durch die Ermöglichung der Volksabstimmung als vielmehr durch die weitgehende Normierung der Rechtsgleichheit, namentlich durch die Erstreckung der Rechtsgleichheit auf die Staatsbürger ohne Unterschied des Standes (Art. 16 Abs. 1 3. Satz Verfassung 1934). Die Antinomie der Ideen liegt darin, daß die Rechtsgleichheit ohne Unterschied der Person geradezu der Leitgedanke der formalen Demokratie, die Rechtsungleichheit je nach der ständischen Zugehörigkeit des Individuums der Leitgedanke des Ständewesens ist. Wenn man das ständische Prinzip heutzutage gern das wahre, echte demokratische Prinzip nennt, so zeigt sich gerade an dieser Haltung der ständischen Idee zum Problem der Gleichberechtigung, daß Demokratie in dem neuen Sinn etwas durchaus anderes sein will als Demokratie in dem hergebrachten und in anderen Staaten und Sprachen gebräuchlichen Sinn des Wortes. Denn das Eigentümliche jeder ständischen Rechtsordnung ist, daß sie an die Stelle rechtlicher Gleichheit aller Staatsbürger rechtliche Ungleichheit treten läßt. Wenn nun die Verfassung einerseits ständische Autonomie und Selbstverwaltung gewährleistet und damit Rechtsunterschiede je nach der Standeszugehörigkeit wesensmäßig notwendig macht, andererseits aber Rechtsgleichheit ohne Unterschied des Standes normiert, so greift sie zugleich auch auf den Gedankenschatz der alten, sogenannten formalen Demokratie zurück und

Juristische Blätter, 65. Jg. (1936), S. 377-380.

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will ihm im Rahmen einer durch Rechtsunterschiede der Berufsgruppen gekennzeichneten Rechtsordnung Raum geben. Wo liegt nun aber die Grenze zwischen der durch die formale Demokratie bedingten Gleichberechtigung und der durch das ständische Prinzip bedingten wenigstens möglichen Ungleichheit? Das ist die Auslegungsfrage, die durch das verfassungsmäßige Kompromiß zwischen den beiden von ihren Anhängern mit Monopolanspruch so genannten Arten der Demokratie aufgegeben ist. Eine juristische, politisch unbeeinflußte Interpretation der Verfassung muß selbstverständlich beiderlei Bestandteile zu ihrem Recht kommen lassen, darf also den einen zugunsten des anderen in keiner Weise verkleinern oder gar wegretuschieren. Diese Richtlinie der Auslegung vorauszuschicken, ist deswegen nicht überflüssig, weil sowohl vereinzelte literarische Zeugnisse, die freilich nicht das Problem ex professo behandeln, als insbesondere die einheitliche staatliche Praxis dazu neigen, das Geltungsbereich des Gleichheitsprinzipes zugunsten ständischer Ungleichheit zu verengen. Insbesondere werden heute noch verschiedene Rechtsquellen aus älterer Zeit, namentlich aber kriegswirtschaftliche Verordnungen, auch in jenen Punkten als zu recht bestehend angenommen und gehandhabt, die durch den Art. 16, die Gleichheitsnorm der Verfassung 1934 als aufgehoben zu erachten sind. Die nachfolgenden Untersuchungen setzen sich nicht zur Aufgabe, kasuistisch die älteren Rechtsquellen daraufhin zu prüfen, inwieweit ihnen durch den Gleichheitsrechtssatz der Verfassung derogiert worden ist, sondern wollen nur durch eine Teilinterpretation dieses Gleichheitsrechtssatzes den Prüfungsmaßstab an die Hand gegen, welcher das Erlöschen und somit die Unanwendbarkeit älterer Normen erkennen läßt, die rechtliche Ungleichheiten begründet haben. Was dem Fernstehenden paradox erscheinen mag: die verfassungsmäßige Anerkennung der Gleichberechtigung aller Staatsbürger, noch dazu ohne Unterschied des Standes, von Seite eines Ständestaates oder wenigstens eines Staates, der die ständische Idee rechtlich verwirklichen will, leuchtet dem Österreicher aus der Geschichte seines Heimatlandes durchaus ein. Denn das Minimum an formaler Demokratie, das in der Gleichheit vor dem Gesetz besteht, ist geradezu durch die Verfassungstradition sanktioniert. Hatte doch schon, um von älteren Reminiszenzen abzusehen, das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz proklamiert. Die

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Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes durch die Becksche Wahlreform vom 26. Februar 1907 war weniger eine Steigerung als vielmehr eine letzte Nutzanwendung dieses Verfassungsrechtssatzes. Doch hatte die unangefochtene Geltung dieses Rechtssatzes ihn auch für die konservativsten Gruppen - übrigens nicht bloß in Österreich, sondern in vielen Ländern Europas - zu einer solchen Selbstverständlichkeit werden lassen, daß er im christlichsozialen Entwurf einer Bundesverfassung für die Republik Österreich vom 25. Juni 1920, der an erster Stelle vom Verfassungsminister Dr. Michael Mayr und unter andern auch von den damaligen Abgeordneten Kunschak, Miklas, Buresch und Seipel gezeichnet ist, sogar in einer Fassung wiederkehrt, die gegenüber dem Recht der Monarchie verschärft ist (Nr. 888 der Beilagen der „Konstituierenden Nationalversammlung"). Artikel 6 dieses Verfassungsentwurfes lautet: „Alle Bundesangehörigen sind vor dem Gesetze gleich. Vorrechte der Geburt, des Standes und des Bekenntnisses sind für immer ausgeschlossen." Dieser Text hat als einer der zahlreichen sachlichen Beiträge der christlichsozialen Partei zur Bundesverfassung, die dem Verfassungsintermezzo von 1920 - 1934 das Gepräge gibt, im Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 mit nur geringfügigen Änderungen Gesetzeskraft erlangt. „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen." Dieser geschichtliche Ursprung des österreichischen Gleichheitsrechtssatzes erklärt es wohl in der Hauptsache, daß auch die von einer grundsätzlich neuen Staatsidee geleitete österreichische Verfassung vom 1. Mai 1934 am Kern des Gleichheitsrechtssatzes festhält und ihn nur in einzelnen Auswirkungen abschwächt. Obgleich von keiner betont oder bewußt individualistischen Ideologie beeinflußt, sagt Art. 16 der Verfassung 1934 in Absatz 1: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetze gleich. Sie dürfen in den Gesetzen nur soweit ungleich behandelt werden, als es sachliche Gründe rechtfertigen. Insbesondere sind Vorrechte der Geburt, des Standes oder der Klasse ausgeschlossen." Die von berufenster Seite zur neuen Verfassung gegebenen Kommentare, namentlich aus der Feder des vormaligen Bundeskanzlers Dr. Ender und des gegenwärtigen Bundeskanzlers Dr. Schuschnigg, lassen keinen Zweifel daran, daß die gegenwärtig geltende Fassung der Grundrechte mit ihren Abschwächungen gegenüber dem liberaleren Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, aber auch mit den Übereinstimmungen mit diesem Vorbild, bewußt und gewollt ist. Man darf also auch nicht zweifeln, daß jenes Stück formaler Demokratie, das uns

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in der Normierung der Rechtsgleichheit ohne Unterschied des Standes entgegentritt, genau überlegt ist. Vielleicht bezweckt der Satz, den naturnotwendigen Unterschieden eines Ständestaates, namentlich den Rechtsunterschieden, wie sie der geschichtliche Ständestaat aufgewiesen hat, bestimmte Schranken zu ziehen. Die Geschichte lehrt ja, daß mit der verschiedenen Standeszugehörigkeit verschiedenes Eherecht, Erbrecht, ja sogar verschiedener strafrechtlicher Schutz verbunden war. Es ist durchaus begreiflich, daß eine zugleich am christlichen Prinzip orientierte Verfassungserneuerung derartige krasse Rechtsunterschiede nicht wieder aufleben lassen will. Nur läßt es die offenbar beabsichtigte Schrankenziehung für die Rechtsdifferenzierung gemäß den Standesunterschieden an Deutlichkeit vermissen. Kein Ständestaat ohne ständisches Sonderrecht. Das ist Sinn und Folge der ständischen Satzungsbefugnis, wie sie Artikel 32 der Verfassung den berufsständischen Körperschaften einräumt. Was ist also der Inhalt und wo liegt die Grenze des Gleichheitsrechtssatzes gegenüber dem ständischen Sonderrecht? Es sei zunächst darauf verwiesen, daß ich in meinem Buch ,,Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß" 1 zum gegenständlichen Problem in folgender Weise Stellung genommen habe: ,,Unter diesen Umständen (gemeint ist die Abkehr vom Grundsatz der formalen Demokratie mit ihrer sogenannten arithmetischen Gleichheit) ist es besonders wertvoll, daß die Verfassung auch in Hinkunft der Ungleichbehandlung von Staatsbürgern bestimmte unübersteigliche Schranken zieht, indem Vorrechte der Geburt, des Standes oder der Klasse unbedingt ausgeschlossen sein sollen. Während diese Schrankenziehung im System der Bundesverfassung nur die Exemplifikation des grundsätzlich ausnahmslosen Prinzipes bedeutet hat, hat der zitierte einschränkende Verfassungssatz nunmehr materiell-rechtliche Bedeutung in dem Sinne, daß die Umstände der Geburt, des Standes oder der Klasse keinesfalls als sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung gelten dürfen. Anders ausgedrückt, die Besonderheit der Geburt, des Standes oder der Klasse wird keinesfalls eine auf diese persönlichen Momente gestützte gesetzgeberische Differenzierung rechtfertigen." Folgerichtig habe ich in meiner Tabelle der Grundrechte die Gleichheit vor dem Gesetz ohne Unterschied des Standes unter die durch Gesetz unbeschränkbaren Grundrechte eingereiht. Sachlich völlig überein-

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Verlag Julius Springer, Wien 1935, S. 39.

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stimmend erläutert Staatsrat Professor Adamovich in der jüngsten Auflage seines „Österreichischen Staatsrechtes" die fragliche Verfassungsbestimmung folgendermaßen: „Die Gesetzgebung darf nur für alle Staatsbürger in gleicher Weise verbindliche Normen aufstellen, d.h. an den gleichen Tatbestand ohne Ansehen der Person die gleichen rechtlichen Folgen knüpfen; jede unterschiedliche Behandlung der Staatsbürger in der Gesetzgebung ist verfassungswidrig und hätte ein derartiges Bundes- oder Landesgesetz im Fall der Überprüfung durch den Bundesgerichtshof im Sinne des Art. 170 seine Aufhebung zu gewärtigen. - Als unbegründet und unzulässig sind jedenfalls alle Differenzierungen in Ansehung der Geburt, des Standes, der Klasse, des Bekenntnisses, der Rasse und Sprache erklärt." 2 Derselbe Verfasser geht auf die besondere Frage, ob der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz auch den Gesetzgeber bindet, in einer Anmerkung mit folgenden Worten ein: „Für die österreichische Gesetzgebung ist die Frage infolge der vollkommen klaren Bestimmung des Art. 16 Abs. 1 2. Satz zweifellos im Sinne der Bindung auch des Gesetzgebers zu beantworten." Es besteht also schon in der bisherigen Literatur in dem Punkte Übereinstimmung, daß die Gleichberechtigung ohne Unterschied des Standes ein sogenanntes echtes, unbiegsames, oder wie ich mich ausdrücke, verfassungsfestes, d.h. nur auf dem Weg der Verfassungsänderung beschränkbares Grundrecht ist. Dadurch ist die Gleichberechtigung der einzelnen Standesangehörigen entschiedener rechtlich verankert als die Gleichberechtigung in den meisten anderen Beziehungen, denn auch noch so triftig erscheinende sachliche Gründe, die im übrigen rechtliche Unterscheidungen legitimieren, rechtfertigen im allgemeinen eine unterschiedliche Rechtsstellung der verschiedenen Standesangehörigen nicht (Art. 16 Abs. 1 Verfassung). Der Inhalt unserer Grundrechtsnorm läßt sich in knappster Weise folgendermaßen zusammenfassen: Der Verfassungsrechtssatz verpönt „Vorrechte des Standes". Eine doppelte rechtliche Technik führt zur Bevorrechtung eines Standes und damit der Angehörigen eines solchen. Der nächstliegende Weg ist der, daß einem bestimmten Stande Vorteile gewährt werden, die anderen Ständen versagt sind; man denke an den krassen aber in der Geschichte vielfach verwirklichten Fall von Steuerprivilegien, sagen wir etwa Freiheit des Großgrundbesitzes von Personalsteuern. Die gegenteilige

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Grundriß des österreichischen Staatsrechtes, 3. Aufl., S. 66.

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Möglichkeit ist die, daß ein Stand benachteiligt wird, woraus sich Vorteile für alle anderen Stände ergeben; man denke etwa, daß, wie ebenfalls in älteren Zeiten, die Kriegslast ganz oder vorzugsweise einem Stande aufgelastet wird, oder daß ein Stand gewissen Ehebeschränkungen unterworfen wird, die für andere Stände nicht gelten. - Jede von der Rechtsordnung begründete Bevorzugung einer Gruppe von Staatsbürgern, die den Charakter eines Standes hat, gegenüber anderen Staatsbürgern ist verpönt. Der Art. 16 der österreichischen Verfassung hat sich also nicht die Beschränkung des analogen Art. 109 der Weimarer Verfassung zu eigen gemacht, demzufolge nur öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile aufzuheben sind. Die heikelste Frage aus dem angeschnittenen Fragenkreis ist aber gewiß die nach dem Begriffe des Standes im Zusammenhang des Art. 16 der Verfassung. Die praktische Bedeutung dieser Frage ergibt sich daraus, daß Vorrechte des männlichen oder weiblichen Geschlechtes, des Alters, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit u. dgl. mehr durch einfaches Gesetz und dem Gesetz ebenbürtige Rechtsquellen, beispielsweise gesetzeskräftige Verordnungen, begründet werden können, dagegen Vorrechte des Standes nicht. Daß keine Standesvorrechte begründet werden, wenn die Rechtsordnung zugunsten oder zu Lasten der Frauen oder Minderjährigen privilegia favorabilia oder odiosa schafft, bedarf keiner Begründung. Aber wäre es eine unzulässige Bevorrechtung eines Standes, wenn, um nur ein paar Beispiele anzuführen, die öffentlichen Beamten dem Erfordernis der Ehebewilligung oder einem Testierverbot unterworfen würden, oder wenn tatsächlich einzelne Gruppen von Privatangestellten durch kriegswirtschaftliche Verordnung in ihrer Vertragsfreiheit beschränkt sind? Die Verfassung hat bekanntlich eine Legaldefinition des Standes unterlassen; damit ist aber der Interpretator nicht einfach auf die Fülle der in der Wissenschaft gangbaren Begriffsbestimmungen des Standes verwiesen. Sowohl die objektive als auch die subjektive Interpretation führt vielmehr zu einer Verengerung der Bedeutung des Wortes Stand in einem ganz bestimmten Sinn. Die materiellrechtliche Relevanz der Verfassungspräambel besteht bekanntlich darin, daß Verfassungsbestimmungen, die an sich mehrdeutig wären, im Sinne der von der Präambel verkündeten Verfassungsprinzipien zu verstehen sind, sofern diese einen bestimmten Sinn eines Wortes oder einer Wendung bedingen. Diese Auslegungsmaxime führt freilich dann zu Schwierigkeiten, wenn den verschiedenen von der Präambel verkündeten Baugesetzen der Verfassung verschiedene Bedeutungen eines von der Verfassung eingeführten Ausdruckes entsprechen. Dies ist aber mit dem Aus-

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druck Stand nicht der Fall, und so braucht das Problem des Ausgleiches zwischen verschiedenen Bedeutungen des Ausdruckes Stand, die etwa durch die verschiedenen miteinander konkurrierenden Baugesetze bedingt wären, diese Untersuchung nicht zu komplizieren. Bekanntlich hat nun der christliche Gedankenschatz, und zwar die Theologie, aber auch die normativen Quellen selbst, einen bestimmten Sinn des Wortes,,Stand" ausgeprägt, der sich mit einer der zahlreichen wissenschaftlich möglichen Bedeutungen deckt. Aus dem theologischen Schrifttum sei nur die Begriffsbestimmung Ignaz Seipels herausgegriffen, die einerseits offenbar auf die Fassung des Begriffes in der Enzyklika Quadragesimo anno eingewirkt hat, andererseits an sich schon für die Kodifikatoren der österreichischen Verfassung am ehesten maßgeblich gewesen sein kann. In dem Aufsatz ,,Was sind Stände?", den Seipel in das Sammelwerk „Der Kampf um die österreichische Verfassung" 3 aufgenommen hat, versteht er unter Ständen vertikal gegliederte soziale Gruppen, deren Angehörige durch eine gleichartige Berufsbetätigung gekennzeichnet sind, und führt als Beispiel solcher Stände den geistlichen Stand, den Soldatenstand, den Gelehrtenstand und den Bauernstand vor. Die berühmt gewordene Definition der Enzyklika Quadragesimo anno vom 15. Mai 1931 spricht von Ständen (ordines) als sozialen Gebilden, „denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört". An diesen Begriffsbestimmungen ist insbesondere beachtenswert, daß es keinesfalls auf den Umfang einer sozialen Gruppe, sondern lediglich auf die Gleichartigkeit der sozialen Leistung ankommt. Als Stände sind sonach verschieden weite oder enge Menschengruppen zu bezeichnen, die zueinander im Verhältnis konzentrischer Kreise stehen. In diesem Sinn bildet also beispielsweise die Gesamtheit der in der Landwirtschaft, im Gewerbe, in der Industrie, im Geldwesen tätigen Menschen, aber auch jede durch gleichartige Wirtschaftsziele abgegrenzte Teilgruppe jener umfassendsten Gruppen, beispielsweise die Gesamtheit der Forstwirte, die Zimmerleute, die Metallwarenindustrie, das Bankwesen, je einen Stand. Ständischen Charakter haben sonach im Sinne des kirchlichen Normenkreises und der theologischen Literatur jene sozialen Gruppen, die von der soziologischen Literatur einer-

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Wilhelm Braumüller, Wien 1930, S. 199-204.

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seits als Gesamtstände, andererseits als Teilstände bezeichnet werden. Die Berufung der Verfassung auf die christliche Staatsidee kann nun geradezu als die Verweisung auf diesen kirchlichen Ständebegriff verstanden werden. Auch die subjektiv-historische Interpretation läßt wohl diesen kirchlichen Ständebegriff als den für die österreichische Verfassung maßgeblichen erkennen. In diese Richtung hat übrigens schon die Staatspraxis jener Zeit gewiesen, die von der päpstlichen Enzyklika wenigstens bewußt noch nicht beeinflußt war. So führt das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juni 1932, Zahl Β 74/31, JB1.1932,455, zur Auslegung des Art. 7 B-VG vom 1. Oktober 1920 folgendes aus: „Insbesondere wird das Wort Stand für die soziale Gliederung der Gesellschaft nach der gesellschaftlichen Rangordnung und nach Berufsklassen(!) gebraucht. Diese Bedeutung ist immer entschiedener vorherrschend geworden und ist in der Regel dann anzunehmen, wenn der Zusammenhang nicht auf eine andere weist. Dies trifft insbesondere für Art. 7 B-VG zu, der von Vorrechten des Standes spricht." Um so eher muß im System der Verfassung 1934, die nach ihrer Präambel auf ständischer Grundlage errichtet sein will und die unter den Ständen nach dem Beruf gegliederte gesellschaftliche Gruppen versteht, jeglicher Personenkreis, der durch die Gemeinsamkeit des Berufes gekennzeichnet ist, als Stand gelten. Die vorstehende Interpretation des Ständebegriffes zieht freilich der Differenzierung der Rechtsordnung je nach der Berufszugehörigkeit ungeahnt enge Schranken und hat älteren Differenzierungen dieser Art, wie noch zu zeigen sein wird, in ungeahntem Umfang den Boden entzogen.4 Es wäre nicht zu verwundern, wenn die Staatspraxis dieser Folgerung zu entgehen versuchte, indem ad hoc der Begriff des Standes verengt werden würde, etwa in der Weise, daß als Stände im Sinne des Art. 16 nur die auf Grund des Art. 32, Verfassung 1934 durch Gesetz errichteten berufsständischen Körperschaften der Landwirtschaft, des Gewerbes, der Industrie, des Handels und Verkehrs, des Geldwesens und des öffentlichen Dienstes verstan-

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In anderen Rechtsordnungen, die den verfassungsförmigen Gleichheitsrechtssatz aufweisen, wird er freilich noch rigoroser ausgelegt. Beispielsweise bemerkt W. Burckhardt in seinem Kommentar zur Schweizer Bundesverfassung (Bern 1931, S. 28): „Damit ist gesagt, daß reine Privilegien, privilegia favorabilia oder onerosa , mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht vereinbar sind.44 Vgl. auch die vom Verfasser zitierte Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichtes.

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den werden. Die Organisierung bestimmter berufsständischer Körperschaften hätte sonach unter anderem die Bedeutung einer Legalinterpretation des Standesbegriffes der Verfassung. Eine derartige einengende Auslegung des Standesbegriffes, derzufolge Stand mit berufsständischer Körperschaft identisch ist und daher nur jene Berufskreise als Stände auch im Sinne des Art. 16 Verfassung behandelt werden dürften, die die einfache Gesetzgebung mit Körperschaftscharakter auszustatten beliebt, würde aber völlig die einhellig von der Literatur und im allgemeinen auch von der Praxis angenommene Auffassung verleugnen, daß Art. 16, wie überhaupt die verfassungsmäßigen Grundrechte, nicht bloß für die Vollziehung in Form von Gerichtsbarkeit und Verwaltung, sondern auch für die einfache Gesetzgebung eine Schranke darstellen. Denn nach dieser im vorstehenden supponierten Auslegung wäre es im Ermessen des einfachen Gesetzgebers gelegen, durch willkürliche Kreation von Berufsständen, insbesondere durch künstliche Abgrenzungen, sich selbst das Bereich unzulässiger Rechtsunterschiede auszuzeichnen und im übrigen für die erwünschten Rechtsunterschiede freie Bahn zu schaffen. Eine solche restriktive Auslegung des Begriffes Stand würde übrigens zu dem Ergebnis führen, daß vor der Entscheidung des Gesetzgebers, welche berufsständische Körperschaften geschaffen werden sollen, der verfassungsmäßige Rechtsschutz vor Ungleichbehandlung der Stände unwirksam bleiben müßte. Es könnte also, um die grotesken Folgen einer solchen Auslegung an ein paar Beispielen aufzuzeigen, für die Ärzte etwa ein Eheverbot, für die Rechtsanwälte Testierunfähigkeit usw. rechtmäßig begründet werden, insolange als nicht die Ärzte und Rechtsanwälte in berufsständischen Organisationen gemäß Art. 32 organisiert sind. Ja es könnte die Verfassungsgarantie gegen Ungleichbehandlung der Stände überhaupt erst dadurch wirksam werden, daß sich der Gesetzgeber entschließt, Ausführungsgesetze zu Art. 32 Abs. 2 Verfassung 1934 zu erlassen, d.h. berufsständische Körperschaften einzurichten. Endlich wird die hypothetisch angenommene Interpretation des Ausdruckes Stand auch durch die Erwägung ad absurdum geführt, daß gerade jenen sozialen Unterschieden, die den Gesetzgeber zur Absonderung der sozial Verschiedenen in eigenen Körperschaften veranlassen, nicht durch ungleiche Berechtigungen Rechnung getragen werden dürfte, während bei minder tiefgreifenden sozialen Unterschieden Rechtsunterschiede erlaubt wären; beispielsweise dürften zwischen Richtern, Verwaltungsbeamten, öffentlichen Lehrpersonen als Angehörigen eines und desselben Berufsstandes rechtliche Ungleichheiten begründet werden, die im Verhält-

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nis zwischen allen Angehörigen des Berufsstandes des öffentlichen Dienstes einerseits, des Gewerbes oder der Industrie andererseits unzulässig wären. Geringeren sozialen Zäsuren dürfen also rechtliche Zäsuren korrespondieren, tiefergreifenden dagegen nicht. Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Die Verfassung verwehrt grundsätzlich Ungleichheiten zwischen den Ständen, genauer zwischen den Standesangehörigen, gleichviel, ob diese in einer berufsständischen Körperschaft zusammengefaßt sind oder nicht. Doch muß dieser Verfassungsrechtssatz cum grano salis verstanden werden. Schon in der vorständischen Ära hat der Gleichheitsrechtssatz trotz seiner ausdrücklichen Verpönung von Ungleichheiten des Standes (Art. 7 B-VG 1920) nicht als Hindernis eines besonderen Berufsrechtes, etwa der Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker und der Gewerbebetreibenden gegolten, das in besonderen Verwaltungsgesetzen kodifiziert worden ist. Nicht einmal die Geltung des Notariatstarifs und der Arzneitaxe für Apotheker wurde und wird als Durchbrechung der Gleichberechtigung der Stände angesehen, obwohl diese Einrichtungen doch in auffälligem Gegensatz zur Freiheit der Honorarforderung des Arztes oder Architekten stehen und darum nicht so ohneweiters gerechtfertigt sind.5 Um so eher müssen im Rahmen einer ständischen Verfassung besondere Standesrechtsordnungen Raum haben. Diese Feststellung hat nicht bloß in der Idee einer ständischen Verfassung, sondern sogar im Text der österreichischen Verfassung ihren Erkenntnisgrund. Art. 32 Verfassung 1934 besagt in den Absätzen 2 und 3: ,,Den Berufsständen wird durch Gesetz die Selbstverwaltung ihrer berufseigenen Angelegenheiten unter der Aufsicht des Staates ermöglicht. Die Heranbildung zum Beruf und die Berufsausbildung unterliegen den Gesetzen und den auf Grund der Gesetze erlassenen Satzungen der öffentlich-rechtlichen Berufskörperschaften." Damit legt die Verfassung die Grundlage für ein besonderes Berufsrecht der einzelnen Berufsstände, und zwar nicht bloß in der Rechtssatzform autonomer Statuten der einzelnen Berufsstände, sondern auch in der Rechtssatzform des staatlichen Gesetzes, sei es nun eines Bundes- oder Landesgesetzes, da die Zuständigkeit zur Gesetzgebung nach einem ziemlich komplizierten Schlüssel auf Bund und Länder verteilt ist

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Anders ist m.E. die Rechtslage nach dem Bundesgesetz vom 4. Juni 1923, BGBl. 305, und der Verordnung vom 9. April 1924, BGBl. 121, hinsichtlich des Rechtsanwaltstarifes.

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(Art. 36 Abs. 1 Z. 8 Verfassung 1934). Die Zulässigkeit inhaltsverschiedener Berufsrechtsordnungen in der Form der berufsständischen Satzungen ergibt sich selbstverständlich aus der Einführung einer solchen partikulären Rechtssatzform; man kann doch nicht annehmen, daß die Berufsstände verpflichtet seien, in dieser partikulären Form der Rechtsetzung materiell gemeines Recht zu schaffen, denn das würde bedeuten, daß sie die zunächst von irgend einer Korporation geschaffenen Satzungen zu kopieren verpflichtet wären. Aber auch die auf Art. 32 Verfassung beruhenden Bundesund Landesgesetze können aus denselben Gründen inhaltlich voneinander abweichen, verschiedenes Berufsrecht schaffen. Die Ermächtigung des Art. 32 Abs. 3 spielt jedoch nur die Rolle der lex specialis im Verhältnis zur lex generalis des Art. 16 Abs. 1 und ist als solche einengend auszulegen. Die Rechtsgleichheit ohne Unterschied des Standes ist die Regel, die Rechtsunterschiede, die sich aus der verschiedenen Standeszugehörigkeit ergeben, sind die Ausnahmen von dieser Regel. Die hiemit zugelassenen Unterschiede in der Rechtslage der einzelnen Standesangehörigen können nicht erschöpfend kasuistisch aufgezählt werden. Es kann nur allgemeingültig festgestellt werden, daß die Berechtigungen und Verpflichtungen der Berufsangehörigen gegenüber den Berufskörperschaften von den berufsständischen Gesetzen und innerhalb derselben von den körperschaftlichen Satzungen der einzelnen Berufsstände verschieden gestaltet werden können. Beispielsweise können die Umlagen der einzelnen Berufsstände oder das Wahlrecht der Standesmitglieder zu den berufsständischen Kollegialorganen verschieden geregelt werden. Andererseits ist eine Differenzierung des Privatrechtes, Strafrechtes und auch des Verwaltungsrechtes, die sich an die verschiedenen Berufszugehörigkeit anschließt, aber nicht in verschiedenen Berechtigungen oder Verpflichtungen gegenüber dem Berufsstand besteht, durch den Gleichheitsrechtssatz verwehrt. Die Statuierung von privilegia favorabilia oder odiosa im Hinblick auf die verschiedene Berufszuständigkeit auf dem Gebiete des sonst gemeinen Bundes- oder Landesrechtes wäre eine Verletzung des Gleichheitsrechtssatzes, also verfassungswidrig. Im übrigen bedarf es in jedem einzelnen Fall tatsächlicher Rechtsungleichheiten zwischen einzelnen Kategorien von Staatsbürgern einer kritischen Prüfung, ob überhaupt eine Ungleichheit des Standes vorliegt und ob sodann diese Ungleichheit durch Art. 32 Verfassung 1934 gedeckt ist oder zu Art. 16 Verfassung in unversöhnlichem Gegensatz steht. 21 A. J. Merkl

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Zum Schluß bleibt noch die Frage zu beantworten, welche rechtliche Relevanz die in verschiedenen Rechtsquellen vorkommenden Rechtsungleichheiten haben, die sich mit der Verfassung nicht vereinbaren lassen. Die Antwort ist verschieden je nach dem Datum der unhaltbaren Ungleichheitsnorm. Normen, die etwa seit dem Inkrafttreten des Verfassungsartikels 16 in Widerspruch zu dieser Verfassungsnorm erlassen worden sind, sind zwar als verfassungswidrig, aber doch als vorläufig gültig anzusehen. Sie unterliegen jedoch der verfassungsmäßigen Überprüfung durch den Bundesgerichtshof, sofern sie sich ihrer Form nach als Bundes- oder Landesgesetze (Art. 170) oder als Verordnungen einer Bundes- oder Landesbehörde (Art. 169) darstellen. Somit versagt die Verfassungsgarantie der Bundesgerichtsbarkeit im allgemeinen gegenüber den generellen Akten der berufsständischen Selbstverwaltung nicht weniger wie gegenüber gleichen Akten der gebietskörperschaftlichen Selbstverwaltung. Sofern aber dem Gleichheitsrechtssatz widersprechende Rechtsquellen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten seiner letzten verbindlichen Fassung, d.i. des Art. 16 Verfassung 1934 stammen, sind sie nicht etwa nachträglich verfassungswidrig geworden, sondern gemäß der Auslegungsregel ,, lex posterior derogat priori " als in diesem Punkte aufgehoben anzusehen, und zwar gleichgültig, ob sie zur Zeit ihrer Erlassung verfassungsmäßig oder verfassungswidrig gewesen sind, und in letzterem Falle nur mangels verfassungsgerichtlicher Überprüfung vorläufig wirksam gewesen sind. Wofern an der Aufrechterhaltung dieser älteren Vorschriften, namentlich gewisser Bestimmungen von kriegswirtschaftlichen Verordnungen, ein staatspolitisches Interesse bestanden hat oder besteht, hätten sie als Ausnahmen vom Gleichheitsrechtssatz durch besondere Verfassungsnormen aufrechterhalten werden müssen. Ein Vorbild für dieses kodifikatorische Verfahren bietet etwa der § 11 VÜG 1934, der eine einfachgesetzliche Ausnahme vom Verfassungsrechtssatz des Art. 21 „nulla poena sine lege praevia" ausdrücklich aufrechterhält. Dieser Vorbehalt war augenscheinlich nach Auffassung des Gesetzgebers nötig, um die Derogation der von der neueren Verfassungsrechtslage ahbweichenden älteren Gesetzesnorm zu verhindern. Mangels eines solchen Vorbehaltes haben aber die Rechtsungleichheiten älteren Datums neben der jüngeren Gleichheitsnorm der Verfassung 1934 keinen Raum, und ist es Aufgabe der Praxis, der Verfassung 1934 auch in diesem Punkt zur Wirksamkeit zu verhelfen.

Der Föderalismus im österreichischen Verfassungsleben Der Name des Gegenstandes unserer Untersuchung verrät die Abkunft dieses Gegenstandes aus der antiken Welt, die in politischen, staatlichen und rechtlichen Dingen eine so unerschöpfliche Lehrmeisterin ist, daß dem Mittelalter und der Neuzeit weniger Neues zu erfinden als die Erfahrung der Antike zu verwerten übrig geblieben ist. Es soll an dieser Stelle an die Staatenbünde der alten Hellenen und an die Rechtsform ,,foedus ac amicitia", mittels deren die Römer auf italischem Boden imperialistische Ausdehnungspolitik unter Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität ihrer Bundesgenossen betrieben haben, lediglich erinnert werden. Schon in der antiken Erfahrung zeigt sich somit das „foedus" als technisches Mittel der Herstellung einer politischen und rechtlichen Einheit innerhalb einer Vielheit von politischen und rechtlichen Individuen, also gewissermaßen als Mittel der Potenzierung staatlicher Gemeinschaft. Dem politischen Instinkt der Deutschen, der darum auch von extremen Zentralisten als Instinktlosigkeit herabgesetzt wird, lag die föderalistische Idee so nahe, daß man ihre Auswirkungen im Staatsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nicht etwa als Ergebnis der Rezeption des römischen Rechtes, sondern als Erzeugnis streng nationalen Rechtsdenkens und Rechtslebens beurteilen muß. Zeugnis dieser Tatsache ist unter anderem die Schrift „Deutschland und der Föderalismus" von Constantin Franti , wohl die bekannteste und eine der lesenswertesten Schriften über das Problem des Föderalismus. Es bestanden nicht bloß bündnisförmige Gemeinschaften zwischen den unverhältnismäßig selbständigen Gliedern des Reiches von der Art der Städtebünde, sondern das Reich selbst kann man zur Zeit der Herrschaft der ständischen Verfassung als einen Bund zwischen Kaiser und Ständen betrachten, und ebenso kann man die Territorien als Bünde zwischen dem Landesherrn und den Landständen deuten, die ihrerseits selbst

Monatshefte für Kultur und Politik, 1. Jg. (1936), S. 398-409. 21

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oft durch ,,Einungen" verbunden waren. Das bündische Prinzip ist, wie schon die deutsche Geschichte nahelegt, durchaus nicht notwendig auf die Verbindung von Gebietskörperschaften angewiesen, sondern ebensowohl als Verbindung von Personalverbänden denkbar. Erst die Aushöhlung der politischen Personenverbände durch den Absolutismus und ihre gänzliche Aufhebung durch den Liberalismus hat die praktische Möglichkeit der föderalistischen Gemeinschaft auf einen Bund von Gebietskörperschaften beschränkt und so vermutlich auch den üblichen Begriff des föderalistischen Verbandes als eines Verbandes von Gebietskörperschaften gezeitigt. Diese bloß im Tatsächlichen gerechtfertigte Verengung des Begriffes wirkt sogar noch im Aufbau der neuen österreichischen Verfassung nach, indem sie den Bundesstaat Österreich als eine Gemeinschaft von Gebietskörperschaften, nämlich der Länder, und nicht überhaupt oder wenigstens außerdem als eine Gemeinschaft von Ständen gestaltet. Eine gleichmäßige Bewertung der Selbstverwaltungskörper auf territorialer und jener auf personeller, insbesondere berufständischer Grundlage könnte nämlich in der Verfassungskonstruktion derart zum Ausdruck kommen, daß der Bund sowohl als Bund von Ländern als auch als Bunden von Ständen organisiert werden würde. Dem Wortsinn nach ist Föderalismus eine politische Forderung oder rechtliche Einrichtung, die eine Verbindung oder einen Bund zum Gegenstande hat. Das Wort Föderalismus bezeichnet sonach einen politischen Begriff\ sofern es das Streben oder die Tendenz nach Herstellung einer bündischen Gemeinschaft ausdrückt, und einen rechtlichen Begriff\ sofern es das positivrechtliche Ergebnis dieses Strebens, den Bestand der bündischen Gemeinschaft bezeichnet. Das Wort Föderalismus wäre auch für eine Vereinigung von Einzelmenschen richtig verwendet, doch ist es in diesem Sinne nicht gebräuchlich. Als Ausdruck eines politischen und rechtlichen Begriffes bezieht es sich ausschließlich auf eine erstrebte oder verwirklichte Gemeinschaft von Gemeinschaften, also auf die bündische Ausgestaltung von etwas an sich schon Politischem und Rechtlichem. Geschichtlich sind im abendländischen Kulturkreis drei Formen der föderalistischen Potenzierung von Gemeinschaften in Erscheinung getreten: Wenn man in der Richtung wachsender Gemeinsamkeit der verbundenen Teilgemeinschaften vorgeht, bedeutet der Staatenbund das geschichtliche Höchstmaß an Selbständigkeit der Gemeinschaftsglieder und das Mindestmaß an Gemeinschaft zwischen ihnen, dagegen der sogenannte dezentrali-

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sierte Einheitsstaat das Höchstmaß an Gemeinsamkeit und das Mindestmaß an Selbständigkeit der verbundenen Körperschaften. Die Mitte zwischen diesen beiden Extremen nimmt der Typus des Bundesstaates ein; nach dessen üblicher Deutung stellt er eine zur Staatlichkeit gediehene Gemeinschaft dar, innerhalb deren aber immerhin wegen des Maßes ihrer Selbständigkeit selbst als Staaten aufgefaßte Gemeinschaftsglieder Raum haben. Ein geschichtliches Beispiel des Staatenbundes ist der Deutsche Bund (1815 1867): die verbündeten Staaten Österreich, Preußen, Bayern usw. gelten als souverän und können aus dem Bunde, der nur eine widerrufliche Gemeinschaft ohne Staatscharakter zur zweckmäßigen gemeinsamen Besorgung gewisser staatlicher Aufgaben ist, beliebig ausscheiden. Als denzentralisierter Einheitsstaat galt die österreichische Monarchie, zumindest von 1867 1918: Staatscharakter hat nur die Gemeinschaft der ,,im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder", doch die Kronländer sind über bloße Selbstverwaltungskörper hinausgehoben, da sie außer der „autonomen" Verwaltung auch durch eigene Landesparlamente („Landtage") Gesetzgebung ausüben und damit staatsähnlich geworden sind („Staatsfragmente" zum Unterschied von den „Gliedstaaten" eines Bundesstaates). Der Bundesstaat endlich stellt sich als Zwischenbildung zwischen dem Staatenbund und dezentralisierten Einheitsstaat dar. Er verteilt die Staatsfunktionen, und zwar sowohl die Gesetzgebung als auch die Verwaltung und (abgesehen von Österreich) die Justiz nach einem verfassungsmäßigen Schlüssel auf eine zentrale Autorität (Bund, Reich, Eidgenossenschaft usw.) und auf mehrere lokale Autoritäten („Länder", „Kantone", „Staaten") und richtet zu diesem Zwecke neben einem Zentralparlament auch mehrere lokale Parlamente, neben einer Bundes- oder Reichsregierung auch Landesregierungen ein; überdies aber räumt er einer Vertretung der Länder die Mitwirkung an der Gesetzgebung und Vollziehung des Bundes ein. Diese Rechtsform des Föderalismus hat, vom ersten Bundesstaat der Geschichte, den Vereinigten Staaten von Amerika ( 1787) ausgehend, die föderalistische Idee um die Erde getragen und ihr, vielleicht von Asien abgesehen, in allen Kontinenten eine Heimstatt bereitet. In Europa hat diese amerikanische Erfindung in der Schweiz (1848), im Deutschen Reich (1848) und in Österreich (erklärtermaßen erst 1920) Eingang gefunden, doch auch die jüngste österreichische Verfassung, die im übrigen eine Abkehr von fremdem politischem Gedankengut bedeutet, hat die föderalistische Idee in Gestalt des Bundesstaates von ihrer Vorgängerin wenigstens grundsätzlich übernommen und sogar im neuen Staatsnamen „Bundesstaat Österreich" zum Ausdruck gebracht.

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Die im vorstehenden kurz gekennzeichneten Typen föderalistischer Gemeinschaftsbildung bedeuten, vom dezentralisierten Einheitsstaat ausgehend über den Bundesstaat zum Staatenbund Grade zunehmender Föderalisierung, vom Staatenbund ausgehend über den Bundesstaat zum dezentralisierten Einheitsstaat fortschreitend Grade zunehmender Unitarisierung im Rahmen einer grundsätzlich föderalistischen Rechtstechnik. Es fragt sich allerdings, ob im dezentralisierten Einheitsstaat der föderalistische Staatstypus noch beibehalten ist oder ob nicht vielmehr der quantitative Zuwachs an Unitarismus den qualitativen Übergang zum schlechthin unitarischen Staatstypus bedeutet. Wenn man indes berücksichtigt, daß das Kaisertum Österreich in dieser Form ein grundsätzliches Zugeständnis an die Kronländer machen wollte, die sich als historisch-politische Individualitäten fühlten, so begreift man, daß die Staatslehre durch den österreichischen Lösungsversuch des föderalistischen Problems mit beeinflußt, den fraglichen Staatstypus noch als rechtlichen Ausdruck des Föderalismus gedeutet hat. Nach diesem Präzedenzfall muß man es sonach als den immerhin noch denkbaren Grenzfall föderalistischer Staatsgestaltung anerkennen, wenn Staatsteile von der Art der altösterreichischen Kronländer über die administrative Dezentralisation durch die Selbstverwaltung hinaus in dem Maße verselbständigt werden, daß ihnen nicht nur eine eigene Verwaltung, sondern auch eine eigene formelle Gesetzgebung zukommt. Ebenso wie die Skala: dezentralisierter Einheitsstaat, Bundesstaat und Staatenbund, Steigerungen des Föderalismus und die Skala: Staatenbund, Bundesstaat und dezentralisierter Einheitsstaat, Steigerungen des Unitarismus bedeuten, kann jedes der genannten Gebilde durch Dosierung des in allen Fällen notwendigen unitarischen und föderalistischen Einschlages in sich wiederum entweder ein höheres Maß von Unitarismus oder Föderalismus aufweisen, also sich als relativ unitarisch oder relativ föderalistisch organisiert darstellen. An diesem Sprachgebrauch dürfte auffallen, daß die Stärkung der Gemeinschaftsglieder als Ausdruck des Föderalismus, dagegen die Stärkung der Gemeinschaf t als Abkehr vom Föderalismus erscheint; denn dem ursprünglichen Wortsinne nach könnte man vielleicht erwarten, daß die Intensivierung des Bundes als föderalistisch zu beurteilen sei. Wenn man freilich den Unitarismus als Gegenbegriff des Föderalismus setzt, so ist schon rein sprachlich der Föderalismus der Ausdruck einer loseren Gemeinschaft als einer solchen, die man unitarisch nennt. Ein schlechthin unitarisches Gebilde hat alle Teilgemeinschaften absorbiert, föderalistisch

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kann man nur ein Gebilde nennen, dessen „föderierte" Glieder innerhalb der wesensnotwendigen Gemeinschaft selbständige Existenz aufweisen. Die im vorstehenden gebrauchte Ausdrucksweise bedarf auch noch in der Richtung einer Erklärung, daß nicht ein dynamischer, sondern ein statischer Begriff des Föderalismus zugrunde gelegt ist. Föderalistisch nennen wir nicht eine politische Gemeinschaft, die durch ein „foedus", d.h. durch einen selbstherrlichen Zusammenschluß sich selbst bestimmender politischer Individuen entstanden ist, sondern ein Gebilde, das ohne Rücksicht auf seinen Entstehungsweg in der Koexistenz einer zentralen und mehrerer lokaler Autoritäten, im besondern in dem Nebeneinandersein und Miteinanderwirken von Einheit und Gliedern, Bund und Verbundenen (nicht notwendig Verbündeten!) besteht. Österreich und Brasilien sind die geschichtlichen Fälle von Bundesstaaten, die durch Ausgliederung von Gliedstaaten aus einem Einheitsstaate entstanden sind. Wenn man jedoch den Begriff der föderalistischen Gemeinschaft im allgemeinen und des Bundesstaates im besondern ausschließlich oder unter anderem durch das Merkmal des ,,Zwsammenschlusses ( i selbständiger politischer Gebilde bestimmt, könnte Österreich keinesfalls als das, was es sich offiziell nennt, nämlich als Bundesstaat bezeichnet werden, wäre es aber auch vordem niemals Bundesstaat gewesen. Man ist sich heute kaum noch bewußt, daß der Föderalismus zugleich mit dem Parlamentarismus in die österreichische Geschichte eingetreten ist. Solange die österreichischen Länder von einem absoluten Herrscher regiert wurden, mithin keine eigenwilligen politischen Individualitäten, sondern nur Verwaltungssprengel gewesen sind, in denen die Provinzialstände ein bloßes Schattendasein führten, kann von einer föderalistischen Staatsgestaltung nicht die Rede sein. Erst sobald gemäß der konstitutionellen Idee das Volk zur Mitregierung berufen wird, taucht in jedem gemischtnationalen Staat, zumal in einem aus so heterogenen Bestandteilen wie das alte Österreich zusammengesetzten Staate, die Frage auf: Soll dieses Volk als Einheit oder in irgend welche Bestandteile gegliedert zur Mitwirkung an der Staatswillensbildung berufen werden? Gerade die letzte Lösung des Problems der neuen Repräsentantenversammlungen wurde für Österreich durch die altüberkommene Einrichtung der Landstände nahegelegt. Und so hat denn auch schon die erste oktroyierte Verfassung der Monarchie, die Pillersdorfsche Verfassung vom 25. April 1848, außer dem Reichstage, der seinerseits aus dem Senat und einer nach der Volkszahl aus dem gesamten Volke

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hervorgehenden Kammer der Abgeordneten bestehen sollte, zur Wahrnehmung der Provinzialinteressen „Provinzialstände" vorgesehen, deren Charakter als ständische oder parlamentarische Versammlung jedoch offengelassen. Wenngleich die aus dem geschichtlichen Ständestaat überkommenen altösterreichischen Provinzialstände, am Ständebegriff der Enzyklika „Quadragesimo anno" beurteilt, als reine Klassenvertretungen eingesehen werden müssen, da sie in ihren Kurien grundsätzlich nicht alle an der sozialen Leistung beteiligten Untertanen, sondern durch Geburt und Rang gekennzeichnete Schichten der gesellschaftlichen Hierarchie zusammenfaßten, so liegt in ihnen doch der Ansatz zu einer territorialen Aufspaltung des Staatsganzen in selbständig repräsentierte Staatsteile. Wenn schon die Staatsführung im Revolutionsjahr 1848 ernstlich darangegangen ist, die Länder zu eigenem politischem Leben wiederzuerwecken, so war um so mehr die erste Volksvertretung, die zunächst in Wien, sodann nach Verlegung des Reichstages nach Kremsier dortselbst der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes oblag, darauf bedacht, die Länder mit weitestgehender Autonomie auszustatten; war ja doch mit der politischen Akvitierung des Staatsvolkes, das sich aus einer Vielzahl von Nationen zusammensetzte, die nationale Frage zu einer staatspolitischen Frage geworden. In dieser Stunde kamen die Vertreter der Nationen - beinahe zum letztenmal in voller Eintracht - über eine Lösung des Nationalitätenproblems überein, die ihr Werk, den Kremsierer Verfassungsentwurf, als ersten Gipfelpunkt des Föderalismus in der österreichischen Verfassungsgeschichte erscheinen läßt. Der Entwurf sah nicht nur außer dem Reichstag Landtage für jedes Reichsland vor, denen in einer für die damaligen Verhältnisse sehr umfangreichen Aufzählung eine Reihe von Gesetzgebungskompetenzen vorbehalten werden sollte, sondern gab auch dem Reichstag erstmals eine Zusammensetzung, derzufolge er eine Repräsentation der Länder werden sollte; denn außer der Volkskammer war auch eine Länderkammer vorgesehen, die aus je sechs Abgeordneten jedes Reichslandes, welche von den Landtagen gewählt werden, und außerdem je einem vom Kreistag zu wählenden Abgeordneten jedes Kreises jener Länder, die in Kreise untergegliedert waren, bestehen sollte. Der Sinn einer solchen Zusammensetzung des Reichstages ware die Errichtung eines Bundesstaates; denn in diesem Verfassungsentwurf waren nicht nur den Kronländern echte, mit bedeutender Gesetzgebungskompetenz ausgestattete Landesparlamente zugedacht, sondern das Oberhaus des Reichsparlamentes statt nach dem Typus einer

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Privilegienvertretung („Herrenhaus" der oktroyierten Aprilverfassung 1848) nach amerikanischem Vorbild als Ländervertretung gestaltet und Länderkammer benannt. Damit, wie übrigens auch durch den Versuch der Einführung der parlamentarischen Regierungsweise (Beschränkung des Monarchen auf ein suspensives Veto in der Gesetzgebung) wurde der Kremsierer Verfassungsentwurf zu einem gedanklichen Vorläufer - ob auch bewußtes Vorbild, ist fraglich - der Bundesverfassung des Jahres 1920. Jedenfalls besteht zwischen dem österreichischen Verfassungsentwurf des Jahres 1849 und der Verfassung des Jahres 1920 eine ähnliche (schon von Hans Kelsen in seinem „Grundriß des österreichischen Staatsrechtes44, Tübingen 1923, vermerkte) Parallele, wie zwischen dem Verfassungsentwurf der „Frankfurter Paulskirche44 (1848) und der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919. Der föderalistische Kern des Kremsierer Entwurfes ist indes schon in zeitlich näherliegende Verfassungen der österreichischen Monarchie übergegangen. Selbst die an Stelle des utopischen Kremsierer Entwurfes oktroyierte „Märzverfassung 44 vom 4. März 1849 hat trotz Rückbildung der „revolutionären Errungenschaften 44 neben einem durch direkte Volkswahl zu bestellenden Unterhaus ein Oberhaus, dessen Abgeordnete für jedes Kronland von dessen Landtag gewählt werden sollten, und damit auch wiederum Landtage für die einzelnen Kronländer vorgesehen. Man muß sonach die Verfassung vom 4. März 1849 bei Zugrundelegung des internationalen wissenschaftlichen Begriffes des Bundesstaates ebenfalls als bundesstaatlich und im übrigen als konstitutionell-monarchisch kennzeichnen. Das „Sylvesterpatent 44 1851 suspendiert die Märzverfassung 1849 und stellt somit wiederum die absolute Monarchie her. Während der Unitarismus die Staatswillensbildung - im Gegensatz zur Buntheit der politischen Willensbildung bei Herrschaft von echtem Föderalismus - gleichgeschaltet, ist es die Eigentümlichkeit des Absolutismus, jedwede Mitbestimmung des Staatswillens durch politische Faktoren außer dem Herrscher oder Führer völlig auszuschalten. So fehlt denn auch dem absolutistischen Zwischenspiel in Österreich von 1851 bis 1860 ein föderalistischer Einschlag. Freilich waren die föderalistischen Tendenzen nur verdeckt und nicht völlig erstickt. Im „Oktoberdiplom 44 des Jahres 1860 sollte der Föderalismus mit gesteigerter Kraft hervorbrechen. In dieser Urkunde stellt der Kaiser in Aussicht, „das Recht, Gesetze zu geben, abzuändern und aufzuheben ... nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage, bzw. des Reichsrates auszu-

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üben, zu welchem die Landtage die von Uns festgesetzte Zahl Mitglieder zu entsenden haben'4. Von besonderer Bedeutung ist aber, daß der („engere", d.h. auf „Zisleithanien" beschränkte) Reichsrat auf einen eng begrenzten Kreis von Staatsaufgaben verwiesen wird und der große, bei weitem überwiegende Rest der Staatsaufgaben durch die bekannte bundesstaatliche Generalklausel den Ländern übertragen wird: Also ein Föderalismus, der den des Kremsierer Verfassungsentwurfes sogar noch überbietet. Das Kaiserliche Patent vom 26. Februar 1861 („Februarpatent"), das zur Ausführung des Oktoberdiploms ergeht, schwächt zwar die föderalistische Promesse des Oktoberdiploms wesentlich ab, enthält aber immerhin jene föderalistischen Einschläge, die der Verfassung bundesstaatlichen Charakter verleihen. Wiederum ist eine Kammer des Reichsrates ihrer Zusammensetzung nach eine Ländervertretung, nur zum Unterschied vom Kremsierer Entwurf und der Märzverfassung nicht das Oberhaus, das vielmehr unter dem wieder aufgelebten Titel „Herrenhaus" als Privilegienvertretung gestaltet ist, sondern das Unterhaus, so daß an die Stelle des „Volkshauses" ein von den Landtagen zu beschickendes Staatenhaus tritt. In dieses „Haus der Abgeordneten" wird „die für jedes Land festgesetzte Zahl der Mitglieder" von seinem Landtage durch unmittelbare Wahl entsendet. Die Länder werden freilich auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis taxativ festgesetzter Aufgaben beschränkt, so daß der Großteil der Staatsangelegenheiten in die Kompetenz des engeren Reichsrates fällt und überhaupt das Schwergewicht des Staatslebens wiederum von den Ländern in das Reich, freilich in das „engere", um die Länder der ungarischen Krone verminderte, Reich verlegt wird. Das kaiserliche Manifest vom 26. Dezember 1865 („Septembermanifest") suspendiert die Verfassung des Jahres 1861, stellt damit den Absolutismus wieder her und schaltet somit den Föderalismus aus dem Staatsleben ebenso aus wie das Sylvesterpatent 1851, nur noch vorübergehender. Die letzte, zugleich dauerhafteste Verfassung der konstitutionellen Monarchie, die in den fünf Staatsgrundgesetzen vom 21. Dezember 1867 beschlossene „Dezemberverfassung", stellt dagegen mit dem Konstitutionalismus den Föderalismus wiederum her. Gemäß dieser Verfassung besteht das Reichsparlament, das zufolge dem Ausscheiden Ungarns aus dem Kaisertum Österreich nur noch eine einheitliche Vertretung der „Reichsratsländer" darstellt, aus dem Herrenhaus und Abgeordnetenhaus. Die erste Kammer

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besteht in der Hauptsache aus erblichen und vom Kaiser ernannten Mitgliedern, die zweite Kammer dagegen aus Abgeordneten, die nach einem den Bevölkerungszahlen Rechnung tragenden Schlüssel von den Landtagen durch unmittelbare Wahl entsendet werden. Das Abgeordnetenhaus stellt sich somit nach dem Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung (1867) zunächst als eine Länderkammer dar, deren Bestand im Zusammenhalt mit den schon zur traditionellen Verfassungseinrichtung gewordenen Landtagen auch diese Verfassung zu einer bundesstaatlichen gemacht hat. Der föderalistische Gehalt der Verfassung wurde überdies, wenn auch in einer textlich sehr unklaren und daher viel angefochtenen Weise dadurch gesteigert, daß der § 11 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung den Reichsrat auf eine allerdings sehr ausgiebige Liste von Angelegenheiten beschränkt und alle übrigen Gegenstände der Gesetzgebung in den Wirkungskreis der Landtage verweist, somit eine Kompetenzvermutung zugunsten der Länder begründet. Paradoxerweise erregte aber gerade die extrem föderalistische Beschickung des Abgeordnetenhauses, welche diese in gewissen Beziehungen vor dem Herrenhaus bevorzugte Parlamentskammer zu einem politischen Instrument der Länder gemacht hat, bei doktrinären Föderalisten Anstoß; das Abgeordnetenhaus in Wien wurde vom Prager Landtag boykottiert. Dieser Widerstand war der Anstoß für die Verfassungsrevision des Jahres 1873, wonach das Abgeordnetenhaus nicht mehr aus Landtagswahlen, sondern aus Volkswahlen hervorgeht. Die Überführung der Länderkammer in eine Volkskammer (,,Kurienparlament") merzt den Länderanteil an der Reichsgesetzgebung aus und macht Österreich aus einem Bundesstaat, der es bis 1873 gewesen war, zu einem Einheitsstaat, welcher indessen durch den Bestand der überdies durch die Kompetenzvermutung gehobenen Landtage stark im föderalistischen Sinne aufgelockert ist.1 Die Tatsachen boten überdies ein noch stärker föderalistisch gestaltetes Bild der Staatlichkeit, als die Rechtslage vermuten ließ. Erst die Inanspruchnahme einer Notgesetzgebung des Monarchen in Ländersachen, wie sie in dem sogenannten böhmischen Patent (1912) zutage trat, bedeutete eine

1

Die Quelle zur vorstehenden Skizze der Entwicklung des österreichischen Föderalismus enthält die Ausgabe der österreichischen Verfassungsgesetze von Prof. E. Bernatzik, Verlag Manz, Wien 1911. Vgl. dazu auch meine Abhandlung: „Die Rechtseinheit des österreichischen Staates", Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 37 (1918), S. 56-121.

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Revision der Tatsachenlage, nicht auch der Rechtslage, in unitarischem Sinn.2 Die Kritik am Föderalismus der Monarchie, der als unzertrennlicher Weggenosse des Konstitutionalismus dem konstitutionellen Staate das Gepräge gegeben hat, entsprang teils einem doktrinären Unitarismus, wie er sowohl bei absolutistisch eingestellten konservativen als auch bei zentralistisch eingestellten liberalen Altösterreichern anzutreffen war, rührt andernteils aber auch von grundsätzlichen Anhängern des Föderalismus her, die nur bedauerten, daß seine große befriedende Kraft nicht entsprechend für die Erhaltung des habsburgischen Völkerstaates verwertet worden ist. Eine späte, allzu späte Frucht dieser konstruktiven Kritik am Föderalismus bei grundsätzlichem Bekenntnis zu dieser staatsgestaltenden Idee, wie wir sie in den in großösterreichischem Sinn geschriebenen Schriften Ignaz Seipels und auch Karl Renners (unter dem Pseudonym Karner) antreffen, ist das kaiserliche Manifest vom 16. Oktober 1918, worin mit Beziehung auf unser Problem ausgeführt wird: „Nunmehr muß ohne Säumnis der Neuaufbau des Vaterlandes aus seinen natürlichen und zuverlässigsten Grundlagen in Angriff genommen werden. - Österreich soll dem Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet. - An die Völker, auf deren Selbstbestimmung das neue Reich sich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem großen Werke durch Nationalräte mitzuwirken.... So möge unser Vaterland, gefestigt durch die Eintracht der Nationen, die es umschließt, als Bund freier Völker aus den Stürmen des Krieges hervorgehen." Für den, der die Geschichte der österreichischen Monarchie mit der Sonde der Staatsrechtstheorie betrachtet, bedeutet diese Verheißung des Bundesstaates an sich nichts wesentlich Neues, sondern nur den Rückgriff auf Verfassungseinrichtungen, die, vielleicht in ihrer ganzen Tragweite unbewußt, sogar schon aus Initiative kaiserlicher Regierungen geschaffen worden waren. Der große neue Gedanke des Manifestes des Kaisers Karl lag aber darin, daß an Stelle der „historisch-politischen Individualitäten" der Kronländer, in deren Landtagen der sprichwörtliche Nationalitätenhader

2 Vgl. meine Abhandlung „Das kaiserliche Patent über die Fortführung der Verwaltung im Königreiche Böhmen", 1. Jahrgang der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht.

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des Reichsrates geradezu redupliziert wurde, Gliedstaaten treten sollten, deren Grenzen mit den nationalen Grenzen zusammenfallen, daß also jede Nation innerhalb eines Nationalitätenbundesstaates die Autonomie eines Gliedstaates genießen sollte. Dieses für die Geschichte des österreichischen Föderalismus wohl bedeutsamste Dokument hätte vielleicht vor dem Kriege den Staat gestützt und gekräftigt. Zu seiner Zeit aber war es, da es als Ausdruck einer durch den Krieg gezeitigten Schwäche ausgelegt werden konnte, der Anfang des Endes. Zwei Tage später ergeht wie ein hohnvolles Echo aus Paris die „Unabhängigkeitserklärung des tschechoslowakischen Volkes durch seine provisorische Regierung". Mit dieser Sezession der tschechischen Nation war ein tragender Baustein aus dem kunstvollen Gebäude der Monarchie herausgebrochen und ihr Zusammensturz besiegelt. Als letzte Nation zog die deutsche die Konsequenz der Lage und gab sich durch die provisorische Nationalversammlung am 30. Oktober 1918 mit dem „Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" eine provisorische Verfassung für ihren damit neugegründeten deutschösterreichischen Staat. Daß diese Verfassung unausgesprochen republikanischen Charakter hat, so daß der Geburtstag des deutschösterreichischen Staates zugleich auch - wohl für viele Mitwirkende unbewußt - den Geburtstag der Republik bedeutet hat, ist hier weniger von Belang als die Tatsache, daß die Verfassung zugleich auch extrem unitarisch war. Nahm sie doch die gesamte Staatsgewalt, insbesondere die gesamte Gesetzgebung, für die provisorische Nationalversammlung in Anspruch, so daß weder für einen Kaiser, noch für Landtage Raum blieb.3 Der staatsgründende Akt des neuen Österreich erweckte also den Anschein, als wäre mit dem monarchischen Prinzip auch das föderalistische aus dem Verfassungsleben ausgeschaltet. Dieses sollte aber schon nach Tagen wie ein Phönix aus der Asche des alten Staates steigen und auch zum Baugesetze des neuen Staates werden. Freilich konnte es im neuen, national einheitlichen Österreich nicht derselben politischen Idee entspringen und entsprechen, wie in der österreichischen Monarchie, wo es die stärksten nationalen und kulturellen Gegensätze durch die rechtliche Anerkennung eines gewissen Eigenlebens der Staatsteile zu einigen galt. Im Widerspruch zum extrem zentralistischen Staatsgründungsakt, der von der Existenz der Länder überhaupt nicht Notiz nahm, lud die Wiener Staatsre-

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Vgl. hiezu mein Buch „Die Verfassung der Republik Deutschösterreich", Deuticke, Wien 1919.

