Gesammelte Schriften: Dritter Band: Verwaltungsrecht – Zeitgenossen und Gedanken. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.] 9783428531080, 9783428131082

Mit dem wiederum in zwei Teilbänden erschienenen dritten Band findet das 1993 begonnene Projekt der Herausgabe der vorde

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German Pages 703 [705] Year 2009

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Gesammelte Schriften: Dritter Band: Verwaltungsrecht – Zeitgenossen und Gedanken. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.]
 9783428531080, 9783428131082

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Adolf Julius Merkl Gesammelte Schriften M i t dem wiederum in zwei Teilbänden erschienenen dritten Band findet das 1993 begonnene Projekt der Herausgabe der vordem teilweise nur schwer zugänglichen, annähernd 600 Schriften von Adolf Julius Merkl nunmehr seinen Abschluss. Bisher erschienen waren Merkls Schriften zu Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (Band I / 1 , 1993), zu Staatslehre und Politischer Theorie (Band 1/2, 1995) sowie Merkls Beiträge zu Verfassungs- und Völkerrecht (Band I I / l , 1999 und Band I I / 2 , 2002). Der dritte Band enthält in seiner Gesamtheit die verwaltungsrechtlichen Schriften Merkls, die veröffentlichten Würdigungen vieler seiner bedeutenden Zeitgenossen sowie verschiedene - auch dem interessierten Publikum zum Teil wohl weitgehend unbekannte - Bekenntnisschriften Merkls. Der nun vorgelegte zweite Teilband setzt zunächst mit dem 1931 erschienenen Artikel über „Die VerwaltungsAkademie Wien" die Beiträge zum besonderen Verwaltungsrecht fort. Neben diesem und Merkls Bericht über „Entwicklung und Reform des Beamtenrechtes" auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer von 1931 enthält dieser Abschnitt Beiträge zu Einzelfragen des Polizeirechts sowie einige hochschulrechtliche und hochschulpolitische Veröffentlichungen, die Merkls akademisches Wirken begleiteten; vor allem aber Merkls mannigfaltige Schriften zu Fragen des Natur- und U m weltschutzes, in denen Merkl etwa immer wieder vehement die Schaffung eines Nationalparks in Osterreich fordert und die mit dem Aufruf „ U m die Wanderfreiheit im Walde!" schließen. Von besonderem Interesse sind Merkls oftmals liebevolle, immer aber detailreiche Würdigungen seiner Zeitgenossen. Nicht weniger als fünf Beiträge sind allein seinem verehrten Lehrer Hans Kelsen gewidmet und begleiten dessen Lebensweg von 1930 bis 1967. Aber auch viele andere prominente Namen, wie etwa Karl Renner, Georg Jellinek oder Ludwig Adamovich sen., finden sich in diesem Abschnitt. Einen reizvollen Überblick über die österreichische Universitätslandschaft des Nachkriegsösterreichs enthält der Beitrag „Entwickelt sich Österreichs Rechtswissenschaft?" aus dem Jahre 1965. Merkls Bekenntnisschriften, die den Teilband beschließen, weisen ihn als engagierten Sozialpolitiker und unaufhörlichen Mahner gegen den Alkoholismus sowie als unbeugsamen Verfechter des Rechtsstaates, aber auch Bewunderer des Widerstandes gegen eine unmoralische Staatsgewalt aus.

Duncker & Humblot • Berlin

Über Adolf Julius Merkl

Adolf Julius Merkl, geb. am 23. März 1890 in Wien, war Sohn eines Forstakademikers. Den Großteil seiner Jugendjahre verbrachte er in der für sein späteres Wirken so bedeutenden Landschaft an der Rax in Niederösterreich. 1908 Beginn seines Jusstudiums an der Universität Wien, Promotion im Mai 1913. Bestimmend waren für ihn seine Lehrer Edmund Bernatzik und Hans Kelsen sowie der Philosoph Friedrich Wilhelm Förster. M i t Hans Kelsen blieb er sein Leben lang verbunden und trug wesentlich zur Entwicklung seiner Rechtslehre bei. Merkl war nach seinem Studium zuerst bei Gericht, dann in verschiedenen Zweigen der Verwaltung beschäftigt, u. a. wurde er nach Ausrufung der Republik dem designierten Staatskanzler Dr. Karl Renner zum Dienst zugeteilt. 1919 erfolgte seine Habilitation an der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für die Fächer Allgemeine Staatslehre, Österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht mit der Schrift „Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich". 1921 wurde er zum a. o. Professor, 1932 zum Ordinarius an der Wiener Rechtsfakultät ernannt. 1938 wurde er durch das NS-Regime seines Lehramtes enthoben. Erst 1943 konnte er einem Ruf an die Universität Tübingen folgen. 1950 kehrte er nach Wien zurück, wo er 1960 emeritierte, seine Lehrtätigkeit bis 1965 fortsetzte. Seine Publikationstätigkeit begann er bereits 1914. Gemeinsam mit Hans Kelsen und Georg Froehlich gab er einen Kommentar zum österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz heraus. 1935 veröffentlichte er einen kritisch-systematischen Grundriß der ständisch-autoritären Verfassung Österreichs. 1927 erschien sein Buch „Allgemeines Verwaltungsrecht", das in zahlreiche Sprachen übersetzt und das 1969 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt neu abgedruckt wurde. Merkl war u. a. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Träger des Großen silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich und des Komturkreuzes mit Stern des päpstlichen Silvesterordens. Er war Ehrendoktor der Universitäten Innsbruck, Tübingen, Salzburg und Thessaloniki. Merkl starb am 22. August 1970 in Wien.

Duncker & Humblot • Berlin

ADOLF JULIUS MERKL • GESAMMELTE SCHRIFTEN

Adolf Julius Merkl

GESAMMELTE SCHRIFTEN Dritter Band Verwaltungsrecht - Zeitgenossen u n d Gedanken Zweiter Teilband Herausgegeben von Dorothea Mayer-Maly • Herbert Schambeck Wolf-Dietrich Grussmann

Duncker & H u m b l o t • Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek D i e Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind i m Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

A l l e Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe u n d der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2009 D u n c k e r & H u m b l o t G m b H , B e r l i n Satz: C h . Weismayer, A-1080 W i e n D r u c k : Berliner Buchdruckerei U n i o n G m b H , B e r l i n Printed i n G e r m a n y I S B N 978-3-428-07753-3 (Gesamtausgabe) I S B N 978-3-428-07912-4 (Bd. 1/1) I S B N 978-3-428-08128-8 (Bd. 1/2) I S B N 978-3-428-09042-6 (Bd. 2/1) I S B N 978-3-428-10661-5 (Bd. 2/2) I S B N 978-3-428-12045-1 (Bd. 3/1) I S B N 978-3-428-13108-2 (Bd. 3/2) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 © Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhalt A. Verwaltungsrecht 2. Besonderes Verwaltungsrecht (Fortsetzung) 58. Die Verwaltungs-Akademie Wien

3

59. Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbürgerrechtes?

11

60. Reform des Gewerberechtes

21

61. Vereinsreform

29

62. Der Entwurf eines Vereinsgesetzes und die verfassungsmäßige Vereinsfreiheit ...

35

63. Entwicklung und Reform des Beamtenrechts

51

64. Naturschutz und Naturschutzparke in Österreich

107

65. Naturschutzgebiete in Österreich

109

66. Naturschutz im Wiener Gelände als Heimatdienst

115

67. Glocknerstraße und Glocknernaturschutzpark

119

68. Das Wiener Naturschutzgesetz und wir

123

69. Die Leitgedanken der Reform des Rechtsstudiums

127

70. Das Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses

133

71. Naturschutzpark für Österreich

137

72. Das Ordnungsschutzgesetz

143

73. Zur Frage des Naturschutzgebietes in den Hohen Tauern

163

74. Ein deutsch-österreichisches Naturschutzgebiet

165

75. Einheitlicher Naturschutz in Großdeutschland

171

VI

Inhalt

76. Die staatliche Betreuung der großdeutschen Landschaft

177

77. Die Gegenwartslage des Naturschutzes in Österreich

183

78. Österreichs Wald, sein Recht und die deutsche Zukunft

191

79. Die Großdeutsche Landschaft

195

80. Schutz der deutschen Erde

201

81. Naturkenntnis, Naturliebe, Naturschutz

207

82. Kriegsopfer der Natur

213

83. Der Streit um die Krimmler Wasserfälle

217

84. Erreichtes und Erstrebtes im Naturschutz

219

85. Tiroler Servitutengesetz verfassungswidrig?

225

86. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Hochschulreform

231

87. Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechts

237

88. Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes

241

89. Kriegsauszeichnungen

245

90. Sorgen der Wissenschaft des öffentlichen Rechts

249

91. Der Streit um den Sozialismus als Wissenschaft

255

92. Naturschutz in der Steiermark

261

93. Wann erhält Österreich seinen Nationalpark?

265

94. Die rechtlichen und sonstigen Voraussetzungen für die Schaffung eines Nationalparkes in Österreich

271

95. Für und wider den Nationalpark

273

96. Wald und Recht

279

97. Über die Rechtmäßigkeit von Enteignungen ohne Entschädigung

283

98. Grundzüge des österreichischen Hochschulrechtes

285

99. 100 Jahre Alpenverein - 100 Jahre Naturschutz

355

100. Um die Wanderfreiheit im Walde!

357

Inhalt

VII

B. Personalia (Laudationes, Nachrufe etc.) 1. Professor Hans Kelsen

363

2. Hans Kelsen als Verfassungspolitiker

367

3. Nekrolog für Ernst Seidler

379

4. Seipel und die Demokratie

385

5. Nekrolog für Friedrich Hawelka

393

6. Nekrolog für Leo Wittmayer

397

7. Adolf Menzel zum 80. Geburtstag

401

8. Adolf Menzels Lebenswerk und die Jurisprudenz

405

9. Carl Brockhausen t

413

10. Karl Renners staatswissenschaftliches Lebenswerk

415

11. Georg Jellinek, dem österreichischen Meister der Staatslehre zum Gedenken

431

12. Zum Tode von Carl Brockhausen

439

13. Karl Renner als Wissenschafter

447

14. Rezension von: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 8

453

15. Nekrolog für Karl Brockhausen

457

16. Starhemberg - der Schatten Mussolinis

463

17. FrantiSekWeyrt

467

18. Nekrolog für Ludwig Adamovich

479

19. Ludwig Adamovich t

487

20. Prof. Dr. Leonidas Pitamic zum 70. Geburtstag

497

21. Der Vater der Verfassung 80 Jahre

501

22. Hans Kelsen wieder Gast in seiner Heimat

505

23. Journalistisches Gewissen der Freiheit

509

Vni

Inhalt

24. Entwickelt sich Österreichs Rechtswissenschaft?

513

25. Hans Kelsen aus Anlaß seines 86. Geburtstags

547

C. Variae 1. Einige Gegenbemerkungen über die §§ 1154 b und 1155 ABGB

551

2. Zur sozialen Seite der Preis- und Lohnbewegung

565

3. Das neue Proletariat

581

4. Alkoholfrage und Parteipolitik

601

5. Sozialpolitik

615

6. Enthaltsamkeit und Volkstum

617

7. Alkoholfrage, Nationalismus und Internationalismus

629

8. Alkohol, Wirtschaft und Kultur

645

9. Aus der Woche

661

10. Die wirkliche Größe

663

11. Der Alkoholverbrauch und der Wiederaufbau Österreichs

665

12. Österreichische Menschenleben werden nicht berechnet

669

13. Mörder Alkohol

671

14. Sozialismus oder Menschlichkeit?

673

15. Alkohol, Herrscher in Österreich!

677

16. Stimmen aus dem Reiche des Alkohols

681

17. Wohltäter Alkohol?

687

18. Ehre den Opfern des Widerstandes

693

A. Verwaltungsrecht 2. Besonderes Verwaltungsrecht (Fortsetzung)

Die Verwaltungs-Akademie Wien Der Gedanke der Beamtenhochschule hat vom Deutschen Reiche seinen Weg nach Österreich wie nach anderen Ländern genommen, wogegen die Einrichtung der Volkshochschule, von Österreich ausgehend, vielfach bereits jenseits der Grenzen Nachahmung gefunden hat. Es ist mir eine angenehme Pflicht, feststellen zu müssen, daß es letztlich der werbenden Kraft Eugen Schiffers, den wir als den großen Sohn des deutschen Volkes, den überzeugenden Wegweiser der deutschen Einheit und warmen Freund des österreichischen Teiles Deutschlands verehren, zugute zu halten ist, daß der Gedanke der Verwaltungs-Akademien in Österreich bekannt geworden und kürzlich verwirklicht worden ist. Eugen Schiffer hat schon vor Jahren im Verein mit Walter Pietsch im Rahmen der österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft in Wien über die Einrichtung der Verwaltungs-Akademien eingehend Bericht erstattet; unter Vertretern der Fachwissenschaft und der hohen Bürokratie hatte ich damals bereits die Ehre, zu dieser Aussprache als fachwissenschaftlicher Vertreter des Rechtsausschusses der österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft abgeordnet zu werden. Bei den Spitzen der Ministerialbürokratie hatte die Einrichtung der Verwaltungs-Akademien, die ihnen von so berufenen und sachkundigen Anwälten nahegebracht worden war, viel Anklang gefunden, und es entstand der Gedanke, von Bundes wegen eine Verwaltungs-Akademie ins Leben zu rufen. Der objektive Berichterstatter darf jedoch nicht verschweigen, daß die Einrichtung einer Verwaltungs-Akademie des Bundes trotz des ganz geringen finanziellen Aufwandes, den sie verursacht hätte, beim Bundesfinanzministerium nicht genügendes Verständnis und Interesse gefunden hat. Dagegen hat die Wiener Stadtverwaltung auf Initiative des Magistratsdirektors Dr. Karl Hartl den Gedanken der Verwaltungs- Akademien aufgegriffen und ihn vor mehr als Jahresfrist verwirklicht. Nach einsemestriger Gastfreundschaft der Wiener Universität hat die Wiener Verwaltungs-Akademie in einem von

Beamtenjahrbuch 1931, S. 256-261.

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.A. Verwaltungsrecht

der Wiener Stadtverwaltung gewidmeten Anstaltsgebäude dauernde Unterkunft gefunden. Trotz Übereinstimmung des Grundgedankens weicht die erste österreichische Verwaltungs-Akademie von der typischen Organisation der deutschen Akademien nicht unwesentlich ab. Sie ist eine reine Kommunalanstalt, die ausschließlich aus Gemeindemitteln erhalten wird. Die Beamtenschaft und deren Organisationen waren weder an der Gründung, noch sind sie an der Erhaltung der Anstalt beteiligt. Doch hat die Beamtenschaft als Nutznießer in der Anstalt auch auf deren Führung Einfluß. Die Vortragskurse und die Vortragenden selbst werden von der Anstaltsleitung bestimmt, bedürfen jedoch der Zustimmung der Magistratsdirektion, die erst nach Anhörung der gesetzlichen Beamtenvertretung erteilt wird. Diese tatsächliche Mitwirkung der an der Führung der Verwaltungs-Akademie interessierten Beamtenschaft ist eine Voraussetzung für ein vertrauensvolles Verhältnis der Beamtenschaft zur Verwaltungs-Akademie. In der Tat hat sich dieserart ein reibungsloses Zusammenwirken der an der Führung der VerwaltungsAkademie beteiligten Stellen entwickelt; die sachlich begründeten Kursund Personalvorschläge der Leitung der Verwaltungs-Akademie können sicher mit ihrer Verwirklichung rechnen, und doch bleibt den Vertretungen der Beamtenschaft das Bewußtsein der Mitbestimmung an der Führung einer Einrichtung, die ja zu ihrem Nutzen bestimmt ist, und der Stadtverwaltung selbst jenes Maß an Kontrolle, das bei einer ausschließlich aus Gemeindemitteln erhaltenen Anstalt aus organisationsrechtlichen Gründen unvermeidlich ist. Die Verwaltungs-Akademie hat ausgesprochenen Hochschulcharakter, jedoch ohne hierdurch zur Universität in ein Konkurrenzverhältnis zu treten, sondern nur um eine ergänzende, von der Universität ungelöste und zum guten Teil unlösbare Aufgabe zu erfüllen. Als wissenschaftliche L^/iranstalt, die sich nach den ursprünglichen Plänen vielleicht auch noch zu einer wissenschaftlichen Forschungsanstalt entwickeln wird, hat die Verwaltungs-Akademie an der verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre Anteil, die Lebensbedingung für jede wahre Stätte der Wissenschaft ist. Diese Freiheit äußert sich vor allem darin, daß im Rahmen des vom einzelnen Vortragenden übernommenen Vortragsthemas keinerlei Einfluß auf den Inhalt, die Methode, die wissenschaftliche Richtung oder auf sonstige Momente des Vortrages genommen wird. In

Die Verwaltungs-Akademie Wien

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einem Lande mit traditioneller wissenschaftlicher Freiheit ist dies indes eine Selbstverständlichkeit, die auch bei Führung einer Beamten-Hochschule von keiner Stelle, die dafür die Verantwortung zu tragen hat, in Frage gestellt wird. Es ist indes auch kaum ein wissenschaftlich qualifizierter Lehrer denkbar, der einem solchen - hypothetisch vorausgesetzten - Versuch einer Beeinflussung zugänglich sein würde. Damit erledigt sich der Verdacht eines irgendwie parteimäßig orientierten Studienbetriebes, der bei einem fernstehenden und der Verhältnisse unkundigen Beurteiler gegenüber einer wissenschaftlichen Bildungsstätte, die von einer politischen Körperschaft verwaltet wird, rege werden könnte. Viel wichtiger als die jedenfalls unbegründete Sorge um die Gewähr eines parteipolitisch oder sonstwie unbeeinflußten Studienbetriebes ist unter solchen Umständen die Neutralität bei der Dozentenauswahl. Kein noch so kritischer, ja selbst faktiöser Beurteiler kann indes nach den bisherigen Erfahrungen diese Neutralität in Zweifel stellen; es ist ein Leitsatz der Wiener Verwaltungs-Akademie, und damit bewährt sie wiederum ihren Charakter als Beamtenhochschule - nur Hochschullehrkräfte mit vieljähriger Hochschulerfahrung mit dem Lehramt zu betrauen. Von dieser Regel wurde bisher nur in einem einzigen Falle eine Ausnahme gemacht, wo die ausnehmende berufliche und literarische Qualifikation für ein Sondergebiet der Verwaltung die Wahl auf einen hohen Ministerialbeamten fallen ließ. Die parteipolitische Stellung der Vortragenden fiel bisher so wenig ins Gewicht, daß trotz einer beträchtlichen marxistischen Mehrheit in den politischen Körperschaften der Stadt im Lehrkörper der städtischen Verwaltungs-Akademie bisher kein Marxist vertreten war und ist, wogegen als ausgeprägt konservativ geltende Fachleute Lehraufträge erhalten haben. Extreme Vertreter radikaler politischer Richtungen dürften allerdings kaum als Vortragende der Verwaltungs-Akademie bestellt werden, da von ihnen die für echten Wissenschaftsbetrieb wesentliche Objektivität und Toleranz für abweichende Meinungen überhaupt nicht zu erwarten, sondern viel eher zu besorgen ist, daß sie die Stätte ihrer Lehrtätigkeit als solche für politische Propaganda benützen könnten. Zumal an einer Verwaltungs-Akademie muß es, wenn sie den Zweck der beruflichen Schulung der Beamtenschaft erreichen will, Aufgabe der Lehrtätigkeit sein, dem Hörer die bestehenden Staatseinrichtungen vertraut zu machen, was gewiß nicht deren vorbehaltlose Bejahung voraussetzt, aber auch mit ihrer grundsätzlichen Verneinung und hemmungslosen Bekämpfung nicht vereinbar ist. Solche Rücksichten der Personenauswahl stellen zumal in ihrer Anwendung auf eine Beamtenhochschule die Freiheit der wissenschaftli-

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.A. Verwaltungsrecht

chen Lehre gewiß nicht in Frage. Eine derartige mit Takt geübte Taktik in der Führung einer Beamtenhochschule erhebt sie, auch wenn sie im Betriebe einer naturgemäß von politischen Parteien beherrschten politischen Körperschaft steht, doch weit über den Verdacht eines Parteiinstituts. Die Einrichtung und Führung von Verwaltungsakademien durch Organisationen der Beamtenschaft kam und kommt für Österreich vorläufig nicht in Frage. Die Gewerkschaften der öffentlichen Angestellten waren bisher so sehr durch Standesfragen, insbesondere aber Gehaltsfragen in Anspruch genommen, daß sie dem Bildungswesen der Beamtenschaft keine Aufmerksamkeit zu schenken vermochten. Es mußte jedenfalls eine öffentliche Körperschaft die Initiative ergreifen, um den Gedanken der Beamtenhochschule der Beamtenschaft bekannt und nach Möglichkeit bei ihr beliebt zu machen. Der Kreis der Hörerschaft der Wiener Verwaltungs-Akademie unterliegt allerdings einer grundsätzlich zwar bedauerlichen, aber durch die besondere Organisationsform fast unvermeidlich gemachten Beschränkung. Die Stadtverwaltung steht auf dem sozial gerechtfertigten Standpunkt, daß das Zeitopfer des Besuches der Verwaltungs-Akademie für die Hörerschaft nicht auch mit Geldopfern verbunden sein dürfe, sondern der Besuch der Verwaltungs-Akademie unbedingt kostenlos sein müsse. Dieser Standpunkt kann jedoch von einer Gebietskörperschaft, deren Verwaltung in der Hauptsache aus Steuereinnahmen geführt wird, nur gegenüber dem eigenen Beamtenkörper, nicht aber gegenüber Nichtbeamten oder selbst gegenüber Beamten anderer Gebietskörperschaften eingenommen werden. Daher wurde der Besuch der Verwaltungs-Akademie auf Angestellte der Stadt Wien beschränkt.Trotz dieser Schranke ist der Kreis der Hörerschaft der Wiener Verwaltungs-Akademie viel umfassender, als wenn etwa in einer deutschen Stadt die Verwaltungs-Akademie bloß der städtischen Beamtenschaft zugänglich wäre. Die Stadt Wien vereinigt nämlich in sich die staatsrechtlichen Eigenschaften einer Gemeinde, eines Bezirkes und eines Landes, wozu überdies die Beamtenschaft der ungewöhnlich zahlreichen städtischen Betriebe kommt, die der Munizipalsozialismus zum großen Teil schon vor dem Kriege auf dem Boden Wiens zur Entstehung gebracht hat. An öffentlichen Beamten, die in Wien ihren Amtssitz haben, fallen aus dem Kreise der Hörerschaft nur die des Bundes - entsprechend der des Reiches - heraus. Dagegen ist die den Verwaltungs-Akademien des Deutschen Reiches eigentümliche tatsächliche, wenn auch nicht satzungsgemäße Beschränkung der

Die Verwaltungs-Akademie Wien

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Hörerschaft auf die sogenannten mittleren Beamten der Wiener Verwaltungsakademie fremd. Im Gegenteil strebte sie von Anbeginn sämtliche Gruppen der Beamtenschaft, insbesondere aber auch die höhere und akademisch gebildete Beamtenschaft zu erfassen und trug dieser Zusammensetzung der Hörerschaft durch die Einrichtung besonderer Kurse für „Verwaltungsjuristen" Rechnung, die auf die qualifizierte Vorbildung und eigentümlichen Fortbildungsbedürfnisse dieser Beamtengruppe Bedacht nehmen. Ein bestimmter Studiengang sowie Abschlußprüfungen sind an der Wiener Verwaltungs-Akademie bisher nicht eingeführt. Die Wahl der Kurse und deren Reihenfolge ist ganz dem Belieben der Beamtenschaft überlassen. Durch das Kursprogramm ist jedoch sichergestellt, daß durch den Besuch von systematischen Hauptkursen und ergänzenden Sonderkursen im Laufe von zwei bis drei Jahren ein geschlossenes Studium ganz zurückgelegt werden kann. Irgendein mittelbarer oder unmittelbarer Zwang, daß sich Angestellte für einen bestimmten Kurs melden, und falls sie sich gemeldet haben, ihn tatsächlich besuchen, ist unbedingt verpönt. Die Anmeldung für die einzelnen Kurse ist ein Formalerfordernis, durch das sichergestellt werden soll, daß für das in Aussicht genommene Thema eine genügende Zahl von Interessenten vorhanden ist (durchschnittlich wird eine Zahl von 50 Anmeldungen für die Eröffnung eines Kurses vorausgesetzt), und außerdem, um dem Vortragenden im voraus einen Einblick in den Kreis seiner Hörer zu geben. Irgendwelche Berechtigungen sind mit dem Besuch der Verwaltungs-Akademie der Stadt Wien nicht verbunden; der Beamte darf auch nicht damit rechnen, daß der Besuch der Verwaltungs-Akademie an sich seinem Fortkommen förderlich sei. Einen praktischen Vorteil hat der Beamte bestenfalls von einer intensiven Ausnützung aller von der Verwaltungs-Akademie dargebotenen Fortbildungsmittel zu erwarten, indem sie ihm vor seinen Kollegen einen erkennbaren Vorsprung an dienstlich verwertbaren Kenntnissen geben. Die Zukunft der Verwaltungs-Akademie hängt in der Hauptsache davon ab, in welchem Maße die Beamtenschaft, sei es aus solchen praktischen Erwägungen oder aus reinem idealistischen Bildungstrieb, den Wert der Verwaltungs-Akademie schätzen lernt und von ihren Einrichtungen Gebrauch macht. Der Grundsatz der völligen Lernfreiheit als Gegenstück der Lehrfreiheit nötigt jedenfalls die Verwaltungs-Akademie, Besucher und Freunde aus den Kreisen der Beamtenschaft lediglich durch ihre eigene Lehrtätigkeit zu werben. Seit der Gründung der Verwaltungs-Akademie wurden in jedem Semester außer den durch mehrere Semester geführten Kursen jedesmal zwei bis vier neue Semestraikurse eröff-

8

I A . Verwaltungsrecht

net und haben sich jedes Semester mehrere hundert neue Kursbesucher gemeldet, doch sind für die extensive und intensive Steigerung des Studienbetriebes durch Erweiterung der Hörerzahl und Intensivierung des Studienbetriebes vorderhand keine Schranken gesetzt; das Reservoir der gegenwärtigen städtischen Beamtenschaft würde bei der Intensität des gegenwärtigen Studienbetriebes bestenfalls in einem Jahrzehnt ausgeschöpft sein. Doch muß selbstverständlich auch auf den allmählichen Nachwuchs der Beamtenschaft und auf die Fortbildung jener Beamten, die schon einmal der Verwaltungs-Akademie als Hörer angehört haben, Bedacht genommen werden. Die Aufgaben der Verwaltungs-Akademie der Stadt Wien unterscheiden sich zum Teile von denen der Akademien des Reiches. Bei der großen Masse der mittleren Beamtenschaft handelt es sich vor allem darum, ihr durch einen einjährigen Einführungskurs einen Einblick in den Gesamtzusammenhang der Verwaltung und ihres Rechtes zu verschaffen und ihr dadurch auch ein höheres Verständnis für den Sinn, die Notwendigkeit oder Nützlichkeit der mit der Arbeitsstelle jedes einzelnen verbundenen Tätigkeit zu erwecken. Erst auf dieser populär-wissenschaftlichen Grundlage kann die von Spezialkursen zu besorgende Einzelausbildung in solchen Verwaltungsfragen fußen, die dem Interesse des Beamten naheliegen. Aber auch für die juristisch gebildete Beamtenschaft wurde ein systematischer Kurs geführt, der darauf abzielte, sie mit den umwälzenden Neuerungen des eigenen und des wichtigsten ausländischen Verwaltungsrechtes sowie mit dem neuesten Stande der Theorie der Verwaltung vertraut zu machen. Eine noch größere praktische Bedeutung ist aber vielleicht jenen ausschließlich auf Verwaltungsjuristen beschränkten Spezialkursen beizumessen, die darauf abzielen, für bestimmte, namentlich neueingeführte Agenden Spezialisten auszubilden, die mit der gesamten einschlägigen Literatur, dem Recht des Auslandes auf diesem Gebiet und der allfälligen Judikatur vertraut gemacht werden. Der begreiflicherweise relativ enge Kreis der Hörerschaft solcher Spezialkurse erlaubt es, sie mit Konversatorien zu verbinden, in denen die Hörerschaft ihre eigenen Erfahrungen und die im Dienste aufgetauchten Rechtsfragen einschlägiger Natur zur Diskussion stellen kann. Gegenwärtig sind z.B. je ein zwei- bzw. einsemestriger Kurs für „Verwaltungsjuristen" über Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie über soziales Verwaltungsrecht im Laufe. Dabei zeigt sich übrigens, daß die Verwaltungs-Akademie eine geeignete Stätte ist, um jene Beamte, die dienstlich mit einer eng

Die Verwaltungs-Akademie Wien

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begrenzten Verwaltungsaufgabe befaßt sind, und dabei Gefahr laufen, den geistigen Zusammenhang mit anderen Verwaltungsgebieten zu verlieren, durch die Beteiligung an den Veranstaltungen der Verwaltungs-Akademie über die aktuellen Fragen verschiedenster Verwaltungsgebiete am laufenden zu erhalten. Die Aufgaben der Verwaltungs-Akademie sind indes nicht auf die Befassung mit der Verwaltung und ihrem Recht beschränkt, sie soll vielmehr auch andere im Verwaltungsberuf verwertbare Disziplinen pflegen. So wird z.B. von Anbeginn nach dem Vorbild der deutschen Akademien jährlich ein zweisemestriger Kurs über Nationalökonomie für mittlere Verwaltungsbeamte geführt. Eine Sonderaufgabe, die ich in den Veranstaltungen der VerwaltungsAkademie verfolge, ist es, die österreichische Beamtenschaft auf Schritt und Tritt mit den Verwaltungsreinrichtungen des Deutschen Reiches bekanntzumachen, sie zum Vergleich mit den österreichischen Einrichtungen anzuregen, und dabei die Vorteile oder Nachteile der diesseits und jenseits der Grenzen bestehenden Einrichtungen ins Licht zu rücken. So können Verwaltungs-Akademien Pflegestätten jenes Geistes werden, der diese sinnlos gewordenen staatlichen Grenzen zu überwinden sucht, und Vorschulen für jene Zeit, wo deutsche Beamte das staatlich geeinigte deutsche Land verwalten.

Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbürgerrechtes? Zum gleichartigen Beratungsthema des 36. Deutschen Juristentages in Lübeck

Es gibt kaum ein zweites rechtspolitisches Problem im Deutschen Reiche, das in dem Maße zugleich auch rechtspolitisches Problem für Österreich wäre, wie die Zukunft des reichsdeutschen Staatsbürgerrechtes . Ich betone: des reichsdeutschen , nicht etwa des österreichischen Staatsbürgerrechtes. Denn von der Gestalt des deutschen Staatsbürgerrechtes hängt es nicht nur ab, wie der einzelne Österreicher für seine Person durch den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, die auch heute schon häufiger als jede andere Staatsbürgerschaft von Österreichern angestrebt und auch erworben wird, gewissermaßen den Anschluß an das Deutsche Reich vollziehen kann, sondern auch, ob und wie für die Masse der Österreicher als vorläufiges Surrogat der staatlichen Einheit eine gewisse Einheitlichkeit des Staatsbürgerrechtes hergestellt und damit vielleicht die wichtigste Rechtswirkung des staatsrechtlichen Anschlusses vorweggenommen werden kann. Nicht die Angleichung des österreichischen an das reichsdeutsche Staatsbürgerrecht mit dem Endziel eines inhaltsgleichen Staatsbürgerrechtes steht hier in Frage. Wie ich schon öfter die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt habe, daß über der regen Diskussion der Rechtsangleichung auf dem Gebiete des Justizrechtes, namentlich des Strafrechtes, die analoge Aufgabe der Rechtsangleichung auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes so gut wie völlig übersehen wurde, so muß man es auch als befremdlich feststellen, daß es die praktisch interessierten österreichischen Kreise unterlassen ha-

Österreichische Anwaltszeitung, 8. Jg. (1931), S. 327-331.

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.A. Verwaltungsrecht

ben, dem nächsten Deutschen Juristentage, der sich sozusagen ex cathedra mit der Reform des deutschen Staatsbürgerrechtes befassen wird, eine Liste jener Reformwünsche zu präsentieren, deren Erfüllung einstmals die Übernahme des deutschen Staatsbürgerrechtes erleichtern wird. Die Staatsangehörigkeit gehört nämlich zu jenen spärlichen Gegenständen, bezüglich deren dem Reiche nach Art. 6 Punkt 3 der Weimarer Reichsverfassung die ausschließliche Gesetzgebung zusteht. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist demnach von Reichsverfassungswegen notwendig einheitliches, gemeines Recht; das in Österreich geltende Staatsbürgerschaftsgesetz wird in Zukunft zur Gänze durch das seinerzeit geltende Reichsbürgerschaftsgesetz ersetzt werden müssen. Diese Aussicht wäre Anlaß genug, in einer Zeit, wo übrigens nicht bloß bei theoretisierenden Juristen - eine Reform des deutschen Staatsbürgerrechtes zum Problem steht, Wünsche anzumelden, die gelegentlich einer generellen Reform des reichsdeutschen Staatsbürgerrechtes eher auf Erfüllung rechnen können, als wenn Österreich angesichts eines neuen Reichsbürgerschaftsgesetzes Reformwünsche präsentieren würde. Zwar bestehen zwischen dem deutschen und österreichischen Staatsbürgerrecht weitgehende, weil über das gemeinsame Grundprinzip des ius sanguinis hinausgehende Übereinstimmungen, aber doch auch wiederum bemerkenswerte Unterschiede, auf die einzugehen hier nicht der Ort ist. Man möchte hoffen, daß sich der Mangel des Interesses für die Reform des reichsdeutschen Staatsbürgerrechtes bloß daraus erklärt, daß das reichsdeutsche Staatsbürgerrecht in der gegenwärtigen Gestalt, mit allen seinen Abweichungen vom österreichischen Recht, für Österreich annehmbar ist. Die durch das Anschlußziel, das trotz allem wenigstens Richtlinie der österreichischen Gesetzgebung sein muß, auferlegte Notwendigkeit, in Österreich das deutsche Staatsbürgerrecht zu übernehmen, legt auch den Gedanken nahe, vor dem zeitlich noch so unbestimmten Eintritt dieser staatsrechtlichen Notwendigkeit, das österreichische dem reichsdeutschen Staatsbürgerrecht freiwillig anzugleichen. Vielleicht wird die Reform des deutschen Staatsbürgerrechtes, der der bevorstehende deutsche Juristentag in bemerkenswerter Weise präludiert, zum Anstoß, auch das neue und an sich wenig reformbedürftige österreichische Staatsbürgergesetz aus dem Jahre 1925, das freilich meines Erachtens auf die Rechtslage im Deutschen Reich zu wenig Rücksicht genommen hatte, in der Richtung des zu reformierenden deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzes zu revidieren, ja vielleicht wird sogar der vorbildliche Weg beschritten, der gewiß nicht allein im

Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbrgerrechtes?

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Falle der Neukodifikation des Strafgesetzbuches wünschenswert ist, durch gemeinsame parlamentarische Arbeit ein gemeinsames oder, besser gesagt, übereinstimmendes Staatsbürgerschaftsgesetz zustande zu bringen, das unter Zugrundelegung des deutschen Staatsbürgerschaftsgesetzes 1 den vom Standpunkt Österreichs wertvollsten Rechtseinrichtungen des österreichischen Gesetzes für beide Staaten Geltung verschafft. An dieser Stelle sollte nur die Aufgabe einer solchen gemeinsamen Gesetzgebungsarbeit angedeutet, nicht aber schon ihr mit konkreten Reformvorschlägen präludiert werden. Aus Anlaß des deutschen Juristentages soll hier nur einem Wunsche Ausdruck gegeben werden, den ein Österreicher nicht vom spezifisch österreichischen Standpunkt , sondern vom gesamtdeutschen Standpunkt an die deutsche Gesetzgebung richten kann und dessen Erfüllung sich allerdings als ein grundsätzlicher Eingriff in die gegenwärtige reichsdeutsche Rechtslage darstellen würde. Diese Zurückhaltung aus dem Kreise der österreichischen Juristen ist um so angebrachter, als das vorliegende Gutachten2 des Rechtsanwaltes Doktor Gustav Schwartz mit unübertrefflicher Sachkenntnis und Sachlichkeit alle gangbaren Reformvorschläge prüft und seinerseits ein - vielleicht allzu zurückhaltendes - Reformprogramm entwickelt, dem ich mich bis auf unbedeutende Einzelheiten anschließen kann. In großen Zügen zielen diese Reformvorschläge ab: auf die Bekämpfung der Staatenlosigkeit und auf die Beseitigung unerwünschter doppelter Staatsbürgerschaft; auf die Besserung der Rechtsstellung der Ehefrau und der minderjährigen Kinder, hauptsächlich in der Richtung einer teilweisen Verselbständigung der Staatsbürgerschaft der Ehefrau; auf die Berücksichtigung fremdstaatlicher Interessen im Dienste einer guten internationalen Ordnung durch Beschränkung der Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft im Falle des Erwerbs einer fremden Staatsbürgerschaft; auf die Förderung des Reichsgedankens durch Einführung der Bezeichnung „Reichsdeutscher" und eines Paßmusters, das nicht nur so wie heute die Landesangehörigkeit, sondern vorzugsweise die Reichsangehörigkeit zum Ausdruck bringt; auf eine Stärkung des Reiches gegenüber den Ländern, indem

1 Ich kann allerdings nicht den Eindruck unterdrücken, daß vom kodifikationstechnischen Standpunkt aus das österreichische vor dem reichsdeutschen Staatsbürgerschaftsgesetz den Vorzug verdient. 2

Vgl. die Gutachten für den 36. Deutschen Juristentag, Bd. I, S. 11 ff.

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im Falle der Einbürgerung ehemaliger Deutscher und ihrer Abkömmlinge, die ihren Wohnsitz im Ausland haben - für Österreicher wichtig! - ausschließlich die unmittelbare Reichsangehörigkeit verliehen werden soll, indem ferner das Reich ein unbedingtes Vetorecht im Einbürgerungsverfahren erhalten soll; auf eine Rechts Vereinfachung, indem die Möglichkeit, mehrere deutsche Landsangehörigkeiten auf eine Person zu vereinigen, beseitigt werden soll; auf die Hebung des persönlichen Rechtsschutzes durch die Einführung einer Klage auf Feststellung des Besitzes oder Nichtbesitzes der bestrittenen deutschen Staatsangehörigkeit in allen deutschen Ländern; endlich auf die Wahrung der Rechtseinheit durch reichsgesetzliche Eröffnung des Rechtsweges in Staatsangehörigkeitssachen zu einem Reichsverwaltungsgericht. Gerade die zuletzt angeführten Programmpunkte würden bewußt oder unbewußt eine bemerkenswerte Annäherung des reichsdeutschen an das österreichische Staatsbürgerrecht bringen. Denn auch nach österreichischem Recht schließt eine Landesangehörigkeit die andere aus; der Anspruch jedes Bundesbürgers auf ein Staatsbürgerschaftszeugnis ist der rechtliche Anhub für ein Verwaltungsverfahren zur behördlichen Entscheidung einer bestrittenen Staatsbürgerschaft; endlich steht gegen die letztinstanzlichen Verwaltungsakte der Länder in Staatsbürgerschaftssachen eine Rechtsbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof des Bundes offen. Was also im Deutschen Reiche von einer Reform des Staatsbürgerrechtes erwartet wird, ist demnach in Österreich zu nicht geringem Teile bereits geltendes Recht, auf das übrigens Dr. Gustav Schwartz an nicht wenigen Stellen seines Gutachtens in dankenswerter und überaus sachkundiger Weise reflektiert. 3

3 Nur ein Mißverständnis der Verfassungsrechtslage in Österreich erklärt wohl die Polemik gegen den § 1 des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes vom 30. Juli 1925, BGBl. Nr. 285; hienach richtet sich der Erwerb und Verlust der Staatsbürgerschaft, „von Staatsverträgen abgesehen, ausschließlich nach den Bestimmungen dieses Gesetzes". Dazu bemerkt Schwartz sehr richtig, aber durchaus nicht die Verfassungsbestimmung entkräftend: „Die Staatsverträge regeln, wie das Beispiel der letzten Friedensverträge beweist, die StA der von Abtretungen betroffenen Bevölkerung häufig nur unvollkommen. Keine ergänzende Auslegung vermag immer diese Lücken auszufüllen. In solchen Fällen gibt weder der Staatsvertrag, noch das StAG eine Lösung. ... Die erwähnte Fassung des österreichischen Gesetzes ... berücksichtigt nicht, daß Staatsangehörigkeitsgesetze nur die staatsrechtlichen Wirkungen, die in der Person des Einzelnen vor sich gehen, nicht aber die in der Persönlichkeit des Staates eintretenden Änderungen behandeln. Es bedarf daher keines Vorbehalts, da man einen anderen Inhalt von einem StAG niemals erwartet. Nimmt man jedoch einen

Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbrgerrechtes?

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Nur ein Reformvorschlag, den unser Gutachter zwar freundlich erwähnt, den er sich jedoch nicht zu eigen macht, sei an dieser Stelle neuerlich zur Diskussion gestellt: Es ist die Forderung der doppelten Staatsbürgerschaft für Österreicher und Reichsdeutsche. Es ist dies eine Forderung an die Adresse des Reichsgesetzgebers; dieser möge die Erfüllung einer solchen Forderung außer von anderen Bedingungen von der der Gegenseitigkeit abhängig machen - nur möge er etwas in dieser Richtung unternehmen. Es ist sicher, daß die österreichische Gesetzgebung alles in ihrer Macht Stehende unternehmen wird, um diese Bedingungen zu erfüllen. Unser Gutachter macht zwar diesem Wunsche liebenswürdige Komplimente, aber keinerlei greifbare Konzessionen. Schwartz verweist auf die von Hertz angeregte Gutachtensammlung der Österreichisch-Deutschen Arbeitsgemeinschaft 4 über die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft, und bemerkt hiezu: „Dieser Gedanke ist in jenem Gutachten weit ausgesponnen und von Merkl auf österreichischer, Gmelin auf deutscher Seite in anregender Weise auf seine Ausbaufähigkeit im Sinne einer vollkommenen Gemeinsamkeit beider Staatsbürgerschaften untersucht worden. So fasizinierend dieser Gedanke ist und so warm diese Debatte als solche, die viel zu wenig beachtet wurde, begrüßt werden muß: die generelle Verleihung des österreichischen Staatsbürgerrechtes an Reichsdeutsche und umgekehrt ist eine Form des Anschlusses und liegt auf politischem, nicht juristischem Gebiet. Konkreter und, wie wir uns eingestehen müssen, zeitgemäßer ist die Frage der individuellen Einbürgerung unter Beibehalt der bisherigen StA." 5

Vorbehalt in das Gesetz auf, so darf er nicht auf Staatsverträge beschränkt sein." Mit nichten! Der Vorbehalt der Staatsverträge im österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetze ist sinnvoll und nötig, da das Gesetz keine erschöpfende Regelung der Erwerbs- und Verlustgründe der Staatsbürgerschaft sein kann und will, sondern die in Staatsverträgen, namentlich in den Verträgen von St. Germain und Brünn, geregelten Erwerbsfälle, z.B. die Option, aufrechterhalten mußte. Staatsverträge werden nach Art. 49 B - V G nicht in Gesetze transformiert, sondern nach parlamentarischer Genehmigung und Ratifikation von Seiten des Bundespräsidenten mit einer den Bundesgesetzen gleichen Rechtskraft kundgemacht. So sind außer Gesetzen auch Staatsverträge Rechtsquellen des österreichischen Staatsbürgerrechtes. Ein Staatsbürgerschaftsgesetz, das eine erschöpfende Neuregelung des Staatsbürgerrechtes beabsichtigt, müßte die in Staatsverträgen enthaltenen staatsbürgerlichen Bestimmungen ausdrücklich aufrechterhalten, um ihnen nicht zu derogieren. - Die Polemik unseres Gutachtens trifft also daneben. 4

Doppelte Staatsbürgerschaft, Verlag Deutsche Einheit, Wien 1928.

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A.a.O., S. 43.

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III.A. Verwaltungsrecht

Bei aller Genugtuung über die freundliche Würdigung dieser Reformpläne kann doch die Bemerkung nicht unterdrückt werden, daß mit dieser höflichen, ja herzlichen Geste für die Annäherung zwischen Österreich und dem Reiche auf dem Wege des Staatsbürgerrechtes nicht genug getan ist. Man kann die Debatte über einen solchen grundsätzlichen Eingriff in die Staatsbürgerrechtslage nicht mit dem Argumente vom Forum des Juristentages verweisen, daß der Gegenstand nicht auf juristischem, sondern politischem Gebiete liege. Das ganze Gutachten, mit dem Schwartz der Diskussion des Juristentages in fruchtbarster Weise vorgearbeitet hat, ist auf Rechtserkenntnis und Rechtskenntnis gestützte Rechtspolitik, wie es überhaupt Aufgabe und Leistung der deutschen Juristentage war, die rechtlichen Wege für politische Ziele zu weisen. Das politische Ziel ist in diesem unseren Falle ja leider noch nicht der Anschluß, wie Schwartz anzunehmen scheint, und wegen der Auslandswirkung bedenklicherweise behauptet, sondern bestenfalls eine entfernte Vorbereitungshandlung für den Anschluß, eine Vorwegnahme des Anschlusses auf einem einzelnen Rechtsgebiete, wie z.B. der Zusatz zu Art. 26 des österreichischen B-VG auf wahlrechtlichem Gebiete dem Anschlüsse vorzugreifen sucht.6 Es ist der nächstliegende Diskussionsgegenstand, rechtliche Vorbereitungen für den Anschluß ausfindig zu machen, die nicht unter das fälschlich sogenannte Anschlußverbot fallen, richtig gesprochen, nicht der Zustimmung des Völkerbundrates bedürfen. Dazu gehört bekanntlich die schrittweise Rechtsangleichung auf den Rechtsgebieten, auf denen im Deutschen Reiche gemeines Recht besteht, dafür ist aber auch m.E. eine gegenseitige rechtliche Beförderung der doppelten Staatsbürgerschaft ein geeignetes Mittel. Dabei ist die rechtliche Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsche und Österreicher ebensowenig wie etwa die Zollunion eine Handlung, die zwangsläufig zum Anschluß führen müßte, ja die auch nur irgendwie die Unabhängigkeit der beiden Heimatstaaten in Frage stellen würde, sondern im Gegenteil durch die Selbständigkeit dieser Heimatstaaten bedingt und ein rechtliches Surrogat, um für gewisse Personen eine praktisch bedeutsame Folge der fehlenden Rechts- und Staatseinheit herbeizuführen.

6 Die Verfassungsnovelle bestimmte bekanntlich:,, Ob und unter welchen Voraussetzungen auf Grund staatsvertraglich gewährleisteter Gegenseitigkeit auch Personen, die nicht die Bundesbürgerschaft besitzen, das Wahlrecht zusteht, wird in dem Bundesgesetz über die Wahlordnung geregelt."

Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbrgerrechtes?

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Die sogenannte doppelte Staatsbürgerschaft im Verhältnis zwischen dem Deutschen Reiche und Österreich würde bekanntlich darin bestehen, daß der deutsche Staatsbürger zugleich österreichischer Staatsbürger, der österreichische Staatsbürger zugleich deutscher Staatsbürger ist. Diese Kumulierung zweier Staatsbürgerschaften kann das Ergebnis eines generellen legislativen oder eines individuellen administrativen Verleihungsaktes sein; d.h. es kann entweder das Gesetz allen oder gewissen Staatsbürgern des Nachbarstaates die deutsche oder österreichische Staatsbürgerschaft zusprechen, oder es kann allen oder gewissen Staatsbürgern des Nachbarstaates von Gesetzes wegen den Anspruch auf Verleihung des Staatsbürgerrechtes durch Verwaltungsakt erteilen. Diese beiden grundsätzlichen Möglichkeiten des legislativen und des administrativen Weges zur Herstellung doppelter Staatsbürgerschaft mitsamt ihren mehreren Varianten unterscheiden sich nicht nur durch das rechtliche Verfahren , sondern auch durch den Personenkreis, der hiedurch erfaßt wird. Je nach der Methode der Herstellung der doppelten Staatsbürgerschaft wird sie eine Ausnahmserscheinung, eine Regelerscheinung oder sogar eine ausnahmslose Erscheinung sein. Der Personenkreis, den man der Rechtswohltat der doppelten Staatsbürgerschaft teilhaftig werden lassen will, wird für den rechtlichen Weg bestimmend sein. Wenn man davon ausgeht, daß die doppelte Staatsbürgerschaft nach der gegenwärtigen Rechtslage bereits auf die Weise möglich ist, daß der Österreicher trotz Erwerbes der reichsdeutschen Staatsbürgerschaft die österreichische Staatsbürgerschaft beibehält und umgekehrt, so wäre der nächste gesetzgeberisch anzustrebende Schritt, daß der österreichische Staatsbürger entweder unter bestimmten Umständen, unter denen er daran ein besonderes Interesse haben kann, oder unter allen Umständen einen Anspruch auf Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft erhält. Die nächstliegende Bedingung, von der ein solcher Anspruch abhängig gemacht werden könnte, ist der des Wohnsitzes im Verleihungsstaat. Eine weitere Einschränkung dieses vielleicht allzu schablonenhaften Erwerbstitels wäre die Abhängigmachung des Anspruches von einer längeren Wohnsitzdauer und von einem einwandfreien Verhalten während der Wohnsitzdauer, von Unbescholtenheit oder vom Mangel diffamierender Vorstrafen, von der Erwerbsfähigkeit oder der Tatsache, daß der Ausländer während des Aufenthaltes in seiner neuen Wahlheimat der Armenversorgung nicht zur Last gefallen ist. So könnte der Naturalisierunganspruch durch ein beschränktes behördliches Verweigerungsrecht abgeschwächt werden.

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Der große nationalpolitische Fortschritt einer solchen Rechtseinrichtung bestünde in der Ergänzung der für alle Ausländer geltenden fakultativen Einbürgerung um einen Fall obligatorischer Einbürgerung zugunsten einer Kategorie privilegierter, weil konnationaler Ausländer. Der immerhin auch denkbare Weg, daß die Staatsbürgerschaftsbehörden durch Dienstanweisung angewiesen werden, die Einbürgerungsgesuche bestimmter Ausländer in bestimmten Fällen ausnahmslos zustimmend zu erledigen, könnte zwar in den Wirkungen der gesetzlichen Begründung eines Einbürgerungsanspruches nahekommen, an ideeller nationalpolitischer Bedeutung ihm jedoch keinesfalls gleichkommen. Ein viel radikalerer Schritt als die gesetzliche Einführung eines bedingten oder selbst unbedingten Naturalisationsanspruches für die Österreicher im Reiche und umgekehrt wäre die generelle Naturalisation eines mehr oder minder großen Kreises der Österreicher und der Reichsdeutschen durch Reichs- bzw. Bundesgesetz. Dieses rechtliche Verfahren würde individuelle Naturalisationsakte überflüssig machen. Es würde z.B. der Österreicher durch Wohnsitznahme im Deutschen Reiche oder durch Vollendung einer vom Gesetz bestimmten Wohnsitzdauer unmittelbar kraft Gesetzes die Reichsbürgerschaft und allenfalls die Landesbürgerschaft des Wohnsitzlandes erwerben. Unerwünschter Staatsbürgerschaftserwerb könnte durch ein Ausschlagungsrecht, der Zuwachs unerwünschter Staatsbürger durch ein an bestimmten Voraussetzungen geknüpftes oder selbst ein im freien Ermessen stehendes Ablehnungsrecht der Behörde verhindert werden. Auch im Falle der unmittelbaren gesetzlichen Naturalisation liegt die vorläufige Beschränkung auf die im Deutschen Reiche wohnhaften Österreicher bzw. auf die in Österreich wohnhaften Reichsdeutschen nahe, denn nur in diesem Umfange entspricht sie wirklichen praktischen Bedürfnissen. Je mehr sich die Institution der doppelten Statsbürgerschaft dem idealen Grenzfall nähert, wonach der österreichische Staatsbürger als solcher zugleich deutscher Staatsbürger und umgekehrt wäre - also völlige Kongruenz des Kreises der österreichischen und deutschen Staatsbürger - desto eher besteht die Gefahr, daß die Institution der doppelten Staatsbürgerschaft außenpolitischen Schwierigkeiten begegnet. Denn es könnte in einer so außergewöhnlichen rechtlichen Annäherung der beiden Nationalstaaten eine Gefährdung der in den Staatsverträgen von Versailles und St. Germain gewährleisteten Unabhängigkeit erblickt werden. Wegen dieser, wenn auch juristisch nicht haltbaren außenpolitischen Schranke empfiehlt es sich, neben dem Rechtsinstitut der doppelten Staatsbürgerschaft das Rechtsinstitut der Volksbürgerschaft in Erwägung zu zie-

Empfiehlt sich eine Abänderung des deutschen Staatsbtirgerrechtes?

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hen, durch das das Deutsche Reich den Auslandsdeutschen ohne Rücksicht auf ihre eigene Staatsbürgerschaft gewisse Vorteile der deutschen Reichsbürgerschaft sichern könnte, ohne sie den Gefährdungen der doppelten Staatsbürgerschaft auszusetzen. Zum Unterschied von der doppelten Staatsbürgerschaft, die im allgemeinen auf Auslandsdeutsche beschränkt bleiben müßte, deren Heimatstaat den gleichzeitigen Besitz der reichsdeutschen Staatsbürgerschaft bei seinen eigenen Staatsbürgern gern sehen würde dies trifft unbedingt nur von Österreich zu - wäre die Einrichtung der Volksbürgerschaft ein rechtliches Mittel, Auslandsdeutschen auch solcher Staaten, in denen die Deutschen eine Minderheit, mitunter sogar eine unterdrückte Minderheit sind, rechtlich an das Reich als ihre gemeinsame kulturelle Heimat zu ketten. Eine solche rechtliche Unterbauung der kulturellen Gemeinschaft ist für die Aufrechterhaltung des Deutschtums der Auslandsdeutschen von einem bisher noch nicht ganz gewürdigten Wert, und sogar aktueller als jede Reform des Reichsbürgerrechtes. Es würde allerdings den Rahmen des Themas überschreiten, an dieser Stelle Vorschläge zu unterbreiten. 7 Im Hinblick auf das Auslandsdeutschtum darf man wohl dem Deutschen Juristentag, dem bewährten Schrittmacher der meisten rechtlichen Großtaten Deutschlands, zurufen: Caveant consules, ne quid detrimenti capiat natio!

7 Vgl. auch hiezu mein oben zitiertes Gutachten in der Veröffentlichung der Österreichisch-Deutschen Arbeitsgemeinschaft „Doppelte Staatsbürgerschaft".

Reform des Gewerberechtes Die österreichische Gewerbeordnung, in ihrem Entstehungsjahr 1859 ein Werk aus einem Guß, ein folgerichtiges Dokument der damals herrschenden Idee der Gewerbefreiheit, ist durch eine Unzahl von Novellen zu einem monströsen Flickwerk geworden, einem Kompromiß widersprechender gewerbepolitischer Tendenzen, unter denen ein erneuerter Zunftgedanke die Dominante ist. Mit ihrer Fülle von Novellen, die vom ursprünglichen Gesetzestext nur noch wenige Paragraphen unverändert gelassen haben, ist die heute geltende Gewerbeordnung selbst für den geschulten Juristen, der nicht zugleich gelernter Österreicher ist, ein Geheimbuch voller Rätsel und Unbegreiflichkeiten und nur für einen engen Kreis von Fachleuten der Gegenstand einer Geheimwissenschaft geworden, von deren Problemen unter anderem der mehr als 1600 Seiten starke Kommentar von Emil Heller eine Vorstellung gibt. Wenn man bedenkt, daß mit den gewerberechtlichen Problemen von der Art, ob ein Uhrglas vom Uhrmacher oder nur vom Glasermeister für eine Taschenuhr zurechtgeschliffen werden darf, oder ob die Haare einer Puppe vom Puppen- oder Perückenmacher angebracht werden dürfen, immer wieder drei Verwaltungsinstanzen, darunter ein Ministerium, und überdies der Verwaltungsgerichtshof befaßt werden, so leuchtet jedem ein, daß ein beherzter Zugriff in dieses Paragraphendickicht einen beträchtlichen Ersparungserfolg bringen könnte. Doch steht einem Versuch, die irrationale Vielarbeit, zu der die Gewerbeordnung Anlaß gibt, gründlich abzubauen, die teils unbegründete, teils begründete Sorge des Gewerbestandes um erworbene Rechte und vor einer weiteren Erschwerung der wirtschaftlichen Existenz entgegen, die man immerhin noch am besten durch das komplizierte System der geltenden gewerberechtlichen Vorschriften geschützt glaubt. Doch selbst wenn man von einer Gewerberechtsreform alles ausnimmt, was als politisches Rühr-mich-nicht-an gilt, bleibt an Vereinfachungs- und damit Ersparungsmöglichkeiten noch so viel, daß die

Der österreichische Volkswirt, 1932, S. 230-233.

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Geschäfte der Gewerbebehörden in Gewerbesachen schätzungsweise auf die Hälfte des gegenwärtigen Standes herabgedrückt werden könnten. Die Vorlage der Bundesregierung, Nr. 299 der Beilagen des Nationalrates, die ein Bundesgesetz „über verschiedene Abänderungen der Gewerbeordnung und des Kundmachungspatentes" zum Gegenstande hat, kann, trotz mancher wertvoller Verbesserungsvorschläge, die freilich durch rückschrittliche Maßnahmen kompensiert werden, nicht als ein Weg zu einer wesentlichen Verwaltungsvereinfachung in Gewerbesachen gelten. Der Gesetzentwurf ist nur ein weiterer kasuistischer Novellierungsversuch, der die seit den letzten Gewerbenovellen der Jahre 1925 und 1928 aus der gewerblichen Praxis erwachsenen Reformwünsche zu erfüllen strebt. Man erinnerte sich dabei augenscheinlich, daß der Entwurf der mittlerweile aktuell gewordenen Verwaltungsreformaktion dienstbar gemacht werden könne, und reihte ihn nunmehr der spärlichen Reihe von programmatischen Verwaltungsreformentwürfen an, obwohl er seinem ursprünglichen Programm und seinem Inhalt nach mit Verwaltungsentlastung so gut wie nichts zu tun hat. Dieser Einsicht konnte man sich offenbar auch in Regierungskreisen nicht verschließen und so erklärt es sich, daß auch amtlich eine andere Novelle zur Gewerbeordnung erwogen wird, die ausgiebige Verwaltungsersparungen bringen soll. Die Reformarbeit wird noch dadurch kompliziert, daß sich aus Kreisen des Gewerbes immer weitere Wünsche an die Gesetzgebung melden. Die Kreise, die an der Gestaltung der Gewerbeordnung nicht unmittelbar interessiert sind, werden nur darüber zu wachen haben, daß man nicht über der Honorierung gewerbepolitischer Wünsche die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Vereinfachung der Gewerbe Verwaltung verabsäume oder diese Gelegenheit den anders gerichteten Wünschen der Interessenten zum Opfer bringt. Die gesetzgeberische Verquickung so heterogener Absichten legt jedenfalls die Gefahr nahe, daß die Verwaltungsvereinfachung zu kurz kommt. Aus dem dem Nationalrat vorliegenden Gesetzentwurf sollen von den vorgeschlagenen 66 Neuerungen nur jene Änderungsvorschläge vermerkt werden, die vom Standpunkt der Aufgabe der Verwaltungsvereinfachung aus eindeutig positiv oder negativ zu bewerten sind. Die dornige Frage der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, in denen das Gewerbe mehr denn je eine unerwünschte Konkurrenz erblickt,

Reform des Gewerberechtes

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soll von der neuen Gewerbenovelle dahin gelöst werden, daß diese Genossenschaften unter zwei alternativen Voraussetzungen der Gewerbeordnung unterstellt werden: Wenn sie eine Tätigkeit ausüben, die bei gewerbemäßigem Betrieb an einen Befähigungsnachweis oder an eine Konzession gebunden wäre, oder wenn sie ohne Rücksicht auf den Gegenstand ihres Betriebes ihre Geschäfte satzungsgemäß und tatsächlich nicht auf ihre eigenen Mitglieder beschränken. Mit dieser Grenzziehung wird das Geltungsbereich der Gewerbeordnung auch auf solche Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften erstreckt, die derzeit nicht der Gewerbeordnung unterliegen, und damit die Ausübung bisher frei zugänglicher Tätigkeiten, wenn sie von Produktiv- oder Konsumgenossenschaften entfaltet werden, denselben Beschränkungen (Konzessionszwang, Befähigungsnachweis) unterworfen, wie wenn es sich um Gewerbebetriebe gleicher Branche handelte. Der Interessenkonflikt zwischen Gewerbe einerseits, Produzenten und Konsumenten anderseits soll also durch Angleichung der Konkurrenzbedingungen im Sinne des Gewerbes gelöst werden. Wie immer man sich sachlich zu diesem Vorschlag verhalten mag, so hat er doch ein grundsätzliches Bedenken gegen sich: Durch eine solche Unterstellung der Erwerbsund Wirtschaftsgenossenschaften unter die Gewerbeordnung wird der an sich schon reichlich weit gezogene Geltungsbereich dieses Gesetzes und damit überhaupt die Sphäre des staatlichen Interventionismus erweitert. Damit wird aber zugleich auch neue Verwaltungsarbeit geschaffen - gewiß eine paradoxe Methode der Verwaltungsvereinfachung - , denn eine bisher freie gesellschaftliche Tätigkeit muß nunmehr „beamtshandelt" werden. Das mag im konkreten Falle nicht viel neue Akten abgeben, zumal da die Gewerbebehörden ohnehin schon bisher bei den meisten Produktiv- und Konsumgenossenschaften durch Anzeigen genötigt werden dürften, deren gewerblichen Charakter zu untersuchen, doch stärkt jede Erweiterung des Geltungsbereiches der Gewerbeordnung die latenten Wünsche, womöglich alle Tätigkeiten, die von einem Gewerbetreibenden verrichtet werden könnten, der Gewerbeordnung zu unterstellen und sie auf diesem Wege „dem legitimen Gewerbe" vorzubehalten. Strebt man ja bekanntlich heute schon danach, „Lohnarbeit der gemeinsten Art" (im Sinne des Kundmachungspatentes zur Gewerbeordnung), allerlei Gelegenheitsarbeiten usw. der Gewerbeordnung zu unterstellen, so daß schließlich der Bastler im eigenen Haus einen unbefugten Gewerbebetrieb ausüben würde. Das ist natürlich der umgekehrte Weg einer Verwaltungsvereinfachung, die nicht zuletzt in einer Beschränkung des Geltungsbereiches der Gewerbeordnung und in der völ-

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ligen Freigabe aller jener Tätigkeiten zu suchen wäre, bei denen kein öffentliches Interesse an staatlicher Intervention ersichtlich ist. Schafft man aber mit der Unterstellung der Produktiv- und Konsumgenossenschaften unter die Gewerbeordnung ein Präjudiz, dann werden weitergehende Wünsche nach gewerberechtlicher Qualifikation bisher ungebundener Tätigkeiten schwerlich abzuwenden sein. Neben diesen grundsätzlichen Bedenken verschwindet beinahe das Gesetzgebungstechnische, daß im Falle der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften eine Tätigkeit wegen ihrer technischen Eigenschaften und nicht wegen ihres wirtschaftlichen Charakters als Gewerbe qualifiziert werden soll. Damit würde aus opportunistischer Interessentenpolitik das System der Gewerbeordnung durchkreuzt werden, wonach Bestimmgrund des Gewerbes das ökonomische Ziel und nicht die technische Eigenschaft einer Tätigkeit ist. Diese Erwägungen zeigen den radikalsten Weg einer Vereinfachung der Gewerbeverwaltung: die Ausscheidung möglichst zahlreicher Tätigkeiten aus dem Geltungsbereich der Gewerbeordnung, an deren verwaltungsgesetzlicher Reglementierung und verwaltungsbehördlicher Kontrolle ein allgemeines öffentliches Interesse nicht besteht, und als Etappe zu diesem Ziel wenigstens eine Grenzberichtigung der vom Kundmachungspatent zur Gewerbeordnung höchst unübersichtlich gezogenen Grenzlinie zwischen gewerblichen und nichtgewerblichen Tätigkeiten im Sinne einer einschränkenden Auslegung des Gewerbegriffes. Einer solchen Reform stehen allerdings schier unüberwindliche Hindernisse entgegen: das Interesse der gewerblichen Unternehmer und der Gewerbegenossenschaften, ein möglichst großes Stück der Wirtschaft in die Schranken der Gewerbeordnung einzubeziehen und es dieserart für eine gewiß schutzbedürftige Gesellschaftsgruppe zu monopolisieren, und das gleichgerichtete Interesse der gewerblichen Arbeitnehmer, durch die Unterstellung ihrer Beschäftigung unter die Gewerbeordnung des sozialpolitischen Schutzes teilhaftig zu werden, der auf gewerbliche Betriebe oder gewerbliche Arbeitnehmer abgestellt ist. Den berechtigten Wünschen der letzten Gruppe könnte durch die Lösung des Junktims zwischen den fraglichen sozialrechtlichen Vorschriften und der gewerblichen Eigenschaft der Betriebe Rechnung getragen werden, ein Entgegenkommen in erster Richtung nötigt aber zum Verzicht auf die besten Aussichten einer Vereinfachung der Gewerbeverwaltung. Grundsätzlich dasselbe gilt von den Bestimmungen des Entwurfes, die auf eine Verschärfung oder Erweiterung des Befähigungsnachweises hin-

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auslaufen, und noch mehr von den wesentlich weitergehenden Bestrebungen der gewerblichen Kreise. Wie begreiflich auch diese Bestrebungen vom Standpunkt des Gewerbes aus sein mögen, so kann doch nicht verkannt werden, daß ihre Erfüllung sowie überhaupt jeder Ausbau des staatlichen Interventionismus keine Entlastung, sondern eine neue Belastung der Verwaltung mit sich bringt. Denn während die Prüfung der allgemeinen Erfordernisse zum Antritt eines Gewerbes eine rasch erfüllte Formalität ist, bringt die Prüfung des Befähigungsnachweises im Zusammenhalt mit der amtlichen Anhörung der Genossenschaften und deren Berufungsrecht eine ganz beträchtliche Mehrarbeit mit sich. Unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung sind nur jene Bestimmungen des Gesetzentwurfes vertretbar, die auf eine Gleichstellung der jetzt schon an den Befähigungsnachweis gebundenen Handelsgewerbe mit den handwerksmäßigen Gewerben hinauslaufen, da jede Uniformierung der Vorschriften eine Schabionisierung ihrer Handhabung ermöglicht. Jede darüber hinausgehende Maßnahme würde aber den Sinn der Gewerberechtsreform als Verwaltungsreform in sein Gegenteil verkehren. Indes ist zuzugeben, daß nicht um jeden Preis eine Verwaltungsvereinfachung erreicht werden muß. So kann die geringfügige Erweiterung des Kreises der konzessionierten Gewerbe, die in der Gewerbenovelle vorgesehen ist, nämlich die Statuierung der Konzessionspflicht für die Bearbeitung von medizinischen Präparaten und für das gewerbemäßige Inkasso von fremden Forderungen mit dem Bedürfnis gerechtfertigt werden, durch den Konzessionszwang den bei solchen Betrieben naheliegenden Mißbräuchen vorzubeugen. Die wiederholt gesetzlich verkündete Absicht, die Pressegewerbe vom Konzessionszwang auszunehmen, wird von der Gewerbenovelle endültig fallengelassen und nur ein etwas größerer Kreis von Presseerzeugnissen, deren Handel nicht konzessionspflichtig macht, sichergestellt. Einem Bedürfnis der Konsumenten kommt die vorgesehene Erweiterung des Kreises der Gewerbe, die der gewerbepolizeilichen Regelung unterliegen, entgegen, insbesondere durch die Ermöglichung einer gewerbepolizeilichen Regelung des Lebensmittelhandels; es war ein Mißverständnis, wenn in dieser Ermächtigung die Sucht nach sinnloser Vielregiererei erblickt wurde. Es wird damit erstmals eine einwandfreie Handhabe für die Erfüllung hygienischer Notwendigkeiten bezüglich der Aufbewahrung und Feilbietung von Lebensmitteln geboten sein. Wenn man Bedenken vor dem Mißbrauch einer solchen Ermächtigung hat, so möge man sie auf die

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Erlassung sanitätspolizeilicher Vorschriften abstellen. Mit der Ermächtigung zur Rücknahme von Gewerbeberechtigungen im Falle längerer Rückständigkeit der Genossenschaftsbeiträge, ferner mit der Beschränkung des Aufsuchens von Bestellungen und der Veräußerung von Lebensmitteln im Umherziehen, desgleichen mit der Beschränkung der Ausübung des Marktfahrergewerbes, ferner mit der Erleichterung der Ladenschlußvorschriften für gewisse, mit Vergnügungsbetrieben im Zusammenhang stehende Gewerbebetriebe, endlich mit den vielangefochtenen Verschlechterungen der Rechtsstellung der Lehrlinge sollen teils Wünsche der gewerblichen Genossenschaften, teils Sonderwünsche einzelner Gruppen von Gewerbetreibenden erfüllt werden. Derartige Interessentenpolitik, für die nur die bemerkenswerteren Beispiele aus den zahlreichen Reformvorschlägen des Regierungsentwurfes aufgezählt wurden, ist - mag sie sachlich gerechtfertigt sein oder nicht - unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungsvereinfachung fast durchaus negativ zu bewerten. So ist es begreiflich, daß die Träger der Verwaltungsreformaktion nach anderen Reformmöglichkeiten auf dem Gebiete des Gewerberechtes Ausschau gehalten haben, um das Manko an Ersparungsmöglichkeiten, das der Regierungsentwurf aufweist, auszugleichen. Die Länderkonferenz, die sich mit Verwaltungsreformfragen befaßt hat, soll in der Tat einen sehr weitgehenden Reformentwurf ausgearbeitet haben, der, soviel man hört, von Organen des Wiener Magistrates redigiert wurde. Nach den knappen offiziellen Verlautbarungen ist der Grundgedanke dieses Entwurfes, den Großteil der Amtshandlungen hinsichtlich der freien und handwerksmäßigen Gewerbebetriebe den Gewerbebehörden abzunehmen und in die Selbstverwaltung des Gewerbes zu übertragen, indem die Gewerbegenossenschaften die Gewerbeanmeldungen, -Abmeldungen, -Verlegungsanzeigen usw. entgegenzunehmen und zu erledigen hätten. Damit würden die Gewerbegenossenschaften behördliche Aufgaben übernehmen. Es ist nur die Frage, ob sie diesen Aufgaben unter den gegenwärtigen Verhältnissen und bei ihrer Zweckbestimmung als beschränkte Interessenvertretungen gewachsen wären und ob der Aufwand für die Gewerbeunternehmungen infolge des unvermeidlichen Ausbaues des Apparates der Genossenschaften nicht die Ersparnis der Gewerbebehörden wettmachen würde. Wenn man auch in Betracht zieht, daß die Korrektur rechtswidriger Erledigungen der Genossenschaften - mögen nun angesprochene Gewerbescheine rechtswidrig verweigert oder trotz Mangels der gesetzlichen Voraussetzungen erteilt wer-

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den - den Gewerbebehörden anfänglich nicht wenig zu schaffen machen würde, so darf doch erwartet werden, daß nach einer gewissen Übergangszeit die auf großen Gebieten zu bloßen Aufsichtsbehörden gewordenen bisherigen Gewerbebehörden einschneidend entlastet werden würden. Ist es dem Nationalrat um eine Verwaltungsentlastung auf dem Gebiete der Gewerbeverwaltung ernst, so wird er bei der gegenwärtigen Behandlung der Gewerbereform vor allem die Reformpläne der Länderkonferenz berücksichtigen müssen. Daneben verspricht die möglichste Konzentration der den politischen Behörden verbleibenden Amtsgeschäfte bei der politischen Bezirksbehörde, neben der bisher viel zu häufig die politische Landesbehörde als erste Instanz in Anspruch genommen wird, und endlich die erörterte Einengung des Geltungsbereiches der Gewerbeordnung die Ersparung von nutzlosem Verwaltungsaufwand.

Vereinsreform Rund 42.000 derzeit in Österreich bestehende Vereine legen nicht nur von der sprichwörtlichen Vereinsfreudigkeit unserer Bevölkerung beredtes Zeugnis ab, sondern sind auch ein sprechender Beweis von der sozialen Bedeutung der Organisationsform der Vereine und der rechtlichen Gestaltung dieser Organisationsform. Die Zahl der bestehenden Vereine und deren ununterbrochene Zunahme schließen jedenfalls die eine Kritik an unserem mit gutem Grund viel angefochtenen Vereinsrecht aus, daß es die Bildung von Vereinen übermäßig erschwere. Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, Wohltätigkeits- und Geselligkeitssinn bedienen sich der neutralen Rechtsfigur des Vereines, um ihre sozialen Ziele durch menschliche Zusammenarbeit zu fördern. Trotzdem oder gerade darum ist das Vereinswesen von allen in Erörterung stehenden Gegenständen der Verwaltungsreform für einschneidende Neuerungen am reifsten. Schon die altösterreichische Regierung hatte die Reformbedürftigkeit des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867 eingesehen und im Jahre 1911 dem Reichsrat den Entwurf eines neuen Vereinsgesetzes mit der bezeichnenden Begründung vorgelegt, daß das alte Vereinsgesetz eine unnötige Belastung der Behörden und der Vereine darstelle. Aus einer solchen Begründung sprach ein grundlegender Wandel des vereinsbehördlichen Regimes, das noch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur in Österreich ganz vormärzlich eingestellt gewesen war. Wenn noch ein Bismarck in einer Rede im preußischen Landtag das Vereinsrecht mit der Schneide jener Schere verglichen hat, „mit welcher die konstitutionelle Dalila dem Simson der Monarchie die Locken abschneidet, um ihn den demokratischen Philistern wehrlos in die Hände zu liefern", so darf man sich nicht wundern, daß auch die österreichischen Minister des 19. Jahrhunderts nicht aufgeklärter dachten, sondern in der harmlosesten Organisation eine revolutionäre Konspira-

Der österreichische Volkswirt, 1932, S. 389-391.

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tion zu wittern gewohnt waren. Erst Körber brach einer moderneren Auffassung des modernen Organisationswesens Bahn und darf somit auch als der letzte geistige Urheber des vorerwähnten Regierungsentwurfes aus dem Jahre 1911 gewürdigt werden. Man begreift es, daß der altösterreichische Reichsrat diesen den Wünschen einer latenten Mehrheit gewiß entsprechenden Entwurf nicht mehr zu erledigen Muße gefunden hat. Unbegreiflich ist es aber beinahe, daß unser schon in der zurückhaltenden offiziellen Sprache einer k.k. Regierung als veraltet und unhaltbar kritisiertes Vereinsgesetz nach vierzehnjähriger republikanischer Massenproduktion von Gesetzen noch immer zu Recht besteht und mehr zweckmäßig als rechtmäßig gehandhabt wird. Das Rätsel der Langlebigkeit dieses Gesetzes erklärt sich einfach aus der Tatsache, daß seine überflüssigsten, der Vielregiererei des Polizeistaates entsprungenen Bestimmungen, insbesondere die Vorschriften der mannigfachen Anmeldungen bei der Behörde, nicht mehr befolgt werden, wodurch den Vereinsbehörden unermeßlicher Aktenleerlauf erspart bleibt. Würde durch das künftige neue Vereinsgesetz lediglich dieser via facti erzielte Verwaltungsabbau sanktioniert werden, so wäre nichts als ein neues Gesetzblatt gewonnen. Schon der Reformentwurf des Jahres 1911 und mehr noch ein von der Bundesregierung im Jahre 1922 eingebrachter Entwurf haben jedoch weitergehende Modernisierungen und Vereinfachungen des Vereinsrechtes angestrebt. Diese Anläufe einer Reform werden aber durch den von der Bundesregierung im Jahre 1932 im Nationalrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über das Vereinsrecht, Nr. 331 der Beilagen, weit überboten und in Schatten gestellt. Wie lebhaft auch mittlerweile dieser Entwurf umkämpft wurde, so steht das eine unbestreitbar fest, daß er erstmals den von der Dezemberverfassung des Jahres 1867 aufgestellten liberalen Grundsatz der Vereinsfreiheit - vorbereitet durch die „lex Ofner" vom 30. Oktober 1918 - nicht nur ehrlich zu verwirklichen, sondern geradezu auf die Spitze zu treiben sucht. Die Regierung scheint schwerwiegenden Bedenken, die den Stimmen weitgehender Zustimmung aus Interessentenkreisen entgegengehalten wurden, mehr oder weniger Rechnung tragen zu wollen, doch sind die Konturen der voraussichtlichen endgültigen Regierungsvorschläge noch nicht sichtbar. In diesem Vorbereitungsstadium möchte ich auf einige, meines Wissens in der Kritik noch nicht beanständete Mängel des vorliegenden Vereinsgesetzentwurfes aufmerksam machen und einige legislativpolitische Forderungen für das neue Vereinsgesetz aufstellen, die vielleicht über die zünftigen Juristenkreise hinaus Beachtung bean-

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spruchen dürfen, und einige gesetzestechnische Winke für die endgültige Fassung des Gesetzentwurfes geben. Es ist ein Mißverständnis, wenn sich Kreise, denen das Vereinsleben nicht in gleicher Weise den Lebensinhalt bedeutet, wie es nicht nur für viele Vereinsorgane, sondern auch für die zahlreichen hauptberuflich und nebenberuflich Angestellten der Vereine zutrifft, an der Gestaltung des Vereinswesens uninteressiert halten; namentlich die Wirtschaftskreise sind am Vereinsrecht einerseits dadurch interessiert, daß es die Rechtsform für alle freiwilligen Interessenvertretungen, z.B. Unternehmerverbände, Gewerkschaften, politische Vereine usw., darstellt, sondern auch als Kontrahenten jener Vereine, die namentlich als Inhaber von Vereinsanstalten mannigfachster Art Lieferungen zu vergeben haben. Schon die primäre Frage jedes Vereinsgesetzes, nämlich die Frage, welche Organisationstypen der Herrschaft dieses Gesetzes unterstellt werden sollen, ist wirtschaftspolitisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Hing doch, wenigstens nach der bisherigen Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Frage, ob eine Organisation das Vorrecht der freien Vereinsbildung genießt oder dem Konzessionssystem unterstellt werden kann, davon ab, ob die Organisation ihren Einrichtungen und Zwecken nach dem Vereinsgesetz (des Jahres 1867) zu unterstellen oder vom Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgenommen, namentlich nach dem Vereinspatent des Jahres 1852 zu behandeln war. Wenn das ganze Vereinsrecht in der gegenwärtigen Reformbewegung im Fluß ist, dann ist nicht einzusehen, warum die sehr zufällig historisch gewordene Grenzziehung zwischen konzessionspflichtigen und freien Vereinen unangreifbar bleiben sollte. Sämtliche bisherige Reformentwürfe haben die geltende Abgrenzung unverändert übernommen, obwohl sie durch die Verfassungsentwicklung höchst problematisch geworden ist. Es wäre unverantwortliche Vogel-Strauß-Politik, das neue Vereinsgesetz mit dieser offenen Rechtsfrage zu belasten. Aufgabe einer gründlichen Vereinsreform ist vielmehr vor allem, eine neue Auseinandersetzung zwischen freien und allenfalls auch in Zukunft konzessionspflichtigen Vereinen zu gewinnen und für diesen Vereinstypus, soweit er beibehalten werden soll, eine gesicherte Rechtsgrundlage herzustellen. In der Richtung der vorliegenden Reformvorschläge läge es zumindest, den wirtschaftlichen Vereinen bei Erfüllung gewisser Bedingungen einen gesetzlichen Anspruch auf die Konzession zuzubilligen und damit die namentlich durch das Aktienregulativ und Versicherungsregulativ begründete administrative Praxis gesetzlich zu verankern und zu sichern. (Eine juristische

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III.A. Verwaltungsrecht

Begründung und nähere Ausführung dieser andeutenden Bemerkungen bringe ich in den Juristischen Blättern vom 17. Dezember 1932.) Die Hauptbedenken gegen den dem Nationalrat vorliegenden Vereinsgesetzentwurf sind m.E. durch die fast völlige Formlosigkeit der Vereinsgründung und durch die Uferlosigkeit der vereinspolizeilichen Kontrolle begründet. Damit sind zugleich auch die kardinalen Forderungen an ein neues Vereinsgesetz gegeben: Bei aller Erleichterung der Vereinsgründung doch Vorschreibung eindeutiger Formen, die den Bestand eines Vereines für das Publikum und die Behörde außer Zweifel stellen, denn nur ein unzweifelhaft bestehender Verein wird in den Geschäftsverkehr eintreten und Objekt einer wirksamen behördlichen Kontrolle sein können. Zweitens weitestgehende Beschränkung der vereinsbehördlichen Kontrolle und des Ermessens bei deren Ausübung. Der dem Nationalrat vorliegende Entwurf ist keiner der beiden Forderungen gerecht geworden. Vor allem wird das neue Vereinsgesetz die in dem Regierungsentwurf versuchte Konstruktion aufgeben müssen, daß die Vereine durch einen bloß internen Gründungsakt ihrer Interessenten zustande kommen und gar Rechtsfähigkeit erlangen. Unter den bislang bei uns herrschenden Verhältnissen bieten nur das dem österreichischen Recht derzeit eigentümliche System der Anmeldung der Vereinsgründung bei einer Behörde oder das im deutschen Reich herrschende System des Registrierungszwangs die Sicherheit über den Bestand des Vereins, seine Organisation und seine Zwecke, die vom Standpunkt der Interessenten des Vereins und des Publikums wünschenswert ist. Gerade diese Vereinfachung des Vereinsrechts, wonach für die Vereinsgründung ein Beschluß einer gründenden Mitgliederversammlung genügen soll, hat zwar in Presseäußerungen entschiedene Zustimmung gefunden, doch wurde dabei schwerlich bedacht, welche Erschwerungen einerseits diese Erleichterung der Vereinsgründung für die Tätigkeit seriöser Vereine mit sich bringen und welche Verlockung sie für Freibeuter werden kann, die in der Maske von Vereinen auf Beutefang ausgehen. Denn wenn die Vereinsgründung dieser Art zu einer internen Angelegenheit der Vereinsangehörigen wird, so könnte die Entstehung des Vereins je nach Bedarf datiert, der Inhalt der Satzungen beliebig retouchiert und der Verein im Bedarfsfall überhaupt eskamotiert oder auch anderseits wiederum zum Zweck der Abwälzung einer Haftung der Bestand eines Vereines fingiert werden. Jedenfalls würde die dem heutigen Rechtszustand

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eigentümliche eindeutige Abgrenzung zwischen einem Komitee persönlich haftender Personen und einer die Haftung ihrer Mitglieder beschränkenden Organisation verloren gehen. Der gegenwärtige Gesetzentwurf sieht allerdings eine originelle Form des Nachweises der Rechtsfähigkeit eines Vereins und der Zeichnungsberechtigung des Vorstandes vor. Diese Nachweise sollen nämlich durch eine notarielle Beurkundung darüber erbracht werden, daß die gesetzlichen Voraussetzungen der Vereinsgründung, nämlich der Beschluß einer dem Gesetz entsprechenden Satzung in einer gründenden Mitgliederversammlung und die Bestellung eines Vorstandes, erfüllt sind. Eine solche notarielle Beurkundung ist zwar nicht als Form der Gründung, sondern nur - an Stelle der heutigen behördlichen Bescheinigung - als Mittel der Bestandsbescheinigung des ohne Intervention eines Notars gegründeten Vereins gedacht, doch würde wohl nur die persönliche Anwesenheit des Notars beim Gründungsakt - wie sie übrigens in der Notariatsordnung für sämtliche Fälle notarieller Beurkundung vorgesehen ist - der Beurkundung die nötige Autorität verleihen und Mißbräuchen, namentlich fiktiven Beurkundungen, vorbeugen. Es müßte also schon der Gründungsversammlung ein Notar zugezogen und darüber ein Notariatsakt errichtet werden, was indes im Vergleich mit der bisherigen behördlichen Anmeldung keine Vereinfachung und Verbilligung des Verfahrens wäre. Man lasse es also bei der behördlichen Anmeldung des Vereins unter Vorlage der Satzungen bewenden und beschränke die sonstigen Anmeldungen auf Fälle von Satzungsänderungen und Wechsel der Vorstandsmitglieder, äußerstenfalls auch auf Vereinsversammlungen. Auch die Unterscheidung zwischen politischen und sonstigen Vereinen ist reif, beseitigt zu werden. Die im Entwurf vorgesehene Unterscheidung zwischen rechtsfähigen und nicht rechtsfähigen Vereinen ist irreführend, weil unklar bleibt, welche Bestimmungen sich auf rechtsfähige und auf nicht rechtsfähige Vereine beziehen sollen. Das Gesetz könnte sich unbedenklich auf rechtsfähige Vereine beschränken und die sogenannten nicht rechtsfähigen Vereine lediglich den bürgerlichrechtlichen Bestimmungen über Gesellschaften unterstellt sein lassen; will man aber die Unterscheidung zwischen rechtsfähigen und nicht rechtsfähigen Vereinen in das Vereinsgesetz aufnehmen, so müßte zweifelsfrei kenntlich gemacht werden, welche Gesetzesvorschriften sich auf die eine oder die andere Vereinsart beziehen sollen. Im Gegensatz zu dem vorliegenden Entwurf, der an Stelle der bisherigen Untersagungsgründe Voraussetzungen aufzählt, bei deren Erfüllung eine Vereinigung verboten ist und daher aufgelöst werden kann, könnte das neue Vereinsgesetz zugleich mit der

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Anmeldepflicht die Untersagungsmöglichkeit beibehalten, müßte jedoch, wenn der Rechtszustand modernisiert und vereinfacht werden soll, die Untersagung des Vereins von strengeren Voraussetzungen abhängig machen als jenen, unter denen gegenwärtig eine Untersagung zulässig ist und nach dem Regierungsentwurf ein Verein „verboten" sein soll. Ein Rechtsstaat sollte und könnte sich auf die Rechtswidrigkeit des Vereins oder seiner Tätigkeit als einzigen Untersagungs- wie übrigens auch Auflösungsgrund beschränken. Wenn endlich der Regierungsentwurf die Vereinsbehörde unter anderem ermächtigt, aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit jederzeit die Vorlage der Gründungsurkunde, der Satzungen, der Bestellungsurkunde des Vorstandes und aller sonstigen Nachweise und über alle Einrichtungen und die Tätigkeit des Vereins Auskünfte zu verlangen, so gibt eine derartige Ermächtigung einem geradezu polizeistaatlichen Interventionismus Raum, der gegen politisch mißliebige Organisationen mißbraucht werden könnte, während sich gerade unseriöse Vereine infolge der Formlosigkeit der Vereinsgründung und -auflösung einer solchen Kontrolle entziehen könnten. Soll das Vereinsgesetz wirklich als ein Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltung gelten können, so muß das Ermessen bei Ausübung der Vereinspolizei in engste Schranken gelegt und die Vereinspolizei selbst einzig und allein darauf abgestellt werden, eine rechtswidrige (d.h. natürlich auch satzungswidrige) Vereinstätigkeit hintanzuhalten.