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gierung Anfang November 1918 die Länder, die mittlerweile auf eigene Faust die kaiserlichen Statthalter entthront hatten, ein, ihren Anschluß an den Staat Deutschösterreich zu erklären. Sie taten dies unter Wahrung ihres Rechtsstandpunktes, daß dies ihr freier Willensakt sei, und ohne Zweifel daran zu lassen, daß sie auch in Zukunft innerhalb des österreichischen Staates ihr Eigenleben führen wollten. Die Staatsregierung trug denn auch diesem Standpunkt der Länder Rechnung, indem sie am 14. November 1918 das ,,Staatsgesetz über die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern44 erwirkte, das in Wirklichkeit seinem Inhalt nach eine Übergabe der Staatsgewalt in den Ländern an diese bedeutet hat.4 Die Verhandlungen und Kämpfe um die definitive Verfassung der im Friedensvertrag von St. Germain sogenannten „Republik Österreich 44 standen dermaßen unter dem Banne der Problemstellung Unitarismus oder Föderalismus, daß alle übrigen Verfassungsprobleme dahinter weit zurücktraten. Die von den drei großen Parteien der konstituierenden Nationalversammlung im Parlament eingebrachten Verfassungsentwürfe stimmten in dem Punkte überein, daß das neue Österreich - erstmals in der österreichischen Geschichte, wie die meisten dachten, abermals, wie der Geschichtskundige weiß - ein Bundesstaat werden solle; die Gegensätze betrafen in diesem Punkte nur das Maß an Föderalismus. In den unter der Führung des Verfassungsministers Professor Michael Mayr nun einsetzenden Verhandlungen über die Verfassung standen andere Probleme als das des Föderalismus kaum in ernster Diskussion oder waren wenigstens rasch gelöst. Der wirkliche Kampf ging um die Verteilung der Staatsgewalt zwischen dem Bund und den Ländern. Ein lebendiges Bild von diesem Kampfe geben die stenographischen Verhandlungsschriften über die Länderkonferenz in Salzburg vom Februar 1920 (Verlag der Landesregierung in Salzburg) und in Linz vom April 1920 (Verlag des oberösterreichischen Landesrates in Linz). Die Verwahrungen, die auf diesen Länderkonferenzen von föderalistischer Seite gegen die vom Friedensvertrag erzwungene Einverleibung ihrer Länder in den ungewollten Staat Deutschösterreich abgegeben worden sind, brauchen wohl nicht ganz wörtlich genommen zu werden, sondern dürfen als diplomatische Aktion zur Erhöhung der Chancen des Föderalismus

4

Vgl. meine Erläuterungen zu diesem Gesetz im Rahmen des „Kommentar zur österreichischen Verfassung 14 von Hans Kelsen, 1. Band, Deuticke, Wien 1919.

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gedeutet werden. Das Ergebnis der Verfassungskämpfe war bekanntlich das von der konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 stimmeneinhellig verabschiedete Kompromiß, das den Titel „Bundesverfassung" trägt und die Republik Österreich zu einem relativ allerdings stark unitarisch eingerichteten Bundesstaat gemacht hat. Gerade Ignaz Seipel war ein Vertreter dieses Kompromisses auf mittlerer Linie und hat sich zu ihm auch durch die eindeutige Geste bekannt, daß er sich zum Berichterstatter über den Entwurf der Bundesverfassung bestellen ließ. Sein unter Nummer 991 der Beilagen der konstituierenden Nationalversammlung in der Wiener Staatsdruckerei erschienener Bericht ist denn auch, wie der wichtigste Beitrag zum Verständnis der Bundesverfassung überhaupt, so im besonderen die erschöpfendste Erklärung und Deutung ihres föderalistischen Gehaltes. In dem Punkte freilich hat trotz des programmatischen Bekenntnisses zum Bundesstaat der föderalistische Charakter der Verfassung 1920 eine entscheidende Rückbildung im Vergleiche mit den bundesstaatlichen Versuchen in der Monarchie erfahren, daß die nunmehr (nach dem Vorbild der Bismarckschen Verfassung) als Bundesrat bezeichnete Länderkammer keinen paritätischen Anteil an der Gesetzgebung des Bundes hatte, sondern im allgemeinen auf ein suspensives Veto beschränkt war, über das die Volkskammer (der „Nationalrat") beliebig hinweggehen konnte.5 Die letzte Etappe der Verfassungsentwicklung Österreichs, die Verfassung 1934, bedeutet im Vergleiche mit der Bundesverfassung 1920 und um so mehr mit den föderalistischen Kulminationspunkten in der Verfassungsgeschichte der Monarchie eine weitere Rückbildung des Föderalismus und eine Steigerung des Unitarismus. Diese dem Zeitgeiste entsprechende Entwicklung darf allerdings nicht der autoritären Tendenz der Verfassungsentwicklung zugerechnet werden, sondern ist ein Ausdruck der auch in nichtautoritären Staaten anzutreffenden Zentralisationstendenz. Die Kritik, der die Verfassung 1934 bei Professor Hermann Wopfner („Von der Freiheit des Landes Tirol", Innsbruck 1934) begegnet ist, scheint allerdings den Abstand zwischen dem vom Verfassungsübergangsgesetz vom 19. Juni 1934 beherrschten Verfassungsprovisorium und dem in der Verfassungsurkunde in Aussicht genommenen Verfassungsdefinitivum zu übersehen. Diese beiden 5 Vgl. meinen Beitrag „Zur deutschösterreichischen Bundesverfassung", Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 28-33, insbesondere aber Ludwig Adamovich, „Grundriß des österreichischen Staatsrechtes", 1. bis 3. Auflage, Verlag der Staatsdruckerei, Wien.

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Schichten der Verfassungsentwicklung müssen bei der Beurteilung des föderativen Charakters ebenso wie bei der des ständischen Charakters der Verfassung streng gesondert werden.6 Solange der Weg rein autoritärer Bundesgesetzgebung durch Bundesregierungsbeschlüsse wahlweise neben dem konstitutionellen Weg unter Mitwirkung des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates, Länderrates und Bundestages offensteht, bleibt der föderalistische Einschlag der Verfassung in der Hauptsache auf die Einrichtung des Landtages und der Landesregierung beschränkt, zwei Organe, deren Zusammensetzung überdies ganz im Ermessen des Bundes liegt. Sobald aber gemäß dem Programm der Verfassung die Landtage aus Wahlen des ständisch gegliederten Landesvolkes hervorgehen und die Länder überdies einen unbedingten Anspruch haben werden mittels des Länderrates als ihres gemeinsamen Vertretungsorganes an der Bundesgesetzgebung, sei es auch nur in der weiter abgeschwächten Form eines Gutachtens (votum consultativum statt des üblichen votum decisivum) mitzuwirken, werden die Mindesterfordernisst föderalistischer Staatsgestaltung in unanfechtbarer Weise erfüllt sein. Diese Aufgabe hat sich denn auch die Verfassung in unzweideutiger Weise durch den Wechsel der Staatsbezeichnung, durch die Wahl des Staatsnamens ,,Bundesstaat Österreich", gesetzt. In dieser Namensgebung liegt ein Bekenntnis zu einem Staatstypus, der dank seiner idealen Verwirklichung der föderalistischen Idee einerseits der Tradition der deutschen Staatsgeschichte, andererseits dem Ideal des christlichen Staates entspricht: Bis zur Gegenwart hat das Deutschtum eine straff zentralisierte Staatsgewalt abgelehnt. Die dem Bundesstaatstypus eigentümliche Aufspaltung des Staatsganzen in eine Zentralgewalt und selbständige Länder ermöglicht aber auch auf dem Boden des Staates selbst die Erfüllung der Forderung des christlichen Naturrechtes, das den engeren sozialen und politischen Gemeinschaften, also den Teilgemeinschaften der Länder, vorbehalten bleibe, was sie an Gemeinschaftsaufgaben leisten können. Denn letzten Endes ist der Föderalismus die praktische Folgerung aus der Einsicht in die Vielfältigkeit menschlichen Wollens und Wirkens, das sich in die Grenzen eines Staates eingeschlossen findet, und eine rechtliche Legitimierung dieser Vielfalt.

6 Vgl. meine Schrift „Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs", Wien 1935, Springer, besonders S. 145 f. und 155 f.

Vollendung des Verfassungswerkes und der Ständeordnung Zum erstenmal seit der großen Rede des Bundeskanzlers Dollfuß auf dem Katholikentag in Wien im September 1933 ist von der Staatsführung dieser Tage eine eindeutige Befristung des Neubaues der österreichischen Staatsund Gesellschaftsordnung ausgesprochen worden. Wer sich der tatsächlichen Vorbildlosigkeit und Vergleichslosigkeit der gesetzten politischen Aufgabe voll bewußt ist, wird begreifen, daß sich die Staatsführung von den ersten, am Beginn des Werkes stehenden und darum in bezug auf den Termin allzu optimistischen Voraussagen abgesehen, voll bewußt und erklärtermaßen auf keine Terminierungen ihrer inhaltlich seit jeher eindeutigen Zielsetzung eingelassen hat, und ist viel eher überrascht, daß das Verfassungswerk und damit auch die Organisation der Stände in ernster, strenger Arbeit derzeit schon zu dem Punkt gediehen ist, der die jüngste staatspolitische Erklärung des Bundeskanzlers möglich gemacht hat. Das Jahr 1938 sei,, das Jahr der Verfassungsvollendung. Die Übergangszeit ist bald vorbei. Am Ende des Jahres 1938 müssen wir die Verwirklichung, die gänzliche Inkraftsetzung der Mai Verfassung herbei geführt haben".1 Legislative Voraussetzungen Diese von oberster Stelle abgegebene Erklärung enthält eine doppelte Befristung: In fünfzehn Monaten sollen die Berufstände aktiviert sein, deren Funktionieren ja die Voraussetzung für das Inslebentreten der ganz oder teilweise aus ständischen Elementen berufenen Staatsorgane ist. In derselben Zeit sollen aber auch die Berufstände und die kulturellen Organisationen die in der Mai Verfassung 1934 vorgesehene Mitwirkung an der Willensbil-

Der österreichische Volkswirt, 1937, S. 11-13. 1

,,Reichspost" vom 20. September 1937.

22 A. J. Merkl

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dung von Bund, Ländern und Gemeinden erlangt haben, womit Österreich den Übergang von einem autoritären zu einem konstitutionellen, durch das Zusammenwirken der Staatsführung mit einer echten Ständevertretung gekennzeichneten Staat vollzogen haben wird. Mit dieser Erklärung ist zugleich aber auch das im Jahre 1933 begonnene und durch das Ermächtigungsgesetz vom 20. April 1934 legalisierte, rein autoritäre Regime als eine zum Abbruch bestimmte Übergangsstellung gekennzeichnet. Die Mai Verfassung 1934 hat bekanntlich nur den Termin des Inkrafttretens des Endzustandes der österreichischen Verfassungseinrichtungen in Schwebe gelassen, dagegen den Inhalt der in Kraft zu setzenden Verfassungseinrichtungen in Rahmenbestimmungen geregelt, die ein klares Bild des Erstrebten ergeben, nämlich eines Ständestaates, der durch die Mitwirkung echter berufständischer Vertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden gekennzeichnet ist. Doch macht dieselbe Maiverfassung das Funktionieren der ständisch zusammengesetzten Organe in Bund, Ländern und Gemeinden von Ausführungsgesetzen abhängig, die innerhalb der verfassungsgesetzlichen Rahmenbestimmungen Berufung und Zusammensetzung dieser Organe zu regeln haben werden. Man darf wohl die solenne Ankündigung des Bundeskanzlers von der Verwirklichung der Maiverfassung auch als Versprechen der Inkraftsetzung dieser die Verfassungseinrichtungen aktualisierenden Durchführungsgesetze verstehen, da ohne diese Durchführungsgesetze die Verfassungsurkunde in ihrem die Mitwirkung des Volkes an der Staatsführung regelnden Teil auch in Hinkunft sozusagen bloß ein papierenes Dasein führen würde. Im übrigen enthält aber die Verfassungsurkunde vom 1. Mai 1934 auch außerhalb der Rahmenregelung der berufständischen Vertretungskörper Gesetzespromessen, die eingelöst werden müssen, wenn die Mai Verfassung bis zum Ende des Jahres 1938 verwirklicht sein soll. So ergibt sich bei einer Analyse des Verfassungstextes im Zusammenhalt mit dem Verfassungsübergangsgesetz vom 19. Juni 1934, das, insoweit und insolange die Verfassungsurkunde noch nicht wirksam geworden ist, Übergangsbestimmungen getroffen hat, ein reiches Programm kodifikatorischer Arbeiten, das in den folgenden Ausführungen zunächst nur verzeichnet werden soll. In einigen weiteren Aufsätzen seien sodann zu den wichtigsten, die Öffentlichkeit und namentlich die Wirtschaft berührenden Programmpunkten jenes aktuellen staatspolitischen Aufgabenkreises, den man unter dem Titel „Verwirklichung der Verfassung 4' zusammenfassen kann, in vorbehaltlos positiver Einstellung zu diesem Aufgabenkreis die

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verfassungspolitischen Lösungsmöglichkeiten und deren verfassungsrechtliche Schranken aufgezeigt. Wahl der allgemeinen Vertretungskörper Wenn man von der Vollendung der Verfassung spricht, so denkt man in erster Linie, wenn nicht ausschließlich an die Organisation der sogenannten allgemeinen Vertretungskörper. Es sind dies: Im Gesamtstaat („Bund") der Bundestag (Art. 50 der Verfassungsurkunde), der sich aus 20 Abgeordneten des Staatsrates (Art 46), 10 Abgeordneten des Bundeskulturrates (Art. 47), 20 Abgeordneten des Bundeswirtschaftsrates (Art. 48), und 9 Mitgliedern des Länderrates (Art. 49) zusammensetzt; für jedes Land ein Landtag (Art. 108), der aus Vertretern von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst sowie aus Vertretern der Berufstände des Landes zusammenzusetzen ist; für die Stadt Wien die Wiener Bürgerschaft (Art. 140), deren Zusammensetzung in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Gleichstellung der Stadt Wien mit einem Bundesland (Art. 145) der Zusammensetzung eines Landtages völlig analog ist; endlich für die Ortsgemeinden der Gemeindetag (Art. 127). Dieser besteht in Ortsgemeinden, in denen die Gliederung der Bevölkerung es zuläßt, aus Vertretern von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst, sowie aus Vertretern der Berufstände in der Gemeinde. Für Ortsgemeinden, bei denen die Gliederung der Bevölkerung eine solche Zusammensetzung des Gemeindetages nicht zuläßt, regelt die Landesgesetzgebung die Bestellung des Gemeindetages in möglichster Anlehnung an die vorstehende Bestimmung: Dies das Programm der Verfassungsurkunde. Nur der Länderrat entspricht bereits in jedem Punkt dem Programm. Im übrigen hat an Stelle dieser programmatischen Organisationsvorschriften das Verfassungsübergangsgesetz vom 19. Mai 1934 die Zusammensetzung der eben genannten Kollegialorgane provisorisch, nämlich bis zur nichtterminierten Inkraftsetzung der zitierten Organisationsvorschriften, in jener Weise geregelt, wie sie derzeit tatsächlich zusammengesetzt sind, und zwar: 22*

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II.A Verfassungsrect

§ 21 des Verfassungsübergangsgesetzes: Staatsrat, Bundeskulturrat und Bundeswirtschaftsrat; somit auch der Bundestag, der nur aus Delegationen der vorgenannten Kollegien und des Länderrates besteht; § 29: Landtage; § 43: Wiener Bürgerschaft; § 39: Gemeindetage. Zur Ausführung des Paragraphen 21 des Verfassungsübergangsgesetzes ist sodann noch unter Bundesgesetzblatt 45 aus 1935 ein Bundesgesetz ergangen, das (auf Dauer des Übergangszustandes) die Zahl der Mitglieder des Bundeskulturrates mit der verfassungsgesetzlichen Höchstzahl von 40 und die Zahl der Mitglieder des Bundeswirtschaftsrates (unter Berücksichtigung einer Novelle zu diesem Bundesgesetz) mit 82 Mitgliedern festsetzt und in folgender Weise auf die zu repräsentierenden Organisationen und Bevölkerungsgruppen verteilt. Bundeskulturrat: 8 Vertreter der römisch-katholischen Kirche, ein Vertreter der evangelischen Kirche, ein Vertreter der israelitischen Religionsgemeinschaft, 22 Vertreter des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, je 4 Vertreter der Wissenschaft und der Kunst. Bundeswirtschaftsrat: 29 Vertreter der Land- und Forstwirtschaft, 15 Vertreter der Industrie und des Bergbaus, 12 Vertreter des Gewerbes, 9 Vertreter des Handels und Verkehrs, 5 Vertreter des Geld-, Kredit- und Versicherungswesens, 5 Vertreter der freien Berufe, 7 Vertreter des öffentlichen Dienstes. Diese Übergangsbestimmungen weichen von den programmatischen Bestimmungen der Verfassung bekanntlich in der Hauptsache dadurch ab, daß die gegenwärtigen Platzhalter der vorgesehenen Repräsentativorgane durch Ernennung berufen werden, während die Verfassungsurkunde zwar nicht ausdrücklich, wohl aber in unzweifelhafter und nie bezweifelter Weise mittelbar die Wahl der genannten Organe vorschreibt. Das Wahlprinzip kann man insbesondere hinsichtlich des Bundeskulturrates der Bestimmung entnehmen, daß er aus „Vertretern" bestimmter kultureller Organisationen und sonstiger Bevölkerungsschichten besteht. Vertreter heißt in der gesamten Gesetzgebung und Literatur (abgesehen vom Fall des „gesetzlichen" Vertreters für eine nicht handlungsfähige Person) nur eine solche Person, die vom Vertretenen namhaft gemacht wird. Hinsichtlich des Bundeswirtschaftsrates ist das Wahlprinzip noch deutlicher durch die Vorschrift ausgesprochen, daß in ihn aus den „Berufsständen" Vertreter zu „entsenden" sind; in ähnlicherWeise ergibt sich das Wahlprinzip auf interpretati vem Wege für die Landtage, Gemeindetage und die Wiener Bürgerschaft. Im Rahmen der angedeuteten Normativbestimmungen haben aber erst Ausführungsgesetze des Bundes und der Länder die Zusammensetzung und

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Berufung der allgemeinen Vetretungskörper zu regeln. Diese Ausführungsgesetze sind in folgenden Verfassungspromessen vorgesehen: „Die Berufung der Mitglieder des Bundeskulturrates (Bundeskulturräte) regelt das Bundesgesetz nach Grundsätzen, die die Beschickung des Bundeskulturrates mit vaterlandstreuen Mitgliedern gewährleisten." (Art. 47, Abs. 4) ,,Die Entsendung der Mitglieder des Bundeswirtschaftsrates (Bundeswirtschaftsräte) regelt das Bundesgesetz nach Grundsätzen, die die Beschickung des Bundeswirtschaftsrates mit vaterlandstreuen Mitgliedern gewährleisten." (Art. 48, Abs. 4) Als berufständische Hauptgruppen, aus denen Vertreter zu entsenden sind, sind in diesem Gesetz vorzusehen: die Land-und Forstwirtschaft, die Industrie und der Bergbau, das Gewerbe, der Handel und Verkehr, das Geld-, Kredit- und Versicherungswesen, die freien Berufe und der öffentliche Dienst. Die Verteilung der aus den Berufständen zu entsendenden Vertreter erfolgt unter der Berücksichtigung der Zahl ihrer (selbständigen und unselbständigen) Berufsangehörigen mit der Maßgabe, daß jede Hauptgruppe mindestens drei Vertreter erhält. (Art. 48) In analoger Weise sieht Art. 108 Landesgesetze vor, welche die Zahl der Mitglieder der Landtage der einzelnen Länder, ihre Verteilung auf die kulturellen Gemeinschaften und berufständischen Hauptgruppen sowie die Art der Berufung der Landtagsmitglieder zu regeln haben werden. Die im Art. 135 delegierten Landesgesetze werden die Zusammensetzung und Wahl der Gemeindetage gemäß den Normativbestimmungen des Art. 127 zu regeln haben. Endlich ist nach Art. 146 das Wiener Stadtrecht berufen, die Verfassungs Vorschriften über die Zusammensetzung und Berufung der Wiener Bürgerschaft (Art. 140) auszuführen. Aus den wiedergegebenen Grundsatzbestimmungen der Verfassung geht hervor, daß statt der vormaligen gebietsmäßig begrenzten Wahlkörper einerseits Berufstände, anderseits kulturelle Gemeinschaften als Wahlkörper für die allgemeinen Vertretungskörper in Bund, Ländern und Gemeinden zu fungieren haben werden. Daraus ergibt sich die oben angedeutete Notwendigkeit des vorgängigen Abschlusses der großen Kodifikation der Organisationen der Berufstände und auch die bisher noch nicht in Angriff genomme-

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II.A Verfassungsect

ne Organisation der zur Mitwirkung an der Staatswillensbildung berufenen kulturellen Gruppen. Was die zuletzt erwähnte Frage betrifft, ist es zwar einerseits ganz einfach, die bestehenden Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Nominierung von Vertretern zu ermächtigen, aber ein heikles Problem, die Kreise des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens einschließlich der Elternschaft einerseits, der Wissenschaft und der Kunst anderseits zum Zweck der Beschickung des Bundeskulturrates und der Nominierung der ihnen zukommenden Vertreter in Landtag, Gemeindetag und der Wiener Bürgerschaft aktionsfähig zu machen. Gesetzgebungsmonopol der gewählten Organe Mit der Aktivierung der gewählten Vertretungskörper erlischt automatisch die Ermächtigung der Bundesregierung zur formellen Gesetzgebung einschließlich der Verfassungsgesetzgebung (§ 56, Abs. 3 Verfassungsübergangsgesetz). Die Bundesregierung wird also die Gesetzesvorlagen, zu denen sie nach wie vor - wofern nicht in diesem Punkt die Verfassung geändert werden sollte - die alleinige Initiative hat, ausnahmslos in den vorberatenden Organen der Bundesgesetzgebung und sodann im Bundestag zur verfassungsmäßigen Behandlung einzubringen haben. Der Staatsführung verbleibt für den hypothetisch angenommenen Fall einer Aktionsunfähigkeit der parlamentarischen Gesetzgebungsmaschine das im zehnten Hauptstück der Verfassung unter dem Titel ,,Notrechte der Verwaltung" einläßlich geregelte Notverordnungsrecht, das selbstverständlich insolange praktisch völlig bedeutungslos war und sein wird, als die Staatsführung dasselbe wie im Verordnungswege auch durch Regierungsgesetze bewerkstelligen kann. Mit der Aktivierung der neuen Gesetzgebungsmaschinerie wird wohl auch das im § 17 des Verfassungsübergangsgesetzes vorgesehene Bundesgesetz überfällig, das den Zeitpunkt festzustellen hat, von dem an die,,durch die kriegerischen Ereignisse der Jahre 1914-1918 hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse als behoben anzusehen sind". Dieses Gesetz wird der Vollmacht zu den kriegswirtschaftlichen Verordnungen, die vorwiegend noch derzeit als zu Recht bestehend gilt, die Grundlage entziehen. Die Staatspraxis seit 1934 hat ja eindeutig gezeigt, daß die weitgehenden neuen Regierungsvollmachten die veraltete Krücke des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes entbehrlich gemacht haben. Diese Liquidierung der rechtlichen Kriegsfolgen wäre nur das folgerichtige Gegenstück zur Überwindung des wehrrechtlichen Ausnahmszustandes der Friedensverträge.

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Bundespräsident und Bundesvolk Ein unentbehrliches Ausführungsgesetz zum Wirksammachen der Verfassung ist sodann das im Art. 73 vorgesehene Bundesgesetz über die Wahl des Bundespräsidenten. Nach § 23 des Verfassungsübergangsgesetzes endet die Amtsdauer des gegenwärtig im Amt befindlichen Bundespräsidenten mit dem Tag der Eidesleistung des Bundespräsidenten, der nach Ablauf der Tätigkeitsdauer des gegenwärtigen Bundeskulturrates und Bundeswirtschaftsrates gemäß Art. 73 der Verfassung 1934 gewählt worden sein wird. Die Einrichtung der Volksabstimmung - nebst dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz die bemerkenswerteste Reminiszenz an die formale Demokratie in der neuen Verfassung - ist insolange eine bloße Verfassungspromesse, als nicht das im Art. 65 Abs. 7 vorgesehene Ausführungsgesetz ergangen ist. Dieses Ausführungsgesetz ist also auch eine Voraussetzung des gänzlichen Wirksamwerdens der Verfassung. Dasselbe gilt endlich auch, um von minderwichtigen Einzelheiten abzusehen, von der Promesse des Art. 14, wonach der Bund, die Länder und die Selbstverwaltungskörper (neuestens also auch die Berufstände) für den Schaden haften, den die als ihre Organe handelnden Personen auch im Bereich der obrigkeitlichen Verwaltung wem immer vorsätzlich oder grob fahrlässig durch rechtswidriges Verhalten zugefügt haben. Nach den ausländischen Erfahrungen ist diese Einrichtung neben der in Österreich mustergültig funktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit die wichtigste Rechtsgarantie für den Mann aus dem Volk. Der parlamentarische Staat hat es zwar für notwendig befunden, die Einrichtung der zivilrechtlichen Schadenshaftung, die zur rechtsstaatlichen Tradition gehört, aus optischen Gründen zu deklarieren, hat aber nichts dazu getan, um diese in den Kreisen der Verwaltung ebenso wie der Wirtschaft als großen Rechtsfortschritt begrüßte Promesse wahrzumachen. Der grundstürzende Wandel der Staatsideologie läßt wohl erwarten, daß das neue Regime auch diese Verfassungsversprechen, die übrigens, wie das jahrzehntelange Beispiel der österreichischen Justiz mit ihrer Syndikatshaftung zeigt, staatsfinanziell ganz unbedenklich ist, mitsamt den anderen Verfassungspromessen einlösen wird. Wer ständig das Bundesgesetzblatt verfolgt, wird die Emsigkeit der bisherigen gesetzgeberischen Produktion nicht unterschätzen; indes läßt das im Vorstehenden nur kursorisch skizzierte Gesetzgebungsprogramm, das

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unsere Verfassung aufstellt und dessen Verwirklichung man von maßgebendster Seite feierlich befristet worden ist, für das Jahr 1938 eine beträchtliche Steigerung des rechtspolitischen Gewichtes unserer Gesetzgebung erwarten.

Die Legitimation zur verwaltungsgerichtlichen Beschwerde als Ermessensfrage In der umfangreichen Literatur aus dem Problemkreise „Verwaltungsgerichtsbarkeit und Ermessen" verschwindet über der Frage, ob und inwieweit das Verwaltungsgericht eine Funktion der Verwaltungsbehörde zu prüfen berechtigt ist oder sein soll, die Frage, ob nicht auch die Annahme der Prüfungskompetenz oder, vom Standpunkt des privaten Interessenten aus gesehen, die Zuerkennung der Beschwerdelegitimation Frage des Ermessens sein kann. Die herrschende Auffassung geht bekanntlich dahin, daß das Verwaltungsgericht zumindest bei der Beurteilung seiner Zuständigkeit zur Rechtsprechung über eine Beschwerde nicht von einem Ermessen Gebrauch mache, sondern eine rechtliche Pflicht erfülle. Mit dieser Auffassung der Theorie stimmt die der Praxis insofern überein, als die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geradezu allgemein die Bejahung der Beschwerdelegitimation als Ausfluß eindeutiger Rechtsvorschriften behandelt. Psychologisch ist es ja gewiß begreiflich, daß ein Gericht die Vorfrage seiner Funktion, nämlich ob es im gegebenen Falle überhaupt angerufen werden und daher den Fall entscheiden könne, nicht als Ausfluß einer freien - auch anders denkbaren - Entschließung, sondern bloß als unentrinnbare Anwendung des Gesetzes gelten lassen will. Indes zeigt die Kritik mancher positivrechtlichen Fassungen der Beschwerdelegitimation, daß das Gericht wahrscheinlich vom Gesetzgeber ungewollt - infolge nicht eindeutiger Bestimmung der Beschwerdelegitimation nicht selten schon in bezug auf die Frage des Eintrittes in das Verfahren Ermessensfreiheit hat. Allerdings findet sich das fragliche Ermessen an ungewohntem Orte, denn während wir es beispielsweise selbstverständlich finden, daß eine Polizeibehörde Wahlfreiheit hat, zum Zwecke der Gefahrenabwehr einzuschreiten oder auch nicht, daß ebenso diplomatische oder militärische Organe von Rechts wegen vor der Alternative aktiven oder passiven Verhaltens stehen, sind wir ge-

Juristische Blätter, 66. Jg. (1937), S. 201-207.

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II.A Verfassungsreclit

wohnt, dank dem Rechtsverweigerungsverbot ein Gericht zu einem bestimmten Verhalten im Falle eines Parteieinschreitens verpflichtet zu sehen. Rechtspolitisch steht es immer außer Zweifel, daß die Frage des Tätigwerdens einer Behörde überhaupt und eines Gerichtes im besonderen von dessen Aktionsbereitschaft unabhängig sein soll. Der Gesetzgeber hat vermutlich ausnahmslos die Absicht, wie weit er auch die Ermessensprüfung eines Gerichtes erstreckt und selbst wenn er dem Gericht bei Ausübung seiner Funktion Ermessen zubilligt, also außer Ermessensprüfung eigene Ermessensausübung einräumt, die Frage der Beschwerdelegitimation eindeutig zu beantworten. Das tatsächliche Ermessen in diesem Punkte erklärt sich also offenbar nur aus einer mangelhaften Gesetzgebungstechnik bei der Erfüllung dieser selbst gesetzten Aufgabe. Tatsache und Grund dieses Ermessens sollen an der Legitimation zur Anrufimg des österreichischen Bundesgerichtshofes im Falle der Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte dargetan werden. Zweck der nachfolgenden Betrachtungen ist allerdings nicht die Auslegung einer bestimmten Vorschrift der österreichischen Gesetzgebung, sondern die Illustrierung einer typischen Ermessensvollmacht an einer Einrichtung des österreichischen Rechtes. Ermessensfreiheit eines Organs erkennt man daran, daß die rechtliche Funktionsregel, die für dieses Organ besteht, die Alternative des Handelns oder Nichthandeins freistellt oder wenigstens verschiedene Varianten des Handelns eröffnet. Ermessensfreiheit des Verwaltungsgerichtes in bezug auf die Beschwerdelegitimation besteht sonach darin, daß die Zuständigkeitsnorm dem Verwaltungsgerichte entweder überhaupt freistellt, von seiner Zuständigkeit Gebrauch zu machen, also ein Prüfungsverfahren einzuleiten oder nicht - ein denkbarer Grenzfall, der kaum jemals praktisch werden wird - oder daß die Zuständigkeitsnorm wenigstens unter bestimmten Voraussetzungen Wahlfreiheit in bezug auf die Einleitung des Prüfungsverfahrens eröffnet. Die zuletzt angedeutete Möglichkeit ist nun nach unserer Behauptung unter anderem im österreichischen Rechte wirklich geworden. Der Beweis dieser Behauptung führt sodann zur rechtspolitischen Frage, ob ein solcher Zustand wünschenswert ist und ob, sowie durch welche rechtstechnische Mittel er vermieden werden könne. Zum Unterschied von der bewußten und beabsichtigten Einräumung einer mehr oder minder weitgehenden Ermessensprüfung an die Verwal-

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tungsgerichte gewährt der Gesetzgeber das in Frage stehende Ermessen in bezug auf die Beschwerdelegitimation unversehens durch Einführung eines unbestimmten Begriffes bei der Umschreibung der Besch werdelegitimation. Dieser unbestimmte Begriff, der die Rolle spielt, schon die Einleitung des verwaltungsgerichtlichen Prüfungsverfahrens in mehr oder minder weitem Umfang in das Ermessen des Gerichtes zu stellen, ist das subjektive Recht. Wenn es auch feststeht, daß ein Verwaltungsakt dem objektiven Recht widerspricht, braucht noch nicht ein subjektives Recht verletzt zu sein. Die Möglichkeit einer Ermessensfreiheit entsteht nur in jenen Fällen, wo die Einleitung des verwaltungsgerichtlichen Überprüfungsverfahrens von der Behauptung der Verletzung eines subjektiven Rechtes und das kassatorische oder meritorische Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes vom Nachweis der Verletzung eines subjektiven Rechtes abhängt. Dagegen ist der Bestand des Ermessens in bezug auf die Beschwerdelegitimation von der Entscheidung des Gesetzgebers zwischen den anderen möglichen Systemen der Verwaltungsgerichtsbarkeit unabhängig. Die Beschwerdelegitimation kann vom Ermessen der Kontrollinstanz abhängen, gleichviel, ob diese als gerichtsförmig funktionierende Verwaltungsbehörde, als ordentliches Gericht oder als Sondergericht zu beurteilen ist; ebensowenig kommt es darauf an, ob die Zuständigkeit der Kontrollinstanz durch Generalklausel oder nach der Enumerationsmethode umschrieben ist, ob das Verwaltungsgericht a priori oder a posteriori in Aktion zu treten hat und welche sonstigen Möglichkeiten in bezug auf Organisation und Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch bestehen können.1 Ermessensfreiheit in bezug auf die Beschwerdelegitimation ergibt sich freilich nur aus den besonderen Umständen, daß das positive Recht die Anrufung des Verwaltungsgerichtes von der Verletzung eines subjektiven Rechtes abhängig macht, ohne für diesen vieldeutigen Begriff eine Legaldefinition aufzustellen oder wenigstens Anhaltspunkte dafür zu bieten, unter welchen Voraussetzungen ein subjektives Recht anzunehmen sei. Ein solcher Anhaltspunkt ist beispielsweise die Parteistellung des Beschwerdeführers in einem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren. Dieserart können aus der Ermessenssphäre zahlreiche Fälle eindeutiger Beschwerdelegtimation ausscheiden. In solchen Fällen verengt sich die Ermessensfreiheit auf

1

Über diese Systeme der Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. mein „Allgemeines Verwaltungsweg", S. 379 ff.

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die Beurteilung der Beschwerdelegitimation jener Beschwerdeführer, die am Verwaltungsverfahren nicht teilgenommen haben, jedoch von dem angefochtenen Verwaltungsakt irgendwie betroffen werden. Solche Fälle sind rechtspolitisch schon darum unvermeidlich, weil die Verwaltungsgerichtsbarkeit auch dafür Abhilfe gewähren soll, daß einem Rechtssubjekt rechtswidrig die Parteistellung im Verwaltungsverfahren vorenthalten worden ist. Würde die tatsächliche Beteiligung am Verwaltungsverfahren Voraussetzung der Beschwerdelegitimation sein, so wäre es in das Belieben der Verwaltungsbehörde gestellt, ob ein Rechtssubjekt die Möglichkeit einer Beschwerde an das Verwaltungsgericht hat oder nicht. Die Bestimmungen der österreichischen Rechtsordnung, aus denen sich ein gewisses Maß Ermessensfreiheit bei der Zuerkennung der Beschwerdelegitimation ergibt, haben folgenden Wortlaut: ,,Der Bundesgerichtshof erkennt über die Rechtmäßigkeit von Bescheiden (Entscheidungen oder Verfügungen) der Verwaltungsbehörden. Rechtswidrigkeit liegt nicht vor, soweit die Verwaltungsbehörde auf Grund der Bestimmungen des Gesetzes nach freiem Ermessen vorzugehen befugt war, und von diesem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht hat" (Art. 164 Abs. 1 der Verfassung 1934). Diese Verfassungsbestimmung ist die neueste Fassung der Generalklausel, mit der seit jeher die österreichische Gesetzgebung, beginnend mit dem Gesetz über den Verwaltungsgerichtshof aus dem Jahre 1875, die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes umschrieben hat. Für das aufgeworfene Problem kommt es nicht weiter in Betracht, daß die Verfassung 1934 die wiedergegebene Generalklausel einerseits um mehrere nach der Enumerationsmethode normierte Sonderzuständigkeiten erweitert, andererseits um einige ebenfalls mittels einer Enumeration aufgezählte Kompetenzen, die sich aus der Generalklausel ergeben würden, verengt. Die Generalklausel umschreibt indes nur den potentiellen Wirkungskreis des Gerichtshofes. Erst aus der von der Zuständigkeitsnorm geschiedenen und zu unterscheidenden Normierung des Verfahrens zur Anrufung des Gerichtes ergibt sich die aktuelle Zuständigkeit. Die verfassungsgesetzlich vorgesehenen Handhaben zur Aktualisierung der Generalklausel sind folgende: ,,Gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde kann wegen Rechtswidrigkeit Beschwerde erheben: 1. wer durch den Bescheid in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten oder sonstigen Rechten verletzt zu sein behauptet; 2. in den Angelegenheiten des Art. 36 und in den nach Art. 37 in die Vollziehung der Länder fallenden Angelegenheiten der Bundesminister, dessen

Die Legitimation zur verwaltungsgerichtlichen Beschwerde als Ermessensfrage

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Wirkungsbereich durch den Bescheid berührt wird" (Art. 164 Abs. 2 der Verfassung 1934). Von den beiden zitierten Möglichkeiten der Anrufung des Bundesgerichtshofes ist die Legitimation des Bundesministers als Anwalt des verletzten Bundesrechtes völlig eindeutig; das Gesetz setzt nicht die Verletzung eines subjektiven Rechtes des Bundes, sondern lediglich eine Verletzung der objektiven Rechtsordnung des Bundes, voraus. Diese weite Fassung der Beschwerdemöglichkeit wird durch die enge Beschränkung der zur Beschwerde legitimierten Stellen - bloß die Bundesminister sind, und zwar jeder nur in den Materien seines Ressorts, zur Beschwerde legitimiert - , praktisch möglich und unbedenklich. Schier unübersehbare Beschwerdemöglichkeiten ergeben sich dagegen aus der Legitimierung jedes Rechtssubjekts, das „durch den Bescheid in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten oder sonstigen Rechten verletzt zu sein behauptetDas Gesetz versucht, nach bekannten Mustern, gegen die Uferlosigkeit dieser Beschwerdelegitimation in subjektiver Hinsicht Hemmungen in Gestalt von objektiven Schranken der Beschwerde aufzurichten. Durch diese retardierenden Momente wird die actio popularis, d.h. eine Rechtslage, wonach jedermann nach Einfall und Laune als Anwalt des objektiven Rechtes auftreten dürfte, vermieden und ein konkreter Anlaß zur Anrufung des Gerichtshofes für den Beschwerdeführer zur Bedingung gemacht. Die schwierige rechtspolitische und rechtstechnische Aufgabe besteht nur darin, wie zweckmäßigerweise die Voraussetzung zu fassen sei, unter der ein nichtamtlicher Beschwerdeführer eine Verletzung des objektiven Rechtes beim Verwaltungsgerichte geltend machen darf. Diese rechtspolitische und rechtstechnische Frage wird bekanntlich gesetzgeberisch in der Weise beantwortet, daß sich die im Verwaltungsakt gelegene Verletzung des objektiven Rechtes zugleich als Verletzung des subjektiven Rechtes des Beschwerdeführers darstellen müsse. Die schon eingangs aufgeworfene Auslegungsfrage geht nun aber dahin: Woran erkennt man, daß ein Verwaltungsakt nicht bloß das objektive Recht, sondern zugleich auch das subjektive Recht eines bestimmten Rechtssubjektes verletzt? Wenn auch das Motiv einer solchen Einschränkung der Beschwerdelegitimation noch so evident ist - es besteht offenbar darin, daß der Privatmann und die juristische Person des Privatrechtes nur in Verfolgung ernster schutzwürdiger Interessen das Verwaltungsgericht in Anspruch nehmen sollen - , so ist doch andererseits die gesetzgebungspolitische Aufgabe, die schutzwürdigen Interessen für das als Beschwerdeführer auftre-

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tende Rechtssubjekt und für das Gericht erkennbar zu machen, durch die Bezugnahme auf subjektive Rechte nur verschoben, aber nicht gelöst. Das Problem wird durch Aufwerfung eines neuen ungelösten Problems beantwortet. Das tauglichste Kriterium eines subjektiven Rechtes, nämlich eine von der Prozeßordnung eingeräumte Parteistellung, versagt in unserem Falle, denn es wird ja ein schon a priori - also vorprozessual - bestehendes subjektives Recht zur Voraussetzung der Parteistellung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gemacht. Auch die Parteistellung des Beschwerdeführers im vorgängigen Verwaltungsverfahren kann nicht Kriterium des die Beschwerdelegitimation begründenden subjektiven Rechtes sein, wenn gegen die rechtswidrige Versagung der Parteistellung im verwaltungsbehördlichen Verfahren Abhilfe geschaffen werden soll. In der Tat sieht § 38 des Bundesgesetzes vom 12. Juli 1934, BGBL II, 123 ,,über die Einrichtung und das Verfahren des Bundesgerichtshofes" außer den Fällen, in denen der Bescheid der Verwaltungsbehörde dem Beschwerdeführer schriftlich zugestellt und bloß mündlich verkündet wurde, ausdrücklich auch „andere" Fälle vor, in denen ein Bescheid ergangen ist, von dem der Beschwerdeführer auf irgend einem inoffiziellen Wege Kenntnis erlangt hat; Parteistellung im Verwaltungsverfahren ist sonach nicht Bedingung der Beschwerdelegitimation und kann sonach auch nichts ausnahmsloses Kriterium eines subjektiven Rechtes sein, das zur Beschwerde legitimiert. Woran erkennt also die Wissenschaft und Praxis das subjektive Recht, das zur Beschwerde an den Bundesgerichtshof legitimiert ? Einige Stichproben aus den Werken der berufensten Schriftsteller zeigen, daß es die Jurisprudenz bewußt oder unbewußt der Rechtspraxis anheimstellt, im eigenen Wirkungskreise ohne irgend einen eindeutigen wissenschaftlichen Wegweiser festzustellen, ob sich ein Beschwerdeführer im Einzelfalle auf ein subjektives Recht berufen kann oder nicht. Ludwig von Adamovich interpretiert die Gesetzesstelle: „Wer durch den Bescheid in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten oder sonstigen Rechten verletzt zu sein behauptet" auf folgende Weise: „Die Zuständigkeit des BGH wird somit schon durch die Behauptung einer solchen Rechtsverletzung begründet. Um jedoch mit seiner Beschwerde durchzudringen, muß der Beschwerdeführer den Nachweis führen, daß er nach der Verfassung oder nach einem einfachen Gesetz einen Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Verhalten der Verwaltungsbehörde hatte und daß dieser sein Rechtsanspruch durch den angefochtenen behördlichen Bescheid verletzt wurde. Der bloße

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Nachweis der objektiven Rechtsverletzung genügt in diesen Fällen nicht." Der Legalbegriff des subjektiven Rechtes wird von unserem Verfasser darin erfüllt gesehen, daß ein Rechtssubjekt nach der Verfassung oder einem einfachen Gesetz (allenfalls wohl auch nach einer sonstigen Rechtsquelle) einen Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Verhalten der Verwaltungsbehörde hatte. Woran erkennt man aber einen derart beschaffenen Rechtsanspruch? In einzelnen Fällen wird gewiß ausdrücklich in der Rechtsordnung ein Anspruch eines bestimmten Rechtssubjektes auf ein bestimmtes Verhalten einer Behörde begründet, und auch in jenen Fällen, in denen eine Behörde rechtsordnungsmäßig verpflichtet wird, sich auf Einschreiten oder Antrag einer bestimmten Person in bestimmter Weise zu verhalten, mag man im Auslegungswege einen ,,Rechtsanspruch" dieser Person gegenüber der Behörde erkennen. Aber die erwähnten positivrechtlichen Voraussetzungen treffen doch in zahlreichen Fällen nicht zu, in denen die verwaltungsgerichtliche Praxis die Beschwerdelegitimation wegen eines verletzten subjektiven Rechtes anerkennt. Wenn man nicht in dieser Praxis einen ständigen excès de pouvoir des Verwaltungsgerichtes erkennen will, was vermutlich nicht die Meinung unseres Verfassers ist, fällt das subjektive öffentliche Recht nicht mit einem ausdrücklich eingeräumten Rechtsanspruch der bezeichneten Art zusammen, sondern ist es auch in anderen Fällen anzunehmen. Zahlreiche Belege für eine weitere Bedeutung des subjektiven Rechtes wird die Auslese aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bringen, die in der Literatur in keiner Weise angefochten ist. - Hans Frisch stellt in seinem ,,Lehrbuch des österreichischen Verfassungsrechtes" 2 ohne Kommentar fest, ,,daß durch eine allgemeine, als ,Generalklauser bezeichnete Bestimmung der Gerichtshof allgemein für zuständig erklärt wird für jedermann, der durch einen Bescheid (Entscheidung oder Verfügung) in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet". - Am eingehendsten befaßt sich unter den neueren österreichischen Schriftstellern Rudolf Herrnritt mit der Frage der Bedeutung des subjektiven Rechtes als Voraussetzung der Beschwerde an das Verwaltungsgericht. Ex professo haben nachstehende Ausführungen der ,,Grundlehren des Verwaltungsrechtes" 3 unser Problem zum Gegenstand: „Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat bloß Rechtsschutz, nicht Inter-

2

Verlag Julius Springer, Wien 1932, S. 167.

3

J.C. B.Mohr, Tübingen 1921, S. 523.

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essenschutz zum Gegenstande. Nur wer ,in seinen Rechten4 durch eine Entscheidung oder Verfügung der Verwaltungsbehörde verletzt zu sein behauptet, kann ihn anrufen. Dadurch gewinnt der bereits oben entwickelte Begriff des subjektiven öffentlichen Rechtes seine volle praktische Bedeutung. Weder die Anwendung eines bloß objektives Recht schaffenden Rechtssatzes, welcher die Willensmacht einer bestimmten Person nicht unmittelbar erweitern wollte, im einzelnen Falle, noch auch das bloße Interesse an einer bestimmten Art der Ordnung eines Rechtsverhältnisses oder die bloße aus dem Rechte eines anderen sich ergebende Reflexwirkung genügt für die Legitimation zur Beschwerdeführung vor dem Verwaltungsgerichtshofe. Vielmehr muß das durch die Rechtsordnung anerkannte Interesse in einer bestimmten Person derart konzentriert sein, daß diese die staatliche Tätigkeit zur Durchsetzung desselben nach ihrem Willen in Bewegung setzen kann." Die im vorstehenden Zitat bezogenen Ausführungen über das subjektive Recht gehen dahin, ,,daß unter einem subjektiven öffentlichen Rechte eine Berechtigung, d.h. Einräumung einer Gewalt von Seiten der Rechtsordnung verstanden wird". 4 Und im späteren Zusammenhange dieses Paragraphen betont der Verfasser, es müsse ,,die Möglichkeit einer parteimäßigen Geltendmachung des Anspruches untersucht werden, um festzustellen, ob wir es mit einem subjektiven Recht oder mit der bloßen Reflexwirkung eines solchen zu tun haben".5 Der verdienstvolle Autor hat gewiß recht, daß nicht jedes (behauptete) Interesse die Bedeutung eines subjektiven Rechtes hat. Aber wodurch das Interesse qualifiziert sein muß, damit es zum subjektiven Rechte wird, bleibt in seinen Ausführungen doch unersichtlich. Sollte der Anspruch auf ein behördliches Verfahren - in unserem Falle also auf das Verfahren des Verwaltungsgerichtes - als Kennzeichen des subjektiven Rechtes gemeint sein, so würden wir uns in einem Zirkel bewegen. Denn wenn das Gesetz den Bestand oder die Verletzung eines subjektiven Rechtes zur Voraussetzung einer Beschwerde an das Gericht macht, so kann dieses subjektive Recht nicht im Beschwerderecht bestehen. Die Frage, wer wegen Verletzung eines subjektiven Rechtes Beschwerderecht hat, bleibt sonach theoretisch unbeantwortet, d.h. aber, der Beantwortung von Seite des Gerichtes anheimgestellt.

4

A.a.O., S. 73.

5

A.a.O., S. 77.

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Soviel ich sehe, hat bisher ausschließlich der Kommentar zur Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 von Kelsen-Froehlich-Merkl die Konsequenz aus dieser Gesetzesrechtslage gezogen, indem dieser Kommentar 6 zu der mit der heute geltenden Norm sachlich übereinstimmenden Bestimmung des Art. 129 Abs. 1 der Bundesverfassung 1920: „Wer durch eine rechtswidrige Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet, kann nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof erheben", folgendes ausführt: „Wann die Verletzung eines Rechtes vorliegt - gedacht ist offenbar an ein subjektives Recht4 - , läßt sich durch eine generelle Formel nicht bestimmen. Die Entscheidung dieser Frage liegt letztlich im Ermessen des Verwaltungsgerichtshofes." Im engen Rahmen eines Zeitschriftaufsatzes kann die im übrigen wenig ergiebige Literatur zur Frage, was Verletzung eines subjektiven Rechtes als Voraussetzung der Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes, numehr des Bundesgerichtshofes, zu bedeuten habe, nicht weiter verfolgt werden,7 sondern soll zu dieser Frage nur noch der österreichische Verwaltungsgerichtshof mit einer Auslese von charakteristischen Erkenntnissen zum Wort kommen. Der genannte Gerichtshof hat unter anderem die Beschwerdelegitimation und damit ein subjektives Recht der Beschwerdeführer - unvorgreiflich der Begründetheit der Beschwerde - mit den nachstehend zitierten Erkenntnissen anerkannt: Slg. Nr. 7962, E. v. 14. Juni 1894. Rechtssatz: einzelne Gemeindemitglieder sind nur bei der Errichtung einer Schule, nicht auch bei der Auswahl des Platzes für ein Schulgebäude als rechtliche Interessenten anzusehen.

6

Franz Deuticke, Wien 1922, S. 241.

7 Um so mehr muß die außerpositivrechtliche Literatur zum Problem des subjektiven Rechtes überhaupt außer Betracht bleiben. Zur Theorie des subjektiven Rechtes, insbesondere des subjektiven öffentlichen Rechtes, vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. Otmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung. Lutz Richter, Das subjektive öffentliche Recht (Archiv des öffentlichen Rechtes, Jg. 1925). Max Layer, Prinzipien des Enteignungsrechts. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 567 - 679. Franz Weyr, Die Verfahrensordnung der politischen Verwaltung in der Tschechoslowakei. Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 129 ff. - Auch auf die Abhandlung von Alois Körner,,, Verwaltungsreform und Verwaltungsgerichtsbarkeit' 1 (Zentralblatt für Juristische Praxis, 1930, Heft 2) sei an dieser Stelle hingewiesen.

23 A. J. Merkl

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Slg. Nr. 13.486, E.v. 9. Dezember 1899. Rechtssatz: Legitimation der Bezirkskrankenkasse zur Rekursführung gegen Entscheidungen, welche einem Arbeitgeber die Nachzahlung von Versicherungsbeiträgen an eine andere Kasse auferlegen. Slg. Nr. 14.935, E.v. 12. Dezember 1900. Aus der Begründung: Weder der Gemeinde noch dem Ortsschulrat kann die Berechtigung abgesprochen werden, den behaupteten Anspruch der Gesamtheit der in ihrem Gebiet, bzw. Schulsprengel wohnhaften Schulkinder auf die Befriedigung des Bedürfnisses nach einer höheren Schulbildung zu vertreten. Slg. Nr. 6771 A, E. v. 26. Mai 1909. Rechtssatz: 1. Gemeinden sind legitimiert, Aufträge der höheren autonomen Instanzen betreffend die Einstellung von bestimmten Einnahmen in die Gemeindepräliminierungen mittels Verwaltungsgerichtshofbeschwerde aus dem Grunde anzufechten, daß darin eine Verletzung des ihnen zustehenden Rechtes der „freien Verwaltung ihres Vermögens" gelegen sei. Slg. Nr. 6808 A, E. v. 15. Juni 1909. Rechtssatz: Jeder Grundbesitzer, dessen Grundbesitz zum Genossenschaftsjagdgebiet gehört, ist legitimiert, gegen Beschlüsse des Jagdausschusses wegen Gesetzesverletzungen bei Verwertung der Genossenschaftsjagd Beschwerde sowohl im Administrativverfahren als vor dem Verwaltungsgerichtshof zu führen. Slg. Nr. 7022 A, E. v. 24. November 1909. Rechtssatz: Bezirksvertretungswahlen: Zur Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof gegen die vollzogene Wahl in die Gruppe der Landgemeinde sind die Steuerträger in den Landgemeinden legitimiert. Den ... Wahlmännern der Landgemeinden als solchen steht eine Berechtigung hiezu nicht zur Seite. Slg. Nr. 7435, E.v. 12. Mai 1910. Rechtssatz: Mitbieter bei einer von der Gemeinde vorgenommenen Versteigerung von Erträgnissen des Gemeindeeigentums ... sind legitimiert, die Gesetzmäßigkeit des Versteigerungsaktes vor dem Verwaltungsgerichtshof anzufechten. Slg. Nr. 7724 A, E. v. 16. November 1910. Rechtssatz: ein Mitbewerber anläßlich der Ausschreibung einer vakanten Dienststelle ist legitimiert zur Erhebung des Rekurses und der Rechtsbeschwerde, daß durch den Inhalt

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der Ausschreibung sein Anspruch auf eine der Systemisierungsurkunde entsprechende Behandlung seines Bewerbungsgesuches verletzt sei. Slg. Nr. 7879 A, E.v. 7. Jänner 1911. Rechtssatz: Wenn eine gewerbliche Betriebsanlage unter gewissen Beschränkungen... genehmigt worden ist, so sind jene, zu deren Gunsten diese Beschränkung gesetzt worden ist, am Verfahren betreffend die Auflassung dieser Beschränkung als Parteien anzusehen und auch zur Beschwerdeführung vor dem Verwaltungsgerichtshof legitimiert. Slg. Nr. 7894 A, E.v. 12. Jänner 1911. Rechtssatz: 1. Die Anrainer sind zur Beschwerdeführung gegen Aufsichtsentscheidungen der politischen Behörden, durch welche ein vom Gemeindevorstand ausgesprochenes Bauverbot aufgehoben ist, auch dann vor dem Verwaltungsgerichtshof legitimiert, wenn die Aufhebung nur wegen unrichtiger Gesetzesanwendung erfolgte. Slg. Nr. 7930 A, E.v. 25. Jänner 1911: Rechtssatz: 1. Wird ein zwischen der Gemeinde und einem Dritten abgeschlossener Vertrag von der autonomen Oberbehörde als ihrer Genehmigung unterliegend erklärt, die Genehmigung aber nicht erteilt, ist jeder Kompaziszent zur Beschwerdeführung vor dem Verwaltungsgerichtshof legitimiert. Slg. Nr. 8532, E. v. 8. November 1911. Rechtssatz: Die Legitimation zur Beschwerde wegen behauptetermaßen ungerechtfertigter Streichung aus der Wählerliste steht nur dem durch dieselbe betroffenen Wahlberechtigten und die Legitimation zur Beschwerdeführung wegen Eintragung von nicht berechtigten Personen nur den in dieser Wählerklasse Wahlberechtigten zu. Slg. Nr. 8608, E. v. 15. Dezember 1911. Rechtssatz: 2. Eine Entscheidung, mit welcher erklärt wurde, daß ein Angestellter zur allgemeinen Pensionsanstalt gehört, weil durch seine Versicherung bei einem Ersatzinstitut der Versicherungspflicht nicht Genüge geleistet wurde, kann vor dem Verwaltungsgerichtshof auch von dem betreffenden Ersatzinstitut angefochten werden. Slg. Nr. 8828 A, E. v. 23. März 1912. Rechtssatz: 1. Die Kirchenbehörden (Pfarrämter) sind legitimiert, gegen eine ... Entscheidung über die Befähi23*

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gung eines verantwortlichen Schulleiters zur Erteilung des Religionsunterrichtes jenes Glaubensbekenntnisses, dem die Mehrzahl der Schüler angehört, beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu führen. Slg. Nr. 9041 A, E. v. 24. Juni 1912. Rechtssatz: Einzelne Aktionäre, die behaupten, daß eine von der Verwaltungsbehörde genehmigte Änderung der Vereinsstatuten nicht in statutenmäßig gültiger Weise von der Generalversammlung der AG beschlossen worden ist, sind legitimiert, die Genehmigung dieser Statutenänderung vor dem Verwaltungsgerichtshof anzufechten. (Fachplenarbeschluß vom 10. Juni 1912). Slg. Nr. 9086 A, E. v. 20. September 1912: Rechtssatz: 2. Der Freischürfler ist legitimiert, vor dem Verwaltungsgerichtshof die Verleihung der Überschar anzufechten. Slg. Nr. 9520 A, E. v. 8. April 1913. Rechtssatz: 2. Eine Partei, deren Interessen in einem wasserrechtlichen Konsens geschützt worden sind, ist legitimiert, gegen die von Amts wegen ausgesprochene Unzuständigkeit der Wasserrechtsbehörde beim Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu führen auch dann, wenn diese Interessen als solche wasserrechtlichen Schutz nicht genießen. Slg. Nr. 10.441 A, E. v. 15. September 1914. Rechtssatz: 1. Bei Verpachtung einer Gemeindejagd aus freier Hand ist der Jagdpächter legitimiert, die Annullierung des Pachtvertrages und des ihm zugrundeliegenden Gemeindeausschußbeschlusses vor dem Verwaltungsgerichtshof anzufechten. Slg. Nr. 10.445 A, E. v. 16. September 1914. Rechtssatz: 1. Die Behauptung, daß jemand, der im Verfahren über die Genehmigung einer gewerblichen Betriebsanlage nicht als Partei behandelt wurde, als Partei zu behandeln gewesen wäre, legitimiert zur Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof. Slg. Nr. 10.525 A, E. v. 29. Oktober 1914. Rechtssatz: Wenn es sich um Vorkehrungen im Interesse der Sicherung des Verkehres auf einer Kreuzungsstelle eines öffentlichen Weges mit einer Eisenbahn handelt, so ist die Gemeinde zum Einsprüche und zur Beschwerdeführung wider die von der Eisenbahnbehörde getroffenen Maßnahmen legitimiert.

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Slg. Nr. 10.598 A, E.v. 27. November 1914. Rechtssatz: Der Arbeitgeber ist legitimiert, eine Entscheidung über die Verpflichtung der Bezirkskrankenkasse zur Zahlung von Verpflegskosten für einen ... angemeldeten Arbeiter beim Verwaltungsgerichtshof anzufechten. Slg. Nr. 10.637 A, E. v. 25. Oktober 1915. Rechtssatz: ein Mitglied der Gemeindevertretung ist als solches legitimiert, gegen den Beschluß der Gemeindevertretung Beschwerde zu führen, durch welchen von der Gemeindevertretung die Entscheidung in einer ihr nach dem Gesetze vorbehaltenen Angelegenheit an ein anderes Organ (Unterausschuß) übertragen wird. Slg. Nr. 11.360 A, E. v. 15. April 1916. Rechtssatz: 1. Jeder definitiv angestellte Lehrer ist berechtigt, wegen angeblich gesetzwidriger Vorgänge bei der Wahl der Fachmänner im Lehramte und der Ersatzmänner an den Stadtschulrat ... im Administrativverfahren und vor dem Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu führen. Slg. Nr. 14.392 Β (Finanz), E. v. 27. Juni 1900. Rechtssatz: 1. Ein gesetzliches Stift ist zur Anfechtung der den einzelnen Konventualen vorgeschriebenen Personaleinkommensteuer vor dem Verwaltungsgerichtshof legitimiert. Slg. Nr. 13.317 A, E. v. 25. Juni 1923: Mitglieder des gesetzlich bestellten Beirates des Bundes-Wohnungs- und Siedlungsamtes sind zur Beschwerde gegen Verfügungen des Wohnungs-und Siedlungsamtes legitimiert, wenn sie durch Unterlassung ihrer Beiziehung in ihrem gesetzlichen Rechte auf Teilnahme an der Verwaltung verletzt wurden. Slg. Nr. 13.767 A, E. v. 21. Februar 1925: Legitimation der Mitglieder der Jagdgenossenschaft, die Einhaltung der jagdgesetzlich für den Jagdausschuß bestimmten Formvorschriften im Beschwerdeweg geltend zu machen. Slg. Nr. 15.394 A, E. v. 24. Oktober 1928: Die Pflicht zur Zahlung der Wohnbausteuer nach dem Gesetze vom 20. Jänner 1923, LGB1. für Wien Nr. 30, legitimiert den Steuerschuldner und Steuerzahler zur Anfechtung von Gemeinderatsbeschlüssen, durch die er in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet.

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Slg. Nr. 15.582 A, E. v. 21. März 1929: 2. Ein Anrainer, der an der Sache nur wegen eines rechtlichen Interesses, nicht wegen eines Rechtsanspruches (§ 8 AVG) beteiligt ist, kann die Baubewilligung vor dem Verwaltungsgerichtshof nur wegen Verfahrensmängel oder wegen mangelhafter Tatbestandsfeststellung, keineswegs wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung anfechten. Slg. Nr. 17.200 A, E. v. 3. Juni 1932: Rechtssatz: Bestellung des Leiters einer gewerblichen Fortbildungsschule: 1. Beschwerdelegitimation des gewerblichen Fortbildungsausschusses. Slg. Nr. 17.799 A, E. v. 16. Dezember 1933. Rechtssatz: Den einzelnen Forensen steht in gleicher Weise wie den Pfarrangehörigen das Recht zu, gegen Beschlüsse der Ortsgemeinden namens der beiden Gemeinden, betreffend Pfarrumlagen, auch noch vor der Individualrepartition Berufung und Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof zu erheben, wenn durch diese Beschlüsse unmittelbar in ihre Rechte eingegriffen wird. Slg. Nr. 17.729 A, E. v. 23. Oktober 1933. Rechtssatz: Im Verwaltungsverfahren betreffend die Bewilliguntg der Änderung des Zunamens der Lebensgefährtin in den Namen des Mannes kommt seiner nicht geschiedenen Ehegattin Parteistellung zu. (Konsequenz: Beschwerdelegitimation im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.) AZ A 1341/35, Ε. v. 26. März 1936: Im Streite zwischen einer Krankenkasse und einer Krankenanstalt über Verpflegskosten sind alle Personen als Parteien zuzulassen, die je nach dem Ausgang des Streites zur Zahlung der Verpflegskosten herangezogen werden können; d.i. im Falle des Unterliegens der Krankenkasse unter Umständen der ersatzpflichtige Arbeitgeber. Der Verwaltungsgerichtshof hat hingegen die Möglichkeit der Verletzung eines subjektiven Rechtes und mithin die Beschwerdelegitimation unter anderen in folgenden Erkenntnissen verneint: Slg. Nr. 6295, E. v. 5. Dezember 1891. Rechtssatz: 1. Das Recht, die Einkommensteuerpflicht eines stehenden Betrages zu bestreiten, steht nur dem Bezugsberechtigten als dem Steuerpflichtigen zu (siehe 1886, Nr. 3212).

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Slg. Nr. 8014, E. v. 5. Juli 1894. Rechtssatz: 3. Zur Anbringung der Beschwerde, daß ein neu entstehender Ortsteil nicht zureichend mit Wasser versehen sein wird, kann nur die Gemeinde, nicht aber ein anderer Interessent legitimiert sein. Slg. Nr. 1934 A, E.v. 4. Juli 1903. Rechtssatz: Gegen die Genehmigung der Statuten der Israelitischen Kultusgemeinde steht den einzelnen Mitgliedern nur insoweit ein Beschwerderecht zu, als deren individueller Rechtskreis durch statutarische Bestimmungen tangiert wird. Slg. Nr. 6465 A, E. v. 21. Jänner 1909. Rechtssatz: Das Interesse der Nachbargemeinde des Kurortes auf unbehinderte Zulassung der in ihrem Gebiete sich aufhaltenden Personen zur Benützung der Kurzwecken dienenden Veranstaltungen begründet für sich keinen Rechtsanspruch auf Schutz dieses Interesses, daher keine Beschwerdelegitimation. Slg. Nr. 7704 A, E. v. 23. Dezember 1909. Rechtssatz: 1. Der Anrainer ist nicht legitimiert, beim Verwaltungsgerichtshof darüber Beschwerde zu führen, daß die Lichthöfe des aufzuführenden Neubaues in einer dem Gesetz nicht entsprechenden Weise genehmigt worden sind. Slg. Nr. 7185 A, E. v. 26. Jänner 1910. Rechtssatz: hat das Ministerium des Inneren über die Anzeige einer konzessionierten Sparkasse im Instanzenzug es abgelehnt, den Vorschußkassen den Gebrauch der Aufschrift „Sparkasse" auf ihrem Gebäude zu verbieten, so steht der Sparkasse die Legitimation zur Beschwerdeführung vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht zu. Slg. Nr. 7483 A, E. v. 2. Juni 1910. Rechtssatz: Gegen die Zuerkennung von Nutzungsanteilen am Gemeindegut steht den Häuslern, insoferne sie nicht selbst Nutzungsrechte in Anspruch nehmen, ein Beschwerderecht nicht zu. Slg. Nr. 7887 A, E. v. 10. Jänner 1911. Rechtssatz: 1. In Ansehung einer infolge eines Eisenbahnbaues notwendig gewordenen Änderung (Tieferlegung) einer öffentlichen Kommunikation sind Privatpersonen - von besonderen Rechtstiteln abgesehen - nicht legitimiert, wegen Verletzung von Verkehrsrücksichten Beschwerde zu führen.

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Slg. Nr. 8045 A, E. v. 24. Februar 1911. Rechtssatz: Die... Genehmigung des Stadterweiterungsplanes kann von dem Grundeigentümer, dessen Besitz in den Plan fällt, beim Verwaltungsgerichtshof nicht angefochten werden. Slg. Nr. 8373 A, E. v. 5. August 1911. Rechtssatz: Der Eigentümer der zum Gebrauch einer öffentlichen Straße in Anspruch genommenen Grundfläche ist nicht legitimiert, die Trassenführung des Projektes in Frage zu ziehen und die Notwendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit dieser Trassenführung anzufechten. Slg. Nr. 8489 A, E. v. 25. Oktober 1911. Rechtssatz: Zeigt ein Gewerbeinhaber an, daß er sein Gewerbe durch einen Stellvertreter betreiben werde und diese Anzeige wird nicht zur Kenntnis genommen, so ist die als Stellvertreter namhaft gemachte Person in keinem Falle zur Beschwerdeführung gegen eine solche Entscheidung legitimiert. Slg. Nr. 9171 A, E. v. 1. November 1912: Rechtssatz: Die Anrainer sind nur dann berechtigt, gegen die einem ... allgemeinen Beschlüsse des Gemeinderates widerstreitende Baubewilligung Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof zu erheben, wenn dadurch ihre Rechtsstellung als Anrainer unmittelbar berührt wird. Slg. Nr. 9239 A,. E. v. 28. November 1912. Rechtssatz: Jagdpachtversteigerungsbedingungen, die mit dem Gesetz in Widerspruch stehen, können von den Grundbesitzern in der Gemeinde nur dann angefochten werden, wenn behauptet wird, daß diese Bedingungen ihre subjektiven Rechte verletzen, mangels einer solchen Behauptung fehlt ihnen die Legitimation zur Beschwerdeführung. Slg. Nr. 10.116 A, E. v. 4. März 1914. Rechtssatz: Den einzelnen Gewerbetreibenden steht... die Legitimation weder zur instanzenmäßigen Anfechtung der einem Dritten erteilten Konzession noch zur Anfechtung des Berechtigungsumfanges des von einem Dritten auf Grundlage der Konzession ausgeübten Gewerbes zu. Slg. Nr. 10.491 A, E. v. 21. Oktober 1914, Rechtssatz: Die Kurkommission ist nicht legitimiert, in Sachen der Bestimmung eines Schutzrayons für einen Kurort vor dem Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu führen.

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Slg. Nr. 17.784 A, Beschluß der Fachgruppe I v. 27. November 1933, E. v. 4. Dezember 1933. Rechtssatz: Allgemein verbindliche Beschlüsse der Gemeindevertretungen können ... durch die ordentlichen Rechtsmittel der Berufung nur von den Personen angefochten werden, in deren Rechte sie unmittelbar eingreifen. GZ A 278/34, Ε. v. 12. Jänner 1935: Wer durch die Entziehung der Unterstützung eines Arbeitslosen nur wirtschaftlich betroffen wird, wie z.B. der Gatte oder der Lebensgefährte, hat im Verfahren über die Entziehung der Unterstützung nicht Parteistellung. GZ A 999/34, Ε. v. 5. März 1935: 1. Das Interesse am Honorar gibt dem behandelnden Arzt keine Parteistellung im Verfahren über die Versicherungspflicht der Patienten. Fast scheint es vergeblich, aus der bunten Fülle verwaltungsgerichtlicher Erkenntnisse, die ausdrücklich zur Frage der Beschwerdelegitimation im positiven oder negativen Sinne Stellung nehmen, eine leitende Maxime zu gewinnen. Ein solcher Versuch wird namentlich dadurch erschwert, daß der österreichische Verwaltungsgerichtshof unverkennbar in Fragen der Beschwerdelegitimation seinen Standpunkt gewechselt und in durchaus übereinstimmenden Lagen bald ein subjektives Recht bejaht, bald ein solches verneint hat. Während das Gericht durch Jahrzehnte den Begriff des subjektiven Rechtes im Durchschnitt der Fälle extensiv inerpretiert hat, scheint sich in den letzten Jahren eine restriktive Auslegung anzubahnen. Beispielsweise billigt das Erkenntnis vom 6. November 1906, Slg. Nr. 4737 A, dem Abgeordneten Franz Schuhmeier die Beschwerdelegitimation gegen einen Beschluß des Gemeinderates der Stadt Wien zu, mittels dessen eine Subvention für die Restaurierung der Stephanskirche bewilligt wurde, weil er im Falle der Rechtswidrigkeit eines solchen Beschlusses durch die eventuelle Heranziehung im Wege der Umlegung auf die Steuerträger in seinen subjektiven Rechten verletzt sein würde. Die gleiche, der Anerkennung einer actio popularis nahekommende Haltung nimmt der Verwaltungsgerichtshof noch in seinem Erkenntnis vom 24. Oktober 1928, Slg. Nr. 15.394 A aus Anlaß einer Beschwerde gegen den Beschluß des Gemeinderates der Stadt Wien, betreffend die Übernahme einer Ausfallsbürgschaft für Exporte nach Rußland ein, indem er die Beschwerdelegitimation eines Vereines aus dem bloßen Grunde anerkennt, daß die Vereinsmitglieder durch den Be-

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schluß des Gemeinderates im Falle eines Aktuellwerdens der Ausfallsbürgschaft in ihrer Eigenschaft als Steuerträger betroffen sein könnten. Der Fachgruppenbeschluß vom 27. November 1933 und das darauf beruhende Erkenntnis Slg. Nr. 17.784 A vom 4. Dezember 1933 rücken zwar von dieser liberalen Praxis ab, wonach im Grunde jeder Untertan gegen einen Bescheid Beschwerde müßte erheben können, aus dem sich für ihn möglicherweise finanzielle Rückwirkungen ergeben, und macht einen „unmittelbaren" Zusammenhang zwischen dem angefochtenen Bescheid und der Rechtssphäre des Beschwerdeführers zur Bedingung; doch wird auch durch diese rigorosere Auffassung von der Beschwerdelegitimation das Beschwerderecht solcher Rechtssubjekte nicht in Frage gestellt, für die sich aus einem - durchaus nicht notwendig an sie adressierten - Bescheid einer Verwaltungsbehörde kraft rechtlicher Notwendigkeit irgend welche Rechtsfolgen, beispielsweise eine Zahlungspflicht oder die Erhöhung einer solchen, ergeben müssen. Der beschränkte Raum verwehrt eine nähere Erläuterung und Kritik der zitierten, für die Frage der Beschwerdelegitimation charakteristischen Judikate. Das Judikatenmaterial läßt aber jedenfalls soviel erkennen, daß der Gerichtshof die Beschwerdelegitimation physischen Personen dann zuerkannt, wenn ein gleichviel an wen gerichteter Bescheid auf die fragliche physische Person unvermeidlich in der Weise zurückwirkt, daß sie zu Leistungen und Einbußen von Vermögenswert rechtlich genötigt wird. Korporationen, insbesondere solchen des öffentlichen Rechtes, wird die Beschwerdelegitimation sogar schon dann zugebilligt, wenn ein beträchtlicher Kreis ihrer Angehörigen durch einen als Bescheid zu qualifizierenden Verwaltungsakt in einem persönlichen Interesse berührt wird, das die fragliche Korporation kraft Gesetzes oder Statutes wahrzunehmen berufen ist. Zusammenfassend läßt sich demnach sagen, daß unter dem Titel des Schutzes subjektiver Rechte der Schutz von Privatinteressen geboten wird, die in eigentümlicher (geschichtlich schwankender) Weise abgestuft sind. Empirisch erweist sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als Rechtsgarantie gegen unmittelbare Eingriffe, aber auch gegen nicht zu weit hergeholte Rückwirkungen von Verwaltungsakten in die subjektive Interessenlage, insbesondere Vermögenslage. Die zahlreichen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes, welche ungeachtet der angedeuteten Maxime seiner Judikatur die Beschwerdelegitimation versagen, beweisen, daß nicht jedes auch sozusagen legitime Privatinteresse auf Schutz im Wege der Verwal-

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tungsgerichtsbarkeit rechnen kann. Doch wird andererseits die tatsächlich zur Verfügung stehende Handhabe des von der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährten Interessenschutzes vom Publikum bei weitem nicht voll ausgenützt, und zwar sicherlich oft aus dem Grunde, weil der Interessent das rechtsordnungsmäßig geforderte subjektive Recht nicht nachweisen zu können glaubt, während es sich in Wirklichkeit erfahrungsmäßig nur um den Nachweis qualifizierter Interessen handelt. Das außerordentliche Schwanken in bezug auf die Art und das Maß der als schutzwürdig befundenen und durch die Zuerkennung der Beschwerdelegitimation gewissermaßen prämiierten Interessen ist übrigens ein Symptom dafür, daß die vermeintliche Rechtsfrage des Bestandes der Beschwerdelegitimation in Wirklichkeit eine Ermessensfrage ist, denn andernfalls würde das starke Schwanken der Judikatur in diesem Punkte eine Häufung von Rechtsirrtümern des Gerichtes bedeuten. Die Funktion des Verwaltungsgerichtes bei Ermittlung der Beschwerdelegitimation ist in jenen Fällen, wo das objektive Recht nicht ausdrücklich subjektive Rechte anerkennt, Interessenabwägung und nicht Rechtsfindung. Das Gesetz nötigt aber den Beschwerdeführer, die Verletzung eines subjektiven Rechtes in seiner Beschwerde zu behaupten,8 und nötigt desgleichen das Gericht, die Zubilligung der Beschwerdelegitimation mit der Möglichkeit einer Verletzung eines subjektiven Rechtes zu begründen, also die Interessenabwägung als Rechtsfindung zu maskieren. Die lange Übung hat, wie so oft, der Maske den Schein der Wirklichkeit gegeben. In Wahrheit entsteht aber in einem allerdings nicht feststehenden Bruchteil der Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes das vom Gesetz a priori vorausgesetzte subjektive Recht erst a posteriori durch die einem bewußten oder unbewußten Ermessensakt entspringende Zubilligung der Beschwerdelegitimation. Abschließend sei gefragt, ob die im vorstehenden skizzierte Erkenntnis der Sachlage Folgerungen de lege ferenda erheischt. Wer die glänzende, fein abgewogene Leistung zumindest der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihrer Eigenschaft als Rechtsgarantie gegenüber der Verwaltung

8 Aufgabe der Parteienbeschwerde ist es, in zweifelhaften Fällen nachzuweisen, daß auf Seite des Beschwerdeführers jenes qualifizierte Interesse vorliegt, das der Gerichtshof in analogen Fällen als subjektives Recht gedeutet hat.

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überblickt, wird wohl zugeben, daß sich die Formulierung der Beschwerdelegitimation, wenngleich sie auf einem theoretischen Mißverständnis beruht, nämlich den Bestand von subjektiven Rechten voraussetzt, aber in Wirklichkeit zu fingieren nötigt, bewährt hat. Es gibt eben auch fruchtbare Irrtümer. Legislativpolitische Wünsche bezüglich der Fassung der Beschwerdelegitimation können daher nicht mit einem Reformbedürfnis, sondern gewissermaßen nur mit einem Wahrheitsbedürfnis gerechtfertigt werden. Es würde sich darum handeln, die tatsächliche Praxis möglichst unverändert aufrechtzuerhalten, aber ihr eine rechtliche Basis zu geben, derzufolge sie als das ,was sie in Wahrheit ist, schon in der gesetzlichen Formulierung erscheint: nämlich als Interessenabwägung, also als Ermessensübung. Indes stellt eine derartige Anpassung des Gesetzestextes an die Tatsachenlage den Gesetzgebungstechniker vor eine schier unlösbare Aufgabe, denn die heilsamen Wirkungen jener tatsachenwidrigen Gesetzesfassung, die sich in der Praxis der Parteien und des Gerichtes eingelebt hat, würden durch eine korrekte Neufassung wahrscheinlich gefährdet werden. Unzweifelhaft ist die Wirkung einer Formulierung, welche die Ermessensfrage bewußt oder unbewußt als Rechtsfrage maskiert, die, eine sonst unabsehbare Beschwerdeflut zu drosseln. Vom Ermessen wird zweifelsohne sparsamer Gebrauch gemacht, wenn sich der tatsächliche Gebrauch als Rechtsfindung tarnen muß. Das Verwaltungsgericht würde wahrscheinlich um vieles stärker in Anspruch genommen werden, wenn die Beschwerdelegitimation etwa dahin ginge, daß Beschwerde gegen einen rechtswidrigen Bescheid erheben könne, wer hierdurch ,,in schwerwiegenden Interessen verletzt" sei. Die theoretisch unrichtige Formel, ,,wer durch den Bescheid in seinen ... Rechten verletzt zu sein behauptet", dient zunächst in der Regel der Fälle als wirksame Selbstkritik der Interessen von Seite des latenten Beschwerdeführers und in der Folge als rigoroses Auslesemittel innerhalb der im Beschwerdeweg geltendgemachten Interessen für das Verwaltungsgericht. Die gesetzliche Fiktion eines subjektiven Rechtes als Voraussetzung einer Beschwerdelegitimation erweist sich sonach als praktisch nützlicher Kunstgriff, wie es nach H. Vaihinger 9 überhaupt das Wesen der Fiktionen ist. Und so erinnert die im vorstehenden kritisierte Gesetzesstelle an eine viel umfassendere Eigentümlichkeit des Rechtes. Alle Spezialisierung der Rechtsnormen hin-

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Die Philosophie des Als-Ob.

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dert nicht, daß auch ein sämtlicher rechtlicher Bindungen spottender Staatsakt Rechtskraft erlangt. Vom Standpunkte des Organs aus gesehen erweist sich sonach die ganze Fülle des positiven Rechts - wie ich es in meiner ,,Lehre von der Rechtskraft" näher ausgeführt habe10 - als ius dispositivum. Da auch der fehlerhafte Staatsakt rechtskräftig wird, muß die Rechtstheorie einräumen, daß das Organ, zumindest jenes der höchsten Instanz, von Rechts wegen auch anders kann, als es das inhaltlich differenzierte Recht beabsichtigt. Es liegt sonach im Ermessen dieses Organs, der Determinante des positiven Rechtes zu folgen - oder auch nicht, mag sich das Recht auch noch so zwingend gebärden. Trotz dieser fatalen Folge der Unvollendetheit und Unzulänglichkeit des positiven Rechtes - , daß nämlich seine Wirksamkeit vom guten Willen des Rechtsanwenders abhängt - wird jedoch kein geschichtlicher Gesetzgeber die Flinte ins Korn werfen, auf seine Rechtssatzungsfunktion verzichten und dem Rechtsanwender eine uferlose Generalvollmacht einräumen, sondern wird jeder Gesetzgeber - und zwar mit unleugbarem, erfahrungsmäßig verbürgtem Erfolg - versuchen, dem Rechtsanwender das Gesetz seines Handelns vorzuschreiben und ihn glauben zu machen, daß er daran gebunden sei. Die Rechtserfahrung zeigt, daß das faktische Ermessen im weitesten Umfang durch die subjektiv gemeinte Anwendung zwingenden Rechtes verdrängt wird. Die Nutzanwendung dieser Erwägungen auf die vorstehend skizzierte, rechtstheoretische und rechtspolitische Problemlage ist: Quieta non movere! Trotz Erkenntnis einer bisher kaum gewürdigten Ermessensfreiheit an der Fiktion der rechtlichen Bindung festhalten!

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Franz Deuticke, Wien 1923, S. 296 ff.

Die Liquidierung der „kriegswirtschaftlichen" Ära Kultureinheit und Rechtsunterschiede der Deutschen Der ,,Volkswirt" hat bereits unter dem unmittelbaren Eindruck der Wiedervereinigung Österreichs mit dem deutschen Mutterland der hiemit aufgegebenen weiteren Aufgabe der Wiedervereinheitlichung des Rechtes innerhalb des großdeutschen Reiches grundsätzliche Betrachtungen aus der Feder des Senatspräsidenten Professor Bartsch gewidmet.1 Mit diesen Betrachtungen konnte und sollte aber den einzelnen gesetzgeberischen Arbeiten zur Erfüllung der Aufgabe der Rechtsangleichung noch kein bestimmter Weg gewiesen werden. Zwei in ihren Wirkungen gegensätzliche Forderungen heischen bei der Zielsetzung der Rechtsangleichung im ganzen und der einzelnen, notwendig schrittweisen Arbeiten der Rechtsangleichung Beachtung: Der politischen Vereinheitlichung als deren eigentliche Vollendung und Krönung jenes Maß kultureller und wirtschaftlicher Verschmelzung Österreichs mit dem Altreich folgen zu lassen, das mit dem begreiflichen Wunsch der Aufrechterhaltung althergebrachter und erhaltenswürdiger deutscher Stammeseigentümlichkeiten vereinbar ist. Dieser Forderung wirkt mäßigend die andere Forderung entgegen, der Bevölkerung und der Beamtenschaft eine allmähliche Umstellung auf die neue Rechtslage zu ermöglichen, da eine überstürzte Rechtsangleichung den Vorteil des gleichen Rechtes mit dem Nachteil größter Rechtsunsicherheit erkaufen würde. Bei der Durchackerung der einzelnen Rechtsgebiete und der Überprüfung, welche für eine Vereinheitlichung reif sind, zeigt sich nämlich jetzt erst, wie stark sich Österreich und das Deutsche Reich trotz unversehrter Kultureinheit in der Zeit der Eigenstaatlichkeit rechtlich auseinandergelebt haben. Die Kultureinheit wurzelt eben in der Volkseinheit und war dank der guten Nachbarschaft auch in der Zeit der politischen Trennung nicht gefährdet,

Der österreichische Volkswirt, 1938, S. 645-647. 1

Vgl. Nr. 28 vom 9. April 1938.

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sondern war durch regste Wechselwirkung, namentlich durch den Austausch von Kulturträgern und Kulturschöpfungen gefördert. Das Volk ging hüben und drüben denselben kulturellen Weg. Die Staaten aber gingen in ihrem Rechtsleben jedoch - überflüssigerweise - allzu häufig ihre besonderen Wege. Versäumte Gelegenheiten der Rechtsangleichung Jetzt zeigt sich erst, daß auch in den Jahren, in denen die Rechtsangleichung zwischen dem Reich und Österreich als Vorbereitung des Anschlusses beraten worden ist, die beiderseitigen Regierungen es an der nötigen Energie hatten fehlen lassen, um die weitgediehenen Vorarbeiten der dem Anschlußgedanken dienenden Organisationen, namentlich der ÖsterreichischDeutschen und der Deutsch-Österreichischen Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Juristentages und der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrerschaften, gesetzgeberisch und verwaltungsmäßig in die Tat umzusetzen. Der Verfasser dieser Zeilen darf wohl an die Worte erinnern, mit denen er sein für die Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft erstattetes Gutachten über ,,Die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft für Österreicher und Deutsche" (veröffentlicht in der „Deutschen Einheit" vom Februar und März 1927) abgeschlossen hat: ,,Es wäre eine nationale Schande, wenn außenpolitische Schwierigkeiten der billige Vorwand für innerpolitische Schwierigkeiten wären. Das Anschlußwerk hängt in allen seinen Stadien mehr als man gemeiniglich zugeben möchte, vom guten und festen Willen der großen politischen Parteien Österreichs und des Deutschen Reiches ab. Zeigt man den Gegnern des Anschlusses schon bei solchen vorbereitenden Schritten, wie sie im Vorstehenden vorgezeichnet wurden, das Bild deutscher Uneinigkeit und Kleinlichkeit, so wird man den Anschlußwillen nicht ernst nehmen und den Anschluß nicht so bald als etwas Unvermeidliches in das politische Kalkül einstellen. Gerade vom Anschlußwerke mit allen seinen Teilmaßnahmen kann sich in vorbildlicher Weise das Sprichwort bewähren: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg." Rückblickend kann man heute wohl sagen, daß damals der rechte, alle Widerstände überwindende Wille gefehlt hat. So erklärt es sich auch, daß der weitesttragende Schritt, den der hochverdienstliche deutsche Juristentag in der Richtung der Vereinheitlichung des deutschen Rechtes getan hat, bis zur Gründung des Dritten Reiches ohne

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Wirkung im Staatsleben geblieben ist: Ich meine damit die Entschließung, welche der Deutsche Juristentag auf seiner im September 1928 in Salzburg abgehaltenen Tagung über die Frage ,,Reichs- oder Länderjustiz?" gefaßt hat. Der sogenannten „Verreichlichung" der Justiz hätte begreiflicherweise die Verreichlichung des gesamten, von den Gerichten anzuwendenden Rechtes vorangehen oder wenigstens auf dem Fuße folgen müssen. Und das derart sich ausbreitende Reichsrecht hätte mehr oder weniger auch nach den Absichten der Freunde der Verreichlichung in Österreich auf unser Land übergreifen sollen und können, wogegen eine stark partikuläre Gestaltung des im Reich geltenden Rechtes auch das Festhalten am besonderen österreichischen Landesrecht gefördert hat. Der Verfasser dieses Aufsatzes war auf dem erwähnten deutschen Juristentag leider der einzige Diskussionsredner aus Österreich, der in den Diskussionsreden vom 15. September 1928 im Hinblick auf den Anschluß im Sinne der völligen Verreichlichung der Rechtspflege Stellung genommen hat, wobei der ausschlaggebende Beweggrund war, ,,daß die Einheit der Rechtspflege das sprechende Symbol der Einheit des Reiches ist". (Bericht der,, Wiener Neuesten Nachrichten" vom 16. September 1938) Wie stark selbst in den Rechtswahrerkreisen des Deutschen Reiches die Länderjustiz als ein Wahrzeichen des kleindeutschen Partikularismus verankert war, davon legen die Fachzeitschriften aus der Zeit vor dem Umbruch des Jahres 1933 Zeugnis ab, namentlich auch die „Deutsche Richterzeitung", die meinen Werbeaufsatz vom 15. November 1928 ,,Auf dem Wege zur Gerichtseinheit des Reiches" mit der Vorbemerkung einzubegleiten nötig fand: „Diesen Ausführungen geben wir namentlich um deswillen Raum, weil sie die Frage der Justizverreichlichung einmal grundsätzlich vom österreichischen, großdeutsch eingestellten Standpunkt behandeln." Ich konnte zwar in jenem Aufsatz mit Recht behaupten: „Die große Mehrzahl der Österreicher hat Vertrauen zum Reich und würde die Aufrichtung der Justizhoheit des Reiches auf österreichischem Boden als ein Geschenk des Reiches freiwillig und freudig aufnehmen", aber das Reich selbst hatte damals noch nicht Vertrauen zu seiner Kraft und war in der Tat in seiner Innen- wie Außenpolitik durch föderalistische Quertreibereien gehemmt. Als sodann das Dritte Reich die innere Kraft zur Überwindung des Partikularismus - nicht bloß auf dem Gebiete der Justiz - gewonnen hatte, war jene unselige politische Spannung eingetreten, die Österreich von allen Maßnahmen der Rechtsvereinheitlichung im Reiche ausgeschaltet hat. So ist die Stunde der Vereinheitlichung des Reiches mit der ganzen Schwierigkeit der Vereinheitlichung des Rechtes belastet und muß in einem oder in 24 A. J. Mcrkl

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ein paar Jahren nachgeholt werden, was fast zwei Jahrzehnte Vorbereitungszeit an Möglichkeiten einer schrittweisen zielsicheren Rechtsangleichung versäumt haben. Abbaureife Maßnahmen der früheren Ära Selbstverständlich werden das Tempo und die Gegenstände der Rechtsangleichung durch die staats- und wirtschaftspolitischen Erfordernisse bestimmt. Indes gibt es wohl eine Gruppe von Rechtseinrichtungen, wo subjektive Untragbarkeit und objektive Unsachlichkeit im allgemeinen zusammentreffen und schon der Mangel des Eingelebtseins dieser Einrichtungen sie zum baldigen Abbruch überreif erscheinen läßt. Es sind vor allem dies die schon durch die Form ihrer Einführung als ephemer beurteilten „kriegswirtschaftlichen" Maßnahmen, beginnend mit der Proklamation des „neuen" Österreich im März 1933, das sich nach einigen Wochen völliger politischer Ideenlosigkeit ein ständisches Staatsprogramm beigelegt hat, bis zu der im April 1934 erlassenen ständisch-autoritären Verfassung. Von jedem ideellen und materiellen Standpunkt aus wird man Kodifikationen von der Altehrwürdigkeit des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches aus dem Jahre 1811, von der Großzügigkeit und technischen Vollendung der österreichischen Zivilprozeßordnung aus dem Jahr 1896 und selbst von der Sachlichkeit und Bewährtheit der österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze aus dem Jahr 1925, die nicht bloß viel Beachtung, sondern auch Nachahmung im Ausland gefunden haben, für erhaltungswürdiger erachten, als die Erzeugnisse der kriegswirtschaftlichen Ära des letzten Jahrfünfts mitsamt der beabsichtigten Krönung dieser Ära, der Mai Verfassung 1934, die schon durch ihren einzigartigen Titel unbewußt ihre zeitliche Begrenztheit verraten hat. War es nicht eigentlich ein Zeichen der Schwäche, des mangelnden Vertrauens in die siegreiche Kraft der wortreich verkündeten österreichischen Idee, wenn die sonst gewiß nicht kleinliche Pressepolizei des autoritären Österreich am Geburtstag der Verfassung einen Leitaufsatz zum Verfassungstage in Druck erscheinen ließ, der mit den Worten des Thomas von Aquino in die denkbar skeptischeste Prognose ausklang: „Nichts hat Bestand, was dem Willen des Volkes widerspricht." (Wiener Neueste Nachrichten vom 1. Mai 1934 „Die Wende des Verfassungslebens" von Dr. A. Merkl) Aus dem Selbsterhaltungstrieb des damaligen Regimes ist es gewiß zu verstehen, daß man die sachlich meist ebenso wie formell fragwürdigen

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Maßnahmen vor Anzweiflung und vor Anfechtung sicherzustellen bestrebt war. Bekanntlich hat das Verfassungsübergangsgesetz vom 19. Juni 1934 die gerichtliche Anfechtung von Verordnungen, die auf Grund von rechtlichen Ermächtigungen zu gesetzändernden Verordnungen ergangen waren, insbesondere also aller in der Übergangszeit vom März 1933 bis April 1934 erlassenen kriegswirtschaftlichen Verordnungen für unzulässig erklärt. Ebenso hat das erwähnte Verfassungsübergangsgesetz die gerichtliche Überprüfung von Gesetzen, die vor dem 1. Juli 1934 kundgemacht worden sind, verboten, und damit insbesondere ihre mit schwersten Verfassungsmängeln beladene Mai Verfassung 1934 vor der Überprüfung durch den Verfassungssenat des Bundesgerichtshofes sichergestellt; dies, obwohl der damalige Bundeskanzler Dollfuß in seiner Rundfunkrede vom 1. Mai 1934 mit Pathos die Legalität seiner Verfassung beteuert und sich auf den Bundesgerichtshofberufen hatte,,,dessen Entscheidung die absolute rechtliche Unanfechtbarkeit der Verfassung jederzeit bekräftigen wird". Die innerhalb der pressepolizeilichen Grenzen immerhin unternommene Kritik an der Legalität der Maiverfassung, insbesondere die von mir in den Juristischen Blättern vom 19. Mai 1934 veröffentlichte Argumentation, daß das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz keinesfalls eine Rechtsgrundlage für eine Gesamtänderung der Verfassung darbiete. Wie der Bundeskanzler in seiner Verfassungsrede behauptet hatte, ließen es geraten erscheinen, die behauptete Legalität der Maiverfassung doch nicht auf die gerichtliche Probe zu stellen und daher, da man denn doch nicht gerade die Verfassung allein der knapp vorher angekündigten gerichtlichen Überprüfung entziehen konnte, sämtliche österreichische Gesetze der Vergangenheit von der gerichtlichen Überprüfung auszunehmen. An anderer Stelle2 habe ich den Nachweis erbracht, daß zu den zunächst übernommenen Rechtseinrichtungen des ,,Bundesstaates Österreich" mit gewissen Einschränkungen auch die Verfassung 1934 gehört, und zwar ungeachtet ihres illegalen Ursprunges. Wenngleich die bisherigen Maßnahmen der Rechtsangleichung in den Bestand der für das ,,Land Österreich" übernommenen Verfassungseinrichtungen eine starke Bresche geschlagen haben, so ist es doch von grundsätzlicher Bedeutung, daß immerhin noch ein nennenswerter Rest von Verfassungseinrichtungen des selbständigen

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Österreichisches Verwaltungsblatt vom Mai 1938, hier abgedruckt auf S. 367 ff.

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Österreich dank der Rezeptionsklausel des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich vom 13. März 1938 vorläufig fortgilt, und zwar in der auffälligen Eigenschaft als partikuläres, nämlich auf Österreich beschränktes Reichsrecht. Ein praktisches Bedürfnis dieser wenn auch provisorischen Konservierung der Dollfuß-Verfassung dürfte indes kaum bestehen. Unoriginell vom Eingang des Vorspruches, nämlich der Berufung auf Gott, der wörtlich der Schweizer Verfassung entlehnt worden ist, bis zu den Verfassungsgarantien, die, wenngleich ihres ursprünglichen Sinnes entkleidet, aus der Bundesverfassung des Jahres 1920 entnommen worden sind, verdient diese Verfassung schwerlich, in das deutsche Recht und in die Geschichte einzugehen. In der bunten Fülle ihrer von mir so genannten,,Baugesetze"3 war für Staatsverfassungen bloß das berufständische Prinzip eine Neuerung, aber bekanntlich auch keine Erfindung des autoritären Österreich, sondern eine Entlehnung aus dem Bereich der katholischen Staats- und Gesellschaftsauffassung, wobei die unfolgerichtige und im Widerspruch zu der ursprünglichen Ankündigung, daß man in den nächsten Wochen unbd Monaten die Aufrichtung des ständischen Österreich erleben werde, überaus zaudernde und zaghafte Durchführung geeignet war, die große geistige Quelle, auf die man sich berufen hatte, zu kompromittieren. Noch vor wenigen Monaten4 habe ich an dieser Stelle in einer Reihe von Aufsätzen mit der pressepolizeilich unvermeidlichen Reserve immerhin deutlich gemacht, welche unlösbaren Probleme sich die österreichische Regierung mit ihrem Programm der berufständischen Vertretungskörper aufgehalst hat. Da die Ansätze der berufständischen Ordnung, soweit sie mit den ständischen Einrichtungen des Reichsrechts vereinbar sind, im Rahmen der reichsrechtlichen Ständeordnung verwertet werden können, besteht m.E. kein sachliches Bedenken, die Reste der „Verfassung 1934" auszumerzen. Überlebte „kriegswirtschaftliche" Rechtserzeugnisse Etwas anderes ist die Sachlage in bezug auf die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen, die in reicher Fülle der Dollfuß-Verfassung vorangegangen sind, und in bezug auf jene formellen Gesetze, die auf der „kriegswirtschaft-

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„Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs", Wien, Julius Springer, 1935.

4 Österreichischer Volkswirt vom November und Dezember 1937. Vgl. S. 329 ff in diesem Band.

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lieh" dekredierten Verfassung fußend, in den Jahre 1934 bis 1938 ergangen sind. Es muß zugegeben werden, daß manche dieser Einrichtungen ohne Rücksicht auf die Frage ihres sachlichen Wertes zur Verhinderung von Erschütterungen oder Störungen des Rechts- und Wirtschaftslebens, die aus ihrer ersatzlosen Beseitigung folgen würden, als Übergangserscheinung notwendig und daher in ihrem einstweiligen Bestand zu rechtfertigen sind. Es wäre in manchen Fällen nicht bloß untragbar, ohne Vorbereitung des auf dem fraglichen Gebiet im Altreich bestehenden Rechtszustand eintreten zu lassen, zugleich aber ist es in derartigen Fällen manchmal unzweckmäßig, auf jenen Rechtszustand auch nur vorübergehend zurückzugreifen, der voider Neuerung der früheren Regierung geschaffenen Neuerung in Österreich bestanden hat. In solchen Fällen wird sachlich der gewissermaßen rechtsästhetische Schönheitsfehler einer vorübergehenden Fortgeltung von Neuerungen aus der früheren Zeit zu rechtfertigen sein. Anderes gilt aber von jenen Maßnahmen ,,auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes", die der staatspolitischen Idee der früheren Zeit entsprungen sind, vorausgesetzt, daß solche Maßnahmen nicht schon, wie beispielsweise die Verbote bestimmter politischer Parteien, durch die Inkraftsetzung von Reichsrecht überholt sind.

Rechtsprobleme der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche I. Die Sachwalter des Rechtes, die diese Zeitschrift schreiben und lesen, dürfen und müssen sich dessen besinnen, daß das große geschichtliche Geschehen der letzten Wochen auch größte rechtliche Bedeutung hat und weittragende rechtliche Aufgaben gestellt hat. Vor allem war der Akt der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche ein Akt des Rechtes, der streng in den rechtsordnungsmäßigen Formen nicht bloß des Deutschen Reiches, sondern auch des Bundesstaates Österreich vor sich gegangen ist und somit in beiden Rechtsbereichen die Rechtskontinuität gewahrt hat. Die österreichisch-deutsche Arbeitsgemeinschaft, die der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich auf den verschiedensten Gebieten des kulturellen Lebens vorgearbeitet hat, und das verdienstliche Sammelwerk von Palier und Kleinwächter ,,Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung" (Wien 1930, Verlag Braumüller), haben sich bereits eingehend mit der Frage der Rechtsform des Anschlusses befaßt. Diese sozusagen rein akademischen Untersuchungen haben durch das politische Werk der Staatsmänner und vor allem des Führers eine unverhoffte Bestätigung erfahren. In der großen geschichtlichen Stunde haben die verantwortlichen Männer dem großen Staatsakte auch die entsprechende rechtliche Form gegeben. Zwei Rechtswege standen zur Wahl, wenn auch für das rechtswissenschaftliche Urteil aller Zeiten und aller Länder die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche als freier Willensausdruck der beiden Staaten, in die die deutsche Nation gespalten war, feststehen sollte: Ein Staatsvertrag Österreichisches Verwaltungsblatt, 9. Jg. (1938), S. 81-88, 113-119.

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zwischen dem Deutschen Reich und Österreich oder zwei übereinstimmende Gesetze der beiden Staaten, durch die einerseits Österreich seinen Willen aussprach, Bestandteil des Reiches zu werden und anderseits das Deutsche Reich seinen Willen erklärte, Österreich als Bestandteil des Reiches aufzunehmen. Den ersten Schritt eines solchen Anschlußverfahrens hatte Österreich bekanntlich bereits mit dem Beschlüsse über die Staatsform vom 12. November 1918, StGBl. Nr. 5, mit folgenden Gesetzesworten getan: „DeutschÖsterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik." Diese einseitige Erklärung des österreichischen Gesetzgebers mußte aber unwirksam bleiben, weil der Einspruch der alliierten und assoziierten Mächte dem ohnmächtigen Deutschland von damals die ergänzende gesetzliche Erklärung verwehrt hatte, und mußte von Österreich selbst unter dem Zwange des Staatsvertrages von St. Germain gesetzlich widerrufen werden. (Über die rechtliche Bedeutung der Anschlußerklärung vergleiche meine „Verfassung der Republik Deutschösterreich", Wien 1919, S. 11 ff.). Der Rechtsakt der Vereinigung Österreichs mit dem Reiche ist in zwei aufeinander bezogenen (reziproken oder korrelaten) Gesetzen Österreichs und des Deutschen Reiches vom 13. März 1938 beschlossen. Das österreichische „Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche" erklärt Österreich zu einem Land des Deutschen Reiches. Das Deutsche Reichsgesetz vom selben Tage (im Gesetzblatt für das Land Österreich kundgemacht unter Nr. 27) besagt in seinem Art. I: „Das von der österreichischen Bundesregierung beschlossene Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13. März 1938 wird hiemit deutsches Reichsgesetz." Das österreichische Bundesverfassungsgesetz stützt sich noch auf eine Vollmacht des Verfassungsrechtes des autoritären Österreich, deren rechtmäßiges Zustandekommen freilich ebenso wie das der ganzen „Verfassung 1934" bezweifelt werden mußte (vgl. mein Buch: „Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs", S. 10 ff.), das aber, wenn auch sehr vorübergehend, wirksames Recht geworden ist. Im Sinne dieser, wie gerade der letzte Anwendungsfall zeigt, wahrhaft autoritären österreichischen Verfassung war die Bundesregierung zweifelsohne zuständig, durch einen einstimmigen Gesetzesbeschluß jede Verfassungsänderung und somit auch den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich zu vollziehen. Daß das entsprechende deutsche Reichsgesetz nicht als Verfassungsgesetz auftritt, erklärt sich einfach daraus, daß das deutsche Reichsstaatsrecht die Unterscheidung zwischen Ver-

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fassungsgesetzen und einfachen Gesetzen fallen gelassen hat, denn diese Unterscheidung hat offenbar ihren Sinn verloren, wenn Unterschiede im Wege der Gesetzgebung je nach dem Gesetzesinhalt nicht mehr bestehen, sondern für jeden Akt der Gesetzgebung ein Regierungsbeschluß genügt. Mit dem Inkrafttreten der beiden Gesetze, also am 13. März 1938, ist Österreich ein Bestandteil des Deutschen Reiches geworden, und zwar in der rechtlichen Eigenschaft eines Landes mit gleichen Rechten und Pflichten wie alle Länder des Reiches, was natürlich noch nicht heißt: Mit inhaltlich übereinstimmender Rechtsordnung. Damit ist dem Anschlußakte zugleich auch ein Inhalt gegeben, der in der Diskussion des parlamentarischen Österreich bekanntlich stark angezweifelt gewesen war. Das Deutsche Reich hat die geschichtliche Einheit Österreichs, freilich notgedrungen in seinen durch die Kriegsfolgen verstümmelten Grenzen, gewahrt. Über die seinerzeitigen Wünsche der Föderalisten, die namentlich auf den Länderkonferenzen in Linz und Salzburg im Jahre 1920 zutage getreten waren (vgl. die bezüglichen stenographischen Protokolle, herausgegeben von der Landesregierung von Oberösterreich und der Landesregierung von Salzburg), ist der große geschichtliche Augenblick selbstverständlich zur Tagesordnung übergegangen. Die führenden Männer des Reiches haben bei dieser Entscheidung österreichischer gedacht als jene Österreicher, die mit ihrem Bundesland gewissermaßen aus Österreich flüchten wollten, um innerhalb des Reiches eine Sonderexistenz und ein größeres politisches Eigenleben führen zu können, als es ihnen die Verfassung Österreichs versprach. Ich darf vielleicht in diesem Zusammenhang auf meine Worte in dem Aufsatz ,,Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich als Rechtsproblem" (Zeitschrift für öffentliches Recht, 1927, S. 538) verweisen: ,,Gerade der zuletzt erwähnte Gedanke der Preisgabe Österreichs als Preis des Anschlusses ist nach meiner Anschauung im Grunde ein Ungedanke, denn man könnte bei einem solchen länderweisen Anschluß der österreichischen Bundesländer, der Deutschösterreich beseitigt, um die Länder Österreichs reichsunmittelbar zu machen, überhaupt nicht mehr von einem Anschluß Österreichs' an das Reich sprechen." Der Anschlußakt hat die politisch-geschichtliche Idee der Ostmark gewahrt, ja in ihrer vollen Reinheit wiederhergestellt. Die Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche hatte nicht die Bedeutung einer rechtlichen Form des Anschlusses, sondern ausschließlich die einer volksmäßigen Bekräftigung des bereits rechtlich voll wirksamen Vollzuges des Anschlusses. In diesem Punkte

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bestand ein unleugbarer Unterschied in der Rechtslage Österreichs vor und nach dem Herrschendwerden der autoritären Staatsform. Auf Grund der Rechtslage nach der Bundesverfassung des Jahres 1920 mußte ich im Jahre 1927 in dem vorerwähnten Aufsatz über den „Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich als Rechtsproblem", S. 544, feststellen: „Für das österreichische Anschlußgesetz bedarf es demnach einer Zustimmung des Bundesvolkes. Diesem Erfordernis einer Volksabstimmung gilt es nun durchaus nicht auszuweichen, es besteht vielmehr das dringendste nationalpolitische Interesse, daß die verfassungsrechtliche Möglichkeit der Volksabstimmung mindestens in dieser für alle Deutschen größten politischen Stunde der Vereinigung der staatlich getrennten deutschen Stämme verwertet werde. Erst die Feuerprobe der Volksabstimmung, deren überwältigenden Erfolg alle Eingeweihten voraussehen, wird den Anschlußpakt politisch besiegeln." Nach mehr als einem Jahrzehnt ist diese Voraussage, für die zu ihrer Zeit alle politischen Voraussetzungen der Aktualität gefehlt hatten, lebendige Wirklichkeit geworden. Mittlerweile ist schon das große Werk der sachlichen Verschmelzung der rechtlich geeinten Staaten in Gang gekommen, an dem gerade den Rechtswahrern und unter diesen wieder den Trägern der Verwaltung ein hervorragender Anteil zukommt. Das eindeutige Ziel, das bereits durch die Anschlußgesetze vorgezeichnet ist, kann nur darin bestehen, daß Österreich sich von den anderen Ländern des Reiches rechtlich nur so weit unterscheidet, als zwischen den Ländern des Altreiches selbst Unterschiede bestehen. Die Erfahrung zeigt nun aber, daß die letzten 72 Jahre staatlichen Eigenlebens in Österreich die rechtlichen Früchte einer vielhundertjährigen staatlichen Gemeinsamkeit zum großen Teile verschüttet haben, weil das Recht im allgemeinen viel kurzlebiger ist als der Staat und gar die Nation. Aus dieser Erfahrung zieht Art. II des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung die Folgerung „Das derzeit in Österreich geltende Recht bleibt bis auf weiteres in Kraft". Die Rechtsangleichung kann unter diesen Umständen nur schrittweise erfolgen, wenn nicht die unvorbereitete Beamtenschaft vor unmögliche Aufgaben gestellt werden und über die Bevölkerung infolge der Fülle der Neuerungen eine völlige Rechtsunsicherheit hereinbrechen soll. Maß und Gegenstände der Rechtsangleichung zu bestimmen, ist selbstverständliche Aufgabe der Staatsführung und ungebetene Vorschläge müssen in diesem Falle schweigen. Soviel lassen allerdings schon die ersten Schritte der

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Rechtsangleichung erkennen, daß diese bei solchen Gebieten der Rechtsordnung ihren Anfang nimmt, die für die staatliche Einheit symbolhaft oder sachlich grundlegend und notwendig sind, um Österreich nicht bloß nominell, sondern organisatorisch in das Reich einzubauen, ferner im Dienste der Belebung der Wirtschaft und Behebung der Arbeitslosigkeit stehen. Die an erster Stelle erwähnten Bestimmgründe für die Aufgabe der Rechtsangleichung begegnen uns vor allem im ersten und zweiten Erlaß des Führers und Reichskanzlers ,,Über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich", Nr. 6 und 8 des Gesetzblattes für das Land Österreich, ferner in der Verordnung des Reichsministers der Justiz und des Reichsministers des Innern vom 22. März 1938, kundgemacht unter Nr. 20 LGB1. Das Deutsche Reich hat bekanntlich auch nach dem Umbau des Reiches aus einem Bundesstaat in einen Einheitsstaat aus Zweckmäßigkeitsgründen noch die Zweiheit von Reichsrecht und Landesrecht beibehalten. Das Reich darf zwar jederzeit innerhalb des gesetzgeberischen Wirkungskreises der Länder Reichsrecht erlassen, aber soweit das Reich von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, bleibt den Ländern die Beibehaltung und Abänderung ihres Landesrechtes unbenommen. Für Österreich besteht während des Übergangszustandes im Vergleich mit den anderen Ländern des Reiches die Besonderheit, daß es auch außer jenen Rechtsgebieten, die innerhalb des Altreiches landesrechtlich geregelt sind und daher auch in Österreich in Zukunft landesrechtlich geregelt bleiben können, nämlich in den Gegenständen reichsrechtlicher („gemeinrechtlicher") Regelung sein überkommenes Recht, mag es nun bundesgesetzlichen oder landesgesetzlichen Ursprunges sein, mit zwei Ausnahmen bis auf weiteres beibehalten kann: Diese zwei Ausnahmen betreffen einerseits das sachliche Geltungsbereich jener Reichsrechtsquellen, die auf Österreich ausdrücklich erstreckt werden, anderseits jene Reichsrechtsquellen, die seit der Wiedervereinigung ohne Begrenzung des räumlichen Geltungsbereiches erlassen werden (§ 1 Abs. 2 der Kundmachung des Reichsstatthalters, LGB1. Nr. 6). Das innerhalb der reichsgesetzlichen Kompetenz durch Art. II des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung in Österreich aufrecht erhaltene Recht ist wissenschaftlich wohl als partikuläres, nämlich in seiner räumlichen Geltung auf Österreich beschränktes Reichsrecht, zu deuten. Soweit eine Prognose möglich ist, darf man wohl annehmen, daß einer der nächstliegenden Gegenstände der Rechtsangleichung das Beamtenrecht

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sein dürfte. Infolge der vordringlichen Bedeutung dieses Gegenstandes für die Leser dieser Zeitschrift möge in der vorliegenden Folge der Zeitchrift vor allem diesem Gegenstand notwendiger Rechtsangleichung eine einführende Betrachtung gewidmet sein. II. Kein Gesetz ist für die Träger der Verwaltung von solcher grundlegender Wichtigkeit, wie das Gesetz, das die Rechtsstellung und damit auch die Aufgaben der Staatsdiener regelt. Dies gilt am meisten für einen Führerstaat, denn die Beamtenschaft ist die unentbehrliche Gefolgschaft, die den Führerwillen in die Tat umsetzt, bildlich gesprochen, das Rückgrat des Staatsorganismus. Die Einheitlichkeit eines Beamtenrechtes, das die Beamtenschaft zur geschlossenen Gefolgschaft des Führers macht, ist eine der Bedingungen der Einheitlichkeit des Staatshandelns. Wenn aus Gründen einer allmählichen Anpassung an eine ungewohnte Rechtslage die Rechtsangleichung im übrigen nur vorsichtig vor sich geht, so ist es dagegen selbstverständlich, daß der öffentliche Beamte in Österreich alsbald demselben Gesetze des dienstlichen Handelns unterstellt wird, wie der Beamte im alten Reiche. Schon vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus haben sich die beteiligten Fachkreise im Reich und in Österreich mit der Reform des Beamtenrechtes und darüber hinaus mit der Möglichkeit einer Annäherung der in beiden Staaten verfassungsgesetzlich in Aussicht genommenen Beamtengesetze befaßt. Davon legt die Diskussion der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer Tagung zu Halle a.S. am 28. und 29. Oktober 1931 Zeugnis ab. In zeitaufgeschlossener Weise hat sich damals die Vereinigung um Vorschläge bemüht, der Gefahr einer Korrumpierung der Beamtenschaft durch das Schaukelsystem der parlamentarischen Mehrheitsherrschaft zu begegnen und zur guten alten deutschen Beamtenrechtstradition zurückzufinden. Zugleich wurden Vorschläge für eine wenigstens auf das Grundsätzliche erstreckte Rechtsangleichung des Beamtenrechtes im Reiche und in Österreich erstattet. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat seinen Mitbericht über das Thema mit folgenden Sätzen geschlossen, die wegen ihrer damals kaum geahnten Aktualität in diesen Tagen wiedergegeben werden mögen: ,,Eine so weitgehende Übereinstimmung des Beamtenrechtes, das ist jenes Rechtsgebietes, das wie kaum ein zweites die Eigenheit, um nicht zu sagen Persönlichkeit, des Staates ausdrückt, wäre mehr als

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das Strafgesetz oder irgend eine andere Teilrechtsordnung Symbol einer einheitlichen Staatsauffassung und würde den Kern der Rechtseinheit abgeben. Diese ideelle Forderung wäre aber auch sachlich durchaus begründet, denn es gibt kaum einen zweiten Berufskreis im Reiche und in Österreich, den eine so einheitliche traditionelle Berufsauffassung verbindet, wie die Berufsbeamtenschaft im Reich und in Österreich. Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer erfüllt eine nationale Sendung, wenn sie der deutschen Berufsbeamtenschaft und der deutschen Politik auf dieser Tagung den Weg zu dem Ziele weist: Dem nur staatlich gespaltenen, durch den Beruf des Dienstes für das einheitliche deutsche Volk jedoch verbundenen deutschen Beamtentum das eine, gemeinsame deutsche Beamtenrecht!" Berlin, Verlag Gruyter 1932. Solche Erörterungen und Vorschläge waren freilich damals wegen der Aktionsunfähigkeit der beiderseitigen Parlamente in mehr als einem Sinn bloß akademischer Natur. Erst der Nationalsozialismus hat die tatsächlichen Voraussetzungen für ein der deutschen Beamtentradition gerecht werdendes Beamtenrecht geschaffen und alsbald auch einem einheitlichen gesamtdeutschen Beamtenrecht für alle Zukunft den Weg gebahnt. Die Rechtsquelle des für alle Beamten innerhalb des Reiches geltenden Beamtenrechtes ist das Deutsche Beamtengesetz (DBG) vom 26. Jänner 1937 (RGBl. I S. 39). Das Gesetz ist ebenso Rechtsquelle für die Beamten, die das Reich, wie auch für jene, die eine andere öffentliche Körperschaft zum Dienstherrn haben. Es gilt also für alle ,,öffentlich-rechtlichen", in einem sogenannten besonderen Gewaltverhältnis stehenden Beamten (nach dem österreichischen Sprachgebrauch öffentliche oder pragmatische „Angestellte"), nicht für die Vertragsbediensteten. Das Gesetz kennt nur Reichsbeamte, denn jeder dem Gesetz unterliegende Beamte steht zum Führer und zum Reich in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis. Dieses Dienstverhältnis ist aber entweder ein unmittelbares oder mittelbares. Sonach ist zum Beispiel ein deutscher Richter oder ein Zollbeamter unmittelbarer Reichsbeamter, ein Mittelschullehrer oder Volksschullehrer, ein Gemeindebeamter usw. mittelbarer Reichsbeamter. „Hat der Beamte nur das Reich zum Dienstherrn, so ist er unmittelbarer Reichsbeamter; hat er einen anderen unmittelbaren Dienstherrn, so ist er mittelbarer Reichsbeamter. Die Auswirkung des Führerprinzips nach innen ist, daß der deutsche Beamte im Führer den höchsten Vorgesetzten erkennt. Im übrigen

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ist zwischen dem Dienstvorgesetzten und Vorgesetzten schlechthin zu unterscheiden. Dienstvorgesetzter ist, wer für beamtenrechtliche Entscheidungen über die persönlichen Angelegenheiten des ihm nachgeordneten Beamten zuständig ist. Vorgesetzter ist, wer einen Beamten für seine amtliche Tätigkeit Weisungen erteilen kann. Der Dienstvorgesetzte und der Vorgesetzte können, müssen aber nicht dieselbe Person sein. Oberste Dienstbehörde des Beamten ist die oberste Behörde seines unmittelbaren Dienstherrn. In welcher Eigenschaft und in welchen Diensten, immer ist der Beamte Vollstrecker des Willens des von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei getragenen Staates'." Es war spätestens eine Folge des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Jänner 1934, daß die Länder den Staatscharakter, den ihnen vordem Wissenschaft und Praxis zugebilligt hatten, verloren haben und sie auf die Rolle von Selbstverwaltungskörpern innerhalb des einigen und einzigen Staates zurückgeführt worden sind. Dem erwähnten Neuaufbaugesetz zufolge waren die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übergegangen und die Landesgesetze werden seither nicht mehr im Namen des Landes, sondern im Namen und nach Zustimmung des Reiches erlassen. Den Kern des Reichsbeamtengesetzes stellt der Abschnitt II über die Pflichten der Beamten dar. Den einschlägigen, wie aus einem Guß aus der neuen Staatsauffassung fließenden Anordnungen präludiert schon der § 1 des Beamtengesetzes mit der programmatischen Bestimmung: ,,Der Staat fordert von dem Beamten unbedingten Gehorsam und die äußerste Pflichterfüllung. Er sichert ihm dafür seine Lebensstellung." In einer Art Präambel dieses Abschnittes werden die Beamtenpflichten in die allgemeinen Sätze zusammengefaßt: „Führer und Reich verlangen von ihm echte Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft und volle Hingabe der Arbeitskraft, Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten und Kameradschaftlichkeit gegenüber den Mitarbeitern. Allen Volksgenossen soll er ein Vorbild treuer Pflichterfüllung sein. Dem Führer, der ihm seinen besonderen Schutz zusichert, hat er Treue bis zum Tode zu halten." Schon an dieser allgemeinen Fassung der Beamtenpflichten zeigt sich, daß das Schwergewicht der Pflichtenfülle von der äußeren Gehorsamspflicht, selbstverständlich ohne daß diese im geringsten gelockert worden wäre, zu der inneren, ein psychisches Verhalten fordernden Treuepflicht verlegt worden ist. Hand in Hand damit geht die Wandlung der Beamtenpflicht aus einer solchen gegenüber der abstrakten Staatsautorität, wie sie das republikanische Recht beliebt, in eine Pflicht gegenüber einem persönlichen Staatsoberhaupt. „Eine aus der neuen Staatsauffassung

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fließende Neuheit des Beamtenrechtes ist die Tatsache, daß der Beamte nicht bloß dem Staate, sondern auch einer zweiten Gemeinschaft, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei rechtlich verbunden ist, eine Folge davon, daß Staat und Partei in der Person des Führers und Reichskanzlers ihre gemeinsame Spitze haben. Der Beamte hat jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten und sich in seinem gesamten Verhalten von der Tatsache leiten zu lassen, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in unlöslicher Verbundenheit mit dem Volke die Trägerin des deutschen Staatsgedankens ist. Er hat Vorgänge, die den Bestand des Reiches oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gefährden könnten, auch dann, wenn sie ihm nicht vermöge seines Amtes bekannt geworden sind, zur Kenntnis seines Dienstvorgesetzten zu bringen." Aus der Treuepflicht gegen die beiden Autoritäten fließt demnach auch eine Anzeigepflicht, die inhaltlich aber auf Fälle beschränkt ist, wo offenbar nach gewissenhafter Prüfung des Beamten eine Gefahr für den Bestand von Staat oder Partei am Spiele steht. Gehorsam schuldet der Beamte den Gesetzen, worunter alle allgemein verbindlichen Rechtssätze zu verstehen sind. Die dienstlichen Anordnungen seiner Vorgesetzten oder der kraft besonderer Vorschrift ihm gegenüber zur Erteilung von Weisungen berechtigten Personen hat er zu befolgen, soweit gesetzlich nichts anderes vorgeschrieben ist; die Verantwortung trifft dann denjenigen, der die Anordnung gegeben hat. Der Beamte darf eine Anordnung nicht befolgen, deren Ausführung für ihn erkennbar den Strafgesetzen zuwiderlaufen würde. Damit sind die Schranken der Gehorsamspflicht gegenüber Weisungen in gleicher Weise gezogen, wie in der bisherigen österreichischen Verfassung, Art. 11; der Beamte ist berechtigt und verpflichtet, zu prüfen, ob die Dienstanweisung vom zuständigen Vorgesetzten erlassen worden ist und ob sie nicht den Strafgesetzen zuwiderläuft. Entspricht die Weisung diesen Anforderungen, mag sie auch im übrigen nach der Überzeugung des Beamten oder in Wirklichkeit rechtswidrig sein, so ist der Beamte Gehorsam schuldig. Andernfalls ist er berechtigt und verpflichtet, den Gehorsam zu verweigern. Eine weitere Richtlinie für das Verhalten des Beamten gegenüber Weisungen ist dem bisherigen österreichischen Rechte fremd. Der Beamte darf Anordnungen für seine Amtshandlungen nur von seinen Vorgesetzten oder den kraft besonderer Vorschrift ihm gegenüber zur Erteilung von Weisungen berechtigten Personen entgegennehmen; seine Bindung an Gesetz und solche Anordnungen geht jeder anderen Gehorsams-

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bindung vor. Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht sich auf die dem Beamten bei seiner amtlichen Tätigkeit bekannt gewordenen Angelegenheiten, deren Geheimhaltung durch Gesetze oder dienstliche Anordnung vorgeschrieben oder ihrer Natur nach erforderlich ist; von dieser Amtspflicht kann in keinerlei andere persönliche Bindung befreien. Die Verschwiegenheitspflicht ist sonach enger und sinnvoller abgesteckt als im Art. 11 der österreichischen Verfassung, und doch in einer Weise, daß alle öffentlichen und privaten Interessen, die für die Verschwiegenheit des Beamten sprechen, Berücksichtigung finden können. Zeitlich erstreckt sich die Verschwiegenheitspflicht über die Beendigung des Beamtenverhältnisses hinaus, also auf Lebensdauer. Die Frage der Nebenbeschäftigung oder Nebentätigkeit war schon im früheren deutschen Beamtenrecht und ist um so mehr im DBG strenger geregelt, als in der Bundesdienstpragmatik. Einerseits ist der Beamte verpflichtet, auf Anordnung seiner obersten Dienstbehörde jede Nebentätigkeit (Nebenamt, Nebenbeschäftigung) im öffentlichen Dienst - auch ohne Vergütung - zu übernehmen oder fortzuführen, sofern diese Tätigkeit seiner Vorbildung oder Berufsausbildung entspricht. Die freiwillige Übernahme eines Nebenamtes, einer Vormundschaft, Pflegschaft oder Testamentsvollstreckung oder einer Nebenbeschäftigung gegen Vergütung, endlich der Eintritt in die Kollegialorgane einer Gesellschaft, Genossenschaft oder eines in anderer Rechtsform betriebenen Unternehmens bedarf der dienstbehördlichen Genehmigung; es besteht also nicht eine bloße Anzeigepflicht des Beamten, verbunden mit einer Verbotsmöglichkeit für die Dienstbehörde, sondern es ist jede Art Nebentätigkeit durch eine im freien Ermessen der Dienstbehörde gelegene Bewilligung bedingt. Die Amtspflichten beziehen sich auch auf Familien- und Hausstandsangehörige. Der Beamte darf nicht dulden, daß ein seinem Hausstand angehöriges Familienmitglied eine unehrenhafte Tätigkeit ausübt. Zum Betriebe eines Gewerbes im Sinne der Reichsgewerbeordnung durch die Ehefrau des Beamten ist die Genehmigung der Dienstbehörde erforderlich. - Der Beamte ist verpflichtet, auch über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus Dienst zu tun, wenn die dienstlichen Verhältnisse es erfordern. Die Folgen der Nichterfüllung der Pflichten sind die Versagung des Aufsteigens im Gehalt, Dienststrafen und Schadenshaftung. Das Dienststrafrecht ist nicht im DBG, sondern in der Reichsdienststrafordnung

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(RDStO) geregelt, die gleichzeitig mit dem DBG in Kraft getreten ist. Zum Unterschied von Österreich ist im Reich nicht nur die Haftung des Beamten gegenüber dem Dienstherrn für Schäden aus rechtswidriger Amtsführung, sondern auch die Haftung des Dienstherrn für Schäden aus rechtswidriger Amtsführung gegenüber dem Publikum alteingebürgertes Rechtsgut, das auch durch den Umbruch des Jahres 1933 nicht in Frage gestellt worden ist. Die Beamten unterliegen der Schadenshaftung im Sinne der Staatshaftungsgesetze, insbesondere des Reichsgesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten vom 22. Mai 1910 in der Fassung des § 4 des Gesetzes vom 30. Juni 1933; allerdings weicht der Beamtenbegriff dieser Haftungsbestimmungen einigermaßen vom Beamtenbegriff des DBG ab. Auf diese dem österreichischen Recht neuen Rechtseinrichtungen, die übrigens einem alten Wunsche der verantwortungsbewußten österreichischen Beamtenschaft entsprechen und deren Mangel ein sehr zweifelhaftes Privileg der Verwaltungsbeamtenschaft gegnüber der Justizbeamtenschaft dargestellt hat, kann an dieser Stelle im einzelnen nicht eingegangen werden. Das Beamtenverhältnis wird durch den Verwaltungsakt der Ernennung begründet. Der hoheitliche Charakter dieses Aktes, der in der liberalen Ära von mancher Seite de lege ferenda, ja sogar de lege lata angezweifelt worden ist, wird im DBG in voller Reinheit wiederhergestellt. Für die dem privatrechtlichen Arbeitserhältnis angenäherte Vertragsnatur finden sich nicht die geringsten Anhaltspunkte; nicht einmal ein Antrag oder eine sonstige Willenseinigung ist vorausgesetzt, so daß die Rechtmäßigkeit der Ernennung durch den Mangel der Willensübereinstimmung mit dem Ernannten nicht in Frage gestellt ist. Selbstverständlich wird tatsächlich niemand gegen seinen Willen zum Beamten ernannt. Außer den im allgemeinen mit dem österreichischen Recht übereinstimmenden Voraussetzungen fordert bekanntlich das DBG, daß der Beamte deutschen oder artverwandten Blutes ist und, wenn er verheiratet ist, einen Ehegatten deutschen oder artverwandten Blutes hat. Ist der Ehegatte Mischling zweiten Grades, so kann eine Ausnahme zugelassen werden. Die erforderliche staatsbürgerliche Qualifikation besteht in der Gewähr, daß der Beamte jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt. Die juristisch ebenso bemerkenswerte, wie praktisch bedeutsame Neuerung in der Form der Beamtenernennung besteht in der Vorschrift der 2 A. J. Merkl