Der Entwurf eines Vereinsgesetzes und die verfassungsmäßige Vereinsfreiheit I. Die Aufgabe der Vereinsreform Es dürfte keinen noch so konservativen oder selbst reaktionären Juristen und Politiker geben, der das geltende Vereinsgesetz vom 15. November 1867, das zu seiner Zeit als Erfüllung aller ernstlich vertretbaren freiheitlichen Forderungen erschien, nicht für reformbedürftig hielte - übrigens ein sprechender Beweis für die Relativität der Begriffe konservativ und freiheitlich. Man kann wohl ruhig behaupten, daß dieses bei der Vereinsfreudigkeit unserer Bevölkerung so unendlich häufig angewendete Gesetz für die Gegenwart nur dadurch erträglich wurde, daß sich die Handhabung seiner heute zum Teil sogar vormärzlich anmutenden, durch eine geradezu polizeistaatliche Gesetzesdiktion noch verschärften Bestimmungen im Laufe der Jahrzehnte beträchtlich gemildert hat. Heute erscheinen vereinspolizeiliche Verfügungen von der Art, daß ein höchst ungefährlicher Geselligkeitsverein wegen Überschreitung seines Wirkungskreises aufgelöst wurde, weil er sich hatte einfallen lassen, am Grab der Märzgefallenen einen Kranz niederlegen zu lassen, wie böswillige Erfindungen; und doch wurden derartige welterschütternde Ereignisse noch vor einem Menschenalter hierzulande so ernst genommen, daß selbst das seinem Rufe nach durchaus nicht immer polizeifromme Reichsgericht die Vereinsauflösung mit der Begründung bestätigte, daß sich der Verein durch jene politische Demonstration (horribile dictu!) den Charakter eines politischen Vereines angemaßt habe. Nun, heutzutage haben die politischen und Polizeibehörden erfreulicheroder bedauerlicherweise andere Sorgen als sich um solche politische Demonstrationen zu kümmern. Haben sich somit einerseits manche Gesetzesauslegungen, so die über die Schranken des statutarischen Wirkungskreises,

Juristische Blätter, 61. Jg. (1932), S. 509-513.

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wesentlich gemildert, so wurden andererseits gewisse vereinsgesetzliche Vorschriften durch behördlich tolerierte konsequente Nichtbefolgung obsolet. So wird die Vorschrift der vereinsbehördlichen Anmeldung sämtlicher Mitglieder von politischen Vereinen (§ 32 Vereinsgesetz) für Parteien und Behörden nur durch ihre regelmäßige Mißachtung erträglich. Der Überfluß an solchen entbehrlichen Vorschriften erklärt es, daß das Vereinsgesetz als dankbares Reformobjekt in das Verwaltungsreformprogramm aufgenommen werden konnte. Nur darf man nicht alle denkbaren Reformen des Vereinsgesetzes als wirksame Ersparungen beurteilen, weil man die via facti eingetretenen Ersparungen an Verwaltungsaufwand mit in den Kalkül ziehen muß. Die Beseitigung von nur noch papierenen Bestimmungen mag eine gute optische Wirkung haben, kann aber keinen finanziellen Nutzeffekt erzielen. Diese Einsicht mag an manchen Punkten des dem Nationalrat vorliegenden Regierungsentwurfes eines Vereinsgesetzes Vereinfachungssucht weitergetrieben haben, als es mit dessen Motiv, dem Ersparungswillen, vereinbar ist. Die Reformvorschläge der Regierungsvorlage sind dadurch gekennzeichnet, daß sie einerseits die Formlosigkeit der Vereinsgründung so weit treiben, daß der rechtliche Bestand eines Vereines in Frage gestellt sein würde, und daß sie andererseits die vereinspolizeilichen Maßnahmen in ein so vages Ermessen der Behörde stellten, daß behördlichen Schikanen Tür und Tor geöffnet wären. Beide Wirkungen stehen mit den Absichten und Aufgaben einer Vereinsreform in unvereinbarem Gegensatz. In beiden Richtungen läßt sich indes der Entwurf unschwer verbessern. Leitmotiv müßte hiebei sein, daß der Bestand eines rechtsfähigen Vereines durch eindeutig und leicht nachweisbare Merkmale der Vereinsgründung außer Zweifel stehen müßte, ferner daß die vereinspolizeiliche Aufsicht auf das im Dienste der sozialen Ordnung unvermeidliche Maß beschränkt und das vereinspolizeiliche Einschreiten an möglichst präzis formulierte und kontrollierbare Voraussetzungen gebunden werden muß. Verbesserungsvorschläge in dieser Richtung bringe ich an anderer Stelle.

die

Dagegen geht der Entwurf des neuen Vereinsgesetzes an einem anderen Problem des Vereinsrechtes achtlos vorbei, offenbar, weil sich die Verfasser des Entwurfes dieses Problemes überhaupt nicht bewußt waren. Es ist dies das Problem der gesetzlichen Grenzen der verfassungsmäßigen Vereinsfreiheit\ Die ständige Praxis des Vereinswesens in der konstitutionellen Monarchie und in der Republik Österreich hat bekanntlich trotz der verfassungs-

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mäßigen Verkündigung der Vereinsfreiheit zwischen konzessionspflichtigen und bloß anmeldepflichtigen Vereinen unterschieden, also die Vereinsfreiheit nur für einen Teil der als Vereine qualifizierten Rechtsgebilde, und selbst insoweit nur mit gewissen Vorbehalten anerkannt, dagegen einen Teil der Vereine von der verfassungsmäßigen Vereinsfreiheit, die vor allem eine Freiheit der Vereinsbildung sein müßte, ausgenommen, und die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit hat diese Verwaltungspraxis völlig unkritisch gutgeheißen. I I . Die Verfassungswidrigkeit der Konzessionspraxis Das Vereinsgesetz vom 15. November 1867 konnte zu seiner Zeit völlig ungebunden zwischen den Systemen der Vereinsfreiheit und der Konzessionierung, und insoweit wieder zwischen der Alternative der Konzessionierungsfreiheit oder der bedingten Konzessionierungspflicht die Wahl treffen. Das Gesetz hat bekanntlich mit einer modernen Geste für die sogenannten sozialen, humanitären und politischen Vereine das Prinzip der Vereinsfreiheit, insbesondere in Gestalt der freien Vereinsbildung, wenngleich mit mancherlei Kautelen, anerkannt, jedoch die religiösen und die wirtschaftlichen Vereine von diesem modernen Regime ausgenommen und für sie somit eine Sonderregelung vorbehalten. Die religiösen Verbände bedürfen bekanntlich als „qualifizierte Vereine" der kultusbehördlichen Anerkennung, auf die sie indes nach dem Gesetz vom 20. Mai 1874, RGBl. 68, bei Erfüllung gewisser Bedingungen Anspruch haben; das bedeutet ein abgeschwächtes Konzessionssystem. Außerdem sind nach § 2 des Vereinsgesetzes „Vereine und Gesellschaften, welche auf Gewinn berechnet sind, dann alle Vereine für Bank-, Kredit- und Versicherungsgeschäfte sowie Rentenanstalten, Sparkassen und Pfandleihanstalten von der Wirksamkeit dieses Gesetzes ausgenommen und unterliegen den besonderen, hierauf bezüglichen Gesetzen". Auch für einen Teil dieser im Vereinsgesetz aufgezählten Vereinstypen ist es beim Konzessionssystem, wie es das Vereinspatent vom 26. November 1852, RGBl. 253, vorgesehen hatte, geblieben, wenn auch nicht de jure, so doch de facto. Es ist meines Wissens bisher nicht bezweifelt worden, daß der Rechtszustand, wie er sich aus dem Vereinsgesetz vom 15. November 1867 ergibt, von der Dezemberverfassung desselben Jahres anerkannt und aufrechterhalten worden sei. Dafür spricht, daß eine Änderung des Rechtszustandes

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binnen der wenigen Wochen, die zwischen dem Vereinsgesetz und der Dezemberverfassung liegen, an den zeitlichen Maßstäben der damaligen Zeit gemessen, paradox wäre. Allerdings ist dieser Maßstab schwankend; in der Republik haben wir binnen kürzerer Zeit einschneidendere Gesetzesänderungen erlebt, als sie äußerstenfalls das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger am Vereinsgesetz bewirkt hat. Die Interpretatoren der beiden Gesetze haben wohl immer in unkritischer Weise ausschließlich das „Vereinsgesetz" von 1867 als jenes besondere Gesetz angesehen, das im Sinne des Art. 12 des Staatsgrundgesetzes die Ausübung des Vereinsrechtes regeln soll. In dieser Gleichsetzung des Geltungsbereiches der verfassungsmäßigen Vereinsfreiheit mit dem des Vereinsgesetzes aus 1867 liegt jedoch der Denkfehler verborgen, der die gesamte Praxis und selbst die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes beherrscht. Der Sinn einer Grundrechtsnorm ist Determinierung der einfachen Gesetzgebung. Im besonderen kann der Sinn einer verfassungsgesetzlichen Proklamierung der Vereinsfreiheit nur der sein, daß die Gesetzgebung die Vereinsgründung und die Tätigkeit der Vereine nach dem Grundsatze der Vereinsfreiheit zu regeln habe, d.h. jedenfalls unter Ausschluß des Konzessionssystems, das im Vereinsrecht ebenso der konträre Gegensatz der Vereinsfreiheit ist wie etwa im Gewerberecht der konträre Gegensatz der Gewerbefreiheit. Vereinsfreiheit kann nicht unmittelbar die Vollziehung, sondern zunächst nur die Gesetzgebung verwirklichen. Aufgabe der Gesetzgebung ist es aber bei der bekannten Formulierung des Staatsgrundgesetzes nicht erst, die Vereinsfreiheit in dem ihr zweckmäßig erscheinenden Umfange festzusetzen, sondern den maßgeblichen, auf Vereinsfreiheit zielenden Willen der Verfassung zu konkretisieren. Ausdrücklich schreibt das Staatsgrundgesetz vor, daß die Ausübung des - verfassungsmäßig statuierten - Vereinsrechtes durch „Gesetze" geregelt wird. Nicht die Tatsache und der Umfang, sondern nur die Modalitäten der Vereinsfreiheit stehen im Ermessen der einfachen Gesetzgebung. Ausführungsgesetze zum vereinsrechtlichen Grundrechtssatze der Verfassung sind alle Gesetze, die das Entstehen und die Tätigkeit von „Vereinen" regeln. Es ist eine willkürliche Verengung des Vereinsbegriffes, die Vereine im Sinne des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 mit den Vereinen im Sinne des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867 gleichzusetzen. Durch diese Begriffsverengung wird die Verfassungsvorschrift, die

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für Vereine schlechthin, für Vereine aller Arten Vereinsfreiheit statuiert, abgebogen in die Vorschrift: „Vereinsfreiheit soll soweit gelten, als es ein als Vereinsgesetz bezeichnetes einfaches Gesetz vorschreibt". Dann hätte es die einfache Gesetzgebung in der Hand, der Vereinsfreiheit jeden ihr genehmen Umfang und Inhalt zu geben. Es wird bei dieser Auslegung nicht beachtet, daß der die Vereinsfreiheit normierende Verfassungsartikel auf die „besonderen Gesetze", die die Ausübung des Vereinsrechtes regeln sollen, also auf eine Mehrheit von Gesetzen verweist. Aber selbst wenn das Staatsgrundgesetz besagte: „Die Ausübung des Vereinsrechtes wird durch Gesetz geregelt", müßte jedes Gesetz, das sich auf Vereine bezieht, die Normativbestimmung respektieren, daß Vereinsfreiheit gelten soll. Ein gewisser Spielraum steht der Ausführungsgesetzgebung nur insoweit offen, als es sich um die Auslegung des Vereinsbegriffes handelt. Neben einem Bereich unzweifelhafter Vereine gibt es Organisationsformen, deren Vereinsnatur fraglich sein kann. Wie zweifelhaft aber auch im allgemeinen der Umfang eines gesetzlichen Vereinsbegriffes sein mag - im besonderen sind doch einem verfassungsgesetzlichen Vereinsbegriffe zumindest alle Organisationstypen zu subsumieren, für die in der Gesetzgebung der Ausdruck Verein festgelegt ist. Die österreichische Gesetzessprache hat nun den Ausdruck Verein niemals für Organisationen mit bestimmten Zwecken, etwa für humanitäre oder politische Organisationen vorbehalten, vielmehr war und ist der Ausdruck Verein auch für Organisationen mit wirtschaftlichen Zwecken eingebürgert. Mangels einer legaldefinitorischen Verengung des Vereinsbegriffes in der Verfassungsvorschrift muß diese somit auf wirtschaftliche ebenso wie auf kulturelle Vereine bezogen werden. Dasselbe gilt für religiöse Verbände, für die die Rechtslehre den Ausdurck „qualifizierte Vereine" gebraucht. Daher ist die Beschränkung der Vereinsfreiheit auf die Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867 schon durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger problematisch geworden und schon für das Recht der Monarchie die Auslegung vertretbar, daß den Exemtionen vom Geltungsbereich dieses Gesetzes im Sinne der §§ 2 und 3 des Vereinsgesetzes, soweit sie dem Konzessionssysteme folgen, weil mit der staatsgrundgesetzlich proklamierten Vereinsfreiheit unvereinbar, derogiert sei. Doch ist es überflüssig, den Auswirkungen des Staatsgrundgesetzes auf das Vereinsgesetz weiter nachzugehen, weil das Staatsgrundgesetz in diesem Punkte durch eine spätere Rechtsquelle novelliert und nur in dieser modifizierten Fassung von der Bundesverfassung (Art. 149 BVG) rezipiert wurde.

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Die erwähnte neuere Rechtsquelle, deren Tragweite für das Problem der verfassungsmäßigen Vereinsfreiheit bisher noch nicht untersucht wurde, ist der Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGBl. 3, der vom Verfassungskatalog des BVG (Art. 149) mit dem Charakter eines Bundesverfassungsgesetzes ausgestattet wurde. Der erwähnte gesetzeskräftige Beschluß (in der Folge nach seinem Hauptinhalt als „Zensurbeschluß" zitiert) besagt: „Die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit ohne Unterschied des Geschlechts ist hergestellt." Dieser gut gemeinte, aber minder gut stilisierte Rechtssatz hat schon manche Auslegungsfragen aufgegeben, aber die Frage, welche Folgen er für das bisher aufrechterhaltene Konzessionssystem bei einzelnen Vereinstypen habe, wurde meines Wissens noch nicht aufgerollt. Es steht hier nicht eine erschöpfende Kommentierung der zitierten Verfassungsbestimmung zur Aufgabe. Es sei nur festgestellt, daß eine einengende Auslegung unserer Verfassungsbestimmung in der Richtung, daß sie nur die im Vereinsgesetz für Frauen aufgestellte Beschränkung der Vereinsfreiheit aufgehoben habe, unhaltbar ist. Der Zusatz „ohne Unterschied des Geschlechtes" scheint diese einengende Auslegung zu rechtfertigen. Doch würden dadurch, daß man im Hinblick auf diesen Passus des Gesetzestextes nur die im Geschlecht begründeten Schranken der Vereinsfreiheit für aufgehoben erachtet, andere Worte derselben Gesetzesstelle sinnlos. Erstens dürfte der Satz, um eine derart einengende Auslegung zu ermöglichen, nicht auch auf die Versammlungsfreiheit Bezug nehmen, denn im Sinne des Versammlungsgesetzes vom 15. November 1867, RGBl. 135, begründet das Geschlecht keinerlei Schranken der Versammlungsfreiheit. Schon wegen der Einbeziehung des Versammlungsrechtes muß also die Gesetzesstelle auch andere als im Geschlecht begründete Schranken des Vereins- und Versammlungsrechtes treffen. Abgesehen davon würde aber auch das Attribut „voll" zu den Worten „Vereins- und Versammlungsfreiheit" ein sinnloses Wortfüllsel werden, wenn lediglich die Beschränkungen der Vereinsfreiheit, die sich aus dem Geschlecht ergeben, beseitigt sein sollten. Mit der minimalen Neuerung, daß politische Vereine auch für Frauen zugänglich sind, wäre nicht im entferntesten die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit hergestellt. So wird denn begründeterweise angenommen, daß das partielle Konzessionssystem, das das Versammlungsgesetz selbst noch (für Versammlungen unter freiem Himmel) vorgesehen hatte, durch bloße Anmeldepflicht mit Verbotsvorbehalt ersetzt worden sei. Auch auf dem Gebiete des Vereinsrechtes müssen, gemäß dem Interpretationsgrundsatz, daß die Annahme unverbindlichen

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Gesetzesinhaltes möglichst zu vermeiden sei, weitere Schranken abgebaut werden, wenn das Wort von der „vollen Vereinsfreiheit" ernst zu nehmen sein soll. Die Abgrenzung dieser Neuerungen, die sich aus der verfassungsgesetzlichen Steigerung der Vereinsfreiheit ergeben, ist allerdings eine Interpretationsaufgabe, die sich eindeutig nicht lösen läßt, denn bei der Relativität des Freiheitsbegriffes überhaupt läßt sich nicht in zwingender Weise beweisen, welche Rechtseinrichtungen mit der Vereinsfreiheit vereinbar und welche mit ihr unvereinbar sind. Vom Standpunkt eines radikalen Freiheitsbegriffes käme man auch dazu, die Untersagung oder Auflösung eines Vereines aus dem Wesen der Vereinsfreiheit heraus für unzulässig zu erklären oder unbeschränkte Vereinsfreiheit auch für Mindeijährige, ja Unmündige anzunehmen, während aus dem notwendig freiheitsbeschränkenden Rechtssystem heraus solche Schranken der Vereinsfreiheit noch nicht als Widersprüche zu ihr aufgefaßt werden müssen. Allgemeingültig kann die Rechtswissenschaft einen maximalen und einen minimalen Umfang der Vereinsfreiheit bestimmen, innerhalb dessen die nähere Fixierung der Rechtsanwendung obliegt. Der Ausschluß von Ausländern von politischen Vereinen ist z.B. kein Widerspruch zur verfassungsgesetzlichen Vereinsfreiheit, weil diese nach Art. 12 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ein bloßes Staatsbürgerrecht ist, so daß die Vereinsfreiheit von Ausländern von der einfachen Gesetzgebung beliebig geregelt werden kann. Höchst problematisch ist die Vereinsfreiheit von minderjährigen Bundesbürgern, die bei wörtlicher Auslegung des Zensurbeschlusses der vollen Vereinsfreiheit hätten teilhaftig werden müssen; die Teilnahme von Minderjährigen an den Grundrechten muß indessen einheitlich für die verschiedenen Grundrechte beantwortet und kann in diesem Zusammenhang nicht untersucht werden. Eine Mindestforderung der Vereinsfreiheit ist jedoch der Ausschluß des Konzessionssystems als Bedingung der Vereinsgründung, und diese Forderung muß somit, wenn schon nicht durch das Staatsgrundgesetz, das das Vereinsrecht gewährleistet, so mindestens durch ein republikanisches Verfassungsgesetz, das die „volle Vereinsfreiheit" herzustellen erklärt, erfüllt worden sein. Es ginge zu weit, aus der Herstellung der „vollen Vereinsfreiheit" die Unzulässigkeit der Konzessionierung von Vereinen zu folgern. Nur muß die Ausübung jedes erlaubten Zweckes durch eine Personengemeinschaft und die Vereinigung einer Personengemeinschaft zu solchem Zwecke auch ohne Konzessionierung möglich sein, wenn man ernstlich von „voller Vereins-

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freiheit" soll sprechen können. Die Erlangung einer privilegierten Rechtsstellung, etwa von der Art der „anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften" mit deren privilegia favorabilia und odiosa, die sie von den Vereinen des allgemeinen Vereinsrechtes unterscheiden, soll damit den Organisationen nicht versagt sein; nur dürfte es ihnen nicht mehr versagt sein, sich wahlweise in den einfachen Formen von der Art des allgemeinen Vereinsgesetzes zu konstituieren und zu betätigen. Gegen eine solche Wahlfreiheit, ja überhaupt gegen ein so formloses und bedingungsloses Inslebentreten von Organisationen mit religiöser oder wirtschaftlicher Zweckbestimmung mögen ernste rechtspolitische Bedenken bestehen, diesen hätte aber die Gesetzgebung und nicht die Rechtsprechung Rechnung zu tragen. Die Praxis hat sich bisher noch nicht angeschickt, aus der neuen Verfassungslage Konsequenzen zu ziehen, und selbst der Verfassungsgerichtshof nimmt ohne den geringsten rechtlichen Anhaltspunkt den Standpunkt ein, daß nur die Vereine im Sinne des Vereinsgesetzes vom 15. November 1867 der Vereinsfreiheit von der Art der freien Vereinsbildung teilhaftig seien. Bezeichnend ist z.B. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Februar 1928, Amtl. Sammlung Nr. 943. Dieses Erkenntnis erledigt die Beschwerde eines Richters, der von seiner Dienstbehörde aufgefordert worden war, seine Stelle als Mitglied des Aufsichtsrates der „Beamtenbank in Graz, registr. Genossenschaft m.b.H." niederzulegen, mit der Feststellung, daß durch den Bescheid des Bundeskanzleramtes (Justiz) eine Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes des Beschwerdeführers auf Gleichheit der Bundesbürger vor dem Gesetz stattgefunden habe, und fährt sodann fort: „Dagegen hat eine Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes des Beschwerdeführers auf volle Vereinsfreiheit nach Art. 12 des zitierten Staatsgrundgesetzes ... nicht stattgefunden." Bemerkenswert an dem Tenor des Erkenntnisses ist, daß der Wortlaut der staatsgrundgesetzlichen Bestimmung bereits gemäß dem Text des zitierten „Zensurbeschlusses" vom 30. Oktober 1918 zitiert ist. Um so auffälliger ist es, daß die Begründung des Erkenntnisses aus der Neufassung des Verfassungsartikels keinerlei Folgerungen ableitet, so als ob es sich nur um eine stilistische Neuerung handelte: Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung der Vereinsfreiheit nach Art. 12 StGG liege, so sagt die Begründung, „schon deshalb nicht vor, weil ein Vereinsrecht hier überhaupt nicht in Frage kommt; denn das Gesetz vom 15. November 1867, RGBl. 134, als Ausführungsgesetz zu Art. 12 des Staatsgrundgesetzes nimmt in seinem § 2 von

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seiner Wirksamkeit ,alle Vereine und Gesellschaften, welche auf Gewinn berechnet sind' - und eine solche Gesellschaft ist die Beamtenbank - ausdrücklich aus." Das Zitat gibt eine der erstaunlichsten Fehlbegründungen des Verfassungsgerichtshofes wieder. Denn selbst, wenn im konkreten Falle eine Verletzung der Vereinsfreiheit nicht stattgefunden hätte, ja selbst bei Unanwendbarkeit des „Zensurbeschlusses" auf wirtschaftliche Vereine, wäre eine Begründung unhaltbar, die aus dem Vereinsgesetz vom 15. November 1867 eine Verletzung der einem Verfassungsgesetz des Jahres 1918 oder 1920 entsprechenden Vereinsfreiheit verneint. Es wäre doch vor allem zu prüfen gewesen, ob sich nicht aus der Rechtsquelle des Jahres 1918 Änderungen der Rechtsquelle des Jahres 1867 ergeben; eine solche Untersuchung hätte um so näher gelegen, als der Verfassungsgerichtshof dem Art. 12 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger eine durch unsere Rechtsquelle des Jahres 1918 geänderte Fassung subintelligiert. Die vorbehaltlose Berufung auf das Vereinsgesetz wäre nur dann zulässig, wenn auch dieses selbst in den verfassungsgesetzlichen Katalog der Verfassungsrechtsquellen (Art. 149 BVG) aufgenommen worden wäre, und zwar ausdrücklich in seiner ursprünglichen Fassung - eine Rezeption, die freilich neben der Aufzählung des (gegenüber den 67er Gesetzen derogatorischen) Beschlusses der Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 schlechthin sinnlos gewesen wäre. Doch selbst wenn man nicht eine teilweise Änderung des Vereinsgesetzes durch den vereinsrechtlichen Parlamentsbeschluß aus dem Jahre 1918 als vollzogen annimmt, wäre die kritiklose Unterordnung unter die Bestimmungen des Vereinsgesetzes als eines einfachen Gesetzes unzulässig. Der Verfassungsgerichtshof steht jedenfalls über diesem Gesetze wie über jedem einfachen Gesetz und hat im einzelnen Falle zu prüfen, ob und inwiefern es einer Normativbestimmung der Verfassung, die das Gebiet seiner Regelung berührt, entspricht. Es ist auch nicht richtig, daß just das Vereinsgesetz vom 15. November 1867 das Ausführungsgesetz zum Art. 12 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger sei, sondern alle auf Vereine im Rechtssinn bezüglichen einfachen Gesetze haben gegenüber den vereinsrechtlichen Verfassungsgesetzen die Rolle von Ausführungsgesetzen zu spielen. Die dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zugrunde liegende Meinung, daß es vom Belieben irgend eines als Vereinsgesetz bezeichneten einfachen Gesetzes abhänge, wieweit die von der Verfassung vorgeschriebene Vereinsfreiheit zu herrschen habe und inwieweit das Konzessionssystem zulässig sei, wird durch die Erwägung ad

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absurdum geführt, daß es sich das Vereinsgesetz oder irgend ein späteres Gesetz doch auch hätte einfallen lassen können, nicht nur die religiösen und wirtschaftlichen Vereine, sondern etwa auch die politischen und humanitären Vereine von seinem Geltungsbereiche auszunehmen und damit dem Konzessionssystem freizugeben. Man hätte eine derartige einfachgesetzliche Verengung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Vereinsfreiheit mit Recht als verfassungswidrig empfunden und sich mit einem solchen gesetzlich begründeten Rechtszustand nur infolge der Unzulässigkeit gerichtlicher Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit abgefunden. Man hätte jedoch des weiteren dem Zensurbeschluß vom 30. Oktober 1918 die Kraft der Derogation solcher Vereinsgesetze zugemessen, die dem Konzessionssystem unerträglich weiten Raum geben, und vom Verfassungsgerichtshof erwartet, daß er den im Sinne dieser Gesetze etwa bestehenden Konzessionszwang für politische oder humanitäre Vereine ablehne. Zwischen dieser hypothetischen und der realen Rechts- und Sachlage auf dem Gebiete des Vereinswesens besteht jedoch nur ein essentieller rechtspolitischer, dagegen ein bloß gradueller rechtlicher Unterschied. Durch eine einfachgesetzliche Statuierung der Konzessionspflicht politischer Vereine würde nur das Konzessionssystem, wie es nach herrschender Auffassung de jure für die wirtschaftlichen Vereine zu Recht besteht, ein Stück weiter auf Kosten der Vereinsfreiheit ausgedehnt werden, aber gerade dieser Vorstoß gegen die verfassungsgesetzliche Normativbestimmung würde als rechtspolitisch so untragbar erscheinen, daß man sich der verfassungsrechtlichen Grenzen der vereinsrechtlichen Gesetzgebung besonne; während dieselbe Besinnung angesichts der gegenwärtigen Rechts- und Sachlage bisher ausgeblieben ist, weil das Konzessionssystem in dem bisher angenommenen Umfange als rechtspolitisch sehr wohl tragbar, wenn nicht gar wünschenswert erscheint. Und wenn schließlich gar ein einfaches Gesetz nach der unverhohlenen Anweisung des Verfassungsgerichtshofes annähernd alle Vereine, derentwegen der Verfassungsgrundsatz der Vereinsfreiheit verkündet wurde, von seinem Geltungsbereiche ausnähme, um sie so dem Konzessionssysteme zu überantworten, dann erst wäre es endgültig um die derzeit durch die Praxis anerkannte Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers über die Grenzen der Vereinsfreiheit geschehen, weil diese gesetzliche Disposition untragbar erschiene. Man kann freilich bei solcher Haltung nicht von einer prinzipiellen, sondern nur von einer - wenngleich unbewußt - opportunistischen Einstellung der Judikatur sprechen.

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Die Haltung des Verfassungsgerichtshofes im Falle der Vereinsfreiheit ist übrigens um so befremdlicher, als er im Falle der Zensurfreiheit die diametral entgegengesetzte Haltung eingenommen hat. Die beiden Fragen scheinen auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang zu stehen, sind aber dadurch miteinander verkettet, daß sie beide auf der Auslegung des Beschlusses der Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGBl. 3, beruhen. Und zwar lassen sich die Rechtsanschauungen des Verfassungsgerichtshofes nur aus einer diametral entgegengesetzten Behandlung ein- und derselben Rechtsquelle ableiten. Die Leugnung der Vereinsfreiheit für die aus dem Vereinsgesetz ausgenommenen Vereinstypen erklärt sich nur aus einer überspannt einengenden Interpretation des Begriffes Verein, einer Interpretation, die sich sogar zu dem eingebürgerten gesetzlichen Sprachgebrauch in Widerspruch setzt; die Behauptung der Zensurfreiheit von Theater und Film aus einer ausdehnenden Interpretation des Begriffes Zensur, die abweichend von der bisherigen immer nur auf die Pressezensur abgestellten Gesetzessprache unter Zensur schlechthin auch die Theaterund Filmzensur mitversteht. Das Erkenntnis vom 18. März 1926, Amtl. Sammlung 552, spricht in seiner Begründung aus: „Nach Punkt 1 des in Rede stehenden Bundesverfassungsgesetzes - eben des zur Verfassungsrechtsquelle erhobenen,Zensurbeschlusses' der Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 - ist jede Zensur, als dem Grundrecht der Staatsbürger widersprechend, als rechtsungültig aufgehoben. Da nach dem Wortlaut des Gesetzes jede Zensur aufgehoben ist', muß auch die Theaterzensur als aufgehoben gelten, und es besteht keine Möglichkeit, unter Zensur nur die Pressezensur zu verstehen." Diese erweiternde Auslegung folgert der Gerichtshof aus der bloßen Tatsache der Aufnahme des Zensurbeschlusses in den Verfassungskatalog des BVG, „zumal wenn man in Rücksicht zieht, daß der ja schon längst erkannte überaus weitgehende Wortlaut des Beschlusses vom 30. Oktober 1918 dem Gesetzgeber von 1920 nicht unbekannt sein konnte". Und diese Deutung wurde dem Zensurbeschluß bekanntlich gegeben, obwohl der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 16. Dezember 1919, Amtl. Sammlung 32, mit allen Mitteln der logisch-grammatikalischen und der historischen Interpretation nachgewiesen hatte, daß unter der „Zensur" im Zensurbeschlusse nur die Pressezensur und nicht die Theater- und Filmzensur gemeint sein könne. In der Tat kann nicht übersehen werden, daß das Staatsgrundgesetz, auf das der „Zensurbeschluß" gerade in seinem auf die Zensur bezüglichen Satz verweist, ausschließlich von der Pressezensur handelt, und daß überhaupt die österreichische Rechts-

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spräche unter Zensur bisher nur die Pressezensur verstanden hat. Und so fehlt ein Anhaltspunkt für eine Willensänderung des Gesetzgebers in der Richtung, die Zensurfreiheit von der Presse auf andere Erscheinungsformen des geistigen Lebens zu erstrecken. Die Teilnehmer an den Beratungen des Verfassungsausschusses könnten schwerlich eine Äußerung wiedergeben, die die Absicht verriete, den Geltungsbereich der Zensurfreiheit zu erweitern. Bei dem im Handumdrehen gefaßten Beschluß, in den Katalog des Art. 149 BVG auch den Zensurbeschluß aufzunehmen, war nur die eine Absicht erkennbar, den staatsbürgerlichen Rechtsschutz, wie er sich aus dem Zensurbeschlusse ergibt, auch für das Regime der Bundesverfassung sicherzustellen, ohne daß man sich aber über den Umfang dieses Rechtsschutzes Rechenschaft abgelegt hätte. Der Verfassungsgerichtshof hatte tatsächlich nur das Wort „jede" (Zensur) als Anhaltspunkt für seine gewandelte Auffassung, daß außer der Pressezensur auch die Theater- und Filmzensur aufgehoben sei, gelangte also nur durch grammatische Interpretation zum Ergebnis, die Zulässigkeit der Theaterzensur zu verneinen, die er vorher bejaht hatte. Man fragt sich angesichts dieser Haltung, warum, wenn im Falle der Zensur jedes Wort des „Zensurbeschlusses" seine Bedeutung haben soll, und das Wort „jede" sogar eine so weittragende Bedeutung, daß der gesamten Theater- und Filmzensur, die bis dahin nie unter der Zensur verstanden worden war, der Boden entzogen sein sollte, im Falle der Vereinsfreiheit nicht auch das Wörtchen „volle" seine Bedeutung haben soll, und zwar die, daß wenigstens alle Organisationen, die die Gesetzessprache als Vereine versteht, der Vereinsfreiheit teilhaftig geworden sind. Bezüglich des Willens des Gesetzgebers ist man im Falle der Vereinsfreiheit wohl nicht mehr und nicht weniger auf Mutmaßungen angewiesen als im Falle der Zensurfreiheit, die grammatische Interpretation aber nötigt im Falle der Vereinsfreiheit noch viel mehr zu einer erweiternden Auslegung, wenigstens in dem Sinne, daß alle in der Gesetzessprache als Vereine bezeichneten Gebilde an der Vereinsfreiheit Anteil haben. Die Haltung des Verfassungsgerichtshofes gegenüber einer und derselben Rechtsquelle ist also unfolgerichtig, und nur diese Inkonsequenz macht die bisherige Praxis im Vereinsrechtswesen möglich. Würde der Verfassungsgerichtshof die Bestimmungen des „Zensurbeschlusses" über die Vereinsfreiheit mit annähernd gleichem Rigorismus auslegen wie die über die Zensurfreiheit, dann wäre dem Konzessionssystem in Vereinssachen schon längst der Boden entzogen.

Der Entwurf eines Vereinsgesetzes und die verfassungsmäßige Vereinsfreiheit

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I I I . Neue Rechtsprechung, neues Recht Über kurz oder lang dürfte sich der Verfassungsgerichtshof genötigt sehen, seine Rechtsprechung in Sachen der Vereinsfreiheit mit der Rechtsprechung über die Zensurfreiheit, der sie, wie gezeigt, bisher auffällig widerspricht, in Einklang zu bringen. Eine naheliegende Gelegenheit zur Revision seiner Rechtsprechung im Sinne eines gesteigerten Schutzes der Vereinsfreiheit hat der Verfassungsgerichtshof insbesondere im Falle der Beschwerde der „Internationalen Bibelforschervereinigung" (Amtl. Sammlung, Z. 1265) ungenützt vorübergehen lassen. Diese Organisation hatte wegen Verletzung der Vereinsfreiheit Beschwerde erhoben, da ihre auf Grund des Vereinsgesetzes erstattete Vereinsanmeldung von der Vereinsbehörde nicht zur Kenntnis genommen worden war. Der Verfassungsgerichtshof findet mit Recht, daß der Verein seinen Statuten gemäß als Religionsgesellschaft anzusehen sei, und folgert daraus, daß das Vereinsgesetz gemäß § 3 lit. a auf die beschwerdeführende Gesellschaft nicht anzuwenden sei, daß somit eine Verletzung der Vereinsfreiheit nicht stattgefunden habe. Hier wird aber aus einer zutreffenden Prämisse ein unrichtiger Schluß gezogen, denn die Verfassung gewährleistet nicht bloß den Vereinen im Sinne des Vereinsgesetzes, sondern den Vereinen überhaupt die Vereinsfreiheit, und im Sinne des hergebrachten juristischen Sprachgebrauches ist auch eine Religionsgesellschaft ein Verein sui generis. Es ist somit auch religiösen Vereinen Vereinsfreiheit in dem Sinne gewährleistet, daß die Konzession nicht zur conditio sine qua non der Bildung eines Vereines gemacht werden darf. Das gilt für alle „Vereine", gleichviel, welchen erlaubten Zweck der Verein verfolgt. Das bedeutet weder, daß den Vereinen, die bisher an die Konzession gebunden waren, die durch die Konzessionierung erworbene qualifizierte Rechtsfähigkeit nunmehr durch eine einfache Vereinsanmeldung zugänglich ist, noch selbst, daß auf sie einfach das Vereinsgesetz in dem Sinne anwendbar geworden sei, daß sie durch die Erfüllung der Formerfordernisse des Vereinsgesetzes die in diesem Gesetze vorgesehene Rechtsfähigkeit erwerben. Die Verfassung gibt hinsichtlich der Vereinstypen, die in den §§2 und 3 des Vereinsgesetzes ausgenommen sind, nur die negative Antwort, daß sie nicht dem Konzessionssystem unterstellt werden dürfen, aber keine positive Auskunft darüber, wie sie somit zu behandeln seien; es ist nur ein mögliches, aber nicht zwingendes Auskunftsmittel, ihnen nun auch auf Grund einer bloßen Vereinsanmeldung gemäß § 4 des Vereinsgesetzes die allgemeine Rechtsfähigkeit im Sinne dieses Gesetzes zuteil werden zu

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lassen. Daß der von der Verfassung vorgeschriebene neue Weg der vereinsrechtlichen Behandlung der bisher konzessionspflichtigen Vereine bis jetzt ungeregelt geblieben ist, mag auch dafür mitbestimmend gewesen sein, am alten Weg der Konzessionierung festzuhalten. Eine andere, und zwar die nächstliegende Möglichkeit, den Verfassungsgerichtshof zu einer Revision seiner Haltung zu veranlassen, wäre eine Beschwerde gegen einen Bescheid, mittels dessen einer Religonsgesellschaft die Anerkennung versagt oder einem wirtschaftlichen Verein, etwa einer Aktiengesellschaft, die Konzession verweigert wird. Eine solche Beschwerde könnte sich darauf stützen, daß der Verfassungsgerichtshof selbst gelegentlich das Wesen der Vereine und der Vereinsfreiheit in einer Weise umschrieben hat, daß für ihn bei konsequenter Judikatur die Anwendung des Grundsatzes der Vereinsfreiheit auf Vereine, die vom Geltungsbereiche des Vereinsgesetzes ausgenommen sind, unvermeidlich ist. Sagt doch das Erkenntnis vom 20. Juni 1931, Z. V, 2/31, Juristische Blätter 1931,337 f., daß „jede freiwillige, für die Dauer bestimmte, organisierte Verbindung mehrerer Personen zur Erreichung eines bestimmten gemeinschaftlichen Zweckes durch fortgesetzte gemeinschaftliche Tätigkeit als Verein" anzusehen ist. Und in den Entscheidungsgründen zum Erkenntnis vom 20. März 1925, Slg. 405, spricht der Verfassungsgerichtshof aus, unter dem Prinzip der „Vereinsfreiheit" sei zu verstehen, daß „die Bildung von Vereinen nicht an die in das Ermessen der Behörde gestellte staatliche Erlaubnis gebunden wird". Wenn nach der zuerst zitierten Definition ein religiöser oder wirtschaftlicher Verein nicht weniger Verein ist als ein kultureller oder politischer, dann muß er auch, wenn der Verfassungsgerichtshof seinen Definitionen Geltung über den einzelnen Fall hinaus zubilligt, Vereinsfreiheit in dem Sinne genießen, daß er in seinem rechtlichen Bestände nicht von einer Erlaubnis, d.h. in nicht verdeutschter Rechtssprache, von einer Konzession abhängig gemacht wird. Die juristische Begründung der zitierten ziemlich unvermittelten und in Anbetracht der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes aufklärungsbedürftigen Definitionen von Verein und Vereinsfreiheit liegt in den vorstehenden Gedankengängen. Ist nun aber den bestehenden Spezialgesetzen, soweit sie die Konzessionierung bestimmter Vereine vorsehen und gar in das behördliche Ermessen stellen, derogiert, so erhebt sich die gesetzgeberische Aufgabe, einen neuen, der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage entsprechenden Weg der Vereins-

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behördlichen Behandlung dieser Vereinstypen vorzusehen. Für diesen Weg Vorschläge zu bringen, liegt bereits jenseits unseres Themas, das mit dem Nachweis der Verfassungswidrigkeit des Konzessionssystems im österreichischen Vereinsrecht erschöpft ist. Mit der Feststellung, daß das bisherige Konzessionssystem aus juristischen Gründen unhaltbar sei, sollte nicht einer Gleichstellung sämtlicher Vereine und ihrer Unterstellung unter ein gemeinsames Vereinsgesetz, ja nicht einmal einer wahlweisen Behandlung der bisher ausgenommenen Vereine nach dem allgemeinen Vereinsgesetz das Wort geredet werden. Eine Sonderbehandlung der Vereine, die bestimmte Zwecke von höherem öffentlichem Interesse verfolgen, wird nicht zu umgehen sein. Die Erlangung der qualifizierten Rechtsfähigkeit, die für die Betätigung gewisser Organisationen erwünscht ist, würde unbedenklich von der Erfüllung besonderer organisatorischer und funktioneller Voraussetzungen abhängig gemacht werden können. Solche im öffentlichen Interesse gebotene Garantien bedingen nicht zugleich das Konzessionssystem, sondern könnten unschwer auch mit dem Anmelde- oder Registrierungssystem verknüpft werden. Die verschiedenen denkbaren rechtstechnischen Wege zu diesem Ziele können aber hier nicht in Betracht gezogen werden. Nur das ist ausgeschlossen, daß es das Vereinsgesetz wieder, wie es im Regierungsentwurfe vorgesehen ist, mit der Exemtion der bisher als konzessionspflichtig behandelten Vereine genug sein läßt und sie damit dem bisherigen verfassungswidrigen Konzessionsregime überläßt, das nur dank der Tolerierung von Seite des Verfassungsgerichtshofes sein problematisches Dasein führt.