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Aushändigung einer Ernennungsurkunde, in der die Worte: ,,Unter Berufung in das Beamtenverhältnis'4 enthalten sind. Wer keine solche Urkunde erhalten hat, ist nicht Beamter im Sinne des Gesetzes (§ 27). Durch diese einfache Formvorschrift ist dem unfruchtbaren Streit, ob eine bestimmte Person in einem Beamtenverhältnis oder in einem Vertragsverhältnis steht, ein Riegel vorgeschoben und in mustergültiger Weise ein unverkennbares Kriterium des Beamten geschaffen. Diese Form der Ernennung präjudiziert noch nicht der Dauer des Beamtenverhältnisses. Das Gesetz kennt Beamte auf Lebenszeit, auf Zeit und auf Widerruf. Der Absicht des Gesetzes nach soll der Beamte auf Lebenszeit die Regelerscheinung sein. Dies gilt freilich nur für Beamte, die für Daueraufgaben voll verwendet werden. Die zeitliche Qualifikation des Beamtenverhältnisses ergibt sich aus der Ernennungsurkunde. Beamter auf Lebenszeit ist, wer eine Urkunde erhalten hat, in der die Worte ,,auf Lebenszeit" enthalten sind. Auf Lebenszeit darf nur ein Mann, der das 27. Lebensjahr und eine Frau, die das 35. Lebensjahr vollendet hat, unter gleichzeitiger Einweisung in eine Planstelle, die besetzt werden darf, ernannt werden. In der Ernennungsurkunde eines auf Zeit ernannten Beamten muß die Zeit angegeben werden, für die er ernannt ist. Läuft die Amtszeit eines Beamten auf Zeit ab, so ist er verpflichtet, das Amt weiterzuführen, wenn er unter nicht ungünstigeren Bedingungen für wenigstens die gleiche Zeit wieder ernannt werden soll. Wer nicht Beamter auf Lebenszeit oder auf Zeit ist, ist Beamter auf Widerruf. Der Führer und Reichskanzler ernennt die Beamten, soweit gesetzlich nicht etwas anderes vorgeschrieben ist, oder er die Ausübung dieses Rechts nicht anderen Stellen überträgt; er bestimmt durch Erlaß, inwieweit bei der Ernennung von Beamten der Stellvertreter des Führers oder die von ihm bestellte Stelle zu hören ist. Mängel der Ernennung haben je nach ihrer Wichtigkeit, Nichtigkeit oder obligatorische oder fakultative Nichtigerklärung zur Folge; die Amtshandlungen der Personen, deren Ernennung nichtig oder für nichtig erklärt sind, haben volle Gültigkeit. Die Versetzung eines Beamten innerhalb des Dienstbereiches des unmittelbaren Dienstherrn ist zulässig, wenn es der Beamte beantragt, oder ein dienstliches Bedürfnis dafür besteht. Ohne die Zustimmung des Beamten ist eine Versetzung in ein anderes Amt nur zulässig, wenn das neue Amt derselben oder einer gleichwertigen Laufbahn angehört, wie das bisherige Amt, und mit mindestens gleich hohem Endgrundgehalt verbunden ist. Für die österreichische Beamtenschaft, auch für jene, die nicht in den Reichs-

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dienst übernommen wird, sondern im Landesdienst oder sonstigen öffentlichen Dienste bleibt, mag die Bestimmung von besonderer praktischer Bedeutung sein, daß mittelbare Reichsbeamte unter denselben Voraussetzungen, wie innerhalb des Dienstbereiches ihres Dienstherrn, vom zuständigen Reichsminister auch in den Dienstbereich eines anderen Dienstherrn versetzt werden können, wenn der bisherige und der neue Dienstherr zustimmen. Mit dieser Bestimmung ist mit, aber auch gegen den Willen des Beamten die dienstliche Freizügigkeit zwischen Reich und Ländern sowie den sonstigen öffentlichen Körperschaften in jeder Richtung hergestellt. Im Sinne der Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, LGB1. Nr. 8, ist übrigens die Geltung der Bestimmung ,,Landesbeamte können in den Reichsdienst, Reichsbeamte in den Landesdienst versetzt werden", bereits auf Österreich erstreckt. Die,,Rechte" der Beamten regelt das Gesetz unter dem Titel:,,Sicherung der rechtlichen Stellung der Beamten". Der Staat gewährt dem Beamten Fürsorge und Schutz bei seinen amtlichen Verrichtungen und in seiner Stellung als Beamter. Er hat Anspruch auf die Amtsbezeichnung, Dienstund Versorgungsbezüge und auf ein Dienstzeugnis. Das Besoldungswesen ist, von einigen Vorschriften abgesehen, außerhalb des DBG geregelt. Die Versorgungsansprüche regelt ausführlich und beträchtlich vom österreichischen Recht abweichend der Abschnitt VIII des DBG. Völlig weicht von der österreichischen Rechtslage der Rechtsschutz aus dem Beamtenverhältnis ab. Es hängt dieser Unterschied, wie hier nicht näher ausgeführt werden kann, mit der abweichenden Grenzlinie zwischen Justiz und Verwaltung und mit den Besonderheiten der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit zusammen. Übrigens weicht nur der vom DBG aufrecht erhaltene Übergangszustand einschneidend von der österreichischen Rechtslage ab, während der im Abschnitt IX DBG geregelte Endzustand wiederum eine Annäherung an das österreichische Recht bedeutet. Der Endzustand des Rechtsschutzes ist in großen Zügen folgender: Vermögensrechtliche Ansprüche des Beamten, des Ruhestandsbeamten und der Hinterbliebenen aus dem Beamtenverhältnis werden durch Klage vor dem Verwaltungsgerichte geltend gemacht. Für Ansprüche des Dienstherrn aus dem Beamtenverhältnis gilt das gleiche. Ansprüche gegen Beamte der Justizverwaltung aus Amtspflichtverletzungen, die sie in oder bei Ausübung der Rechtspflege begangen haben, werden vor den ordentlichen Gerichten 2*

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I A Verfassungsrecht

geltend gemacht. Für die Klage ist das Verwaltungsgericht zuständig, in dessen Bezirk die zur Vertretung des Dienstherrn befugte Behörde ihren Sitz hat. Für die Entscheidung im letzten Rechtszuge ist das Reichsverwaltungsgericht zuständig. Die Bestimmung über die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zur Entscheidung über die vermögensrechtlichen Ansprüche der Beamten und über die Ansprüche des Dienstherrn aus dem Beamtenverhältnis treten jedoch erst mit der Errichtung des Reichsverwaltungsgerichtes in Kraft. Bis dahin gelten die Vorschriften verschiedener Rechtsquellen, namentlich der §§149 ff. des Reichsbeamtengesetzes, weiter, soweit sie die Zuständigkeit der Gerichte normieren. Eine bleibende Eigentümlichkeit des deutschen Beamtenrechtes ist es auch, daß das Gericht an gewisse administrative Vorentscheidungen amtsrechtlichen Inhaltes gebunden ist. Die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden darüber, ob und von welchem Zeitpunkt ab das Beamtenverhältnis endet, oder der Beamte in den Wartestand zu versetzen ist, sind für die Beurteilung der vor dem Gericht geltend gemachten vermögensrechtlichen Ansprüche bindend. Gleiches gilt für die Entscheidungen der Dienststrafgerichte sowie für die Entscheidungen, die das DBG für endgültig erklärt. Das Nebeneinanderbestehen der beiden Dienstrechtstypen, nämlich der Beamten und Vertragsangestellten, ist sachlich offenbar nur durch die Verschiedenheit der Geschäfte gerechtfertigt, die von dem rechtlich so verschieden behandelten Personal zu versehen sind. Das DBG macht den gelungenen Versuch, das Ermessen der Verwaltungspraxis bei der Benützung der beiden Dienstrechtsformen in der Weise einzuengen, wenn nicht auszuschließen, daß jedem der beiden Dienstrechtstypen von Gesetzes wegen ein bestimmtes Verwendungsbereich zugeteilt wird. Stellen für Beamte dürfen nach dem DBG nur eingerichtet werden, soweit sie die Wahrnehmung obrigkeitlicher Tätigkeiten in sich schließen, oder aus Gründen der Staatssicherheit nicht von Angestellten oder Arbeitern versehen werden dürfen. (Dabei spricht die Erwägung mit, daß die rigorose Gestaltung der Treuepflicht der Beamten die Gewähr für eine dem Willen der Staatsführung voll entsprechende Versehung des Dienstes wesentlich steigert.) Ohne die genannten Voraussetzungen sind Stellen für Beamte einzurichten, soweit es der Reichsminister des Inneren mit Zustimmung des Reichsministers für Finanzen zur Unterbringung von Versorgungsanwärtern bestimmt. Wenn auch Leitgedanke der Grenzabscheidung zwischen den Bereichen des Beamtenverhältnisses und Vertragsverhältnisses der ist, die Hoheitsverwaltung dem Beamten,

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die Privatwirtschaftsverwaltung dem Vertragsangestellten vorzubehalten, so sind doch aus staatspolitischen Gründen beträchtliche Abweichungen von dieser Grenzlinie zugelassen, ja geradezu geboten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhange eine, wenn auch nicht erschöpfende negative Bestimmung der obrigkeitlichen Verwaltung im DBG. Als obrigkeitliche Aufgabe gilt nämlich insbesondere nicht eine Tätigkeit, die sich ihrer Art nach von solchen des allgemeinen Wirtschaftslebens nicht unterscheidet, sowie eine Tätigkeit im Verwaltungsdienste, die sich in mechanischen Hilfeleistungen im Schreibdienst und in einfachen Bureauarbeiten erschöpft. Die Absicht, den Beamtenrechtstypus für staatspolitisch oder sonstwie sachlich qualifizierte Dienstleistungen vorzubehalten, geht auch aus der Vorschrift hervor, daß andere Körperschaften des öffentlichen Rechtes als Gebietskörperschaften, ferner Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechtes, neue Stellen für Beamte nur einrichten dürfen, wenn der zuständige Reichsminister im Einvernehmen mit dem Reichsminister der Finanzen ihnen hiezu seine Zustimmung erteilt hat. Bei Nutzanwendung dieser Leitgedanken des DBG auf die österreichischen Verhältnisse würde sich eine ziffermäßig sehr beträchtliche Auflassung von Dienstposten des pragmatischen Dienstes und die Besetzung dieser Posten mit Vertragsangestellten, anderseits in vielen Fällen eine Überführung von Vertragsangestellten in Beamtenverhältnisse ergeben. In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, daß die Beamten der Reichsbank und der Deutschen Reichsbahn die Stellung von mittelbaren Reichsbeamten haben, somit in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen. Sie unterliegen zwar nicht dem DBG, doch werden die Reichsbank und die Deutsche Reichsbahn vom § 153 DBG ermächtigt, diesem Gesetz entsprechende Vorschriften zu erlassen, womit den genannten Stellen eine ungewöhnliche Verordnungsgewalt eingeräumt ist. Schon ein Gesetz vom 10. Februar 1937 hat jedoch die Beamten der Reichsbahn in das Verhältnis von unmittelbaren Reichsbeamten überfühlt, wonach auf sie das DBG, wenn auch mit gewissen Abweichungen, unmittelbar anzuwenden ist. Nebenbei sei erwähnt, daß auch die Beamten der Deutschen Reichspost nach dem Reichspostfinanzgesetz vom 18. März 1924 unmittelbare Reichsbeamte sind. Infolge der Eingliederung des Wirtschaftskörpers der Österreichischen Bundesbahnen in die Deutsche Reichsbahn und der österreichischen Postverwaltung in die Deutsche Reichspost haben sonach diese Gruppen der österreichischen Beamtenschaft bereits den Charakter von unmittelbaren Reichsbeamten erlangt. Das bisherige Dienstrecht ist wohl durch diese Änderung ihrer Rechtsstellung noch nicht berührt.

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I A Verfassungsrecht

Eine vorläufige Verständigung über das Deutsche Beamtenrecht und ein rasches Sichvertiefen in dessen Eigentümlichkeiten ist für den österreichischen Beamten gewiß noch wichtiger als die Vertrautheit mit anderen Rechtsmaterien. Auf diesem Gebiete ist nämlich für den Beamten nicht bloß ein Umlernen, sondern eine völlige geistige Umstellung notwendig. Gewiß ist dem österreichischen Beamten Treue zu Staat und Volk anerzogen, aber der Staat hat einen völlig gewandelten Inhalt. Der österreichische Beamte wird auch gut tun, die tragenden Gedanken des Deutschen Beamtengesetzes, auch insolange sie für den österreichischen Beamten noch nicht geltendes Recht geworden sind, vorwegzunehmen und zur Richtschnur seines amtlichen wie außeramtlichen Handelns zu machen. Dafür kann der österreichische Beamte einem von einer so strengen Amtsauffassung beherrschten Gesetze wie es das Deutsche Beamtengesetz ist, diese tröstliche Gewißheit entnehmen: Der unbedingte Gehorsam gegenüber dem bisherigen Dienstherrn wird als Ausdruck beschworner Pflichterfüllung gewürdigt werden, wenn dem Dienstherrn unbeschadet der Treue zum deutschen Volk und ohne vermeidbare Härten gegen deutsche Volksgenossen gedient worden ist. Die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche und der Diensteid auf den Führer des Deutschen Reiches hat dem österreichischen Beamten, dem ein auf die Dauer schier untragbarer Gewissenskonflikt zwischen Volk und Staat aufgebürdet war, wieder ein einheitliches Ziel seines Handelns gegeben: die Größe und Ehre von Volk und Staat. III. Die großzügigen Maßnahmen zur rechtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verschmelzung Österreichs mit dem Deutschen Reiche lassen schwer einen Blickpunkt gewinnen, von dem aus die Rechtslage Österreichs ein durch einige Zeit währendes Bild darbietet; die Dynamik der stürmischen Rechtsentwicklung setzt jeden Versuch einer Darstellung der bestehenden Rechtsstellung der Gefahr aus, bloß eine überholte geschichtliche Episode festgehalten zu haben. Indes ragen aus der Fülle der rechtlichen Maßnahmen, die der Wiedereingliederung Österreichs in das Reich dienen, der Erste und Zweite Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich vom 15. und 17. März 1938, verlautbart durch Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, LGB1. Nr. 6, und die Verordnung des Führers und Reichskanzlers über das Gesetz-

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gebungsrecht im Lande Österreich vom 30. April 1938 (RGBl. I S. 237), verlautbart durch Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, LGB1. Nr. 111, hervor; die zitierte Verordnung ist wohl als Übergangsmaßnahme von längerer Sicht zu beurteilen. Hat das Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, BGBl. Nr. 75 aus 1938 - wiederkundgemacht unter Nr. 1, LGB1. des Landes Österreich - , Österreich aus einem souveränen Staat zu einem Lande des Deutschen Reiches gemacht, so regeln die vorzitierten Rechtsakte des Führers und Reichskanzlers die Rechtsstellung des Landes Österreich während einer gesetzlich noch nicht eindeutig festgesetzten Übergangszeit und haben somit zusammen mit den aufrechterhaltenen Bestandteilen der vormaligen österreichischen Verfassung die rechtliche Bedeutung eines Grundgesetzes oder des Kerns einer Verfassung für unser Land. Dieser Übergangszustand ist durch das Zusammentreffen von Rechtseinrichtungen gekennzeichnet, die Österreich bereits mit den anderen Ländern des Reiches gemeinsam hat, und Einrichtungen, durch die es sich noch von den anderen Ländern unterscheidet. Zwar hat schon das letzte Gesetz des souveränen Staates Österreich über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich und das entsprechende Reichsgesetz vom 13. März 1938 (RGBl. I S. 237) (Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, LGB1. Nr. 27), Österreich zu einem „Land" des Deutchen Reiches gemacht, doch bedeutet das noch keineswegs, daß Österreich in einem Zuge alle rechtlichen Eigenschaften eines Landes des Deutschen Reiches angenommen hat. Schon der Art. II desselben Reichsgesetzes hat unter einer bestimmten Voraussetzung eine derartige Auslegung des Art. I, wonach Österreich ein Land von denselben rechtlichen Eigenschaften wie die anderen Länder geworden sei, unmöglich gemacht. Dieser Art. II bestimmt: „Das derzeit in Österreich geltende Recht bleibt bis auf weiteres in Kraft. Die Einführung des Reichsrechtes in Österreich erfolgt durch den Führer und Reichskanzler oder durch den von ihm hiezu ermächtigten Reichsminister." Gewissermaßen in einem Atem mit der Herstellung der Reichseinheit wurde also aus zwingenden rechtspolitischen Gründen die Rechtseinheit suspendiert und an Stelle des in den anderen Ländern geltenden Reichsrechtes das Recht des bisherigen Staates Österreich für das neue Land des Reiches rezipiert. Die Tragweite dieser im Falle der Einverleibung selbständiger Staaten oder Teile eines anderen Staates in einen neuen Staat herkömmlichen - Rezeptionsklausel war indes

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nicht ganz eindeutig. Die im Aufsatz der vorigen Nummer des Verwaltungsblattes aufgeworfene Frage, welche Eigenschaft das rezipierte österreichische Recht im System der Rechtsordnung des Deutschen Reiches habe, und die damals gegebene Antwort, daß das österreichische Bundesrecht, ja denkbarerweise sogar auch das österreichische Landesrecht partikuläres Reichsrecht geworden sei, soll hier nicht weiter erörtert werden, denn sie entbehrt der praktischen Bedeutung. Hingegen war es für die weitere Rechtschöpfung im Lande Österreich von entscheidender Bedeutung, ob zu dem rezipierten österreichischen Rechte auch das Verfassungsrecht, das innerhalb des Landes Österreich Geltung hatte, und zwar sowohl das Bundes- als auch das Landesverfassungsrecht, zu rechnen sei, soweit es nicht mit dem Reichsrechte, insbesondere mit der Reichsverfassung, schlechterdings unvereinbar war. Zweifellos gehörte zudem am Stichtage, nämlich am 13. März 1938, ,,in Österreich geltenden Recht" auch das Verfassungsrecht, und zwar ohne Rücksicht auf die Frage seines legalen oder illegalen Ursprungs. Es war also jedenfalls eine denkbare, wenn nicht geradezu selbstverständliche Folge der Rezeptionsnorm, daß auch das österreichische Verfassungsrecht zunächst von der Rezeption ergriffen und mit gewissen noch zu besprechenden Einschränkungen zu partikulären, im Lande Österreich verbindlichen Reichsrecht geworden ist. Das gilt namentlich auch für die Organe und den Weg der Gesetzgebung in dem aus dem souveränen Staat zu einem Land des Reiches transformierten Bundesstaat Österreich, aber auch in den aus Ländern des Bundesstaates Österreich zu niedrigeren Gebietskörperschaften degradierten vormaligen Bundesländern des vormaligen Bundesstaates Österreich. Ebenso selbstverständlich ist aber auch, daß die Rechtsangleichung vor allem in die rezipierten Verfassungseinrichtungen des Landes Österreich Bresche gelegt hat. Die derart durch die Rezeptionsklausel des Wiedervereinigungsgesetzes mit übernommene Verfassung Österreichs hat zunächst durch den Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die österreichische Landesregierung, LGB1. Nr. 4, eine im ganzen nicht sehr tief reichende Veränderung erfahren. Dieser Erlaß bestimmt: „§ 1 : Die österreichische Bundesregierung führt die Bezeichnung österreichische Landesregierung. Ich beauftrage den Reichsstatthalter in Österreich mit der Führung der österreichischen Landesregierung. Er hat seinen Sitz in Wien. § 2: Der Reichsstatthalter wird ermächtigt, die Geschäftsverteilung der Landesregierung mit Zustimmung des Reichsministers des Inneren zu regeln." Mit diesem Erlaß ist einerseits eine

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Titeländerung der Regierung des Landes Österreich - nicht auch der Minister dieses Landes - , andererseits aber auch ein Strukturwandel in dieser Regierung eingetreten. Gemäß der in den anderen Ländern des Reiches bestehenden Möglichkeit wurde auch für Österreich eine Personalunion zwischen dem Amt des Reichsstatthalters und des Regierungschefs hergestellt, derzufolge die österreichische Landesregierung aus dem Reichsstatthalter als ihrem Führer und den österreichischen Ministern besteht. Zugleich ist aber das rechtliche Verhältnis zwischen dem Reichsstatthalter als Regierungschef und den Ministern ein anderes geworden als jenes war, das gemäß Art. 81 ff. der Verfassung 1934 zwischen dem Bundeskanzler und den übrigen Bundesministern bestanden hat. Der Rechtsbegriff der Führung, dessen sich der § 1 des in Rede stehenden Erlasses bedient, ist nämlich in dem dem deutschen Führerstaat eigentümlichen Sinne auszulegen.1 Die Führerrolle des Reichsstatthalters gegenüber der österreichischen Landesregierung und deren Mitgliedern beschränkt sich nach dieser Auslegung nicht mehr auf die Bestimmung der Richtlinien der Politik, „innerhalb deren jeder Minister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig zu leiten berufen ist" (Art. 93 Verfassung 1934), sondern bedeutet ein durchgängiges Überordnungsverhältnis des Reichsstatthalters gegenüber den Ministern. An die Stelle des Kollegialprinzipes als Organisationsform der Regierung, das freilich bereits durch das „Richtlinienweisungsrecht" des Bundeskanzlers bedeutend eingeschränkt war, ist die „Kabinettsverfassung" getreten, derzufolge der Reichsstatthalter als Vertreter der Reichsregierung auf der ganzen Linie ihres Wirkungskreises Vorgesetzter der Mitglieder der Landesregierung geworden ist.2 Eine viel einschneidendere Neuordnung der Organisation des Landes Österreich obliegt im Ersten Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich, LGB1. Nr. 6, der zugleich mit dem vorerwähnten Erlaß über die österreichische Landesregierung, nämlich am 15. März 1938, in Kraft getreten ist. In dem Erlaß LGB1. 1 Vgl. Hans Frank, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 27 ff., S. 68 ff. Arnold Köttgen, 4 f., 20 f., 79 f., neuestens das sehr lesenswerte und zeitgemäße Buch des Wiener Privatdozenten Helfried Pfeifer, Die Staatsführung nach deutschem, italienischem und bisherigem österreichischen Recht. Verlag Holzhausens Nachfolger, Wien 1938. 2 Meißner-Kaisenberg, Staats- und Verwaltungsrecht im Dritten Reich, S. 65 f. und Otto Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 112.

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Nr. 6 wird erstmals eine Reihe deutscher Reichsgesetze für das Land Österreich in Kraft gesetzt, darunter nach § 2 R 4 dieses Erlasses auch „das Reichsstatthaltergesetz vom 30. Jänner 1935 (RGBl. I S. 659), mit der Maßgabe, daß Weisungen der Reichsminister an den Reichsstatthalter in Österreich bis auf weiteres der Zustimmung des Reichsministers des Inneren bedürfen". Der Wirkungskreis des Reichsstatthalters besteht nach dem Reichstatthaltergesetz darin, „sich von sämtlichen Reichs- und Landesbehörden sowie von den Dienststellen der unter Aufsicht des Reichs oder Landes stehenden öffentlich-rechtlichen Körperschaften innerhalb seines Amtsbezirkes unterrichten zu lassen, sie auf die maßgebenden Gesichtspunkte und die danach erforderlichen Maßnahmen aufmerksam zu machen, sowie bei Gefahr im Verzug einstweilige Anordnungen zu treffen". Aus seiner Aufgabe, für die Beobachtung der vom Führer und Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu sorgen, und aus der Unterstellung des Reichsstatthalters unter die Weisungen der einzelnen Reichsminister (die freilich gegenüber dem österreichischen Reichsstatthalter vorläufig der Zustimmung des Reichsministers des Inneren bedürfen) ergibt sich eine strenge hierarchische Unterordnung des gesamten Verwaltungsapparates im Lande einschließlich der gebietskörperschaftlichen und ständischen Selbstverwaltung unter die Führung des Reiches im Wege der Mittelsperson des Reichsstatthalters. Damit hat das Führerprinzip in voller Reinheit vom gesamten Verwaltungsapparat in Österreich in der Weise Besitz ergriffen, daß der Reichsstatthalter als höchster lokaler Unterführer innerhalb des Landes Österreich bevollmächtigt worden ist. Über das begriffswesentliche Maß rechtlicher Führung geht es sogar hinaus, wenn der Reichsstatthalter im Wirkungsbereich sämtlicher Reichs-, Landes- und Selbstverwaltungsbehörden innerhalb des Landes - vermutlich die Gerichte ausgenommen - bei Gefahr im Verzuge einstweilige Anordnungen treffen darf, also ein in seinem Ermessen liegendes Eintrittsrecht hinsichtlich sämtlicher Kompetenzen der genannten Behördengruppen hat. In rascher Folge brachte der Zweite Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich, vom 17. März 1938, der an demselben Tage in Kraft getreten ist, LGB1. Nr. 8, Neuerungen in bezug auf die innere Ordnung des Landes Österreich, und zwar hauptsächlich zufolge dem Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Jänner 1934, das u.a. mittels dieses Erlasses in Kraft gesetzt worden ist. Dieses Gesetz erklärt die Volksvertretungen der Länder für aufgehoben, überträgt die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich, unterstellt die Landesregierun-

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gen der Reichsregierung, die Reichsstatthalter der Dienstaufsicht des Reichsministers des Inneren und bevollmächtigt endlich die Reichsregierung, neues Verfassungsrecht zu setzen. Spätestens zufolge diesem Gesetz hat bekanntlich das Deutsche Reich aufgehört, einen Bundesstaat darzustellen, zu dem es durch die Bismarcksche Verfassung geworden war. Die Länder sind hienach nicht mehr Träger eines eigenen politischen Willens, sondern Exponenten des Reichswillens. Der Landesgesetzgebung wurde zwar nicht der Boden entzogen, doch wurde sie zu einer von Landesorganen ausgeübten Kompetenz des Reiches, deren Ausübung vom Ermessen des Reiches abhängig gemacht worden ist. Der Weg der Landesgesetzgebung wurde durch die Beseitigung der Volksvertretungen einschneidend geändert, und zwar zum Unterschied von der Reichsgesetzgebung, für die neben der Regierungsgesetzgebung noch die Möglichkeit der Mitwirkung des Reichstages offengeblieben ist, zu einer ausschließlich autoritären Gesetzgebung. Das Organ der Gesetzgebung in den Ländern ist sonach die Landesregierung unter Zustimmung der Reichsregierung. Nach § 6 des Reichsstatthaltergesetzes ist der Reichsstatthalter berufen, nach Zustimmung der Reichsregierung die Landesgesetze auszufertigen und zu verkünden. Das in Rede stehende Gesetz über den Neuaufbau des Reiches war übrigens das letzte Gesetz des Deutschen Reiches, das gemäß den in der Weimarer Verfassung vorgesehenen Formen für verfassungsändernde Gesetze zustande gekommen, im besonderen vom Reichstag (am 30. Jänner 1934) beschlossen worden ist. Gemäß dem vorzitierten Art. 4 dieses Gesetzes ist in Hinkunft die Reichsregierung auch zuständig, durch Gesetz neues Verfassungsrecht zu setzen. Die Folge des Inkrafttretens dieses Reichsgesetzes in Österreich war die Beseitigung aller quasiparlamentarischen Organe, die von der Verfassung 1934 eingerichtet worden waren, im einzelnen also des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates, Länderrates, Bundestages, der Bundesversammlung und endlich der Landtage; eine weitere Folge war der Ausschluß des an die Mitwirkung dieser Organe gebundenen Weges der Gesetzgebung im ,,Lande Österreich", aber auch in den Ländern dieses Landes (deren Umbenennung zur Vermeidung von Verwechslungen zu wünschen wäre, insolange diese Länder überhaupt als gehobene Gebietskörperschaften aufrecht bleiben). Die Frage, welcher Weg oder welche Wege der Gesetzgebung in Österreich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches

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offen gestanden, ist kaum eindeutig zu beantworten. Die Landesregierung bekannte sich durch die Tat zunächst zur Auffassung, daß ihr nach dem Wegfall der Möglichkeit der Gesetzgebung unter Beteiligung der „gesetzgebenden Körperschaften' 4, namentlich des Bundestages, nur noch der Weg im Sinne des Ermächtigungsgesetzes vom 30. April 1934-zum Unterschied vom parlamentarischen Weg der autoritäre Weg der gesamtösterreichischen Landesgesetzgebung3 - zur Verfügung stehe. Nicht nur das österreichische „Landesgesetz über die Neuordnung der Österreichischen Bundesbahnen", das noch vor Inkraftsetzung des Neuaufbaugesetzes ergangen ist, sondern auch das der Inkraftsetzung des Neuaufbaugesetzes folgende „Gesetz über die Aufschiebung der Zwangsversteigerungen von Liegenschaften", LGB1. 12 aus 1938, stützt sich noch auf den Art. III Abs. 2 des Verfassungsgesetzes über außerordentliche Maßnahmen im Bereiche der Verfassung, BGBl. I Nr. 255 aus 1934. Diese österreichischen Landesgesetze gehen also von der Voraussetzung aus, daß durch die Rezeptionsklausel des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich die Vorschriften des österreichischen Bundesverfassungsrechtes über die Gesetzgebung des Bundes für die Gesetzgebung des Landes Österreich maßgeblich geworden seien. Man kann nun aber der Inkraftsetzung des Gesetzes über den Neuaufbau des Reichs die Rechts wirkung beimessen, daß mit den grundlegenden organisatorischen Bestimmunen dieses Gesetzes bezüglich der Einrichtung eines Landes des Deutschen Reiches auch die einem Lande nach deutschem Reichsrecht zukommende Gesetzgebungsbefugnis auf das Land Österreich übergegangen sei. Von dieser Annahme geht augenscheinlich die Gesetzgebungspraxis des Landes Österreich seit dem Gesetzblatt, das am 23. März 1938 ausgegeben worden ist, aus; das Devisengesetz für das Land Österreich, LGB1. 13, ist das erste österreichische Landesgesetz, das sich nicht mehr auf das Ermächtigungsgesetz des Bundesstaates Österreich stützt, sondern sich mit der Eingangsformel begnügt: „Die österreichische Landesregierung hat beschlossen." Unter der Voraussetzung, daß der Weg der Gesetzgebung der Länder des Deutschen Reichs im Sinne der Reichsverfassung auch für Österreich maßgeblich geworden ist, mußte aber das Schicksal der Gesetzgebungskompetenz der einzelnen Länder des Landes Österreich fraglich werden. 3

Vgl. Ludwig Adamovich, Österreichisches Staatsrecht, und Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs.

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Zweifellos gehörte es nach der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche zunächst zu den Besonderheiten des Landes Österreich im Vergleich mit den anderen deutschen Ländern, daß gemäß der Kompetenzverteilung der österreichischen Verfassung aus 1934 nebeneinander die Wege einer gesamtösterreichischen Landesgesetzgebung und einer Gesetzgebung der einzelnen Länder Österreichs offenstanden. Derzeit hat die Frage nur noch akademische Bedeutung, ob bereits mit der Erstreckung des Neuaufbaugesetzes auf Österreich gemäß der Einrichtung der anderen deutschen Länder der Weg der Gesetzgebung auch in Österreich vereinheitlicht worden ist, das heißt im besonderen, ob der formellen Gesetzgebung der Länder innerhalb Österreichs bereits mit dem Inkrafttreten des Neuaufbaugesetzes für Österreich, das ist am 17. März 1938, der Boden entzogen worden ist. Diese letzte Annahme war meines Erachtens nicht zwingend, da dem Art. II des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung immerhin die Vermutung des Fortbestehens des österreichischen Rechtes bis zu eindeutigen Akten der Rechtsangleichung entnommen werden kann. Gegebenenfalls wären die Landesgesetze und die Gesetze der Stadt Wien nach der Ausschaltung der „gesetzgebenden Körperschaft", die das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs mit sich gebracht hatte, unter analoger Anwendung des Verfahrens der gesamtösterreichischen Gesetzgebung, auf rein autoritärem Weg, also durch Beschlüsse der Länderregierungen mit Zustimmung der österreichischen Landesregierung und der Reichsregierung zu erlassen gewesen. Die im vorstehenden angedeutete Unklarheit ist nun aber durch die Verordnung des Führers und Reichskanzlers über das Gesetzgebungsrecht im Lande Österreich vom 30. April 1938, verlautbart durch die Kundmachung des Reichsstatthalters von Österreich, LGB1. 111, in zweifelsfreier und sinnvoller Weise bereinigt worden. Hienach gibt es in Hinkunft in Österreich nur einen einzigen Weg formeller Gesetzgebung, dagegen immer noch den Unterschied von gesamtösterreichischen und länderweisen Akten der Rechtsetzung. Die formelle Gesetzgebungskompetenz ist den Ländern innerhalb Österreichs entzogen und dem Lande Österreich als solchem vorbehalten worden. ,,§ 1: Soweit nicht Reichsrecht im Lande Österreich gilt, übt der Reichsstatthalter (österreichische Landesregierung) im Lande Österreich im bisherigen Rahmen die Gesetzgebung aus." Formell ist somit der Weg der Gesetzgebung in Österreich dem der anderen Länder des Reiches angeglichen, materiell ist die Gesetzgebungskompetenz des Landes

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Österreich dagegen bis auf weiteres wesentlich weiter als die der anderen Länder des Deutschen Reichs. Denn einerseits kann der Reichsstatthalter unter Mitwirkung der österreichischen Landesregierung mit Zustimmung des Reiches bis auf weiteres Landesgesetze auch in Gegenständen erlassen, die im Reiche reichsgesetzlich geregelt sind, sofern sich die Geltung dieser Reichsgesetze nicht auch auf Österreich erstreckt; andererseits ist aber die Gesetzgebungskompetenz des Reichsstatthalters mitsamt der Landesregierung bis auf weiteres geschmälert durch die Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsetzungskompetenz der Länder Österreichs und der Stadt Wien, für die aber in Hinkunft nicht mehr der Weg der formellen Gesetzgebung, sondern der Weg von Verordnungen der Landeshauptmänner und des Bürgermeisters von Wien vorgesehen ist. „Soweit die Gesetzgebung im Lande Österreich bisher Sache der ehemaligen österreichischen Länder war und nicht Reichsrecht entgegen steht, können die Landeshauptmänner und der Bürgermeister von Wien mit Zustimmung des Reichsstatthalters (österreichische Landesregierung) durch Verordnung Recht setzen." Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, wie sie das Dritte Hauptstück der Verfassung 1934 in den Art. 34 ff. getroffen hat, ist also nach wie vor als Grenzlinie zwischen der Gesetzgebungskompetenz des Reichsstatthalters in Österreich und der Zuständigkeit der Landeshauptmänner und des Bürgermeisters von Wien zur Erlassung von gesetzeskräftigen Verordnungen maßgeblich. Für die Besonderheiten der österreichischen Verfassung, wie etwa Zuständigkeitsdelegation zwischen Bund und Ländern und dergleichen, ist dagegen kein Raum mehr. Das verfassungsgesetzliche Erfordernis der Zustimmung des Bundeskanzlers zu den Landes- und Stadtgesetzen hat selbstverständlich dem Führerprinzip gemäß in dem Erfordernis der Zustimmung des Reichsstatthalters zu den Verordnungen, welche im Rahmen der vormaligen Länderkompetenz erlassen werden, ihr Gegenstück gefunden. Durch das Erfordernis der Zustimmung des Reichsstatthalters ist auch der Reichsregierung, die nach dem Neuaufbaugesetz vom Reichsstatthalter im Lande vertreten wird, ein bestimmender Einfluß auf die Ausübung der Rechtsetzungskompetenz der Landeshauptleute und des Bürgermeisters von Wien sichergestellt. Eine Vereinfachung der Rechtsetzung für ganz Österreich und für dessen Länder liegt darin, daß einerseits den Gesetzen des Reichsstatthalters gegenüber dem bisherigen Bundesverfassungsrecht, andererseits den Verordnungen der Landeshauptmänner und des Bürgermeisters der Stadt Wien gegenüber den Verfassungen der Länder und der Stadt auch verfassungsändernde Kraft innewohnt.

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Durch die neue, den Landeshauptleuten und dem Bürgermeister von Wien im Rahmen der vormaligen formellen Landesgesetzgebungskompetenz zugewachsene Verordnungskompetenz sind selbstverständlich die sonstigen Verordnungsmöglichkeiten österreichischer Amtsstellen nicht berührt worden. Eine Verordnungskompetenz österreichischer Behörden ergibt sich einerseits aus dem in Österreich ihn Kraft getretenen und in Zukunft in Kraft tretenden Reichsrecht, andererseits aus dem rezipierten österreichischen Recht. Die dem Führerstaat wie überhaupt jedem autoritären Staatstypus eigentümliche Überwindung der Gewaltenteilung durch die Verbindung der Gesetzgebung und Verwaltung in der Person des Führers hat den im konstitutionellen und parlamentarischen Staat überbetonten Gegensatz von Gesetz und Verordnung gewiß abgeschwächt, aber nicht aufgehoben. Während im gewaltentrennenden Staat die Verteilung der Rechtsetzungsmöglichkeiten auf die Wege der Gesetzgebung und der Verordnung das Ergebnis eines Kampfes zwischen Volksvertretung und Herrscher ist, ist es im gewaltenverbindenden Führerstaat eine bloße Frage der Zweckmäßigkeit, welche Staatswillensäußerungen in der solenneren Form des Gesetzes und welche in der einfacheren Form der Verordnung erlassen werden. Gesetz und Verordnung sind nicht mehr der Ausfluß rivalisierender Staatsgewalten, sondern der Willensausdruck einer einzigen Staatsautorität, die sich nur verschiedener, letztlich aber durchaus vom Führer abhängiger Mittelspersonen bedient. Die Gleichsetung von Staatsgesetz und Recht, die sich gelegentlich in der Staatsrechtslehre der konstitutionellen Monarchie und auch noch der parlamentarischen Republik gefunden hat, freilich bereits zu ihrer Zeit, namentlich von der sogenannten Lehre des rechtlichen Stufenbaues bekämpft worden ist, wird durch das im Führerstaat hergestellte Verhältnis von Gesetz und Verordnung für jeden Einsichtigen unhaltbar. Reinhard Höhn* schießt freilich über das Ziel, wenn er behauptet, der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung habe heute jeden Sinn verloren, denn er setze zwei verschiedene Organe voraus, die Rechtsetzungsbefugnisse ausüben, während gegenwärtig Gesetz und Rechtsverordnung gleicherweise Akte der Führung seien. Fritz H. Stratenwerth trifft in seiner höchst lesenswerten Schrift „Verordnung und Verordnungsrecht im Deutschen Reich", Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1937, den Kern der Sache, wenn er die Verordnung zum Unterschied vom Gesetze „als Rechts -

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Deutsches Recht, 1934, S. 435.

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II.A Verfassungsrecht

gebot der Unterführung" bestimmt (a.a.O., S. 132). Im formellen Gesetze „findet die Führungsgewalt die höchste Form ihrer Verwirklichung. In ihm formuliert der Führer den Gemeinwillen des politischen Volkes und bringt die objektiven völkischen Lebensprinzipien zum Ausdruck. Für die Verwaltung ist es nicht in erster Linie rechtliche Schranke, sondern Richtlinie und Plan, nach dem sie ihre Aufgaben zu erfüllen hat" (a.a.O., S. 135). Und in unverkennbarer Anlehnung an die Vorstellung des rechtlichen Stufenbaues und in ausdrücklicher Benutzung von Definitionen Heckeis und Scheuners bestimmt unser Gewährsmann das Gesetz im Sinne der nationalsozialistischen Lehre und des nationalsozialistischen Rechtes als ,,das im formgebundenen Verfahren (Weg der Gesetzgebung) zum Volksrecht obersten Ranges erklärte hoheitliche Rechtsgebot des Führers Im Gegensatz zum Gesetze bestimmt derselbe Verfasser die (nicht vom Führer selbst erlassene) Verordnung als „das auf den Willen des Führers zurückgehende Recht zweiten Ranges enthaltende förmliche Rechtsgebot der Unterführung" (a.a.O., S. 144). Die gewonnene Grenzlinie wird freilich dadurch einigermaßen in Frage gestellt und, wenn man will, verschoben, daß einerseits Willensakte des Führers unter dem Titel der Verordnung und andererseits Willensakte bevollmächtigter Organe, wie etwa der Landesregierungen, unter dem Titel von Gesetzen in Erscheinung treten können. Die Rechtswissenschaft müßte diesen Sprachgebrauch der Staatspraxis zur Kenntnis nehmen und demnach den Gegensatz von Gesetz und Verordnung im neuen Staatsrecht als fließend erkennen. Was nun die positivrechtlichen Verordnungsvollmachten der österreichischen Behörden betrifft, so sind zunächst der Reichsstatthalter und die Landesregierung an jenen Verordnungsvollmachten beteiligt, die in den auf Österreich erstreckten Reichsgesetzen den obersten Landesbehörden erteilt sind. Hiezu ist zu bemerken, daß das Deutsche Reichsrecht keine ein für allemal den Verwaltungsbehörden durch eine Generalklausel (von der Art des Art. 9 Abs. 2 der österreichischen Verfassung 1934) erteilte Verordnungsvollmacht kennt, sondern den Weg von Sondervollmachten zu gehen pflegt; in einzelnen Gesetzen werden bestimmte Behörden zur Erlassung von Verordnungen zur näheren Ausführung dieser Gesetze ermächtigt. Daneben sind aber kraft der Rezeption des österreichischen Rechtes praktisch noch wichtigere Verordnungsvollmachten der vormaligen österreichischen Bundsverfassung in Geltung geblieben: Hierher gehört - ohne

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Anspruch auf Vollständigkeit - vor allem die Vollmacht, daß jede Verwaltungsbehörde innerhalb ihres Wirkungsbereiches zur näheren Durchführung der Gesetze Verordnungen erlassen kann (Art. 9 Abs. 2 Verfassung 1934). Den ,,Notrechten der Verwaltung" gemäß den Verfassungsartikeln 147 und 148 ist nicht allein wegen ihrer Bedingtheit durch Bundestag und Bundespräsident, sondern auch aus anderen Gründen, auf die hier wegen der praktischen Bedeutungslosigkeit dieser Notrechte nicht näher eingegangen werden kann, der Boden entzogen. Dasselbe gilt für die Vollmacht zur Erlassung gesetzesändernder Verordnungen für den Fall eines Konfliktes zwischen Bundesvolk und Bundestag (Art. 65 Abs. 6) und für die Vollmacht zur Inkraftsetzung materieller Bestimmungen von Staatsverträgen gemäß Art. 68. Dagegen sind das ortspolizeiliche Verordnunsgrecht der Gemeinden (§ 20 Verfassungsübergangsgesetz) und die Satzungsbefugnis der ständischen Körperschaften (Art. 32 Verfassung 1934) als rezipiert anzusehen. Wenn ich oben die Verordnung über das Gesetzgebungsrecht im Lande Österreich vom 30. April 1938 im Zusammenhalt mit dem Gesetze über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Jänner 1934, das in der Hauptsache das Verhältnis der Länder zum Reiche neu geregelt hat, als den Kern der neuen (materiellen) Verfassung des Landes Österreich bestimmt habe, so erhebt sich die schon oben berührte Frage, inwieweit diese Neuordnung überhaupt die zunächst rezipierte altösterreichische Verfassung aufrecht erhalten hat. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, welche Veränderungen sich aus den Neuerungen für die Organisation und den Weg der Rechtsetzung, und zwar sowohl für Gesetze im formellen Sinn als auch für Gesetze im bloß materiellen Sinn, das sind in der Hauptsache die Rechtsverordnungen, ergeben. Die praktisch minder bedeutsame Frage der Rückwirkung der neuen Rechtslage auf das übrige Verfassungsrecht des vormaligen Bundesstaates Österreich kann aus Raumgründen nur ganz kursorisch erörtert werden. Zwischen einem Bereiche unzweifelhaft noch fortgeltender und einem anderen Bereich unzweifelhaft aufgehobener Bestimmungen des vormaligen österreichischen Rechtes befindet sich ein Zwischenreich solcher Bestimmungen, deren Fortgeltung fraglich ist, und deren Anwendung daher von der maßgeblichen Rechtsanschauung der Staatspraxis, vor allem der Staatsführung abhängt. Dieses Zwischenreich erklärt sich dadurch, daß aus zwingenden Gründen der Gesetzgebungsökonomie die Derogation des alten österreichischen Rechtszustandes nicht durch ausdrückliche Verweisung auf die derogierten Bestimmungen, sondern stillschweigend durch die 26 A. J. Merkl

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Inkraftsetzung anderer Bestimmungen vor sich geht. Bei einem solchen Derogationsverfahren ist es aber mitunter eine erkenntnismäßig geradezu unbeantwortbare Auslegungsfrage, ob und inwieweit bisheriges mit neuem Rechte noch vereinbar sei oder nicht. Die Auslegungsschwierigkeit wird um so größer, je allgemeiner der Sinngehalt der aufeinander abzustimmenden Rechtsnormen ist. Wenngleich, wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt, dem Art. II des Reichsgesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich eine Rechtsvermutung für die vorläufige Fortgeltung des altösterreichischen Rechts entnommen werden kann, ist doch wohl beim Zutreffen der nachstehend vermerkten drei Maximen bisheriges Recht als aufgehoben anzusehen: Erstens, wenn es mit ausdrücklich in Kraft gesetzten neuen Rechtsnormen unvereinbar ist; hieher gehört unter anderem die Einrichtung sogenannter gesetzgebender Körperschaften und überhaupt die Einrichtung einer formellen Gesetzgebung der bisherigen Länder Österreichs sowie der Stadt Wien. Zweitens, soweit bisherige Rechtseinrichtungen wesenhaft den Bestand eines selbständigen Staates voraussetzen, im besonderen soweit sie österreichische Staatsorgane mit Eigenschaften der obersten Staatsführung ausstatten: z.B. die Delegation des Völkerrechtes als Bestandteil des Bundesrechtes (Art. 8), die Einrichtung bestimmter Organe als oberste Organe der Vollziehung (Art. 10), denn diese Organe sind unvermeidlich infolge der Einverleibung Österreichs in das Reich durch die obersten Reichsorgane mediatisiert; die Zuständigkeit der österreichischen Regierung, eine Volksabstimmung zu veranstalten (Art. 65), denn der Weg der Gesetzgebung in Österreich ist nunmehr ausschließlich der autoritäre Weg durch den Reichsstatthalter unter Mitwirkung der Landesregierung, überdies aber auch, weil die Volksabstimmung ihrer Natur nach ein Instrument der Staatsführung ist und nicht eines in einem strengen Subordinationsverhältnis stehenden Organes, selbst von der Art der obersten Landesbehörden, sein kann; hieher gehören auch die Bestimmungen über die Inkraftsetzung von Staatsverträgen (Art. 68), weil der verfassungsmäßige Aufbau des Deutschen Reiches einer solchen Prärogative eines einzelnen Landes keinen Raum gibt, um so mehr die Einrichtung der Bundespräsidentschaft, denn die von der Weimarer

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Verfassung noch offengelassene Einrichtung eigener Staatspräsidenten der Gliedstaaten oder sonstiger Staatsteile ist mit dem Wesen eines Führerstaates so völlig unvereinbar, daß die Rücktrittserklärung des letzten österreichischen Bundespräsidenten nur aus Formgründen dem automatischen Erlöschen des Amtes vorangegangen ist. Dasselbe gilt aus gleichen und einigen weiteren Gründen bezüglich der Bestimmungen über die bewaffnete Macht. Drittens, sind nach den im Deutschen Reiche herrschenden und damit auch für das Land Österreich maßgeblich gewordenen Rechtsanschauungen jene vormaligen österreichischen Rechtseinrichtungen als aufgehoben anzusehen, die mit dem Gedankengut des Nationalsozialismus schlechterdings unvereinbar sind. Es ist bekanntlich eine feststehende Rechtsanschauung der neuen deutschen Literatur, daß die gesamte Rechtsordnung im Sinne der nationalsozialistischen Idee und des Programms der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei auszulegen sei. Allerdings finden sich in der Literatur nicht wesentliche Abweichungen in bezug auf die Frage, wie weit sich dieser Auslegungsgrundsatz praktisch auf das bisherige Recht auswirkt. Solche Meinungsverschiedenheiten erklären sich einleuchtenderweise daraus, daß bestimmte Rechtseinrichtungen nicht eindeutig bestimmten Weltanschauungen und politischen Ideologien zugerechnet werden können, sondern selbst dann, wenn sie unter dem Einflüsse eines anderen Denkens entstanden sind, durch eine neue Sinngebung und vielleicht auch durch Änderungen in der Anwendung selbst mit einer grundlegend gewandelten Staatsauffassung in Einklang gebracht werden können. Das zeigte sich zum Beispiel bei der Einrichtung des Rechtsstaates mit allen seinen positivrechtlichen Attributen, in dem dieser Staatstypus aus der Umklammerung des liberalen Monopolanspruches gelöst und auch mit anderen politischen Ideologien, wenngleich bei gewandeltem positivrechtlichen Inhalt, in Einklang gebracht worden ist. Eine Nutzanwendung der hiemit angedeuteten Auslegunsgmaxime ist es insbesondere, wenn man die Einrichtung der Freiheitsrechte des II. Hauptstückes der Verfassung 1934 nicht etwa wegen inhaltlicher Widersprüche zu gewissen Bestandteilen des positiven Reichsrechtes, sondern zur Gänze wegen des Widerspruches zum antiindividualistischen Ideengehalt des Nationalsozialismus als erloschen ansieht. Eine weitere Folge aus dieser Auslegungsmaxime wäre sodann, daß auch die Verfassungsgarantien der Freiheitsrechte erloschen sind. Hingegen würde es unter Berücksichtigung der herrschenden Rechtsanschauungen der deutschen 26*

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Rechtswissenschaft und Praxis zu weit gehen, die ursprünglich allerdings individualistisch gerechtfertigten Einrichtungen der Verwaltungskontrolle, namentlich die Einrichtung und Zuständigkeit des Rechnungshofes und des Bundesgerichtshofes über das Gesagte hinaus - abgesehen wohl von der Gesetzeskontrolle, die einen Eingriff in die Prärogative der Staatsführung darstellen würde - als fraglich oder gar beseitigt zu erklären. Durch derartige Fragestellungen oder Behauptungen würde sich die Rechtserkenntnis die Aufgabe der Rechtspolitik anmaßen. Die Rechtspolitik ist aber nach Deutschem Rechte Vorbehalt der Staatsführung und das Instrument der Staatsführung zu diesem Behufe ist die Gesetzgebung und nicht die Rechtsauslegung.

Das Recht der Frau und das Gesetz Die Gleichberechtigung der Geschlechter in Theorie und Praxis Gewisse tatsächliche Ungleichheiten setzen dem Gleichmachungsstreben selbst der demokratischesten Rechtsordnung unüberschreitbare Schranken, namentlich die Ungleichheit der Altersstufen, der Fähigkeiten und der Bildung und nicht zuletzt des Geschlechtes. Nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern aus tatsächlicher Überlieferung ist auch, wenngleich vom Völkerrecht weitgehend abgebaut, der Rechtsunterschied zwischen Bürgern und Fremden grundsätzlich erhalten geblieben. Die Sozialpolitik hat auf weiten Gebieten geradezu eine rechtliche Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse gezeitigt, nämlich eine Bevorzugung des Schwächeren in den Formen des Schutzes des Kindes, der Frau, des Arbeitnehmers. Vor 1920: einschränkende Auslegung Für Österreich hat bereits das Staatsgrundgesetz ,,über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger" vom 21. Dezember 1867 an der Spitze der dem liberalen Gedankengut zugehörigen Freiheitsrechte, das demokratische Grundrecht der Gleichberechtigung mit den Worten verkündet: ,,Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich" (Art. 2). ,,Die öffentlichen Ämter sind für alle Staatsbürger gleich zugänglich" (Art. 3). Wissenschaft und Praxis haben aber das Grundrecht bloß als Schranke für die Gerichtsbarkeit und Verwaltung, nicht auch für die Gesetzgebung verstanden und es überdies in der Weise einengend ausgelegt, daß in der Natur der Person begründete Unterschiede eine ungleiche Behandlung der Staatsbürger rechtfertigen. Nach der während der ganzen Geltungsdauer der monarchischen Verfassung vorherrschend gewesenen Kulturauffassung hat diese Auslegung des Gesetzes nicht bloß einen Ausschluß der Frauen von den politischen RechDie Presse vom 9. Jänner 1954, S. 2.

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ten, sondern auch eine beträchtliche Rechtsungleichheit zwischen Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechtes und noch mehr des Verwaltungsrechtes bedeutet. Die für ihre Zeit großzügige Bestimmung der Gewerbeordnung: ,,Das Geschlecht begründet in bezug auf die Zulassung zum Gewerbebetrieb keinen Unerschied" war nur eine der spärlichen Ausnahmen von dieser Regel. Die schrittweise Zulassung der Frauen zu Studien, die über die Elementarbildung hinausgingen, und zu Berufen in Wirtschaft und Kultur, die im Zweifel schlechthin als Männerberufe galten, gab sich nicht als rechtlich gebotene Erfüllung einer auch die Frauen miteinschließenden Gleichberechtigung der Staatsbürger, sondern gewissermaßen als dem internationalen Zeitgeist folgende Geschenke im Rahmen der nicht bloß gesetzgeberischen, sondern auch behördlichen Ermessensfreiheit. Als Beispiel für diese zahlreichen „Kannvorschriften" sei die Verordnung des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 9. März 1896 genannt, wonach weibliche Kandidaten nicht etwa zum Besuche, sondern bloß zur Maturitätsprüfung an je einem namentlich genannten Gymnasium in jedem Kronlande der Monarchie zugelassen werden konnten. Nach einer Verordnung desselben Ministeriums vom 6. Mai 1878 kann ,,νοη einer allgemeinen Zulassung der Frauen zu den akademischen Studien zweifellos nicht die Rede sein, da es ein durchgreifender Grundsatz unseres Unterrichtswesens ist, daß mindestens der höhere Unterricht stets unter Trennung der beiden Geschlechter erteilt wird". Dagegen wird der „Zutritt von Frauen zu den Uni versitäts Vorlesungen in ganz seltenen Fällen zu gestatten sein", jedoch „lediglich die faktische Frequenz (das Hospitieren), und immer nur für einzelne, bestimmt bezeichnete Vorlesungen". Eine Verordnung des Jahres 1896 hat die Ausübung der ärztlichen Praxis im Inland auf Grund eines im Ausland erlangten und nostrifizierten medizinischen Doktordiploms und eine Verordnung vom 23. März 1897, erstmals die Zulassung von Frauen als ordentliche Hörerinnen mit Beschränkung auf die philosophischen Fakultäten ausgesprochen. Grenzen aus der „Natur des Geschlechts" Erst die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 hat einen grundlegenden Wandel in der Anwendung des Gleichheitsrechtssatzes auf die Frauen mit sich gebracht. Der Verfassungserichtshof hat das Verdienst, daß er das Grundrecht der Gleichheit nunmehr auch als Bindung des Gesetzgebers in

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der Richtung auslegt, daß kein Gesetz des Bundes oder der Länder Rechtsunterschiede zwischen Mann und Frau machen darf, die nicht ,,ihre Rechtfertigung in der Natur des Geschlechtes finden". Freilich gewährleistet erst der kulturgeschichtliche Wandel der herrschenden Anschauungen über den sozialen Lebensraum der beiden Geschlechter eine Nutzanwendung der vom Gericht geprägten Richtlinien im freiheitlichen Geist. Der Verfassungsgerichtshof hat in einer der wenigen einschlägigen Fallentscheidungen vom 12. Oktober 1926 ausgesprochen, daß ein Grund der Nichtzulassung von Frauen zum Kraftwagenlenkerdienst aus der Natur des weiblichen Geschlechtes nicht abgeleitet werden könne - eine Maxime, die den Frauen immerhin weitgehende berufliche Chancen gibt. In einer Entscheidung vom 11. Februar 1947 hat dagegen der Verfassungsgerichtshof die Abgabe von ungleichen Tabakmengen an Männer und Frauen auf Grund der Beschwerde einer in ihrem Grundrecht der Gleichberechtigung gekränkten Raucherin als mit dem Grundrecht der Gleichheit vereinbar erklärt, weil die Zuteilung der Tabakmengen nach dem objektiven Maßstab des durchschnittlichen Bedürfnisses der Männer- und Frauenwelt erfolgt sei. Aus womöglich noch zwingenderen Gründen nimmt die in- und ausländische Praxis die Frauen von der allfälligen militärischen Wehrpflicht, desgleichen aber auch von der Zulassung zum Offiziersberuf und in der Regel auch von allen waffentragenden Berufen aus. Ebenso einleuchtend ist die Haltung der Praxis besonders in Deutschland, wo die Folgerungen aus dem Gleichheitsgedanken auf familienrechtlichem Gebiet zum Teil viel weiter getrieben werden als bei uns. Wirtschafts- und sozialpolitisch ist namentlich die im Ausland durch eine reichliche Literatur und Judikatur belegte Folgerung aus dem Grundrecht der Gleichberechtigung bedeutsam, daß der Frau bei gleicher Leistung auch der gleiche Lohn wie den Männern gebühre, freilich - infolge der Eigenart der Grundrechtskataloge, daß er bloß Bindungen des Staates zugunsten der Rechtsunterworfenen bedeutet - mit der Beschränkung, daß dieser auf Grund der Staatsverfassung bestehende Lohnanspruch nur für das Personal des Staates und allenfalls sonstiger öffentlich-rechtlicher Rechtsträger wie der Gemeinden gegenüber dem Dienstherren bestehe. Eine sinnvolle zeitgebundene Auslegung des Gleichheitssatzes unter Berücksichtigung des umfangreichen ausländischen Schrifttums und der

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ausländischen Praxis könnte und sollte auf die einheimischen Verhältnisse klärend wirken. So ist es dem Geist und dem Sinn des Gleichheitsrechtssatzes schwerlich zu vereinbaren, wenn das Bundesgesetz vom 15. Oktober 1948 (BGBL 219) über die Gewährung einer Ernährungszulage an Kriegsopfer in der Fassung des Bundesgesetzes vom 25. Juli 1951 diese Zulage neben der fixen Hinterbliebenenrente für den bedürftigen Vater oder die Mutter eines gefallenen Kriegsteilnehmers von 65 Schilling monatlich für männliche Empfänger mit 239 Schilling, für weibliche Empfänger mit 147 Schilling, also nach einem undurchsichtgien Schlüssel, ungleich bemißt. Nur ein ständig waches Empfinden gegenüber den freiheitlichen und sozialen Geboten der Grundrechtssätze, die die bleibende Errungenschaft der französischen Revolution für die europäische Rechtskultur sind, kann den dauernden Genuß dieser rechtlichen Hypothek auf der Staatsgewalt zugunsten der Staatsgenossen sichern.

Ein gesetzlicher Widerspruch zur Gleichberechtigung der Geschlechter Das österreichische Kriegsopferversorgungsrecht sieht einen Versorgungsanspruch bedürftiger Eltern solcher österreichischer Staatsbürger vor, die durch die Kriegsereignisse, hauptsächlich also als (de facto-) Angehörige der deutschen Wehrmacht, den Tod erlitten haben. Dieser Versorgungsanspruch setzt sich nach der neuesten Fassung des Gesetzes aus jedenfalls drei, unter gewissen Voraussetzungen vier Komponenten zusammen: einer Elternrente von monatlich 85 S, einer Ernährungszulage, die für Männer mit 239 S, für Frauen mit 147 S monatlich bemessen ist, endlich aus einer Wohnungsbeihilfe von einheitlich 30 S. Die Rente beträgt also in den Regelfällen für bedürftige Väter, die einen Sohn dem Hitler-Krieg opfern mußten, 354 S, für Mütter 262 S monatlich. Der Geschlechtsunterschied der Bezugsberechtigten wirkt sich also in einem Unterschiedsbetrag von 92 S monatlich zu Gunsten der männlichen und zu Ungunsten der weiblichen Bezugsberechtigten aus. Die Gründe der rechtlichen Unterscheidung und des Ausmaßes des Unterschiedsbetrages sind nicht durchsichtig. Um zunächst ein Gesamtbild der einschlägigen Versorgungsansprüche zu bieten, sei noch festgestellt, daß sich die angegebenen Bezüge im Fall eines qualifizierten Verlustes um einheitliche Beträge für männliche und weibliche Bezugsberechtigte erhöhen. Im Falle des Verlustes des einzigen Kindes, beziehungsweise von mindestens zwei Kindern, um den Betrag von 17 S monatlich für Elternteilrentner, also für einen alleinstehenden Vater oder eine alleinstehende Mutter, um 33 S für Elternpaare. Der Sinn dieser Zusatzrente ist di e Abgeltung eines besonders schwerwiegenden seelischen Verlustes, wie in dem mir bekannt gewordenen Fall, daß eine Witwe ihre sämtlichen drei Söhne dem Kriege hatte opfern müssen. Von einer Abgeltung des materiellen Verlustes des Lebensunterhaltes kann offenbar keine Rede sein.

Juristische Blätter, 77. Jg. (1955), S. 166-167.

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Es steht hier nicht die sozialpolitische Seite dieser Rentenregelung in Frage, die ich schon vor längerer Zeit den maßgeblichen parlamentarischen Fraktionen und verschiedenen Regierungsmitgliedern zur Beachtung empfohlen habe. Dagegen sei die angedeutete verfassungsrechtliche Frage kurz erörtert. Ich habe bereits vor einem Jahr die Einladung der Wiener Tageszeitung Die Presse zur Behandlung des Themas „Gleichberechtigung von Mann und Frau" wahrgenommen, um den gegenständlichen Fall als solchen einer rechtlich unbegründeten Ungleichbehandlung anzuführen (Sonntag, den 9.1.1954). Eine Ungleichbehandlung der Geschlechter wird von der Theorie und Praxis mit der ihrem Wortlaut nach ausnahmslosen Regel der Gleichstellung der Geschlechter im Art. 7 B-VG vereinbart, „wenn die Differenzierung des Gesetzes ihre Rechtfertigung in der Natur des weiblichen Geschlechtes findet" (Erkenntnis des VfGH, Slg. 651). Diese dehnbare, den Wandlungen der Kulturauffassung Raum gebende Maxime muß aus zwei Gründen einengend gehandhabt werden: Art. 1 B-VG enthält eine Auslegungsregel des Sinnes, daß innerhalb der Verfassung, ja der ganzen Rechtsordnung, offene Fragen im Sinne des demokratischen Prinzipes, also der Annahme möglichster Gleichberechtigung zu beantworten seien. Wenn überdies die Verfassung in Art. 7 B-VG Unterschiede des Geschlechtes ausdrücklich ausschließt, so müssen gesetzliche Unterscheidungen durch zwingende und allgemein einleuchtende Besonderheiten gerechtfertigt sein. Das gilt für den sozialpolitischen Schutz der Frau oder für den Ausschluß der Frau von der Wehrpflicht und von militärischen Berufen. Öffentliche Geldleistungen stehen jedoch offenbar nicht unter dem politischen Diktat einer Abstufung der Geschlechter. Das wäre bei der gesetzlichen Festsetzung einer nicht nach Verwendungszwecken unterschiedenen Pauschalrente unbestreitbar einleuchtend. Nur die Aufgliederung des Gesamtbezuges in Ansprüche, die verschiedenen Verwendungszwecken dienen sollen, gibt die theoretische Möglichkeit zu Differenzierungen nach dem Geschlecht. Am annehmbarsten erscheint eine Differenzierung in bezug auf Ernährung. Der bezügliche Betrag hat den gesamten Nahrungsbedarf zu decken. Je nach der Konstitution ist der biologische Nahrungsbedarf zwar individuell, aber doch nicht allgemein für Mann und Frau, noch dazu in dem gesetzlich willkürlich pauschalierten Ausmaß verschieden. Die festgesetzte Differenzierung ist nicht aus der Natur der Bezugsberechtigten zu erklären und daher verfassungsgesetzlich unhaltbar.