Entwicklung und Reform des Beamtenrechts Für das aus Volks- und Kultureinheit quellende Einheitsstreben im Staatsleben der Deutschen im Reiche und in Österreich ist nichts so kennzeichnend wie die Geschichte und Verfassung seines Beamtenkörpers. Das Recht als der Ausdruck des staatlichen Sonderlebens mag im Gesamtzusammenhange der Geschichte der Staaten, in die das deutsche Volk gespalten ist, noch so verschiedene, mitunter sogar entgegengesetzte Wege gegangen sein; Geschichte und Recht des Beamtenkörpers als des eigentlichen Werkzeuges unseres Staatslebens sind jedoch ungeachtet der staatlichen Trennung im Grunde dieselben geblieben - nicht infolge einer willkürlichen Vereinbarung zwischen den Staaten, sondern aus einer unwillkürlichen inneren Erforderlichkeit heraus, die in der politischen, um nicht zu sagen unpolitischen Anlage unseres deutschen Volkes begründet ist. Freilich wäre es eine zu weit gehende Verallgemeinerung, unser deutsches Beamtenrecht - die Berufsordnung des deutschen Beamtenstandes - als wesenhaft deutsch zu bezeichnen. Einerseits ist der Schweizer Volksstamm, den wir nach seiner Kultur im allgemeinen und seinem Recht im besonderen als Teil der deutschen Volksgemeinschaft erkennen müssen, ja der das deutsche Recht zum guten Teil reiner als die reindeutschen Staaten bewahrt hat, im Beamtenrechte seine eigenen Wege gegangen; Wege, die auch aus altdeutschen Rechtsgedanken abzuleiten und daher vom Standpunkt der deutschen Kulturgemeinschaft keinesfalls als abwegig zu erkennen sind. Andererseits ist der Typus des deutschen Beamtenrechtes nicht auf deutsche Staaten beschränkt geblieben, sondern teils - vornehmlich dank Österreichs Mittlerrolle für deutsche Rechtseinrichtungen - auf nichtdeutsche Staaten, namentlich Sukzessionsstaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie übergegangen, teils in anderen Staaten ursprünglich entstanden.

Bericht auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Halle an der Saale 1931. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 7 (1932), S. 55104; 127-130 (Schlußwort).

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Die Gemeinsamkeit der rechtlichen Grundlagen des Beamtenwesens im Deutschen Reiche und in Österreich erklärt sich aus der besonderen, für das Reich und Österreich gemeinsamen politischen Geschichte des Großteils des deutschen Volkes; haben doch Reichsdeutsche und Österreicher die Aufeinanderfolge von Polizeistaat, konstitutionell-monarchischem und parlamentarisch-demokratischem Verfassungsstaat - wenn man von dem bolschewistischen Zwischenspiel des Revolutionswinters 1918/19 absieht, das auf das Deutsche Reich beschränkt geblieben ist - , gleichartig und gleichzeitig erlebt. Es braucht nicht näher begründet zu werden, daß der absolute Polizeistaat die Quelle des heutigen Beamtenrechtes ist, das somit den Wechsel der Staatsformen fast unverändert überdauert hat. Es wäre aber irrtümlich, aus dieser Kontinuität des Beamtenrechtes seine Überlebtheit im Rahmen der heutigen Staatsform zu folgern. Vielmehr zeigt sich aus dieser geschichtlichen Erfahrung die Neutralität des Beamtenrechtes, wie übrigens eines Großteils der Rechtseinrichtungen gegenüber der Staatsform. Autokratie und Demokratie bedeuten Rechtsunterschiede in der Sphäre der Verfassung, denen durchaus nicht in allen Bereichen der Gesetzgebung und Vollziehung Rechtsunterschiede entsprechen müssen. Staaten mit diametral entgegengesetzter Staatsform können, ohne damit ihrer Staatsform irgendwie untreu zu werden oder auch nur in ihrer Rechtsentwicklung unfolgerichtig zu erscheinen, weitgehende Übereinstimmungen im Gesetzesrechte, so z.B. in der Gestaltung des Eigentumsinstitutes, des Prozeßrechtes oder des Beamtenrechtes aufweisen. Dagegen ist es ebenso leicht denkbar, daß Staaten mit verwandter Staatsform in der Sphäre der Gesetzgebung, z.B. in der Gestaltung ihres Prozeßrechtes, - man vergleiche etwa den englischen und deutschen Zivil- und Strafprozeß - oder in der Organisation der Vollziehung - man erinnere sich der vorerwähnten Besipiele des schweizerischen und des deutschen sowie österreichischen Beamtenrechtes - stark voneinander abweichende Wege gehen, wiederum, ohne sich einer Inkonsequenz schuldig zu machen. Die Variationsmöglichkeit des Rechtsinhaltes auf der Gesetzesstufe bei unverändertem Verfassungsinhalt wird selbst durch die Erkenntnis nicht berührt, daß die Staatsform nicht schon durch den Verfassungsinhalt erschöpfend ausgeprägt ist, sondern erst aus dem Zusammenhalt sämtlicher Stufen der Rechtsordnung ihr endgültiges Gepräge erhält, weil sich auf sämtlichen Stufen der Rechtsordnung Akte der Staatswillensbildung finden. So kann z.B. der Absolutismus durch die Einführung der Selbstverwaltung, was ja die Mitbestimmung des Volkes in gewissen örtlichen Verwaltungssachen bedeutet, oder die Demokratie durch

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den Vorbehalt der Vollziehung für das Berufsbeamtentum eine besondere, von anderen Verwirklichungen des absolutistischen oder demokratischen Prinzipes abweichende Gestalt annehmen, ohne daß der betreffende Staat hierdurch aufhören würde, den Absolutismus oder die Demokratie darzustellen. Es ist nicht Rechtserkenntnis, sondern Rechtspolitik, wenn man aus dem Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus, vom Konstitutionalismus zum Demokratismus die Notwendigkeit folgert, die organisatorische Technik der Vollziehung zu ändern, im besonderen das Berufsbeamtentum über Bord zu werfen, das ja juristisch gesehen nichts als eine bestimmte Organisationstechnik der Vollziehung bedeutet. Mit der Einführung der Demokratie in deutschen Landen war dem Berufsbeamtentum höchstens rechtspolitisch, jedoch keinesfalls rechtstheoretisch die Existenzfrage gestellt. Ich finde mich mit dem Großteil der deutschen Staatsrechtslehrer, vor allem mit jenen, die, wie namentlich Gerber, Giese, Köttgen, Nawiasky, Richten Waldecker, zum Problem Beamtentum und Demokratie Stellung genommen haben, in erfreulicher Übereinstimmung, wenn ich - an dieser Stelle ohne Begründung 1 - feststelle, daß das deutsche Berufsbeamtentum trotz seiner Herkunft aus dem Polizeistaat nicht als Rechtsatavismus oder sonstiger Fremdkörper auszumerzen, sondern daß es auch, ja gerade mit der Demokratie vereinbar und als volltaugliches Instrument der Demokratie nutzbar zu machen ist. I. Nicht die Theorie des Beamtentums steht im folgenden in Frage, sondern das Recht des Berufsbeamtentums, und zwar de lege lata und darauf fußend de lege ferenda. Doch diese rechts wissenschaftlichen und rechtspolitischen Auseinandersetzungen haben eine Verständigung über das Wesen des Berufsbeamten zur Voraussetzung, und so soll vor allem - nur zu dem gedachten Verständigungszweck - das Wesen des Berufsbeamten, so wie ich es verstehe, gezeichnet werden.

1 Eine eingehende Begründung habe ich in „Demokratie und Verwaltung", Wien, M. Perles 1923, und „Allgemeines Verwaltungsrecht", Wien, J. Springer 1927, S. 324 ff., gegeben. Vgl. auch weiter unten.

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Nach der hauptsächlich von Otto Mayer vertretenen Lehre ist bekanntlich der Beamte durch ein Gewaltverhältnis gekennzeichnet, das ihn mit seinem Amtsträger - einer sogenannten Körperschaft des öffentliches Rechtes verbindet. Die besondere Art des Gewaltverhältnisses, in dem der Beamte steht, heißt bekanntlich Dienstgewalt. Dieser Ausdruck soll eingestanden oder uneingestanden besagen, daß die Beziehung zwischen der gewaltausübenden Körperschaft und dem gewaltunerworfenen Beamten nicht zur Gänze juristisch erfaßbar ist, daß vielmehr zwischen der zwar nicht wegzuleugnenden und auch nicht geleugneten rechtlichen Beziehung, diese ergänzend und verstärkend, eine andere nicht näher definierbare, sei es nun normative oder kausale Beziehung besteht. Für die juristische Betrachtung ist besagtes Gewaltverhältnis nicht erfaßbar; der juristischen Analyse stellt sich, was herkömmlich so unjuristisch gedeutet wird, als ein bloßer Komplex von Berechtigungen und Verpflichtungen dar, die durch einen typischen Formalakt begründet und in typischer Weise sanktioniert werden. Die Rechtsordnung, die diese eigenartige Organstellung zum Gegenstande hat, das öffentliche Dienstrecht oder Beamtenrecht, ist ein Stück Verwaltungsrecht, weil es - mag es letztlich auch unter den Schutz ordentlicher Gerichte gestellt sein - grundsätzlich und primär von Verwaltungsorganen gehandhabt wird. Das Subjekt dieser Teilrechtsordnung, der Beamte 2, ist ein Staatsorgan, das sich von anderen Staatsorganen durch den Kreationsakt der Anstellung, eine bestimmte Reihe von Berechtigungen und Verpflichtungen und durch eine besondere prozessuale Garantie dieser Berechtigungen und Verpflichtungen, also jedenfalls nur durch rechtliche Merkmale, unterscheidet. Wie überhaupt die Rechtsfigur des Beamten ein in seinem zeitlichen und örtlichen Erscheinungsbereich verhältnismäßig eng begrenztes Produkt der Rechtsentwicklung ist, so unterliegt es obendrein beträchtlichen Abwandlungen nach Zeit und Ort,

2 Hiebei folge ich der im Deutschen Reiche üblichen Terminologie, die bekanntlich nicht dem gesamten deutschen Sprachgebrauche eigentümlich ist. So nennt die österreichische Gesetzessprache den hier sogenannten Beamten, genauer Berufsbeamten, „öffentlicher Angestellter" (z.B. Art. 21 BVG, das Gehaltsgesetz handelt von den „Bundesangestellten"). Warum sollte auch der durch „Anstellung" Berufene nicht, Angestellter" sein? Dagegen ist in Österreich für den im Reich sogenannten „Angestellten" der Ausdruck Privatangestellter oder auch Privatbeamter gebräuchlich. Das hier sogenannte Beamtenverhältnis heißt in Österreich „pragmatisches Dienstverhältnis", weil es durch „Dienstpragmatik" geregelt ist, das Anstellungsverhältnis „Vertragsdienstverhältnis".

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denen die herkömmlichen allzu verengenden Begriffsbestimmungen nicht Rechnung zu tragen pflegen. Insbesondere sind die beiden Grundformen berufsmäßiger Versehung staatlicher Aufgaben - einerseits öffentlich-rechtliches, andererseits privatrechtliches Dienstverhältnis - in manchen Rechtsordnungen durchaus nicht so tief voneinander geschieden, wie es eine idealisierende Charakteristik wahr haben will. Die Rechtsordnung kann, wie insbesondere die Entwicklung des österreichischen Beamtenrechtes zeigt, die beiden Dienstrechtsformen einander so annähern, daß nur noch in den Formen der Eingehung und Auflösung des Dienstverhältnisses sowie des prozessualen Schutzes, nicht aber im Inhalte der Berechtigungen und Verpflichtungen der Dienstnehmer größere Unterschiede bestehen bleiben, als sie selbst einzelne Gruppen öffentlichrechtlicher oder privatrechtlicher Dienstnehmer im Vergleiche miteinander aufweisen. Diese Annäherung des Dienstrechtes der beiden Gruppen von Dienstnehmern kann sich von beiden Seiten aus vollziehen. Vom Standpunkte des Beamtenrechtes aus führt in diese Richtung bereits ein stärkeres Durchgreifen des rechtsstaatlichen Prinzipes, das sich etwa in nachstehender Weise äußert. Die ursprünglich uferlose Dienstpflicht wird positivrechtlich in eine Mehrzahl bis Vielzahl konkreter amtlicher und außeramtlicher Pflichten zerlegt und den Beamten jenseits dieses rechtlich fixierten Pflichtenkreises Freiheit gewährt. An die Stelle bloßer Gnadenerteilung der Dienstbehörde treten Ansprüche des Beamten, denen gegenüber die Dienstbehörde nur ein - wichtigen dienstlichen Erfordernissen gerecht werdendes - Untersagungsrecht hat. Kurz, aus dem Staatsdiener, der sozusagen mit seiner ganzen Persönlichkeit dem Dienstherren Staat verhaftet und verfallen war, ist gewissermaßen ein Doppelwesen geworden, das nur mit einem rechtlich begrenzten Teile seiner Persönlichkeit Staatsorgan, mit dem anderen rechtlich gesicherten Teile seiner Persönlichkeit sozusagen Mensch und Staatsbürger ist. Andererseits hat sich das Privatdienstverhältnis das öffentlichrechtliche Dienstverhältnis zum Muster genommen und sich ihm mehr oder weniger angenähert. Das zeigen schon die privatrechtlichen Sondergesetze, die den Dienstvertrag besonderer Arbeitnehmergruppen regeln. Besonders deutlich wird aber der Einfluß der Beamtengesetze auf die Dienstordnungen öffentlicher Körperschaften, mit denen sie das Dienstverhältnis einzelner Gruppen ihrer privatrechtlichen Dienstnehmer regeln. Diese Dienstordnungen werden zwar einseitig vom Dienstgeber erlassen, werden aber für den Dienstnehmer erst durch den Arbeitsvertrag

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als sogenannte lex contractus verbindlich. In solchen Dienstordnungen wird z.B. die Unauflöslichkeit des Dienstverhältnisses für den Dienstnehmer, abgesehen vom Falle einer qualifizierten Dienstrechtswidrigkeit des Dienstnehmers, vorgesehen, die Besoldung von der Leistung losgelöst und in festen, periodisch steigenden Sätzen festgesetzt, Ruhegenuß und Hinterbliebenenversorgung von Seite des Dienstgebers verbürgt, gewissermaßen als Surrogat der vertragsmäßig ausgeschlossenen Kündigungsmöglichkeit ein System von Disziplinarmitteln und ein justizähnliches Verfahren zu deren Verhängung eingeführt. Ein solcher „Vertragsangestellter" der öffentlichen Körperschaften unterscheidet sich rechtlich nur noch in wenigen Punkten von seinem, wie gezeigt wurde, von der anderen Seite stark angenäherten Berufskollegen im öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis. Dagegen hat er sich von seinem „Artgenossen" in Privatdienste, dessen Berechtigungen und Verpflichtungen Gegenstand der Vereinbarung mit dem Arbeitgeber, sei es in Form eines Kollektivvertrages oder eines Einzelvertrages sind, in einem Maße entfernt, daß die gemeinsame Rechtsfigur des Dienstvertrages den rechtlichen Abstand nur schlecht verdeckt. Mit diesen Feststellungen soll nicht etwa einer rechtstheoretischen Notwendigkeit oder einer rechtspolitischen Forderung nach Vereinheitlichung der Dienstrechtsformen Rechnung getragen, sondern bloß eine positivrechtliche Entwicklung ins Licht gerückt werden. Die Rechtswissenschaft kann und muß, je nach der positivrechtlichen Gegebenheit, ein einförmiges oder vielgestaltiges Dienstrecht zur Kenntnis nehmen, gleichviel, ob sie auf der theoretischen Basis der Reinen Rechtslehre oder ihrer Gegner beruht. Gegenüber allen denkbaren rechtspolitischen Forderungen auf dienstrechtlichem wie auf irgendeinem Rechtsgebiet verhält sich die Reine Rechtslehre naturgemäß völlig neutral, so daß sie für solche im (folgenden entwickelte) Forderungen weder im guten, noch im schlechten Sinne verantwortlich gemacht werden kann. Wenden wir uns von dieser Verständigung über Ursprung und Wesen des Beamten dem eigentlichen Gegenstande unserer Betrachtung, dem Beamtenrechte, zu, so müssen wir uns vor der Vorführung eines kasuistischen Reformplanes der bestehenden Rechtslage besinnen. Mehr sogar als für andere Rechtsgebiete kann und muß auf unserem Gebiete das geltende Recht Ausgangspunkt jeder legislativpolitischen Untersuchung sein. Denn das Beamtenrecht der deutschen Staaten birgt - freilich nicht so sehr auf der

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Gesetzesstufe als auf der Verfassungsstufe - sozusagen ungehobene und in weiten Kreisen unbekannte Rechtsgedanken, die es nur auszuführen und anzuwenden gilt. Nicht nur die deutsche Reichsverfassung, sondern auch die österreichische Bundesverfassung enthält eine Fülle von Normativbestimmungen beamtenrechtlichen Inhaltes, in deren Rahmen wohl alle ernst zu nehmenden Reformwünsche Raum finden. Es macht den Trägern der Revolution wie auch dem deutschen Beamtentum nur Ehre, daß ihm die revolutionären Verfassungen der deutschen Republiken mit durchaus konservativer Geste entgegengetreten sind, ja sogar mehr als das: ihnen in gewissem Sinne unter den geänderten staatsrechtlichen Verhältnissen eine Existenzgarantie und darüber hinaus zum Teil ungewohnte rechtliche Sicherheiten geboten haben. Zum Unterschied von der Haltung anderer Revolutionen hatten eben die Führer des Umsturzes in Österreich wie im Reiche in der öffentlichen Beamtenschaft nicht Diener des Fürsten, sondern des Staates und Volksgenossen gesehen, denen der Volksstaat unvoreingenommen begegnen müsse. Daß die in die neue Verfassungslage gesetzten Erwartungen der Beamtenschaft, die sie mit manchen moralischen und materiellen Verlusten versöhnt hätten, nur zum geringen Teil in Erfüllung gegangen sind, ist nicht Schuld der Verfassung, sondern ihrer Anwendung, oder ehrlicher gesagt, ihrer teilweisen Nichtanwendung. Die beamtenrechtlichen Bestimmungen des reichsdeutschen Rechtes, insbesondere der Reichsverfassung 3 in diesem Kreise zu demonstrieren und zu kommentieren, würde mir nicht zustehen. Wer den Stand der Entwicklung des deutschen Beamtenrechtes erfassen will, darf indes an dem österreichischen Zweige dieses Rechtsgebildes nicht achtlos vorbeigehen. Ich mache mich daher keiner Abweichung von unserem Beratungsgegenstande schuldig und erwarte mir ein gewisses Interesse für die Absicht, in knappsten Umrissen ein Gegenbild des österreichischen Beamtenrechtes zu dem bekannten Bilde des reichsdeutschen Beamtenrechtes zu zeichnen. Was die österreichische Bundesverfassung 4 zu unserem Problemkreise beiträgt, steht nicht im geringsten unter dem Einflüsse der Weimarer Verfassung. Der österreichische Verfassungsgesetzgeber beantwortet überhaupt

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Im folgenden zitiert: RV.

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Im folgenden zitiert: BVG.

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mit seinen dienstrechtlichen Bestimmungen fast durchaus andere Fragen, als die in der Weimarer Verfassung gelösten beamtenpolitischen Probleme. Dies erklärt sich zunächst schon daraus, daß die Bundesverfassung das Problem des Dienstrechtes ex professo nur in einem einzigen Verfassungsartikel (Art. 21 BVG) seilt und an dieser Gesetzesstelle in der Hauptsache nur besondere Kompetenzbestimmungen über Gesetzgebung und Vollziehung in gewissen Dienstrechtsfragen aufstellt. Die übrigen auf das Beamtenverhältnis bezogenen Bestimmungen finden sich in anderen systematischen Zusammenhängen, meist im Rahmen viel weiterer gesetzgeberischer Probleme. Dieser Verzicht auf eine geschlossene Reihe beamtenrechtlicher Bestimmungen könnte sich, sofern er bewußt und beabsichtigt ist, aus dem Inhalt der fraglichen Normativbestimmungen erklären. Sie statuieren nämlich vorwiegend Pflichten der Beamten oder schlechthin aller Vollzugsorgane, worunter die „öffentlichen Angestellten" als Hauptgruppe inbegriffen sind. Dabei liegt aber der Verfassung völlig fern, die Rechtslage der öffentlichen Beamtenschaft herabzudrücken, sondern handelt es sich ihr bloß darum, selbstverständliche und allseits unbestrittene Beamtenpflichten in der Verfassung zu verankern und über den Kreis der öffentlichen Angestellten hinaus auf alle Vollzugsorgane zu erweitern. Daß nicht zugleich nach dem Vorbild der Reichsverfassung ein Minimum an Beamtenrechten in der Verfassung verankert wurde, mag im Inhalt des überkommenen einfachgesetzlichen Beamtenrechtes seine Erklärung finden. Denn zumindest in demselben Maße, als die beamtenrechtlichen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung dem Beamteninteresse günstiger sind als die entsprechenden Bestimmungen der österreichischen Bundesverfassung, verdienen vom Beamtenstandpunkte aus, der freilich an dieser Stelle nicht bedingungslos maßgeblich sein kann, die Einrichtungen des in Österreich herrschenden Dienstrechts, auch, ja gerade soweit es aus der Monarchie rezipiert wurde, vor dem im Reiche herrschenden Dienstrecht, beispielsweise dem Reichsbeamtenrechte oder dem preußischen Beamtenrechte, den Vorzug. Was nun die verfassungsrechtliche Grundlegung des Staatsdienstverhältnisses in Österreich betrifft, finden sich die einschlägigen Bestimmungen zu verschwindendem Teile in dem österreichischen Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, das in Ermangelung einer Neukodifikation der Grundrechte zum Bestandteil der Bundesverfassung gemacht wurde, zum weitaus überwiegenden Teil im Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, als der nunmehr geltenden Verfassungsurkunde.

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Das zitierte Staatsgrundgesetz aus der Verfassung der österreichischen Monarchie nimmt auf das Dienstrecht nur mit seinem Art. 3 Bezug: „Die öffentlichen Ämter sind für alle Staatsbürger gleich zugänglich. Für Ausländer wird der Eintritt in dieselben von der Erwerbung des österreichischen Staatsbürgerrechtes abhängig gemacht". Der zweite Satz wurde mittlerweile mittels des Verfassungsgesetzes vom 30. Juli 1925, BGBl. 268, durch eine Ausnahme eingeschränkt, wonach die Staatsbürgerschaft für den Antritt eines öffentlichen Lehramtes an einer inländischen Hochschule nicht vorausgesetzt, sondern im Gegenteil von einem Ausländer durch den Antritt eines solchen Amtes erworben wird. Hochschullehrer unterliegen mithin insofern einem Sonderrecht, als für sie der Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht die Voraussetzung, sondern, falls sie Ausländer sind, der ipso-iure Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft die Folge ihrer Anstellung im Bundesdienste ist. Auch wenn das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger mitsamt dem zitierten Verfassungsartikel nicht weiter in Geltung stände, könnte übrigens sein Inhalt im Auslegungswege aus der Bestimmung des Art. 7, Abs. 1 BVG ermittelt werden, der da sagt: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetze gleich; Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen". Bevorzugungen solcher Art sind nämlich damit auch als Erwägungen oder Motive bei der Anstellung im öffentlichen Dienste dem Kreationsorgane verwehrt. Die gleiche Fähigkeit aller Staatsbürger zur Erwerbung eines Staatsamtes ist also jedenfalls sichergestellt. Die erste Bestimmung des BVG, die ausdrücklich auf die öffentlichen Angestellten Bezug nimmt, ist der zweite Absatz des Art. 7 BVG: „Den öffentlichen Angestellten, einschließlich der Angestellten des Bundesheeres, ist die ungeschmälerte Ausübung ihrer politischen Rechte gewährleistet." Ohne daß im einzelnen eine Rechtsvergleichung unternommen werden könnte, leuchtet ein, daß diese Bestimmung in ihrem Gleichheitsgehalt um einen Grad radikaler ist als die analoge Bestimmung der RV (Art. 130). Wenngleich sich bekanntlich nach übereinstimmender Auffassung die Bestimmung des Art. 130 RV nicht auf die Gewährleistung der politischen Gesinnungsfreiheit, auf die sie ausdrücklich abgestellt ist, beschränkt, sondern auch die Freiheit von Äußerungen der politischen Gesinnung intendiert, da unsere Bestimmung angesichts der unvermeidlichen und darum nicht erst rechtlich zu gewährenden Gedankenfreiheit nur durch die ange-

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deutete extensive Auslegung zu einem faßbaren Inhalt kommt, bleibt doch der Auslegung überlassen, inwieweit politische Bekenntnisfreiheit besteht; und so gab der knappe und schöne Wortlaut der RV den bekannten Auslegungsversuchen Raum, der Gesinnungsfreiheit aus dem Wesen oder den Notwendigkeiten des Staatsdienstverhältnisses heraus Schranken zu ziehen. Über solche Schranken ist nun aber ein unanfechtbares wissenschaftliches Urteil ausgeschlossen, und so entscheidet letzten Endes unvermeidlich die politische Einstellung der Dienstbehörde, der ein von seiner Bekenntnisfreiheit mehr oder weniger Gebrauch machender Beamter verantwortlich ist. Die österreichische BV gewährleistet ausdrücklich ungeschmälerte Ausübung der politischen Rechte und stellt damit, wenngleich der Kreis der politischen Rechte nicht eindeutig umschreibbar ist, zumindest das eine schon selbst außer Zweifel, daß dem Beamten als Stimmberechtigtem die Abgabe einer Stimme für welche Partei und welche Forderung immer - weil die Stimmabgabe eben ohne Rücksicht auf diesen Inhalt jedenfalls die Äußerung eines politischen Rechts ist - unter allen Umständen freisteht. Versuche, diese primitivsten Äußerungen politischer Gesinnungsfreiheit durch Dienstanweisungen oder gar Disziplinarmaßnahmen zu unterdrücken, wie sie im Reich vorgekommen sind, sind in Österreich dank der radikaleren Fassung des Verfassungstextes unterblieben. Im praktischen Ergebnis läuft der angedeutete Unterschied zwischen der deutschen und österreichischen Verfassung darauf hinaus, daß den österreichischen Beamten die außerdienstliche Vertretung politischer Extreme nicht verwehrt werden kann, soweit sie unter Gebrauch der normalen verfassungsmäßigen Mittel vor sich geht, wogegen die RV der Bekämpfung des politischen Radikalismus von rechts und links mit Mitteln des Dienstrechtes Raum gibt. Man kann vom beiderseitigen politischen Radikalismus gleichweit entfernt stehen und trotzdem, ja gerade aus der demokratischen Grundeinstellung der Verfassung heraus einer Lösung des Problems der Bekenntnisfreiheit des Beamten den Vorzug geben, die den Staatsbeamten in jeder Hinsicht als Staatsbürger vollen Rechtes behandelt. In diesem Zusammenhange ist der Vollständigkeit halber nur noch festzustellen, daß Art. 59 BVG nahezu gleichlautend mit Art. 39 RV anordnet: „Öffentliche Angestellte, einschließlich der Angestellten des Bundesheeres, bedürfen zur Ausübung eines Mandates im Nationalrat und Bundesrat keines Urlaubes; bewerben sie sich um Mandate im Nationalrat, ist ihnen die dazu erforderliche freie Zeit zu gewähren."

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Die Organisationsprobleme des Staatsdienstes sind im Bundes-Verfassungsgesetz nur aufgerollt, nicht gelöst. Wenn Art. 20 BVG einleitend sagt: „Unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder führen nach den Bestimmungen der Gesetze auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe die Verwaltung" so ist der organisationsrechtlichen Ausführungsgesetzgebung die Wahl zwischen gegensätzlichen Organisationssystemen, insbesondere zwischen dem Wahlbeamten und Laienfunktionär, der zugleich Parteimann ist, einerseits und dem ernannten Berufsbeamten andererseits, freigestellt. Nur im engen Rahmen nimmt die Verfassung diese Wahlfreiheit, indem sie für einzelne, im ganzen spärliche, aber führende Staatsämter zwingend das Laienbeamtensystem vorschreibt und sie damit tatsächlich fast ausschließlich dem Parteipolitiker vorbehält. Das gilt namentlich für die Ämter des Bundespräsidenten und die Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen. Diese Verfassungsrechtslage bedeutet für den Berufsbeamten, daß ihm, entgegen weitergehenden Bestrebungen nach sogenannter Demokratisierung der Verwaltung, der Weg zu Verwaltungsämtern aller Grade in sämtlichen Verwaltungszweigen von Verfassungs wegen nicht weniger als dem Parteimann offensteht, und daß die Konkurrenz zwischen diesen beiden Typen der Organschaft - ohne irgendeine verfassungsmäßige Vorgabe für den einen oder anderen Organisationstypus - im Wege der einfachen Gesetzgebung auszutragen ist. Die weiteren Sätze des Art 20 BVG enthalten zum Unterschied von dem besprochenen Einleitungssatz materiellrechtliche Bestimmungen, die eine Eigentümlichkeit der österreichischen Verfassungsurkunde darstellen. Der Verfassungstext besagt zunächst: Die Organe der Verwaltung „sind, soweit nicht verfassungsgesetzlich anderes bestimmt wird, an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Beamten gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich. Das nachgeordnete Organ kann die Befolgung einer Weisung ablehnen, wenn die Weisung entweder von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Bestimmungen verstoßen würde." Diese Gesetzesstelle ist einer der Fälle - als zweites Beispiel sei die klassische Kodifikation des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung im Art. 18 BVG genannt - , wo die österreichische Verfassung eine ansonsten offene Frage der rechtswissenschaftlichen Interpretation anschneidet und eindeutig beantwortet. In diesem Falle bestätigt sich wiederum das berühmte Wort Kirchmanns: „Ein berichtigendes oder ergänzendes Wort des Gesetzgebers, und Bibliotheken werden zu Makulatur". Diese

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Regelung erzielt mit einem Schlage dreierlei: Zweifelsfreie Festlegung des Weisungsrechtes und der Gehorsamspflicht einschließlich eines beschränkten Prüfungsrechtes für die Verwaltung, Verankerung dieser Verwaltungsrechtsinstitute in der Verfassung mit der Folge unmittelbarer Maßgeblichkeit für das gesamte Verwaltungsorganisationsrecht, und Erstreckung dieser Institute von dem gewohnten Kreise der Verwaltungsbeamten auf sämtliche Verwaltungsorgane ohne Rücksicht auf deren Berufungsweg und Organstellung. Unter „Weisungen" im Sinne des zitierten Verfassungsartikels sind sowohl allgemeine Dienstvorschriften (in der reichsdeutschen Terminologie sogenannte „Verwaltungsvorschriften", in der österreichischen Praxis auch „Normalien" genannt) als auch Dienstbefehle im Einzelfall zu verstehen. Ein derart umgrenztes Weisungsrecht ist jedem höheren Verwaltungsorgane gegenüber jedem ihm jeweils untergeordneten (die Verfassung sagt „nachgeordneten") eingeräumt. Noch bemerkenswerter ist wohl die in diesem Zusammenhang erfolgte verfassungsgesetzliche Umschreibung des Prü~ fungsrechtes der angewiesenen Verwaltungsorgane. Die rechtstheoretische Voraussetzung des Verfassungsgesetzgebers war die Annahme eines im Zweifel unbeschränkten Prüfungsrechtes. Diese Annahme ist bekanntlich Frucht der Erkenntnis, daß sich nur in einer in jeder Hinsicht rechtmäßigen oder fehlerfreien Weisung, objektiv gesprochen ein Staatswille, subjektiv gesprochen ein Staatsorgan, im besonderen ein Vorgesetzter, manifestiert. Dem rechtspolitischen Einwände, daß durch ein solches unbeschränktes Prüfungsrecht das Weisungsrecht illusorisch und der dienstliche Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten vom guten Willen des Untergebenen abhängig gemacht würde, kann m.E. nicht der Rechtswissenschafter durch Aufzeigung immanenter Schranken des Prüfungsrechtes, sondern nur der Gesetzgeber durch willkürliche Aufstellung solcher Schranken Rechnung tragen. Hier zeigt sich, wie eine durch den Radikalismus ihrer Konsequenzen unbequeme und darum meist abgelehnte Theorie auf die denkbar einfachste Weise sozusagen praktikabel gemacht werden kann. Die Theorie des im Zweifel unbeschränkten Prüfungsrechtes ist nicht, wie ihre Kritiker ausgeben, eine Gefahr für die Staatsautorität, sondern eine Einladung für den Gesetzgeber, seinerseits dem Prüfungsrechte die erwünschte Schranke zu ziehen und damit eine ureigene Aufgabe zu erfüllen. Unsere Verfassungsbestimmung hat die Schranken bekanntlich im großen und ganzen im Sinne der herkömmlichen rechtswissenschaftlichen Abgrenzung gezogen. Weisungen sind danach nur unter der Voraussetzung verbindlich, daß sie überhaupt von einem Organe, im besonderen von einem zuständigen Organe,

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kurz gesagt also von einem dienstlich Vorgesetzten ausgehen und daß sie nicht an dem qualifizierten Mangel einer Strafgesetzwidrigkeit leiden. Es ist also nicht unbedingte, sondern nur bedingte Fehlerfreiheit, nicht totale, sondern bloß partielle Gesetzmäßigkeit einer Weisung Voraussetzung der Gehorsamspflicht, und da sich die denkbaren Rechtswidrigkeiten einer Weisung nicht in den von der Verfassung als Rechtfertigungsgründe des Ungehorsams gekennzeichneten Fehlern erschöpfen müssen, ist in gewissem Umfang implizite auch Gehorsamspflicht gegenüber rechtswidrigen Weisungen statuiert. Wenn einerseits die Originalität der vorgeführten Verfassungsbestimmung ein längeres Verweilen gerechtfertigt hat, so darf und muß doch wohl von ihrer Detailauslegung an dieser Stelle abgesehen werden. Noch eine zweite herkömmliche Dienstpflicht ist in demselben Verfassungsartikel in die Sphäre des Verfassungsrechtes erhoben: Die Pflicht der Amtsverschwiegenheit: „Alle mit Aufgaben der Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltung betrauten Organe sind, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, zur Verschwiegenheit über alle ihnen ausschließlich aus ihrer amtlichen Tätigkeit bekanntgewordenen Tatsachen verpflichtet, deren Geheimhaltung im Interesse einer Gebietskörperschaft oder der Parteien gelegen ist". Auch durch diese, in ihrer Fassung wohl nicht so vorbildliche Bestimmung ist erreicht, daß eine Amtspflicht, die zum eisernen Bestände des Dienstrechtes gehört, mit unmittelbarer Verbindlichkeit für das Gesamtbereich der Verwaltung in der Verfassung verankert, daß sie von ihren traditionellen Geltungsbereichen innerhalb des Staatsdienstes auf sämtliche, also auch die gewählten Verwaltungsfunktionäre erstreckt und daß zugleich der Pflichtinhalt vernünftigen Schranken unterworfen wurde. Infolge der Tatsache, daß die öffentlichen Angestellten nur eine, wenn auch die qualitativ und quantitativ wichtigste, Kategorie der Verwaltungsorgane sind, stellen sich die bisher beleuchteten Verfassungsbestimmungen zwar nicht als ausschließliche Grundsatzbestimmungen des Beamtenrechtes, mittelbar aber doch auch als solche dar. Dasselbe gilt auch von der verfassungsgesetzlichen Statuierung der zivilrechtlichen Haftung für Amtspflichtverletzungen: „Der Bund, die Länder, die Bezirke oder die Gemeinden haften, soweit sie nicht als Träger von Privatrechten in Betracht kommen, für den Schaden, den die als ihre Organe handelnden Personen einem Dritten dadurch verursachen, daß sie die Rech-

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te, die dem Dritten der Gebietskörperschaft gegenüber zustehen, in rechtswidriger Besorgung ihrer Aufgaben vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzen. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." „Personen, die als Organe einer Gebietskörperschaft handeln, sind ihr nach bundesgesetzlicher Regelung für den Schaden haftbar, den sie in Ausübung ihrer Tätigkeit der Gebietskörperschaft unmittelbar zugefügt haben oder für den die Gebietskörperschaft dritten Personen Ersatz geleistet hat" (Art. 23 BVG). Auch diese Verfassungsbestimmung ist offenbar nicht rein dienstrechtlicher Natur, da die Organhaftung in ihrem Sinne nicht bloße Beamtenhaftung, sondern Haftung sämtlicher Vollzugsorgane, der gewählten Politiker und der Angestellten also nicht minder als der Berufsbeamten ist. Das ist ja wohl auch der uneingestandene Grund, daß sowohl die Haftung der Gebietskörperschaften als auch die ihrer Organe für rechtswidrige Handlungen in Österreich bisher ein bloßes Verfassungsversprechen geblieben ist, dessen Einlösung nicht im entferntesten abgesehen werden kann. Grundsätzlich dieselbe Rechtslage hat hüben und drüben zur entgegengesetzten Auslegung und Übung geführt. Während die Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichtes dem zweiten Absatz des Art. 131 Reichsverfassung: „Die nähere Regelung liegt der zuständigen Gesetzgebung ob" nicht die Bedeutung einer Bedingung für die Anwendbarkeit der Haftpflichtbestimmung des Art. 131 beilegt, hat die österreichische Rechtsprechung die analoge Bestimmung des Art. 23 BVG: „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz" bisher ausnahmslos dahin ausgelegt, daß mangels eines solchen Bundesgesetzes die Haftpflicht gegen Gebietskörperschaften und deren Organe nicht geltend gemacht werden könne - ein Beweis übrigens für die Doppeldeutigkeit vermeintlich eindeutiger Gesetzesbestimmungen. Die österreichische Gesetzgebung hat bisher nicht die geringsten Anstalten getroffen, diese Verfassungspromesse einzulösen, obwohl das Vorbild der deutschen Verfassung und Rechtsprechung Ansporn genug für eine - sonst so gesuchte - Rechtsangleichung an das Reich sein könnte und man in Österreich außer dem gewiß sehr naheliegenden Vorbild des Reiches das noch um einen Grad näherliegende Vorbild des sogenannten Syndikatsgesetzes vom 12.VII.1872, RGBl. 112, hat, wonach der Staat oder dessen richterliche Beamte wegen der von den letzteren in Ausübung ihrer amtlichen Wirksamkeit verursachten Rechtsverletzungen mit gerichtlicher Klage belangt werden können. Daß trotz so vieler Angleichungen zwischen Justiz und Verwaltung in Österreich, insbesondere trotz Einführung eines justizähnlichen Verwaltungsverfahrens für alle Verwaltungsakte, das fast alle Eigenschaften des deutschen Verwaltungsstreitverfahrens erfüllt, und

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ungeachtet der Haltung der Verwaltungsbeamtenschaft, der ihre weitere Privilegierung gegenüber der Richterschaft unerwünscht ist, in dem einen Punkte in Österreich ein des Rechtsstaates unwürdiger Verwaltungsprimitivismus aufrecht erhalten blieb, wird wohl nur durch die Absicht verständlich, unzulässige politische Einflüsse auf die Verwaltung vor ihren zivilrechtlichen Folgen zu sichern. Es bedarf nicht erst der Begründung, wie sehr es die Stellung des Berufsbeamten hebt und ihn gegen rechtswidrige Zumutungen aus welcher Sphäre immer, namentlich aber von Seite eines politisch eingestellten Vorgesetzten, immunisiert, wenn er nicht bloß mit seiner Persönlichkeit, sondern auch mit seinem Gehalt und allfälligem Vermögen für das, was er dienstlich tut und läßt, restlos einzugestehen hat. Insofern tragen die Verwaltungsbeamten des Reiches eine Last, um die sie ihre österreichischen Kollegen beneiden können; und um die prophylaktischen Wirkungen einer auch auf die Vermögenssphäre erstreckten Verantwortlichkeit ist die Verwaltung im Reiche der in Österreich gewiß voraus. Der Gerichtsstand für Rechtsstreitigkeiten aus öffentlichrechtlichen Dienstverhältnissen wird im Art. 132 BVG weit abweichend vom Art. 129, 1 RV geregelt. „Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in Streitfällen, die sich aus dem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis der Angestellten des Bundes, der Länder, der Bezirke oder der Gemeinden ergeben." Wenn Art. 129 RV den Beamten für ihre dienstrechtlichen Ansprüche den ordentlichen Rechtsweg gewährleistet, so erklärt sich dies aus der traditionellen Bevorzugung der Gerichtsbarkeit vor der Verwaltung, wie sie dem reichsdeutschen Rechte zum Unterschiede vom österreichischen eigentümlich ist und in besonders sinnfälliger Weise in dem berühmten Satz der Frankfurter Reichsverfassung: „Die Verwaltungspflege hört auf, über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte", und in dem preußischen Gesetz vom 24. Mai 1861 über die Erweiterung des Rechtsweges zum Ausdruck kommt. Es würde an dieser Stelle eine Untersuchung zu weit führen, inwiefern die Eröffnung des ordentlichen Rechtsweges für Ansprüche aus dem Beamtenverhältnis der bekannten Gegenwartsforderung nach Angleichung des Amtsrechtes und Arbeitsrechtes unbewußt vorgearbeitet hat, die ja durch diese Übereinstimmung des Gerichtsstandes in einem entscheidenden Punkte vollzogen ist. In diesem Punkte scheint mir das österreichische Recht der Auffassung des Beamtenverhältnisses als eines besonderen verwaltungsrechtlichen Rechtsverhältnisses besser zu entsprechen, indem es den Beamten zum Unterschied vom privatrechtlichen Dienstnehmer mit seinen An-

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Sprüchen aus dem Dienstverhältnis an den Verwaltungsgerichtshof verweist. Bei dieser Lösung der Kompetenzfrage signalisiert der Garant der Rechtspflichten die Eigenheit des Dienstverhältnisses, ja es läßt sich eine rechtswissenschaftliche Auffassung denken, wonach das Garantieorgan der Pflichten des Dienstgebers eigentlich erst die herkömmlich angenommene Zäsur zwischen privatrechtlichem Arbeitsrecht und öffentlichrechtlichem Dienstrecht sowie zwischen Arbeitnehmer und Beamten erkennen lasse. Die rechtliche und tatsächliche Gewähr des Rechtsschutzes ist bei dieser Lösung der Zuständigkeitsfrage um so eher gegeben, als die Zentralisation der Rechtsprechung bei einem einzigen Sondergericht ihrer Einheitlichkeit und sachlichen Güte dient und als die unbestrittene Autorität des Verwaltungsgerichtshofes die eines niedrigen oder mittleren Zivilgerichtes überragt. Diesem mehr psychologischen Vorzug der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Dienstrechtssachen steht der juristische Vorzug zur Seite, daß nach österreichischem Rechte die Vorentscheidung für den Verwaltungsgerichtshof in keiner Beziehung bindend ist, während bekanntlich nach deutschem Rechte der Prüfung der Rechtslage durch das ordentliche Gericht einfachgesetzlich unter Umständen sehr empfindliche Schranken gezogen werden können. Im übrigen beschränkt sich das BVG hinsichtlich des Beamtenrechtes auf Kompetenzbestimmungen (Art. 21). Aus diesen ergibt sich insbesondere, daß der Bund nicht bloß ausschließlich das Dienstrecht seiner eigenen Beamten, sondern grundsatzweise auch das der Beamten der Länder, allerdings nur solcher, die behördliche Aufgaben zu besorgen haben, zu regeln hat. Es ist dies eine der verschwindenden Kompetenzbestimmungen, durch die die BV hinter der RV an Unitarismus zurückbleibt, da Art. 128, 3 RV rationeller Weise von der Beschränkung der Reichskompetenz auf in bestimmter Weise beschäftigte Beamte abgesehen hat. Alles in allem halten die vorgeführten Bestimmungen der BV mit den vergleichbaren beamtenrechtlichen Artikeln der RV an systematischer Geschlossenheit keinen Vergleich aus und würden viel eher das strenge Urteil von Anschütz verdienen, der schon die Art. 129 bis 132 RV für wahllos zusammengestellt erklärt, falls die österreichische Verfassung überhaupt die Absicht gehabt hätte, Grundsätze des Beamtenrechtes aufzustellen. Schon die andeutenden Bemerkungen haben geoffenbart, daß sich die beiden Verfassungen in unserem Problemkreise kaum berühren, sondern ihre eigenen Wege gehen und sich

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daher gegenseitig ergänzen könnten. Denn wenn einerseits auch keine Übereinstimmung besteht, so fehlt mangels von Berührungspunkten auch die Möglichkeit zu größerem Widerspruch und eröffnet sich die Aussicht auf eine nicht allzu schwere Angleichung des reichsdeutschen und österreichischen Beamtenrechtes. In die Einzelheiten des in einfachen Gesetzen oder Rechtsquellen von Verordnungscharakter enthaltenen öffentlichen Dienstrechtes kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.5 Wenn jedoch an Stelle der Einzelvorführung ein an wenigen Beispielen illustriertes juristisches Gesamturteil der Rechtslage in Österreich geboten werden soll, so unterscheidet es sich im großen und ganzen vom reichsdeutschen Dienstrecht durch ein höheres Maß an Liberalität gegenüber dem öffentlichen Beamten und enthält vielfach Rechtseinrichtungen, die im Deutschen Reiche Gegenstand legislativer Forderungen der Organisationen sind. Allerdings ist dies ein verallgemeinertes Gesamturteil, das von den in vielen Fällen tiefgreifenden Unterschieden der Dienstordnungen der verschiedenen öffentlichen Körperschaften völlig absieht. Die Struktur der österreichischen Ämterordnung, namentlich die Gestaltung des Berufungsweges und der Berufungsbedingungen sowie die Dosierung des Berufsbeamtentums einerseits, Wahl- und Laienbeamtentums andererseits, erlaubt es, Österreich heute noch als sogenannten Beamtenstaat zu klassifizieren, um diese glückliche Wortprägung Fritz Fleiners zu verwenden. Bei dieser Kennzeichnung des Gesamteindruckes des österreichischen Organapparates darf allerdings der Beamtenstaat zum sogenannten Volksstaat nicht in dem Sinne in Gegensatz gestellt werden, daß etwa die Demokratie den Beamtenstand wie eine volksfremde Kaste als ihren Herrn inthronisiert hätte. Wenn aber auch der Besitzstand des Berufsbeamtentums nicht ernstlich geschmälert wurde, so hat es doch dadurch den denkbar größten Verlust erlitten, daß es von der Parteipolitik infiziert worden ist, so wie in der Monarchie der Beamtenapparat durch den Nationalitätenkampf zersetzt worden war. Der Parteipolitiker in der Maske und Rechtsform des Bürokraten bedeutet eine Kompromittierung der Idee der

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Die Gegenüberstellung der Rechts- und Tatsachenlage im Deutschen Reich und Österreich, aus der sich erst die nachstehenden legislativ-politischen Forderungen ergeben, mußte auch aus dem gedruckten Berichte wegen des übergroßen Umfanges ausgeschieden werden und soll abgesondert an anderer Stelle erscheinen.