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Man stelle sich etwa vor, der Gesetzgeber zerlege die Gehaltsbezüge und Arbeitslöhne des Personals im öffentlichen Dienst in Teilbeträge für Nahrungs-, Wohnungs-, Vergnügungsaufwand usw. und erziele durch eine derartige Aufgliederung des Gesamtbezuges wesentliche Einsparungen durch Verwendung weiblicher Arbeitskräfte. Jeder Verfassungsjurist würde diese gesetzgeberische Lösung als eine Umgehung des rechtsgültigen Prinzipes ,»Gleicher Lohn für gleiche Leistung" ansehen. Man darf wohl hoffen, daß vor einer Befassung des Verfassungsgerichtshofes mit der legistisch unrühmlichen und dem Ansehen Österreichs abträglichen Gesetzesbestimmung der Gesetzgeber das Nötige vorkehrt, das auch dem budgetären Rahmen eines Gesamtaufwandes des Bundes von 23.043 Millionen Schilling für die Zwecke der ordentlichen Gebarung entspricht.

Rezension von:

L. Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts. Fünfte Auflage, bearbeitet und ergänzt von H. Spanner (Rechts- und Staats Wissenschaften: Band 3)1 1. Die vierte, noch von Ludwig Adamovich persönlich besorgte Auflage des Handbuchs des Österreichischen Verfassungsrechts war 1947 erschienen. Der allzufrühe Tod des unübertroffenen Kenners des österreichischen Verfassungsrechtes hat eine Pause von einem vollen Jahrzehnt bis zum Erscheinen einer Neuauflage und Neubearbeitung verstreichen lassen. Dieser ehrenvollen Aufgabe hat sich, dem Anliegen der Familie und des Verlegers gemäß, der nächststehende Schüler von Adamovich, Hans Spanner, vormals Professor an der Universität Graz, seit 1956 an der Universität Erlangen, unterzogen. Die verehrungsvolle Bindung des Nachfolgers an den verewigten Lehrer kommt in der Übernahme der ganzen Anlage des bewährten Werkes und in der schonenden Behandlung des überlieferten Textes zum gebührenden Ausdruck. Die Persönlichkeit des Bearbeiters des Werkes offenbart sich aber nicht bloß in der Gestaltung des bedeutsamen neuen Rechtsstoffes, sondern auch in der, wenn auch zurückhaltenden Verwertung eigener Rechtsanschauungen und in dem Einbau staatstheoretischer Deutungen, durch die Lehren der Allgemeinen Staatslehre für die Erkenntnis des österreichischen Verfassungsrechtes fruchtbar gemacht werden. Ich gestehe, daß mich gerade dieses Beginnen des Verfassers anspricht, das in der Richtung meiner „Ständisch-autoritären Verfassung Österreichs; ein kritisch systematischer Grundriß" gelegen ist, wo ich versucht habe, die heimischen Verfassungseinrichtungen mittels der Kategorien der Allgemeinen Staatslehre zu analysieren.

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 9 NF (1958), S. 110-115. 1

Wien: Springer-Verlag. 1957.

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Meine Rezension muß sich angesichts der zahlreichen Neuerungen des angezeigten Werkes damit begnügen, auf einige hervorstechende Punkte der Neuauflage hinzuweisen; diese Beschränkung ist dadurch gerechtfertigt, daß ich in absehbarer Zeit in der Lage zu sein hoffe, auf die Lehrmeinungen Spanners näher einzugehen. 2. Vor allem verdient aus der verfassungsgeschichtlichen Einleitung der Abschnitt 3 ,,Die Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich" (S. 3437) Beachtung. Auch als Inhaber einer Lehrkanzel an einer deutschen Universität bekennt sich Spanner zu der Auffassung, daß die Absicht des Hitler-Reiches, sich Österreich einzuverleiben, mißlungen, die Rechtslage Österreichs während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich also eine „Besetzung" bei Aufrechterhaltung der Rechtspersönlichkeit Österreichs gewesen sei. Dabei setzt er aber auf S. 36 die Erlassung eines österreichischen Bundesgesetzes vom 13. März 1938, BGBl. 75, voraus, das im Zusammenwirken mit dem deutschen Reichsgesetz vom selben Tage ,,über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" ,, Österreich auf sieben Jahre seiner jahrhundertelangen Selbständigkeit beraubt" habe. Diese vielleicht nicht bis in die letzte Konsequenz durchdachte Fassung könnte der Annexionstheorie als Stütze dienen. Österreich hatte ursprünglich in der Rolle als militärischer Prellbock für die militärischen Invasionen aus dem Osten unter dem Titel der Ostmark, also nicht wie eine bedauerliche neue Geschichtsklitterung behauptet, als selbständiger, nachträglich in,,Ostmark" umbenannter,,Staat", bis 1806, später als vollwertiger ,,Reichsstand" dem römisch-deutschen Reiche zugehört. Durch die Staatsakte vom 13. März 1938 wurde Österreich nicht seiner Selbständigkeit, anders ausgedrückt, seiner Rechtspersönlichkeit, sondern seiner Handlungsfähigkeit beraubt. Ich glaube überdies durch meine Aufsätze ,,Der Anschluß Österreichs als Geschichtslegende", Juristische Blätter, Wien 1955, Nr. 17, und ,,Der Kompromiß über das,Deutsche Eigentum' und der ungelöste Rechtskonflikt", Die Furche, Wien 1957, Nr. 34, nachgewiesen zu haben, daß das österreichische ,,Anschlußgesetz", das von Bundeskanzler Dr. Seyß-Inquart ohne Einholung eines förmlichen Ministerratsbeschlusses im Bundesgesetzblatt verlautbart worden ist, ein nichtiges Scheingesetz ist. Den rechtswidrigen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich festzustellen, ist umso wichtiger, je konsequenter, wenn auch gutgläubig, deutsche Autoren an der rechtswirksamen Einverlei-

L. Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechts

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bung Österreichs in das Deutsche Reich festhalten; z.B. Hans Peter Ipsen, Archiv des öffentlichen Rechts, 82. Bd., Heft 1, S. 145, wo er österreichischen Autoren zum Vorwurf macht, durch eine ,,Methode der Verschweigung oder Vernachlässigung einen Abschnitt der von Österreich gewollten und zu verantwortenden Verfassungs- und Verwaltungsentwicklung zu tilgen". 3. Im ersten Hauptstück (S. 103 ff.) stellt der Verfasser als die leitenden Grundsätze der Verfassung das demokratische, das bundesstaatliche, das rechtsstaatliche Prinzip, die Entwicklung zum Parteienstaat und zum Kammerstaat dar. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit sich Spanner hiebei der von ihm erwähnten Vorarbeiten von Adamovich bedient, die dieser für eine Neuauflage unternommen hatte. Das rechtsstaatliche Prinzip ist indes nur die bemerkenswerteste Nutzanwendung liberaler Gedanken, die sich wie ein roter Faden durch die österreichische wie durch andere freistaatliche Verfassungen ziehen und in den Freiheitsrechten, der ersten geschichtlichen Erscheinungsform der sogenannten Grundrechte, vor allen anderen liberalen Einrichtungen in die österreichische Verfassung eingegangen sind. (Vgl. meinen Vortrag ,,Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis", besonders S. 301 ff., Anzeiger der phil.-hist.Klasse derÖsterr. Akademie der Wissenschaften, 1955, Nr. 21.) Das rechtsstaatliche Prinzip spielt also nur die Rolle einer pars pro toto des liberalen Baugesetzes; die Aufzählung aller seiner Einschläge in die geltende Verfassung würde zeigen, wie stark dieser individualistische Bestimmgrund des modernen Staates, mag er noch so oft totgesagt worden sein, heute noch lebendig ist, ja gerade nach dem totalitären Zwischenspiel der letzten Jahrzehnte wieder wirksam geworden ist. Konnte ich doch sogar in meinem Buch ,,Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" (Wien: Springer-Verlag, 1935) eine lange Liste liberaler Einschläge feststellen, obwohl sie in diesem Rahmen einen ideologischen Fremdkörper dargestellt hatten und nur aus Gebundenheit an die Rechtsüberlieferung erklärt werden konnten! In der positivrechtlichen Durchführung des rechtsstaatlichen Prinzips erkennt Spanner ,,den Stufenbau der Rechtsordnung in voller Klarheit". Der Verfasser findet, daß das bundesstaatlichen Prinzip ,,in seiner Bedeutung immer mehr abgechwächt wird" (S. 112). Dies kann allerdings bei den geltenden Verfahrensvorschriften einer Verfassungsänderung nur mit Zustimmung der Nationalratsmitglieder geschehen, die ihrer partei- und län-

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dermäßigen Herkunft gemäß die berufenen Hüter des Föderalismus sein müßten; soll man annehmen, daß sie der verfassungspolitischen Tragweite ihrer Abstimmung nicht bewußt sind oder daß die schleichende Gesamtänderung in der Richtung der Annäherung des (von ausländischen Föderalisten ohnehin bezweifelten) Bundesstaates an den Einheitsstaat auch von vormaligen österreichischen Föderalisten gebilligt wird? 4. Besondere Beachtung verdienen die Bemerkungen des Neubearbeiters über die Tendenz der „Entwicklung zum Parteienstaat" (S. 117 ff.). Es ist die typische Spannung zwischen der Staatsverfassung im juristischen und im soziologischen Sinn, wenn eine Verfassungseinrichtung im Staatsleben eine Entwicklung nimmt, die von ihrer im Gesetz vorgesehenen Stellung abweicht, z.B. die monokratische Staatsführung durch den Einfluß einer Personenmehrzahl oligarchischen Charakter annimmt oder eine verfassungsmäßige Aristokratie oder Demokratie durch eine überragende Persönlichkeit (Prinzipat) monokratisch anmutet. Regelmäßig wachsen die politischen Parteien als die unvermeidlichen Demiurgen einer Demokratie über ihre gesetzliche Rolle hinaus. Ein unerfreuliches Vorspiel eines Pareienstaates begegnet uns schon im Kaiserstaat Österreich unmittelbar nach Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes 1907. Den Einblick in die werthaft negative Grundhaltung dieser Parteienwirtschaft eröffnet uns Johann Christoph Allmayer-Beck in seiner Biographie „Ministerpräsident Baron Beck, ein Staatsmann des alten Österreich", Wien 1956, besonders in den Abschnitten ,,Do ut des" und „Die Politik der Trinkgelder". Wenn der Verfasser meint, daß bloß Art. 35 B-VG auf den Bestand politischer Parteien Bezug nehme, so vernachlässigt er namentlich Art. 26, Abs. 6, wo zweimal der „wählwerbenden" Parteien gedacht wird. Den Tatsachen entspricht die Feststellung, daß der Einfluß der politischen Parteien auf die gesamte Tätigkeit der gesetzgebenden Körperschaften durch die von ihnen ausgegebenen Direktiven zu dem Ergebnis geführt habe, „daß die Abstimmungen tatsächlich aus dem Parlament in die vorangehenden Sitzungen der Parteiklubs verlagert erscheinen" (S. 120). Zu der Vereinbarung des Koalitionspaktes zwischen ÖVPundSPÖ vom 13. Mai 1956 (verlautbart in der Wiener Zeitung vom 27. Juni 1956), wonach in der Regel bei Vorlagen und Anträgen die beiden Parteien im Parlament die Art der Abstimmung und nötigenfalls auch die Freigabe der Abstimmung absprechen, stellt der Verfasser die im Art. 56 B-VG begründete Frage: „Wo bleibt der Grundsatz des freien Mandates?"

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„Die Entwicklung zum Kammerstaat" sieht der Verfasser in der Tatsache, daß die Entscheidung über politische Fragen tatsächlich im zunehmenden Maß in die Kammern der gewerblichen Wirtschaft, für Arbeiter und Angestellte und in die Landwirtschaftskammern vorverlegt ist, und die gesetzgebenden Vertretungskörper der Gesamtbevölkerung in diesen Fällen durch die Vorentscheidung von begutachtenden Stellen praktisch mehr oder weniger gebunden sind. In diesem Zusammenhang darf daran erinnert werden, daß die Regierung und die literarischen Vertreter des sogenannten ständisch-autoritären Staates Österreich gerade die zuletzt angedeutete Verfassungsentwicklung zum Prinzip des künftigen Staatslebens erklärt haben. Wenn auch die damalige Annahme, daß eine ständische Zusammensetzung der gesetzgebenden Vertretungskörper von den päpstlichen Enzykliken Rerum novarum 1891 und Quadragesimo anno 1931 beabsichtigt gewesen sei, mit der traditionellen Neutralitätserklärung der katholischen Kirche gegenüber der Staats- und Regierungsform unvereinbar ist, hat doch für katholisch eingestellte politische Parteien die eigentliche Absicht dieser Enzykliken, eine berufsständische Selbstverwaltung von Kultur und Wirtschaft zu organisieren, unverändert Gültigkeit, und ist es daher nicht voll zu verstehen, daß mit dem Experiment einer autoritär-ständischen und damit undemokratischen Staatsverfassung auch die Aufgabe einer echt ständischen Selbstverwaltung fallen gelassen worden ist. Das besondere Anliegen der genannten Enzykliken war dahin gegangen, in der kulturellen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung die beiden Arbeitsmarktparteien zusammenzufassen und durch die damit notwendig gemachte Kooperation den Arbeitskampf zu befrieden. Bei der von der Geschichte entwickelten Variationsfähigkeit der Demokratie ist schwerlich der Nachweis zu erbringen, daß die Erscheinungen des Parteienstaates oder des Kammerstaates an sich im Widerspruch zum Wesen der Demokratie stehen. Wenn der Idealfall der Demokratie, nämlich die Identität der Herrschenden und der (politisch willensfähigen) Beherrschten wegen der in einem Kulturvolk unvermeidlichen Meinungs- und Glaubensgegensätze auf der politischen Ebene nicht zu verwirklichen ist, dann sind auch beträchtliche Abweichungen vom idealen Grenzfall noch als Verwirklichungen des demokratischen Prinzips anzuerkennen und die Übergänge zu ademokratischen Staatsformen kaum eindeutig zu erkennen. 27 A.J. Merkl

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5. Dem Rezensenten scheinen vom Leitgedanken der Demokratie aus zwei von dem Verfasser nicht erörterte Erscheinungen bedenklicher: Erstens, daß die Fülle der Gesetzgebung und die schwere Verständlichkeit, namentlich wirtschaftlicher Gesetzentwürfe den Kreis der mit dem Gesetzesgegenstand vertrauten Parlamentarier außerordentlich einengt, so daß mitunter bloß ein verschwindender Bruchteil der Mitglieder eines Vertretungskörpers die Rolle einer echten Volksrepräsentation darstellt und die große Mehrheit des Vertretungskörpers bloß nicht nach eigener Überzeugung, sondern nach dem Wink der Parteiführung die Stimmen abgibt. Nur so wird es verständlich, daß für jeden Rechtshörer einleuchtende Verfassungswidrigkeiten unter Umsrtänden stimmeneinhellig zum Beschluß erhoben werden. So hat das im Jahr 1952 durch ein neues Landesgesetz ersetzte Landesgesetz von Niederösterreich vom 3. Juli 1924, LGB1. Nr. 130, im § 2 gemäß einem Verlangen der damaligen Landesbauernkammer die Bestimmung enthalten: ,,Für die Erklärung von Bäumen oder Baumgruppen auf land- und forstwirtschaftlichen Grundstücken zu Naturdenkmalen ist die Zustimmung des Eigentümers erforderlich." Diese Bestimmung widersprach offenbar dem Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz, da der Eigentümer von land- und forstwirtschaftlichem Grund und Boden gegenüber dem Eigentümer von Grundstücken jedweder anderen Verwendungsart in ebenso sach- wie rechtswidriger Weise bevorzugt worden ist. Die ideellen Interessenten des Gesetzes ließen bewußt diese Beschlußfassung des Landtages geschehen, um den übrigen kulturell bedeutsamen Text des Gesetzes zu sichern. Die Gesamtheit der Landtagsmitglieder hat aber wohl, abgesehen vom Berichterstatter, gutgläubig dem von der Landesregierung vorgeschlagenen Gesetzestext die Zustimmung erteilt. Mangels einer Anfechtung blieb die Gesetzesbestimmung dank der provisorischen Wirksamkeit verfassunsgwidriger Gesetze bis zur Ersetzung des Gesetzes durch einen anderen Text in Geltung. Es sei erwähnt, ,,daß die übrigen Landtage die auch von den Vertretern der Landwirtschaft nicht gutgeheißene Bestimmung nicht aus dem niederösterreichischen Landesnaturschutzgesetz übernommen haben. Die typische Art des parlamentarischen Gesetzebungsverfahrens ermöglicht es offenbar, daß krasse Verfassungsverletzungen und Sachwidrigkeiten als angeblicher Volkswille Geltung erlangen und behalten. Das andere Bedenken, das vom Standpunkt der demokratischen Ideologie geltend gemacht werden könnte, geht dahin, daß das mit dem höheren Rang der Verfassungskraft ausgestattete Recht in ebenso bequemer und manchmal wohl leichtfertiger Weise Gesetzeskraft erlangt, also tatsächlich nur durch

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den Willen etwa der Ministerialreferenten und einiger Parlamentarier getragen ist, die demokratische Verfassungsgesetzgebung sich also in bezug auf die psychische Technik der Rechtserzeugung kaum von dem „sie volo, sic iubeo" eines absoluten Monarchen unterscheidet. Ein besonderes Bedenken richtet sich gegen die unverantwortliche Zunahme von Verfassungsbestimmungen im Rahmen einfacher Gesetze, durch die nicht nur der Überblick über den Verfassungsrechtsstoff, sondern auch das Prinzip einer rechtsquellenmäßigen Scheidung der beiden Gesetzesstufen in Frage gestellt wird. Die soeben in Kraft gesetzten plebiszitären Kontrollen der parlamentarischen Gesetzgebung in Gestalt des Referendums sind so zurückhaltend dosiert, daß ein stärkerer plebiszitärer Einschlag der Gesetzgebung nicht erwartet werden kann. Da die vorstehenden Bedenken in der Linie der verantwortungsbewußten und nachdenklichen Ausführungen der Neuauflage des Handbuchs gelegen sind, darf vielleicht erhofft werden, daß sie in einer in nicht allzufernen Zukunft zu erwartenden Neuauflage des führenden Werkes über das österreichische Verfassungsrecht berücksichtigt werden. Vielleicht setzt sich eine solche Neuauflage auch mit dem angesichts der jüngsten literarischen Entwicklung besonders dringenden Problem des Verhältnisses des gesatzten Rechtes zum Naturrecht der verschiedenen Naturrechtssysteme im Sinne meiner Abhandlung „Einheit oder Vielheit des Naturrechts" (Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. V, Heft 3) und insbesondere mit der Frage auseinander, inwiefern und inwieweit Naturrecht dem geltenden österreichischen Verfassungsrecht immanent ist. Hiebei handelt es sich meines Erachtens nicht bloß um die naturrechtlichen (politisch-ideologischen) Wurzeln des österreichischen Rechtes, die in den von Professor Spanner gebotenen Ergänzungen bereits sinnvoll zum Ausdruck kommen, sondern auch um die Frage, ob und inwieweit die öffentlich-rechtlichen Gerichte als Quelle der Rechtsfindung Naturrecht verwenden. 6. Die Darstellung der leitenden Grundsätze für die Führung der Verwaltung (S. 318 ff.) könnte auch in der vorliegenden Fassung zu dem Mißverständnis Anlaß geben, daß das im Art. 18 B-VG ausgesprochene Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (kraft Gesetzesanalogie auch der Gerichtsbarkeit) bloß für die Hoheitsverwaltung des Bundes, der Länder und (wie der Verfasser aus der Fassung des Art. 129 B-VG „öffentliche Verwaltung" folgert) die Selbstverwaltung auf dem Gebiete obrigkeitlichen Handelns 27*

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Geltung habe. Ein solches Mißverständnis wird vielleicht besonders erleichtert durch die Feststellung, daß ,,ein Verwaltungsakt ... nur dann erlassen werden (darf), wenn die Verwaltungsbehörde hiezu durch Gesetz ermächtigt ist" (S. 319), denn Verwaltungsakte im gebräuchlichen engen Sinn des Wortes sind die Eigentümlichkeiten der Hoheitsverwaltung. Die neutrale Fassung des Art. 18 B-VG - „gesamte staatliche Verwaltung" - schließt für die logische und grammatische Auslegung auch die private (privatwirtschaftliche) Verwaltung ein. Der rechtspolitische Sinn der Geltung der Gesetzesherrschaft in diesem Bereiche des Staatslebens erfüllt sich zwar nicht durch das Sicherheitsbedürfnis der Staatsbürger, sondern durch die formell-gesetzliche Fixierung des Aufwandes für diesen Bereich der Verwaltung. Bekanntlich spielen die Finanzgesetze des Bundes und der Länder, soweit nicht besondere formelle Gesetze bestimmte Kultur- und Wirtschaftsfunktionen dieser Gebietskörperschaften regeln, die Rolle der nach Art. 18 B-VG erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Der Eigenart der privatwirtschaftlichen Verwaltung gemäß genügen indes für dieses Gebiet der Verwaltung weitgefaßte formellgesetzliche Ermächtigungen. Unzweifelhaft legen die Verfasser des angezeigten Werkes den Art. 18 in dem angedeuteten weiten Sinn aus, doch wäre für die Zukunft vielleicht eine Verdeutlichung dieses Standpunktes erwünscht. Zu einem ernsteren Zweifel gibt schließlich die Auslegung des Art. 17 B-VG Anlaß. Der Verfasser behauptet: „Die Stellung des Bundes und der Länder als Träger von Privatrechten wird danach durch die Kompetenzbestimmungen nicht berührt. Die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der Verwaltung bezieht sich somit nur auf die Hoheitsverwaltung, nicht aber auf die privatwirtschaftliche Verwaltungstätigkeit des Bundes und der Länder." (S. 130) Es bedürfte einer Begründung, warum der Verfasser das augenscheinliche Redaktionsversehen der beiden Absätze des Art. 17, daß nämlich die ZuständigkeitsVerteilung der Art. ΙΟΙ 5 B-VG die Stellung des Bundes als Träger von Privatrechten nicht berührt und der Bund in diesen Rechtsbeziehungen niemals ungünstiger als das betreffende Land gestellt werden kann, durch die Beifügung „das Land" ergänzt. Die im Verfassungstext für den Bund vorbehaltene Begünstigung kann meines Erachtens auf die Länder nur mittels einer Auswertung der Auslegungsregel des Art. 2 B-VG erstreckt werden, wonach die Verfassung im Sinn des hergebrachten Typus des Bundesstaates zu verstehen ist.

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Alles in allem hat die Neubearbeitung des Handbuchs des österreichischen Verfassungsrechts durch Professor Hans Spanner den wissenschaftlichen Rang dieser führenden Bearbeitung des österreichischen Verfassungsrechts von Seiten des Begründers des Werkes nicht bloß behauptet, sondern womöglich gesteigert und auch für die in- und ausländische Fachwelt ein unübertreffliches Nachschlagewerk geschaffen.

Die Rechtsstellung der Parteien in Österreich Die ausgezeichneten Ausführungen des Professor Ermacora über das rechtliche Wesen und die rechtliche Stellung der politischen Parteien im System des österreichischen Verfassungsrechts können im wesentlichen als unbestreibare Grundlage der Problembehandlung gelten. Ich möchte mich auf einige ergänzende Feststellungen beschränken. Wenn das österreichische Verfassungsrecht die politischen Parteien in verschiedenen Zusammenhängen zum Gegenstand von Normierungen gemacht hat, so war nicht die klare Einsicht in die gesetzgebungspolitische Aufgabe der Organisation der politischen Parteien als Instrumente oder eigentlich als Akteure einer lebendigen Demokratie bestimmend, sondern die sachliche Notwendigkeit bestimmter, über die Organisationsaufgabe hinausgehender Regelungen. Durch diese Regelungen sind erst aber doch die politischen Parteien Instrumente, in einem möglichen Sinn sogar Organe des Staates geworden. Die liberale Auffassung von den politischen Parteien als bloß gesellschaftliche und darum nichtstaatliche Kräfte ist insoferne einseitig und unhaltbar, als die politischen Parteien durch eine rechtliche und im besonderen verfassungsrechtliche Regelung, die sie Staatsaufgaben dienstbar macht, Organeigenschaft haben. In ähnlicher Weise wie in den ersten rechtswissenschaftlichen Diskussionen über die Rechtsnatur der politischen Parteien war ehedem die Eigenschaft der Selbstverwaltung umstritten. Während nach liberaler Auffassung die territoriale und um so mehr berufsständische (wirtschaftliche und kulturelle) Selbstverwaltung als eine den Staat konkurrierende Einrichtung aufzufassen ist, hat der Konservatismus gemäß seiner etatistischen Grundeinstellung die Selbstverwaltung als eine ihrer Personenauswahl nach volksnahe Staatsverwaltung gedeutet.

In: Α. M. Knoll/K. Kummer (Hrsg.): Staat und Parteien. Vortrüge und Ergebnisse der Fünften Wiener Sozialen Woche. Schriftenreihe des Institutes für Sozialpolitik und Sozialreform, Heft 12, Wien 1959, S. 32-33.

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Die Verfassungsbestimmungen über die Mitwirkung der politischen Parteien an Wahlen und sonstigen Abstimmungen in der Demokratie haben den Zweck, eine plebiszitäre Kontrolle dieser Abstimmungen zu organisieren, bewirken aber mittelbar die Organisation des Staates als eine durch die Parteienfc0/i/:wm?/izgekennzeichnete, echte Demokratie. Im Bundes-Verfassungsgesetz wird diese staatsformelle Rolle der politischen Parteien durch die Ausdruckweise verwirklicht, daß den ,, wähl werbenden Parteien" - ein gewußter und gewollter Plural - eine Vertretung in den Wahlbehörden gesichert wird. Unausgesprochen wird ihnen in Art. 74 Abs. 1 B-VG durch die Statuierung des politischen Vertrauensprinzipes eine entscheidende Rolle im Staatsleben zugebilligt. Wenn nämlich die Verfassung zwingend vorschreibt, daß die gesamte Bundesregierung oder einzelne Bundesminister ihres Amtes zu entheben sind, sobald der Nationalrat dem genannten Gesamtorgan oder den genannten Einzelorganen das Vertrauen entzieht, wird der Bundespräsident genötigt, um eine stabile Bundesregierung zu gewinnen, deren Mitglieder solchen politischen Parteien zu entnehmen oder aus Vertrauensmännern solcher politischer Parteien zusammenzusetzen, die über eine tragfähige Mehrheit verfügen. Es sind des weiteren die Mitglieder des Nationalrates genötigt, sich zum Zwecke der Sicherstellung einer solchen Mehrheit durch Koalitionsvereinbarungen zu binden. Durch eine solche Verfassungsrechtslage sind freilich nicht Inhalte einer Koalitionsvereinbarung gedeckt, deren Erfüllung die Verletzung anderer Verfassungsbestimmungen darstellen würde. Das betrifft z.B. die Zusicherung der Stimmabgabe der einzelnen Abgeordneten gemäß den Weisungen der Führung der koalierten Parteien. Denn eine derartige Vereinbarung wird mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des freien Mandates (Art. 65 B-VG) nicht zu vereinbaren sein! Auch nicht eine Vereinbarung, derzufolge gewisse öffentliche Ämter überhaupt oder nach einem bestimmten Schlüssel den Vertrauensmännern der koalierten Parteien vorbehalten werden. Das wäre ein Widerspruch zum verfassungsrechtlichen Gleichheitsprinzip! Das Mehrparteiensystem wird überdies stillschweigend als eine verfassungsrechtliche Gegebenheit der österreichischen Republik im Art. 1 des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 vorausgesetzt. Die eindeutige Vorschrift eines freien, außerdem gleichen und allgemeinen Wahlrechtes schließt nämlich eine Verengung des Wahlrechtes durch die Kandidatur von Monopol- oder Staatsparteien aus.

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Im gesamten regelt aber die österreichische Rechtsordnung nur, wenn auch für das Staatsleben bedeutende, peripherische Fragen des Parteiwesens. Es ist sonach die Aufgabe eines Organisationsgesetzes der politischen Parteien, die Rechtsnatur, die Organe, die Funktionen und die Aufbringung der Mittel der politischen Parteien zu regeln. Eine ungelöste, mit rechtlichen Mitteln vielleicht überhaupt unlösbare Aufgabe der politischen Parteien wäre auch die Rolle der politischen Parteien als Erzieher ihrer Anhänger zur echten Demokratie, mit den unverzichtbaren moralischen Attributen der Toleranz und eines gewissen Altruismus. Die Kriege haben diese Aufgabe gewiß erschwert, und der überhaupt oft fehlende Familienverband und auch die öffentliche Schule sind sie allzu oft schuldig geblieben.

Die Antwort der Verfassung Die politischen Parteien gelten im älteren, liberal beeinflußten Schrifttum als jene Gemeinschaften innerhalb der freien Gesellschaft, die den Staat zu organisieren und im besonderen die kollegialen Gesetzgebungsorgane zu bestellen haben. Hiedurch besitzen sie eine zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnde Stellung. Dem Gesetzgeber steht es frei,die politischen Parteien als der Gesellschaft zuzurechnende Vereine oder als Staatsorgane einzurichten. Doch war sich der Gesetzgeber bei den wiederholten Novellierungen der Verfassung, ergänzenden Verfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen seiner rechtspolitischen Aufgabe nicht bewußt, die politischen Parteien als Mitakteure des Verfassungsgetriebes wenigstens in Rahmenbestimmungen als Verfassungsbestandteil zu fixieren. Zwar enthalten das Bundes-Verfassungsgesetz und einige Ausführungsgesetze eine Reihe von Bestimmungen über die politischen Parteien, doch war hiebei eher das Bedürfnis maßgebend, gewisse Mitwirkungsrechte der Parteien am Staatsleben zu regeln und nicht die grundsätzliche Erkenntnis ihrer Bedeutung in einer parlamentarischen Demokratie. Zufällig und unzulänglich Die politischen Parteien waren im Verfassungsrecht des Kaiserstaates Österreich eine stillschweigende Voraussetzung für das Funktionieren des Staatsapparates. Auch im Verfassungsrecht der Republik Österreich ist es dabei geblieben. Die Fixierung der politischen Parteien innerhalb der

Zur Reform der österreichischen Innenpolitik. Hrsg. von Marcic/Mock/Schmölz/Weinzierl, Bd. 1, Frankfurt-Zürich-Salzburg-München 1966, S. 185-193. Vgl. auch Das Unbehagen im Parteienstaat. Die Antwort der Verfassung. Forum 6. Jg. (1959), Heft 62, S. 50-52. Die Antwort der Verfassung in: Wahlen und Parteien in Österreich. Österreichisches Wahlhandbuch, Stiefbold/Leupold-Löwenthal/Ress/Liechem unter Leitung von Marvick (Hrsg.), Bd. 2, Wien: Österreichischer Bundesverlag für Jugend und Volk 1966, S. 709-713.

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Rechtsordnung ist zufällig und unzulänglich. Über ihre grundsätzlichen Aufgaben schweigt der Gesetzgeber. Die Zuständigkeitsnorm des Artikels 10 des Bundes-Verfassungsgesetzes bietet die Vollmacht zur Regelung des Parteiwesens. Hienach sind u.a. Gesetzgebung und Vollziehung in Angelegenheiten der Bundesverfassung, insbesondere Wahlen zum Nationalrat und Volksabstimmungen auf Grund der Bundesverfassung, Bundessache. Diese Zuständigkeitsbestimmung gibt dem Bund die Vollmacht, so wie er sonstige Einrichtungen in den Bundesländern durch Rahmenbestimmungen ordnet, auch das Parteiwesen in den Bundesländern zu ordnen. Die auf der Bundesebene geltenden Bestimmungen über politische Parteien finden daher im Recht der Bundesländer ihr Gegenstück. Die grundlegende Bestimmung über das rechtliche Funktionieren „wahlwerbender Parteien" ist der Artikel 26 des Bundes-Verfassungsgesetzes. Nach Vorschrift des Absatzes 6 sind ,,zur Durchführung und Leitung der Wahlen zum Nationalrat, der Wahl des Bundespräsidenten und von Volksabstimmungen ... sowie zur Mitwirkung bei der Überprüfung von Volksbegehren Wahlbehörden zu bestellen, denen als stimmberechtigte Beisitzer Vertreter der wahlwerbenden Parteien anzugehören haben ... Die in der Wahlordnung festzusetzende Anzahl dieser Beisitzer ist... auf die wahlwerbenden Parteien nach ihrer bei der letzten Wahl zum Nationalrat festgestellten Stärke aufzuteilen 41.

Diese Verfassungsbestimmung schafft nicht von sich aus die „wahlwerbenden Parteien", sondern sie setzt den Bestand gesellschaftlicher Gebilde von der Art politischer Parteien bereits voraus und räumt diesen die Zuständigkeit ein, Vertreter namhaft zu machen, die in den Wahlbehörden Organstellung erlangen. Außerdem wird durch diese Verfassungsbestimmung der Verteilungsschlüssel festgesetzt, nach dem die „wählwerbenden Parteien" zum Zug kommen. Mittelbar wird durch die Verfassungsbestimmung des Artikels 26 Absatz 6 das im Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes programmatisch begründete Baugesetz der Demokratie (,,Österreich ist eine demokratische Republik") authentisch im Sinne einer Mehrparteiendemokratie ausgelegt. Dieser besondere Charakter der österreichischen Demokratie als ein System der Koexistenz und Konkurrenz einer Mehrzahl von Parteien gibt dem Artikel 1 des Staatsvertrages vom 15. Mai 1955 eine besondere Bedeutung. Wenn nämlich die Alliierten und Assoziierten Mächte im Artikel 1 des zitierten Vertrages Österreich als „einen souveränen, unabhängigen und

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demokratischen Staat" anerkennen, so wird damit zugleich die auf dem Mehrparteiensystem beruhende österreichische Verfassung als eine Vorbedingung wahrer Demokratie anerkannt. Demokratie und Scheindemokratie So selbstverständlich diese Anerkennung von der Seite Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Frankreichs ist, so überraschend ist sie von Seite der UdSSR. Sowohl nach der spezifisch kommunistischen Literatur als auch nach der Auffassung von linksgerichteten west-europäischen, insbesondere auch österreichischen Schriftstellern stellt sich nämlich die österreichische Verfassung als die einer „bürgerlichen Demokratie" dar, und diese ist nach kommunistischer Auffassung eine liberal-kapitalistische Scheindemokratie, die sich von der „echten" kommunistischen Demokratie grundsätzlich unterscheidet. Wenn die vertragschließenden Mächte Österreich übereinstimmend als demokratischen Staat anerkennen, so bedeutet dies, daß auch die Sowjetunion als einer der Vertragspartner Österreichs, das ein Staat westlichen Typs ist, als Demokratie anerkennt und somit durch ihre Zustimmung zum Artikel 1 des Staatsvertrages darauf verzichtet, von Österreich die Anpassung seiner Verfassung an den östlichen Staatstyp, d.h. an eine sogenannte Volksdemokratie, zu fordern. Angesichts der Abhängigkeit wissenschaftlicher Theorien von der Staatspraxis bleibt freilich abzuwarten, ob die juristischen und politischen Schriftsteller des kommunistischen Herrschaftsbereiches ihre Theorie der Demokratie im Sinne des genannten völkerrechtlichen Präzendenzfalles abändern werden. Artikel 35 (1) des Bundes-Verfassungsgesetzes verwendet den Ausdruck „Partei" nicht im Sinne von „wählwerbender Partei", sondern im Sinne von parlamentarischer Fraktion: „Die Mitglieder des Bundesrates und ihre Ersatzmänner werden von den Landtagen für die Dauer ihrer Gesetzgebungsperiode nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt, jedoch muß wenigstens ein Mandat der Partei zufallen, die die zweithöchste Anzahl von Sitzen im Landtag ... aufweist. 44

Die in der Minderheit gebliebene Partei wird berücksichtigt, um ihr gemäß dem Grundgedanken des demokratischen Minderheitenschutzes eine Vertretung innerhalb der Abordnung jedes Bundeslandes zu gewährleisten.

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An einem solchen Minderheitenschutz besteht deshalb Interesse, weil der österreichische Bundesrat zum Unterschied von jenem des Bonner Grundgesetzes nicht eine Abordnung der Landesregierung, sondern eine Repräsentation der Landtage und damit der Landesbewohner ist. Er ist daher nicht als soziologische und juristische Einheit, sondern als Summe von Parlamentariern verschiedener politischer Zugehörigkeit eingerichtet. Die Gründung politischer Parteien wird im Paragraph 49 der Wahlordnung zum Nationalrat geregelt: „Wahlwerbende Parteien haben ihre Wahl vorschlüge für das erste Ermittlungsverfahren spätestens am einundzwanzigsten Tage vor dem Wahltage der Kreiswahlbehörde vorzulegen ... Der Wahlvorschlag muß von wenigstens zweihundert Wühlern des Wahlkreises unterschrieben sein ... 4tl

Daraus ergibt sich, daß 200 wahlberechtigte Bürger des Wahlkreises als wähl werbende Partei auftreten können. Mit diesen Anordnungen ist aber nur ein erster Ansatz für die rechtliche Organisation von politischen Parteien gegeben. Angesichts der fragmentarischen Rechtslage fehlen im besonderen alle Garantien gegen den Mißbrauch der Macht durch die mit der Rechtstellung einer politischen Partei ausgestattete Personengruppe. Die knappen Rahmenbestimmungen des Artikels 21 des Bonner Grundgesetzes könnten den Weg zu einem österreichischen Organisationsgesetz für die politischen Parteien weisen. ,,(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben." ,,(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deuschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. 44

Die in Österreich gemachten Erfahrungen lassen es unabweislich erscheinen, daß ein Organisationsgesetz für die politischen Parteien zwingende Bestimmungen über die Aufbringung ihrer Mittel enthält.

Die Nationalrats-Wahlordnung wurde im BGBl. 246/1962 wieder verlautbart.

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Das Vertrauensprinzip Das rechtliche Bild der politischen Parteien rundet sich erst durch die Würdigung des parlamentarischen Vertrauensprinzips, und dessen rechtliche Ordnung wird erst durch das Spiel und Gegenspiel der politischen Parteien verständlich. „(1) Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister des Amtes zu entheben.44 „(2) Zu einem Beschluß des Nationalrates, mit dem das Vertrauen versagt wird, ist die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates erforderlich. Doch ist, wenn es ein Fünftel der anwesenden Mitglieder verlangt, die Abstimmung auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen. Eine neuerliche Vertagung der Abstimmung kann nur durch den Beschluß des Nationalrates erfolgen. 44

Dieser Bestimmung des Artikels 74 des Bundes-Verfassungsgesetzes liegt der Gedanke zugrunde, daß die politischen Parteien durch ihre dem Nationalrat angehörigen Führer und Vertrauensmänner Gesetzgebung und Verwaltung beherrschen. Die unvermeidliche Folge eines Mißtrauensvotums ist die Entlassung einer der Mehrheit des Nationalrates nicht genehmen Regierung oder einzelner Regierungsmitglieder. Dies nötigt den Bundespräsidenten, eine Regierung zu bestellen, die nach menschlichem Ermessen vor einem Mißtrauensvotum gesichert ist. Der Regierung muß ein derartiger parlamentarischer Rückhalt gewiß sein, daß auch bei ungewöhnlichen Absenzen von Nationalratsmitgliedern die Opposition nicht in der Lage ist, die Regierung zu stürzen. Der Mechanismus des Mißtrauensvotums gewährleistet die Regierungsbeteiligung aller jener Parteien, die für eine stabile Geschäftsführung erforderlich sind. Dadurch wird eine Vereinbarung zwischen ihnen notwendig, bevor sie die Verantwortung für eine stabile Regierung übernehmen können. So wird als Auswirkung der eigenartigen Form des parlamentarischen Vertrauensprinzipes der Koalitionspakt zu einer Lebensbedingung des Nationalrates und der Bundesregierung. Ohne rechtliche Verbindlichkeit ist er dennoch weit wichtiger als etwa die formellen Durchführungsgesetze zur Verfassungsurkunde. Er ist eine Funktionsregel, die der latenten Gefahr eines Mißtrauensvotums vorbeugt und den regierungsfähigen und regierungswilligen Parteien einen entscheidenden Einfluß auf den Inhalt der Gesetze und die Grundsätze der Verwaltung sichert.

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Der Koalitionspakt Die Österreichische Volkspartei und die Sozialistische Partei Österreichs haben am 2. April 1953 und am 26. Juni 1956 Koalitionsvereinbarungen abgeschlossen. Die geltende Koalitionsvereinbarung ist am 27. Juni 1956 an der Spitze des amtlichen Teiles der Wiener Zeitung verlautbart worden. Trotz diesem Schein eines amtlichen Charakters ist die Vereinbarung keinesfalls eine Rechsquelle im Stufenbau der staatlichen Rechtsordnung. Obgleich die politischen Parteien durch die zitierten verfassungsgesetzlichen und einfachgesetzlichen Normen den Charakter von sozusagen mittelbaren Staatsorganen erlangt haben, fehlt ihnen jede obrigkeitliche Kompetenz außerhalb des in den Gesetzesstellen umschriebenen bescheidenen Wirkungskreises. Die Koalitionsvereinbarung ist rechtlich insoweit unverbindlich, als ihre Erfüllung gesetzwidrig und im besonderen verfassungswidrig wäre. Die Vereinbarung (Punkt 1 ), daß die beiden Parteien eine Regierung unter Ausschluß dritter Parteien bilden und für die Regierungsmaßnahmen die volle Verantwortung tragen, ist bei Beobachtung der Kompetenz- und Verfassungsbestimmungen der Bundesverfassung rechtlich erfüllbar. Die Vereinbarung (Punkt 2), daß im Verhältnis zwischen den beiden Parteien grundsätzlich ,,der bei den Wahlen vom 13. Mai 1956 erzielte Proporz" gelte und daß dieser Proporz ,,bei den Vorschlägen für die Leitungsfunktionen bei den verstaatlichten Unternehmungen und für die Aufsichtsräte und Vorstände bei den verstaatlichten Banken" anzuwenden sei, versucht die Parteien zu einer Haltung zu veranlassen, die mit dem Verfassungsrechtssatz der Gleichheit vor dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen ist, da hiemit Vorrechte der Parteizugehörigkeit bei der Vergebung von öffentlichen Funktionen begründet werden. Die fraglichen Vorschläge sind im Sinne der Verfassung ohne Ansehen der Person hinsichtlich der Parteizugehörigkeit und ohne Beachtung des „Proporzes" zu erstatten. Wenn ein Parteifunktionär, der zugleich eines der im Artikel 142 des Bundes-Verfassungsgesetzes aufgezählten Staatsämter bekleidet, unter Beachtung der Koalitionsvereinbarung Vorschläge erstattet, würde er sich gemäß diesem Artikel verantwortlich machen.2 Die Tatsache, daß die Anklage nicht erhoben wird, ändert nichts an der Rechtslage. 2 Artikel 142 des Bundes-Verfassungsgesetzes lautet: „Der Verfassungsgerichtshof erkennt über die Anklage, mit der die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit der obersten

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Die Freiheit des Abgeordneten Die Vereinbarung (Punkt 5), daß Regierungsvorlagen, über die ein einstimmiger Beschluß der in der Bundesregierung vertretenen Koalitionsparteien erzielt worden ist, für die im Nationalrat vertretenen Koalitionsparteien verbindlich seien, widerspricht Art. 56 des Bundes-Verfassungsgesetzes, wonach die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden sind. Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates, die den Koalitionsparteien angehören, bleiben von Rechts wegen in ihrer Abstimmung und sonstigen Haltung zu den Regierungsvorlagen frei. Die denkbare Konsequenz, daß Abgeordnete, die der Stimme ihres Gewissens oder ihrer gutgläubigen Einsicht folgen, von ihren Parteien benachteiligt und im besonderen nach Ablauf der Gesetzgebungsperiode nicht wieder als Kandidaten aufgestellt werden, widerspricht zumindest dem Geist der Verfassung. Die Vereinbarung (Punkt 6), wonach bei allen sonstigen Vorlagen und Anträgen die beiden Parteien die Art der Abstimmung und nötigenfalls auch die Freigabe der Abstimmung absprechen, kann die rechtliche Freiheit der Abstimmung ebenfalls nicht aufheben. Mit den vorstehenden Feststellungen sollen die großen Leistungen der Koalitionsparteien nicht in Frage gestellt werden. Sie haben inmitten einer unüberbietbaren Katastrophe mit ihrer Erklärung vom 27. April 1945 die Unabhängigkeit Österreichs begründet. Sie haben den Staat und das Volk aus gewaltigen Schwierigkeiten geführt. Gerade wegen dieser großen Leistungen haben die Parteien die moralische und rechtliche Pflicht, die Staatsverfassung als die Grundordnung der Demokratie anzuerkennen. Demokratie ist nur möglich, wenn man bereit ist, auf Machtüberschreitungen zu verzichten. Nur wenn man die rechtlichen Grundlagen der Demokratie achtet, kann man ihre ideellen Grundlagen und ihren moralischen Kredit unversehrt erhalten.

Bundes- und Landesbehörden für die durch ihre Amtstätigkeit erfolgten schuldhaften Rechtsverletzungen geltend gemacht wird ... Die Anklage kann erhoben werden: gegen den Bundespräsidenten ... durch Beschluß der Bundesversammlung ... gegen die Mitglieder der Bundesregierung und die ihnen ... gleichgestellten Organe ... durch Beschluß des Nationalrates ... gegen die Mitglieder einer Landesregierung und die ihnen ... gleichgestellten Organe ... durch Beschluß des zuständigen Landtages, ... gegen einen Landeshauptmann, dessen Stellvertreter... oder ein Mitglied der Landesregierung ... durch die Landesregierung ..." 28 A.J. Mcrkl

Pressefreiheit - unsere Existenzbedingung Die Declaration of Rights von Virginia erklärt am 12. Juni 1776: „That the freedom of the press is one of the great bulwarks of liberty and can never be restrained but by despotic governments.'4 Dieser Akt der Gesetzgebung ist für eine lange Reihe demokratischer Staatsverfassungen in einer Weise vorbildlich geworden, daß die Freiheit der Presse neben einigen anderen, sei es als Menschen-, sei es als Bürgerrechten gestalteten Grundrechten, wie die religiöse Freiheit aller Menschen und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, zum eisernen Bestandteil der Staatenwelt des sogenannten politischen Westens und geradezu einem Begriffsmerkmal des demokratischen Freistaates geworden ist. Die erste Mittlerrolle dieser Rechtsentwicklung hat freilich die erweiterte Fassung dieses Grundrechtes in der Declaration des droits de l'homme et du citoyen vom 3. September 1791 gespielt, die den gesetzgeberischen Auftakt der Französischen Revolution darstellt: ,,La libre communication des pensées et des opinions est un des droits le plus précieux de l'homme. Tout citoyen peut donc parler, écrire, imprimer librement , sauf à repondre de l'abus de cette liberté dans les cas déterminés par la loi." Eine weitere bedeutsame Station dieser verfassungsförmigen Verankerung unseres Freiheitsrechtes war, um aus Raumgründen vom außerdeutschen Bereich abzusehen, die vom 28. April 1849 von der verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossene, freilich nicht in Kraft gesetzte „Verfassung des Deutschen Reiches". Im Abschnitt VI (6) über „Die Grundrechte des Deutschen Volkes", der wörtlich den vorweggenommenen Beschluß vom 21. Dezember 1848 übernimmt, bestimmt 143: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck, bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maßregeln, namentlich Zensur, Konzessionen, Sicherheitsbestellungen, Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien oder des

Weihnachtsbeilage der Salzburger Nachrichten 1959, S. 6.

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Buchhandels, Postverbote oder andere Hemmungen des Verkehrs beschränkt werden." Die geschichtliche Rolle dieser Verfassungsurkunde war, daß sie mit ihren Formulierungen eine lange Reihe deutschsprachiger Verfassungen befruchtet hat: Im österreichischen Kaiserstaat zuletzt das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867. Sein Art. 13 gewährleistet jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellungen seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern und verbietet die Presse unter Zensur zu stellen oder durch das Konzessionssystem zu beschränken. Damit ist der im Zusammenhalt mit dem gleichfalls als Verfassungsnorm rezipierten Zensurbeschluß vom 30. Oktober 1918, die noch heute gültige Rahmenordnung für die einfachgesetzliche Regelung des Pressewesens geschaffen. Eine engherzige Auslegung der verfassungsgesetzlich garantierten Pressefreiheit und einschränkende Ausführung durch das Gesetz wäre ein Widerspruch nicht bloß gegen den Geist, sondern auch gegen den rechlichen Gehalt der republikanisch-demokratischen Verfassung. Die auf Antrag Ignaz Seipels als des Berichterstatters des Verfassungsausschusses der konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 stimmeneinhellig von der demokratisch gewählten Gesamtvolksvertretung des heutigen Österreich beschlossene Verfassungsurkunde stellt mit ihrer Verkündigung der demokratischen Republik nicht ein bloßes politisches Programm, sondern eine für den Gesetzgeber und Gesetzanwender verbindliche Auslegungsregel, nämlich die Richtschnur auf, alle im Stufenbau der Rechtsordnung zu lösenden Fragen im Sinne des international feststehenden Begriffes der westlichen) Demokratie zu beantworten. Dieser Begriff der Demokratie ist durchtränkt mit dem positiv zu bewertenden Bestandteil des liberalen Ideenkreises, der mit seinen Grundgedanken einer staatsfreien Gesellschaft und der subsidiären Rolle des Staates zur Ergänzung des Einzelmenschen und der innerstaatlichen Gemeinschaften sich als säkularisiertes, aber nicht verfälschtes christliches Gesellschaftsdenken darstellt. Die Rolle dieser aus liberalen Wurzeln stammenden Rechtseinrichtungen, wie es die Freiheitsrechte sind, im System der Demokratie, habe ich in kürzester Form in meinem Akademie-Vortrag von 1955 als den durch die Unzulänglichkeit der geschichtlichen Demokratie wesenhaft bedingten Rechtsschutz der auch in der Demokratie einem fremden Willen unterworfenen Minderheit und des Einzelmenschen gedeutet. Rechtseinrichtungen solcher Zweckbestimmung

Pressefreiheit - unsere Existenzbedingung

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dürfen nicht mit ihren totalitären Zerstörern der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart als „Aufstand des Eigennutzes gegen die Volksgemeinschaft" mißverstanden, sondern müssen als folgerichtiges Zuendedenken und Wirksammachen einer sinnvollen Volksherrschaft bewertet werden. Dabei handelt es sich nicht etwa um den Schutz niedriger Reklame und Erwerbsinstinkte, sondern um die Sicherung der für jeden Staat notwendigen Kritik und um die Wahrung der immateriellen Kulturwerte von Eliten, die besonders in einem Koalitionsregime zu kurz zu kommen drohen. Es sei nur erwähnt, daß die christlichsoziale Wiener „Reichspost" im Ersten Weltkrieg gewisse Mißstände in der Heeresverwaltung und Kriegsgerichtsbarkeit wie die rechlich anfechtbare Verfolgung nichtdeutscher, besonders südslawischer Bürger, darunter von Seelsorgern, getadelt, damit aber nicht etwa das Ansehen Österreichs geschädigt, sondern vor ungerechten Verallgemeinerungen des Auslandes geschützt hat. Nicht wenigerhaben auch sozialistische Blätter, namentlich die „Arbeiter-Zeitung" in Wien, durch sachliche Kritik an kriegsbedingten Mißständen die journalistische Aufgabe der öffentlichen Kritik erfüllt und damit dem Ausland gegenüber dem guten Ruf Österreichs gedient. Wir dürfen schließlich nicht hinter einem Maß von Pressefreiheit zurückbleiben, das in der Monarchie u.a. in einer langen Reihe kühner und erfolgreicher Preßprozesse Josef Schöffel seinen Kampf um die Wiener Heimatlandschaft damals (leider nicht auch mit Wirksamkeit bis heute) siegreich bestehen ließ, und auch nicht hinter den Bekenntnissen für eine großzügige Pressefreiheit, die wir selbst dem stockkonservativen Otto von Bismarck und sonstigen ausländischen Staatsmännern und Staatsdenkern verdanken. Voraussetzung einer modernen wirksamen Pressefreiheit ist freilich die Bereitschaft von unabhängigen Presseorganen, Bekennernaturen ihre Spalten zur Verfügung zu stellen. Ich will an solchen Zukunftsmöglichkeiten in Österreich nicht zweifeln, da ich in Fragen meiner wissenschaftlichen Fächer trotz des Instrumentes der Beschlagnahme unter dem Ausnahmezustand und selbst unter der Diktatur meiner wissenschaftlichen Überzeugung wenigstens in der Form leerer, aber mit meinem Namen gekennzeichneter Spalten Ausdruck geben konnte.

Die rechtliche Bedeutung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für Österreich Die rechtliche Bedeutung der Europäischen Konvention Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 von 13 Mitgliedsstaaten des Europarates abgeschlossen und nach dem Beitritt Österreichs am 24. September 1958 unter BGBl. Nr. 210 im Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich veröffentlicht worden ist, bedeutet einen Markstein in der geschichtlichen Auseinandersetzung zwischen Staat und Einzelperson. Denkwürdige Stationen dieser geistigen und kämpferischen Auseinandersetzung, die als Vorläufer unserer Konvention gelten, sind namentlich die Petition of Rights von 1628, mit der für alle englischen Bürger die Sicherheit gegen willkürliche Verhaftung und Sicherstellung des Eigentums gefordert wird, die Habeascorpus-Akte von 1679, mittels deren diese Sicherheit gesetzlich gewährleistet wird, die Bill of Rights von 1689, mittels deren die verfassungsmäßigen Freiheiten der Nation gewährleistet werden, die Declaration of Rights der souverän gewordenen britischen Kolonie Virginia von 1776, mittels deren die menschlichen Grundfreiheiten als Bollwerk gegen despotische Regierungsweise verfassungsförmig verankert werden, die französische Déclaration des droits de l'homme et du citoyen vom 3. September 1791, womit ein für die europäischen Revolutionsverfassungen vorbildlicher Katalog von Menschen- und Bürgerrechten aufgestellt wird. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 betritt nach dieser nur andeutungsweise wiedergegebenen Vorgeschichte kein gesetzgeberisches Neuland, sondern unterJahrbuch des österreichischen Gewerbevereins 1960, S. 61-66.

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nimmt es, für die am politischen Individualismus und damit am menschlichen Vorrang und Mehrwert gegenüber der politischen Gemeinschaft ausgerichteten Kulturstaaten bei grundsätzlicher Bejahung des Staates als einer Existenzbedingung der einzelmenschlichen Freiheit ein Mindestmaß von geistiger Selbstbestimmung und materieller Sicherheit für den Einzelmensehen sicherzustellen. Dieses Unternehmen ist psychologisch als Reaktion gegen die geschichtlichen Dammbrüche und Erdrutsche des 20. Jahrhunderts zu verstehen, mittels deren die von der Mehrzahl der Kulturstaaten autonom errichteten Rechtsschranken gegen staatliche Willkür verschüttet worden waren. Einzelstaatlich ausgebildete und überlieferte Menschenrechte und Grundfreiheiten, die gewissermaßen zum ,,unvergänglichen Freiheitserbgut" zählen, das ich unter dem genannten Titel in meinem Beitrag zur Festschrift für den großen österreichischen Richter und Rechtslehrer Heinrich Klang im Jahre 1950 beleuchtet habe, werden gegen die bekannte und für alle Zukunft denkwürdige Diffamierung durch totalitäre Staatsauffassungen, so etwa gegen die Abwertung als Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft, von einer Gemeinschaft von Kulturstaaten, die über eine ansehliche Autorität verfügt, unter ihren Schutz genommen und völkerrechtlich untermauert. Es sind im einzelnen die Regierungen von Belgien, Dänemark, Frankreich, der Deutschen Bundesrepublik, Irland, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Norwegens, der Türkei, des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nord-Irland, Griechenlands und Schwedens, die jene Liste von Menschenrechten und Grundfreiheiten als rechtliche Mindestgarantie der menschlichen Persönlichkeit erklären. Dieser Gedanke eines rechtlichen Existenzminimums der menschlichen Persönlichkeit wird im Artikel 60 also ausgedrückt:,, Keine Bestimmung dieser Konvention darf als Beschränkung oder Minderung eines der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden, die in den Gesetzen eines hohen vertragschließenden Teils oder einer anderen Vereinbarung, an der er beteiligt ist, festgelegt sind." Diese Erkenntnis des Sinns unserer Konvention schließt deren Deutung als ein Bukett frommer Wünsche oder wohlmeinender Vorschläge aus, aus denen sich die einzelnen Vertragsstaaten nach ihrem Ermessen oder gar Belieben sympathische Einrichtungen zu eigen machen und weniger sympathische entweder nur teilweise oder überhaupt nicht in ihren Rechtsordnungen zu verankern brauchen. Eine geschichtliche Warnung gegen eine solche Mißdeutung ist das Schicksal gewisser Minderheitenschutzverträge,

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die nach dem ersten Weltkriege, als Surrogat für die versagte staatliche Selbstbestimmung namentlich der nationalen Minderheiten, die Siegermächte gewissen gemischtnationalen Staaten auferlegt hatten. Die Frage, wie Österreich den aus der Menschenrechtskonvention sich ergebenden Vertragspflichten gerecht werden kann, hat Rechtsanwalt Dr. Viktor Engelmann in seinem im Jahrbuch 1959 veröffentlichten Beitrag über die Bedeutung der Europäischen Konvention für die Wirtschaft grundsätzlich beantwortet, ist aber außerdem seit dem Inkrafttreten dieser Konvention für Österreich - dem 3. September 1958 - in einer Reihe von Abhandlungen untersucht worden, aus deren Fülle an dieser Stelle bloß in alphabetischer Reihenfolge die Stellungnahme von Professor Felix Ermacora (Juristische Blätter, Heft 15/16/1959), Universitätsdozent Dr. René Marcie (Wissenschaft und Weltbild, Dezember 1958) und Professor Dr. Helfried Pfeifer (Festschrift für Gottfried K. Hugelmann, 1959) genannt seien. Die juristischen Grundlagen zur Beurteilung der vorliegenden Rechtsfrage sind namentlich dem Völkerrecht von Alfred Verdroß, 4. Aufl. 1959, sowie der Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft desselben Verfassers, sodann dem Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechtes von Adamovich-Spanner, 5. Aufl. 1957, zu entnehmen. Unter Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Rechtsauffassungen, die den Rahmen und die Zweckbestimmung des vorliegenden Jahrbuchs sprengen würde, darf ich meinen aus meinen literarisch vielfach vertretenen Grundanschauungen gefolgerten Rechtsstandpunkt kurz also zusammenfassen: Bundesgesetze und die im Art. 50 des B-VG bezeichneten Staatsverträge erlangen innerstaatlich verbindende Kraft, wenn nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, nach Ablauf des Tages, an dem das Stück des Bundesgesetzblattes, das die Kundmachung enthält, herausgegeben und versendet wird (Art. 49 B-VG). Als „politischer" Staatsvertrag bedurfte die Konvention nach Art. 50 Abs. 1 B-VG zu ihrer Gültigkeit der Genehmigung durch den Nationalrat. Nach der Feststellung im Ratifikationstext zum Staatsvertrage (BGBl. Nr. 210, S. 1956) hat der Staats vertrag ,,die verfassungsmäßige Genehmigung des Nationalrates erhalten". Da der Staatsvertrag inhaltlich nicht mit bestehenden Verfassungsbestimmungen, nämlich mit dem durch Art. 149 B-VG als Verfassungsrechtsquelle anerkannten Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger übereinstimmt, im logischen Sinn demnach auf eine Änderung dieses Staatsgrundgesetzes hinausläuft,

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bedurfte der Beschluß des Nationalrats, mittels dessen die Genehmigung des Staatsvertrages ausgesprochen worden ist, der erschwerenden Erfordernisse gemäß Art. 44 Abs. 1 des B-VG. Diese Erfordernisse eines erhöhten Anwesenheits- und Zustimmungsquorums waren bei der Genehmigung des Staatsvertrages erfüllt, was sich aus der, mit den Unterschriften des Bundespräsidenten und sämtlicher Mitglieder der Bundesregierung versehenen, eine rechtliche Präsumption der Richtigkeit begründenden Feststellung der Ratifikationsklausel und außerdem aus den stenographischen Protokollen des Nationalrates ergibt (459 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen der VIII. Gesetzgebungsperiode). Die gegenwärtige Zusammensetzung des Nationalrates macht übrigens die unterschiedlichen Mehrheitserfordernisse für einfache Gesetze und Verfassungsgesetze, bzw. Verfassungsbestimmungen und verfassungsändernde Staatsverträge praktisch bedeutungslos, da die bloße Zustimmung der größeren Koalitionspartei für sich allein zur Inkraftsetzung eines einfachen Gesetzes nicht genügen würde, dagegen die Zustimmung beider Parlamentsfraktionen der Koalitionsparteien auch für die Verabschiedung eines verfassungskräftigen Willensaktes genügt. Die ausdrückliche Feststellung der Erfüllung der besonderen Erfordernisse einer Verfassungsrechtsquelle ist umso eher rechtlich belanglos, als selbst inhaltliche Mängel der Gesetzgebung, wie etwa die Verletzung der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern die Gültigkeit und Anwendbarkeit eines derart fehlerhaften Gesetzes bis zu dessen Außerkraftsetzung durch ein abänderndes Gesetz oder ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nicht ausschließt. Der vom Nationalrat genehmigte Staatsvertrag hat also die rechtliche Kraft, geltendes Verfassungsrecht unmittelbar, d.h. ohne das Hinzutreten eines Verfassungsgesetzes, das das Ergebnis der beabsichtigten und erfolgten Änderung ausdrücklich feststellen würde, zu ändern. Ein ergänzendes Gesetz und zwar ein Verfassungsgesetz kann nur zu dem Zwecke logisch und rechtspolitisch erforderlich werden, um die durch das Inkrafttreten des Staatsvertrages unmittelbar bewirkten Rechtsänderungen eindeutig klarzustellen. Eine solche, sogenannte „authentische Interpretation" des Staatsvertrages durch Gesetz kann dadurch sinnvoll und im Dienst einer einwandfreien Anwendung des Staats Vertrages durch die staatlichen Behörden und Befolgung des Staatsvertrages durch die Untertanen unvermeidlich werden, daß der international festgelegte Vertragstext, auf dessen Fassung der nachträglich beitretende Staat keinen Einfluß nehmen konnte, nicht auf das

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innerstaatliche Recht des neuen Vertragspartners abgestimmt ist. Hiedurch kann es insbesondere fraglich werden, ob zwischen den staatsvertragsmäßig festgelegten und in einer innerstaatlichen Rechtsquelle enthaltenen rechtlichen Entscheidungen bloß ein sprachlicher oder auch ein sachlicher und im besonderen welcher sachliche Unterschied besteht. Inhaltliche Differenzen zwischen den in der Europäischen Konvention umschriebenen Menschenrechten und Grundfreiheiten einerseits und den in der innerstaatlichen österreichischen Rechtsordnung verankerten Menschen- und Bürgerrechten in der Fassung der grundlegenden österreichischen Rechtsquelle, den sogenannten „allgemeinen Rechten der Staatsbürger", die aber nach der Auslegung der Wissenschaft und der Rechtsprechung zum Teile auch Rechte jeder natürlichen Person sind, werden von niemandem ernstlich bestritten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen nur bezüglich des Ausmaßes dieser Abweichungen. Bleiben die Anforderungen der Europäischen Konvention hinter dem durch die autonome Gesetzgebung erreichten Ausmaß des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zurück, so ist die Konventionsnorm unerheblich und bleibt die innerstaatliche Rechtslage unverändert. Bietet dagegen die Konvention einen weitergehenden Rechtsschutz der Persönlichkeit als sich aus der bisherigen innerstaatlichen Regelung ergibt, so ist diese mit dem innerstaatlichen Inkrafttreten der Konvention unmittelbar in dem Sinne abgeändert, der sich aus der Konvention ergibt, und der in der Folge durch authentische innerstaatliche Interpretation bona fide festgestellt wird. Der Schutz des Menschen wird gegenüber dem Staat im Sinne der Gesamtheit der Träger von Befehls- und Zwangskompetenz - namentlich also gegenüber Bund, Ländern und Gemeinden - nicht jedoch mit unmittelbarer Wirkung gegenüber privaten Personen verstärkt. Aus dem Text der Konvention ist im Zweifel auch nicht eine Verpflichtung der zuständigen Staatsorgane, im besonderen der Gesetzgebung zu entnehmen, entsprechende Schutzbestimmungen wie sie dem Staate auferlegt sind, auch zu Lasten des Privaten zu begründen. Eine zwingende rechtspolitische Folgerung der erhöhten und mit völkerrechtlichen Garantien versehenen Rücksicht der politischen Gemeinschaft auf den Menschen wäre freilich erhöhte Anforderungen an den Einzelmenschen zur Rücksicht und zum Dienst für den Nächsten. Dieser Gedanke entspricht auch einer individualistischen Staatsauffassung, namentlich Immanuel Kants Deutung und Rechtfertigung des

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Staates als eines Mittels der Bedrohung der Freiheit durch den egoistischen Einzelmenschen: Die Verwirklichung dieses Gedankens bleibt freilich vom Standpunkt des Völkerrechts dem Belieben des Einzelstaates überlassen. Die juristischen Gründe für eine Rechtsauffassung, wonach die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Gesamtheit für Österreich innerstaatlich erst durch einen Akt der Bundesgesetzgebung rechtswirksam werde, erscheinen mir sonach nicht überzeugend. Gemäß Art. 49 Abs. 1 B-VG beginnt die verbindende Kraft der Bundesgesetze sowie der politischen Staatsverträge und der Staats Verträge, die gesetzändernden Inhalt haben, ,,wenn nicht ausdrücklich anderes bestimmt ist, nach Ablauf des Tages, an dem das Stück des Bundesgesetzblattes, das die Kundmachung enthält, herausgegeben und versendet wird". Unter der verbindenden Kraft ist, was sich aus der Gleichstellung mit den Bundesgesetzen ergibt, die innerstaatliche Verbindlichkeit, das heißt also im besonderen, die Verbindlichkeit nicht bloß für sämtliche oder bestimmte Staatsorgane, sondern für sämtliche Rechtsunterworfene, zu verstehen. Eine Ausnahme von dieser Regel ist nur für jene Fälle anzunehmen, wo sich der Vertragstext auf bloße Programme oder Empfehlungen an die Adresse der Vertragsstaaten beschränkt. Eine von der Theorie, so namentlich vom Kommentar zum Bundesverfassungsgesetz von Kelsen-Froehlich-Merkl, 1922, S. 133 ff. und von der Praxis abweichende Rechtsauffassung scheint mir insbesondere auch durch den Text der Konvention nicht gefordert zu sein. Als ein eine Vielzahl von Staaten erfassender Kollektivvertrag verhält sich die Konvention zu den verschiedenen und wechselnden Methoden der innerstaatlichen Inkraftsetzung ihrer völkerrechtlichen Anordnungen neutral und fordert sie bloß, daß ihre Anordnungen binnen einer angemessenen Frist nach Eintritt der völkerrechtlichen Verbindlichkeit innerstaatlich wirksam werden. Wenn gegen eine Pauschalrezeption des Vertragsinhaltes durch das innerstaatliche Recht sachliche Bedenken bestehen, so hätte von der Möglichkeit von Vorbehalten gegenüber dem Vertragstext gemäß Art. 64 reichlicher Gebrauch gemacht werden können. Im übrigen hätte es sich empfohlen, das innerstaatliche Durchführungsgesetz, das unter der Voraussetzung der unmittelbaren innerstaatlichen Verbindlichkeit des ratifizierten und kundgemachten Staatsvertrages bloß deklarative Bedeutung haben kann, zugleich mit dem Staatsvertrage zu verlautbaren. (In der Deutschen Bundesrepublik ist das dem Staatsvertrage korrespondierende Bundesgesetz schon vor der völkerrechtlichen Konvention, am 22. August 1952 verkündet worden.) Ein längerer zeitlicher

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Abstand zwischen der Kundmachung der Konvention und des nach der einen hier vertretenen Auffassung der bloßen authentischen Auslegung, nach der anderen jedoch ihrer innerstaatlichen Inkraftsetzung dienenden Bundesverfassungsgesetzes könnte sogar bei unkundigen ausländischen Beurteilern den Schein erwecken, als ob Österreich gegenüber dem völkerrechtlichen Existenzminimum an Menschenrechten wesentlich im Rückstand wäre. Gerade weil Österreich dank seiner konstitutionellen Verfassung 1867 und dank seiner demokratischen Verfassung 1920 eine überdurchschnittliche Gestaltung der Menschenrechte schon längst sein Eigen nennt, sollten die Schwierigkeiten der unserer Rechtsüberlieferung entsprechenden unmittelbaren innerstaatlichen Wirksamkeit der Konvention nicht überschätzt werden.

Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung Einleitung Als Baugesetz einer Rechtsordnung ist der Inbegriff der Rechtseinrichtungen zu verstehen, die sich als wesenhafter Ausruck eines weltanschaulichen oder politischen Gedankenkreises darstellen. Die Eintrittspforte für Weltanschauungen ist jeder Weg der Staatswillensbildung, im einzelnen die Staatsverfassung, die Gesetzgebung, die Gerichtsbarkeit und die Verwaltung, die beiden zuletzt genannten Staatstätigkeiten, soweit sie dank dem ihnen eröffneten Ermessen frei schöpferisch tätig werden können. Mittler der Weltanschauung im Staatsbereich ist der den Staatswillen gestaltende Mensch, sei er nun Kodifikator, Richter oder Verwaltungsorgan. Bald tritt die Weltanschauung unmittelbar und amorph als bewußter oder unbewußter Bestimmgrund des Organhandelns in Erscheinung, bald mittelbar, gewissermaßen durch den Filter einer politischen Ideengruppe, eines geschlossenen Ideengebäudes, wie sie in der Geschichte der Neuzeit namentlich im Konservativismus, Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus geformt worden sind, endlich durch die geprägte Münze eines Parteiprogramms, das bestimmte, als besonders zugkräftig beurteilte Wertungen und Forderungen der einen oder anderen Weltanschauung, einer einzigen oder auch mehrerer politischer Ideengruppen, in Schlagworten zusammenfaßt. Freilich muß man sich hüten, sämtliche Staatseinrichtungen in das Prokrustesbett von Weltanschauungen zu bringen, oder sie auch nur als Niederschlag einer politischen Ideologie zu verstehen. Es bedarf kaum einer Begründung, daß die Wahl der Staats- und Regierungsform oder die rechtliche Ordnung der Ehe, der Familie, die

Die Republik Österreich - Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, in: Hans Klecatsky (Hrsg.). Wien: Herder 1968, S. 77-105.

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Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche und die grundsätzliche Einstellung zur Umwelt des Staates, zur Frage der Erlaubtheit des Krieges und der Erwünschtheit des Friedens, weltanschaulich bedingt sind, daß dagegen der Inhalt einer straßenpolizeilichen Verkehrsordnung oder Marktordnung völlig weltanschauungsfrei ist. Dazwischen gibt es einen breiten Bereich der staatlichen Rechtsordnung, der nur teilweise weltanschaulich bedingt, im übrigen aber an reinen Zweckmäßigkeitserwägungen ausgerichtet ist. Auch im Leben des Einzelmenschen sind bestimmte Verhaltensweisen Niederschlag der den Charakter dieses Menschen bestimmenden Weltanschauung, andere Verhaltensweisen dagegen völlig ideologiefreie Reaktionen auf äußere Einflüsse oder freie Willensregungen. Bloß in dem Grenzfall der einherrschaftlichen Staatswillensbildung oder der Herrschaft einer weltanschaulich gleichgerichteten privilegierten Schichte kann das Staatsleben weltanschaulich einheitlich sein. Die gegliederte Staatswillensbildung, wie sie schon der beschränkten, sei es der ständischen, konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie und um so mehr den verschiedenen Erscheinungsformen der Republik eigentümlich ist, macht dagegen infolge der weltanschaulichen Buntheit der Gesellschaft eines modernen Staates alle lebenden Weltanschauungen auch für das Staatsleben aktuell. Außer der spezifischen Ideologie der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums, der Bauernschaft, der Arbeiterschaft, außer den besonderen aber noch typischen Denk- und Verhaltensweisen der die Staatsgesellschaft bildenden religiösen und nationalen (ethnischen) Gruppen, kommt mit zunehmender Demokratie und Dezentralisation der staatlichen Willensbildung die Vielfalt der in den einzelnen am Staatsleben mitwirkenden Menschen, wirksamen Weltanschauungen und Parteirichtungen zum Durchbruch. Je bunter die in einem Volke herrschenden Weltanschauungen und politischen Gedankenrichtungen sind, um so mehr wird sich die Staatsordnung bei einer demokratischen Willensbildung als Mischung verschiedenartiger, ja gegensätzlicher geistiger Bestimmungsgründe darstellen; Mischung in dem Sinne, daß die eine Einrichtung der einen, eine andere Einrichtung einer anderen idealen Forderung entspricht; Mischung aber auch in der Weise, daß ein demokratischer Kompromiß ein und dieselbe Einrichtung aus mehreren

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Ideologien speist, wie es z.B. nicht selten bei der zugleich individualistischen und kollektivistischen Gestaltung des Eigentumsrechtes und Erbrechtes der Fall ist. Ein Nebeneinander geistiger Wurzeln ergibt sich aber in vielen Rechtsordnungen auch daraus, daß bei der Aufeinanderfolge verschiedener Herrschaftssysteme, besonders im Falle eines revolutionären Umbruches, die tragbaren Rechtserzeugnisse des Vorgängers vom Rechtsnachfolger einstweilen übernommen und späterhin nur schrittweise ausgewechselt werden. Nennt man die in einer Weltanschauung und in einer politischen Grundordnung vorgebildeten Staatseinrichtungen ein politisches und rechtliches Baugesetz oder einen Baustil, so ist das Ergebnis eine Mischung der Baustile einer einzelnen Staatsordnung, das ungefähr der Tatsache vergleichbar ist, als ob ein Gebäude teilweise dem romanischen, gotischen und dem Barockstil folgen würde. In der Staatskonstruktion ist Stilreinheit am allerwenigsten ein Ideal, und an den Erfindungen der Staatstechnik gibt es kein Plagiat. So erklärt es sich, daß sich in der Mehrzahl der heutigen Staatsverfassungen Erfindungen der amerikanischen und französischen Revolution mit überkommenen nationalen Einrichtungen verbunden haben. Der Vielzahl weltanschaulicher und politischer Denk- und Willensmöglichkeiten entspricht in den geschichtlichen und gegenwärtigen Staatsverfassungen eine Mehrzahl von Baugesetzen. Als solche bezeichnen wir die denkbaren und die geschichtlich verwirklichten Möglichkeiten, die Staatseinrichtungen ihrer Form und ihrem Inhalt nach rechtlich zu gestalten. Bei dieser Sinngebung eines politischen und eines rechtlichen Baugesetzes stellen sich als Baugesetze der Bundesverfassung der Republik Österreich der demokratische oder, in verdeutschter Ausdrucksweise, volksherrschaftliche, der liberale oder, in verdeutschter Ausdrucksweise, freiheitliche und der föderalistische, in verdeutschter Ausdrucksweise, bundesstaatliche Grundsatz dar. Diese Mehrzahl von Baugesetzen erklärt sich aus der Vielfältigkeit der weltanschaulichen und politischen Auffassungen, die innerhalb der Staatsgesellschaft eines modernen Kulturstaates anzutreffen sind und nach Maßgabe der Verteilung und der Wirkungsmöglichkeit dieser politischen Ideale innerhalb der politisch berechtigten Bevölkerung den Inhalt der Staatsverfassung bestimmen können. Der freiheitliche Grundzug der öster29 A.J. Merkl

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reichischen Staatsverfassung bringt es mit sich, daß die verschiedenen im Staatsvolk ausgebildeten und verwurzelten politischen Ideale gemäß dem Gewicht und der Stoßkraft der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen den Inhalt der Staatsverfassung gestalten. Der Geist und die Kraft der an der Verfassungsgebung mitwirkenden Gesellschaftsgruppen, im besonderen der politischen Parteien und der von diesen zu ihrer Repräsentation berufenen Führerpersönlichkeiten, bringen in Rede und Gegenrede und schließlich in einer rechtsverbindlichen Abstimmung den Gedankenbau in jene sprachliche Gestalt, der durch den Gesetzesbefehl den Charakter einer als Grundgesetz oder als Inbegriff von Staatsgrundgesetzen gültigen Staatsverfassung erhält. Im folgenden ist die Frage zu beantworten, in welchen österreichischen Verfassungseinrichtungen die einzelnen Baugesetze ihren Niederschlag gefunden haben und in welchem Ausmaß sie mit den anderen in der Staatsgesellschaft anzutreffenden Baugesetzen eine Verbindung eingegangen sind. L Das demokratische (volksherrschaftliche) Baugesetz Art. 1 B-VG lautet: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Das demokratische Gedankengut zieht sich sozusagen wie ein roter Faden durch das B-VG als die Verfassungsurkunde des Bundes, aber auch durch die sonstigen Verfassungsrechtsquellen, namentlich die Landesverfassungen und das übrige Recht. Die Rechtsentwicklung hat bekanntlich die politische Freiheit auf zwei Wegen von entgegengesetzter Bewegungsrichtung zu verwirklichen gesucht: durch Schrankenziehung zwischen dem einzelnen und dem Staat und durch die Besitznahme des Staates von Seite der willensfähigen Bürger. Die Rechtstechnik dieser beiden Wege zur politischen Freiheit ist völlig verschieden. Der geschichtlich ältere, bekanntlich schon in der Antike gefundene Weg ist die Beteiligung der Staatsbürger und zwar nur der männlichen erwachsenen Vollbürger an der Staatswillensbildung. Damit war die Demokratie als die eine Form des Freistaates entstanden. Die wichtigsten Staatsakte, nicht bloß die Gesetzgebung, sondern auch die Wahl der Magistrate, vereinzelt sogar die Entscheidung über Krieg und Frieden, und selbst wichtige

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Akte der Strafjustiz werden der Vollversammlung der Vollbürger vorbehalten. Die noch immer anzutreffende Höherbewertung dieser sogenannten unmittelbaren Demokratie im Vergleich mit den modernen Abschwächungen oder Brechungen der Demokratie ist allerdings ein doktrinäres Vorurteil. Die Freiheit der Vollbürger, die in ihrer Ermächtigung zur Staatswillensbildung gelegen ist, wird um den Preis der politischen Entrechtung der Personen geringeren Rechtes und einer, je reicher und mächtiger der Staat ist, um so größeren Schichte von Sklaven erkauft; und doch ist diese Volksherrschaft nur um einen Grad „unmittelbarer" als die moderne mittelbare Demokratie, denn auch diese unmittelbare Demokratie braucht für die Fülle der laufenden Staatsgseschäfte Kollegien und Einzelorgane, die das Volk repräsentieren. Man spricht also nur dank dem Umstände, daß ein Ausschnitt der wichtigsten Staatsgeschäfte der Versammlung der Vollbürger vorbehalten ist, von einer unmittelbaren Demokratie und vernachlässigt bei dieser Namensgebung und Begriffsbildung die große Masse der von Bevollmächtigten ausgeübten Staatsgeschäfte. Der grundsätzliche demokratische Mehrwert der Herrschaft der Volksversammlung im Vergleich mit jener einer Volksvertretung dürfte sich geschichtlich aus der Gegenüberstellung zu den alten Parlamentstypen erklären, die ihrer Bevölkerungsgrundlage nach Privilegienvertretungen gewesen sind. Mit der Erweiterung des Wahlrechtes auf die Summe der politisch als willensfähig zu beurteilenden Bürger, mit dem Kompetenzzuwachs der Parlamente und vollends mit der unmittelbaren Beteiligung des Volkes durch die Einrichtungen der Initiative, des Referendums und der Volkswahl des Staatsoberhauptes haben sich die vermeintlichen Vorzüge der unmittelbaren Demokratie ziemlich verflüchtigt; dies um so mehr, wenn die genannten plebiszitären Einrichtungen aus ihrer Verankerung in der Verfassung zum Leben erweckt werden und die Rücksicht auf die unmittelbare Äußerung des Volkswillens die Tätigkeit der Volksvertretungen in der Richtung beeinflußt, daß nur Beschlüsse gefaßt werden, die voraussichtlich durch die allfällige Abstimmung des Volkes bestätigt werden. Die Krücke der sogenannten Repräsentatividee schafft freilich in der parlamentarischen Demokratie die Tatsache nicht aus der Welt, daß im Parlamente nicht die Gesamtheit des politisch berechtigten Volkes, auch nicht dessen Mehrheit, sondern nur die Mehrheit der zur Beschlußfähigkeit genügenden jeweils anwesenden Mitglieder der Volksvertretung den Staatswillen bildet. In Wirklichkeit herrscht also in dieser mittelbaren Demokratie nur eine kleine Minderheit des Aktivvolkes, im Falle starker Herabminderung des Anwesenheitserfordernisses für Abstim-

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mungen des Vertretungskörpers sogar nur eine unverhältnismäßig kleine Minderheit der Volksvertretung; so wenn die österreichische Bundesverfassung für einfache Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates die Anwesenheit eines Drittels der Mitglieder und die Zustimmung der einfachen Mehrheit der jeweils anwesenden Mitglieder genügen läßt. Man kann infolge des Repräsentativsystems, des Quorums und des Mehrheitsprinzipes die landläufige parlamentarische Demokratie geradezu als die moderne Form der Aristokratie bezeichnen. Freilich ist sie eine Aristokratie, in der ein System von demokratischen Kontrollen und liberale Gegengewichte den Gesamteindruck erlauben, daß ein System der politischen Freiheit bestehe. Im geschichtlichen Ergebnis werden die rechtlichen Unzulänglichkeiten der parlamentarischen Demokratie mehr oder weniger ausgeglichen und unschädlich gemacht, wenn im Volke eine lebendige demokratische Überlieferung und wenn außerdem ein festgefügter traditionsreicher Parteiapparat besteht, der über alle Parteigegensätze hinweg darin einig ist, die Demokratie bestehen und leben zu lassen. Die staatsrechtliche Rolle der politischen Parteien ist die eines Subjektes und Objektes von politischen Wahlen. Schon in der konstitutionellen Monarchie und um so mehr in der demokratischen Republik besteht die Aufgabe dieser sogenannten Wahlparteien darin, Personen namhaft zu machen, die kraft der Stimmgebung von Seite der wahlrechtlich legitimierten Wählergruppen die Funktion von Mitgliedern allgemeiner Vertretungskörper im Reich bzw. Bund, in den Ländern und in den Gemeinden erlangen. Durch die rechtliche Gestaltung des Wahlrechts, im besonderen durch die Entscheidung für bestimmte Wahlsysteme, entscheidet die Verfassung und in deren Rahmen die für den betreffenden Vertretungskörper maßgebende Wahlordnung sachlich über die mit dem Programmsatz des Art. 1 des B-VG „Österreich ist eine demokratische Republik" bloß deklaratorisch verkündete demokratische Staatsform und gibt sie zugleich den politischen Parteien verbindliche Richtlinien für die Aufstellung der Wahlkandidaten. Das Wahlsystem wird vom Art. 26 (1) B-VG für den Nationalrat und in Art. 95 (1) und Art. 117 (2) B-VG auch für die anderen allgemeinen Vertretungskörper der Länder und Gemeinden durch die zwingende Vorschrift des gleichen, unmittelbaren, geheimen, persönlichen Verhältniswahlrechtes der männlichen und weiblichen Staatsbürger, die ein bestimmtes Lebensjahr

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vollendet haben, festgelegt. Ergänzend wird das Wahlsystem noch durch die Vorschrift des Art. 26 (6) gekennzeichnet, derzufolge zur Durchführung und Leitung der Wahlen zum Nationalrat, der Wahl des Bundespräsidenten und von Volksabstimmungen sowie zur Mitwirkung bei der Überprüfung von Volksbegehren Wahlbehörden zu bestellen sind, denen als stimmberechtigte Beisitzer Vertreter der wahlwerbenden Parteien anzugehören haben. Durch diese Rahmenvorschrift für die Zusammensetzung der Wahlbehörden ist das durch den Gegensatz zum Einparteienstaat für das Wahlrecht des „westlichen Staatstypus" kennzeichnende Mehrparteiensystem festgelegt. Einzelne Eigenschaften des politischen Wahlrechts werden außer der Festsetzung durch das autonome österreichische Verfassungsrecht noch durch eine mit den Formen eines verfassungsändernden Staatsvertrages in Kraft gesetzte Bestimmung des Staatsvertrages von Wien vom 15. Mai 1955, BGBl. Nr. 152, gesichert und auf diesem Weg mit erhöhter Bestandsgarantie ausgestattet, indem nur mit vertragsförmiger Zustimmung der vier Vertragspartner Österreichs, nämlich der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland, der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Frankreichs der Republik Österreich eine Änderung dieser wahlrechtlichen Grundsatzbestimmungen erlaubt ist. Artikel 8 des Staatsvertrages ordnet unter dem Titel: „Demokratische Einrichtungen" an: „Österreich wird eine demokratische, auf geheime Wahlen gegründete Regierung haben, und verbürgt allen Staatsbürgern ein freies, gleiches und allgemeines Wahlrecht sowie das Recht, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Sprache, Religion oder politischer Meinung zu einem öffentlichen Amte gewählt zu werden." Hiemit haben die Systeme des allgemeinen und des gleichen, des freien und des geheimen Wahlrechtes staatsvertragsförmige Garantie erhalten, dagegen nicht die in Art. 26 B-VG statuierten Wahlsysteme des unmittelbaren und Verhältniswahlrechtes. Mit der staatsvertragsförmigen Anordnung des freien Wahlrechtes ist das verfassungsgesetzlich nur zufällig und rechtstechnisch unbefriedigend normierte System des freien Wettbewerbs von Wahlparteien mit verfassungsrechtlicher Kraft normiert. Die Vertragspartner Österreichs einschließlich der Sowjetunion haben sonach nicht bloß im Artikel 1 des Staatsvertrages anerkannt, daß mit dem Inkrafttreten des Vertrages die Republik Österreich als souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt ist, und damit die dem westlichen Staatsdenken entsprechende Begriffsbestimmung der Demokratie für die Auslegung des Staats-

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Vertrages als maßgeblich erklärt, sondern überdies Österreich verpflichtet, das System des freien Wahlrechts und damit der politischen Koalitionsfreiheit der Wähler zum Unterschied von dem System der staatlichen Zulassung der politischen Parteien dauernd aufrecht zu erhalten. Das tagespolitische und wissenschaftliche Schrifttum hat, abgesehen von meinem Kurzbericht in „Österreichs Wirtschaft" vom 5. März 1962, Seite 20 ff., bisher kaum beachtet, daß mit dem Artikel 8 im Zusammenhalt mit dem Artikel 6 des Staatsvertrages nicht nur die westlichen Vertragspartner, sondern auch die Sowjetunion die Beibehaltung der mit dem Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 angenommenen „bürgerlichen" Demokratie zur Pflicht gemacht und deren Umwandlung in eine sogenannte Volksdemokratie verboten haben. Mit der verfassungsgesetzlichen Entscheidung zugunsten des Verhältniswahlsystems ist den geschichtlich überkommenen politischen Parteien eine tatsächliche Vorzugsstellung in der Bewerbung um die Wählerstimmen eingeräumt, dagegen der Initiative der Wähler im Vergleiche mit der Wahl einzelner Kandidaten auf Grund örtlicher Vorschläge nur geringe Erfolgsaussicht gegeben. Soziologisch gesehen hat der Wahlberechtigte praktisch nur die Möglichkeit, sich für Parteien und nicht Personen seines Vertrauens zu entscheiden. Dadurch erlangen das im Parteirat beschlossene Parteiprogramm und die situationsbedingte Auslegung durch die Parteipresse und die Parteiredner für das Wahlergebnis entscheidende Bedeutung. Das Parteiprogramm ist gewissermaßen ein innerhalb des Ermessens der staatlichen Rechtsquellen festgelegtes und zur Entscheidung des Wählers gestelltes Regulativ für den Gebrauch der staatlichen Kompetenzen in den einzelnen Funktionsbereichen, dagegen bietet es wenig Variationsmöglichkeiten in örtlicher Hinsicht. Die Zuständigkeit des Nationalrates und des Bundesrates zur Ausübung der Gesetzgebung des Bundes (Art. 24) empfängt durch die im Art. 26 B-VG in den Grundsätzen geregelte Rechtsstellung des Nationalrates sowie die in den Art. 34 ff. geregelte Rechtsstellung des Bundesrates ihre betont demokratische Bedeutung. Art. 26 regelt nämlich das Wahlrecht für die Volkskammer des Bundesparlamentes in seinen Grundsätzen in einer Weise, daß wohl das annähernde Höchstmaß an demokratischem Charakter des Volkshauses des Bundesparlamentes erreicht ist. Ausdrücklich wird das gleiche, unmittelbare, geheime und persönliche Wahlrecht der Männer und Frauen, die ein bestimmtes Lebensjahr vollendet haben, und außerdem das Verhält-

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niswahlrecht vorgeschrieben. Die Allgemeinheit des Wahlrechtes als die herkömmliche erste Voraussetzung eines demokratischen Wahlrechtes wird durch die Vorschrift über das Wahlalter und durch die Regelung der Ausschließungsgründe herbeigeführt. Die Ausschließung vom Wahlrecht und von der Wählbarkeit kann nämlich nur die Folge einer gerichtlichen Verurteilung oder Verfügung sein, wobei das grundsätzliche Bekenntnis zur Demokratie im Art. 1 B-VG oberster Bestimmungsgrund für die einfachgesetzliche Regelung der Ausschließungsgründe ist (Art. 26 Abs. 5). Die Ermöglichung der landesgesetzlichen Anordnungen der Wahlpflicht für die Nationalratswahlen bedeutet an sich weder eine Minderung noch eine Steigerung des demokratischen Charakters des Wahlrechtes. Die obligatorische Anordnung des Verhältniswahlrechtes dagegen muß grundsätzlich als der Idee der Demokratie entsprechender erachtet werden als das Mehrheitswahlsystem, weil es dem demokratischen Grundsatze des Schutzes der politischen Minderheit im allgemeinen besser entspricht als das Mehrheitswahlsystem. Dabei muß freilich die geschichtlich bedingte Rolle des Mehrheitswahlsystems, in besonderen Lagen die Aktionsfähigkeit der Volksvertretung zu sichern, oft auch erst zu ermöglichen, anerkannt werden, wobei nun freilich der politische Vorteil einer staatspolitisch reibungslosen Funktion der Volksvertretung um den Preis einer grundsätzlichen gewissermaßen theoretischen Verschlechterung des Wahlrechtes erkauft wird, der jedenfalls im Verzichte auf die verhältnismäßige Vertretung aller politischen Richtungen im Volkshause gelegen ist. Die Grundsatzbestimmungen über die Wahlkreiseinteilung wahren die Grundforderung der Gleichheit des Wahlrechtes durch die Vorschrift, daß die Zahl der Abgeordneten auf die Wahlberechtigten eines Wahlkreises im Verhältnis der Bürgerzahl der Wahlkreise zu verteilen ist. Der demokratische Grundzug des Wahlrechtes wird indes bei einer Einteilung der gesamten Wählerschaft in eine Mehrzahl von Wahlkreisen nur dadurch gewahrt, daß nach dem Ergebnis der jeweils letzten Volkszählung die auf die einzelnen Wahlkreise entfallende Mandatszahl neu festzusetzen ist. Die Bindung der Wählbarkeit an ein höheres Wahlalter entspricht völlig den demokratischen Grundsätzen, daß für jede staatliche Funktion die typische durchschnittliche persönliche Voraussetzung erfüllt sein muß. Die Erfahrung der Einparteienstaaten hat die grundlegende Bedeutung des Mehrparteiensystems als Voraussetzung eines demokratischen Wahl-

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rechtes voll bewußt gemacht. Eine echte Volksvertretung soll ein Spiegelbild der politischen Strömungen im Volksganzen sein; dies ist sie aber nur unter der Voraussetzung, daß nicht auf Grund eines Aktes der Staatsführung, sondern auf Grund ungehemmter Willensbildung im Volksganzen verschiedene politische Gruppen um die Vertretung im Parlament konkurrieren können. Von einer echten Konkurrenz der vorhandenen politischen Strömungen kann aber nur dann gesprochen werden, wenn diese Strömungen durch Willensakte aus der Mitte der Wählerschaft und nicht durch einen Willensakt der Staatsführung in den Wettbewerb um die Parlamentssitze eintreten. Das B-VG trägt dem - in Anbetracht des Entstehungsjahres 1920 dieser demokratischen Forderung nicht voll bewußt und daher rechtstechnisch nicht ganz zufriedenstellend - durch die mehr zufällige Bestimmung Rechnung, daß den Wahlbehörden als stimmberechtigte Beisitzer Vertreter der ,,wahlwerbenden Parteien" anzugehören haben und daß die in der Wahlordnung festzusetzende Anzahl der Beisitzer von den wahlwerbenden Parteien nach ihrer bei der letzten Wahl festgestellten Stärke aufzuteilen ist. Hiedurch ist nur mittelbar die Möglichkeit und nicht einmal rechtliche Notwendigkeit einer Mehrzahl von Parteien begründet, jedoch von Verfassungs wegen nicht die Möglichkeit gesichert, daß aus der Mitte der Wählerschaft bestimmte Gruppen sich um ein Mandat zum Nationalrat bewerben können. Die einschlägigen Bestimmungen der Wahlordnung, eines einfachen Gesetzes, die die verfassungsrechtliche Möglichkeit des auf Volksinitiative beruhenden Mehrparteiensystems verwirklichen, liegen aber gänzlich in der Richtung des in Art. 1 B-VG begründeten Grundsatzes der Demokratie, wogegen die einfachgesetzliche Beschränkung der Parteienkonkurrenz oder die Einrichtung, daß die Behörde letztlich zu entscheiden hat, welche Gruppen der Bevölkerung in die Wahlbewerbung eintreten können, eine Verletzung des Art. 1 B-VG bedeuten würde. Die Bestimmung der Wahlperiode von 4 Jahren (Art. 27) und die Sicherung der Kontinuität des parlamentarischen Betriebes, die durch die Vorschrift des Zusammentretens des neu gewählten Nationalrates am Tage nach dem Ablauf des 4. Jahres der Gesetzgebungsperiode gegeben ist, entsprechen dem demokratischen Erfordernis einer Volksvertretung, die als Spiegelbild der Mehrheitsmeinung des Volkes gelten kann. Das Recht eines Drittels der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates, eine außerordentliche Tagung des Nationalrates herbeizuführen (Art. 28 Abs. 2), ferner das Recht eines Viertels der Mitglieder des Natio-

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nalrates (Art. 28 Abs. 5), eine Sitzung während der Tagung binnen fünf Tagen herbeizuführen, sind grundsätzlich bedeutungsvolle Einrichtungen des Schutzes parteimäßiger Minderheiten, denen durch die Unentziehbarkeit des parlamentarischen Forums der typisch demokratische Einfluß auf das Funktionieren parlamentarischer Vertretungskörper gewährt ist. Die Möglichkeit der Auflösung des Nationalrates (Art. 29), und zwar Selbstauflösung durch einfaches Gesetz und Auflösung von Seite des Bundespräsidenten, erfüllt ebenfalls die demokratische Forderung, daß die Volksvertretung nur Repräsentant des durch das demokratische Prinzip zur Entscheidung berufenen Volkes ist. Die Ordnung des Bundesrates ist außer auf den Grundsatz der Volksherrschaft auch auf den Grundsatz der föderalistischen Willensbildung ausgerichtet. Daher entspricht die Zusammensetzung des Bundesrates aus Abgeordneten der Bundesländer nicht rein dem demokratischen Grundsatz einer der Bevölkerungszahl gemäßen Vertretung, sondern das Gewicht der kleinen Bundesländer ist über den bevölkerungsmäßigen Anteil an der Bundesgesetzgebung und Verwaltung hinaus gesteigert (Art. 34). Das kommt darin zum Ausdruck, daß die Zahl der Vertreter der einzelnen Bundesländer zwischen 12 und 3 Mitgliedern im Bundesrat abgestuft ist, und daß jedes Bundesland ohne Rücksicht auf seine Bewohner- und Bürgerzahl wenigstens durch 3 Mitglieder vertreten ist. Eine demokratische Bedeutung hat auch die Sicherung der Kontinuität des Bundesrates, die darin besteht, daß die von den Landtagen gewählten Mitglieder des Bundesrates bis zur Neuwahl der Vertretung im Bundesrat durch den neuen Landtag bestehen bleibt. Der arithmetische Gleichheitsgrundsatz äußert sich bloß im halbjährlichen Wechseln der Bundesländer im Vorsitz (Art. 36). Die Bestimmungen über die Beschlußfassung des Nationalrates (Art. 31) und des Bundesrates (Art. 37) halten zwar am demokratischen Mehrheitsgrundsatz fest, doch ist die Regelung der Quoren von grundsätzlich einem Drittel der Mitglieder unter Umständen bereits eine Abbiegung des Mehrheitsgrundsatzes in eine Minderheitsherrschaft. Eine als solche kaum gewürdigte demokratische Bedeutung hat der Wirkungskreis der Bundesversammlung (Art. 38). Wenn die Beschlußfassung über die Kriegserklärung, die im übrigen durch die Neutralität Öster-

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reichs eine wesentliche Erschwerung erfahren hat, der Bundesversammlung vorbehalten ist, so hat dies den Zweck, die Entscheidung über Krieg und Frieden einem Einzelorgan zu entziehen und einem Kollegium, das sich sowohl als Vertretung des Bundes als auch der Länder darstellt, vorzubehalten. Eine derartige Zuständigkeit ist geradezu dafür geschaffen, nicht in Anspruch genommen zu werden. So bedeutet der Art. 38 eine sinnfällige Bekundung des Friedenswillens der Republik. Der Weg der Bundesgesetzgebung (Art. 41-49) hat auch einen betont demokratischen Charakter. Beachtlich ist besonders, daß die Entscheidung über das ,,Ob" und den ,,Inhalt4' eines Bundesgesetzes grundsätzlich beim Nationalrat gelegen ist. Besonders gilt dies von der Sicherung des Bestandes der Bundesverfassung, wonach jede Gesamtänderung an das Erfordernis der Zustimmung des gesamten Bundesvolkes gebunden ist (Art. 44). Die Rolle des Bundesvolkes im Zuge der Bundesgesetzgebung wird noch dadurch unterstrichen, daß der persönliche Anteil von höchsten Bundesorganen durch kein Einzelorgan in Frage gestellt ist, denn der Anteil des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt im Zuge der Bundesgesetzgebung beschränkt sich auf das formelle Erfordernis der Beurkundung jedweden rechtswissenschaftlich einwandfreien Gesetzesbeschlusses. Der Anteil der parlamentarischen Kammern an der Vollziehung des Bundes (Art. 50-55) macht die Verfassung zu einer betont parlamentarischen Demokratie. Dies gilt besonders von dem streng gefaßten Haushaltsrecht des Nationalrates und den Vorkehrungen gegen Budgetüberschreitungen. Die Einrichtung eines besonderen parlamentarischen Ausschusses (Hauptausschusses) zur Ausübung der Mitwirkungsrechte des Nationalrates an der Bundesverwaltung stempelt die Verfassung zu einer parlamentarischen Demokratie. Die der herkömmlichen Gestaltung entsprechende Regelung der parlamentarischen Immunität ist, mehr als notwendig, auf die Unverletzlichkeit der Parlamentsmitglieder bedacht. Es ist mehr, als man von einer Demokratie fordern kann, wenn die in der parlamentarischen Demokratie durch niemand gefährdeten Abgeordneten weit über die Rechtsstellung des gewöhnlichen Staatsbürgers hinaus vor behördlicher Verfolgung gesichert sind, denn sie sind ja zum Unterschied von der konstitutionellen Monarchie die eigentlichen Herrscher.

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Die Einrichtung der Bundespräsidentschaft mit ihrer über den ursprünglichen Verfassungsbau hinaus gediehenen Gestaltung der Republik als Präsidentschaftsrepublik bedeutet an sich weder eine Steigerung noch eine Minderung des demokratischen Gesamtbildes der Verfassung. Die österreichische Gestaltung der Bundespräsidentschaft, insbesondere die Volkswahl des Staatsoberhauptes nach einem mit der Wahlordnung des Nationalrates im wesentlichen übereinstimmenden Wahlrecht hat zur Folge, daß der Staatsbau gewissermaßen auf zwei vom Volk getragenen institutionellen Säulen ruht. Die Entscheidung des Wählers zwischen den wahlwerbenden Parteien fällt bekanntlich bei dem überwiegenden Stock stabiler Parteianhänger im Sinne einer bald rationell, bald instinktiv getroffenen und von Fall zu Fall festgehaltenen Entscheidung, bei einem fluktuierenden Teil der Altwähler und bei den Jungwählern nach teils subjektiv erarbeiteten, teils suggerierten Bestimmgründen. Ich muß leider bekennen, daß auch im Kulturstaat, dessen Stand der Volksbildung nicht zugleich eine Aussage über das Maß der politischen Bildung erlaubt, bei einem schicksalhaft großen Bestandteil der Wähler eine Zufallsentscheidung möglich ist, die sogar Monate, Wochen und Tage vor der Wahl nicht feststeht. Dieser Hinweis auf die Notwendigkeit politischer Bildung ist in Österreich als einem Staat mit demokratisch republikanischer Staatsform deshalb so wichtig, weil vom Grad der politischen Bildung das Maß der politischen Freiheit abhängt. Die politische Bildung ermöglicht ein entsprechendes Urteilsvermögen, und dieses ist zur Wahl der Volksvertreter notwendig, welche in den allgemeinen Vertretungskörpern jene Gesetze beschließen, die die Grundlage für das gesamte Handeln des Staates und im besonderen für die kulturelle Leistung des Staates bilden. In einer demokratischen Republik, wie sie Österreich ist, steht daher auch die Bildung im Dienste der Sicherung der politischen Freiheit. Die besondere Rechtstechnik, die der politischen Freiheit Inhalt und Halt gibt, ist der Rechtsstaat. In geschichtlicher Schau war der sogenannte Rechtsstaat das Mittel, das Volk gewissermaßen der politischen Sklaverei zu entwöhnen, ihm die politische Freiheit stückweise nahezubringen und sie immer mehr zu einem bejahten und begehrten Besitz zu machen. Die ungezählten und unzählbaren Begriffsbestimmungen des Rechtsstaates haben bloß die eine negative Eigenschaft gemeinsam, daß sie sich von

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den Staaten ohne Recht und von den Unrechtsstaaten unterscheiden wollen. Da aber selbst dieses allgemeinste Unterscheidungsmittel innerhalb der Staatenwelt in höchstem Maße unsicher, nämlich von rein subjektiven Bewertungen abhängig ist, ist selbst der Inhalt und Umfang dieses negativ umschriebenen und damit weitesten Rechtsstaatsbegriffes fraglich. Die Vorstellung des Staates ohne Recht ist durch die,,Reine Rechtslehre" Hans Kelsens entwurzelt worden, indem er nachgewiesen hat, daß jeder Staat mit einer Rechtsordnung ausgestattet ist, die freilich entweder durch die Weitmaschigkeit oder durch ihren ethisch oder naturrechtlich anfechtbaren Inhalt als Nichtrecht oder als Unrecht erscheint. Sogar ein Blankett von der Art, daß zu tun und zu lassen sei, was einem Staatsoberhaupt beliebt, ist der Ansatz einer Rechtsordnung, die freilich im Vergleich mit der inhaltlichen Fülle einer modernen staatlichen Rechtsordnung zurückbleibt und an Hand dieses geschichtlich nahegelegten Maßstabes zur Annahme eines,»Staates ohne Recht" führt. Die Unterscheidung der Rechtsstaaten von Staaten, denen wegen des ihnen eigentümlichen Unrechtes der Ehrentitel des Rechtsstaates versagt wird, ist kaum grundsätzlich zu bestimmen, sondern eine Entscheidung des persönlichen Geschmackes. Kaum ein zweiter Begriff der Rechtssprache trägt so die persönliche Note des Schriftstellers an sich, der sich dieses Sprachzeichens für einen unerhört wechselnden Denkinhalt bedient. Abgesehen von dem Begriff des Rechtsstaates im System der Reinen Rechtslehre, der mit dieser Kennzeichnung eine begriffsnotwendige Eigenschaft jedes Staates aussagt, haben die ungezählten Rechtsstaatsbegriffe nur das eine gemeinsam, daß sie das Staatsideal bestimmter Weltanschauungen, Parteiprogramme oder literarischer Richtungen als Rechtsstaat auszeichnen und unter diesem Titel der übrigen Staatenwelt gegenüberstellen. Immerhin lassen sich in der Fülle der Fassungen des Rechtsstaatsbegriffes einige besonders gebräuchliche Typen unterscheiden. Eine Gruppe von Rechtslehrern legt in den Begriff des Rechtsstaates die Summe der Rechtseinrichtungen, die das liberale und das demokratische Programm von einem Staate ihrer Ideale fordern. Bei dieser Sinngebung deckt sich der Rechtsstaat mit dem Inhalt eines Freistaates und Volksstaates. Andere Schriftsteller begnügen sich für die Kennzeichnung eines Staates als Rechtsstaat mit der Erfüllung des politischen Programms des Liberalismus und verzichten auf die besonderen Eigenschaften der Demokratie, so daß der Staat, der unter

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die Herrschaft von Gesetzen gestellt ist und wirksame Garantien für die Beobachtung der gesetzlichen Schranken bietet, unter den Begriff des Rechtsstaates fällt, auch wenn nicht, wie es in der konstitutionellen Monarchie der Fall ist, alle willensfähigen Bürger in gleicher Weise, unter Ausschluß bevorzugter Personen, an der Staatswillensbildung beteiligt sind. Eine dritte Gruppe von Schriftstellern begnügt sich mit einigen oder gar nur mit einem einzelnen Merkmal des liberalen oder des demokratischen Staates als Kennzeichnung des Rechtsstaates. Die Auslese der begriffsbildenden Merkmale wird hierbei in der Regel nicht nach den Grundsätzen einer rationellen Begriffsbildung, sondern im Hinblick auf eine bestimmte geschichtliche Lage mit der durchsichtigen Absicht getroffen, einen geschichtlichen Staat, der nicht die Merkmale der herkömmlichen Typen des Rechtsstaates erfüllt, auch als Rechtsstaat nachweisen zu können. Dieses Verfahren der Begriffsbildung ist logisch einwandfrei, denn die Begriffsbildung der Wissenschaft ist nicht eine Aufgabe, sondern ein Mittel der Erkenntnis. Die von der Wissenschaft erzeugten Begriffe, auch die rechtswissenschaftlichen Begriffe zum Unterschied von den dem Recht immanenten Begriffen, sind nicht als richtig oder unrichtig, wahr oder unwahr erweisbar, sondern bloß zweckmäßige oder unzweckmäßige Mittel der gedanklichen Erfassung und Ordnung der Rechtswirklichkeit. Der verbreitetste liberale Begriff des Rechtsstaates ist geschichtlich hauptsächlich in zwei Erscheinungsformen zutage getreten. Die ältere Erscheinungsform ist durch die Beschränkung der Staatszwecke auf die Aufstellung und Aufrechterhaltung einer Rechtsordnung als einer Friedensordnung, kurz gesagt durch den,,Rechtsbewahrungsstaat44 gekennzeichnet und wird literarisch besonders durch Kant und Humboldt repräsentiert. Der neuere, im wesentlichen bis heute vorherrschend gebliebene Rechtsstaatsbegriff wird durch die Beschränkung der Staatstätigkeit auf gesetzlich vorgesehene und soweit es sich um Eingriffe in Leben, Freiheit und Vermögen der Rechtsgenossen handelt, auch inhaltlich bestimmte Staatsaufgaben - welcher Art immer dem Gesetzgeber belieben - , gekennzeichnet und literarisch im deutschen Sprachbereich namentlich durch Mohl, Stahl, Gneist und Bähr repräsentiert. Es ist literargeschichtlich besonders bedeutsam, daß, von antiken Repräsentanten des Rechtsstaatsgedankens abgesehen, schon Martin Luther den Kantischen Gedanken erkennbar durch die Lehren vorweggenommen hat, daß es Zweck des Staates sei, den Frieden zu bewahren und das Recht zu behaupten; der repressive und damit zugleich

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limitierende Staatszweck kommt bei Luther in der nicht etwa kritisch gemeinten Titulierung der Fürsten als ,,Gottes Stockmeister und Henker" zum Ausdruck. Der demokratische Begriff des Rechtsstaates sieht ihn in der Herrschaft des Volkes, genauer in der Herrschaft der politisch willensfähigen Bürger erfüllt, sei es nun in der Weise, daß die Volksgemeinde oder die politisch Berechtigten in der Form der Gesetzesinitiative und des Referendums den Staatswillen bilden, oder daß eine Volksvertretung an Stelle des Volkes, wenn nicht ausschließlich, so doch an höchster Stelle bestimmt, was Rechtens ist. Statt durch Organe und Funktionen ausgedrückt, bedeutet der Rechtsstaat in demokratischer Sinngebung Herrschaft der formellen Gesetze, zumindest als höchster Stufe der Rechtsordnung, und zwar von Gesetzen, die in allgemeingültiger Gestalt zum Unterschied von der Anordnung für den Einzelfall bestimmen, was die natürlichen und die juristischen Personen, namentlich auch der Staat, zu tun und zu lassen haben. Die Erforderlichkeit des allgemein gefaßten Gesetzes drücken andere auch als Geltung des Gesetzesvorranges und Gesetzesvorbehaltes aus. In Anbetracht des Anspruches der Staaten, die trotz ausschließlicher Zulassung einer einzigen Partei zur Staatswillensbildung doch Volksherrschaften, ja sogar eine höhere Form derselben, nämlich „Volksdemokratien" sein wollen, wird jener demokratische Rechtsstaat oft noch durch das Begriffsmerkmal der Parteienkonkurrenz oder, was im Ergebnis auf dasselbe herauskommt, der politischen Koalitionsfreiheit und freien Parteibildung und Bewerbung um Stimmen und Mandate gekennzeichnet. Der engste und inhaltsreichste Rechtsbegriff des Rechtsstaates ergibt sich aus der Zusammenfassung des liberalen und demokratischen Ideengehaltes oder wenigstens des Kernes der beiden Rechtsstaatsbegriffe in einem einheitlichen Rechtsstaatsbegriff; einem Begriff, den man durch die Erwägung rechtfertigen kann, daß bloß die Demokratie die liberale Freiheit zu einem gesicherten Rechtsbesitz des gesamten Volkes mache, während diese Freiheit ohne demokratischen Gehalt der Verfassung bloß Vorbehalt einer privilegierten Volksgruppe sei und bei autokratischer oder aristokratischer Willensbildung von diesen Willensträgern beliebig widerrufen werden könnte. Von der anderen Seite wird dieser aus zwei politischen Ideologien zusammengesetzte Begriff des Rechtsstaates durch die Erwägung gerechtfertigt, daß die typischen liberalen Schrankenziehungen für den Staat die

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selbst in der Volksherrschaft einem fremden Willen unterworfene Minderheit vor der Möglichkeit einer Tyrannis der Mehrheit schützen. Positiv-rechtlichen Ausdruck findet die Idee des Rechtsstaates in Österreich im Art. 18(1) B-VG, der besagt: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden." Damit wird die in ihrem Ursprung und in ihrem unveränderten wesentlichen Inhalt liberale Rechtseinrichtung des Rechtsstaates mit einer demokratischen Note versehen. Österreich ist daher ein demokratischer Rechtsstaat, der auch deshalb als Gesetzesstaat bezeichnet wird, weil er durch den Vorrang der Gesetze gekennzeichnet ist. Gesetze im formellen und materiellen Sinn haben die Grundlage staatlicher Tätigkeit zu bilden. Wenn nun als Rechtsgrundlage der gesamten staatlichen Verwaltung nur Gesetze dienen können, dann ist die rechtlich gebundene Staatstätigkeit von freien Willensäußerungen der Volksvertretung abhängig gemacht, da im konstitutionellen Staat die Mitwirkung, im demokratischen Staate die maßgebliche Willensäußerung im Zuge der Gesetzgebung von der freien Zustimmung der Parlamente abhängig gemacht ist. Aus Art. 24 ergibt sich nämlich, daß die Gesetzgebung des Bundes der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat ausübt; desgleichen ist dem Art. 95 zu entnehmen: „Die Gesetzgebung der Länder wird von den Landtagen ausgeübt." Durch die Bindung der gesamten staatlichen Verwaltung - unausgesprochen auch der Gerichtsbarkeit - an Gesetze, ist die Initiative für sämtliche Funktionen der staatlichen Verwaltung den Parlamenten vorbehalten und damit gemäß der Repräsentativfiktion zum Ausdruck des Volkswillens geworden. So stellt sich der Art. 18(1) B-VG als der bemerkenswerteste Fall einer Vereinigung von liberalem und demokratischem Prinzip im System der Verfassung dar. Wenn Art. 18 Abs. 2 durch eine Generalklausel jeder Verwaltungsbehörde die Ermächtigung erteilt, „auf Grund der Gesetze innerhalb ihres Wirkungsbereiches Verordnungen zu erlassen", so ist damit zwar das ausschließliche Recht parlamentarischer Vertretungskörper zur Erlassung von Gesetzen im materiellen Sinn des Wortes, also von Rechtsregeln durchbrochen, jedoch für jeden Fall einer Verordnung ein förmliches Gesetz zur notwendigen Voraussetzung der verwaltungsmäßigen Rechtssetzung gemacht. Darüber hinaus wird durch die sinngemäße, letztlich aus Art. 1 abzuleitende Bindung der Verordnungen an inhalterfüllte, d.h. den Gegen-

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stand bereits selbst rahmenweise regelnde Gesetze, der Vorrang der förmlichen Gesetzgebung vor den Verordnungen gewahrt und soziologisch und politisch gesehen, die Initiative des Gesetzgebers im Bereiche der Verwaltung sichergestellt. Art. 18 Abs. 3 erteilt die Ermächtigung zu „selbständigen" gesetzändernden und gesetzergänzenden Verordnungen. Zum Unterschied von den kaiserlichen Verordnungen gemäß § 14 des Gesetzes über die Reichsvertretung vom 21.12.1867, RGBl. 141, und auch von den sogenannten Diktaturverordnungen gemäß Art. 48 der deutschen Reichsverfassung von Weimar vom 11.8.1919, sind jedoch die auf Art. 18 B-VG beruhenden Verordnungen des Bundespräsidenten, von den sonstigen Sicherungen ihrer Verfassungsmäßigkeit abgesehen, an die Zustimmung eines parlamentarischen Ausschusses, und zwar eines vom Hauptausschuß des Nationalrates einzusetzenden Unterausschusses, gebunden. An sich bedeutet zwar eine den normalen Gesetzgeber ersetzende Verordnung eine Abschwächung des demokratischen Wesenszuges der Gesetzgebung, doch ist durch die Einschaltung eines parlamentarischen Organes in das bei der Erlassung der Verordnung zu beachtende Verfahren der Grundgedanke der Demokratie gewahrt, daß der Staatswille seiner Entstehung nach Volkswille sein soll. Art. 19 B-VG sieht als oberste Organe der Vollziehung den Bundespräsidenten, die Bundesminister, die Staatssekretäre sowie die Mitglieder der Landesregierungen vor. Damit ist der oberste Vollzugsapparat in Bund und Ländern Organen überantwortet, die ihrerseits von den Organen der Gesetzgebung, also den unmittelbaren Repräsentanten des Volkes in Bund und Ländern abhängig sind, denn versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist nach Art. 74 (1) B-VG der Bundespräsident verpflichtet, die Bundesregierung oder den betreffenden Bundesminister des Amtes zu entheben. Die Abhängigkeit der Bundesregierung vom Nationalrat, die durch Vermittlung des Vertrauensgrundsatzes nach Art. 74 weit über den internationalen Durchschnitt hinaus gestiegen ist, macht Österreich zu einer extremen Parlamentsrepublik. Es ist darin nicht notwendig eine Steigerung, sondern nur eine besondere Technik der Verwirklichung der Volksherrschaft zu erkennen.

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Den eben erwähnten obersten Organen der Vollziehung sind auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe beigegeben, die unter ihrer Leitung die Verwaltung führen. Sie sind, gemäß Art. 20 (1) B-VG, soweit nicht verfassungsgesetzlich anders bestimmt wird, an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich. Das nachgeordnete Organ kann die Befolgung einer Weisung ablehnen, wenn die Weisung entweder von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde. Auch die im Art. 20 für alle Arten von Vollzugsorganen vorgesehene Gehorsamspflicht gegenüber den Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe dient letztlich der Verwirklichung des Volkswillens, weil die ganze Hierarchie der Organe in den vom Volk gewählten Organen gipfelt. Die Schranken der Gehorsamspflicht sind selbstverständlich nicht ein Widerspruch gegen die Forderungen der Volksherrschaft, weil die Gehorsamspflicht nur darin eine Schranke findet, daß eine Weisung von einem unzuständigen Organ ausgehen oder die Befolgung der Weisung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde. Auch die privatrechtliche Haftung von Bund, Ländern, Bezirken und Gemeinden für Schäden, den die als ihre Organe handelnden Personen einem Dritten verursachen (Art. 23 Abs. 1), sowie die Haftung der Personen, die als Organe der genannten Gebietskörperschaften handeln, ist eine rechtliche Sicherung für die möglichste Wirksamkeit der demokratisch erzeugten Rechtsordnung. Es ist ein besonderes Kennzeichen des österreichischen Verfassungsrechtes, daß es nicht bloß Baugesetze proklamiert, es statuiert auch Wege zu ihrer rechtlichen Sicherung und Durchsetzung. Art. 1 B-VG nominiert die Herrschaft des Volkes. Diese Verfassungsbestimmung ist aber kein Beweis, sondern ein programmatischer Hinweis auf den volksherrschaftlichen Charakter des Staates mit seiner gesamten Rechtsordnung. Der Beweis für die Erfüllung des politischen Programmes ist erst den einzelnen Verfassungseinrichtungen zu entnehmen. Vorzugsweise sind für den volksherrschaftlichen Wesenszug die Bestimmungen über die Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung beweiskräftig. Diese Bestimmungen suchen der Organisation des Staates, aber auch dem Verhältnis des Staates als obrigkeitlichem 30 A.J. Mcrkl

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Herrschaftsverband zum einzelnen Normunterworfenen eine demokratische Prägung zu geben. Dies äußert sich in der Bindung der gesamten Vollziehung an die Gesetze, der obersten Verwaltungsorgane an das Vertrauen der Volksvertretung und der Mitwirkungsmöglichkeit des Volkes an der Gerichtsbarkeit in der Gestalt von Geschworenen und Schöffen (Art. 91). Eine Garantie demokratischer Gesetzesvollziehung stellen weiters die Bestimmungen des V. Hauptstückes über die Rechnungs- und Gebarungskontrolle dar; sie sehen die Einrichtung eines Rechnungshofes vor, der im Auftrag des Parlamentes die Rechnungs- und Gebarungskontrolle im Hinblick auf die Gesetz- und Zweckmäßigkeit der Ausgaben der Vollziehung vornimmt. Dadurch wird der Einfluß des Parlaments auf die Vollziehung gesteigert. Die Garantien der Verfassung und Verwaltung bekommen ihren demokratischen Sinn daraus, daß die Herrschaft der volksbeschlossenen Gesetze selbst gegenüber den Volksvertretungen gewahrt ist, denn zur Garantie der Verfassung und Verwaltung wurde eine Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts in dem Verwaltungsgerichtshof (Art. 129 ff. B-VG) und dem Verfassungsgerichtshof (Art. 137 ff. B-VG) geschaffen. Das demokratische Baugesetz äußert sich aber nicht allein in der auf der Anerkennung der Volksherrschaft beruhenden Organisation der drei Staatsfunktionen, nämlich der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, es drückt sich auch in der Stellung des einzelnen aus, denn Art. 7 B-VG ordnet an:,, Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetze gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. Den öffentlichen Angestellten, einschließlich der Angehörigen des Bundesheeres, ist die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte gewährleistet." Durch diesen Verfassungsartikel wird das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz in erschöpfender Weise in der Verfassungsurkunde verankert. Hiemit wird die grundsätzlich für die Verfassung der demokratischen Republik übernommene Gleichheitsbestimmung des Art. 2 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867, RBG1. 142, authentisch ausgelegt; im besonderen werden alle jene persönlichen Verhältnisse ausdrücklich namhaft gemacht, die vordem Rechtstitel für eine rechtliche Ungleichbehandlung gewesen sind, nunmehr nicht mehr Anlaß für eine Ungleichbehandlung sein dürfen. Das demokratische Bau-

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gesetz sichert indessen nicht eine für alle Zeiten inhaltsgleiche Auffassung über die in bezug auf das „Ob" unvermeidliche, in bezug auf das „Wie" jedoch verschieden denkbare Gestaltung der unvermeidlichen Rechtsunterschiede zwischen den Staatsbürgern. Die öffentliche Meinung hat bei gleichlautendem Gesetzestext beträchtliche Rechtsunterschiede gezeitigt und gerechtfertigt, namentlich in bezug auf die Gleichbehandlung der verschiedenen Alterslagen und der Geschlechter. Die rechtliche Sonderstellung gewisser Gruppen des Staatsvolkes, vor allem der Angehörigen des ehemaligen Kaiserhauses oder der Angehörigen verbotener Parteien, wäre durch die allgemeine Fassung des Art. 7 B-VG ausgeschlossen, wenn nicht Sonderverfassungsgesetze eine unterschiedliche Rechtsstellung zuließen. Betrachtet man diese das demokratische Baugesetz dokumentierenden Bestimmungen des B-VG 1920, so umfassen sie die Organisation des österreichischen Staates und den einzelnen in gleicher Weise. Die Proklamation des Art. 1 B-VG hat so ihre Ausführung erhalten, die der Herrschaft des Volkes entspricht. II. Das liberale (freiheitliche) Baugesetz Die Ausrichtung der Verfassung am liberalen Baugesetz ist nicht ausdrücklich verkündet, aber annähernd in dem gleichen Umfange wie die am demokratischen Baugesetz im B-VG und ebenso stark in verfassungsrechtlichen Nebengesetzen verankert. Das liberale Baugesetz ist auf kürzeste Formel gebracht dadurch gekennzeichnet, daß der Staat inhaltlich und formell in Schranken gewiesen ist, die ihn zum reinen Garanten der Einzelinteressen seiner Bürger machen und den Bürgern darüber hinaus alle erdenklichen rechtlichen Sicherungen bieten, daß diese Schranken nicht überschritten werden. Die ursprüngliche Forderung des Liberalismus an die Adresse des Staates, nämlich dessen Beschränkung auf den Rechts- und Ordnungszweck ist allerdings der österreichischen Verfassung ebenso wie den anderen liberalen demokratischen Staatsverfassungen der Erde fremd. Die kasuistische Aufzählung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern auf dem Gebiete der Gesetzgebung und Vollziehung sieht ausdrücklich eine Fülle von gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Betätigungen auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszweckes vor, deren Nutzanwendung dem handelnden Staat den Charakter eines Wohlfahrtsstaates geben kann und auch tatsächlich gibt. So wurden die Zuständigkeiten des Bundes 30*

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nach Art. 10, 11 und 12 B-VG, wie Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie, Verkehrswesen, Bergwesen, Wasserrecht, Forstwesen, Starkstromrecht, Wegerecht, Arbeitsrecht, Arbeiter- und Angestelltenschutz, Sozial- und Vertragsversicherungswesen, Gesundheitswesen, Ernährungswesen einschließlich Nahrungsmittelkontrolle, Angelegenheiten des Kultus, Denkmalschutz, Armenwesen, Bevölkerungspolitik, Jugendfürsorge und Bodenreform, die rechtliche Grundlage für eine ausgebreitete Kultur- und Wohlfahrtsgesetzgebung und -Verwaltung sowohl in der Form einer staatlich gelenkten privaten Tätigkeit als auch in der Form einer Eigentätigkeit von Bund und Ländern durch einschlägige Verwaltungsbehörden und Anstalten. Wenn sonach in funktioneller Hinsicht die altliberalen Forderungen der Nichtintervention staatlicher Organe in den Staatsverfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts preisgegeben worden sind, so hat anderseits der liberale Staatsgedanke in zahlreichen organisationsrechtlichen und Verfahrensbestimmungen einen positiv-rechtlichen Niederschlag erfahren. Die Einrichtung des modernen Rechtsstaates, des Rechtsstaates im formellen Sinn des Wortes, ist die typische verfassungsrechtlich e Ausprägung des Liberalismus. Das B-VG gibt dem rechtsstaatlichen Gedanken die rechtliche Form unter gleichzeitiger Nutzanwendung des volksherrschaftlichen Gedankens durch die Bestimmung des Art. 18 Abs. 1: ,,Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden." Hiedurch wird die staatliche Verwaltung und nach der üblichen Auslegung zugleich auch die Gerichtsbarkeit gebunden (diese dank einer analogen Anwendung des für die Verwaltung maßgeblichen Grundsatzes auf die Gerichtsbarkeit, die schon im absoluten Polizeistaat dem Rechtsstaatsprinzip unterstellt war). Der liberalen Sinngebung dieses Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung wird nur durch die Auslegung Genüge geleistet, daß inhaltserfüllt, die Form und den Gegenstand der staatlichen Verwaltung im wesentlichen regelnde Gesetze im formellen Sinn als „Grundlage" der Verwaltung genügen. Es ist also ein Mittelweg zwischen einer bloßen Ermächtigung und dem Versuch einer restlosen Bindung des Verwaltungsorganes durch das Gesetz gefunden worden. Die Voraussetzung für die Verwaltung, daß sie nur ,,auf Grund der Gesetze" ausgeübt werden dürfe, wird für den Bereich der Hoheitsverwaltung dahin ausgelegt, daß im Wege der förmlichen Gesetzgebung die Verhaltensweise der Verwaltung inhaltlich derartig eingehend geregelt werden muß, daß der Adressat die Verwaltungstätigkeit auch inhalt-