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Bürokratie, die deren Realität auf die Dauer aufzuheben droht. Die Gefahren einer Entwicklung von der Art, daß „sich die Parteimaschine zwischen Volk und Regierung schiebt, und eine Art legaler oder wenigstens durch Gegenseitigkeit legalisierter Protektion in der Vergebung der Ämter erzeugt", brauche ich in diesem Kreis nicht auszumalen, sind aber auch aufgeklärten Politikern bewußt geworden. Das eben zitierte Wort stammt nicht von einem unsachlichen Nörgler des Parteigetriebes, sondern von einem gewiß die Dinge richtig sehenden, dabei aber auch ehrlich urteilenden Parteimann, dem langjährigen österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel. Wenn von maßgebendster Seite die tatsächliche Lage so gekennzeichnet wird, dann wundert man sich nicht, daß es die größte unpolitische Beamtenorganisation Österreichs vor Jahren für nötig gefunden hat, eine Stelle einzurichten, bei der die Beamten moralisch und finanziell Rückhalt finden, wenn sie bei, ja gerade wegen korrekter Dienstausübung durch Parteiterror Schaden nehmen. Ich habe mit Absicht mein kritisches Urteil zur Tatsachenlage auf österreichische Verhältnisse beschränkt. Indessen rechtfertigen mancherlei Ausführungen von parteipolitisch unbefangener und fachlich berufener Seite die Annahme, daß ich mit dieser Schilderung heimischer Einrichtungen und Zustände keine hierzulande völlig fremden Erscheinungen angedeutet habe. Man braucht nur die von tiefer Sorge nicht nur um das deutsche Beamtentum, sondern um die politische Zukunft des deutschen Volkes eingegebenen und erfüllten Ausführungen Ottmar Bühlers unter dem Titel: „Das Beutesystem bei der Ämterbesetzung" in seiner Broschüre „Der heutige Stand der Verfassungs- und Verwaltungsreform" nachzulesen, um sich nicht nur von der Überstaatlichkeit, um nicht zu sagen Internationalität mancher der angedeuteten Erscheinungen, sondern auch von der gewissermaßen interfraktionellen Natur dieser Erscheinungen zu überzeugen. Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer hat die in ihrem Berufe begründete hohe moralische Sendung, zu solchen Tatsachen feststellend und fordernd Stellung zu nehmen. Sie würde sich einer Unterlassung schuldig machen, wenn sie alles in der Entwicklung des Beamtenrechtes Gegebene als selbstverständlich und unabwendbar hinnähme. Wenn Max Weber in seiner heute mehr als je zeitgemäßen Rede „Die Wissenschaft als Beruf 4 nicht bloß im Hinblick auf akademische Verhältnisse festgestellt hat: „Nur wo die Parlamente oder wie bei uns bisher die Monarchen oder jetzt

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revolutionäre Gewalthaber aus politischen Gründen eingreifen, kann man sicher sein, daß bequeme Mittelmäßigkeiten oder Streber allein die Chance für sich haben", so war dies nicht im Sinne einer Resignation in völlig Unvermeidbares und Unabwendbares, sondern im Sinne einer Forderung zur Besserung des Gegebenen gesagt. Und es ist ein Zeichen des hohen Idealismus, der heute noch in deutschen Beamtenkreisen lebt, wenn trotz der Sorge um das Materielle in voller Stärke der Wunsch lebendig ist, die parteipolitischen Hemmungen rechter und rechtmäßiger Berufsausfüllung zu überwinden. II. Wenden wir uns von den eklektischen Betrachtungen der Rechts- und Sachlage unseres Problemgebietes der zweiten Seite unseres Beratungsgegenstandes, nämlich der Reform des Beamtenrechtes zu, so ergeben sich die Aufgaben der Reform unmittelbar aus der positiven oder negativen Bewertung der vorgeführten Rechts- und Tatsachenlage. Die legislativpolitische Frage nach der Reform des Beamtenrechtes greift zurück in das Fundament des Organisationsrechtes überhaupt. Beamtentum und Beamtenrecht bedeuten nur eine der rechtstechnischen Möglichkeiten, die Versehung von Staatsfunktionen, im besonderen die Besorgung der Vollziehung - unter Voraussetzung der durch unser Organisationsproblem unberührten Gesetzgebung - rechtstechnisch zu organisieren. Die für jeden vom Dualismus der Gesetzgebung und Vollziehung beherrschten Staat aufgegebene rechtspolitische Frage: Wer soll die Vollziehung besorgen? kann freilich, wenn wir nicht eine Utopie errichten wollen, nicht voraussetzungslos, nicht unbekümmert um alle Erfahrung beantwortet werden. Reformvorschläge, die in den maßgebenden Kreisen gehört und verwirklicht werden sollen, müssen sich an das Gegebene halten. In unserem Falle sind wir in der angenehmen Lage, daß sich das rechtspolitische Ideal der erdrückenden Mehrheit der Fachwissenschafter mit der rechtlichen Realität deckt. Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Staaten weist als vorherrschende, geradezu typische Organisationsform der Gerichtsbarkeit und Verwaltung im deutschen Staate das Berufsbeamtentum auf. Daran halten wir fest. Diese Lösung unserer rechtspolitischen Frage ist für mich, wenn mir eine persönliche Bemerkung gestattet ist, nicht erst die Frucht jüngster, unserem Tagungsgegenstand gewidmeter Studien, sondern ein lang ausge-

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reifter Gedanke, dem ich nach mancherlei einschlägigen Vorarbeiten in meiner Arbeit „Demokratie und Verwaltung" bereits vor acht Jahren mit eingehender Begründung Ausdruck gegeben habe. Mein im folgenden zu entwickelndes Reformprogramm wird demgemäß mehr konservativer als revolutionärer Natur sein. Die legislativpolitische Aufgabe auf unserem Rechtsgebiet sehe ich darin, die unserer Rechtsordnung eigentümliche Institution des Berufsbeamten reiner herauszuarbeiten und den Gefährdungen und Abbiegungen, denen sie durch die jüngste Entwicklung der Dinge ausgesetzt war, soweit dies rechtlich möglich ist, zu entrücken. Und Aufgabe unserer Tagung scheint es mir zu sein, durch die voraussichtlich fast einmütige Stellungnahme zu dieser Grundfrage einen Appell in diesem Sinne an alle Verantwortlichen zu richten. Wer es verantworten zu können glaubt, der mag diesen Appell überhören. Die Frage der Verantwortlichkeit für das Geschehen und Unterlassen in bezug auf diese Schicksalsfrage des deutschen Staates wird damit wenigstens eindeutig geklärt sein. Eine mächtige Autorität steht bei dieser Stellungnahme gegen alle Gegner dieser Forderungen auf unserer Seite: die Verfassung des Deutschen Reiches, neben der ich kaum noch die Verfassung Österreichs als Eideshelfer anzurufen brauche. Für jemanden, der ganz wie ich, auf dem Boden der Weimarer Verfassung steht, ist es begreiflicherweise eine wesentliche Erleichterung des gesetzgeberischen und administrativen Reformprogrammes, wenn es nicht um Haaresbreite von dieser Verfassungsgrundlage abzuweichen braucht. Es wäre übrigens trotz der Aktualität von Verfassungsreformen doch eine die Realisierbarkeit schwer beeinträchtigende Belastung eines Reformprogrammes auf dem beamtenrechtlichen Gebiete, wenn es Vorschläge zur Reform der Verfassung mitumfaßte. Die Vorschläge, die ich zu entwickeln die Ehre haben werde, lassen sich, soweit ich sehe, durchaus auf dem Wege einfacher Gesetzgebung, ja zum guten Teil auf dem Verwaltungswege verwirklichen. Dem durch frühere Ausführungen nahegelegten Einwand, daß sich meine Kritik an der Politisierung der Beamtenschaft mit dem demokratisch-parlamentarischen Prinzipe nicht vereinbaren lasse, da die Politisierung der Verwaltung eine notwendige, ja sogar wünschenswerte Konsequenz des demokratischen Parteienstaates sei, möchte ich schon jetzt entgegenhalten: Demokratie muß zwar durch Parteienherrschaft mediatisiert sein, doch sind die Parteien nur Exponenten des Volkes und nicht Selbstzweck des demokratischen Staates. Die Parteien haben zwar im Sinne der Demokratie dem Gesetze im Kompromißwege den Inhalt zu geben,

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haben sich aber eines Einflusses auf die Vollziehung des Gesetzes zu enthalten; die beliebten Versuche, das, was nicht in der Gesetzgebung an Parteiwünschen erreicht wurde, im Wege der Vollziehung durchzusetzen und dieserart das politische Glück zu korrigieren, sind nicht Sicherung, sondern Gefährdung und Aushöhlung des Volkswillens, sind autokratische Anwandlungen von Pseudodemokraten. Der Parteienherrschaft im Bereiche der Vollziehung Schranken setzen - und die wichtigste derartige Schranke ist ein parteipolitisch unbeeinflußt funktionierendes Berufsbeamtentum ist daher dem Idealtypus der Demokratie kongenial, wie wenig ihr auch der Realtypus der Demokratie entsprechen mag. Es ist also kein Widerspruch, zugleich den Volksstaat und das Berufsbeamtentum zu bejahen. Alle folgenden rechtspolitischen Forderungen stehen im Banne dieser doppelten Bejahung. Die Kardinalforderung aller Beamtenrechtsreform dient der Sicherung des Substrates dieser Reform: Das Berufsbeamtentum ist in seinem bisherigen Umfang, vorbehaltlich unwesentlicher Grenzverschiebungen, beizubehalten. Diese Forderung richtet sich gegen das Eindringen anderer Organisationstypen, und zwar besonders einerseits des Berufspolitikers, sei es nun in der Form des Wahl- oder Laienbeamten, andererseits des Angestellten, in die derzeit vom Berufsbeamten eingenommenen Stellungen in Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Der Haupttypus des Richters und Verwaltungsorganes hat demnach auch in Zukunft der Berufsbeamte zu bleiben. Das gegenwärtige Funktionsbereich des Berufsbeamten in Justiz und Verwaltung ist geschichtlich geworden, daher gewissermaßen okkasionell und nicht rationell von den Funktionsbereichen anderer Organtypen abgegrenzt. Daher müssen gewisse Grenzverschiebungen, die im ganzen das Funktionsbereich des Berufsbeamten unvermindert lassen, vorbehalten bleiben; mit einer unnachgiebigen Versteinerung des status quo wäre dem Prinzipe nicht gedient, nur im ganzen soll die Bürokratie keine Schmälerung ihres Besitzstandes erfahren. Im überkommenen Wirkungskreise des Berufsbeamten ist der Berufspolitiker in beiden denkbaren Gestalten unerwünscht: sowohl dergestalt, daß ein Politiker wegen dieser seiner Eigenschaft auf einen Beamtenposten berufen wird, so daß er zwar die Rechtsform des Berufsbeamten annimmt, um jedoch diese Form mit transzendentem parteipolitischem Inhalt zu erfüllen, als auch dergestalt, daß bisherige Berufsämter entbürokratisiert und zu Wahl- und Laienämtern gemacht werden. Bei gewissen formellen Berufsämtern, die sozusagen zum angestammten Besit-

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ze der Berufspolitiker geworden sind, scheint es mir allerdings folgerichtiger und ehrlicher, das Amt selbst rechtlich zu entbürokratisieren und zu politisieren, wie es in Österreich bei den Mitgliedern der Bundes- und Landesregierungen geschehen ist, um im übrigen den Besitzstand des Berufsbeamten um so strenger zu wahren. Das Eindringen fremder Elemente in die Berufsämter müßte durch die Aufstellung persönlicher Voraussetzungen für diese Ämter, insbesondere die Erfordernisse einer bestimmten Vorbildung und Vorbereitungszeit - Voraussetzungen, die ja vor allem die Gestaltung des fraglichen Amtes als Berufsamt rechtfertigen - verhindert und die Nichtbeachtung dieser rechtlichen Erfordernisse durch Nichtigkeit des Kreationsaktes sanktioniert werden. Sofern der Zuzug selbst rechtlich qualifizierter Politiker in Berufsämter sachlich unerwünscht ist, müßte durch Inkompatibilitätsvorschriften ein Riegel vorgeschoben werden. Ein durchaus wesensverwandtes Problem wie das Eindringen des Berufspolitikers in die Hoheitsverwaltung ist die Durchsetzung der privatwirtschaftlichen Verwaltung durch Funktionäre, die nicht der Bürokratie, sondern der freien Wirtschaft entnommen sind. Auch dieser im allgemeinen in den leitenden Posten erwünschten Durchsetzung des bürokratischen Apparates mit fremden Elementen müßten durch formelle Erfordernisse und Inkompatibilitätsvorschriften gewisse Schranken gezogen sein. Jedenfalls sollte die Entscheidung zwischen Berufsamt und Laien- oder Ehrenamt nicht nach Augenblickserwägungen im Einzelfall, sondern nach allgemeingültigen Gesichtspunkten schon in der gesetzlichen Ämterverfassung gezogen werden. Ja selbst die im Art. 129 RV und im Art. 21 BVG in Aussicht genommenen Grundsatzgesetze könnten obligatorisch vorschreiben, welche Ämter dem Berufsbeamten und welche dem Laien- und Ehrenbeamten vorzubehalten seien, um die actio finium regundorum zwischen diesen beiden Organisationsprinzipien nicht von den Zufälligkeiten der politischen Konstellation in den einzelnen Ländern abhängig zu machen und dadurch Wünsche rege zu erhalten, die Ämterverfassung nach dem Vorbilde des Nachbarlandes oder politisch gleichorientierten Landes zu reformieren. Eine gewisse Stabilität der konkurrierenden Organisationssysteme ist die Vorbedingung eines geordneten Funktionierens der Verwaltung; diese Stabilität wird aber am ehesten durch eine reichsgesetzliche Vereinheitlichung erzielt, über deren Aussichten ich mir allerdings ein Urteil versagen muß. Jedenfalls sollte auch die Nichtbeachtung einer solchen reichsgesetzlichen Demarkationslinie durch Nichtigkeit des Berufungsaktes sanktioniert sein.

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Lassen wir dem skizzierten legislativen Vorschlag die Begründung folgen, so muß vor allem dem Mißverständnis vorgebeugt werden, als gelte es, das Berufsbeamtentum, dessen Besitzstand hier so verteidigt wird, um seiner selbst willen zu sichern. Es ist uns in diesem Zusammenhang unbekümmert um die sozialen Werte, die es repräsentiert - doch nur ein Baustein im Systeme der Staatsorganisation, und nur seine Funktion im Staatsganzen vermag die ihm zugemessene Stellung zu rechtfertigen. Der Prüfstein eines Organapparates ist naturgemäß seine Eignung für die Erfüllung der ihm gesetzten Zwecke. Ein objektives Urteil wird den Organapparat am höchsten bewerten, der sich durch Sachlichkeit, Unparteilichkeit und Rechtlichkeit der Amtsführung auszeichnet. Es ist dann auch nur folgerichtig, dem Organisationssystem vor allen anderen den Vorzug zu geben, bei dessen Anwendung Gerichtsbarkeit und Verwaltung die eben genannten Wesenszüge aufweisen. Eine Begriffsanalyse des Berufsbeamtentums ergibt nun aber, daß ihm seiner Natur nach eher als seinem Konkurrenten, dem Laienbeamten und dem in das Berufsamt eingedrungenen Parteipolitiker diese Vorzüge der Amtsführung innewohnen, und die praktische Erfahrung in deutschen Landen bestätigt im großen und ganzen dieses theoretische Ergebnis. Gelegentliche abweichende Erfahrungen erklären sich nicht bloß daraus, daß natürlich auch das Berufsbeamtentum keine homogene Masse darstellt, die alle ihre Vorzüge in allen ihren Angehörigen in gleichem Maße zutagetreten ließe, sondern insbesondere auch aus dem Einfluß der Parteipolitik, die im Beamten weniger den Vollstrecker des Gesetzes als das Instrument des Parteiwillens sucht und daher zwischen verschiedenen Bewerbern nur zu oft dem gefügigen Diener der Partei vor dem unbeugsamen Diener des Gesetzes den Vorzug gibt. Die naiven, politischen Zielen dienende Deutung der Verwaltung des Gegenwartsstaates in der Theorie des Bolschewismus hat bekanntlich vermeint, sie auf eine Summe von Kontrollund Registrierungstätigkeiten zurückführen zu können. Das Gegenteil ist richtig. Je stärkere staatssozialistische Tendenzen eine Verwaltung verfolgt - und solche finden sich in jedem sogenannten kapitalistischen Staat - , desto ferner liegt ihr der ihr angedichtete Primitivismus, desto mehr gelten für sie die allgemeinen wirtschaftlichen Erfordernisse der Arbeitsteilung und Berufsspezialisierung. Ein Privatunternehmer, der Qualitätsarbeit sucht, würde sich nicht mit der Arbeitsleistung des Herrn Jedermann abfinden, sondern gibt ceteris paribus dem Bewerber, der sich in der Branche spezialisiert hat und die besten Fachkenntnisse und fachliche Erfahrung verspricht, den Vorzug. Das Laienbeamtentum bedeutet das gerade gegen-

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teilige Ausleseprinzip. Hier ist die fachliche Qualifikation für das Amt, die gewiß mitunter selbst in viel höherem Maße als beim Berufsbeamten vorliegen kann, doch kein rechtliches Erfordernis, sondern ein Zufall. Verwalten ist ja nicht Selbstzweck, etwa dazu da, dem damit betrauten Organ die Annehmlichkeiten einer Organstellung zu verschaffen; Verwalten ist vielmehr die Bewerkstelligung bestimmter für erforderlich erachteter und daher dem Staat übertragener sozialer Leistungen. Das setzt Kenntnisse und Erfahrungen auf dem betreffenden Fachgebiete voraus. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Erforderlichkeit einer Geschäftsverteilung zwischen Laienbeamtentum und Berufsbeamtentum, die dem letzten den Großteil der Verwaltungsposten eines modernen Staates vorbehält. Der Journalist z.B., der einen guten Innenminister abgibt, wäre als Leiter einer vornehmlich zur Rechtsanwendung berufenen Unterbehörde unangebracht. Der Gewerkschaftsbeamte, der etwa als Sozialminister durchaus seinen Mann stellt, würde als Arbeitsinspektor völlig versagen, und ein Laie ist zwar als Unterrichtsminister oder Heeresminister denkbar, könnte aber doch nicht mit einem ihm unterstellten Schulmann oder Truppenkommandanten die Rolle tauschen. So sind dem Eindringen des Laienbeamten in den Verwaltungsapparat aus dem Erfordernisse der Sachlichkeit naturgemäße Schranken gesetzt, die freilich nicht in allen Fällen so auf den ersten Blick einleuchten, wie in den eben gebrachten Beispielen, und daher bei der herrschenden, durch eine falsche demokratische Ideologie verkleideten Demokratisierungstendenz nur zu leicht überschritten werden. In dieselbe Richtung weist der weitere Vorzug des Berufsbeamtentums vor dem Laienbeamtentum, seine relativ stärker ausgeprägte Unparteilichkeit. Dieser Vorzug macht sich vorzugsweise in der Hoheitsverwaltung sowie in der Gerichtsbarkeit, und zwar um so stärker geltend, je mehr das Amt moralische Autorität erfordert. Der Untertan, der mit der Obrigkeit in Berührung kommt, muß das Bewußtsein, ja die Gewißheit haben, daß er sozusagen ohne Ansehen der Person behandelt wird und daß insbesondere seine parteipolitische Einstellung für die Erledigung des Falles belanglos ist. Eine Amtsausübung, die diesem Erfordernisse der Unparteilichkeit nicht gerecht wird, ist zumindest im moralischen Sinne ein Mißbrauch der Amtsgewalt. Nun ist es aber für den zu Amt und Würden gelangten Politiker mitunter eine fast übermenschliche Zumutung, gerade dann, wenn er Gelegenheit hat, dem Parteivorteil zu dienen, den Parteimann abzustreifen und auf eine Ausnutzung des Amtes im Dienste der Partei zu verzichten. Ein solcher Verzicht wird um so schwerer, als in der herrschenden Auffassung die Erraffung von

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Vorteilen für die Partei durchaus nicht in derselben Weise beurteilt wird, wie dieselbe Haltung zugunsten des Amtsträgers selbst. Für den Untertanen kommt es aber auf dasselbe heraus, ob er zugunsten des Privatvorteiles des Amtsorganes oder des Parteivorteiles einer ihm gleichgültigen oder unsympathischen Partei benachteiligt wird. Der Berufsbeamte bietet nun dank der Natur seiner Organstellung unstreitig eine höhere Gewähr der Unparteilichkeit. Dabei sehen wir von der spezifischen Berufstradition des deutschen Beamten ab, die ihm Unparteilichkeit als eine der obersten Berufspflichten vorgezeichnet hat. Der allgemeingültige Grund seines Vorzuges in dieser Hinsicht ist darin zu suchen, daß er nicht wie der zu Verwaltungsämtern berufene Parteimann im Parteidienste aufgewachsen ist und nun der Schwierigkeit unterliegt, diese Erziehungsfrucht sozusagen verleugnen zu müssen, sondern daß er im Gegenteil aus der Berufsschulung in der Regel unmittelbar in die Schule seines Amtes eintritt, der Unparteilichkeit als Berufsethos vorgezeichnet ist. Die Gefahren einer parteilichen Amtsführung des Berufsbeamten, die gewiß vorhanden, und in der Entwicklung des Beamtenstaates, diesen gewissermaßen unterminierend, großgeworden sind, kommen im allgemeinen nicht aus der Mentalität des Berufsbeamten, sondern aus einer legitimen oder illegitimen Beeinflussung von Seite des vorgesetzten Inhabers eines Wahlamtes. Zwei Wege gibt es, diese Influenzierungsmöglichkeiten der Amtsführung des Berufsbeamten im Sinne einer wie immer orientierten Parteilichkeit abzuschwächen: Sicherung der Berufsstellung durch Unauflöslichkeit des Dienstverhältnisses, außer in den Fällen von Dienstwidrigkeiten, und Gewährung eines Prüfungsrechtes gegenüber den Weisungen auf ihre Unparteilichkeit, mindestens soweit sie die Gesetzmäßigkeit der Amtsführung in Frage stellen. Auf diese gesetzgeberischen Probleme wird noch in einem späteren Zusammenhang zurückzukommen sein. Der letzte entscheidende Vorzug des Berufsbeamten vor dem Politiker liegt in der höheren Gewähr der Rechtmäßigkeit seiner Amtshandlungen; diese Gewähr bietet an sich schon die Organstellung des Berufsbeamten dank seiner regelmäßig unpolitischen Herkunft und seiner lebenslänglichen Widmung an den Beruf, und wird überdies noch durch Rechtseinrichtungen wie das Disziplinarrecht gesteigert. Der Politiker in der Verwaltung wie in der Justiz ist dagegen infolge seiner Herkunft und der zeitlichen Beschränkung seines Amtes eher geneigt, seine eigentliche Aufgabe weniger in der Vollziehung des Rechtes als der Wünsche seiner Partei, sei es auch auf Kosten der Rechtmäßigkeit seiner Amtsführung, zu erblicken. Erst dadurch wird jedoch das aus dem Parteiwillen geborene Gesetz zu einer objektiven

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Norm, daß seine Wirkung durch eine parteipolitisch neutrale Justiz und Verwaltung mediatisiert wird. Gelingt es typischerweise dem Berufsbeamten, die Subjektivität der Rechtserzeugung durch objektive Rechtsanwendung zu neutralisieren und somit die in der Gesetzgebung auftretende Parteiherrschaft zu sublimieren, so macht die zusätzliche Parteipolitik in Gestalt einer parteipolitisch orientierten, wo es der Parteivorteil gebietet, auch rechtswidrigen Konkretisierung der Norm, also die Kumulierung parteipolitischer Gesetzgebung mit parteipolitischer Verwaltung und Justiz, die Parteiherrschaft gehässig und verhaßt. Dank dieser Hüterrolle gegenüber dem Gesetze wird nun gerade der Berufsbeamte durchschnittlich eher als der in der Verwaltung und Gerichtsbarkeit tätige Politiker zum Repräsentanten des Volkes - vorausgesetzt, daß das Gesetz auf demokratischem Wege erzeugt wird - und der Parteipolitiker in Verwaltung und Justiz zur Gefahr der Demokratie. Denn während dieser geneigt ist, die Politik in Form der Gesetzgebung durch Politik auf dem Wege sogenannter Vollziehung fortzusetzen, damit aber den im Gesetz zum Ausdruck gelangten Volkswillen unter Umständen zu sabotieren, wenn er seinem politischen Ziel nicht entspricht und somit die „Vollziehung" - die ihren begrifflichen Sinn nur aus dem vollzogenen Gesetz empfängt - zu denaturieren, ist der gesetzestreu eingestellte Berufsbeamte Instrument des Volkswillens. Die tiefe Gegensätzlichkeit der beiderseitigen, nur allzu häufigen, beinahe typischen Einstellung zum Gesetze zeigt sich in dem Konfliktsfalle, wo der vorgesetzte Politiker dem untergebenen Berufsbeamten ausdrücklich oder wenigstens unmißverständlich zumutet, gegen das Gesetz zu handeln oder wenigstens für sein gesetzwidriges Handeln die juristische Begründung beizusteuern: ein Konfliktsfall, der, wie immer ihn auch das Recht lösen mag, aus dem Berufsethos des Berufsbeamten zu der Entscheidung drängt, dem Vorgesetzten den Gehorsam zu verweigern und dem Gesetze Treue zu halten. Auch diese Vorzüge des Berufsbeamten können positivrechtlich geschützt werden durch die Gewährleistung der Lebenslänglichkeit seines Amtes und durch ein Prüfungsrecht, das ihm erlaubt, selbstverständlich auf eigene Gefahr und unter Kontrolle der Disziplinarbehörde, gesetzwidrige Befehle zu vernachlässigen. Im Vergleiche mit der erörterten Abgrenzung der Wirkungsfelder des Berufsbeamten und Berufspolitikers erscheint mir die in der Literatur meist in den Vordergrund gestellte Auseinandersetzung zwischen dem Beamten im engeren Sinne und dem Angestellten, objektiv gesprochen, die Ausein-

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andersetzung zwischen öffentlich-rechtlichem und privat-rechtlichem Dienstverhältnis, als Problem zweiten Ranges. Trotzdem sind Angriffe auf diese überkommene Ordnung und im besonderen wesentliche Eingriffe in den Besitzstand des Beamten abzulehnen. Die Bedeutung der rechtspolitischen Frage nach dem Wirkungsfeld der beiden Organkategorien hängt indes ganz und gar von dem besonderen positivrechtlichen Inhalt der beiden Dienstrechtsformen ab. Man wird z.B. dem Probleme der Funktionszuteilung an die beiden Organtypen eine sehr verschiedene Bedeutung beimessen, je nachdem, ob die beiden Rechtsinstitute einander so angenähert sind, wie z.B. im österreichischen Rechte wenigstens gewisse Gruppen dem bürgerlichen Recht unterstellter Dienstnehmer den „pragmatischen Angestellten" angeglichen sind, oder ob zwischen den beiden Gruppen positivrechtlich eine Kluft von der Tiefe besteht, daß das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis unbedingt lebenslänglich, das privatrechtliche dagegen jederzeit beliebig auflösbar ist, oder daß das eine Dienstverhältnis allein durch die Treue gekennzeichnet ist, wogegen das andere Dienstverhältnis eine Treuepflicht ausschließt. Und man sollte nicht vernachlässigen, daß legislativpolitische Vorschläge nicht einfach vor der Alternative: öffentlich- oder privat-rechtliches Dienstverhältnis stehen, sondern daß sich auch, falls gegen eine solche radikale Lösung unüberwindliche Widerstände bestehen, Kompromißlösungen von der Art darbieten, daß die fragliche Gruppe von Dienstnehmern einem Sonderrechte unterstellt wird, welches Eigenschaften des einen wie des anderen Dienstrechtstypus aufweist und nur a potiori dem einen oder anderen Dienstrechtstypus zugeordnet wird, ohne daß aber die Anwendung der öffentlichrechtlichen oder privatrechtlichen Dienstrechtskategorie rechtspolitisch so beurteilt werden dürfte, als käme eine extreme Form dieser beiden Dienstrechtskategorien in Frage. Es wäre Doktrinarismus, das privatrechtliche Dienstverhältnis um dieser seiner Form willen in der Hoheitsverwaltung überhaupt ablehnen zu wollen, falls die Rechtsordnung dem rechtspolitischen Erfordernisse stärkerer Bindungen des Dienstnehmers durch eine besondere Ausgestaltung der Dienstordnung, etwa durch Statuierung einer strengen Amtspflicht und deren Kompensierung durch Unkündbarkeit des Dienstverhältnisses, Rechnung trägt. Infolge dieser Variationsmöglichkeit beider Dienstrechte ist es schwer, zwischen ihren Anwendungsbereichen eine allgemeingültige Grenze zu ziehen und muß man wohl einen gewissen Spielraum lassen, innerhalb dessen die Bedürfnise des

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Dienstes und auch die Wünsche der Dienstnehmer berücksichtigt werden können. Man kann im allgemeinen wohl sagen, daß der Justiz und der Hoheitsverwaltung das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis, der privatwirtschaftlichen Verwaltung das privatrechtliche Dienstverhältnis angemessener ist. Man kann vielleicht soviel verlangen, daß jedes Organ, das berufsmäßig Befehls- oder Zwangsakte setzt, rechtlich als Beamter ausgezeichnet sei, um damit dem Organ und allenfalls auch der Bevölkerung, mit der es in Berührung kommt, durch die Besonderheit der Organstellung (abgesehen von der Eigentümlichkeit der Kompetenz) zum Bewußtsein zu bringen, daß das Organ das Vorrecht und die Verantwortung der Ausübung von staatlichem Imperium hat. So ist das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis unter anderm zu fordern für Berufsrichter, Polizeibeamte, Steuerbeamte, Vollstreckungsbeamte, Gewerbeinspektionsbeamte, Beamte des Schulaufsichtsdienstes, und zwar ausnahmslos, so daß auch insbesondere der Vorbereitungsdienst in diesen Dienstbereichen in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis zurückgelegt werden müßte und selbst die aushilfsweise Verwendung von Vertragsangestellten zu derartigen obrigkeitlichen Verrichtungen abzulehnen wäre. Aber auch für sonstige, nicht gänzlich oder vorwiegend obrigkeitliche Dienstesverwendungen ist das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis ausnahmslos am Platze, und zwar einerseits bei Agenden, mit denen der Staat (im Sinne sämtlicher Gebietskörperschaften verstanden) im engsten Sinne Kulturzwecken dient und wo er eine monopolistische Stellung innehat. Das Erste trifft vor allem von dem Lehrpersonal sämtlicher öffentlicher Unterrichts- und Erziehungsanstalten von der Universität bis zur Volksschule zu, ferner vom Personal wissenschaftlicher Institute, öffentlicher Krankenanstalten, Forsten der Gebietskörperschaften, wobei es sich ja nicht um die Erzielung von Gewinnen, sondern um die besondere Bewirtschaftung eines Stückes Nationalvermögens handelt; das Zweite von der Post und von der Verwaltung echter Finanzmonopole, wie in Österreich etwa das Tabakmonopol und das sogenannte Salzregal. In den genannten Fällen symbolisiert die Eigenart des Dienstverhältnisses und dessen Übereinstimmung mit dem Dienstrecht der reinen Hoheitsverwaltung die enge Verknüpfung dieser Verwaltungsaufgaben mit dem Staate, die darin zum Ausdruck kommt, daß sich der Staat diese Aufgaben entweder zur ausschließlichen Besorgung vorbehalten hat oder daß er sie, wenn er insoweit mit Privatunternehmungen mehr oder weniger konkurriert, doch in einem grundsätzlich anderen Sinn und Geist erfüllen will als diese (öffentliche Schule - unternehmungsweises Erziehungsinsti-

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tut, öffentliche Krankenanstalt - Privatsanatorium, der Walderhaltung dienende Staatsforste - als Holzproduktionsunternehmung dienende Privatforste). Dieselbe ratio trifft übrigens für alle Betriebe öffentlicher Körperschaften mit Ausnahme der reinen Erwerbsanstalten zu. Aber es ist damit doch bereits ein Gebiet betreten, wo man dem privat-rechtlichen Dienstverhältnis auch Raum geben kann. Man denke an die Staatstheater, wo das öffentlichrechtliche Dienstverhältnis, repräsentiert durch in Rangsklassen eingeteilte pragmatische Schauspielbeamte, doch nicht bloß befremdlich aussähe, sondern auch durchschnittlich zu dem entgegengesetzten Ergebnis wie anderweitig führen, nämlich das Niveau der Leistungen eher herabdrücken als heben könnte. Dagegen scheint mir das je nach dem Ausgreifen der staatssozialistischen oder staatskapitalistischen Strömung mehr oder minder weite Gebiet erwerbswirtschaftlicher Unternehmungen der öffentlichen Körperschaften, wozu trotz aller Beschönigungsversuche die Verkehrsunternehmungen zu gehören pflegen, als mögliches, wenn nicht gar wünschenswertes Anwendungsbereich des privatrechtlichen Dienstvertrages. Damit soll natürlich nicht dokumentiert werden, daß es sich um Tätigkeiten handle, an denen die Allgemeinheit nur geringeres Interesse hat, oder daß es sich um Tätigkeiten handle, die dem Staate eigentlich fremd sind - Staat und Recht sind mögliche Formen für sämtliche gesellschaftliche Zwecke - , sondern es soll damit den öffentlichen Körperschaften eine größere wirtschaftliche Beweglichkeit und eine rechtliche Parität mit privaten Konkurrenten auf diesem Gebiete gesichert werden; die Rechts- und Wirtschaftslage ist ja doch für den Staat als Unternehmer mitunter eine ganz andere, je nachdem, ob er eine privatwirtschaftliche Unternehmung in denselben Rechtsformen wie irgendein privater Unternehmer betreiben kann oder ob er dabei an die Rechtsform des öffentlichen Dienstes gebunden ist; andererseits wird es aber aus sozialen Gründen unhaltbar sein, dem Staate als privatrechtlichem Dienstgeber volle Vertragsfreiheit zu belassen, sondern ist es ein sozialpolitisches Gebot, durch Dienstordnungen das privatrechtliche Dienstverhältnis in diesem seinem Anwendungsbereich dem öffentlich-rechtlichen in gewissen Punkten (Erschwerung der Auflösung des Dienstverhältnisses, disziplinare Verantwortlichkeit usw.) anzugleichen, wobei man ja wiederum aus Gründen der rechtlichen und wirtschaftlichen Parität den Privatunternehmer auf diesen Gebieten dem öffentlichen Unternehmer gleichstellen kann. Das müßte selbstverständlich ausgeschlossen werden, daß innerhalb ein und desselben Organapparates die Frage des Dienstverhältnisses individuell behandelt werden kann, was darauf hinausläuft, daß die Zubilligung

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der einen oder der anderen Rechtsstellung zu einer Frage der größeren Protektion wird. Es ist selbstverständlich ein Unding, wenn es in Österreich vorkommt, daß langgediente wissenschaftliche Funktionäre staatlicher Anstalten in einem jederzeit kündbaren Vertragsverhältnis stehen, wogegen Hilfspersonal an derselben oder an ähnlichen Anstalten die Annehmlichkeiten des pragmatischen Dienstverhältnisses genießt. Die wenigen Beispiele haben wohl gezeigt, daß infogle der Vielgestaltigkeit der Staatsfunktionen das Problem der Dosierung des öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Dienstnehmers so kompliziert und überdies zeitgebunden ist, daß gerade insoweit ein wissenschaftliches Forum zur Aufstellung allgemeingültiger Richtlinien für alle Arten von Dienstnehmern am wenigsten berufen erscheint. Nur das eine sei hierzu abschließend noch bemerkt, daß es mitunter ein unnötiger und unfruchtbarer Kampf ist, wenn man gegen das eine oder das andere Dienstverhältnis als solches ankämpft, sondern daß es dem vorschwebenden Ziele meist dienlicher ist, sich darum zu bemühen, daß je nach der Verwendungsart dem einen wie dem anderen Dienstverhältnis durch einseitige Dienstrechtsnorm oder durch die lex contractus der jeweils erwünschte oder befriedigende Inhalt gegeben werde, wie es in Österreich die sogenannte Kategorisierung der pragmatischen Angestellten und die Aufstellung von Sonderdienstordnungen für die wichtigsten Gruppen der Vertragsangsteliten mit unbestrittenem Erfolg versucht haben. Jedenfalls muß man aber fordern, daß die actio finium regundorum der beiden Dienstformen für alle Dienstnehmer der öffentlichen Körperschaften durch Gesetz erfolge, um so ein administratives Ausspielen der einen gegen die andere Angestelltengruppe und gar Willkür im Einzelfalle durch Zubilligung des einen oder des anderen dienstrechtlichen Charakters auszuschließen. Die Reichsverfassung bietet zu diesem Ziel eine eindeutige Handhabe, die österreichische Bundesverfassung hingegen ermöglicht nur die bundesgesetzliche Vorschrift, daß die öffentlichen Körperschaften sämtliche Angestellte, die behördliche Aufgaben zu besorgen haben, einem öffentlichrechtlichen Dienstrecht unterstellen, während sich die Bundesgesetzgebung in die Fragen des Dienstrechtes aller übrigen Landesangestellten sowie sämtlicher Gemeindeangestellter nicht einmischen darf. Die Fragen der inhaltlichen Gestaltung des Beamtenrechtes sind nicht nur uferlos, sondern auch zum überwiegenden Teile nicht von prinzipieller Bedeutung. Es muß daher bei der Aufrollung dieser Probleme ein eklektisches Verfahren eingeschlagen werden, das, sowohl was den Gegenstand als

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auch was seine Behandlungsweise betrifft, dem Schein der Willkürlichkeit ausgesetzt ist. Ich beschränke mich bei diesem Überblick auf Fragen, die für die grundsätzliche Regelung nach Art. 128 der Reichsverfassung und Art. 21 der österreichischen Bundesverfassung in Betracht kommen. Die folgenden Ausführungen wollen daher auch als Leitgedanken oder Richtlinien für diese grundsätzliche Regelung des Beamtenrechtes verstanden werden. Die grundlegende Frage der Bestellung eines Beamten oder der Begründung eines Beamtenverhältnisses ist vielleicht die umstrittenste unter sämtlichen Beamtenrechtsproblemen. Denn schon in die Beantwortung dieser Frage legen die Vertreter der beiden widersprechenden Hauptrichtungen der Beamtenpolitik ihre gegensätzlichen Auffassungen. Soll der Kreationsakt ein Hoheitsakt oder ein Vertrag sein; das ist die Alternative. Die Antwort liegt freilich nicht schon im Wechsel des Ausdruckes, in der Wahl des Wortes „Anstellung" oder „Vertrag", sondern erst in der Gestaltung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen der so benannten Akte. Aus meiner konservativen Grundeinstellung in Beamtenrechtsfragen komme ich zu der Forderung, am eingebürgerten Ausdruck „Anstellung" als Bezeichnung des Aktes, durch den eine Person Beamter wird, festzuhalten und lehne mithin den Ausdruck Vertrag ab. Es liegt mir aber völlig fern, mit dem Ausdruck Anstellung den Nimbus des Gewaltverhältnisses, von dem ich schon eingangs unseren Verwaltungsakt entkleidet zu haben glaube, irgendwie einzufangen und festzuhalten; ich ziehe den Ausdruck Anstellung dem Ausdruck Vertrag lediglich im Interesse rechtlicher Klarheit vor. Wer an zwei Typen von Dienstverhältnissen zu den öffentlichen Körperschaften festhält, der sollte diese Zweiheit schon durch den Wechsel des Ausdruckes andeuten. Es wirkt irreführend, durch die einheitliche Bezeichnung Vertrag für alle Arten von Dienstverhältnissen den Schein eines einheitlichen Dienstrechtes zu erwecken und dann doch an den „Vertrag", ja nachdem, ob er ein Vertrag im Sinne des Beamtengesetzes oder des Bürgerlichen Gesetzbuches ist, verschiedene Rechtsfolgen zu knüpfen. Wird in der Niederschrift oder Urkunde des Vertrages nicht ausdrücklich das Beamtengesetz bezogen, so könnte hernach die Streitfrage auftauchen, ob auf den konkreten Vertrag das Beamtengesetz oder das bürgerliche Gesetzbuch anzuwenden ist. Dies ist insbesondere gegen den rechtstechnisch sonst gewiß sehr gut durchgearbeiteten Entwurf des Beamtengesetzes des „Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes" einzuwenden, - ein Entwurf, der in diesem entscheidenden Punkte einem gewissen Doktrinarismus die Forderung der Klarheit zum Opfer

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bringt. Bezeichnend für die Eingelebtheit und Erwünschtheit des Ausdruckes Anstellung ist, daß selbst dieser „anstellungsfeindliche" Entwurf den Dienstvertrag auf Seite des Dienstgebers - absichtlich oder unabsichtlich - von der „Anstellungsbehörde" abschließen läßt. Mit der Bezeichnung Vertrag für den Entstehungsakt des Beamtenverhältnisses könnte ich mich nur unter der - von mir freilich ebenfalls abgelehnten - Voraussetzung abfinden, daß man auf ein eigenes verwaltungsrechtlich konstruiertes Beamtenrecht verzichtet und sich für eine im Rahmen des Bürgerlichen Gesetzbuches geltende Dienstordnung als Grundlage des Dienstverhältnisses entscheidet. Doch auch mit dem Ausdruck „Berufungsurkunde", den der minutiöse Entwurf des „Deutschen Beamtenbundes" einführen will, könnte ich mich nicht befreunden. Wenn man weder eine inhaltliche Kongruenz von privatrechtlichem Vertragsverhältnis und verwaltungsrechtlichem Anstellungsverhältnis herbeiführen noch auch eine Annäherung zwischen diesen beiden Rechtsfiguren durch einen gemeinsamen Ausdruck andeuten, sondern wie der in Rede stehende Entwurf am Unterschied des Rechtsverhältnisses wie des Ausdruckes festhalten will, dann ist es überflüssig, von dem vielleicht nicht besonders wohlklingenden, aber nun einmal in der Rechtssprache eingebürgerten Ausdruck „Anstellung" abzugehen. An sich verrät das Wort Anstellung nur, daß es sich um etwas anderes als den privatrechtlichen Vertrag handelt. Die Unterschiede der Anstellung vom privatrechtlichen Vertrag hat nicht eine juristische Wortauslegung in jenen Ausdruck hineinzugeheimnissen, sondern hat die Rechtsordnung auszusprechen. Vor allem wäre obligatorische Festlegung der Schriftform und Beobachtung eines bestimmten Textes als condicio sine qua non für die Entstehung des Beamtenverhältnisses zu fordern. Um dem rechtspolitischen Erfordernisse zu genügen, daß die Anstellung nicht ein Pflichtamt, sondern ein freiwilliges Amt begründet, müßte die Anstellungsurkunde entweder durch vorgängigen Antrag (Anstellungsgesuch) oder durch nachträgliche Zustimmung des Anzustellenden bedingt sein und erst an das Zusammentreffen dieser beiden Willensklärungen die Folge der Begründung der Beamteneigenschaft geknüpft sein. Falls man sich nicht für die Aufstellung der Bewerbung von Seite des Anzustellenden als ausschließliche Bedingung der Anstellung entschließt, sondern auch die Anstellung unter Resolutivbedingung der nachträglichen Zustimmung des Anzustellenden zuläßt, müßte selbstverständlich diese Zustimmungserklärung befristet sein und die Nichteinhaltung der Frist Unwirksamkeit der Anstellung herbeiführen. Die skiz-

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zierte Rechtsform der Anstellung würde ihre Natur als zweiseitiges Rechtsgeschäft, das man je nach Wunsch theoretisch auch als öffentlich-rechtlichen Vertrag qualifizieren könnte, erkennen, aber doch auch wieder den Unterschied vom bürgerlich-rechtlichen Arbeitsvertrag kaum übersehen lassen. Die geltende Rechtslage, die Walter Jellinek am Beispiel des Feldhüters so drastisch schildert, welcher dies durch ein Mißverständnis der Behörde ahnungslos geworden ist und nun zusehen mag, wie er die unerwünschte Würde und Bürde dieses Amtes losbekommt, scheint mir denn doch der Bedeutung unseres Kreationsaktes nicht gerecht zu werden. Die Rechtsfigur der Anstellung sollte nicht an der doktrinären Forderung orientiert sein, möglichst den Schein eines Hoheitsaktes und möglichst wenig an Vertragselementen aufzuweisen, sondern sollte lediglich der sachlichen Forderung genügen, daß ein Mensch durch Behändigung einer behördlichen Urkunde bestimmten Inhaltes, aber nur unter der weiteren Voraussetzung seiner vorher oder nachher ereilten Einwilligung, Beamter wird. Handelt es sich bei der Form der Berufung des Beamten nur um eine rechtstechnische Frage von begrenztem Interesse, so ist das Problem der Voraussetzungen der Berufung eines Beamten von weitesttragender politischer Bedeutung. Denn die positivrechtliche Antwort auf diese Frage entscheidet durch die Aufstellung persönlicher Erfordernisse für das Amt nicht nur darüber, ob von Rechts wegen die Ämter für die große Masse der Staatsbürger oder nur für eine Schicht privilegierter, nämlich durch Studien und Prüfungen qualifizierter Staatsbürger zugänglich sind, sondern insbesondere auch darüber, ob tatsächlich der Zutritt zum Staatsdienst jedem Staatsbürger ohne Rücksicht auf sein Parteibekenntnis und seine Beziehungen oder nur dem Parteigänger offensteht. Wenn man von der Tatsache absieht, daß die Bestellung eines Staatsorganes unvermeidlich einen aristokratischen Zug an sich trägt, weil hierdurch ein Staatsbürger aus der Reihe seiner Mitbürger durch ein Plus an Berechtigungen und allerdings auch Verpflichtungen herausgehoben wird, so bedeutet es doch wiederum das Höchstmaß an Demokratie in diesem unvermeidlichen Ausleseprozeß der Organbestellung, wenn der Kreis der Ämterfähigen dem Kreise der körperlich und geistig gereiften Staatsbürger möglichst nahe kommt; dagegen ist es ein die unvermeidlich aristokratische Tendenz der Organbestellung mehr als nötig einengendes Ausleseverfahren, wenn rechtlich oder tatsächlich weiter einschränkende Bedingungen gemacht werden. Das gilt nun aber für

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die Organberufung gewiß nicht minder, wenn Parteischranken, als wenn Bildungsschranken aufgerichtet werden. Und nur wer geistig ganz in den Parteienpferch eingefangen ist, kann übersehen, daß die Schranke der Parteicouleur undemokratischer als die Bildungsschranke ist. Denn abgesehen davon, daß ein bestimmtes Bildungsgut natürliches Erfordernis gewisser Ämter ist, was man gleicherweise von der Parteifarbe nicht feststellen kann, ist die Bildungsschranke heutzutage erfreulicherweise leichter überwindbar geworden, da Bildung nicht mehr ein Privileg der Besitzenden ist. Hingegen zeigt unendlich häufige Erfahrung, daß der Mangel der Parteizugehörigkeit nur zu oft auch für den sachlich Berufensten den Zutritt zu den öffentlichen Ämtern erschwert. Womöglich noch gehässiger macht sich das, wenn auch nicht rechtliche, so doch tatsächliche Erfordernis eines bestimmten Parteibekenntnisses in der weiteren Laufbahn des Beamten geltend. Es ist geradezu die Crux des Beamtenproblems, den Bewerber um ein Amt und den Beamten selbst aus der quälenden Alternative herauszuführen, entweder eine politische Gesinnung an den Tag legen zu müssen, die er nicht teilen kann, oder gegenüber dem Gesinnungstüchtigeren oder Charakterloseren das Nachsehen zu haben. Hier stoßen aber alle Reformwünsche an das wie eine eiserne Wand sich auftürmende Hindernis, daß die über die Klinke des Staatsgebäudes verfügende Partei aus zwingenden Parteiinteresse oft nur den Bewerber einlassen will, der den Staatsdienst mit dem Parteidienst zu vereinbaren verspricht, und daß sie überdies Parteidienst mit Staatsdienst belohnen will. Und selbst wenn in der Erwartung der Gegenseitigkeit der Anhänger der gegnerischen Partei auf ein gewisses Maß an Duldung rechnen kann, - der Mut der Parteilosigkeit wird doch, von Ausnahmefällen abgesehen, mit Ämterlosigkeit bestraft. Sind wir wirklich mit Ottmar Bühler zu dem resignierten Eingeständnis gezwungen, „daß Berücksichtigung der Parteien nach ihrer Stärke bei der Ämterbesetzung etwas in einer Demokratie Unvermeidliches ist?" Doch selbst diese quotenmäßige Kontingentierung der Bewerber auf mehrere Parteien wäre ein Fortschritt gegenüber der so beliebten Monopolisierung der Ämter für die jeweils herrschende Partei oder einzelner Ressorts für die Partei des gegenwärtigen Ressortministers. Rechtliche Schranken für diese Methode der Ämterbesetzung vorzuschlagen, erschiene gegenwärtig leider als müßiges Beginnen. Dagegen wären doch Versuche in der Richtung zu machen, daß das berufliche Vorwärtskommen so weit wie möglich von der parteipolitischen

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Haltung des Beamten während seiner Berufstätigkeit durch Rechtsgarantien unabhängig gemacht werde. Darum ist es vor allem das höchste sachliche Erfordernis, daß das Amt lebenslänglich gestaltet werde. Denn bei Periodizität der Ämter wäre nach den gegenwärtigen Verhältnissen die parteipolitische Haltung des Beamten für seine Wiederbestellung ausschlaggebend. Selbst eine gewisse Versteinerung des Beamtenkörpers durch eine weitgehende Privilegierung der dienstlichen Anciennität und durch rechtlich gewährleistetes Zeitavancement ist im Durchschnitt jener Ermessensfreiheit bei der Beförderung vorzuziehen, die das Postulat „Dem Tüchtigen freie Bahn" dahin deutet, daß der Gesinnungstüchtige der Tüchtigste sei. Der Deutsche sollte sich nicht scheuen, das Bessere aus der Fremde zu holen, auch wenn z.B. Frankreich relativ mustergültig ist. Unter Benützung französischer Rechtseinrichtungen und aktueller Reformvorschläge wäre etwa zu fordern, daß ein möglichst großer Kreis von Dienstposten nur auf Grund der Vorschläge einer mit möglichster Unabhängigkeit ausgestatteten Beförderungskommission, die vorwiegend aus aktiven und pensionierten Ressortbeamten zusammenzusetzen ist und auch nur in der von dieser Kommission bestimmten Reihenfolge besetzt werden darf. Das Ermessen dieser Kommission bei der Beurteilung und Reihung der Kandidaten könnte wiederum durch ein Bewerbungsrecht der Kandidaten und durch die Vorschrift, Kandidaten, die bestimmte Bedingungen erfüllen (bessere Prüfungen, bessere Dienstbeschreibung und dergleichen), den Vorrang einzuräumen, beschränkt werden. Selbstverständlich müßten auch gesteigerte Sicherheiten gegen eine Günstlingswirtschaft bei der Beschreibung geboten werden. So ließe sich gewiß ein System von Sicherungen finden, die dem sachlich Qualifizierten unabhängig vom Parteibekenntnis eine Gewähr des Vorwärtskommens auch ohne Gesinnungs- und Charakteropfer böten. Den realpolitischen Notwendigkeiten könnte nichtsdestoweniger durch die Bestimmung Rechnung getragen werden, daß ein gewisser Kreis leitender Ämter von diesem Régime gebundener Besetzung ausgenommen und der freien (allenfalls also parteipolitisch determinierten) Besetzung durch Regierung oder Minister vorbehalten wird. Nur bei solchem Systemwechsel wird das Berufsbeamtentum dem Schicksal einer maskierten Parteigarde entzogen und seinem verfassungsmäßigen Berufe des Dienstes für die Gesamtheit gegeben werden können. Jedenfalls scheint mir diese Reform der Beamtenbestellung bedeutsamer als jede Reform am Inhalt des Beamtenverhältnisses, mag diese nun die Seite der Pflichten oder der Rechte des Beamten betreffen.

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In der Reihe der Pflichten des Beamten werden jedenfalls aufscheinen müssen: Die Pflicht zur eifrigen und gewissenhaften Erfüllung der Amtsgeschäfte; implizite liegt schon darin das Verbot einer sinnwidrigen Dienstleistung, also der passiven Resistenz, oder gar der Einstellung der Dienstleistung außerhalb der etwa gesetzlich gewährleisteten Freizeit. Nach mancherlei Erfahrungen ist es aber gewiß nicht überflüssig, gesetzlich ein ausdrückliches Verbot jedes derartigen Zuwiderhandelns gegen die Arbeitspflicht festzulegen, wie es das schweizerische Bundesgesetz über das Dienstverhältnis der Bundesbeamten vom 30. Juni 1927 unternommen hat, dessen mit der Überschrift Streikverbot überschriebener Artikel 23 kurz und bündig anordnet: „Der Beamte darf weder selbst in Streik treten, noch andere Beamte dazu veranlassen." Ohne daß hier im einzelnen auf Formulierungsfragen eingegangen sei, darf wohl auf die ansprechende Fassung aufmerksam gemacht werden, welche die Arbeitspflicht des Beamten - als die kardinale Dienstpflicht - in der allgemeinen Dienstordnung für die Angestellten der Gemeinde Wien vom 24. April 1919 erfahren hat. Es heißt dort im § 20: „Die Angestellten haben den mit ihrer Stelle verbundenen geschäftlichen Verrichtungen in ihrem ganzen Inhalte und Umfange nach bestem Wissen, mit voller Kraft und anhaltendem Fleiße zu obliegen". Kein Dienstverhältnis ohne Gehorsamspflicht; denn unmöglich kann das Handeln des Beamten zur Gänze durch Gesetze und Rechtsverordnungen determiniert und im übrigen seinem Ermessen anheimgestellt sein; es muß vielmehr die Möglichkeit eröffnet sein, das Handeln des Beamten innerhalb des von Gesetz und Rechtsverordnung abgesteckten Rahmens im allgemeinen und im Einzelfalle in einer den vorgesetzten Stellen angebracht erscheinenden Weise zu binden. Freiheit innerhalb dieses Rahmens kann nur das Vorrecht qualifizierter Berufsgruppen sein, als da namentlich sind die Hochschullehrer zufolge dem Verfassungsrechtssatz der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und die Richter zufolge dem Verfassungsrechtssatz der Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Verzicht auf dienstlichen Gehorsam würde also Angleichung der Masse der Beamtenschaft an die Rechtsstellung der Richter und, falls man das Wesen der Gerichtsbarkeit in der Unabhängigkeit ihrer Organe erblickt, geradezu eine Grenzverwischung von Justiz und Verwaltung bedeuten. Wie unvermeidlich aber auch die Abhängigkeit der Verwaltungsorgane von Weisungen sein mag, ist doch wiederum bekanntlich der Grad dieser Abhängigkeit sehr wandelbar. Dieser Grad drückt sich rechtstechnisch meist in der Abstufung des sogenannten

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Prüfungsrechtes des Beamten gegenüber dem Gehorsam heischenden Befehle aus; so wird die Gestaltung dieses Prüfungsrechtes zu einem bedeutungsvollen Problem des Beamtenrechtes, ja des Organrechtes überhaupt; und seine positivrechtliche Beantwortung unter Umständen geradezu zu einer Entscheidung, in der sich die Staatsauffassung des Gesetzgebers oder der Verfassung ausdrückt. Je nach dieser Entscheidung kann man geradezu von einem System der höheren Autorität der objektiven Rechtsnorm oder des subjektiven Organwillens sprechen, je nachdem, ob dem Beamten unbedingter Gehorsam gegenüber dem Gesetze oder gegenüber dem Dienstbefehle zugemutet wird. Zwischen beiden extremen Lösungen dieses Problèmes gibt es bekanntlich Vermittlungen, um die sich mangels des in diesem Punkt meist schweigsamen positiven Rechtes bekanntlich auch die Rechtstheorie bemüht hat. Es ist aber m.E. Sache des Gesetzgebers , dem Prüfungsrechte Schranken zu ziehen, um dienstlichen Gehorsam in einem größeren Umfang, als er sich bei unbeschränktem Prüfungsrechte ergeben würde, sicherzustellen. Der Reinlichkeit der Verwaltung ist jedenfalls damit gedient, daß das Prüfungsrecht und damit die Prüfungspflicht in möglichst großem Umfange festgesetzt werde; zugleich entspricht diese Forderung dem Prinzipe der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, indem es gesetzwidrigen Akten, die mit dem Prätexte der Verbindlichkeit auftreten, verbindliche Kraft versagt und wohl zugleich auch prophylaktisch, nämlich in der Richtung motivierend wirkt, daß Befehle wohl erwogen werden, ehe sie erteilt werden, um das Risiko einer für den Vorgesetzten peinlichen legitimen Gehorsamsverweigerung zu verringern. Dem meist übertriebenen Bedenken, daß ein Prüfungsrecht des Untergebenen überhaupt und gar ein so weit gespanntes Prüfungsrecht die Disziplin im Organapparate untergrabe, kann durch strenge disziplinare Verantwortlichkeit bei unbegründeter Gehorsamsverweigerung begegnet werden. Überhaupt ist eine solche Verantwortlichkeit das notwendige Korrelat des Prüfungsrechtes gegenüber den Befehlen des Vorgesetzten. Dank einer solchen besonders strengen disziplinaren Verantwortlichkeit für unbegründete Gehorsamsverweigerung ergibt sich die Rechtslage, daß bei unterschiedlicher Auffassung über die Rechtmäßigkeit eines Befehles die Rechtsanschauung der höchsten Disziplinarinstanz zwischen dem Vorgesetzten und Untergebenen entscheidet, wobei sich dank der motivierenden Kraft dieser Entscheidungsnorm auch wohl ein sachlich befriedigender Ausgleich zwischen der Vorgesetzten- und Untergebenenrolle herausstellen wird, der der Autorität des Vorgesetzten nicht schaden kann, wenn und weil er der Autorität des Gesetzes dient. Diese Lösung der Frage

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des dienstlichen Gehorsams liegt übrigens ganz im Geiste der Demokratie, welche blinden Gehorsam gegen eine nicht durch das Gesetz legitimierte Willensäußerung ablehnen und Vorgesetzte wie Untergebene sub specie der höchsten Autorität des Gesetzes nivellieren muß. Eine gewiß nicht maßgebliche Nebenwirkung dieser legislativen Lösung unseres Problemes ist übrigens auch, daß sie gerade dem Berufsbeamten gegen parteipolitische Willkürakte, die in der Befehlsform an ihn herantreten, Rückhalt gewährt. Es sei auf das oben dargestellte Vorbild der österreichischen Verfassung verwiesen, die im Art. 20 eine beachtliche Lösung der Frage der Grenzen von Gehorsamspflicht und Prüfungsrecht in der hier skizzierten Richtung versucht, und zwar mit Verbindlichkeit für alle nachgeordneten Verwaltungsorgane, gleichviel welchen Organtyps, freilich bei allzu vorsichtiger Begrenzung des grundsätzlich anerkannten Prüfungsrechtes. Noch das eine sei hierzu erwähnt, daß auch eine positivrechtliche Abstufung der Gehorsamspflicht und des Prüfungsrechtes bei den verschiedenen Berufsgruppen des Verwaltungsdienstes denkbar und geradezu naheliegend ist. Man wird vernünftigerweise Mitglieder der Wehrmacht einer strengeren Gehorsamspflicht unterstellen als mit Entscheidungskompetenz in Rechtsfragen ausgestattete Verwaltungsbeamte, deren Wirkungskreis mitunter mit dem eines Richters wesensgleich ist. Eine solche partielle Steigerung des Prüfungsrechtes gegenüber Befehlen in der Verwaltung vermöchte auch die organisatorisch-funktionelle Kluft zwischen Gerichtsbarkeit und Verwaltung zu überbrücken, die in den Agenden der beiderseitigen Funktionsbereiche nicht mehr ganz begründet ist. Die juristisch problematischeste - darum natürlich in ihrem ethischen Wert nicht zu unterschätzende - Treuepflicht müßte so gefaßt werden, daß sie einen erkennbaren, juristisch relevanten Inhalt hat; bei den gegenwärtig üblichen Formulierungen verrät sich der Mangel an greifbarem Inhalt durch die immer wiederkehrende Feststellung, daß es sich um eine vorwiegend moralische Pflicht handle. Treue als innere Gesinnung kann man nicht erzwingen und unterläßt man daher besser zu normieren, da sozusagen papierene Rechtspflichten sinnlos sind. Sinnvollerweise kann Treue nur insoweit zum Gegenstand einer Rechtspflicht gemacht werden, als sie in einem äußeren Verhalten zum Ausdruck kommt. Darum ist es aber besser, auf die Aufstellung einer abstrakten Treuepflicht zu verzichten; man werbe in sonstiger Weise um die Treue des Beamten und beschränke sich auf die Anordnung jenes äußeren Verhaltens, das man mit der Treuepflicht inten-

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diert: so etwa in der Monarchie das Eintreten in und außer Amt für den Monarchen, in der Republik das analoge Eintreten des Beamten für die republikanischen Magistrate, oder zumindest in beiden Fällen die Unterlassung von Kritik und von Förderung der Kritik an den genannten Institutionen. Treue in diesem Sinn macht etwa die Wiener städtische Dienstordnung zur Amtspflicht, indem sie jeden Angestellten für verpflichtet erklärt, „der österreichischen Republik treu und gehorsam zu sein". Diese Dienstordnung besagt des weiteren: „ein Angestellter, der eine der demokratisch-republikanischen Staatsform feindliche Tätigkeit oder Propaganda entfaltet, begeht ein Dienstvergehen". Die österreichische Bundesgesetzgebung hat es für überflüssig erachtet, für den Entfall der schlichten Bestimmung der Dienstpragmatik, daß der Beamte „dem Kaiser treu und gehorsam zu sein" hat, nach dem Wandel der Staatsform irgendeinen Ersatz zu schaffen und stellt damit dem Beamten jede nicht strafgesetzlich verpönte politische Haltung frei, womit sie wohl nach hierländischen Begriffen in der Verteidigung der neuen Staatsform eine allzu große Passivität bekunden dürfte. Dagegen würde wohl der österreichische Beamte die strengen beamtenrechtlichen Bestimmungen des deutschen Republikschutzgesetzes als ungewohnten Gewissenszwang empfinden. Verbindet man mit der Treuepflicht den Sinn einer Pflicht zu hingebungsvoller Dienstleistung, dann ist sie wohl schon durch eine richtig gefaßte Arbeitspflicht gedeckt und erübrigt ihre ausdrückliche positivrechtliche Normierung. Auch die Verschwiegenheitspflicht wurde mit der Entwicklung des Beamtenrechtes begründetermaßen gelockert. In einem der Idee nach auf der Teilnahme sämtlicher Volksgenossen an der Herrschaft beruhenden Staat kann man die Besorgung der Staatsgeschäfte nicht grundsätzlich zur Geheimwissenschaft der unmittelbar Beteiligten machen. Der durchaus demokratische Gedanke der Kontrolle der Öffentlichkeit gegenüber der Tätigkeit der Staatsorgane duldet nicht, daß über diese Tätigkeit von Rechts wegen durch eine uferlose Verschwiegenheitspflicht ein schützendes Dunkel gebreitet werde. Sonach kann die Verschwiegenheitspflicht nur eine in gewissem Umfang allerdings unvermeidliche und um so strenger zu hütende Ausnahme von der Regel sein, daß sich soziales Handeln für die Gemeinschaft - und das ist Staatshandeln - im Lichte der Öffentlichkeit abspielen darf, ja soll. Schwierigkeit bereitet wohl nur eine richtige Abgrenzung des Bereiches des Amtsgeheimnisses. Ohne ein sachlich unerwünscht weitgehendes Ermessen des Beamten oder der Dienstbehörde läßt sich diese Abgrenzung kaum gewinnen.

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Von hervorragender praktischer Bedeutung ist dagegen die Pflicht der Unparteilichkeit des Beamten bei der Amtsausübung. Während für das monarchische Régime doch in der Regel sozusagen das Schweben über den Parteien Bedingung einer unanfechtbaren Autorität war, wobei sich ja freilich hinter der Geste der Parteilosigkeit häufig eine unverkennbare Parteinahme für bestimmte mitherrschende Schichten verbarg, ist in der demokratischen Republik die Unparteilichkeit des Beamten ein konstanter Widerspruch gegen das Interesse seiner Auftraggeber und darum die problematischeste Amtspflicht. Die Verletzung dieser Amtspflicht ist oft mit weniger Risiko verbunden als ihre Beobachtung, durch ihre Verletzung kann man sich verdient und durch ihre Beobachtung mißliebig machen. Es ist eine starke Probe auf den Charakter des Beamten, die Gelegenheit unbenutzt zu lassen, sich durch Entgegenkommen gegenüber dem Parteiinteresse der herrschenden Partei, durch glimpfliche Behandlung des Angehörigen dieser Partei, gegen den er etwa dienstlich einzuschreiten hat, oder durch Bevorzugung einer Person, die ihm nützen oder schaden kann, und durch eine gerade entgegengesetzte Haltung gegenüber einem politischen Gegner zu empfehlen, zumal wenn in dieser Richtung von oben auf ihn ein mehr oder minder sanfter Druck ausgeübt wird. Der mit der Parteibrille behaftete Mensch hat oft gar kein Auge für die Gefahren, die aus dieser Zumutung der Parteilichkeit für die Verwaltung und den Staat entspringen, da er ja nur zu sehr geneigt ist, das Parteiinteresse mit dem Staatsinteresse gleichzusetzen; man sieht ja mitunter, daß sich eine, noch dazu heftig umkämpfte Partei geradezu das Patent der Staatspartei zuspricht, so als ob sie die Tradition der Monarchen fortsetzen wollte, die von sich sagten: der Staat bin ich. Es wird vielleicht dank einer „inveterata consuetudo" des Parteidienstes, zu dem man gelegentlich den Staatsdienst macht, dazu kommen, daß der durch die von ihm - nicht umsonst - erwarteten Gefälligkeiten korrumpierter Beamte nichts Bedenkliches mehr darin sieht, sich gegenüber anderen Gönnern gegen anderen Lohn gefällig zu erweisen. Einer derartigen Entwicklung müßte ein ganzes System rechtlicher Vorbeugungsmaßnahmen entgegengesetzt werden. Vor allem ist die Pflicht zur Unparteilichkeit unzulänglich sanktioniert, wenn die vielleicht ebenso an Parteilichkeit interessierte Oberbehörde über die Disziplinarmittel verfügt. Zur Anrufung der Disziplinarbehörde wegen behaupteter Parteilichkeit sollte auch ein irgendwie qualifizierter Extraneus legitimiert werden. Detailvorschläge würden an dieser Stelle zu weit führen, nur soviel sei erwähnt, daß die große Masse der deutschen Beamten von einer solchen mehr prophylaktischen Sanktion

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nichts zu fürchten hätte. Schon an dieser Stelle sei aber bemerkt, daß nicht zum wenigsten das Gebot der Unparteilichkeit der Amtsausübung erfordert, daß das Disziplinarverfahren mit allen Mitteln rechtlicher und faktischer Unabhängigkeit ausgestattet oder wenigstens unter die Kontrolle völlig unabhängiger Gerichte gestellt werde. Es gilt, den Beamten nicht bloß ungerechter Benachteiligung, sondern auch in Fällen, wo er höheren Ortes ungebührlichen Rückhalt findet, ungerechter Begünstigung zu entziehen. Ein weitergreifendes Mittel gegen die Parteilichkeit in der Verwaltung ist die Minderung seiner eigenen rechtlichen Abhängigkeit (siehe Prüfungsrecht), die Zusammenfassung von Beamten in unabhängigen Kollegien und nicht zuletzt der allmähliche Abbau der Ermessensfreiheit, da ja das Ermessen, beispielsweise etwa bei Konzessionserteilungen, polizeilichen Verboten und Erlaubnissen usw., die typische Einbruchsstelle von Parteilichkeiten ist. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß der Kampf gegen die Parteilichkeit, die sich ja als eine Verletzung der kardinalen Gleichheitsforderung darstellt, eine Existensbedingung der Demokratie ist, an deren Körper die Parteilichkeit in der Vollziehung der gefährlichste Auswuchs ist. Verwandt in der Aufgabe, aber andersartig im Mittel ist die Haftpflicht des Beamten. Nicht jede Parteilichkeit ist eine Verletzung des objektiven Rechtes und wirkt sich in einem in Geld ausdrückbaren Schaden aus. So kann die Haftpflicht schwerlich die disziplinare Haftung für parteilichen Gebrauch des Ermessens ersetzen, wie auch andererseits diese disziplinare Haftung nicht den allfälligen Schaden wirtschaftlich ungeschehen macht. Für die Gestaltung der zivilrechtlichen Beamtenhaftung scheint mir das deutsche Recht mit wenigen, kaum nennenswerten Vorbehalten, vorbildlich. Allerdings müßte den Versuchen, die Auswirkungen der zivilrechtlichen Haftpflicht durch das Eingehen von Haftpflichtversicherungen auszuschließen, begegnet werden, da ja sonst die motivierende Kraft der zivilrechtlichen Organhaftung verloren ginge. Wenn man derartige Versicherungsverträge für beiderseits unverbindlich erklärt so wird dieser neuartige Versicherungszweig von selbst verdorren. Die Dienstpflichten, die sich auf das außeramtliche Verhalten des Beamten beziehen, geben weniger zu legislativpolitischen Erwägungen Anlaß. Die Demokratie wird auf diesem Gebiete im allgemeinen weniger auf die Wahrung einer besonderen Standeswürde als auf persönliche Integrität achthaben müssen, wenn der Beamte ein würdiger Repräsentant der Volks-

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gemeinschaft sein soll. Diese Maxime wird sich auf die besonders umkämpfte Frage der Nebenbeschäftigung in der Weise auswirken, daß man in der Einsicht, daß keine wirkliche Arbeit entehrt, bezüglich der Art der Arbeitsleistung den früheren Rigorismus aufzugeben hat, dagegen kompromißlos solche Nebenbeschäftigungen ausschließt, die den Beamten mit seinen Dienstpflichten in einen Gewissenskonflikt bringen können. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß es wünschenswert ist, Inkompatibilitäts Vorschriften in der Richtung einzuführen, daß auch der Beamte nach Übertritt in den Ruhestand sich in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis begeben darf, das auf seine Amtsführung zurückführen könnte; daß z.B. ein vereinsbehördliches Kontrollorgan einer Bank mit seiner Pensionierung leitendes Organ der Bankunternehmung wird, ist ein in vielen Rechtsordnungen geduldeter Unfug, der die Bankenkontrolle zur Farce macht. In dem bezeichneten Umfang, höchstens ausgenommen die Treuepflicht, sollten die Beamtenpflichten übrigens auch für Wahlbeamte und für Angestellte Geltung haben. Wenden wir uns nun dem Kreis der Berechtigungen des Beamten zu, so begegnet uns zunächst als Korollar der Arbeitspflicht das Recht auf die Organstellung, auf den Dienstposten und das allfällige Recht auf Arbeit. Das große Privileg des Berufsbeamten, das ihm immer als Entschädigung für die relativ geringe Entlohnung seiner Dienste entgegengehalten wird, die Sicherheit seiner Stellung, ist bekanntlich durch den einschneidenden Beamtenabbau der Nachkriegszeit, der z.B. in Österreich den Stand der Beamten um rund zwei Fünftel verringert hat, längst erschüttert worden; nicht einmal die verfassungsmäßige Gewährleistung der wohlerworbenen Rechte, zu denen wohl in erster Linie das Recht auf die Organstellung gehört, vermochte dieses Schicksal zahlreicher Beamten hintanzuhalten. Aber wer überhaupt am Berufsbeamtentum festhält, muß in diesem Punkte eine Rückkehr zur Strenge des alten Rechtes verlangen, denn nur die Gewähr der Lebenslänglichkeit des Amtes bei ordnungsmäßiger Berufsausübung kann bei der derart ausgezeichneten sozialen Gruppe jene psychische Einstellung zeitigen, die man das Berufsethos des Beamten nennt, die Hingebung an den Beruf, mit dem man sich auf Gedeih und Verderb verknüpft weiß. Für die Krisenzeit die auch nur Übergangszeit sein darf - in der man sich mit der auch für das Gemeininteresse bitteren Notwendigkeit eines massenweisen Beamtenabbaues, sei es nun in Form vorzeitiger Pensionierung oder der Entlassung

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gegen Abfertigung, wohl oder übel abfinden muß, ist aber zu fordern, daß der Abbau nicht nach Willkür, sondern nach einer rechtsverbindlichen Maxime vor sich gehe, und daß über die Beobachtung dieser Maxime justizähnlich funktionierende Ausschüsse mit Beamtenbeisitzern wachen. Wie soll der Beamte Versuchungen seiner Unparteilichkeit und überhaupt seiner Korrektheit gewachsen sein, wenn er immer das Damoklesschwert der Auflösung des Dienstverhältnisses über sich schweben sieht? Wenn man entgegenhält, daß auch der Privatangestellte und Arbeiter keine Berufssicherheit hat, so darf man über dieser Übereinstimmung nicht den Unterschied übersehen, daß man dem Beamten meist ein mehr oder minder großes Stück Imperium anvertraut, das auch mißbraucht werden kann, und daß man in ihm einen objektiven Repräsentanten der Staatsautorität erblicken will, wofür man eben auch besondere Voraussetzungen zugunsten des Amtsträgers erfüllen muß. Die Unantastbarkeit des Dienstpostens und das Recht auf Arbeit wird man dagegen den Beamten nicht gewährleisten können. Doch erhebt sich auch hier an das Beamtenrecht der Zukunft die ideale Forderung, Sicherungen gegen Mißbrauch der Dienstbehörde einzuführen, denn die Ermessensfreiheit der Dienstbehörde in diesem Punkte ist bekanntlich ein Schauplatz von Protektion und eine Handhabe für Benachteiligung des unbequemen Beamten. Es könnte wohl ohne Gefährdung der gern berufenen „Erforderlichkeiten des Dienstes" eine gewisse Sicherheit an dem einmal zugewiesenen Dienstposten geboten werden - sei es durch ein Einspruchsrecht gegen Entziehung des Dienstpostens, sei es durch gesetzliche Beschränkung der Möglichkeit des Wechsels auf taxativ bestimmte Fälle. Die Entwicklung drängt ja bei gewissen Verwendungen billigerweise sogar dahin, ein Recht auf Arbeit anzuerkennen. Gewisse Beschäftigungen - man denke an wissenschaftliche Beamte in staatlichen Sammlungen, die Tätigkeit von Ärzten an öffentlichen Krankenanstalten usw., sind von solcher Art, daß ein Recht auf den Dienstposten wie auch auf Beschäftigung ohne Beeinträchtigung irgendeines vertretbaren öffentlichen Interesses zu fordern ist. Daß diese Forderung noch nicht laut geworden ist, erklärt sich wohl nur daraus, daß in dieser Richtung Mißbräuche der Diensthoheit nicht vorkommen. Das für den Beamten wichtigste Recht auf Entlohnung kann in diesem Zusammenhange nicht der Gegenstand eingehender Erörterungen sein. Das Ausmaß der Bezüge und deren Bestimmgründe - Alimentationsprinzip und

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Leistungsprinzip - beziehungsweise die Linie des Kompromisses dieser beiden Bestimmgründe, ferner das Verhältnis zwischen Aktivitätsbezügen und Ruhestandsbezügen sowie Hinterbliebenenversorgung können nur Diskussionsgegenstand der unmittelbar Beteiligten sein, zu denen Rechtslehrer, insofern sie über Beamtenrecht und Beamtenpolitik reflektieren, nicht gehören. Von einem objektiven Standpunkt aus, nämlich im Interesse der sachlich gebotenen Leistung des Beamtentums, ist nur die Forderung zu erheben, daß nicht nur die Existenz, sondern auch die Berufsfreudigkeit der Beamtenschaft gesichert werde. Dazu kommt es nicht einmal so sehr auf die absolute Höhe des Berufseinkommens als auf dessen gerechte Bemessung an. Als Maßstab kann hierfür die Entlohnung gleichartiger Leistungen im Privatdienste (ohne daß deren Stand erreicht werden müßte) und die Summe des staatlichen Aufwandes dienen. Der Beamte darf nicht das Gefühl haben, daß er mit seiner Arbeitskraft sozusagen in ein hohles Faß schöpft, weil Besserungen der Staatsfinanzen nicht ihm, sondern irgendwelchen anderen Bevölkerungsgruppen zugute kommen, während er das erste Opfer einer Verschlechterung der Staatsfinanzen ist. Nichts demoralisiert die Einstellung der öffentlichen Beamten zu ihrem Dienstherrn so wie die offenkundige Verletzung des Postulates eines gerechten Entgeltes. Dieses Postulat bedingt allerdings auch auf Seite der Beamtenschaft die Bereitschaft zu wirklicher, die Dienstzeit ausfüllender Arbeitsleistung. Ein Anspruch des Beamten auf Freizeit begegnet zwar starken, in der Amtstradition begründeten Widerständen, könnte aber doch irgendwie mit den Erfordernissen des Dienstes in Einklang gebracht werden. Unstreitig wäre in diesem Punkte mehr als in den meisten anderen die Möglichkeit gegeben, der nun einmal vorhandenen Strömung nach Annäherung des öffentlichrechtlichen an das privatrechtliche Dienstverhältnis Rechnung zu tragen. Das Minimum wäre wohl die positivrechtlich schon sehr verbreitete Anerkennung eines Urlaubsanspruches, wobei die Erfordernisse des Dienstes in der Weise berücksichtigt werden könnten, daß aus dienstlichen Rücksichten eine Kürzung des Urlaubes gegen Entschädigung im folgenden Jahr statthaft ist. Das Prinzip der zeitlich ungemessenen Dienstleistung, das aus der Idee der persönlichen Hingabe an den Dienstherrn gefolgert wird, ist in der Praxis doch nur darum haltbar, weil von ihm nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht wird. Für den Fall, daß an dieser sachlichen und persönlichen Unbegrenztheit der Dienstleistung mit der Zeit immer mehr Anstoß genommen wird, weil etwa eine gewisse Gewähr für die Möglichkeit

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der Ergänzung des Diensteinkommens durch Nebenbeschäftigung angestrebt wird, wäre wohl die Lösung vertretbar, daß der Beamte zur Dienstleistung während der durch Verwaltungsvorschrift festzusetzenden Dienststunden verpflichtet wird; die derart delegierten Verwaltungsvorschriften könnten dann die Dienstzeit je nach dienstlichen Bedürfnissen festsetzen und ändern, sowie für dringende Fälle eine über die normale Dienstzeit hinausgehende Überdienstleistung vorsehen. Eine solche annähernde Fixierung der Dienstleistung liegt durchaus in der Gesamttendenz der Gesetzgebung; schrankenlose Ermessensfreiheit der Verwaltungsbehörden, und sei es auch der Dienstbehörden, sind nun einmal ein Anachronismus, und auch der Beamte darf im Rechtsstaat erwarten, daß die Idee gesetzlicher Bindung auch ihm gegenüber so weit wie möglich - gewiß nicht unbedacht und unbeschränkt - verwirklicht werde. Man könnte in diesem Punkte vielleicht auch zwischen höheren und niederen Beamten zugunsten der letzten einen Unterschied machen. Das heikelste Problem im Problemkreis der Rechte des Beamten ist wohl das seiner politischen Rechte. Es handelt sich hier richtig gesehen gar nicht um ein spezifisches Beamtenrecht, sondern um die Frage, ob oder wie weit die allgemeinen Staatsbürgerrechte um der besonderen Staatsorganstellung des Beamten willen weichen sollen, anders ausgedrückt, um die Frage der Vereinbarkeit der Rechtsstellung eines Staatsbürgers und Staatsbeamten. Die deutschen Verfassungen haben bekanntlich diesem rechtspolitischen Probleme bereits präjudiziell, und zwar in einer Weise, die man sowohl vom demokratischen Standpunkt aus als auch vom Interessentenstandpunkt der Beamtenschaft aus fordern müßte und, da sie Wirklichkeit geworden ist, begrüßen muß. Der Beamte kann nicht in einer Demokratie, die mit dem Gleichheitsprinzipe wirklich Ernst macht, um der Auszeichnung willen, daß er qualifiziertes Staatsorgan sein darf, als Staatsbürger degradiert werden. Unbekümmert darum, welche Interessen für und wider sprechen, muß eine konsequente Demokratie den Beamten als Staatsbürger vollen Rechtes behandeln, ihn also an der Staatswillensbildung in demselben Umfang, wie jeden anderen Staatsbürger, teilnehmen lassen. Diese Lösung des Problemes kann weder durch den Einwand von beamtengegnerischer Seite, daß der Beamte im Hinblick auf sein Vorrecht als Organ durch die gleichzeitige volle Zubilligung der Staatsbürgereigenschaft privilegiert wäre (eine Vorstellung, die die Organpflichten über den Organrechten übersieht), noch auch durch die Bereitschaft der Beamtenschaft, um der Entpolitisierung willen auf die