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lieh voraussehen und sich auf sie einstellen kann. Dagegen bedeutet das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage nicht, daß das Verhalten des Verwaltungsorganes erschöpfend geregelt werden muß, so daß das Verwaltungsorgan bloß gewissermaßen als Gesetzesautomat tätig zu werden braucht. Der Spielraum für die Freiheit des Verwaltungsorganes kann also innerhalb eines beträchtlichen Rahmens schwanken; dem Belieben des Gesetzgebers ist die Bestimmung dieses Rahmens anheimgegeben. Für den Bereich der nichtobrigkeitlichen Verwaltung gilt überwiegend die Erteilung bloßer inhaltsleerer Ermächtigungen von Seiten des Gesetzgebers als hinlänglich. Somit ist es jedenfalls möglich, daß das „Ob" und innerhalb nicht allgemein feststellbarer Grenzen auch das „Wie" der Verwaltungsätigkeit vom ermächtigenden förmlichen Gesetze freigelassen wird. Der liberale Sinn des Grundsatzes des Gesetzesstaates erfüllt sich also darin, daß staatliches Handeln durch ein förmliches Gesetz fundiert und vorhersehbar gemacht wird, ohne daß aber das Gesetz den Eigenwillen der Verwaltungsorgane völlig ausschalten müßte. Auch der Tatsache, daß Verordnungen grundsätzlich an eine gesetzliche Grundlage gebunden und nur in der Gestalt von Durchführungsverordnungen zugelassen sind, daß ferner die gesetzändernden Verordnungen nur unter besonders erschwerenden Umständen unter Mitwirkung eines parlamentarischen Ausschusses erlassen werden dürfen, kann außer der demokratischen Bedeutung dieser Einrichtungen auch ein liberaler Sinn beigemessen werden, denn sämtliche einschlägigen Bestimmungen zielen darauf ab, Eingriffe der Vollziehung in die Privatsphäre in Gestalt von Gerichtsbarkeit und Verwaltung nur unter besonderen Sicherungen zuzulassen. Die Einrichtung der rechtlichen Haftung für Schäden, den die als Organe von Bund, Ländern, Bezirken und Gemeinden handelnden Personen einem Dritten durch vorsätzliche oder grob fahrlässige rechtswidrige Besorgung ihrer Aufgaben verursachen, ist eine Nutzanwendung der liberalen Staatsauffassung, weil hiedurch der rechtswidrige Machtgebrauch des Staates hintangehalten und die verursachten Schäden gutgemacht werden sollen. Aus diesen Bestimmungen spricht der Gedanke, daß der Staat nur auf Grund und im Sinne von Gesetzen im Dienste seiner Bürger tätig werden soll. Die verfassungsgesetzlichen Kontrollen der Verwaltung sind insgesamt ein Niederschlag der liberalen Forderung, daß der Bürger vor staatlichen Machtexzessen geschützt werden soll. Sie sind eine Folgerung der Vorstel-

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lung, daß der Staat mit der ihm eigentümlichen Befehls- und Zwangsbefugnis nicht nebelhaften eigenen Interessen, sondern mit seinem Dasein und Sosein ausschließlich den Interessen der Staatsbürger dienen soll. Diese Vorstellung beherrscht insbesondere die intensivsten Kontrolleinrichtungen im Dienste der Allgemeinheit, nämlich die Regelung des Verfahrens und der Rechtsfolgen eines Mißtrauensvotums (Art. 74). Wenn sich aus Art. 74 Abs. 3 ergibt, daß die Regierung oder der Bundesminister des Amtes zu entheben sind, wenn ihnen der Nationalrat das Vertrauen versagt hat, so heißt das, daß eine Regierung oder ein einzelner Bundesminister nur dann im Amte bleiben kann, wenn sie vom Vertrauen der Mehrheit des Nationalrates getragen sind. Der defensive Charakter des Bundesheeres (Art. 79), der insbesondere in dem Primat des Grenzschutzes zum Ausdruck kommt, entspricht ebenfalls der liberalen Anschauungsweise. Der Abschnitt Β des III., die Vollziehung des Bundes betreffenden Hauptstückes ,,Gerichtsbarkeit " übernimmt im wesentlichen das liberale Gedankengut des StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867 und trägt die Auffassung zur Schau, daß die Justiz die Domäne des besonderen staatsbürgerlichen Vertrauens gegenüber dem Staat ist. Zum eisernen liberalen Normenbestand gehört das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2). Die Sicherung vor Ausnahmegerichten, die in der Staatengeschichte so häufig das Grab der bürgerlichen Freiheit geworden sind, ist nicht sonderlich wirksam gemacht, wenn Ausnahmegerichte zwar nur ,,in den durch die Gesetze über das Verfahren in Strafsachen geregelten Fällen zulässig" sind; immerhin wird hiedurch die Gefahr gebannt, daß außerhalb der Verfahrensgesetzgebung aus Anlaß zeitgebundener staatlicher Bedürfnisse Ausnahmegerichte errichtet werden. Der Sicherung der liberalen bürgerlichen Rechtsauffassung dient auch das Verbot der Militärgerichtsbarkeit (Art. 84), wenngleich diese Sondergerichtsbarkeit für Kriegszeiten vorbehalten bleibt. Ein eindrucksvolles Bekenntnis zur liberalen Auffassung vom Zweck und Mittel des Staates ist die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 85). Die Rahmenregelung der Richterernennung durch Art. 86 zielt letztlich auf die Herstellung und Bewahrung des vom Vertrauen des Volkes getrage-

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nen Richterstandes ab. Bei der Grundeinstellung der Verfassung ist es selbstverständlich, daß die richterliche Unabhängigkeit als das vermeintliche oder wirkliche Paladium der bürgerlichen Freiheit in der gewohnten und bewährten rechtstechnischen Weise in der Verfassung verankert ist (Art. 87 und 88). Nach Artikel 87 B-VG sind die Richter in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig. Außerdem wird gemäß Art. 88 B-VG in der Gerichtsverfassung eine Altersgrenze bestimmt, nach deren Erreichung die Richter in den dauernden Ruhestand zu versetzen sind (Abs. 1). Im übrigen dürfen Richter nur in den vom Gesetz vorgeschriebenen Fällen und Formen auf Grund eines förmlichen richterlichen Erkenntnisses ihres Amtes entsetzt oder wider ihren Willen an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. In einem solchen Fall wird durch das Gesetz festgestellt, innerhalb welchen Zeitraumes Richter ohne die sonst vorgeschriebenen Förmlichkeiten versetzt und in den Ruhestand versetzt werden können (Abs. 2). Die zeitweise Enthebung der Richter vom Amt darf nur durch Verfügung des Gerichtsvorstandes oder der höheren Gerichtsbehörde bei gleichzeitiger Verweisung der Sache an das zuständige Gericht stattfinden (Abs. 3). Das Gesetz kann zwar verhüten, daß ein Richter wegen seiner Rechtsprechung versetzt oder in den Ruhestand versetzt wird, kann aber nicht Benachteiligungen im Richteravancement, durch die letztlich die prozessuale Haltung des Gerichtes beeinflußt werden soll, verhindern. Die zwingende Vorschrift des mündlichen, öffentlichen Zivil- und Strafprozesses und die Einrichtung des Anklageprozesses im Strafverfahren sind altes liberales Gedankengut (Art. 90). Die Vorschrift der durchgängigen Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art. 94) verwirklicht die alte liberale Forderung der sogenannten Gewaltenteilung, durch die der Mißbrauch der Staatsgewalt und die Beugung des Untertanen unter einen rechtswidrigen Staatswillen verhütet werden soll. Es darf aber nicht übersehen werden, daß dem österreichischen Verfassungsrecht eine formell-organisatorische Gewaltenteilung der Art eignet, daß nicht eine Behörde gleichzeitig Gerichts- und Verwaltungsbehörde sein kann. Eine besondere Form der Gewaltenteilung im System des Liberalismus stellt die Selbstverwaltung dar, da hiedurch der zentralen Willensbildung in Gesetzgebung und Verwaltung eine verwaltungsförmige Willensbildung im kleineren Rahmen gegenübertritt. Darüber hinaus erfüllt sich in der besonderen Organisation der Selbstverwaltung durch die Vorschrift eines demo-

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kratischen Wahlrechtes für die Vertretungskörper der Selbstverwaltung zugleich mit dem liberalen ein demokratischer Gedanke. Die Rechnungs- und Gebarungskontrolle (V. Hauptstück) ist eine Einrichtung zur Kontrolle der Verwaltung im Interesse einer gesetzmäßigen und zweckmäßigen Geschäftsführung und stellt damit die besondere Art der Bindung des Verwaltungsapparates im Interesse der verwalteten Bürger dar. Die Garantien der Verfassung und Verwaltung gemäß dem VI. Hauptstück vollenden den Apparat zur Sicherung des Bürgers vor Übergriffen des Staates, namentlich von Seiten der Gesetzgebung und der obersten Vollzugsorgane. Im besonderen bietet die Möglichkeit der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, womit Rechtswidrigkeit von Bescheiden der Verwaltungsbehörden (Art. 130) und die Möglichkeit der Anfechtung von Bundesoder Landesgesetzen wegen behaupteter Verfassungswidrigkeit (Art. 140) und Verordnungen einer Bundes- oder Landesbehörde wegen behaupteter Gesetzwidrigkeit (Art. 139) unterbunden werden, beim Verfassungsgerichtshof gerichtsförmige Sicherungen vor Willkür der höchsten Staatsorgane. Einen besonderen Rechtsschutz des einzelnen sieht der Art. 144 ( 1 ) B-VG vor, denn nach ihm erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen Bescheide der Verwaltungsbehörden, soweit der einzelne nach Erschöpfung des Instanzenzuges behauptet, durch den Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt zu sein. Diese Beschwerdelegitimation erklärt sich daraus, daß in einem demokratischen Rechtsstaat dem einzelnen auch ein subjektiv öffentliches Recht zusteht. Einen wesentlichen Schutz dieser Rechtsstellung der einzelnen erhält er durch die Grundrechte, deren Geltendmachung in die Kompetenz des Art. 144 fällt. Rechtsquelle der österreichischen Grundrechte ist vor allem das StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867, RGBl. 142. Es bietet Sicherheit gegenüber bestimmten Eingriffen in die verfassungsmäßig gewährleistete persönliche Freiheit. Diese Grundrechte des StGG haben einen teils liberalen und teils demokratischen Charakter. Liberales

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Gedankengut tritt uns im besondern in den Grundrechten der Freizügigkeit der Person und des Vermögens (Art. 4), der Unverletzlichkeit des Eigentums (Art. 5), der Aufenthalts- und Wohnsitzfreiheit (Art. 6) sowie der Freiheit des Erwerbes und der Verfügung über Liegenschaften, des Ausschlusses von Untertänigkeits- und Hörigkeitsverbänden (Art. 7), der Freiheit der Person (Art. 8), Unverletzlichkeit des Hausrechtes (Art. 9), des Briefgeheimnisses (Art. 10), der Petitionsfreiheit (Art. 11), Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art. 12), Freiheit der Meinungsäußerung durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung (Art. 13), Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 14), Freiheit der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung (Art. 15), häuslichen Religionsausübung (Art. 16), Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre (Art. 17), Freiheit der Berufswahl und der Ausbildung für den Beruf (Art. 18) entgegen. Diese Grundrechte garantieren ein Nichthandeln des Staates, im besonderen ein Unterlassen von verwaltungsmäßigen und richterlichen, in einzelnen Fällen auch von gesetzlichen Eingriffen in die Freiheitssphäre. Drei der genannten Freiheitsrechte, und zwar das Recht der Petitionsfreiheit (Art. 11 ) und der Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art. 12) verwirklichen auch den demokratischen Gedanken der Mitregierung oder Alleinregierung des Volkes im Staat, indem sie einerseits die Organisation der Willensbildung des Volkes erleichtern, anderseits die Möglichkeit der Kritik an Handlungen und Unterlassungen des Staatslebens sichern. Das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 2) und der Zugänglichkeit der öffentlichen Ämter für alle Staatsbürger (Art. 3) erfüllen den demokratischen Gedanken der Gleichberechtigung gegenüber allen Staatsgewalten. Der Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates, nämlich des Gesetzesstaates im Art. 18 (1) B-VG und die oberwähnten Grundrechte zeigen deutlich, wie sehr aus der gemeinsamen demokratischen Entwicklung die Forderung nach Herrschaft des Volkes und die liberale Forderung nach Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns im österreichischen Verfassungsrecht eine Symbiose entstanden ist, die der Rechtssicherheit dient. Diese Rechtssicherheit kommt in Österreich dem Bund und den Ländern zugute, weil das österreichische Verfassungsrecht von einem dritten Baugesetz geprägt wird: dem Föderalismus.

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I I I . Das föderalistische (bundesstaatliche) Baugesetz Art. 2 ist ebenso wie Art. 1 B-VG bloß ein Programm der Verfassung und darüber hinaus ein Auslegungsbehelf in dem Sinne, daß die anderweitigen Verfassungsbestimmungen im Sinne eines Bundesstaates auszulegen sind; diese normative Rolle des Art. 2 ist allerdings darum vieldeutig, weil innerhalb des Bundesstaates der Geschichte und Gegenwart die denkbar größten Unterschiede in bezug auf den unitarischen und partikularistischen Charakter der vom Bundesstaat normierten Verfassungsbestimmungen besteht und daher eine sehr unterschiedliche Nutzanwendung des bundesstaatlichen Baugesetzes rechtlich ermöglicht ist. Theoretisch ist das föderalistische mit dem bundesstaatlichen Baugesetz nicht gleichzusetzen, da das föderalistische Prinzip reiner noch als durch den Bundesstaat durch den Staatenbund verwirklicht werden kann; im Rahmen der österreichischen Verfassung ist indes das föderalistische Baugesetz in der Weise des Bundesstaates verwirklicht, und daher für die Erkenntnisse der österreichischen Verfassung föderalistisch mit bundesstaatlich gleichzusetzen. Von unittelbar normativer Bedeutung ist schon Art. 2 Abs. 2, indem diese Gesetzesstelle den Gesamtstaat in neun gleichberechtigte Bundesländer aufgliedert, unter denen auch das soziologisch anders als die anderen Bundesländer zu beurteilende Bundesland Wien angeführt ist. Um jeden Schein einer rechtlichen Ungleichbehandlung zu vermeiden, werden die Bundesländer in alphabetischer Reihenfolge genannt. Die damit bereits angedeutete Gleichberechtigung wird rechtlich im IV. Hauptstück „Gesetzgebung und Vollziehung der Länder" uneingeschränkt verwirklicht, wobei die Sonderstellung Wiens als Land und Gemeinde nicht den Sinn einer Bevorrechtung hat. Art. 3 führt den bundesstaatlichen Aufbau Österreichs in der Weise durch, daß das Bundesgebiet sich ausschließlich aus der Summe der Landesgebiete zusammensetzt, womit ein von der Ländereinteilung ausgenommenes Bundesgebiet ausgeschlossen ist. Art. 3 Abs. 2 B-VG enthält eine betont den Landesinteressen entgegenkommende Garantie zugunsten der Bundesländer auch in territorialer Hinsicht, indem Änderungen des Bundesgebietes, die zugleich Änderungen eines Landesgebietes betreffen, ebenso die Änderung einer Landesgrenze

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innerhalb des Bundesgebietes, an die Voraussetzung übereinstimmender Verfassungsgesetze des Bundes und jenes Landes gebunden ist, dessen Gebiet eine Änderung erfährt. Art. 4 B-VG bedeutet eine stark unitarische Bindung sowohl der Bundesais auch der Landesgesetzgebung, da das gesamte Bundesgebiet ein einheitliches Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet bilden muß und Zwischenzollinien oder sonstige Verkehrsbeschränkungen nicht errichtet werden dürfen. Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern in den Art. 10 bis 15 B-VG und den dazugehörigen Bestimmungen der Verfassungsübergangsgesetze gewähren dem Bund einen überwiegenden Anteil an der Gesamtgesetzgebung in der Gestalt der drei Zuständigkeitsformeln der ausschließlichen Bundesgesetzgebung und Vollziehung, der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes und der Zuständigkeit des Bundes für die Grundsatzgesetzgebung. Die in der Form einer Generalklausel begründete ausschließliche Zuständigkeit der Länder ist zwar formal föderalistisch, erhält aber durch die Vorwegnahme der überwiegenden und zugleich praktisch bedeutsamen Gesetzgebungstatbestände für den Bund, soweit es sich um die Gesetzgebung handelt, einen unitarischen Wesenszug. Dagegen bedeutet die Generalklausel des Art. 15 in Zusammenhang mit den Bestimmungen des IV. Hauptstückes über die Vollziehung in den Ländern im Vergleich mit der vormaligen Rechtslage ein beträchliches Entgegenkommen gegenüber den Ländern. Art. 16 bringt im Interesse der außenpolitischen Verhandlungs- und Vertragsfähigkeit des Staates einen unitarischen Einschlag des Inhaltes, daß die Länder auch im selbständigen Wirkungskreis die Verpflichtung haben, Maßnahmen zu treffen, die zur Durchführung von Staatsverträgen erforderlich sind, widrigenfalls die Zuständigkeit zu solchen Maßnahmen, insbesondere auch zur Erlassung der notwendigen Gesetze, auf den Bund übergeht. Die Bundesaufsicht erstreckt sich bei Durchführung von Verträgen mit fremden Staaten auch auf Angelegenheiten, die zum selbständigen Wirkungsbereich der Länder gehören. Es darf nicht übersehen werden, daß diese formelle Schmälerung der Landeszuständigkeit ebenso wie überhaupt die ausschließliche völkerrechtliche Vertretungsbefugnis des Bundes den Ländern zugute kommt, da bei den Größenverhältnissen des Bundes und der

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Länder für die meisten ausländischen Staaten tatsächlich nur der Gesamtstaat als Vertragspartner in Frage kommt. Art. 17 B-VG gibt der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und den Ländern anscheinend eine einseitig unitarische Wendung, indem durch die Zuständigkeitsbestimmungen zugunsten der Länder in den Art. 10 bis 15 der Bund ,,als Träger von Privatrechen" unbeschränkte Handlungsfreiheit hat, z.B. für die Errichtung von landwirtschaftlichen Betrieben, Gebäuden, Theatern. Befremdlicherweise fehlt im B-VG eine entsprechende Bestimmung zugunsten der Bundesländer, so daß der Art. 17 den Eindruck einer einseitigen Berücksichtigung von Bundesinteressen erwecken kann. Indes ist durch die Auslegungsregel des Art. 2 eine analoge Anwendung des in Art. 17 zugunsten des Bundes ausgesprochenen Grundsatzes auf die Länder möglich gemacht. Die Folge davon ist die Berechtigung der Länder, auf den Gebieten der Bundeskompetenz ihrerseits als Träger von Privatrechten tätig zu werden, z.B. trotz des Vorbehaltes des Bergwesens, Forstwesens, Verkehrswesens einschließlich der Eisenbahnen, zugunsten des Bundes nach Art. 10, eigene Bergwerke, Forste und Eisenbahnen zu führen. Durch diese interpretative Berichtigung eines augenscheinlichen Redaktionsfehlers nimmt die Bestimmung des Art. 17 einen vom unitarischen und partikularistischen Standpunkt neutralen Wesenszug an. Art. 18 unterwirft implicite die gesamte Landesverwaltung, die im Sinne des IV. Hauptstückes der Verfassung auch als staatliche Verwaltung zugeordnet ist, der Herrschaft formeller Gesetze, doch hat eine solche gleicherweise auf Bund und Länder bezogene Verfassungsbestimmung keine unitarische Tendenz, zumal da der Grundsatz des förmlichen Rechtsstaates als eine Werterhöhung eines Staatsgebäudes angesehen werden kann. Die Normativbestimmungen des Art. 20 auf dem Gebiete des öffentlichen Dienstrechtes, namentlich die Weisungsgebundenheit und Verantwortlichkeit, das Prüfungsrecht und die Verschwiegenheitspflicht aller öffentlich Bediensteten des Bundes und der Länder bedeuten eine unmittelbar wirksame teilweise Angleichung des in den Bundesländern geltenden Dienstrechtes an das Dienstrecht des Bundes. Indes muß eine derartige Vereinheitlichung von Dienstrechtsnormen nicht auf eine unitarische Tendenz des Gesetzgebers zurückgeführt werden.

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Art. 26 enthält einen partikularistischen Einschlag in die Organisation des Bundesparlamentes, indem die Bundesländer bevollmächtigt werden, durch Landesgesetze Wahlpflicht mit Geltung für das betreffende Land für die Bestellung des Nationalrates einzuführen. - Es ist eine rechtspolitische, fast unvermeidliche Folgerung aus dem bundesstaatlichen Aufbau Österreichs, daß die Wahlkreise die Landesgrenzen nicht schneiden dürfen. Es wird freilich durch eine solche Bestimmung in einer zulässigen Weise die Gleichheit des Wahlrechtes berührt, weil die Wahlkreiseinteilung um so mehr, je kleiner die Wahlkreise sind, auch bei Anordnung einer Reststimmenverteilung die völlige Gleichheit des Stimmengewichtes ausschließt. Der Bundesrat (Art. 4-37 B-VG) bedeutet die Vollendung des bundesstaatlichen Aufbaues auf Bundesebene; das Vertretungsorgan der Länder ist im Sinne der österreichischen Einrichtung dieses Organs nicht ein dem Nationalrat ebenbürtiges Kollegium. Wenngleich von den Ländern beschickt, und zwar von den Landtagen gewählt, ist er doch ein mit Selbstbestimmung ausgestattetes Kollegium. Der Zusammensetzung nach weicht der Bundesrat von den bedeutsamen ausländischen Vorbildern in doppelter Hinsicht ab, und zwar durch die Beschickungsweise und die den einzelnen Ländern zugebilligte Vertreterzahl. Die Berufung von Seiten der Landtage (nicht notwendig aus deren Mitte) macht den Bundesrat zu einer durch mittelbare Wahl berufenen parlamentarischen Kammer. Die Vertreterzahl der einzelnen Bundesländer hält gewissermaßen die Mitte zwischen den Grundsätzen der arithmetischen und der geometrischen Gleichheit. Art. 34 bestimmt bezüglich der Vertreterzahl eine Spannweite von 3 bis 12 Mitgliedern. Die Auswirkung des Gesetzes der Verhältnismäßigkeit in dem einen oder anderen Bundesland wird auch durch die Bestimmung durchbrochen, daß wenigstens ein Mandat der Partei zufallen muß, die die zweithöchste Anzahl von Sitzen im Landtag oder die zweithöchste Zahl von Wählerstimmen bei den letzten Landtagswahlen aufweist: Eine eigentümliche Form des Minderheitenschutzes zugunsten der zweitstärksten Partei des Landtages. Das betont föderalistische Gleichheitsprinzip begegnet uns in der Vorschrift des habljährlichen Wechsels der Länder im Vorsitz des Bundesrates. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung (Art. 38) erhält förmlich einen föderalistischen Charakter durch die Zusammensetzung aus dem

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Nationalrat und dem Bundesrat, besser gesagt, den Mitgliedern dieser beiden Kammern des Bundesparlamentes. Die unterschiedliche Mitgliederzahl dieser beiden Kammern sichert allerdings dem Nationalrat das entscheidende Übergewicht in der freilich nicht kompetenzreichen Bundesversammlung. Der Weg der Bundesgesetzgebung ist durch die Gleichberechtigung der beiden Kammern des Bundesparlamentes bei der Gesetzesinitiative gekennzeichnet, denn auch der Bundesrat kann durch Vermittlung der Bundesregierung Gesetzesanträge im Nationalrat stellen. Schluß Alles Recht ist in seinen sämtlichen Erscheinungsformen Planung menschlichen Handelns. Vom Wollen und Können der ermächtigten und der beauftragten Menschen hängt es indes ab, ob diese Planung Wirklichkeit, im besonderen Staats- und Volkgsgeschichte wird. Der Praktiker und der Theoretiker des Rechtes sieht sich vor die Tatsache eines „Ignoramus und Ignorabimus" gestellt. Es ist damit dem zum Handeln berufenen Staatsorgan die sittliche Pflicht auferlegt, sich in der Vorbereitung und Erfüllung dieses Lebenszweckes um die wertvollste Erfüllung des Menschseins zu bemühen. Das ist der wahre Sinn des Lebens im christlichen Geist.

Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung* I. Zur Entstehung der Republik Österreich Die gegenwärtige Republik Österreich ist einer der neuen Staaten, die infolge des Zerfalls - der fachwissenschaftlich sogenannten Dismembration - des Kaiserstaates Österreich im Jahre 1918 entstanden sind. Das Staatsgebiet des gegenwärtigen Staates Österreich nimmt nach der von den Alliieren Hauptmächten im Staats vertrag von St. Germain vom 10. September 1919 festgelegten Grenzziehung aus dem Flächenraum der 673.000 km 2 umfassenden ,,Doppelmonarchie'4 Österreich-Ungarn mit deren durch die Volkszählungen des Jahres 1910 ermittelten Einwohnerzahl von 46.836.467 Personen einen Flächenraum von 83.833 km 2 ein; die Einwohnerzahl des heutigen Österreich beläuft sich nach der Volkszählung des Jahres 1961 auf 7.073.807 Personen. Das Staatsgebiet der Republik Österreich setzt sich aus dem überwiegenden Teil des deutschen Sprachgebietes des Kaiserstaates Österreich und einem 3965 km 2 umfassenden, überwiegend deutschsprachigen Randgebiet des vormaligen Königreiches Ungarn zusammen, das die Siegermächte gemäß dem Wunsche seiner Bevölkerung der Republik Österreich zugeteilt haben, und das von dieser unter dem Namen Burgenland mit der Rechtsstellung eines selbständigen Bundeslandes ihrem Staatsverband einverleibt worden ist.

In: H. Lentze, P. Putzer (Hrsg.): Festschrift für Emst C. Hellbling zum 70. Geburtstag. Salzburg: W. Fink 1971, S. 517-549. Die Aufnahme dieses Beitrages in der gegenständlichen Festschrift wurde durch das Entgegenkommen der Witwe nach Prof. Merkl ermöglicht, die den wissenschaftlichen Nachlaß ihres verstorbenen Gatten zugänglich machte, und durch die Bemühungen von Prof. Herbert Schambeck realisiert, der die in verschiedenen, keine geschlossene Darstellung bildenden Skizzen enthaltenen Gedankengänge in der vorliegenden Form zusammenfaßte. Dafür sei hier herzlich gedankt.

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In völkerrechtlicher Schau ist das heutige Österreich mit dem Kaiserstaat Österreich nicht identisch, sondern einer der Sukzessionsstaaten dieser Monarchie, die ihrerseits im Jahre 1806 durch den von Napoleon I. ausgelösten Zerfall des „Heiligen Römischen Reiches" den Charakter eines souveränen Staates erlangt hatte. Durch eine verfassungsmäßige Teilung war der Einheitsstaat Österreich im Jahre 1867 in zwei konstitutionelle Monarchien, Österreich und Ungarn, aufgegliedert worden, die jedoch rechtlich durch Realunion verbunden blieben. Diese Staatenverbindung hat sich in der Gemeinsamkeit des Herrschers unter dem Kurztitel „Kaiser von Österreich" und „König von Ungarn" und in der Gemeinsamkeit der Außenverwaltung sowie der kaiserlichen und königlichen Armee einschließlich der Kriegsmarine geäußert. Die Ermächtigung Österreich-Ungarns durch die Berliner Kongreßakte (1878) zur Okkupation der türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina führte zur Erweiterung des Österreich und Ungarn gemeinsamen Wirkungskreises durch die Verwaltung dieser okkupierten und im Jahre 1908 mit nachträglich erwirkter Zustimmung der Türkei der Gebietshoheit Österreich-Ungarns unterstellten Provinzen. Den Anstoß zur Entstehung des Neustaates Österreich im Jahre 1918 gaben die militärischen Ereignisse des Ersten Weltkriegs im Existenzkampf Österreich-Ungarns, das sich dieser geschichtlichen Erprobung gegenüber der erdrückenden Übermacht der Kriegsgegner politisch, militärisch und wirtschaftlich nicht gewachsen gezeigt hatte. Die im Ausland anzutreffende Meinung, daß im Völkerkonglomerat der österreichischen Monarchie und seit dem Jahre 1867 der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eine zentrifugale, auf staatliche Selbständigkeit der in einem übernationalen Staat vereinigten Nationen gerichtete Bewegung vorherrschend gewesen sei, entspricht nicht den Tatsachen. Kein Wissender würde die Behauptung wagen, daß die Nationen der Schweiz in ihrem ehrlich übernational gestalteten Staat gegen ihren Willen festgehalten und an der staatlichen Vereinigung mit ihren gleichsprachigen Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Italien gehindert werden. Die erdrückende Mehrheit, wenn nicht die ausnahmslose Gesamtheit der sprachlich verschiedenen Gruppen des Schweizer Volkes zieht unbeschadet der Sympathien für den sprachlich gleichen Nachbarstaat die Unabhängigkeit im organisch gewachsenen übernationalen Staat von heute vor, obwohl die in allen

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Nachbarstaaten herrschende Form der demokratischen Republik im hypothetischen Falle des Anschlusses an den sprachgleichen Nachbarstaat keine Änderung der politischen Lebensform bedeuten würde. Ähnliches galt aber auch für die Lebensmöglichkeit des aus acht Volksstämmen zusammengesetzten Staates Österreich und auch für die im Jahre 1867 begründete Staatenunion. Kaum bestand eine ernst zu nehmende separatistische Bewegung, da sich Österreich durch soziale Reformen und eine demokratische Entwicklung aus der Anziehungskraft der Nachbarstaaten gelöst hat. Bezeichnenderweise war unter den Parteien des österreichischen Parlaments am meisten die sozial-demokratische Partei um ein solches Ziel bemüht, indem sie im Jahr 1899 den von dem Abgeordneten des österreichischen Reichsrates Dr. Karl Renner entwickelten, im folgenden noch zu erörternden Plan der Transformation des österreichischen Einheitsstaates in einen Nationalitäten-Bundesstaat ihrem Parteiprogramm einverleibt hat. Die nordslawischen Volksstämme Österreichs hatten theoretisch die Wahl zwischen der nicht durch Eroberung, sondern durch dynastische Erbfolge und, im Falle der Polen, durch vertragsmäßige Aufteilung des vormaligen Königreichs Polen auf Preußen, Österreich und Rußland hergestellten Zugehörigkeit zu Österreich oder der Einverleibung in Rußland und schließlich der Eigenstaatlichkeit jedes dieser Völker. Diese letzte nationalpolitisch bevorzugte Lösung des Problems ihrer staatlichen Existenz war infolge der natürlichen Anziehungskraft der an ihren Siedlungsraum angrenzenden Großmächte am schwersten geschichtlich durchzuhalten. Die konservativ und betont autoritär gesinnten Angehörigen des tschechischen und ukrainischen Volkes haben wohl die Einverleibung in das russische Reich als die ideale Lösung des staatspolitischen Problems betrachtet, die demokratischen Elemente dagegen dank den nationalpolitischen Entscheidungen der österreichischen Verfassung des Jahres 1867 und in Anbetracht der schrittweisen Demokratisierung dieser Verfassung eindeutig die bestehende Zugehörigkeit zu Österreich bevorzugt. Angehörige der polnischen Volksgruppe in Österreich waren, unter dem Eindruck der russischen Hegemonie über ihre Konationalen in Rußland, fast ausnahmslos loyale Anhänger Österreichs, das den Polen in ungewöhnlicher Weise Anteil an der Staatsführung und Zutritt zur Diplomatie und Bürokratie gewährt hatte. Übrigens hatte auch das tschechische Volk in den Kronländern Böhmen und Mähren gemäß dem Mehrheitsprinzip die Führung und noch im Weltkrieg 1914-1918 höchste Vertrauensstellungen in der Armee inne. 31 A. J. Merkl

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Von den südslawischen Angehörigen des Habsburgerreiches, den Kroaten und Slowenen, galten die Kroaten, seit sie die türkische Herrschaft abgeschüttelt hatten, als die zuverlässigste Stütze Österreichs, mit dem sie sich zumal im Vergleich mit der vormaligen türkischen Herrschaft rassisch und religiös verbunden fühlten. In der Revolution des Jahres 1848 haben kroatische Truppen den Aufstand der Studenten, Bürger und Arbeiter in Wien so unerbittlich niedergeschlagen, daß sie aus dem Kampfe gezogen werden mußten, um eine dauernde Entfremdung zwischen Staatsführung und Volk zu verhüten. Nach der Teilung des Einheitsstaates in Österreich und Ungarn im Jahre 1867 fiel das von Kroaten bewohnte „Königreich Dalmatien" Österreich und das „Königreich Kroatien" Ungarn zu. Die kleine im österreichischen Bundesland Burgenland ansässige kroatische Minderheit erfreut sich einer großzügigen Handhabung des im Staats vertrag von St. Germain vom 10. September 1919, neuerdings im Staatsvertrag von Wien vom 15. Mai 1955, vorgeschriebenen Minderheitenschutzes. Die Slowenen, als das andere südslawische Volk, bilden eine im Osten und Süden des Landes Kärnten ansässige nationale Minderheit, die ebenfalls den Minderheitenschutz des Staatsvertrags von Wien vom 15. Mai 1955 genießt. Ein südslawischer Separatismus innerhalb der Bevölkerung Österreichs hatte solange ein denkbares politisches Ziel, als Jugoslawien dem Kreis der westlichen Staaten angehört hat, doch war dieses Ziel utopisch, weil der Staatsvertrag von St. Germain Grenzen gezogen hatte, die nach der Zuteilung eines Drittels der deutschsprachigen Bevölkerung des Kaiserstaates an nichtdeutsche Sukzessionsstaaten nicht neuerlich zugunsten kleiner, auf große Gebiete verstreuter nationaler Minderheiten geändert werden konnte; eine freiwillige Umsiedlung dieser Minderheiten in einen national verwandten, aber kommunistisch regierten Staat, kam bei der sozialen und politischen Lage dieser Minderheiten nicht in Frage. Bloß die italienische Minderheit der Staatsbürger des Kaiserstaates Österreich hat das Ziel der Vereinigung ihrer Siedlungsgbiete in Österreich, einerseits der aus der freien Stadt Triest, Görz und Gradiska bestehenden „Küstenländer" Österreichs, andererseits des von Italienern bewohnten Teiles von Tirol dank der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung in Wort und Schrift zu erkennen gegeben. Der ebenfalls romanische Stamm der in Tirol seßhaften Ladiner wünschte dagegen keinen Wechsel der Staatsangehörigkeit. Die Allianz, die zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien im Jahre 1882 geschlossen, und bis zur Kündigung von Seite Italiens

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am 4. Mai 1915 verlängert worden war, hat einerseits das politische Endziel des Ausscheidens des italienischen Bestandteils des österreichischen Staatsvolks unmöglich gemacht, andererseits das Bekenntnis zu diesem politischen Ziel gedeckt und wach gehalten. Gleichzeitig hat Österreich durch eine großzügige Handhabung der verfassungsmäßigen Freiheitsrechte zugunsten seiner italienischen Bevölkerung und durch eine wahlrechtliche Begünstigung dieser Bevölkerung auf Grund eines sogenannten ,,Kulturschlüssels44 die Wahlkreise für das Wahlrecht zum Reichsrat im italienischen Siedlungsraum am kleinsten gezogen und damit das Stimmgewicht des einzelnen österreichischen Staatsbürgers italienischer Nationalität im Verhältnis zu dem Stimmgewicht aller anderen Volksstämme Österreichs am höchsten bevorzugt. Das wog am schwersten bei der Entsendung von Mitgliedern zum Reichsrat, dem Zentralorgan der staatlichen Willensbildung. Der Reichsrat war den Kronländern des Reiches gemeinsames, aus dem Herrenhaus als Oberhaus und der Vertretung der Kronländer als Unterhaus bestehendes Parlament. ,,Kronländer 44 waren die Königreiche Böhmen, Dalmatien, Galizien und Lodomerien, mit dem Großherzogtum Krakau, das Erzherzogtum Österreich unter der Enns (dem die Reichshauptstadt Wien eingeordnet war), das Erzherzogtum ob der Enns, die Herzogtümer Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Bukowina, die Markgrafschaft Mähren, das Herzogtum Ober- und Niederschlesien, die gefürstete Grafschaft Tirol, das Land Vorarlberg, die Markgrafschaft Istrien, die gefürstete Grafschaft Görz und Gradiska und die Stadt Triest. Das Herrenhaus bestand aus den großjährigen Prinzen des kaiserlichen Hauses, aus den Häuptern inländischer Adelsgeschlechter, denen die erbliche Mitgliedschaft verliehen war, den Erzbischöfen und Bischöfen mit fürstlichem Rang und einer zwischen 150 und 170 begrenzten Zahl von Staatsbürgern, denen wegen ihrer Verdienste um Staat und Kirche oder um Wissenschaft und Kunst die lebenslängliche Mitgliedschaft verliehen worden war. Das Abgeordnetenhaus war nicht durch direkte Wahlen aus bestimmten Gruppen des Gesamtvolkes, sondern durch indirekte Wahlen der Landtage der vorgenannten Kronländer zu wählen. Herrenhaus und Abgeordnetenhaus waren gleichberechtigt. Der Beschluß eines Reichsgesetzes bedurfte demnach der gleichwertigen Zustimmung beider Kammern des Reichsrates. In ihrer ursprünglichen Gestalt hatte also die konstitutionelle Reichsverfassung von 1867 das föderalistische Prinzip ebenso scharf wie die vorbildlichen bundesstaatlichen Verfassungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweizerischen Eidgenossenschaft verwirklicht. Durch diese Gestalt des Föderalismus war 31

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zugleich im Sinne des Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger den „Volksstämmen", aus denen sich das österreichische Staatsvolk zusammensetzte, vorbehaltlich des Sanktionsrechtes und der sonstigen Regierungsakte des Kaisers die Herrschaft im Staat überantwortet. Die Kronländer waren der Mutterboden des Staatsvolkes, die Landtage die Werkzeuge seiner Macht und die in den Reichsrat entsendeten Abordnungen dieser Landtage die den Gesamtwillen des Staates gestaltenden Kräfte. Der Kaiser konnte durch die Einbringung von Gesetzesentwürfen der Reichsregierung im Reichsrat unverbindliche Vorschläge über den Gesetzesinhalt machen und über das Schicksal der Gesetzesbeschlüsse durch seine Sanktion entscheiden. Die Sanktionsverweigerung kam bei einem ehrlich konstitutionellen System, zumal in Anbetracht des Erfordernisses der Übereinstimmung beider Häuser, nur in Ausnahmefällen in Frage. Überraschenderweise lehnte der böhmische Landtag durch seine tschechische Mehrheit diese extrem föderalistische Lösung des österreichischen Staatsproblems aus dem Grunde ab, weil die radikalen Vertreter des tschechischen Volkes für die Länder der sogenannten „Wenzelskrone": Böhmen, Mähren und Schlesien, und damit für die tschechische Mehrheit dieser Länder eine gleiche Stellung innerhalb des Habsburgerreiches forderten, wie sie der Kaiser, bzw. der König dem von Magyaren beherrschten Herrschaftsraum der,,Stephanskrone " zugebilligt hatte, also eine trialistische an Stelle der dualistischen Lösung. Um dieser nationalpolitischen Forderung Nachdruck zu verleihen, verweigerte der böhmische Landtag die Wahl von Vertretern des Landes Böhmen in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates in Wien, sodaß das Land Böhmen während der ersten Gesetzgebungsperiode des im Jahre 1867 geschaffenen Reichsrates in dessen Abgeordnetenhaus un vertreten geblieben war. 1873 wurde daher das Grundgesetz über die Reichsvertretung von 1867 in der Weise abgeändert, daß die Mitglieder des Abgeordnetenhauses nicht durch mittelbare Wahl von Seite der Landtage der Kronländer, sondern durch unmittelbare Wahl aus Wahlkreisen der österreichischen Staatsbürger berufen werden mußten. Der erste Versuch, den übernationalen Staat Österreich nach dem föderalistischen Prinzip als echten Bundesstaat einzurichten, war damit gescheitert und wurde als erhofftes Mittel, den Nationalitätenkampf zu schlichten, erst wieder 1899 von Karl Renner in neu durchdachter Gestalt zur Diskussion gestellt, von der Staatsführung jedoch erst im Jahre 1918 auf Betreiben des

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Rechtslehrers Professor Heinrich Lammasch, dem letzten Ministerpräsidenten der Monarchie, aufgegriffen. Diese verfassungsgesetzliche Gestaltung der konstitutionellen Regierungsform wurde freilich für den Fall staatlicher Notstände durch ein Notverordnungsrecht des Kaisers abgeschwächt. Der berühmt gewordene § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung hat nämlich nach den Vorbildern der Reichsverfassung von 1849 und 1861 ein Notverordnungsrecht des Kaisers für den Fall der Unmöglichkeit parlamentarischer Gesetzgebung vorgesehen. ,,Wenn sich die dringende Notwendigkeit solcher Anordnungen, zu welchen verfassungsmäßig die Zustimmung des Reichsrates erforderlich ist, zu einer Zeit herausstellt, zu welcher dieser nicht versammelt ist, so können dieselben unter Verantwortung des Gesamtministeriums erlassen werden, insofern solche keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezwecken, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsgut betreffen." Die Gesetzeskraft dieser Verordnungen erlischt, wenn die Regierung unterlassen hat, dieselben dem nächsten, nach deren Kundmachung zusammentretenden Reichsrat, und zwar zuvorderst dem Hause der Abgeordneten zur Genehmigung vorzulegen, oder wenn dieselben die Genehmigung eines der beiden Häuser des Reichsrates nicht erhalten. Auf Grund dieser Verfassungsvollmacht wurden in der darum mitunter als „scheinkonstitutionell" beurteilten Monarchie viele hunderte gesetzeskräftige Verordnungen erlassen und nicht wenige sogar zu dauernden Bestandteilen der Rechtsordnung, z.B. des bürgerlichen Gesetzbuches gemacht, weil der Reichsrat von der Möglichkeit, ihre Außerkraftsetzung zu bewirken, nicht Gebrauch gemacht hat. Die Deutung dieser Vorgangsweise als stillschweigende Zustimmung des parlamentarischen Gesetzgebers zu dem einseitigen Willensakt der Regierung, bzw. des Kaisers, war in jenen Fällen gerechtfertigt, in denen die rechtspolitische Pflicht zu Leistungen des Staates, namentlich zur Flüssigmachung von Gehalten, Löhnen, und zur Erfüllung von sonstigen Zahlungspflichten unbestreitbar und unbestritten war. Die Verweigerung der parlamentarischen Genehmigung zu solchen staatlichen Leistungen hat daher den unkonstitutionellen Weg der Notverordnung leider nur zu oft gerechtfertigt. Im März 1914 wurde der Reichsrat und damit auch sein im Jahr 1913 neu gewähltes Abgeordnetenhaus vertagt und damit die konstitutionelle Verfassung bis 1916 ausgeschaltet. Das berufene Forum für die Äußerung des Volkswillens angesichts des drohenden und im Juli 1914 entbrannten Weltkrieges war damit zu mehr-

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jährigem Schweigen verurteilt. Der sinnfällige Vorzug Österreichs vor Staaten wie Rußland, das erst im Jahr 1905 scheinkonstitutionelle Einrichtungen erhalten hatte, war damit verlorengegangen und separatistischen Tendenzen in einer Reihe von Volksstämmen, namentlich im tschechischen Volk, war Tür und Tor geöffnet. Die Forderungen verfassungstreuer bürgerlicher Persönlichkeiten, wie namentlich des Wiener Staatsrechtslehrers Edmund Bernatzik, scheiterten ebenso wie die der sozialdemokratischen Parlamentsmitglieder am Einspruch des Oberkommandos der Wehrmacht. Das nach dem Regierungsantritt des Kaisers Karl im Jahre 1917 einberufene Reichsparlament stand vor der Tatsache einer in der Volksvertretung und im Volk überwiegenden Staatsskepsis. Das zweite am 21. Dezember 1867 sanktionierte Grundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger galt als der Ruhmestitel der konstitutionellen Verfassung. Dieses Grundgesetz hat die in den Verkündungen der Menschen- und Bürgerrechte Großbritanniens, der Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreichs grundgelegten Freiheitsrechte, einerseits aller Menschen und sogar einzelner juristischer Personen, andererseits der Staatsbürger, in seiner für die Völker Mittel- und Osteuropas vorbildlichen Gestalt in Kraft gesetzt. Im einzelnen wurden die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und die gleiche Zugänglichkeit der öffentlichen Ämter für alle Staatsbürger als wesentlicher Schritt zur Demokratisierung der Rechtsordnung statuiert. Ferner gewährleistet dieses Staatsgrundgesetz die nachstehenden liberalen Freiheitsrechte: die Freizügigkeit der Person und des Vermögens, die Unverletzlichkeit des Eigentums, die Freiheit des Aufenthaltes und Wohnsitzes innerhalb des Staatsgebietes, des Liegenschaftserwerbes, und die Ausübung der Erwerbsmöglichkeiten unter den gesetzlichen Bedingungen, die Freiheit der Person, die Unverletzlichkeit des Hausrechtes, das Briefgeheimnis, das Petitionsrecht, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der gemeinsamen Religionsausübung für alle gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre, die Freiheit der Gründung und des Betriebes von Unterrichts- und Erziehungsanstalten, die Freiheit der Berufswahl und der Berufsausübung. Die beiden älteren Gesetze vom 27. Oktober 1862 zum Schutz der persönlichen Freiheit und zum Schutz des Hausrechtes blieben neben dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger in Geltung.

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Mit diesen Gesetzgebungsakten hatte Österreich schon vor rund einem Jahrhundert einen Rechtsschutz menschlicher und staatsbürgerlicher Grundfreiheiten erhalten, der nahe an die Anforderungen der Bestimmungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten heranreicht, die Österreich am 5. August 1958 ratifiziert hat. Die Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 und das Zusatzprotokoll zu dieser Konvention vom 13. Dezember 1957 wurden im Bundesgesetzblatt Nr. 210 aus 1958 kundgemacht und das Inkrafttreten der Konvention und des Zusatzprotokolls als am 3. September 1958 erfolgt festgestellt. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Oktober 1961, G. 2/61, hat indes den in der Konvention geregelten persönlichen Grundrechten aus formalen Gründen innerstaatliche Wirksamkeit versagt und wurde hiedurch zum Anlaß des Bundesverfassungsgesetzes vom 4. März 1964, BGBl. Nr. 59/1964. Durch dieses Bundes Verfassungsgesetz wurde die Verfassungsurkunde Österreichs von 1920 in der Fassung von 1929 einschließlich der in ihrem Art. 149 aus dem Kaiserstaat Österreich rezipierten Verfassungsrechtsquellen im Sinne der Bestimmungen der Menschenrechtskonvention abgeändert. Hiedurch ist die bedauerliche Differenz zwischen der günstigeren völkerrechtlichen und der ungünstigeren innerstaatlich-österreichischen Rechtslage in den von der Konvention geregelten Punkten beseitigt. Der in einzelnen Punkten weitergehende österreichische Rechtsschutz auf diesem Gebiete ist dagegen aufrecht geblieben. Der letzte Artikel (19) des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ist durch die Eigenschaft des Kaiserstaates Österreich als gemischt-nationaler Staat bedingt, in dem sich die Staatsnation als Inbegriff sämtlicher Staatsangehöriger aus Angehörigen von acht Kultumationen zusammengesetzt hat, und daher von der Rezeption des altösterreichischen Grundgesetzes durch Art. 149 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 ausgenommen worden. Trotzdem kommt gerade diesem Artikel in verfassungsgeschichtlicher Schau überragende Bedeutung zu. Seine Aufgabe: das Zusammenleben von acht Völkern oder Teilen von Völkern an Grundnormen zu binden und zu sichern, ist das Kernproblem eines gemischt-nationalen Staates. An dem Versuch, die reibungslose Koexistenz seiner Völker zu sichern, ist Altösterreich gescheitert. Der Verfassungsartikel besagt: „Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Natio-

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nalität und Sprache. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt. In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält. " Nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, amtliche Sammlung Nummer 2459, ist diese Bestimmung im Wege inhaltlicher Derogation aufgehoben. Die Gesetzgebung und Vollziehung in Reich und Ländern war den zitierten Anordnungen der Staatsverfassung durchaus angepaßt: Die Reichsgesetze wurden im Reichsgesetzblatt in den acht Staatssprachen deutsch, tschechisch, polnisch, ruthenisch, rumänisch, kroatisch, slowenisch und italienisch kundgemacht. Diese Sprachen der Gesetzgebung des Reiches waren die zulässigen Verhandlungssprachen in beiden Häusern des Reichsrates, und mit jeweiliger Beschränkung auf die landesüblichen Sprachen die Verhandlungssprachen in den Landtagen der Kronländer. Der rein tatsächlich überwiegende, aber jedenfalls freiwillige Gebrauch der deutschen Sprache im Reichsrat von Seite nichtdeutscher Parlamentsmitglieder diente nur der leichteren Verständigungsmöglichkeit mit nichtdeutschen Parlamentsmitgliedern und Zuhörern, namentlich aus dem Kreise der Presse. Die acht Staatssprachen waren Amtssprachen für den Verkehr im Inneren der Behörde, Ämter und Anstalten und für deren Verkehr mit der Bevölkerung, ferner Unterrichtssprachen an den öffentlichen Schulen in den Wohngebieten der einzelnen Volksstämme. Diese Einrichtungen gaben dem Staatsganzen den Charakter eines übernationalen Staates von der Art der Schweiz. Die Herrschaft einer einzigen, für Österreich und Ungarn einheitlichen Kommandosprache der Armee und der Kriegsmarine war eine rechtlich anerkannte Durchbrechung des Grundsatzes der Gleichberechtigung der Staatssprachen im Staatsleben. Sie wurde mit der Unvermeidlichkeit national gemischter Truppenkörper in einem Vielvölkerreich, besonders wegen der nationalen Mischung der Bevölkerung vieler Gemeinden, und mit der Notwendigkeit der allgemeinen Verständlichkeit gewisser Befehlsformeln im Frieden und noch mehr im Kriegsfall gerechtfertigt. In der österreichisch-ungarischen Armee galt

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deutsch, in der ungarischen „Landwehr" (Honved) magyarisch als Kommandosprache. Ein von dieser Rechts- und Tatsachenlage scheinbar abweichender ungünstiger Eindruck des Sprachenrechtes ergab sich für den ausländischen Beurteiler zu Lasten Österreichs aus der mißverständlichen Annahme, daß die im Königreich Ungarn herrschende Rechts- und Tatsachenlage auch auf Österreich zutreffe. Seit der Lostrennung Ungarns von Österreich und seiner Ausstattung mit Eigenstaatlichkeit mittels des Gesetzgebungsaktes vom 21. Dezember 1867 waren das Kaiserreich Österreich und das Königreich Ungarn selbständige Staaten, die insbesondere auch in Bezug auf die Gestaltung des Sprachenrechtes volle Selbstbestimmung hatten. Dank seiner Souveränität hat das Königreich Ungarn seine nationalen Gruppen, nämlich die Magyaren, Kroaten, Rumänen, Slowaken und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzenden Deutschen nicht so wie die österreichische Verfassung den oben genannten Volksstämmen gleichgestellt, sondern die magyarische „Staatsnation" gegenüber den ungarischen Staatsbürgern nichtmagyarischer Nationalität wesentlich bevorzugt, insbesondere die magyarische Sprache als einzige Staatssprache anerkannt. Der Kaiser von Österreich wäre rechtlich und tatsächlich außerstande gewesen, in seiner Eigenschaft als König von Ungarn den beiden Kammern des ungarischen Parlaments ein Sprachenrecht von gleicher Art wie es in Österreich geherrscht hat, aufzuzwingen. Dem magyarischen Volk gehörte zwar nur die Hälfte der im Königreich Ungarn wohnenden Staatsbürger an, doch waren ihm rund neun Zehntel der Sitze des Unterhauses vorbehalten, sodaß die ungarischen Staatsangehörigen nichtmagyarischer Nationalität im einzelnen und in ihrer Gesamtheit in die Rolle einer kontrollierenden, aber nicht mitregierenden Minderheit der ungarischen Staatsnation verwiesen waren. Eine derart ungleiche Behandlung der nationalen Gruppen in Ungarn hat, da sie infolge der starren Festhaltung der Vorzugsstellung des magyarischen Volkes auf dem Wege der Gesetzgebung nicht gemildert oder gar beseitigt werden konnte, begreifliche Staatsmüdigkeit in den Führungsschichten der benachteiligten nationalen Gruppen ausgelöst. Doch auch in Österreich hat die ideale verfassungspolitische Lösung des Nationalitätenproblems bei seiner gesetzlichen und verwaltungsmäßigen Durchführung sowohl auf dem Boden des Reiches, als auch der mehrsprachigen Länder schwere Konflikte ausgelöst, die auch in anderen europäischen Staaten wie Belgien und Großbritannien ihr Gegenstück haben und im letzteren Fall durch die Gründung des irischen Freistaates ihre Lösung fanden.

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Der vorerwähnte Vorschlag des sozialdemokratischen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates und nachmaligen Staatskanzlers und Präsidenten der Republik Österreich Dr. Karl Renner hat unter den verschiedenen Versuchen der nationalen Befriedung des Vielvölkerreichs im Inland und Ausland die größte Beachtung und weitgehende Zustimmung gefunden. Erstmals hat Renner den Plan eines österreichischen Nationalitätenbundesstaates in seinem im Jahre 1899 veröffentlichten Buch „Nation und Staat" entwickelt und in einer langen Reihe von Veröffentlichungen im Rahmen und Geist der konstitutionellen Monarchie die Durchführungsmöglichkeiten untersucht. Der Sinn einer solchen, in ihrer Tendenz konservativen Reform der Verfassung Österreichs war der, vor allem die demokratisch gesinnten Schichten des österreichischen Volkes vor der als möglich geahnten Gefahr der Unterstellung unter die Herrschaft reaktionärer fremder Staatsgewalten zu behüten. Den Mitgliedern des Herrscherhauses und den sogenannten staatserhaltenden konservativen Parteien war die Gefährdung der Staatseinheit durch den Nationalitätenhader nicht einmal dadurch bewußt geworden, daß der Streit um,,nationale Belange4' weit mehr als kultureller und sozialer Fortschritt das Lebenselement von kleinen radikalen Parteien und die Chance der Wiederwahl ihrer parlamentarischen Führer geworden war. Aussichtsreicher erschien die Forderung einer demokratischen Reform des Wahlrechtes, in der sich die christlich-soziale und die sozialdemokratische Partei mit anderen freiheitlichen Gruppen des Abgeordnetenhauses gefunden hatten. Anstelle des ,,Privilegienwahlrechts 44, welches das Stimmrecht zum Abgeordnetenhaus, abgesehen von einer Minderheit der Abgeordneten, die ohne die Voraussetzung einer direkten Steuerleistung wählbar waren, von einer abgestuften Steuerleistung abhängig machte, erwirkte die kaiserliche Regierung in gemeinsamen Bemühungen mit den demokratischen Fraktionen des Abgeordnetenhauses nach dem Scheitern der Ministerpräsidenten Gautsch und Hohenlohe-Schillingfürst unter der Führung des Ministerpräsidenten Max Vladimir v. Beck 1907 die Gesetzwerdung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes der 24jährigen männlichen Staatsbürger. Damit hatte der demokratische Gedanke in der Rechtsentwicklung des Kaiserstaates nach dem schon im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger verankerten Prinzip der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz den ersten großen Fortschritt einer Demokratisierung der Staatseinrichtungen erzielt. Die Erwartung freilich, daß die neuen Mandatare des Volkes dem unfruchtbaren, überwiegend um Lappalien geführten Nationalitätenstreit ein

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Ende machen würden, hat sich nicht erfüllt. Auch in der Schichte der nichtsteuerpflichtigen Wähler und Gewählten fand unfruchtbarer Nationalismus bei nationalen Streitfragen Anklang. Durch diese Erfahrung bekamen antiparlamentarische Strömungen Oberwasser und antiparlamentarische Staatsmänner den Zutritt zum Staatssteuer. Gerade in der für Österreich und Europa gefährlichsten Stunde, im Augenblick der Ermordung des Thronfolgers von Österreich-Ungarn, Erzherzog Franz Ferdinand, war der österreichische Reichsrat ausgeschaltet und mit ihm auch Rat und Tat der pazifistischen Kräfte im Inland, die gleichgesinnten Kräften im Auslande Chance für ihre Bemühungen um die Erhaltung des Friedens hätten geben können. So wurde die geschichtliche Paradoxie möglich, daß trotz der beträchtlichen Teilerfolge der internationalen Friedenskonferenzen, die in Den Haag in den Jahren 1899 und 1907 stattfanden, mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien im Juli 1914 das blutigste Jahrhundert der kultivierten Welt anbrach. Durch den Krieg wurden die separatistischen Tendenzen innerhalb der Volksstämme Österreichs und Ungarns entbunden und dadurch chancenreich, daß die Kriegsgegner Österreich-Ungarns in ihnen ein Mittel erkannten, vor allem diesen Kriegsgegner militärisch zu überwinden, indem sie dem zu ihrem Bundesgenossen gewordenen Königreich Italien Erfüllung seiner nationalen Erwartungen und Unterhändlern anderer Volksstämme Österreichs, namentlich des tschechischen Volkes, Erfüllung der Forderung der Eigenstaatlichkeit zusagten, während noch die wehrpflichtigen Männer dieser Volksstämme unter Kommandanten ihrer eigenen Nationalität im Verbände der österreichisch-ungarischen Armee für Österreich und Ungarn in einem mehr als vierjährigen blutigen, aber hoffnungslosen Kampf standen. Erst angesichts der Verkündung des Programms einer staatlichen Neuordnung der Staatsgebiete von Österreich und Ungarn gemäß dem Nationalitätenprinzip aus dem Kreise der Kriegsgegner bekannte sich die Staatsführung mit Beschränkung auf Österreich, also nicht auch mit Wirksamkeit für Ungarn, zum Programm der Aufgliederung Österreichs in einen Nationalitäten-Bundesstaat. Kaiser Karl erläßt auf dringendes Anraten des eben erst ernannten Ministerpräsidenten Professor Heinrich Lammasch, eines weit über Österreich hinaus bekannten und anerkannten Völkerrechts- und Strafrechtslehrers, mit dessen Gegenzeichnung ein vom 16. Oktober 1918 datiertes „Manifest" an

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seine Völker. Diese unter keinen staatsrechtlichen Typus subsumierbare und daher nicht rechtsetzende Willensäußerung verkündet den Entschluß des Kaisers, „dem Willen seiner Völker gemäß", Österreich zu einem Bundesstaat umzugestalten, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bilden sollte. Eine unmittelbare rechtliche Bedeutung kam dieser Willenserklärung des Kaisers nicht zu, da ihre Absicht nach der damaligen Rechtslage nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz, im besonderen durch einen Gesetzesbeschluß der beiden Häuser des Reichsrates und die Sanktion des Kaisers, Rechtswirksamkeit erlangen konnte. Der Sinn des Manifestes beschränkt sich somit auf ein allgemein gehaltenes Programm einer Regierungsvorlage betreffend ein verfassungsänderndes Reichsgesetz. Eine Bezugnahme auf die oben erwähnte Tatsache, daß der Kaiserstaat Österreich schon einmal, durch die Gesetzgebung des Jahres 1867, als Bundesstaat der zu Gliedstaaten erhobenen Kronländer gestaltet war, ist, bewußt oder unbewußt, unterblieben. Dagegen hat das Manifest des Jahres 1918 auf Verlangen der Ungarischen Regierung ausdrücklich gewährleistet, daß die Länder der ungarischen Krone durch die österreichische Staatsform nicht betroffen werden sollten. Die nationalpolitische Sinngebung der mit dem Manifest in Aussicht gestellten Verfassungsreform hat eindeutig ihre Wurzeln in dem staatspolitischen Konzept von Dr. Karl Renner aus dem Jahre 1899. In einem Zeitpunkt, wo die Siegermächte des Ersten Weltkrieges den Volksstämmen des Kaiserstaates, sei es Eigenstaatlichkeit oder Anschluß an einen bestehenden oder in Bildung begriffenen anderen Staat zugesichert hatten, war jedoch eine eigengesetzliche Staatsreform des österreichischen Vielvölkerreiches unwiderruflich zu spät gekommen. Außerdem war das Programm einer Staatsreform auf nationaler Grundlage durch die Selbstbindung des Kaisers von Österreich, daß er es sich als König von Ungarn nicht zu eigen machen werde, zum Scheitern verurteilt. Die vom ungarischen Staatsrecht im Verhältnis zum magyarischen Volk zurückgesetzten Volksgruppen hätten sich die Rechtslage, die die Volksstämme Österreichs bereits seit 1867 innehatten, und die Autonomie in Gestalt eines eigennationalen Gliedstaates, die diesen Volksstämmen durch das Wort des Monarchen zugesagt war, nicht länger vorenthalten lassen. Während der letzten Zuckungen des Ersten Weltkrieges haben indes die Völker Österreichs und Ungarns ihr künftiges staatliches Schicksal teils mit Förderung, teils mit Duldung der Siegermächte, jedoch ohne Mitbestimmung des bisherigen Herrschers und Herrscherhauses selbst bestimmt.