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politischen Rechte zu verzichten, in Frage gestellt werden. Es wäre ein Mißverständnis, die politischen Rechte um der Unparteilichkeit willen dem Beamten zu versagen. Die Aberkennung der politischen Rechte gewährleistet weder Parteilosigkeit im Sinne des Ausschlusses einer innerlichen oder äußeren Parteinahme, noch auch Unparteilichkeit, die etwas völlig anderes als Parteilosigkeit ist, und obendrein viel weniger durch das eigene Parteibekenntnis als durch die Rücksicht auf die Wünsche der herrschenden Partei, der der Beamte möglicherweise persönlich ablehnend gegenübersteht, gefährdet ist. Durch Aberkennung der politischen Rechte kann man also ebensowenig Unparteilichkeit erzielen, wie man überhaupt durch Entrechtung Charaktere erziehen kann. Eine andere Frage als die hiermit bedingungslos bejahte Frage der gleichberechtigten Teilnahme des Beamten an der Staatswillensbildung, ist die Frage, inwieweit der Beamte an anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten Anteil haben soll. In diesem Punkte kann auch ein demokratisch und liberal Denkender Schranken der Handlungsfreiheit des Beamten einräumen, zumal da ja solche Schranken einfachster Art auch für andere Staatsbürger, wenn auch nicht für ganze Berufsgruppen, vielfach bestehen. Solche Schranken können der Natur der Sache nach insbesondere in bezug auf die Freiheit der Meinungsäußerung, die Vereins- und Versammlungsfreiheit, und müssen sogar unvermeidlicherweise in bezug auf die Freiheit der Wohnsitznahme, der Auswanderung und der Erwerbsfreiheit bestehen. Im Antritt des Amtes liegt dann eben die freiwillige Unterwerfung unter diese positivrechtlich normierten Schranken der Grundrechte. Solche Schranken müssen aber, um juristisch erkennbar und rechtlich gegeben zu sein, ausdrücklich positivrechtlich normiert sein und können meines Erachtens nicht, wie es geschieht, aus dem Wesen oder aus den Notwendigkeiten des Dienstes gefolgert werden. Konkret gesprochen, kommt auch den Beamten die Freiheit der Meinungsäußerung im normalen Umfange zugute, soweit nicht bestimmte Vorschriften der Dienstordnungen im Sinne einer Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung ausgelegt werden können, wie z.B. ein ausdrückliches Verbot, für eine Änderung der Staatsform Propaganda zu machen, oder das ausdrückliche Gebot, für die Veröffentlichung politischer Artikel die Erlaubnis der Dienstbehörde einzuholen. Andernfalls sind dienstliche Eingriffe in solche Äußerungen des Beamten nicht weniger die Verletzung eines verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes, wie wenn man einem nichtbeamteten Staatsbürger solche Äußerungen auf administrativem

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Wege zu verwehren suchte. Die geeignete rechtstechnische Form für solche Beschränkungen von Grundrechten sind Vorschriften der Beamtengesetze oder Dienstordnungen etwa des Inhaltes, daß sich der Beamte in politischen Kundgebungen der persönlichen Kritik zu enthalten verpflichtet ist, daß er an Anordnungen der Dienstbehörde oder der Regierung öffentlich nicht Kritik üben darf und dergleichen mehr. Solche dienstrechtliche Einschränkungen der Grundrechtssphäre haben selbstverständlich zur weiteren positivrechtlichen Voraussetzung, daß es sich überhaupt um einfachgesetzlich beschränkbare Grundrechte handelt. Dienstrechtliche Schranken der Freiheit der Meinungsäußerung sind beispielsweise nur darum zulässig, wenn und weil die Verfassung die Freiheit der Meinungsäußerung nur insoweit gewährleistet, als nicht das Gesetz Ausnahmen zuläßt; so wie z.B. das Strafgesetz durch die Strafandrohung für gewisse Meinungsäußerungen objektive Schranken setzt, kann dann auch ein Dienstrechtsgesetz subjektive (zugleich übrigens auch objektive) Schranken ziehen. Grundrechte, die auch gegenüber dem Gesetzgeber Geltung haben, sind selbstverständlich auch dienstrechtlich unantastbar und dulden auch gegenüber dem Beamten keine einschränkende Auslegung. Soweit nach den vorstehenden Richtlinien Beschränkungen der Grundrechtssphäre der Beamten überhaupt denkbar sind, ist es auch möglich, sie für verschiedene Beamtengruppen inhaltlich zu differenzieren. So können auch die bekannten Ausnahmebestimmungen für sogenannte politische Beamte platzgreifen, wofern man überhaupt diese, z.B. der österreichischen Rechtsordnung fremde, Grenzabscheidung für unentbehrlich erachtet. Warum soll ein Amt, das, wenn es als Ehrenamt dem Politiker vorbehalten ist, die denkbar größte Macht und Bewegungsfreiheit eröffnet, dann, wenn es dem Berufsbeamten erschlossen wird, durch eine Minderung der allgemeinen beamtenrechtlichen Stellung erkauft werden? Es würde übrigens die Auslese, die bei den Inhabern sogenannter politischer Ämter naturgemäß über den Durchschnitt rigoros ist, und die Tatsache, daß ja auch der Inhaber des politischen Amtes versetzbar ist, wie die Erfahrungen anderer Staaten zeigen, genügend Sicherheiten gegen Vorkommnisse bieten, die durch die weitergehenden positivrechtlichen Beschränkungen der Freiheitssphäre des politischen Beamten verhindert werden sollen. Allgemein darf zum Kapitel der politischen Rechte des Beamten festgestellt werden, daß gerade in diesem Punkte die Demokratie Gelegenheit hat, ihre grundsätzliche Abweichung von intoleranteren Staatsformen zu erweisen. Da sie ihrer Struktur nach in der Volksgesamtheit verankert ist, braucht sie und darf sie, wenn sie sich nicht untreu werden will, die Staatsautorität gegen

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Staatsbürger, und wären sie auch Staatsorgane, nicht betont zum Ausdruck bringen. Wenn man auch der Demokratie ein gewisses Maß von Eingriffen in die politische Freiheit ihrer Repräsentanten zubilligt, so nur darum, weil man ihr nicht zumuten kann, mit verschränkten Händen zuzusehen, wie die Repräsentanten anderer politischer Systeme dank der der Demokratie wesentlichen Toleranz den demokratischen Beamtenkörper durchsetzen und so gewissermaßen mittels friedlicher Durchdringung eine Staatsherrschaft herbeizuführen suchen, die die Negation der politischen Freiheit ist. Die vorgeführten Berechtigungen sind von solcher Beschaffenheit, daß sie zumindest in demselben Umfange auch für privatrechtliche Dienstnehmer Geltung haben können; eine Einzelausführung über die vertretbaren Differenzen würde das Thema überschreiten. Die charakteristischen Besonderheiten des Beamtenrechtes können eben in der Zukunft nicht mehr im Inhalt der Organstellung, sei es nun die Seite der Berechtigungen oder Verpflichtungen des Dienstnehmers, sondern in der Form der Eingehung und Auflösung des Dienstverhältnisses liegen. Die Sanktion der Rechte und Pflichten des Berufsbeamtentums ist zum guten Teile auch bereits verfassungsgesetzlich vorgezeichnet und damit der rechtspolitischen Diskussion entzogen. Für alle Beamtenrechte ist gerichtlicher Schutz zu fordern, wobei es eine sekundäre Frage ist, ob dieser Schutz im Wege der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder der ordentlichen Gerichtsbarkeit gewährleistet wird. Die Sanktion der Pflichten der Beamten ist bei den Disziplinarbehörden hüben und drüben wohl im allgemeinen in guten Händen; eine gewisse unsoziale Differenzierung, die bei reichsdeutschen Disziplinarbehörden gelegentlich in Erscheinung getreten ist, und befremdliche Erkenntnisse von der Art zeitigte, daß Beamten zwar entgeltliches Musizieren verboten, dagegen ein gelegentliches Glückspielchen in notabene guter Gesellschaft gestattet ist, dürfte ja mit dem Wandel der Zeit einer sozialeren Auffassung gewichen sein. Je nach der Zusammensetzung der Disziplinarbehörden entscheidet sich die Frage, ob ihre weitere gerichtliche Überprüfung erwünscht ist. Die Rechtslage, wie sie sich in Österreich nicht von Gesetzes wegen, sondern judikatmäßig herausgestellt hat, daß nämlich Erkenntnisse der Disziplinarbehörden unanfechtbar sind, auch wenn in dem Erkenntnis die Verletzung eines verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes erblickt

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wird, erscheint mir unbefriedigend, weil zumindest inkonsequent. Wenn sich z.B. die Dienstbehörde in einem zweifelhaften Falle entschließt, eine außeramtliche Meinungsäußerung des Beamten durch Weisung zu verbieten, so steht dem Beamten die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wegen Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechtes offen, und die Weisung wird, wie Präzedenzfälle zeigen, aufgehoben. Wenn dagegen die Dienstbehörde weniger rücksichtsvoll vorgeht und gegen den Beamten wegen der außeramtlichen Äußerung ein Disziplinarverfahren provoziert, das zur Verhängung einer Disziplinarstrafe führt, so ist der Beamte dagegen wehrlos. Es ist gewiß inkonsequent, wenn ein Beamter gegen dienstrechtliche Weisungen besser geschützt ist als gegen Disziplinarstrafen. Daraus ergibt sich die rechtspolitische Forderung, daß entweder die oberste Disziplinarbehörde als vollwertiges, nicht bloß mit unabhängigen, sondern auch mit unabsetzbaren und unversetzbaren Richtern bestehendes Spezialgericht organisiert werde, oder daß von der obersten zuständigen disziplinarbehördlichen Instanz eine Rechtsbeschwerde an ein echtes Gericht, sei es nun ein ordentlicher Gerichtshof oder ein Verwaltungsgericht, eröffnet werde. Durch diese Rechtsschutzeinrichtungen wird sich bei noch so weitgehender Rechtsangleichung das Berufsbeamtentum von der Angestelltenschaft unterscheiden. Andere Schutzeinrichtungen werden, ohne die Notwendigkeit völliger Uniformierung, vom Kreise der privatrechtlichen Dienstnehmer nach den beiderseitigen verfassungsgesetzlichen Programmen in den Kreis der Berufsbeamten übernommen werden müssen. Dies gilt namentlich für die Personalvertretungen. Aber auch eine Gesamtvertretung von der Art der sogenannten Beamtenkammer wird der Beamtenschaft auf die Dauer nicht versagt werden können, wenn die Angestellten, zumal solche der öffentlichen Körperschaften, in einer Wirtschafts- oder Ständekammer vertreten sind, außer man gewährt in dieser den Konsumentenkreisen eine neben den produzierenden Ständen paritätische Vertretung, da in diesem Falle die Beamten als Teil der Konsumenten repräsentiert sein würden. Eine solche organisatorische Zusammenfassung der Beamtenschaft würde eine rechtliche Brücke dieser unverstandensten Bevölkerungsschichte zu den anderen Teilen des Volksganzen darstellen. Über allen Forderungen der inhaltlichen Entwicklung des Beamtenrechtes zu bestimmten Zielen, wie ich sie vorzuzeichnen versuchte, scheint mir

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aber die Forderung nach dem Ziele einer inhaltlichen Angleichung des österreichischen und deutschen Beamtenrechtes zu stehen. Die Gegensätze sind hier nicht so tief, daß sie nicht unter einen Hut gebracht werden könnten. Die beiden Verfassungen sind zwar, wie wir gesehen haben, mit ihren beamtenrechtlichen Anordnungen getrennte Wege gegangen, haben aber den Weg zur Rechtseinheit gewiß nicht verschüttet. Die beiderseitigen verfassungsgesetzlich verankerten Rechtseinrichtungen schließen einander nicht aus. Alles, was sich an beamtenrechtlichen Rechtsgedanken in der Weimarer Reichsverfassung findet und der österreichischen Verfassung fremd ist, kann und wird, wie ich überzeugt bin, in das bevorstehende Grundsatzgesetz des österreichischen Beamtenrechtes eingehen; um gewissenhaft zu sein: mit der einen Ausnahme, daß statt der ordentlichen Gerichte nach wie vor der Verwaltungsgerichtshof für beamtenrechtliche Streitfälle zuständig sein wird. Andererseits wird das deutsche Grundsatzgesetz an jenen Rechtsfragen nicht vorübergehen können, die bereits die österreichische Verfassung zu lösen für gut befunden hat, und auch die Art dieser Lösung dürfte nicht unbeachtet bleiben. Ich denke dabei namentlich an das dienstliche Weisungsrecht, an das Prüfungsrecht, an die Pflicht der Amtsverschwiegenheit, zumal da ja hierbei der österreichische Gesetzgeber nur einem, wenn auch nicht unbestrittenem Ergebnis deutscher Rechtslehre positivrechtlichen Ausdruck verliehen hat. Wenn im übrigen die deutsche Beamtengesetzgebung in einigen Punkten von ihrem größeren Rigorismus etwas nachläßt, womit sie ja nur den zu Reformentwürfen verdichteten Wünschen der deutschen Beamtenschaft entgegenkäme, und ein gewisses Entgegenkommen gegenüber diesen Wünschen ist sozusagen ein Gebot der Zeit, ja bedeutet vielleicht erst die Liquidierung der Monarchie und die Realisierung der demokratischen Republik auf beamtenrechtlichem Gebiet - dann wird sie sich mit dem geltenden österreichischen Rechte auf einer Linie treffen. Im übrigen sollte und würde, woran ich nicht zweifle, Österreich das deutsche Grundsatzgesetz vorbehaltlos übernehmen. Eine so weitgehende Übereinstimmung des Beamtenrechtes, das ist jenes Rechtsgebietes, das wie kaum ein zweites die Eigenheit, um nicht zu sagen Persönlichkeit des Staates ausdrückt, wäre mehr als das Strafgesetz oder irgendeine andere Teilrechtsordnung Symbol einer einheitlichen Staatsauffassung und würde den Kern der Rechtseinheit abgeben. Diese ideelle Forderung wäre aber auch sachlich durchaus begründet, denn es gibt kaum einen zweiten Berufskreis im Reiche und in Österreich, den eine so einheitliche traditionelle Berufsauffassung verbindet, wie die Berufsbeamtenschaft

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im Reich und in Österreich. Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer erfüllt eine nationale Sendung, wenn sie der deutschen Berufsbeamtenschaft und der deutschen Politik auf dieser Tagung den Weg zu dem Ziele weist: dem nur staatlich gespaltenen, durch den Beruf des Dienstes für das einheitliche deutsche Volk jedoch verbundenen deutschen Beamtentum das eine, gemeinsame deutsche Beamtenrecht! Leitsätze 1. Das geschichtliche Rechtsgut des deutschen Berufsbeamtentums hat im Deutschen Reiche und in Österreich in übereinstimmender Rechtsentwicklung alle Wandlungen der Staatsform überdauert und ist in schwerster Krisenzeit eine feste Stütze der Republiken geworden. Immer mehr wird jedoch der Berufsbeamtenkörper durch das Eindringen von Berufspolitikern und Vertragsangestellten einerseits, durch - die Berufstradition zersetzende - parteipolitische Einflüsse andererseits gefährdet. Die Erhaltung eines parteipolitisch neutral wirkenden Berufsbeamtentums als Brücke über die parteipolitische Zerrissenheit des deutschen Volkes ist rechtspolitische Aufgabe für die ganze, staatlich gespaltene deutsche Nation. 2. Der Berufsbeamte unterscheidet sich durch unverkennbare rechtliche Merkmale von anderen Organtypen, namentlich vom Ehrenbeamten und vom Vertragsbeamten, als seinen wichtigsten Konkurrenten in der Staatsorganisation. Indes stellt sich das herkömmlich angenommene Gewaltverhältnis als ein durchaus rechtswissenschaftlich zu erfassendes Rechtsverhältnis zwischen dem Beamten und Amtsträger dar, das durch die eigentümliche Rechtstechnik der Organbestellung (Anstellung) und durch die besondere Sanktion der Berechtigungen und Verpflichtungen von anderen Organtypen unterschieden ist. Die rechtswissenschaftliche Umdeutung der Rechtsstellung des Berufsbeamten im Sinne der „Reinen" Rechtslehre ändert nichts am positivrechtlichen Gehalt dieses Rechtsinstitutes. Der positivrechtliche Gehalt der Beamteneigenschaft ebenso wie der anderer Organstellungen ist jedoch nicht starr, sondern wandelbar, so daß sich durch eine besondere Gestaltung der Berechtigungen und Verpflichtungen des durch Verwaltungsakt berufenen Beamten und durch zivilrechtlichen Vertrag bestellten Angestellten eine beträchtliche Annäherung dieser beiden Organtypen ergeben kann. 3. Die Rechtsgrundlagen des Beamtentums haben einerseits die deutsche Reichsverfassung, andererseits die österreichische Bundesverfassung zum

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Teil in unmittelbar wirksamen Rechtssätzen, zum Teil in bloß programmatischen Bestimmungen in meist vorbildlicher Weise vorgezeichnet; die einschlägigen Verfassungsinhalte decken sich zwar nicht, schließen aber auch zum übrwiegenden Teil einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Der Reichsverfassung ist namentlich eigentümlich die Betonung der Befähigung und der Leistungen als Maßstab für die Zulassung zu öffentlichen Ämtern, die Verfassungsgarantie der wohlerworbenen Rechte und die grundsätzliche Anerkennung des Rechtsgedankens, daß die Beamten Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei sind; der österreichischen Verfassung die allgemeingültige Regelung des Weisungsrechtes und der Gehorsamspflicht, des Prüfungsrechtes gegenüber Dienstbefehlen und der Verschwiegenheitspflicht. Unüberbrückbar erscheint nur der Gegensatz in der verfassungsrechtlichen Lösung der Frage des Schutzes der Beamtenrechte: im Reiche der durch die Verbindlichkeit administrativer Vorentscheidungen beschränkbare ordentliche Rechtsweg, in Österreich der durch keine administrative Vorentscheidung beschränkte Beschwerde- und Klageweg an den Verwaltungsgerichtshof. Die bemerkenswertesten Besonderheiten des einfachgesetzlichen österreichischen Beamtenrechtes kommen den überparteilichen Wünschen der Beamtenschaft entgegen, die vorbildlichen Rechtsgedanken werden jedoch vielfach durch eine parteipolitische Praxis getrübt. 4. Die rechtspolitischen Aufgaben auf dem Gebiete des Beamtenrechtes sind angesichts der gegebenen Rechts- und Sachlage mehr konservativ, als reformatorisch; in der Hauptsache gilt es nur, auf den beiderseitigen richtigen Verfassungsgrundlagen aufzubauen und gegen die Aushöhlung der Rechtsinstitute in der Praxis Dämme aufzurichten. Die Einzelaufgaben betreffen vornehmlich eine reinliche gesetzliche Auseinandersetzung zwischen dem Wirkungsbereich des Berufsbeamten einerseits, des Laienbeamten und Angestellten andererseits; die Herausarbeitung einer festen Rechtsform der „Anstellung" im öffentlichen Dienst, Festlegung der Zustimmung des Anzustellenden als Bedingung der Rechtswirksamkeit des Berufungsaktes, jedoch Ablehnung der privatrechtlichen Vertragsform; die Aufstellung zwingender Anstellungsbedingungen gemäß den wirtschaftlichen Erfordernissen der Arbeitsteilung und Berufsspezialisierung und zur Abwehr des fachunkundigen Laienelementes; die Einführung von Formen und Erfordernissen, durch die die parteipolitische Durchsetzung des Beamtenkörpers nach Möglichkeit hintangehalten und der Rechtssatz: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" wahrgemacht wird; die schärfere

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rechtliche Präzisierung der im allgemeinen festzuhaltenden, soweit sie ungemessen sind, jedoch nach Möglichkeit rechtlich zu begrenzenden Beamtenpflichten; den Schutz der Beamtenrechte durch Gerichte, sei es nun ordentliche oder Verwaltungsgerichte, jedoch ohne inhaltliche Beschränkung ihrer Kontrollfunktion. 5. Die Zukunft der deutschen Beamtenschaft und selbst des deutschen Staates liegt in dieser rechtlichen Auseinandersetzung zwischen der Staatsautorität und dem sie repräsentierenden Organapparat, und im besonderen in der Findung und Gangbarkeit rechtlicher Wege zur Eindämmung der Mißbräuche des Parteiwesens, unter denen vor allem die Leistungsfähigkeit des Beamtenkörpers leidet, nicht aber in der Flucht aus dem demokratischen Vielparteienstaat in diktatorische Einparteienstaaten. Die übereinstimmende Staatstradition und die schon derzeit bestehenden weitgehenden Übereinstimmungen im deutschen und österreichischen Beamtenrecht ermöglichen die Vereinbarung inhaltsgleicher Grundsatzgesetze über das Beamtenrecht für das Deutsche Reich und Österreich im Sinne der Art. 129 Reichsverfassung und 21 Bundesverfassung. Schlußwort Die wertvollen Ergänzungen, die die Diskussion zum Gegenstande gebracht hat, decken sich im wesentlichen zum großen Teil mit Ausführungen, die ich in meinem mündlichen Berichte, dem Appelle des Herrn Vorsitzenden und der meisten Herren Kollegen folgend, infolge der vorgerückten Zeit und in Anbetracht der mir zugemessenen knappen Vortragsstunde zurückstellen mußte. Die Tatsache, daß sich mein mündlicher Bericht auf eine bloße Auslese aus den zum Vortrag bestimmten Teilen meines schriftlichen Berichtes beschränken mußte, erklärt es denn auch, wenn manche Diskussionsredner in meinen Ausführungen die Behandlung des einen oder andern Problemes vermißt haben. Alle heute vermißten Fragen werden in dem ohnehin gekürzten schriftlichen Berichte Antwort finden. Darum will ich nur jene Bemerkungen der Herren Diskussionsredner herausgreifen, die mir zu einer ergänzenden Stellungnahme Anlaß geben. Die feinsinnigen Bemerkungen des Herrn Helfritz haben unter anderem die chamäleonartige Natur des Wortes „politisch" ins Licht gerückt. Wie sehr auch wir Juristen Grund haben, vor dem Gebrauch und Mißbrauch

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dieses Wortes auf der Hut zu sein, so sind wir leider doch nicht in der Lage, uns diesen Ausdruck gänzlich zu versagen, zumal in einer Problembehandlung, die ausgesprochen „rechtspolitischer" Natur, will sagen „de lege ferenda" gehalten ist. Wenn nun über die Bedeutung, in der ich den Ausdruck „politisch" verwendet habe, ein Zweifel übrig geblieben sein sollte, so möchte ich feststellen, daß mir unter den vier verschiedenen Bedeutungen des Wortes „politisch", die Herr Jacobi mit treffsicherer Schärfe herausgearbeitet hat, je nach dem Zusammenhang meiner Ausführungen das eine Mal die Amtsführung durch Berufspolitiker zum Unterschied von beamteten Fachleuten, das andere Mal die parteipolitische Beeinflussung des Berufsbeamten, dessen Amtsführung von Verfassungs wegen über den Parteien stehen soll, vorgeschwebt hat. Ob die eine oder andere der beiden Bedeutungen zutrifft, ist wohl für jedermann aus dem Zusammenhang, in dem sich der Ausdruck „politisch" findet, ersichtlich, wie denn überhaupt der Sinn jedes mehrdeutigen Wortes durch den Sinnzusammenhang bestimmt wird. Demgemäß ziele ich mit der Forderung nach Entpolitisierung des Behördenapparates auf die Zurückdrängung des Berufspolitikers aus der Verwaltung ab, in der ihm eine mißverständliche Auffassung der Demokratie, insbesondere die Annahme, daß die Forderung einer demokratischen Verwaltung durch organisatorische Maßnahmen erfüllt werden müsse, auch in deutschen Landen allzu großen Raum gegeben hat, außerdem auf die Fernhaltung parteipolitischer Einflüsse von der Geschäftsführung des Berufsbeamten selbst, den die politischen Parteien entgegen seinem verfassungsmäßigen Berufe als Diener des Volkes zum Werkzeug ihrer Sonderbestrebungen gewinnen wollen. Ich darf wohl in diesem Zusammenhang auf die einschlägigen Ausführungen in meinem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" (Verwaltung und Staatsform, S. 334 ff.) und die grundsätzliche Erörterung dieses Themas in meiner Broschüre „Demokratie und Verwaltung" (Verlag M. Perles, Wien 1923) hinweisen. Dagegen haben mich selbst die Ausführungen solcher anerkannter Kenner des Beamtenrechtes, wie sie unbezweifelbar die Herren Gerber und Röttgen sind, nicht davon überzeugt, daß die Entpolitisierung des Beamten in seinem Ausschluß aus der Politik bestehen sollte. Wenn ein Beamter überhaupt nicht zwischen dem dienstlichen und außerdienstlichen Verhalten zu scheiden weiß, - darf man dann glauben, daß er seine politische Gesinnung in der Amtsführung zum Schweigen bringen wird, wenn man ihn außeramtlich zum Schweigen in politischen Dingen verurteilt? Die Partei-

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lichkeit des Beamten kommt doch nicht von der politischen Gesinnung und von seiner Eigenschaft als vollwertiger Staatsbürger, sondern wohl viel eher von einem Manko an Gesinnung, von der Rücksicht auf die geäußerten oder erratenen Wünsche der höheren behördlichen oder Parteiinstanzen. Solche Gesinnungsmängel würde man durch politische Entrechtung des Beamten nicht beseitigen. Abgesehen davon, erscheint mir - und damit darf ich an die Ausführungen des Herrn Ministers Apelt anknüpfen - die Aberkennung des Wahlrechtes der Beamten, wie überhaupt für irgendeine ins Gewicht fallende Bevölkerungsgruppe, solange grundsätzlich demokratisches Regime besteht, schlechterdings ausgeschlossen. Solche in den Grundlagen des Regimes verwurzelte politische Rechte lassen sich nur mit dem Regime selbst entwurzeln. Leider muß ich feststellen, daß meine Vorschläge für rechtliche Garantien gegen die versteckte Politisierung der Verwaltung, die das faktische, dem Geist der Verfassung und im besonderen der Demokratie gewiß widersprechende Anstellungs- und Beförderungserfordernis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei bedeute, wenig Anklang gefunden haben. Ich gebe mich gewiß keiner Täuschung hin, daß jeder derartigen Forderung die stärksten, freilich nicht im demokratischen Regime als solche, sondern nur in der Überbetonung der Parteiherrschaft begründeten Hindernisse entgegenstehen würden, dies sollte aber den Verfassungsjuristen nicht hindern, den Forderungen der Parteiinteressen die Forderung der Demokratie auf Gleichberechtigung aller Parteiangehörigen und nicht weniger der Parteilosen bei der Ämtervergebung entgegenzustellen. Ich bin Herrn Wolgast außerordentlich dankbar, daß er durch seinen Hinweis auf mir unbekannt gewesene schwedische Einrichtungen gezeigt hat, daß man auch in der Demokratie dem Mißbrauch der Parteiherrschaft bei der Ämtervergebung, sei es auch um den Preis eines vielleicht starr erscheinenden Formalismus, Schranken ziehen kann, wenn man nur will. Die Problematik der Grenzziehung des Funktionsbereiches des Beamten einerseits, des Angestellten andererseits, hat in mehreren Diskussionsreden, vor allem auch in der Eröffnungsrede des Herrn Helfritz angeklungen. Wie gern ich auch dem Herrn Berichterstatter Gerber folgen möchte, finde ich doch in seinen Ausführungen keine eindeutige Richtlinie für die Scheidung dieser beiden Funktionsbereiche. Die Frage, mit welchen Funktionen öffentliche Verantwortung verbunden ist oder sein soll, unterliegt zu sehr subjek-

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tiver Auffassung, als daß sie eine eindeutige Antwort nach einem objektiven Kriterium ermöglichen würde. Die Wahl des einen oder anderen Organisationsprinzipes wird wohl auch in Hinkunft eine quaestio facti bleiben, insolange nicht ein Gesetz eindeutig die vergebbaren Staatsfunktionen auf die beiden Organisationsformen aufteilt. Indes verliert die Streitfrage wohl manches von ihrer Schärfe, wenn man die Rechtsstellung des mit Organfunktionen betrauten Angestellten, z.B. durch Forderung und Sicherung des gleichen Maßes von Berufstreue, der des Berufsbeamten annähert, was ja nach den dankenswerten Ausführungen des Herrn Lutz Richter - auch der Wunsch jener Kreise ist, die das Berufsbeamtensystem durch den Angestelltentypus ersetzen wollen. Ich ziehe trotz alledem in dem von mir beschriebenen Umfang das öffentlichrechtliche Dienstverhältnis dem privatrechtlichen Angestelltenverhältnis vor. Auf die positivrechtliche Auslegungsfrage des verfassungsrechtlichen Charakters der beamtenrechtlichen Bestimmungen der Reichsverfassung fühle ich mich als Österreicher nicht näher einzugehen berufen, doch will ich, um nicht meinungslos zu erscheinen, andeuten, daß mir die Doppelnatur dieser Einrichtungen als sowohl persönlicher als auch institutioneller Garantien, zumal nach den überzeugenden Ausführungen der Herren Richard Schmidt, Apelt und Jellinek, unzweifelhaft erscheint. Wie dankenswert mir auch die verfassungstheoretische Unterbauung unseres Problemkomplexes in dem tiefschürfenden Referat des Herrn Gerber sowie überhaupt in der neuesten verfassungsrechtlichen und beamtenrechtlichen Literatur erscheint, so habe ich demgegenüber doch die rechtstechnische Aufgabe vorangestellt und möchte sie auch zum Schlüsse unterstreichen, die uns die Reichsverfassung zu lösen gibt - soweit sie überhaupt mit rechtlichen Mitteln zu lösen ist - ich meine die Aufgabe, den Beamten zum Diener der Gesamtheit und damit des Volkes selbst zu machen.

Naturschutz und Naturschutzparke in Österreich Österreichs formenreiche, an Schönheiten schier unerschöpfliche Landschaft entbehrte bis zum Kriege eines bewußten organisierten Naturschutzes. Erst die starken Eingriffe in die Natur während des Krieges und in der Nachkriegszeit ließen in unseren Landen Pläne und Taten eines organisierten Schutzes der schutzwürdigen und schutzbedürftigen Naturerscheinungen heranreifen. Im letzten Jahrzehnt wurde denn auch der Vorsprung anderer Staaten auf diesem Gebiete in vielen Punkten eingeholt und in Österreich ein mustergültiger, im Ausland wiederholt als vorbildlich hingestellter gesetzlicher und verwaltungsmäßiger Naturschutz ausgebaut, dem freilich die nötige Verwurzelung im Bewußtsein der Bevölkerung noch vielfach fehlt. Naturschutzgesetze der Länder Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Kärnten und Burgenland haben über unsere unübertreffliche Heimat ein Netz von Schutzbestimmungen ausgebreitet, die, freilich noch nicht voll wirksam, darauf abzielen, die Landschaft in allen ihren Erscheinungsformen möglichst unversehrt künftigen Geschlechtern zu erhalten. Außer dieser originellen österreichischen Form des Naturschutzes hat aber auch der zunächst amerikanische Gedanke von Naturschutzparks in Österreich eine Heimstatt gefunden. Freilich nicht in dem Sinne, dass in einem solchen Naturschutzpark die allseitig zurückgedrängte Natur ein museumartiges Asyl finden sollte, sondern daß hier das Seltenste, Erlesenste und Erhabenste, was die heimische Natur zu bieten hat, möglichst jeder menschlichen Nutzung entzogen und durch diesen gesteigerten Schutz möglichst naturhaft erhalten werden soll. Im Bereiche des majestätischesten Berges Österreichs, des Großglockners, hat der Verein Naturschutzpark mit dem Sitze in Stuttgart ein durch das Stubachtal in Salzburg zugängliches Gebiet erworben, das zusammen mit dem angrenzenden Teil der österreichischen Bundesforste die Bedingungen eines Naturschutzparkes wie nicht so bald ein zweiter Punkt der österreichischen

Radio Wien, 9. Jg. (1933), Nr. 39, S. 16-17 (Zum Vortrag am 30. Juni).

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Alpen erfüllt, und von den beiden Eigentümern tatsächlich im Sinne eines echten Naturschutzparkes betreut wird, wenngleich dieses Kleinod der österreichischen Landschaft bislang noch nicht unter gesetzlichen Schutz gestellt worden ist. Die photographischen Aufnahmen geben nur annähernd eine Vorstellung von dem Formenreichtum und der überwältigenden Schönheit dieser Bergwelt, die aus sanft ansteigenden Alpentälern in urwaldartigem Zirbenbestand zu eigen- und einzigartigen Hochseen am Rande der Gletscherwelt emporführt. Mit dieser Vielgestaltigkeit der Landschaftsformen paart sich ein ungewöhnlicher Reichtum der Flora und Fauna, die in dieser königlichen Landschaft ebenfalls mit allen denkbaren Formen bis zu ihren vornehmsten Erscheinungen vertreten ist.

Naturschutzgebiete in Österreich Naturschutzparke, wie sie westliche Länder Europas und Amerika in größtem Stil geschaffen haben, sind dem deutschen Volk in seinen beiden Nationalstaaten bis vor kurzem völlig versagt geblieben. Dies ist aus doppeltem Grunde befremdlich und doch wiederum verständlich. Befremdlich deshalb, weil die ideologischen und materiellen Vorbedingungen für ein solches Kulturwerk im deutschen Lebensraum in idealer Weise erfüllt sind. Der Sinn für Natur hat in keinem Volke der Erde so tief wie im deutschen Volk - in geradezu metaphysischer Vertiefung - Wurzel geschlagen, und auch wenig berührte und schutzwürdige, ästhetisch und wissenschaftlich gleich wertvolle Natur ist auf deutscher Erde Gott sei Dank noch nicht zu spärlich geworden. Dagegen fehlte freilich bisher den Deutschen des Reiches wie Österreichs der notwendige Organisationssinn für ideelle Aufgaben und Ziele und die nötige Einstellung der politisch verantwortlichen Persönlichkeiten, ihr Blick dafür, daß es sich hier um eine gesamtnationale und darum staatliche Aufgabe handle. Die offizielle Politik im Reiche wie in Österreich hatte bisher andere Sorgen und glaubte sich um derartige „Kleinigkeiten" nicht einmal annehmen zu dürfen , übersah aber mit diesem verkehrten Wertungsmaßstab eine Zukunftsaufgabe deutschen Kulturlebens über manchem nichtigen alltäglichen Kleinkram. Die „Mitteilungen" haben das Verdienst, durch den Mund oder vielmehr die Feder des Alpinisten Sepp Dobiasch vor allem die bergfreudige deutsche Jugend an diese „Zeitaufgabe des Alpinismus" gemahnt zu haben. Solch tatenfreudiger Zuspruch tut not, um das Werk in Gang zu bringen, und alle nicht bloß ichsüchtigen, sondern national verantwortungsbewußten Alpinisten müßten zusammenhelfen, um das Werk vorwärtszubringen. Der Anreger und mit ihm die große Masse der deutschen Alpinisten scheinen aber doch nicht zu wissen, wie weit bereits durch private Initiative die organisatorischen und rechtlichen Vorbedingungen für Naturschutzparke in Öster-

Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Bd. 50 NF (1934), S.111-112.

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reich gediehen sind, so daß es kaum noch irgendwelcher Vorbereitung und besonders einer Vorberatung bedarf, um den Plan in die Tat umzusetzen. Der Anreger - Sepp Dobiasch - meint, „eine Arbeitsgemeinschaft von Fachleuten müsse gebildet werden, die jene Gebiete bestimmt und abgrenzt, die in Betracht kommen, die alle einschlägigen juristischen Fragen prüft, alle Möglichkeiten der Verwirklichung feststellt". Alles, was hier als Zukunftsaufgabe hingestellt wird, ist jedoch schon geschehen. Ziemlich allgemein dürfte bekannt sein, daß der Verein „Naturschutzpark, E.V." mit dem Sitz in Stuttgart, der derzeit unter der überaus rührigen Leitung des Obersten von Stockmayr steht, außer einem einzigartigen, umfangreichen Gebiet in der Lüneburger Heide, das er mit bedeutenden Geldmitteln erworben hat, auch ein zwar viel kleineres, aber ebenfalls einzigartiges Gebiet im Stubachtal (Salzburg), im Zentrum der Hohen Tauern, nordwestlich vom Großglocknermassiv, erworben hat, womit durch deutsche Tatkraft, aus deutschen Mitteln für einen österreichischen Naturschutzpark der Grund gelegt wurde.1 Den Mindestausmaßen eines Naturschutzparkes genügt allerdings das Vereinseigentum auf österreichischem Boden noch nicht; das Vereinseigentum ist ringsum von Staatseigentum umschlossen, das vom Wirtschaftskörper der Österreichischen Bundesforste bewirtschaftet wird. Gerade in diesem Bundesforst finden sich die größten Naturschönheiten: vor allem der hochalpine Weißsee, in dem sich Gletscher spiegeln, und der altberühmte Wiegenwald mit dem größten geschlossenen Zirbenbestand Österreichs. Nur die Eigentumsobjekte des Bundesärars und des Vereins „Naturschutzpark" zusammen würden einen Naturschutzpark abgeben, weil nur ein größeres, geographisch und biologisch einheitliches Territorium nach den Grundsätzen eines Schongebietes folgerichtig betreut werden kann. Das kleine, überdies in mehrere Parzellen zersplitterte Gebiet des Vereins „Naturschutzpark" würde selbst seinen gegenwärtigen Charakter einer tatsächlichen Naturreservation verlieren, wenn an allen Grenzen die Zeugen menschlicher Zivilisation in Gestalt von Straßen, Hotels, Elektrizitätswerken 2 und dergleichen hereinragten. Es muß

1 Über die Entwicklung der Naturschutzparke der Erde geben insbesondere die von dem genannten Verein herausgegebenen „Mitteilungen" Aufschluß. Verlag des Vereins „Naturschutzpark", Stuttgart, Pfizerstraße 2 D. 2

In unmittelbarer Nachbarschaft des Schongebietes - auf dem Enzingerboden - befindet sich heute schon ein Kraftwerk der Österreichischen Bundesbahnen. Ein weiterer Ausbau der Elektrizitätsgewinnungsanlagen würde bereits in das Herz des in Aussicht genommenen Naturschutzparkes vorstoßen.

Naturschutzgebiete in Österreich

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voll anerkannt werden, daß die Generaldirektion der Bundesforste, bei der der Gedanke des Naturschutzes gewiß in bester Hut ist, das fragliche Gebiet freiwillig schon bisher in konservativem Sinn bewirtschaftet. Der gute Wille der Fachleute genügt aber nicht allein, um das Territorium in seiner gegenwärtigen Gestalt zu erhalten oder es gar zu einem echten Naturschutzpark zu gestalten. Der Verein „Naturschutzpark" ist in dem ihm als Eigentum gehörigen Gebiet immerhin noch in einer besseren Lage als die bloß zur treuhändigen Verwaltung der Bundesforste berufene Bundesforstverwaltung. Diese ist nicht freie Herrin ihrer Entschlüsse, sondern vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft sowie, was schwerer wiegt, vom Finanzministerium abhängig und überdies Einflüssen der Politik und Wirtschaft ausgesetzt, so daß keine Gewähr besteht, daß nicht einmal die bessere Einsicht der Fachleute gegenüber dem stärkeren Gewicht von Interessenten den kürzeren zieht. Eine wirkliche Garantie für die Pflege einer Landschaft als Schongebiet und damit den vollen Charakter dieser Landschaft als Naturschutzpark bietet nur eine gesetzliche Bannlegung dieser Landschaft. Diese ist denn auch das nächste Ziel, das der Verein„.Naturschutzpark" mit seinem österreichischen Schutzgebiet verfolgt, und das naturgemäße Bestreben der Bundesforstverwaltung wenn sie ihre mit dem Verein durchaus übereinstimmende Haltung auch für die Zukunft vor den Einflüssen fremder Faktoren sicherstellen will. Gerade für diesen entscheidenden Schritt sind aber bereits alle Voraussetzungen erfüllt. Es ist ein Verdienst der Fachstelle für Naturschutz mit dem Sitz in Wien, die sich derzeit als die gemeinsame amtliche Vertretung der österreichischen Bundesländer Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Burgenland und Kärnten darstellt, und des „Österreichischen Naturschutzverbandes" als der Spitzenorganisation des vereinsmäßigen Naturschutzes in Österreich, daß in ausdauernder Zusamenarbeit, die durch die gemeinsame rührige Leitung in der Person des Hofrates Dr. Günther Schlesinger in vollendeter Weise gewährleistet ist, Österreich mit einem Netz von Naturschutzgesetzen überzogen wurde, von dem bis heute nur noch die Länder Steiermark und Wien ausgenommen sind. Es ist echt österreichisch, daß sich diese organisatorische und rechtliche Durchbildung des Naturschutzes im Ausland größerer Anerkennung erfreut als in Österreich selbst.3 Schon in

3 Bezeichnend ist, daß die französische Gesellschaft für Naturschutz sämtliche österreichischen Naturschutzgesetze in französischer Übersetzung veröffentlicht hat.

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einem Aufsatz über „Aufgaben und Möglichkeiten eines gesetzlichen Schutzes der Naturdenkmäler", der in den von Prof. Dr. Schlesinger redigierten „Blättern für Naturkunde und Naturschutz" 4 erschienen ist, habe ich für alle Zweige des Naturschutzes erfassende Naturschutzgesetze der österreichischen Bundesländer Propaganda gemacht und als ein Mittel des gesetzlichen Naturschutzes auch die Schaffung von Naturschutzgebieten gefordert. In dem Urentwurf für die österreichischen Naturschutzgesetze, den ich daraufhin, noch im Winter 1923, auf Einladung der niederösterreichischen Fachstelle für Naturschutz verfaßt habe, waren bereits jene rechtlichen Handhaben für die Schaffung von Naturschutzparks vorgesehen, die dann auch, wenngleich mit gewissen, vom Standpunkt des Naturschutzes bedauerlichen Abschwächungen, in die geltenden Naturschutzgesetze der einzelnen österreichischen Länder übergegangen sind. So bestimmt das Naturschutzgesetz des Landes Salzburg vom 16. Mai 1929, das für die Pläne des Vereins „Naturschutzpark" in Frage kommt, unter anderem: „Unbeschadet des Schutzes von Naturgebilden können Gebietsflächen, von denen das Amt der Landesregierung festgestellt hat, daß sie wegen des Vorkommens von geschützten Naturgebilden oder wegen ihrer hervorragenden landschaftlichen Bedeutung erhaltungswürdig sind, mit Zustimmung derjenigen, denen die Verfügung über diese Gebiete zusteht, als Banngebiet (geschützte Naturbanngebiete) erklärt werden (§ 8). Die Erklärung als Banngebiet geschieht durch Kundmachung der Landesregierung im Landesgesetzblatt (§ 9)." Mit zwei einfachen Willenserklärungen, einer Zustimmungserklärung der Generaldirektion der Österreichischen Bundesforste, für die allerdings intern die Zustimmung der Bundesministerien für Landund Forstwirtschaft und für Finanzen nötig ist, und einem Beschluß der Salzburger Landesregierung wäre demnach ein Traum der deutschen Naturschützer erfüllt und dem deutschen Volk durch das Zusammenwirken reichsdeutscher und österreichischer Stellen der erste, ausschließlich in deutschen Händen befindliche Naturschutzpark gewidmet! Um alles in der Welt soll aber hiemit nicht der amerikanische Weg beschritten werden, der darin besteht, daß hie und da eine Oase der Natur vor dem Menschen abgesperrt und alle sonstige Natur schonungsloser Ausnützung preisgegeben wird! Wenn die Natur ein dauerndes Erlebnis für den Menschen bleiben oder eigentlich erst wieder werden soll, dann genügt nicht solch einseitiger

4

Oktober 1923. Schriftleitung und Verwaltung: Wien 1., Herrengasse 9.