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II. Die Entwicklung der Republik Österreich Am 17. Oktober 1918 hielten die Vertreter aller deutschsprachigen Parteien des Abgeordnetenhauses des Reichsrates eine Besprechung ab, in der stimmeneinhellig der Beschluß gefaßt wurde, am 21. Oktober eine „Vollversammlung aller deutschen Abgeordneten" abzuhalten. Diese Vollversammlung konstituierte sich als Nationalversammlung, und wählte je einen Vertreter der „christlichsozialen, deutschnationalen und sozialdemokratischen Partei" zu ihrem gleichberechtigten Vorsitzenden. Damit war zwar nicht in Vollziehung des kaiserlichen Manifestes, aber in Übereinstimmung mit dessen Aufruf, an der staatlichen Neuordnung durch Nationalräte mitzuwirken, die aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation bestehen sollten, der Grundstein für einen deutschsprachigen Neustaat gelegt, der freilich nicht den Charakter des Gliedstaats eines übernationalen österreichischen Bundesstaates hatte, sondern ein souveräner österreichischer Staat war. Die Vollversammlung der deutschsprachigen Mitglieder des Abgeordnetenhauses des Kaiserstaates konstituierte sich als Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich. Am 30. Oktober 1918 faßte diese Provisorische Nationalversammlung einen Beschluß über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt, der im Staatsgesetzblatt für Deutschösterreich unter Nr. 1 kundgemacht wurde. Seiner Form und seinem Inhalt nach bedeutet dieser Beschluß die provisorische Verfassung eines souveränen Staates Österreich. Revolutionär ist der Untergang des Kaiserstaates Österreich und die Entstehung der Republik Österreich sowie der anderen Nachfolgestaaten der Monarchie nur darum zu nennen, weil sich der Prozeß der Staatsgründung nicht in Form von Staatsakten des Vorgängerstaates, nämlich des Kaiserstaates Österreich, sondern spontan durch das Handeln vormaliger, aber nicht für ihren Staatsgründungsakt legitimierter Organe des Kaiserstaates Österreich abgespielt hat. Die Auflösung der Monarchie war soweit gediehen, daß der Reichsrat nicht mehr einberufen werden konnte, um eine neue Verfassung oder die Liquidierung des Staatsapparates beschließen zu können. Die Eigenstaatlichkeit der Volksstämme des Kaiserstaates mußte nicht durch einen Aufstand der im Vielvölkerreich zusammengefaßten Volksstämme und eine kämpferisch Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen nationalen Staatsgenossen durchgesetzt werden, sondern war auf unblutigem Weg durch den Zerfall des Reiches in seine nationalen Bestandteile entstanden. Der als Deutschösterreich bezeichnete Neustaat war von seiner Entstehung an Republik, weil seine provisorische Verfassung

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für das Amt eines Monarchen keinen Raum gelassen hatte. Nicht der Titel, sondern die Institution eines Staates bestimmen dessen Staatsform. Das Gesetz vom 12. November 1918 ,,über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich" proklamiert mit Stimmeneinhelligkeit seiner Mitglieder bei einigen Stimmenthaltungen Deutschösterreich als „demokratische Republik". Die Ergänzungen und Änderungen dieser provisorischen Verfassung sind derzeit überholt. Bloß der Staats vertrag von St. Germain vom 10. September 1919 ist bis heute von bleibender Bedeutung. Dieser völkerrechtliche Vertrag hat freilich für die Republik Österreich nicht die Bedeutung eines Friedens Vertrages, weil nicht die Republik Österreich oder irgendein anderer Nachfolgestaat des zur Zeit des Abschlusses des Vertrages von St. Germain unbestritten toten Staates der Monarchie, sondern dieser zu den Alliierten und Assoziierten Mächten im Kriegszustand begriffen war. Der Weg zur definitiven Staatsverfassung der Republik mußte durch die Erfüllung von mehreren politischen Voraussetzungen freigemacht werden: Die Anerkennung der Republik Österreich als eines der Nachfolgestaaten des Kaiserstaates, zur Entkräftung der im Ausland verbreiteten Fiktion der Identität der Republik mit der Monarchie, die Überwindung der dringendsten kriegsbedingten Notstände und die Abwehr sozialrevolutionärer und separatistischer Bewegungen, denen die Republik Österreich bald nach ihrer Gründung von außen und innen ausgesetzt war. In dieser Lage bewährte sich zum erstenmal, dank dem patriotischen Verantwortungsbewußtsein der Führerpersönlichkeiten der Republik, namentlich der Bundeskanzler Dr. Karl Renner, Dr. Michael Mayr und Dr. Ignaz Seipel, die zunächst auf einer Parteienvereinbarung beruhende und nach Lösung dieser Vereinbarung doch tatsächlich ausgeübte Zusammenarbeit der führenden politischen Kräfte des Neustaates. Auf Grund einer von der provisorischen Nationalversammlung verabschiedeten Wahlordnung wurde am 16. Februar 1919 gemäß einem demokratischen Verhältniswahlrecht aller einundzwanzigjährigen Männer und Frauen ein Parlament gewählt, das nach seiner primären Zweckbestimmung den Namen einer „konstituierenden Nationalversammlung" erhielt. Es setzte sich aus 72 Angehörigen der sozialdemokratischen, 69 Angehörigen der christlichsozialen Partei, ferner aus 26 Vertretern nationaler Gruppen, die sich in betontem Sinne zum großdeutschen Programm bekannten, und drei Vertretern von Splitterparteien zusammen. In dieser parteimäßigen Zusammensetzung des ersten in der Republik gewählten Parlaments kündigt sich das annähernde Gleichgewicht und die Konkurrenz

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jener politischen Kräfte an, die vor und nach dem autoritären Zwischenspiel des sogenannten Ständestaates von 1934-1938 und des nationalsozialistischen Deutschen Reiches von 1938-1945 dem politischen Leben der österreichischen Republik das Gepräge geben. Obwohl revolutionäre Kräfte in Österreich selbst in der unmittelbar dem Ersten Weltkrieg folgenden Zeit keinen nennenswerten Anhang hatten, lag doch die Möglichkeit eines politischen Umbruchs in der Gestalt einer Minderheitsdiktatur zu jener Zeit nahe, als in Bayern die Rätediktatur unter Führung Eislers und in Ungarn die Rätediktatur unter Führung Kuns geherrscht hat. Mit dem ganzen Einsatz ihrer Persönlichkeit haben die Mitglieder der österreichischen Staatsregierung eine solche Entwicklung im Jahre 1919 verhindert. Während die Republik Österreich unblutig begründet werden konnte, waren im Kampf um ihre Konsolidierung auf Seite dereiner auswärtigen Autorität dienenden revolutionären Aktion und auch der staatlichen Exekutive Österreichs Todesopfer zu beklagen. Die politische Selbstbesinnung der Bevölkerung Österreichs hat damals auch im neutralen Ausland umso größere Bewunderung erfahren, als der Staatsvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 Österreich in das tiefste Wellental seiner Geschichte gestürzt hat. Außer der Auferlegung der ausschließlichen Kriegsschuld mittels der Fiktion der Identität der Republik Österreich mit dem österreichischen Kaiserstaat, aus dessen Erbmasse die Siegermächte der Republik Österreich nur einen Bruchteil des Flächenraumes und der Bevölkerung unter einer formell und der personellen Zusammensetzung nach neuen Verfassung und Regierung zugebilligt hatten, war der Neustaat mit wirtschaftlich schier untragbaren Friedensbedingungen belastet worden, die später aus den Siegerstaaten und zwar auch aus deren Regierungen eine vernichtende fachmännische Kritik erfahren haben. Das einheitliche Verkehrs- und Wirtschaftsgebiet war durch die neuen Staatsgrenzen in sinnloser Weise zerrissen worden, ohne daß diese Änderungen durch die nationalen Grenzen der Siedlungsräume gerechtfertigt gewesen wären. Ja sogar Gemeinden waren in der Weise zerstückelt worden, daß Wohngebiete dem neuen Österreich zugeteilt, Industrie- und Bahnhofsanlagen dagegen gemäß dem Wunsch von Neustaaten diesen zugesprochen worden sind.Entgegen dem als Leitmotiv des Krieges von den Siegerstaaten verkündeten Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung und den nachdrücklichen Vorstellungen der österreichischen Friedensdelegation wurde das neue Österreich auf ein Staatsgebiet mit 6,5 Einwohnern beschränkt, unter denen sich

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rund 150.000 österreichische Staatsbürger tschechischer, kroatischer, slowenischer und magyarischer Nationalität befanden. Dagegen wurden fast vier Millionen deutschsprachiger Einwohner des vormaligen Österreich Sukzessionsstaaten mit nichtdeutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit in der Rolle von bleibenden nationalen Minderheiten, namentlich der tschechoslowakischen und der polnischen Republik, und den Königreichen Italien, Jugoslawien und Rumänien zugeteilt, so daß gerade der von den Friedensmachern vordem verurteilte Teilungsgrundsatz wirksam geworden war, daß Bevölkerungsteile wie Schachfiguren verschoben worden sind, und zwar, abgesehen von den in Kärnten und im Burgenland veranstalteten Plebisziten, ohne amtliche Feststellung des Willens der betroffenen Bevölkerung. Diese Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Lage des neuen Österreich hat in einzelnen Bundesländern separatistische Bewegungen ausgelöst, die auf den Anschluß dieser Länder sei es an die Schweiz oder an das Deutsche Reich abgezielt haben. Spätestens das Inkrafttreten des Staatsvertrages von St. Germain, der die Gebietsgrenzen Österreichs in ihrer heutigen Gestalt festgelegt hatte, brachte jedoch diese separatistischen Strömungen endgültig zum Stillstand. Das Diktat der Siegermächte über Verbleiben oder Ausscheiden von Volksteilen des neuen Österreich konnte indes für den demokratischen Gesetzgeber unseres Staates nicht maßgebend sein. Es war die heikelste und zeitraubendste Aufgabe der Kodifikation der Verfassung des Neustaates, einen dauerhaften Ausgleich zwischen den unitarischen und föderalistischen Strömungen innerhalb des Staatsvolkes herzustellen. Auf „Länderkonferenzen" in Wien, Linz und Salzburg kam ein Kompromiß zwischen den entgegengesetzten Richtungen in der Weise zustande, daß die Republik Österreich als ein Bundesstaat einzurichten sei. Um die Kriegswunden zu überwinden, mußten der zentralen Staatsautorität nach innen und außen Initiative und Widerstandskraft gegeben werden. Daher der Entschluß der sozialdemokratischen als der großen „Linkspartei", die separatistische Tendenz durch eine ehrliche Autonomie der Länder die auch den von einer sozialistischen Mehrheit regierten Ländern zugute kam, zu entschärfen, und der Entschluß der großen Rechtsparteien - bis 1933 der christlichsozialen, nach dem autoritär-österreichischen und dem nationalsozialistischen Zwischenspiel der österreichischen Volkspartei - von dem föderalistischen Vorbild der USA und im besonderen der Schweiz abzusehen und (nach dem

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Vorbild der Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919) für das neue Österreich eine maßvoll föderalistische Gestalt des Bundesstaates zu finden. Die Koalition zwischen der christlichsozialen und der sozialdemokratischen Partei, die sich seit Entstehung des neuen Österreich als Kristallisation der staatserhaltenden Kräfte bewährt hatte, zerfiel zwar am 10. Juni 1920 durch das Ausscheiden der sozialdemokratischen Minister aus der Regierung aus einem unbedeutenden Anlaß, hemmte aber doch nicht die Zusammenarbeit aller Parlamentsparteien bei der Erarbeitung eines Kompromisses über eine bundesstaatliche Verfassung. Diese wurde auf Grund von Initiativanträgen der christlichsozialen, großdeutschen und sozialdemokratischen Parteien, die der staatsrechtliche Berater der konstituierenden Nationalversammlung, Prof. Hans Kelsen, als Grundlage für je einen relativ rechts und links ausgerichteten Musterentwurf der österreichischen Staatsverfassung verwertet hatte, vom Verfassungsausschuß der konstituierenden Nationalversammlung und am 1. Oktober 1920 von diesem Parlament der österreichischen Republik stimmeneinhellig bei einigen wenigen Stimmenthaltungen zum Beschluß erhoben. Inhaltlich stellt sich diese im wesentlichen noch gegenwärtig geltende Verfassungsurkunde als ein Kompromiß zwischen den verfassungspolitischen Wünschen der großen bürgerlichen und der sozialistischen Partei dar. Damit bietet die Staatsverfassung schon dank ihrer ursprünglichen Gestalt eine Garantie für die Koexistenz mehrerer, selbst weltanschaulich sich unterscheidender demokratischer Parteien und, bei deren gutem Willen, eine Chance für friedliche Zusammenarbeit. Als nächste schwierige Aufgabe hatte die Republik die Finanz- und Währungskrise als Folgen des Krieges der Monarchie zu lösen. Die bürgerliche Koalitionsregierung unter dem Vorsitz von Professor Ignaz Seipel als Bundeskanzler löste die Währungsfrage im Jahre 1922 durch die Abwertung der Krone gemäß der gesetzlich festgesetzten Gleichung 10.000 Kronen = 1 Schilling; von einer Entschädigung der Opfer der Abwertung ihres Barvermögens wurde aus politischen und wirtschaftlichen Gründen abgesehen. Eine durch Vermittlung des Völkerbundes von einigen europäischen Staaten gewährte Anleihe war an die Bedingung einer zeitweiligen Kontrolle des Völkerbundes über die Gebarung des Staates geknüpft. 3 A. J. Mrkl

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Die typischen Pendelbewegungen revolutionär entstandener Staaten wirkte sich in der Forderung konservativer politischer Kreise nach einer Umbildung der parlamentarisch-demokratischen Verfassung in autoritärer Richtung aus. Die Abscheidung der Bevölkerung Österreichs von Rohstoffen einerseits, von den gewohnten Abnehmern andererseits als Folge der willkürlichen Grenzziehungen durch den Staatsvertrag von St. Germain hatte außerdem durch das Anschwellen der Arbeitslosigkeit gefährliche soziale Spannungen von einer Schärfe hervorgerufen, die der Republik zur Zeit ihrer Gründung erspart geblieben waren. Ein bewaffneter „republikanischer Schutzbund" und rechtsradikale „Heimwehren" standen einander kampfbereit gegenüber, nachdem die parlamentarisch erledigte Verfassungsreform des Jahres 1929 infolge des Erfordernisses der Zweidrittelmehrheit des Nationalrates bloß eine bescheidene Stärkung der Präsidialgewalt durch die Einführung eines niemals gehandhabten Notverordnungsrechtes des Bundespräsidenten gebracht hatte. Die Einwirkung des Faschismus aus Italien und des Nationalsozialismus aus dem Deutschen Reich auf Österreich haben einerseits Bestrebungen geweckt, diese Ideologien zu rezipieren, andererseits die Forderung gezeitigt und gerechtfertigt, die Abwehrkraft Österreichs durch eine ähnliche Ideologie mittels verwandter Methoden zu steigern. Die Gefahr der Machtergreifung des Kommunismus als einer Gegenkraft gegen Faschismus und Nationalsozialismus wurde zwar zur Rechtfertigung einer quasifaschistischen Aktion und autoritären Verfassungsänderung in Aussicht gestellt, war aber bei der bewährten demokratischen Einstellung der österreichischen Arbeiterschaft und besonders ihrer Führung kaum ernstlich zu erwarten. Die Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze hat am 4. März 1933 infolge eines parlamentarischen Zwischenfalles zum unüberlegten Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates und zur Entstehung eines parlamentlosen sogenannten autoritären Einpartei-Regimes geführt. Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß erklärte den Rücktritt der drei Präsidenten als eine endgültige „Selbstausschaltung des Nationalrates", verhinderte ein weiteres Zusammentreten des Nationalrates etwa auf Einberufung des Altersvorsitzenden, und übte die Bundesgesetzgebung auf Grund des während des Ersten Weltkrieges erlassenen „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes". Unter Berufung auf dieses Gesetz wurden die kommunistische, die nationalsozialistische und schließlich die sozialdemokratische Partei verbo-

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ten, und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes insolange untersagt, als dieser richterliche Garant nicht vollständig besetzt sei. Zwei der Regierung nahestehende Mitglieder dieses Gerichtshofes hatten ihren Rücktritt erklärt, ihre Ersetzung durch Nachfolger war jedoch verhindert worden, sodaß hiedurch die verfassungsgerichtliche Überprüfung zahlreicher in der parlamentslosen Zeit erlassener „Kriegswirtschaftlicher Verordnungen" unmöglich gemacht war. Nach Einschätzung von Rechtskennern war zwar mit der Bestätigung der großen Mehrheit der angefochtenen Verordnungen zu rechnen, der Minderheit der angefochtenen Verordnungen drohte jedoch die Aufhebung durch das Gericht. Am 29. April 1934 wurde anstelle des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 in der Fassung von 1929 mittels einer auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gegründeten Verordnung mit Wirksamkeit vom 1. Mai 1934 eine neue Verfassung für den „Bundesstaat Österreich" erlassen, und sodann auch durch einen Gesetzesbeschluß des mit Zuständigkeit für den gesamten Bundesstaat verbliebenen Bundesparlamentes bestätigt. Der verfassungspolitische Sinn dieses Staatsaktes war der, das bisherige parlamentarische System staatlicher Willensbildung durch ein berufsständisches System zu ersetzen und Österreich in eine „organische Demokratie" zum Unterschied von der für den westlichen Staatstypus kennzeichnenden „formalen Demokratie" umzuwandeln. Ihre rechtliche Eigenart sollte die neue Verfassung dadurch erhalten, daß die auf die Errichtung einer ständischen Gesellschaftsordnung abzielenden Forderungen der päpstlichen Enzykliken „Rerum novarum" (1891) und ,,Quadragesimo anno" (1931) auf die Konstruktion der Staatsverfassung übertragen werden sollten. Die Organisation des dieser Zielsetzung entsprechenden „christlichen Ständestaates" war so gedacht, daß anstelle eines aus dem Gesamtvolk gewählten Parlamentes Vertretungskörper der Berufsgruppen des Wirtschafts- und Kulturlebens zur Gesetzgebung berufen werden sollen. Bis zur Einrichtung derartiger „Wirtschafts- und Kulturstände" als rechts- und handlungsfähiger Körperschaften des öffentlichen Rechts mußte sich die Staatsführung allerdings damit begnügen, aus diesen Kreisen provisorische Gesetzgebungskörper durch Ernennung zu bilden. Da sich durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus in den politisch bewegten Jahren von 1934-1938 eine derart einschneidende Verfas32*

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sungsreform nicht bewerkstelligen ließ, war der ständische Gedanke im wesentlichen bloßes Programm geblieben und der vorherrschende Zug der österreichischen Verfassung das autoritäre Prinzip. Dieses hat sich mehr noch als in der staatlichen Gesetzgebung durch ernannte Gesetzgebungskollegien aus den Kreisen von Wirtschaft und Kultur in der zahlenmäßig überwiegenden Gestalt der Gesetzgebung durch Beschluß der Bundesregierung ausgedrückt. Die aktivsten Gruppen der seit dem 4. März 1933 von der politischen Willensbildung ausgeschlossenen Sozialdemokraten setzten im Februar 1934 dem autoritären Kurs bewaffneten Widerstand entgegen, wurden jedoch durch den Einsatz der bewaffneten Macht binnen weniger Tage zur Kapitulation gezwungen. Die Vollziehung einer Reihe von Todesurteilen über gefangengenommene Aufständische, die sich als legitime Verteidiger der bis zum 4. März 1933 unangefochtenen parlamentarischen Demokratie bekannten, hat angesichts der zwar geleugneten, trotzdem aber drohenden Pläne des Nationalsozialismus die Stabilisierung des österreichischen Regimes im Rahmen einer von einer zuverlässigen Mehrheit getragenen Verfassung gehindert. Im Juli 1934 versuchte die nationalsozialistisch gesinnte Minderheit, in einem noch blutigeren Waffengang die Macht zu ergreifen. Der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß fiel zwar dem Angriff auf das Gebäude des Bundeskanzleramtes zum Opfer, der Regierung gelang es aber binnen weniger Tage, des Aufstandes Herr zu werden. Damit bewies das durch die demokratische Staatverfassung des Jahres 1920 nicht legitimierte Regime zwar Effektivität, war aber angesichts der latenten Gegnerschaft zweier, wenn auch zu einer Kooperation nicht bereiter mächtiger Gruppen der österreichischen Bevölkerung, in seiner Aktionsfähigkeit nach innen und außen entscheidend gehemmt. Auch von außen war es weder durch demokratische, noch durch faschistische Mächte gestützt und schließlich auch vom faschistischen Italien als vermeintlichem Garanten seiner Unabhängigkeit verraten. Bei der Beurteilung des Verhältnisses der in Österreich wirksamen politischen Kräfte wurde freilich meistens übersehen, daß freie Wahlen in Landtage und Gemeindevertretungen der nationalsozialistischen Partei bis unmittelbar vor das Verbot der Partei nur kleine Minderheiten gebracht haben, und daß daher für ein demokratisches Parlament des Gesamtstaates kein anderes Ergebnis zu erwarten war. Der optische Eindruck der überragenden Stärke des österreichischen Nationalsozialismus beruhte auf seiner Einschätzung nach den Möglichkeiten des nationalsozialistischen Reiches. Die Behauptungen von nationalso-

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zialistischer Seite, daß durch die Ausschaltung der österreichischen Gesamtparlamente die wahre Einstellung des österreichischen Volkes zum Nationalsozialismus zum Schweigen gebracht worden sei, hat der Grundlage entbehrt. Trotz der wiederholt vertraglich gegebenen Zusicherung, die Unabhängigkeit Österreichs zu respektieren, stellte die Deutsche Reichsregierung am 11. März 1938 an Österreich die ultimative Forderung, eine ihr genehme österreichische Regierung zu bestellen. Der österreichische Bundespräsident beugte sich nach längerer Weigerung dieser völkerrechtswidrigen Intervention, da für den Fall ihrer Nichterfüllung die Besetzung Österreichs durch deutsche Truppen drohte. Indes war es gewiß eine Illusion, daß eine österreichische Bundesregierung von Hitlers Gnaden die Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich und im besonderen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht verhindern würde. Die unter dem Vorsitz des österreichischen Staatsbürgers Dr. Seyss-Inquart stehende österreichische Bundesregierung war zwar vom Bundespräsidenten Wilhelm Miklas ernannt und vereidigt worden, jedoch dank der Art ihrer Bestellung ein Werkzeug des Reichspräsidenten Adolf Hitler. Dieser übernahm dann auch aus den Händen des Bevollmächtigten Hitlers dessen Auftrag, das deutsche ,,Reichsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich4' vom 12. März 1934 so räch wie möglich für die Republik Österreich in Kraft zu setzen. Wenn die durch eine völkerrechtswidrige Intervention erwirkte Ersetzung einer ,,anschlußfeindlichen" durch eine „anschlußfreundliche" Regierung (im Sinne der wohl überwiegenden Lehrmeinung) nicht die Nichtigkeit, sondern eine folgenlose Rechtswidrigkeit dieses durch psychologischen Zwang erwirkten Staatsaktes bedeutet hat, so hätten zwei korrespondierende Gesetze der beteiligten Staaten die Vereinigung der beteiligten Staaten zu einem einzigen Staat bewirkt. Die autoritäre Verfassung des ,,Bundesstaates Österreich 44 hatte den „Anschluß44 absichtslos derart erleichtert, daß sogar die folgenschwerste Verfassungsänderung, nämlich die Preisgabe der Völkerrechtspersönlichkeit und damit der Existenz eines souveränen Staates Österreich nicht an das Erfordernis eines parlamentarischen Willensaktes und außerdem, wie im Sinn der ursprünglichen Verfassung, einer Volksabstimmung, sondern bloß eines als Bundesverfassungsgesetz gehörig kundgemachten, einhelligen Beschlusses der Bundesregierung gebunden war. Durch Jahre konnte daher jedermann im Vertrauen auf den äußeren Tatbestand des Erscheinens von inhaltlich übereinstimmenden Texten des

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deutschen Reichsgesetzblattes und österreichischen Bundesgesetzblattes betreffend die, wenn auch geschichtlich unrichtig bezeichnete „Wiedervereinigung Österreichs und des Deutschen Reiches" im Sinne einer rechtswirksamen Vereinigung der beiden Staaten zu einem Staat glauben. Das rechtskräftige Urteil im Hochverratsprozeß gegen den Minister Reinthaller hat indes außer Zweifel gestellt, daß die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer rechtswirksamen Willenserklärung des „Bundesstaates Österreich" im Fall dieses Gesetzes nicht erfüllt worden sind. Die Bundesregierung war nicht in der Lage, den gegenständlichen Beschluß zu fassen, denn sie war nicht förmlich zu einer Sitzung eingeladen worden, sondern nur einige im Gebäude des Bundeskanzleramtes anwesende Mitglieder der Regierung wurden mit dem Gegenstand des Gesetzesentwurfes bekanntgemacht und nur diese Mitglieder haben ohne eine formelle Abstimmung ihre Zustimmung geäußert. Ungeachtet der Tatsache, daß die Formerfordernisse des Gestzesbeschlusses der Bundesregierung im Sinne der Maiverfassung von 1934 nicht erfüllt waren, ließ Seyss-Inquart den scheinbaren Gesetzesbeschluß als Bundesverfassungsgesetz im Bundesgesetzblatt vom 13. März 1938 verlautbaren. Er deckte diese verfassungswidrige Weisung aktenmäßig dadurch, daß er den protokollführenden Beamten des Bundeskanzleramtes beauftragte, in üblicher Weise ein Protokoll über eine Sitzung des Ministerrates anzufertigen, in der alle Mitglieder der Bundesregierung als anwesend und zustimmend genannt werden, was der zu dieser Fälschung beauftragte Beamte als Zeuge im Hochverratsprozeß Reinthaller unter Eid ausgesagt hat. Bundesminister Reinthaller mußte von der auf seine angebliche Mitwirkung an dem fraglichen Gesetzesbeschluß gestützten Anklage freigesprochen werden, weil er beweisen konnte, daß er den fraglichen Tag weitab von Wien verbracht hatte. Das österreichische Gesetz über die Vereinigung mit dem Deutschen Reich war demnach ein absolut nichtiges Scheingesetz. Rechtliche Kraft konnte es auch nicht durch die auf Grund einer Verordnung des Reichsministeriums des Inneren im Deutschen Reich und in Österreich veranstaltete Volksabstimmung erlangen, weil diese die rechtswirksame Vereinigung beider Staaten zur Voraussetzung hatte. Die Behörden des Deutschen Reiches hielten sich jedoch spätestens nach dem Erscheinen des Scheingesetzes im österreichischen Bundesgesetzblatt zur ausschließlichen Ausübung der deutschen Staatshoheit auch im Staatsgebiet Österreichs für berechtigt, denn auch die große Mehrheit ausländischer Staaten hat die Verlautbarung der korrespondierenden Gesetzestexte als

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Begründung der territorialen Souveränität des Deutschen Reiches über Österreich gedeutet, und die Machtergreifung des Deutschen Reiches im österreichischen Staatsgebiet, wenngleich unter Protest, de facto, vereinzelt auch de iure, anerkannt; im besonderen haben sie ihre diplomatischen Vertretungen in Österreich aufgelassen und dem Deutschen Reich auch die Vertretungsbefugnis gegenüber Österreich zugebilligt. Auf österreichischer Seite wurde dagegen seit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und der kriegerischen Besetzung des österreichischen Staatsgebietes durch die vier Siegermächte die Rechtslage Österreichs offiziell in allen wissenschaftlichen Erörterungen im Gegensatz zu den Annahmen eines freiwilligen, paktierten Zusammenschlusses oder einer Annexion als Okkupation gedeutet. Österreich war zwar durch die Machtergreifung des nationalsozialistischen Reiches handlungsunfähig geworden, aber als Völkerrechtssubjekt aufrecht geblieben. Die Mitglieder seiner letzten Regierung waren überwiegend vom nationalsozialistischen Staat ihrer Freiheit beraubt und zum Teil erst nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches der persönlichen Freiheit teilhaftig geworden. Bezeichnend für die Einstellung der nationalsozialistischen Staatsführung gegenüber dem angeblich befreiten Österreich, das alsbald in Ostmark umbenannt worden war, ist die Tatsache, daß Österreich nicht als besondere politische Einheit von der Art der anderen Länder des Deutschen Reiches, wie Preußen, Bayern oder Würtemberg in das Reich aufgenommen, sondern unter willkürlicher Veränderung der geschichtlich seit Jahrhunderten überlieferten Landesgrenzen in unmittelbar der Reichsregierung unterstellte und durch Reichsstatthalter verwaltete „Reichsgaue" aufgegliedert worden ist. Die Reichs verwaltung zeigt sich, von einigen auf optische Wirkung berechneten Gesten abgesehen, nur darum bemüht, die österreichische Verwaltung und die Wirtschaft auf den seit langem beabsichtigten Krieg auszurichten. Für die Kriegsrüstung besonders erwünschte Vermögenswerte, namentlich der Goldschatz der österreichischen Nationalbank, der im Zeitpunkt des Anschlusses den der Deutschen Reichsbank bereits beträchtlich übertraf; die amtlichen und durch Anforderung raschest verfügbar gemachten privaten Devisenbestände von 1500 Millionen Schilling zu dem reichsrechtlich dekretierten Umrechnungsschlüssel von 3 S = 2 Reichsmark, Naturschätze, besonders Erzvorkommen, Erdöl und Wälder, wurden intensiv nutzbar gemacht und die durch das damalige österreichische Söldnersystem nicht

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entfernt ausgeschöpfte Wehrkraft durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht dem geplanten Krieg dienstbar gemacht. Nicht Österreich, wohl aber wehrfähige österreichische Staatsbürger haben als durch das Wehrrecht des Deutschen Reiches genötigte Angehörige der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg einen überdurchschnittlichen Blutzoll geleistet. Unter diesen Umständen hat die Deklaration von Moskau vom 1. November 1943, in der Großbritannien, die Vereinigten Staaten von Amerika, die Sowjetunion und später auch die Republik Frankreich die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich versprochen haben, dem Wunsche der erdrückenden Mehrheit des österreichischen Volkes Rechnung getragen. Die Befreiung Österreichs von der nationalsozialistischen Herrschaft, die Österreich den Heeren der Urheber der Moskauer Deklaration im Mai 1945 zu verdanken hatte, brachte allerdings noch nicht die Freiheit von jeder Fremdherrschaft, sondern einen Zustand der Besetzung von Seite der „Befreiungsmächte' 4. Dieser Zustand war durch die Tatsache, daß Österreich Kriegsschauplatz gewesen war, bis zur Sicherung des Landes vor dem Wiederaufleben einer Fremdherrschaft völkerrechtlich gerechtfertigt und wurde von den „Befreiungsmächten" unter Ausschluß von Österreich durch Vereinbarungen zwischen diesen Mächten festgelegt. Die demokratischen Parteien Österreichs, als welche in der Proklamation vom 27. April 1945 auf Initiative des vormaligen und neuerlichen Bundeskanzlers und späteren Bundespräsidenten Dr. Karl Renner, die österreichische Volkspartei (ÖVP), die sozialistische Partei (SPÖ) und die Kommunistische Partei (KPÖ) aufgetreten sind, haben den von dem nationalsozialistischen Reich erzwungenen Anschluß für null und nichtig erklärt und den Willen ausgesprochen, das Staatsleben der Republik in demokratischen Formen auf Grundlage der Bundesverfassung in der Fassung des Jahres 1929 zu erneuern. Damit haben sich auch jene österreichischen Parlamentarier, die in den Jahren 1933 und 1934 die Wendung zum autoritären Ständestaat vollzogen hatten, auf den Boden der parlamentarischen Demokratie gestellt. Diese Haltung war ihnen dadurch sachlich möglich gewesen, daß die staatspolitischen Erklärungen der päpstlichen Rundschreiben, namentlich der Enzyklika „Immortale Dei" ( 1885), immer den Standpunkt der Neutralität der Kirche gegenüber der Staats- und Regierungsform unter der einzigen Voraussetzung, daß deren Verwirklichung nicht den Forderungen der Gerechtigkeit widerspricht, und damit die Zulässigkeit der demokrati-

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sehen Republik anerkannt haben. Diesen Standpunkt hatte sich schon der führende bürgerliche Staatsmann Österreichs, der Theologieprofessor Ignaz Seipel, als Staatskanzler der eben begründeten jungen Republik in den Jahren 1919 und 1920 vorbehaltlos zu eigen gemacht. Als ein bedeutungsvoller Beitrag Österreichs zur Wiederbegründung seiner Unabhängigkeit ist auch die Tatsache zu verstehen, daß der österreichische Gesetzgeber diejenigen österreichischen Staatsbürger, die an der völkerrechtswidrigen Machtergreifung des Nationalsozialismus und damit am Verlust der Unabhängigkeit ihres Heimatstaates mitgewirkt hatten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen hat. Die zu diesem Zwecke eingesetzten Volksgerichte haben in den Jahren 1946 bis 1953, nach dem Kriegs Verbrechergesetz vom 26. Juni 1945, rund 14.300 Personen zu Freiheitsstrafen und 41 Personen zur Todesstrafe verurteilt, die in 32 Fällen vollzogen worden ist. Die rechtlich in einwandfreier Weise ermöglichte Ausnahme von der grundsätzlichen, freilich bloß für das ordentliche Verfahren normierten Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 85 des BundesVerfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, erklärt sich wohl nur aus der Tatsache, daß sich die hingerichteten österreichischen Kriegsverbrecher durch ihre Schuld des Verrates ihres Vaterlandes an das nationalsozialistische Reich auch für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges mit seinen furchtbaren Folgen für die Menschheit und für die Hinrichtung tausender österreichischer Widerstandskämpfer verantwortlich gemacht haben. Die wesentlichste Neuerung des österreichischen Verfassungsrechtes bedeutet das Bundes Verfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs. Es stellt sich als eine Folgerung aus dem Wiedergewinn der Handlungsfähigkeit des Staates dar, war aber geschichtlich eine Bedingung der Gewährung der Unabhängigkeit des Staates von Seite der vier Besatzungsmächte UdSSR, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, USA und Frankreich, und zwar der Preis, den Österreich der UdSSR für die Gewährung der Unabhängigkeit und Räumung des österreichischen Staatsgebietes zahlen mußte. Das gegenständliche Bundesverfassungsgesetz erklärt zum Zweck der dauernden Behauptung der Unabhängigkeit Österreichs nach außen und der Unverletzlichkeit seines Gebietes ,,aus freien Stücken" seine immerwährende Neutralität und verpflichtet Österreich, im besondern mittels der Vollzugsklausel die Bundesregierung, die Neutralität mit allen ihm zu Gebot stehenden Mitteln aufrecht zu erhalten

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und zu verteidigen, sowie zur Sicherung dieser Zwecke ,,in aller Zukunft" keinen militärischen Bündnissen beizutreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zuzulassen. Der Gesetzeswortlaut wird dahin ausgelegt, daß Österreich verpflichtet ist, in einer seinen Verhältnissen angemessenen und zumutbaren Weise eine bewaffnete Macht aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls zum Schutze der Neutralität einzusetzen. Das Neutralitätsgesetz bekennt sich damit zu einer sogenannten „bewaffneten Neutralität", und schließt damit die Abschaffung oder Entschärfung der Wehrmacht aus. Die Gegenleistung für diese verfassungsförmige Selbstbindung des österreichischen Staates von Seite der Interessenten der Unabhängigkeit Österreichs und der durch diese bedingten Neutralität stellt der Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 von Wien, betreffend Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, dar. Der Hauptinhalt dieses Staatsvertrages von Verfassungsrang besteht in folgenden Punkten: die Alliierten und Assoziierten Mächte anerkennen, daß Österreich als ein souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt ist. Mit diesem Artikel 1 wird die von den „Befreiungsmächten" geförderte politische Vorleistung Österreichs, die Emanzipation aus den durch die nationalsozialistische Besetzung hergestellten tatsächlichen Bindungen, anerkannt. Beachtlich ist, daß der von Österreich tatsächlich und gesetzgeberisch geleistete Beitrag im Dienste seiner Selbstbefreiung als solcher (unausgesprochen auch in Bezug auf die Anforderungen der Moskauer Deklaration von 1943) anerkannt wird. Dieses Zugeständnis ist in Anbetracht der unterschiedlichen Sinngebung der Demokratie von Seite der vier Vertragspartner Österreichs bedeutsam; die von Österreich wiederhergestellte Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 in der Fassung von 1929 entspricht nämlich dem westlichen, aber nicht dem östlichen Begriff der Demokratie, der sogenannten Volksdemokratie, doch läßt die UdSSR stillschweigend die Wiederherstellung einer dem westlichen Ideal der Demokratie entsprechenden Verfassung Österreichs auch sich gegenüber als Erfüllung der Vertragspflichten des Art. 1 gelten. Unter demselben Gesichtspunkt ist die Vertragsverpflichtung des Art. 8 beachtlich: Österreich wird eine demokratische, auf geheimen Wahlen gegründete Regierung haben,und verbürgt allen Staatsbürgern ein freies, gleiches und allgemeines Wahlrecht, sowie das Recht, ohne Unterschied von Rasse, Geschlecht, Sprache, Religion oder politischer Meinung zu einem öffentlichen Amt gewählt zu werden. Diese Normativ-

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bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrages haben den Charakter der Demokratie, den Österreich nicht bloß in seiner Verfassung, sondern in seiner ganzen Rechtsordnung, außerdem aber auch tatsächlich zu erfüllen hat. Die vertragsförmige Bindung der Verfassungsautonomie Österreichs an ein freies Wahlrecht bedeutet den rechtlichen Ausschluß von Staats- oder Monopolparteien, gewährleistet also die Zulassung einer kommunistischen Partei - denkbarer Weise unter Aufstellung von Kautelen für die Staatssicherheit, die aber jedenfalls für alle politischen Parteien gleicherweise gelten müßten. Das während des ständisch-autoritären Zwischenspiels durch gesetzvertretende Verordnung normierte Verbot der kommunistischen, wie übrigens auch der sozialdemokratischen Partei, wäre also Vertrags- und verfassungswidrig. Auf ein Vorrecht der kommunistischen oder einer anderen Linkspartei in Österreich hat indes die UdSSR im Interesse des Zustandekommens des Vertrages verzichtet, und damit den Standpunkt der Koexistenz verschiedener, ideologisch sogar entgegengesetzter politischer Systeme in der Kulturwelt und im besonderen sogar in den Rechtsordnungen ihrer Vertragspartner (und zwar auch solcher von politischen Verträgen) anerkannt. Die Auswahl der Vertragspartner und die Festsetzung des Vertragsinhaltes braucht sich wohl nicht auf die Anknüpfung und Aufrechterhaltung regelmäßiger völkerrechtlicher Beziehungen zu ideologisch fernstehenden Völkerrechtssubjekten zu beschränken. Auch die sonstigen, im Staatsvertrag von Wien von 1955 auferlegten politischen Bindungen halten sich im Rahmen der durch autonomes Bundesverfassungsrecht oder durch verfassungskräftigen Staatsvertrag Österreich auferlegten Verpflichtungen. Das Verbot einer politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung zwischen Österreich und dem Deutschen Reich (Art. 4) bedeutet eine Legalinterpretation des sprachlich nicht so entschieden gefaßten Verbotes des Staats Vertrages von St. Germain vom 10. September 1919. Der Verpflichtung des Art. 6 zur Anerkennung von Menschenrechten und Grundfreiheiten war bereits das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 zuvorgekommen, indem es beträchtlich über die vom Staatsvertrag von 1955 ausdrücklich hervorgehobenen Freiheitsrechte der Meinungsäußerung einschließlich der politischen Meinung, der Presse und Veröffentlichung, der Religionsausübung und der öffentlichen Versammlung hinausgegangen war. Auch das Verbot der Diskriminierung von Personen österreichischer Staatsangehörigkeit auf Grund ihrer Rasse, ihres Geschlechtes, ihrer Sprache oder ihrer

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Religion ist schon durch das vorzitierte Staatsgrundgesetz des Jahres 1867 und die zusätzliche Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920, wonach Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Rasse und des Bekenntnisses ausgeschlossen sind, im autonomen Verfassungsrecht Österreichs verankert. Während die auszugsweise wiedergegebenen politischen Bestimmungen des Staatsvertrages von Wien von europäischem Geist getragen sind, entspringen die militärischen Luftfahrtbestimmungen überwiegend einer weltfremden Kriegspsychose. Bezüglich der Inkraftsetzung von Staatsverträgen steht die Republik Österreich seit jeher auf dem Rechtsstandpunkt, daß sie, wenn sie über die vertragschließenden Staaten hinaus, im besonderen also für Untertanen der österreichischen Rechtsordnung, gleichviel ob natürliche oder juristische Personen, Berechtigungen oder Rechtspflichten begründen sollen, durch die verfassungsmäßige Inkraftsetzung des Staats Vertrages ohne die spezielle Transformation in Gesetze diese Rechtsfolgen nach sich ziehen. Jedoch bedürfen alle politischen Staatsverträge, andere jedoch nur, soferne sie gesetzändernden Inhalt haben, der Genehmigung durch den Nationalrat. Diese Mitwirkung der Volksvertretung des Gesamtstaates erfüllt das rechtspolitische Erfordernis der demokratischen Staatswillensbildung. Der Verzicht auf die Transformation des Inhaltes des Staats Vertrages hat zur Folge, daß zum Unterschied von formellen Gesetzen, an denen der Bundespräsident bloß durch die Beurkundung, also die authentische Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzgebungsaktes, mitwirkt, bei gesetzändernden Staatsverträgen der Anteil des Nationalrates und des Bundespräsidenten gleichrangig sind, der Bundespräsident demnach das Inkrafttreten von Staatsverträgen von Gesetzesrang nach seinem Ermessen verhindern kann. Der Begriff des „politischen" Staatsvertrages ist nicht durch Legaldefinition geklärt. Die Praxis behandelt außer Staatsverträgen, die sich selbst als politisch bezeichnen, namentlich Schiedsgerichtsverträge und Freundschaftsverträge, soweit der Abschluß von Staatsverträgen dieser Art nicht durch das Bundesverfassungsgestz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs überhaupt ausgeschlossen ist, als politische Staatsverträge.

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I I I . Österreich im System der Staatenwelt Die Republik Österreich hat schon in ihren ersten Lebenskundgebungen, namentlich aus Anlaß der Erlassung der provisorischen Verfassung vom 31. Oktober 1918 und der Proklamation der demokratischen Republik am 12. November 1918 das Bekenntnis zu den staatspolitischen Grundsätzen der westlichen Staaten weit abgelegt und unter international bekannten und anerkannten Staatsmännern wie Karl Renner und Ignaz Seipel loyal in die Tat umgesetzt. Unter dem Eindruck der Machtergreifung der nationalsozialistischen Diktatur glaubte allerdings im Jahre 1933 eine österreichische Regierung als Mittel der Selbstverteidigung Österreichs gegen die Gefahr einer oktroyierten Vereinigung mit dem nationalsozialistischen Reich eine autoritäre Verfassung in Kraft setzen zu sollen, durch die die nationalsozialistische Minderheit, zugleich aber auch der beträchtliche sozialistisch gesinnte Teil der österreichischen Bevölkerung von einem verfassungsmäßigen Einfluß auf die Staatsführung ausgeschaltet worden ist. Indes ist Österreich nach der Episode des als Mittel der Selbstverteidigung gedachten autoritären Regimes mit der Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs vom 27. April 1945 und mit dem Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 wiederum zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates zurückgekehrt, um von nun an unbeirrbar an diesen Grundsätzen festzuhalten. Dafür bot die Regierungskoalition der beiden großen demokratischen Parlamentsparteien, der Österreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei Österreichs dem Ausland sowie dem Volke Österreichs die Gewähr. Diese beiden Parteien stützen sich bei einer Wahlbeteiligung von regelmäßig mehr als 95% der Wählerschaft auf die Gefolgschaft von durchschnittlich 85% sämtlicher wahlberechtigten österreichischen Männer und Frauen. Ein Spiegelbild der politischen Kräfte ist die Zusammensetzung des aus 165 Mitgliedern bestehenden Nationalrates; hievon entfielen z.B. 1953 auf die Österreichische Volkspartei (ÖVP) 74, auf die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) 73, auf die politisch rechtsstehende Wahlpartei der Unabhängigen (WdU) 14 und auf die Volksopposition (VO) 4 Mitglieder, die überwiegend der kommunistischen Partei zuzuzählen sind. Der Verfassung und den sonstigen Rechtseinrichtungen nach war die Republik Österreich

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einschließlich des von der Sowjetunion besetzten Teiles des Staatsgebietes auch ohne völkerrechtliche Bindungen in dieser Richtung dem Rechtstypus der sogenannten „westlichen44 Sphäre zuzurechnen. Beweis dafür ist die Geltung der international eingebürgerten demokratischen und liberalen Rechtseinrichtungen, aber besonders die vom Einfluß der Staatsführung völlig unabhängige, ausschließlich durch die Entscheidung der Wählerschaft bestimmte Zusammensetzung der Vertretungskörper des Gesamtstaates, der Bundesländer und der Gemeinden aus gegensätzlichen politischen Parteien einschließlich der kommunistischen Partei, ferner die Freiheit parlamentarischer Opposition und politischer Kritik, namentlich im Wege einer von der Staatsführung unabhängigen Presse. Bemerkenswerter Weise besteht und wirkte vormals ohne Hemmung durch irgendwelche österreichische Staatsorgane eine politische Presse aller Parteirichtungen in allen Teilen des Bundesgebietes ohne Unterschied der Besatzungszone. Mit diesen Feststellungen ist bereits grundsätzlich die Gegensätzlichkeit der österreichischen Staatseinrichtungen zum östlichen Staatenblock aufgezeigt, insbesondere der Ausschluß des Vorranges einer politischen Partei vor den anderen, die rechtliche Unzulässigkeit der Verfolgung von Staatsbürgern oder Fremden wegen einer politischen oder religiösen Überzeugung und wegen Kritik der Regierung oder öffentlicher Einrichtungen. Damit ist aber auch ebenso deutlich Abstand von allen faschistischen Staaten der Vergangenheit und Gegenwart ausgemacht. Im Kreise der demokratischen Staaten hat Österreich seit der Aufrichtung der demokratischen Republik bis heute kein bestimmtes Vorbild gewählt, sondern seine Einrichtungen entsprechend seiner Eigenart nach seinen eigenen Bedürfnissen geschaffen. Dadurch ergeben sich mit verschiedenen Staaten sachliche Berührungen, die aber kaum jemals auf bewußter Nachahmung beruhen. Für den äußeren Eindruck dürfte die Übereinstimmung mit der Schweizer Verfassung am auffälligsten sein. Das beiderseitige Bekenntnis zum Bundesstaat ist allerdings in geradezu gegensätzlicher Weise verwirklicht. Die Schweizerische Eidgenossenchaft, die sich aus einem Staatenbund entwickelt hat, gibt den Kantonen die denkbar größte Verfassungsautonomie und sonstige Selbständigkeit und völlig gleichen Einfluß auf den Gesamtstaat. Die Republik Österreich, die sich aus einem dezentralisierten

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Einheitsstaat in föderalistischer Richtung entwickelt hat, verlegt das Schwergewicht in den Bund und stuft den Einfluß der Bundesländer nach deren überaus verschiedenen Bevölkerungszahlen ab, so wie schon das Deutsche Reich als Monarchie und als Republik den ungeheueren Bevölkerungsunterschied zwischen Preußen und den Zwergländern des Reiches berücksichtigt hatte. Der Regierungsapparat der Republik Österreich unterscheidet sich von jenem der Eidgenossenchaft grundsätzlich durch das Nebeneinanderbestehen zweier oberster Regierungsorgane, nämlich dem vom Volk gewählten und vom Parlament, abgesehen von der rechtlichen Verantwortlichkeit, unabhängigen Bundespräsidenten und der vom Parlament rechtlich und politisch abhängigen Bundesregierung, während in der Schweizer Eidgenossenschaft der Bundesrat zugleich ein kollegiales Staatsoberhaupt und eine vom Parlament unabhängige Regierung darteilt. Dank dem eigenartigen Mechanismus des Vertrauensprinzipes genießt die österreichische Bundesregierung tatsächlich keine geringere Stabilität als der Schweizer Bundesrat. Im Vergleich mit der Verfassung der USA zeigen sich im Bezug auf das Verhältnis zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten gleiche Übereinstimmungen und Unterschiede wie im Vergleich mit der Schweiz; ähnlich wie in der Schweiz bildet auch das amerikanische Staatsoberhaupt zusammen mit den Staatssekretären als den Ressortchefs der Union ein einheitliches, vom Parlament unabhängiges Exekutivorgan im Gegensatz zum Dualismus von Bundespräsident und Bundesregierung in Österreich. Die Wahl des Staatsoberhauptes durch das Gesamtvolk, die in Österreich erst bei der Wahl des Bundespräsidenten Körner und zwar in der Weise einer unmittelbaren Wahl wirksam geworden ist, begründet eine auffällige Übereinstimmung zwischen den beiden Verfassungen. Jedoch folgt die Institution des österreichischen Bundespräsidenten, abgesehen von seiner Berufung durch unmittelbare Volkswahl und seinem Notverordnungsrecht für gewisse Fälle der Funktionsunfähigkeit des Parlamentes, viel mehr dem westeuropäischen Typus der Parlamentsrepublik als dem von den USA repräsentierten Typus der Präsidentschaftsrepublik. In Bezug auf das Verhältnis von Parlament, Präsident und Regierung weist die Verfassung Frankreichs weitgehende Übereinstimmungen mit

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jener Österreichs auf. Die Volkswahl des Staatspräsidenten und die Stabilität der parlamtarischen Regierung Österreichs, die nach 1945 lange Zeit identisch geblieben ist, begründen freilich beachtliche Unterschiede innerhalb der beiderseitigen Entscheidung für die Parlamentsrepublik. Auch der zweistufige Staatsbau Österreichs in der Gestalt von Bund und Ländern findet in der zentralistischen Konstruktion der französichen Republik keine Entsprechung. In diesen letzten Punkten bietet die Verfassung der Republik Italien durch die Einrichtung der Regionen und noch mehr der Bundesrepublik Deutschland durch die Rechtsstellung der Bundesländer Vergleichsobjekte mit der Republik Österreich. Die politische Wesensart eines Staates hängt freilich nicht bloß von seiner Verfassung, sondern auch von der geschichtlichen Überlieferung, den außenpolitischen Einflüssen und dem Volkscharakter ab. Es war und ist die große Aufgabe der politischen Parteien, auf die nach dem Sturz der autoritären Regierungen die Aufgabe der politische Führung des Volkes übergegangen ist, die staatsrechtliche Form des Freistaates, die durch die heutige Rechtslage in fast idealer Weise erfüllt ist, mit einer aus moralischem Verantwortungsbewußtsein quellenden Haltung der Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu erfüllen. Schrifttum Ludwig Adamovich, Die österreichischen Bundesverfassungsgesetze, 7. Aufl., Wien 1948; Ludwig Adamovich, Die Entwicklung der österreichischen Verfassung, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 1953; Ludwig Adamovich und Hans Spanner, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechtes, 5. Aufl., Wien 1957; Heinrich Benedikt, unter Mitwirkung von Walter Goldinger, Friedrich Thalmann, Stephan Verosta und Adam Wandruszka, Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954; Josef Draxler, Hans Weiler, Freiheit und Recht. - Eine Einführung in den Text und das Gedankengut der österreichischen Bundesverfassung. Österreichischer Bundesverlag, Wien 1964; Charles Gullick, Österreich von Habsburg bis Hitler, 5 Bde., 1950; Ernst Carl Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien 1956; Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, Tübingen 1923; Adolf Merkl, Die Verfassung der Republik Deutsch-

Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich

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Österreich. Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1919; Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1935; Adolf Merkl, 62 Aufsätze in Zeitschriften und Festschriften, 1915-1965. Beachte dazu ,,Die Wiener rechtstheoretische Schule", Schrifttum von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdroß, hrsg. von Hans Klecatsky, René Marcie, Herbert Schambeck, 2 Bde., Wien Salzburg 1968; insbesondere auch das von Dorothea Mayer-Maly zusammengestellte Schriftumsverzeichnis, a.a.O., 2. Bd., S. 238 ff.; Karl Renner, Österreich von der ersten zur zweiten Republik, Wien 1953; Karl Renner, Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs, Wien 1945; Karl Renner, Für Recht und Frieden, Sammlung von Reden, Wien 1950; Adolf Schärf, Zwischen Demokratie und Volksdemokratie, Wien 1949; Ignaz Seipel, Der Kampf um die österreichische Verfassung, Wien 1930.

33 A. J. Mcrkl

Β. Völkerrecht

Der Krieg als Rechtshandlung des Staates Vom Kriege sagt man, er sei die äußerste Erprobung und Bewährung des Staatsgedankens; ein beliebtes Schlagwort nennt ihn die ultima ratio - , wessen sonst als des Staates? Das ureigenste Werk des Staates und geradezu potenzierte Staatsgewalt erscheint uns der Krieg. Das Verhältnis zum Staate ist es, welches äußerlich so verwandte soziale Phänomene wie Krieg und Revolution grundlegend unterscheidet: Der Krieg ist eine Funktion des Staates - die Revolution eine staatsfeindliche Funktion der Gesellschaft; jener geht auf Schutz oder Mehrung, diese auf Zerstörung des Staates aus.1 Staat und Krieg ist man gewohnt wie unzertrennlich zusammen zu denken; es löst nicht nur der Gedanke an die Handlungsmöglichkeiten des Staates die Vorstellung des Krieges aus - auch umgekehrt: wo sich das Schauspiel des Krieges bietet, dort ist in unserem Urteile der Staat der Aktor. Ist diese Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Staat und Krieg so selbstverständlich wie sie gangbar ist? Ist der Zusammenhang zwischen Staat und Krieg so ganz voraussetzungslos, wie man ihn zu behandeln gewöhnt ist, erklärt sich etwa der Krieg als Funktion des Staates unmittelbar aus dessen Wesen oder Zweck heraus, ist mit dem Staate seine Kriegführungsfähigkeit implicite - a priori gegeben, ergibt sie sich endlich aus der völkerrechtlichen Stellung des Staates gewissermaßen von selbst-oder gibt es Vorbedingungen für sie, die mit der bloßen staats- oder völkerrechtlichen Gegebenheit des Staates nicht zusammenfallen?

Annalen des Deutschen Reiches, 1916, S. 59-69. 1 Dies letztere ist zwar auch beim Krieg der Fall, indem ja Mehrung auf Kosten eines feindlichen Staates bezweckt wird - der Vorteil des eigenen Staates ist aber der Hauptzweck; und beim Verteidigungskrieg ist der Zweck des Schutzes des Staates schon gar nicht durch den ergänzenden Zweck der Störung oder gar Zerstörung eines anderen Staates beeinträchtigt.

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II-B Völkerrecht

Und stehen sich andererseits Recht und Krieg gerade so fern, wie sich Staat und Krieg anerkanntermaßen nahe stehen? Schließen Recht und Krieg einander etwa aus wie Ordnung und Unordnung? Ist das Recht wirklich ausnahmslos die Friedensordnung, 2 die es in der Vorstellung der Alten war und als die es vielfach heute noch gilt, der Friedensordnung namentlich in dem betonten Sinne, wonach Kriegführung aus dem Bereich der Rechtserscheinungen ausgeschlossen ist? Doch man hat die Rechtsordnung auch die Freiheitsordnung genannt, obwohl das Recht eine Art Zwang darstellt, Zwang allerdings, der objektiv geregelt ist und daher relativ, d.h. im Verhältnis zur subjektiven Willkür, eine Art von Freiheit ist. Immerhin legt dies den Gedanken nahe, daß auch Rechtund Friedensordnung nicht zwei sich notwendig deckende Dinge seien, daß möglicherweise das Recht nicht minder als den Frieden den Krieg zum Inhalt haben könne, daß aber auch andrerseits der Staat nicht a priori die Wurzel des Krieges sei. Der Krieg einerseits zur Gänze als Rechtserscheinung, und nur auf diesem Wege, nicht aber a priori andrerseits als Staatserscheinung - dieses also durch jenes - werden so zur Denkmöglichkeit. Aus dem Problemkomplex, gegeben durch die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Krieg, tritt als erste Frage heraus: Was gestattet in einem bestimmten Fall das Urteil auszusprechen: Der Staat führt Krieg? Und die - hier kurz vorausgenommene - Antwort wird sein: Gerade die Rechtsnatur des Krieges berechtigt zu dem Urteil, daß er Staatssache sei. Die Rechtshandlungs- oder Rechtsgeschäftsqualität ist das logische Prius, die Staatlichkeit des Krieges das logische Posterius. Was als Selbstverständlichkeit, als Tatsache a priori gilt: die Staatlichkeit des Krieges ist durch das Unwahrscheinlichere, durch seine Rechtsnatur, bedingt. Die Denkmöglichkeit des Krieges als Staatsfunktion muß sich erst an seiner Denknotwendigkeit als Rechtserscheinung (welche vielleicht manchem als Denkunmöglichkeit erscheint) erweisen. Die Rechtsqualität des Krieges muß zuerst feststehen, dann kann erst das Urteil, daß eine Staatshandlung vorliege, sicherstehen. Bevor die Rechtsqualität eines bestimmten Krieges geklärt ist, ist uns das Urteil von seiner Staatlichkeit verwehrt. Zu dem Recht steht also

"

Vgl. Heinrich Brunner, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 12.

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der Krieg sogar in näherer logischer Beziehung als zum Staate; das Recht ist das Medium, wodurch der Staat zum Kriege in Beziehung tritt. Was sonst - so ist der geläufige Gedankengang - wäre wohl Staatsfunktion, wenn nicht der Krieg? Gibt es nicht ein Mindestmaß von Staatsfunktionen, bei deren Nichtvorhandensein von einem Staate nicht zu sprechen wäre, und gehört zu diesem Minimum staatlichen Lebens nicht fast vor allem der Krieg? Ist die Kriegführungsmöglichkeit nicht notwendiger Erkenntnisgrund eines ganzen, gehörigen Staates, und mit jeder Realisierung des Begriffes Staat die Kriegführungsmöglichkeit als Begriffsmerkmal gegeben? Die herkömmliche Staatslehre entwickelt ein Bild vom Wesen des Staates, wo Krieg als eigentümliches Element ständig wiederkehrt. Der herrschenden Lehre wird der Staat durch seine Zwecke charakterisiert; als elementarer Staatszweck tritt nun unter anderen, wenn nicht vor allen anderen der Zweck des Krieges auf. Es handelt sich im folgenden um jene Lehre, in deren Augen der Krieg unbekümmert um den jeweiligen Inhalt der Rechtsordnung eine Staatshandlung darstellt, weil er einem (apriorischen) Staatszweck entspricht. ,,Machtbehauptung, Schutzgewährung und Rechtsbewahrung" zählt Georg Jellinek 3 als die auf lange Zeit einzigen, aber andrerseits doch auch nie fehlenden Staatszwecke auf. Des näheren kommt der Kriegszweck in den folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Ausschließlich dem Staate zugehörig ist der Schutz der Gesamtheit und ihrer Glieder, damit auch des eigenen Gebietes gegen äußere Angriffe." 4 (D.h., allerdings muß nicht jeder Staat notwendig einen Krieg führen, aber jeder Krieg, von dem die Geschichte berichtet, ist notwendig einem Staate zuzurechnen.) „Ferner ist lange Zeit hindurch nicht nur Verteidigung, sondern auch Vergrößerung des Staates durch Eroberung oder anders geartete Erweiterung seiner Machtsphäre durch kriegerische Mittel nach den Überzeugungen der Völker einer seiner wesentlichen Zwecke."5 Schließlich: „Bewahrung und Erhöhung des inter-

3

Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., S. 250.

4

Jellinek, a.a.O., S. 248.

5

Ebda.

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I I B Völkerrecht

nationalen Ansehens, unabhängig von der Verteidigung, wird bei jedem unabhängigen Staate als im Staatszwecke liegend erkannt werden müssen."6 Der Kriegszweck, nota bene als ein von der Rechtsordnung unabhängiges Merkmal des Staates, ist hier in der denkbarst deutlichen Weise umschrieben. Es sei genügender Beleg für die Theorie vom Krieg als apriorischem (natürlichem) Staatszweck.7 Zur Entwurzelung dieser Theorie ist es unvermeidlich, in kurzen Umrissen die ganze Lehre vom Staatszweck aufzurollen. Handelt es sich doch nur um einen Anwendungsfall jener Staatsauffassung, welcher der Staat durch seinen Zweck charakterisiert ist, welche in die Definition des Staates das Zweckmoment als Begriffsmerkmal aufnimmt, bisweilen sogar den Staat lediglich durch seine Zwecke zu bestimmen unternimmt; eine Staatsauffassung, die gleichzeitig dem Rechte - wofern sie es überhaupt in Betracht zieht - die untergeordnete Rolle eines der mehreren Staatszwecke einräumt, indem sie etwa neben dem Machtzweck einerseits, Kulturzweck andrerseits, drittens einen Rechtszweck konstruiert. Nun ist aber nach der hier vertretenen Lehre der Staat in abstracto zwecklos8 - in concreto verfolgt zwar jeder Staat Zwecke, doch ergeben sich diese erst a posteriori und gewissermaßen zufällig aus seiner Rechtsordnung, so daß sie keineswegs den Staat zu charakterisieren vermögen.

6

Ebda.

7 Diese Theorie, zu der sich die namhaftesten Rechtspositivisten bekannt haben, steht, wie man sieht, vom Naturrecht nicht weit ab, welches konsequent mit der Kriegführung als einem natürlichen Rechte des Staates operiert. (Vgl. insbesondere Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, aber auch den Abschnitt über ,,Äußeres Staatsrecht" in Hegels Rechtsphilosophie!) - Überhaupt ist die ganze Lehre von den ursprünglichen (apriorischen) Staatszwecken, die dem Staate unabhängig von seiner Rechtsordnung, neben dieser, ja diese erst - als Ausfluß eines besonderen Staatszweckes, nämlich des Rechtszweckes mittelbar erklärend und mit dem Staat verknüpfend, eigen seien, nur als ein Naturrechtsrudiment zu verstehen. ο

Man beachte, daß das Wort,,zwecklos", sprachlich jedenfalls ebenso passend, vermieden wurde, um Mißverständnissen vorzubeugen. Nichts läge uns ferner, - etwa wie im Sinne eines passiven Anarchismus - die Zwecklosigkeit = Sinnlosigkeit des Staates zu behaupten. Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 68 f.

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Was einzig für den Staat charakteristisch ist - das ist das Mittel, welches ihm eignet, welches er zu Monopol besitzt; es ist das Recht: Diese Erkenntnis glauben wir, wenn sie auch nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, als Quintessenz aus Hans Kelsens Staatsrechtslehre 9 geschöpft zu haben; in ihr erblicken wir das Hauptergebnis, die Haupterrungenschaft dieser reformiert-reformatorischen Rechtstheorie. Nur vermittels des Rechtes rücken die einzelnen Zwecke in den Bannkreis des Staates. Zuvörderst ist zu betonen, daß zufolge dieser eigentümlichen Natur des Rechtes seine Qualität als einer der Staats zwecke eine unvollziehbare Vorstellung wird. Was man fälschlich Rechtszweck nennt, ist etwa der Zweck der sogenannten ,,Ruhe und Ordnung", der Bewahrung der bestehenden, von der Rechtsordnung sanktionierten Gleichgewichtsverhältnisse der Gesellschaft, man kann wohl auch gleichbedeutend vom „konservativen Staatszweck im engsten Sinne" sprechen. Auch er ist auf das eine Mittel des Rechtes angewiesen; niedergelegt ist er zum Großteil im Zivil- und Strafrecht, wozu noch insbesondere die beiden Prozeßrechte gehören. Aber gerade, da das Recht sein Mittel ist, kommt ihm nicht der Name Rechtszwc/: zu. Aber nicht nur er, sondern auch die anderen Staatszwecke, insbesondere der Kultur- und Machtzweck (beide vornehmlich im Verwaltungsrechte kodifiziert) sind, wie noch zu zeigen sein wird, der Rechtsform bedürftig. Überhaupt jede Tätigkeit des Staates muß im Rechte vorgezeichnet sein, wenn sie als Staatstätigkeit verstanden werden soll. Was nicht durch einen Rechtssatz zur Berechtigung und Rechtspflicht des Staates erhoben ist, kann nicht als Staatszweck erklärt werden. 10 Will man den Staat in den Dienst bestimmter sozialer Zwecke stellen (diese zu Staatszwecken stempeln), so kann dies nur durch das Mittel, mittels der Form des Rechtes geschehen. Das Mittel des Rechtes ist ausschließlicher Erkenntnisgrund des Staatszweckes. Alle diese Aufstellungen sind begründet, ja geradezu selbstverständlich, wenn man sich nur auf die eine Voraussetzung geeinigt hat, daß Recht wie Staat nicht etwa materielle Gestaltungen, Ausschnitte aus der sozialen

9

A.a.O., vornehmlich S. 162 ff. und passim.

10

Kelsen, a.a.O., S. 103 f.

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II

Völkerrecht

Umwelt, Gesellschaftskörper, sondern daß sie für sich betrachtet lediglich Gesellschafts/