Naturschutzgebiete in Österreich

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Naturschutz, bei dem die Natur zu einer Art Museumstück wird, zu dem nur Auserwählte Zutritt und innere Beziehungen haben, dann muß möglichst viel unverfälschte Natur den Menschen möglichst allerorten umgeben oder doch aufs leichteste erreichbar sein. Solch totaler Naturschutz ist der Sinn der vorerwähnten österreichischen Naturschutzgesetze, die eingegeben sind von Ehrfurcht für die heimatliche Erde und geleitet sind von dem Bestreben, die Herrschaft des Menschen über die außermenschlichen Geschöpfe dieser Erde zu mildern, auch ihnen einen Lebensraum zu lassen. Ein unentbehrlicher Teil dieses allgemeinen Naturschutzes, der freilich mit den menschlichen Lebensnotwendigkeiten ständig Kompromisse schließen muß, ist aber auch die Pflege von Naturschutzgebieten, wo der Mensch nicht mehr ausbeutender Herr ist, sondern nur still beobachtender Diener und Bewunderer des geheimnisvollen Waltens außermenschlicher Kräfte und Lebensvorgänge sein soll. Nachwort. Seit der Verfassung dieses Aufsatzes, die ein Jahr zurückliegt, haben sich die Aussichten einer Erklärung der Generaldirektion der Österreichischen Bundesforste wesentlich verschlechtert, da die Bundesforstverwaltung - bei allem dankenswerten Verständnis für die Aufgaben des Naturschutzes - auf gewisse Nutzungen ihres zum Banngebiet ausersehenen Forstes im Stubachtal, namentlich im Hinblick auf das im fraglichen Gebiet gelegene Elektrizitätswerk der Österreichischen Bundesbahnen, nicht verzichten kann. Unter diesen Umständen handelt es sich darum, wenigstens die kostbarsten Teile des Territoriums rings um den „Wiegenwald" als der Fläche nach bescheidene Reservation auszusondern, daneben besteht die Aufgabe, der auch jeder sachkundige Alpinist dienen kann, allenfalls für die Bannlegung geeignetere Flächen in den österreichischen Alpen, die mineralogisch, botanisch und geologisch hervorragen, ausfindig zu machen und dem Naturschutzverband (Wien 1., Herrengasse 9) bekanntzugeben.

Naturschutz im Wiener Gelände als Heimatdienst Die eigenartige Ausstellung von Baumgemälden , die nach dem Bericht der „Reichspost" dieser Tage von dem verdienstvollen österreichischen Gesandten in London Franckenstein eröffnet worden ist, beweist von neuem die Naturverbundenheit bedeutender Schichten des englischen Volkes, denn nur auf solchem geistigen Boden reift ein solches Unternehmen. Vor Jahren schon legte für dieselbe Erscheinung die Tatsache Zeugnis ab, daß eine Londoner Gemeinde einen Bauplatz um mehrere hunderttausend Schilling gekauft hat, um einen einzigen alten Baum, der einem Bauprojekt zum Opfer gefallen wäre, vor diesem Schicksal zu bewahren. Wir Österreicher, die wir ganz andere landschaftliche Werte wahrzunehmen, die wir sogar in unserer Hauptstadt wie in keiner Hauptstadt der Erde geschlossenen Hochwald mit bunter Flora und Fauna zu behüten haben, könnten von solchen Äußerungen echten Heimatschutzes noch reichlich lernen. Zwar haben fast alle österreichischen Bundesländer Naturschutzgesetze in Kraft gesetzt, die alle realisierbaren Möglichkeiten des Naturschutzes berücksichtigen, zwar ist auch die von Lueger gefaßte geniale Idee eines Wald- und Wiesengürtels über alle politischen Wandlungen hinweg lebendig geblieben, doch fehlt es bei uns an der rechten Resonanz in der Bevölkerung und somit an verständnisvoller Mitwirkung bei der Mitwirkung der gesetzgeberischen Maßnahmen. Bezeichnend ist dafür, daß in Österreich die meisten gesetzgeberischen Maßnahmen in Sachen des Naturschutzes unbekannt geblieben sind, während sie im Ausland auf wissenschaftlichen und fachlichen Kongressen als Kulturtaten gepriesen und beispielsweise die Naturschutzgesetze der österreichischen Länder in französischer Überset-

Reichspost vom 8. Dezember 1934, S. 18.

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zung herausgegeben worden sind. Und so ist Österreich gegenüber dem Ausland, das viel weniger an erhaltungswürdigen Naturerscheinungen zu schützen hat, in einer Sache im Rückstand, die nicht nur eine kulturelle, sondern auch - in Anbetracht der Anziehungskraft unentstellter Natur für den Fremdenverkehr - eine bedeutende wirtschaftspolitische Aufgabe darstellt. Indes haben die österreichischen Naturfreunde, deren Anhänglichkeit an die heimatliche Landschaft eine nicht unwesentliche Seite der Heimatliebe überhaupt zur Geltung bringt, allen Grund, zu hoffen, daß in absehbarer Zeit auch die Stadt Wien dem Beispiel der österreichischen Bundesländer, wie übrigens auch dem alten Vorbild der reichsunmittelbaren Städte des Deutschen Reiches folgen und ein den Eigenheiten der Großstadt, aber auch dem Bedürfnis der umliegenden Alpenländer entsprechendes Naturschutzgesetz in Kraft setzen wird. Ein Entwurf hiefür liegt dem Wiener Magistrate seit dem Jahre 1925 vor, ohne trotz vieler Betreibungen in den früheren Jahren der Verwirklichung nähergekommen zu sein. Der Entwurf, den ich in meiner Eigenschaft als ehrenamtliches, rechtskundiges Mitglied des Fachbeirates der österreichischen Bundesländer für Naturschutz auf Einladung dieses Beirates verfaßt habe und der sich unter Berücksichtigung der Besonderheiten einer Großstadt an das Vorbild der auf meinen Urentwurf zurückführenden österreichischen Landesnaturschutzgesetze anschließt, hat in eingehenden Beratungen der amtlichen Fachstelle für Naturschutz, die unter der überaus rührigen Leitung des Hofrates Professor Dr. Günter Schlesinger steht, seine heutige Fassung und überdies die volle Billigung des Österreichischen Naturschutzverbandes gefunden. Das ist die vereinsmäßige Spitzenorganisation des österreichischen Naturschutzes, die durch ihre Verbandsvereine mehr als 200.000 irgendwie an der Landschaft interessierte Mitglieder umfaßt. Auch dürfen wir österreichischen Naturschützer nunmehr hoffen, daß unter den geänderten Verhältnissen die Ermächtigung des § 4 der Wiener Bauordnung zum Schutz des Baumbestandes im Stadtgebiet entweder im Zuge des vorerwähnten Naturschutzgesetzes oder zu einer besonderen Maßnahme ausgeweitet wird. Nach der zitierten Gesetzesstelle können zur Erhaltung des Baumbestandes durch Verordnung besondere Maßnahmen getroffen werden. Solche Schutzmaßnahmen können auchflir einzelne Bäume und Baumgruppen angeordnet werden, die außerhalb der Schutzge-

Naturschutz im Wiener Gelände als Heimatdienst

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biete stehen, aber für das Ortsbild wichtig sind. Durch die wilden Abholzungen in Wien zum Kriegsende und noch mehr durch eine unbedachte Siedlungsbewegung, die, statt neue Grünflächen zu schaffen, bestehende Grünflächen zerstört hat, wurde der Baumbestand im Weichbilde der Stadt so sehr geschmälert, daß man sich wirklich schon bedenken muß, ganze Baumgruppen und selbst einzelne altehrwürdige Bäume der Axt zu überliefern. Diese Tatsache erlegt selbst für den Bau der Wienerwaldstraße, die dem Wiener und noch mehr dem Fremden den Wald- und Wiesengürtel erschließen soll, gewisse Pflichten auf. Ihren tiefen Sinn als Wienerwaldstraße wird diese Straße nur dann erfüllen, wenn sie als wahre Waldstraße gebaut wird; das heißt, es müßten, zum Unterschied von der Bauweise der modernen Nutzstraßen, die Bäume bis dicht an den Straßenrand erhalten und der Straßenzug womöglich unter dem Blätterdach dahingeführt werden. Und an dieser Stelle möge noch ein Wunsch zum Ausdruck kommen, den alle am Wiener Wald hängenden Wiener teilen werden. Da nun schon der historische Platz nächst der Kahlenbergkirche in der Richtung des Leopoldsberges bis auf den letzten der dort besonders prächtig gewachsenen Buchen- und Eichenbäume gerodet wurde und der erhabene Blick vom Kircheingang gegen den Waldesdom, aus dem Waldesdom auf das Gotteshaus entschwunden ist, möge wenigstens diese Fläche in einer Weise verwertet werden, die ihrer Bedeutung für die Geschichte Wiens würdig ist und den Charakter der Kirche als Berg- und Waldkirche annähernd wahrt.

Glocknerstraße und Glocknernaturschutzpark Mit dem technisch gewiß großartigen zivilisatorischen Werke der Glocknerstraße kann vom Standpunkt des Naturfreundes und Naturschützers nur eines versöhnen: die gleichzeitige Erklärung des Kernes der durch den Straßenbau erschlossenen erhabenen Landschaft zum Naturschutzgebiet im Sinne des Kärntner Naturschutzgesetzes, womit sich die Kärntner Landesregierung ein unvergängliches kulturelles Verdienst um Österreich erworben hat. Die Verordnung der Kärntner Landesregierung vom 1. Juli 1935, womit der Besitz des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines am Großglockner zum Naturschutzgebiete erklärt wurde, ist vor allem von grundsätzlicher Bedeutung für die österreichische Naturschutzbewegung. Einmal in der Richtung, daß die Vertretung der Besorgnisse um das Glocknergebiet, insbesondere um die Zerstörung der botanischen Schätze der Gamsgrube durch eine Fortsetzung des Straßenbaues von der Franz-Josefshöhe aus, nicht ein bloßes politisches Manöver sei. Denn der großzügige Beschluß der Kärntner Landesregierung, deren österreichischer Patriotismus doch nicht bezweifelt werden darf, bekundet in eindeutiger Weise, daß das geschützte Gebiet, namentlich die Pasterze und die Gamsgrube, Kostbarkeiten sind, die Österreich um seiner selbst willen unversehrt zu erhalten allen Grund hat - schon damit diese erhabene Landschaft für den Fremdenverkehr jener Anziehungspunkt bleibe, der er gerade durch den Straßenbau geworden ist. (Hiermit bestätigt sich übrigens neuerlich der vom führenden Fachmann des österreichischen Naturschutzes, Herrn Hofrat Schlesinger, immer wieder propagierte Gedanke, daß das kulturelle Interesse des Naturschutzes mit einem wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse letzten Endes parallel läuft.) Die grundsätzliche Bedeutung der Verordnung der Kärntner Landesregierung ist jedoch insbesondere darin begründet, daß dadurch Österreich das erste geschützte Naturschutzgebiet von Rang be-

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 22. Jg. (1935), S. 122-124.

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kommen und damit der Gedanke der Schaffung von Schongebieten, dem die Naturschutzgesetze fast sämtlicher österreichischer Länder Gestalt gegeben haben, einen mächtigen Auftrieb erhalten hat. Zu einem Naturschutzpark von europäischem Format würde das bisher unter Schutz gestellte Gebiet den Kern abgeben, wenn auch schonwürdige Gebietsflächen in Salzburg, die an das Kärntner Schutzgebiet angrenzen, namentlich die Bundesforste im oberen Stubachtal und der Besitz des Vereines „Naturschutzpark" im Stubachtal, in der Dorfer Öd und Ammertaler Öd - und dann durch ihre Fauna und Flora besonders bemerkenswerte und unberührte Teile der Hohen Tauern - auf Grund des Salzburger Naturschutzgesetzes zum Naturschutzgebiet erklärt würden. Darf man hoffen, daß die Landesregierung von Salzburg dem Vorbild, das die Kärntner Regierung gegeben hat, folgen und daß auch die Bundesregierung die notwendige Zustimmung des Grundeigentümers hinsichtlich der Bundesforste geben wird? Damit wäre ein Plan verwirklicht, den der Verein Naturschutzpark in Stuttgart in uneigennütziger, vor allem den ideellen Interessen Österreichs dienender Weise seit Jahren verfolgt und den der Schreiber dieser Zeilen namens des Vereines Naturschutzpark, dessen Ausschußmitglied er ist, bei der Generaldirektion der Bundesforste und bei anderen amtlichen Stellen vertreten hat. Es verdiente als wirklich einzig dastehender Fall gewürdigt zu werden, daß ein ausländischer Verein seinen ganzen österreichischen Besitz, der ausschließlich aus ausländischen Mitteln erworben wurde, nicht bloß schon seit jeher unter Verzicht auf jede Nutzung wie ein Schutzgebiet bewirtschaftet, sondern auch der österreichischen Öffentlichkeit als Herzstück eines österreichischen Naturschutzparkes - freilich unter der Bedingung der Einbeziehung der gleich schonwürdigen angrenzenden Bundesforste in den Naturschutzpark - zur Verfügung stellt. Es empfindet es wohl jeder patriotische Österreicher als Ehrenpflicht des österreichischen Staates, daß er zur Erfüllung einer kulturellen Aufgabe, in der Österreich gegenüber anderen Kulturstaaten noch sehr im Rückstände ist, ebenso beisteuere, wie es zwei Vereine, die um den kulturellen Ruf Österreichs doch nicht in demselben Maße verpflichtet sind, der Deutsche und Österreichische Alpenverein und der Verein „Naturschutzpark" getan haben und zu tun willens sind. Die Erklärung des Alpenvereinsbesitzes zum Naturschutzpark verpflichtet freilich auch, wenigstens von diesem Teil des Glocknergebietes die Gefahren abzuwenden, die der Massenverkehr als Folge der straßentechnischen Erschließung mit sich bringt. Wer einige mit Alpenrosen geschmückte

Glocknerstraße und Glocknernaturschutzpark

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Autos, die von der Feier der Eröffnung der Hochalpenstraße kamen, zu Gesicht bekam, kann ermessen, welche Hekatombenopfer die Flora dem Massenverkehre bis zur baldigen völligen Verödung wird bringen müssen, wenn diesem Mißbrauch von Verkehrsmitteln nicht rechtzeitig gesteuert wird. Diese Blumenopfer vergrößern sich in demselben Verhältnis, als die Motorhaube für Blumenquantitäten aufnahmsfähiger ist als der Hut eines Touristen. Da ist immerhin noch der Wanderer erträglicher, der seine Hutschnur mit Alpenrosen besteckt, als der Automobilist, der zu Girlanden gebundene Kinder Floras mit Pferdekräften zu Tal befördert. Auch die beabsichtigte Anlage eines weiteren Parkplatzes und die Errichtung eines gepflegten Fußweges in der Richtung der Gamsgrube erhöhen die Gefahren, die der ganzen Landschaft und gar jenem alpinistischem Kleinod drohen. Wer die dortigen Vegetationsverhältnisse kennt, weiß, daß nicht nur zahlreiche Fundstellen von Edelweiß und Kohlröschen den Bauarbeiten unmittelbar zum Opfer fallen würden, sondern daß der von den genannten Pflanzen reich bestandene Hang rechts oberhalb der Pasterze von den Globetrottern gründlich devastiert werden wird. Einer Absperrung des neuen Parkplatzes und des anschließenden Fußweges an der Berglehne mittels eines Gitters kann man aus Rücksicht auf das Landschaftsbild schwerlich das Wort reden. Die fraglichen Erweiterungsbauten sind jedenfalls mit der Idee, möglicherweise auch mit dem Inhalt der Verordnung, die den Alpenvereinsbesitz unter Schutz gestellt hat, unvereinbar. Die Landesfachsteile für Naturschutz im Lande Kärnten steht vor einer schweren, verantwortungsvollen Aufgabe, denn sie ist der berufenste Garant des kostbarsten Schutzgebietes in Österreich.

Das Wiener Naturschutzgesetz und wir Am 7. August 1935 ist das Stadtgesetz für Wien vom 5. Juli l.J. über den Schutz der Natur in Kraft getreten. Damit wurde eine Lücke in der österreichischen Naturschutzgesetzgebung ausgefüllt, für die die Fachstelle für Naturschutz und der Österreichische Naturschutzverband schon im Jahre 1925 die nötige Vorarbeit geleistet haben. Als Frucht dieser Arbeit wurde in demselben Jahre ein von sachverständiger Seite entworfener und eingehend durchberatener Gesetzentwurf dem Wiener Magistrat zur Verfügung gestellt. Entgegen allen Mahnungen von naturfreundlicher Seite, selbst von einer Stelle, die der früheren Gemeindeverwaltung nahestand, wie etwa der Touristen verein „Naturfreunde", hat dieser Entwurf bis zum heurigen Jahre nicht die Form eines Gesetzes angenommen. Die weitverbreitete Meinung, daß eine Großstadt nicht Subjekt und Objekt eines Naturschutzgesetzes sein könne, wurde nicht einmal durch das naheliegende Vorbild der deutschen Hansastädte, unter denen namentlich Hamburg seit dem 9. Dezember 1920 ein denkbar radikales Naturschutzgesetz hat, entkräftet. Um so größer ist das Verdienst der Spitzen der heutigen Stadtverwaltung von Wien, daß nun, sozusagen in letzter Stunde, doch noch ein Schutzgesetz für Wien in Kraft getreten ist. Die echten Naturfreunde dürfen sich dieser kulturellen Tat freuen, obzwar sie wissen, daß das Gesetz bestenfalls nur noch einen Bruchteil dessen zu retten helfen kann, was noch vor zwei Jahrzehnten zu retten gewesen wäre. Damit das Wiener Gesetz seinen Zweck erfülle, ist aber mehr als in den Bundesländern die Mitwirkung, ja die Initiative der naturfreundlichen Bevölkerung erforderlich, und zwar deswegen, weil das Gesetz nicht, so wie die meisten Landesgesetze, ausdrücklich die Mitwirkung eines Fachorganes für Naturschutz vorsieht, das Antragsrecht und Parteirolle im Verfahren hat. Schutzwürdige Naturgebilde

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 22. Jg. (1935), S. 161-164.

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(andere Gesetze sprechen exklusiver von Naturdenkmalen) können nur von amtswegen oder auf Antrag des Eigentümers unter Schutz gestellt werden. Man darf aber als sicher erwarten, daß sich der Magistrat des Rates eines Sachverständigen bedienen wird. Im Bannlegungsverfahren hat sonach nicht ein besonderer Anwalt für Naturschutz, wohl aber außer dem Eigentümer jeder Verfügungsberechtigte, also nicht bloß, wie in Niederösterreich, der am Schutzobjekt dinglich Berechtigte, sondern auch jeder Bestandnehmer (Mieter und Pächter) Parteistellung. Dieser Schutz von Privatinteressen ist deshalb bemerkenswert, weil der Mieter und Pächter jedenfalls mit dem Bestand des geschützten Naturgebildes rechnen müssen und es keinesfalls eigenmächtig entfernen dürfen, so daß auch die rechtliche Sicherung dieses Bestandes durch die Erklärung des Naturgebildes als schutzwürdig die Rechtslage des Mieters oder Pächters nicht ändert. Unter diesen Umständen wird es für den Magistrat selbst wünschenswert sein, wenn er durch private Anregungen Gelegenheit bekommt, von amtswegen die Bannlegung von schutzwürdigen Naturgebilden einzuleiten. Die Wirkung des Gesetzes wird auch sehr stark davon abhängen, wie sein § 3 gehandhabt wird. Nach dieser Vorschrift ist von der Erklärung eines Naturgebildes als schutzwürdig Abstand zu nehmen, wenn andere wichtige Interessen, insbesondere solche der Volkswirtschaft, das Interesse an der Erhaltung des Naturgebildes überwiegen. Es ist durchaus nicht wirtschaftsfeindlich gedacht, wenn man berücksichtigt, daß die freie Natur im Weichbild der Großstadt schon derart in die Verteidigungsstellung geraten ist und Seltenheitswert angenommen hat, daß eine auf wahren Heimatschutz bedachte Verwaltung aus kulturellen und aus wirtschaftlichen Gründen dem Naturschutz den Vorzug geben wird. - Bei der Umbrandung der geschützten Naturgebilde durch das Großstadtleben werden auch mehr als anderswo sichernde Maßnahmen zum Zwecke wirklicher Erhaltung des unter Schutz gestellten Naturgebildes nötig werden, wozu § 9 des Gesetzes die Handhabe bietet. Bei Bäumen und Baumgruppen, Naturwiesen, Auen, natürlichen Gewässern, sowie den Standorten seltener Tier- und Pflanzenarten wird wohl mitunter eine möglichst unaufdringliche Einzäunung oder eine sonstige, jedenfalls sichtbare Kennzeichnung als geschütztes Naturgebilde, dessen Zerstörung oder Beschädigung straffällig macht, unvermeidlich sein. Mangels einer besonderen Handhabe zur Schaffung von Banngebieten wird der § 1 des Gesetzes, der als schutzfähige Naturgebilde auch die Standorte

Das Wiener Naturschutzgesetz und wir

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seltener Tier- und Pflanzenarten namhaft macht, zur Schaffung der wissenschaftlich gebotenen Reservationen herangezogen werden müssen. Besonders dankbar dürfen alle Naturfreunde, insbesondere auch außerhalb Wiens, dem Gesetzgeber dafür sein, daß er den von der Wiener Stadtverwaltung seit der Erlassung des niederösterreichischen Naturschutzgesetzes vom 3. Juli 1924 geforderten Schutz für die, nicht zuletzt durch unverständige Wiener gefährdete Landschaft der Bundesländer bietet, soweit sie die Stadt Wien in nachbarschaftlicher Gesinnung bieten kann. Nach § 19 des Gesetzes kann nämlich das Einbringen von namentlich zu bezeichnenden Tieren und Pflanzen, die in dem einen oder anderen Lande des Bundesstaates geschützt sind, in das Gebiet der Stadt Wien verboten werden. Für den Naturfreund, also insbesondere für den Leser dieser Zeitschrift, eröffnen die auszugsweise skizzierten Bestimmungen des Gesetzes eine schöne Aufgabe, von deren Erfüllung geradezu der Erfolg des Gesetzes abhängt. Vor allem die zuständigen amtlichen Stellen, am besten auf dem Weg der Schriftleitung dieser Zeitschrift (Wien 1., Herrengasse 9), auf den Bestand schutzwürdiger Naturgebilde, deren es gewiß im Verborgenen, namentlich in Privatgärten mehr als man ahnt gibt, aufmerksam zu machen. Im besonderen kommen Bäume, Baumgruppen, Felsbildungen, Naturwiesen, Auen, natürliche Gewässer, Vogelhorste und auch Standorte seltener Tier- und Pflanzenarten, also ganze geschlossene Flächen in Betracht. Die oft auch durch den Bergsport ungebrochene Naturentfremdung des Städters geht an derartigen in die Steinwüste eingestreuten Oasen der Natur meist achtlos vorbei und selbst der kultivierteste Intellektuelle läßt es als selbstverständlich geschehen, daß der unverständige Eigentümer diese letzten Kleinodien mißhandelt, indem er ihnen mit Axt oder Baumschere Beweise seines Herrenrechtes beibringt. 1 Umso mehr ist, wer dafür ein Auge hat, verpflichtet, von seinen Beobachtungen Gebrauch zu machen. Von allen Übertretungen des Gesetzes und seinen Durchführungsverordnungen, so namentlich vom Einbringen anderweitig geschützter Pflanzen nach dem

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Kürzlich beobachtete ich beispielsweise, daß in Grinzing ein breitausladender, fächerpalmenartig gewachsener Eibenstrauch, unter dessen dichtes Grün sich oft im Winter ein Dutzend Meisen geduckt hat, grundlos bis auf ein paar dünne Ruten zusammengeschnitten wurde.

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Stadtgebiet von Wien ist aber rücksichtslos der Sicherheitswache die Anzeige zu erstatten. Nur so kann sich der Sinn des Gesetzes erfüllen, den man durch die schönen alten Rechtssprüche ausdrücken kann „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" und „Eigentum verpflichtet".

Die Leitgedanken der Reform des Rechtsstudiums Durch die Verfassungsrechtslage begünstigt, ist dank der intensiven und überaus sachkundigen Arbeit der zuständigen Funktionäre des Unterrichtsministeriums die jahrzehntelang in Diskussion stehende Reform der rechtsund staatswissenschaftlichen Studien für die weitere Juristenwelt unvermutet in Kraft getreten.1 Es darf vor allem vermerkt werden, daß die Unterrichtsverwaltung nicht nur schon vor geraumer Zeit Vorschläge der Rechtsfakultäten eingeholt, sondern sich auch diese Vorschläge weitgehend zu eigen gemacht hat. Dabei darf nicht übersehen werden, daß selbst diese Vorschläge infolge der Verschiedenheit der Interessen der Fachdisziplinen und der rein subjektiven Abweichungen der didaktischen Auffassungen der einzelnen Fachvertreter nicht übereinstimmen können. Somit stellt sich ein solches Reformwerk unvermeidlicherweise als ein Kompromiß von oft entgegengesetzten Wünschen dar. Doch wird kein objektiver Beurteiler in Frage stellen können, daß sich das Kompromiß sozusagen auf mittlerer Linie bewegt, daß es insbesondere den nachdrücklichsten zeitbedingten Reformforderungen vollauf Rechnung trägt, ohne jedoch die Traditionswerte der überkommenen juristischen Bildung einfach über Bord zu werfen. Für den juristischen Praktiker, also den Leser dieser Zeitschrift, ist die neue Einteilung der Studienzeit, die namentlich den Rechtshörer und dessen Eltern angeht, von geringerem Interesse. Nur soviel sei vermerkt, daß der Zeitkalkül des Studierenden, der nunmehr neun Semester zu belegen hat, gegenüber dem Zeitkalkül des achtsemestrigen Studiums bis auf wenige Wochen unverändert bleiben kann. Denn der Rechtshörer der neuen Ordnung wird völlig ausgerastet von dem Studium für die den größten Gedächt-

Juristische Blätter, 64. Jg. (1935), S. 377-378. 1

Vgl. BGBl. 378 aus 1935.

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nisstoff umschließende judizielle Staatsprüfung, die er schon, und wohl auch das vermutlich gleichzeitig abzulegende judizielle Rigorosum, bei sonstigem „Terminverlust" nach sechs Semestern abzulegen haben wird, von Mitte Jänner seines letzten Studienjahres an zur staatswissenschaftlichen Staatsprüfung und vermutlich auch zu dem entsprechenden Rigorosum2 antreten können. - Die voraussichtliche Wirkung der neuen Studienordnung, daß das heute verbreitete Studium oder eigentlich Nichtstudium par distance infolge der Intensivierung des Studienbetriebes, namentlich infolge der Einführung von Pflichtvorlesungen, über die Einzelprüfungen abzulegen sind, und infolge der bescheidenen Vermehrung der Pflichtübungen im letzten Studienabschnitt merkbar erschwert und daß das Studium der im Berufe stehenden Personen ohne einen mehrsemestrigen Studienurlaub fast unmöglich gemacht werden wird, sei ebenfalls nur angedeutet. Dagegen dürften einige über das bekannt Gewordene hinausgehende Bemerkungen zur Rechtfertigung der Neuerungen im Studienstoff erwünscht sein. Die Kürzungen des rechtshistorischen Studiums kommen für niemanden überraschend. Es war heute ein stillschweigend auch von den Rechtshistorikern als solcher anerkannter Anachronismus, daß - infolge der weitaus überwiegenden viersemestrigen Dauer des ersten Studienabschnittes - auf den rechtshistorischen Stoff dasselbe Zeitmaß entfiel, wie auf den infolge der Rechtsentwicklung im Laufe von Jahrzehnten zumindest verdoppelten modernrechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Stoff zusammengenommen. Die Folge dieses Mißverhältnisses der Stoffverteilung war bekanntlich in der Regel, daß sich der von den Lorbeeren der „Rechtshistorischen" hinlänglich ausgerastete Kandidat innerhalb der vierjährigen Studiendauer einigermaßen wohl noch mit dem Stoff der judiziellen Prüfungen vertraut machte, dagegen den Stoff der staatswissenschaftlichen Prüfungen erst nach Erhalt des Absolutoriums und daher meist ohne jede Fühlung mit der Hochschule einpaukte. Nun ist aber bekanntlich gerade dieser Stoff dermaßen angewachsen und auch an Aktualität und Bedeutung gestiegen, daß er sich nicht weiterhin als „Anhängsel" des Jusstudiums bewältigen läßt. Die Übung, diesen Stoff in wenigen Monaten, ja selbst, wie man hört, Wochen „einzupauken", rächte sich durch eine schreckenerregen-

2 Die der neuen Studien- und Staatsprüfungsordnung entsprechende Rigorosenordnung steht bekanntlich noch aus.

Die Leitgedanken der Reform des Rechtsstudiums

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de Steigerung des Prüfungsrisikos. Während bei den anderen Rigorosen der Prozentsatz der Reprobierten zehn vom Hundert der Kandidaten nicht wesentlich übersteigt, wurde beim politischen Rigorosum im letzten Studienjahr an der Wiener Universität mehr als ein Drittel der erstmals antretenden Kandidaten reprobiert. Bemerkenswert ist sonach nicht die Kürzung des rechtshistorischen Studienstoffes, sondern eher die Tatsache, daß die Parität des rechtshistorischen Stoffes mit dem judiziellen und mit dem staats wissenschaftlichen Stoff für sich allein (statt wie bisher mit den beiden zuletzt genannten Stoffgebieten zusammen) aufrechterhalten bleibt. Diese Parität kommt in der Zuteilung der gleichen Semesterzahl an alle drei Studienabschnitte zum Ausdruck. Um der Rechtsgeschichte die ursprünglich erwogene Zurücksetzung durch Einschränkung der Studienzeit und demgemäß des Stoffes auf zwei Semester zu ersparen, mußte die Normalstudienzeit auf neun Semester erhöht werden. Das nunmehrige Verhältnis der Wochenstundenzahl der drei Hauptfächer des ersten Studienabschnittes, nämlich römisches Recht, deutsches Recht und Kirchenrecht - zwölf zu neun zu sieben Wochenstunden statt bisher zwanzig zu zehn zu sieben Wochenstunden - dürfte wohl der Kritik eines objektiven Forums standhalten. Die Studienreform hält sich in dieser Hinsicht einerseits von dem zur Mode gewordenen Ressentiment gegen den romanistischen Rechtseinschlag frei und trägt anderseits auch durch fast völlige Wahrung des Besitzstandes der Germanisten der Tatsache Rechnung, daß Österreich seiner Rechtsentwicklung nach ein deutscher Staat ist. Die Beibehaltung der überkommenen Stundenzahl des kanonischen Rechtes ist sachlich nicht bloß durch dessen vielfach unterschätzte didaktische Bedeutung eines technisch hochstehenden Organisationsrechtes, sondern auch durch dessen praktisch gesteigerte Bedeutung für das österreichische private und öffentliche Recht gerechtfertigt. Die fünf Obligatstunden österreichische Reichsgeschichte - nunmehr Geschichte der Verfassung und Verwaltung Österreichs genannt - vermitteln wohl nur ein Minimum an Geschichtskenntnissen, die die Mittelschule scheinbar vielen Maturanten überhaupt nicht mitgibt, wenn man berücksichtigt, daß dem Examinator Kandidaten begegnen, die beispielsweise entweder überhaupt nicht wissen, daß Österreich einmal Bestandteil des Deutschen Reiches war oder die Verbindung oder auch Trennung dieser beiden politischen Gebilde auf die pragmatische Sanktion zurückführen, oder die „Unabhängigkeit" Österreichs vom Jahre 1918 datieren und dergleichen mehr.

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Die Konzession von drei Semestern für den rechtshistorischen Studienabschnitt wurde bekanntlich gewissermaßen durch „Hypotheken" der anderen Studienabschnitte vorbelastet. Durch die Obligatvorlesungen zur philosophischen Einführung der Hörer der Rechts- und Staatswissenschaften, zur Einführung in die Grundbegriffe des Staates und Rechtes und zur Einführung in die Gesellschaftslehre soll ein stärkerer sachlicher Kontakt des historischen mit den modernrechtlichen Studienabschnitten hergestellt und das sachliche Verständnis für die historischen und dogmatischen Fächer der gesamten Studienzeit erhöht werden. Für den wahrhaft wissenschaftlichen Betrieb der Juristerei ist ja nicht bloß eine philosophische, im besonderen logische, erkenntnistheoretische und ethische Grundlegung erforderlich, sondern auch eine Vertrautheit mit den nationalökonomischen und soziologischen Grundbegriffen und Grundlehren wünschenswert. Insbesondere macht die Separierung der judiziellen und staatswissenschaftlichen Studien und die Rückverlegung des Staatsrechtes und der Nationalökonomie auf die letzten Semester eine Einführung in Staat, Recht und Wirtschaft nötig, wenn das moderne Privatrecht nicht sinnlos eingelernt, sondern wirklich verstanden werden soll. Den geringsten Änderungen unterliegt der judizielle Studienabschnitt, der nur durch zwei Wochenstunden Kriminologie erweitert werden soll. Die Minderung der rechtshistorischen Obligatstunden kommt voll der Ausbildung im öffentlichen Recht und in den Wirschaftswissenschaften zugute, die bisher gewiß im Argen lag. Staatslehre und österreichisches Verfassungsrecht wird bekanntlich von fünf auf acht Wochenstunden, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht von sechs auf zehn Wochenstunden, Rechtsphilosophie von vier auf fünf Wochenstunden erhöht; außerdem werden an neuen Obligatkollegien Sozialrecht einschließlich der Sozialversicherung (zweistündig), Sozialpolitik (dreistündig) und Finanzrecht (zweistündig) eingeführt. Daß diese Erweiterungen nur einer prozentuell noch viel intensiveren Vermehrung des Rechtsstoffes entsprechen, zeigt die Anordnung und das Ausmaß des verwaltungsprozeßrechtlichen Kollegs, das sich gegenüber den zehn Stunden Zivilprozeßrecht mit seinen zwei Stunden gewiß noch in bescheidenen Grenzen hält, dabei aber immerhin noch einläßlicher behandelt werden kann, als die andern Teilgebiete des Verwaltungsrechtes, die, wie beispielsweise Staatsbürger- und Heimatrecht, Wirtschafts- (Agrar-, Wasser-, Berg-, Gewerbe-,

Die Leitgedanken der Reform des Rechtsstudiums

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Verkehrsrecht), Unterrichtsrecht, Kultusrecht, Heeresrecht, Polizeirecht, Sanitätsrecht usw. nebst der allgemeinen Verwaltungslehre in der zehnstündigen Vorlesung Platz finden müssen. Auch die Absonderung des Finanzrechtes und seine Dotierung mit zwei Wochenstunden trägt gewiß nur den bescheidensten Bedürfnissen Rechnung und ist ein weiteres Symptom dafür, daß die rechtshistorische Vorbildung nicht zugunsten moderner und aktueller Rechtsgebiete verstümmelt wird. Auch die neue Studienordnung wird ermöglichen, daß an der Universität beispielsweise römisches Erbrecht ebenso genau behandelt wird, wie österreichisches Steuer- und Zollrecht. Ein anderes großes Problem kann freilich eine Studienordnung nicht lösen: Das Problem des rechtswissenschaftlichen Nachwuchses, das ernster geworden ist, als man ahnt. Es sei an dieser Stelle die Andeutung gestattet, daß die Arbeitsbedingungen der akademischen wissenschaftlichen Hilfskräfte -jederzeit auflösbare Vertragsverhältnisse mit einer Entlohnung zwischen 100 und 200 S monatlich und den geringsten Chancen, in absehbarer Zeit eine Professur zu erlangen - in Zukunft nicht mehr so wie der ehemalige Weg über praktische richterliche und administrative Berufe, die Besetzung der rechts- und staatswissenschaftlichen Lehrkanzeln und die Beibehaltung der derzeit noch von Österreichern besetzten Plätze in ausländischen gelehrten Gesellschaften sicherstellen werden. Die Unterrichtsverwaltung würdigt zwar gewiß diese kritische Lage der österreichischen Rechts- und Staatswissenschaften, ist aber bei aller Hilfsbereitschaft außerstande, mit eigenen Mitteln wirklich großzügige Abhilfe zu schaffen. Die neue Studienordnung wird ihren Zweck erfüllt haben, wenn sie besser als die bisherige die Vorbereitung für die praktischen juristischen Berufe bewerkstelligt. Jeder, der in Österreich dem Rechte dient, hat Grund, die jüngste Reform des Rechtsunterrichtes dankbar zu begrüßen.

Das Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses Die Ausführungen, die Universitätsprofessor Dr. Otto Brunner letzthin in der „Neuen Freien Presse" über die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses an der philosophischen Fakultät veröffentlichte, könnten Uneingeweihte dazu verführen, daraus Schlüsse auf die Lage an der juridischen Fakultät zu ziehen. Dies veranlaßt mich, einiges über die vollkommen andersartige Sachlage an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät zu sagen. Die Verhältnisse des rechts- und staatswissenschaftlichen Nachwuchses geben nämlich in zunehmendem Maße jedem, der auf die Weltgeltung unserer Wissenschaft bedacht ist, Anlaß zu ernsten Sorgen. Die Wiener Rechtsfakultät beschäftigt sich pflichtgemäß in gründlicher und nachdrücklicher Weise mit diesem Problem. Es zeigt sich auch, daß die Vorstellungen und Anregungen der Professorenschaft, die in uneigennütziger Weise um ihre künftigen Nachfolger und in patriotischem Sinne um den ungeminderten Rang der österreichischen Wissenschaft besorgt ist, bei allen maßgebenden Stellen grundsätzliches Verständnis gefunden haben. Die Tatsache, daß die Unterrichtsverwaltung gerade in diesem Jahre zur Ausfüllung von großen Lücken des Lehrkörpers in überaus dankenswerter Weise die Berufung zweier prominenter Rechtsgelehrter aus dem Deutschen Reiche erwirken konnte, berechtigt zur begründeten Erwartung, daß alle beteiligten Verwaltungszweige im Rahmen des staatsfinanziell und staatspolitisch Möglichen ihr praktisches Interesse auch den Verhältnissen des Nachwuchses an den Rechts- und Staatswissenschaften zuwenden werden. Denn unstreitig sind diese Verhältnisse augenblicklich die ungünstigsten unter allen Zweigen des wissenschaftlichen Betriebes, wahrscheinlich sogar im ganzen öffentlichen Dienste Österreichs. Die Krise, die gerade den Nachwuchs in den Rechts- und Staatswissenschaften betroffen hat, erklärt sich aus der Umstellung, die sich in der

Neue Freie Presse vom 3. November 1935, S. 3-4.

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Rekrutierung dieses Nachwuchses vollzogen hat. In den letzten Jahrzehnten der Monarchie und in den Anfängen der Republik gingen die nachmaligen Professoren der Rechtsfakultäten fast ausnahmslos aus dem Justiz- und Verwaltungsdienst hervor, in den sie meist schon im Hinblick auf ihre fachliche Befähigung, auf ihr Hervortreten in Seminaren und durch wissenschaftliche Veröffentlichungen aufgenommen worden waren, und der ihnen bei nötigem Fleiß zugleich die wirtschaftliche Basis und die praktische Vorschule zu ihrem akademischen Beruf gewesen ist. Einzelne der heute wirkenden Professoren sind geradezu auf die objektive und gewiß unanfechtbare Empfehlung ihrer einstigen Lehrer hin auf die ihrem Interessenkreis entsprechenden staatlichen Dienstposten berufen worden, von denen sie dann nach gehöriger praktischer Durchbildung, die nach Möglichkeit bereits auf einen voraussichtlichen akademischen Beruf Rücksicht nahm, gänzlich zur wissenschaftlichen Lehre und Forschung zurückkehrten. Aus verschiedenen Gründen, die von akademischer Seite jedenfalls gewürdigt werden, ist heute ein solcher Weg zum Lehr- und Forschungsberuf in den Rechts- und Staatswissenschaften nur in Ausnahmsfällen gangbar. Während die relativ geruhsamen politischen Verhältnisse in der Monarchie es möglich erscheinen ließen, nach der politischen Einstellung des von akademischer Seite präsentierten Kandidaten nicht weiter zu fragen, und die Dienststellen der Justiz und Verwaltung in der Lage waren, in jeder Weise die theoretische Ausbildung und die literarische Tätigkeit der in dieser Hinsicht ambitionierten Beamten zu fördern, ja der Habilitationskandidat und gar der Privatdozent in öffentlichem Dienst geradezu eine privilegierte Stellung, insbesondere eine vielleicht sogar überbetonte völlige Freiheit in bezug auf die publizistische Tätigkeit gleich irgend einem Privatgelehrten genossen, müssen jetzt selbstverständlich für den praktischen Verwaltungs- und Justizdienst andere Auslese- und Arbeitsbedingungen Platz greifen. Die Arbeitsfülle erlaubt heutzutage in der Regel auch gar keine Rücksichtnahme auf die wissenschaftlichen Aspirationen eines Beamten. Da nun aber die praktischen Berufe nicht mehr den nötigen wissenschaftlichen Nachwuchs liefern, ist auch für die Rechts- und Staatswissenschaften so wie für die andern Fakultäten der wissenschaftliche Hilfsdienst an den Fakultätsinstituten zu einer unentbehrlichen Ausbildungsinstitution für die künftigen Dozenten und Professoren geworden. Wissenschaftliche Hilfskräfte sind aber außerdem unentbehrliche Helfer für den neuen intensivierten Studienbetrieb, der Lehrerschaft und Hörerschaft in engeren Kontakt bringen soll, wie es insbesondere von der neuen rechtswissenschaftlichen,

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übrigens auch schon von der seit Jahren geltenden staatswissenschaftlichen Studienordnung angestrebt wird. Es leuchtet wohl auch dem Fernstehenden ein, daß achtzehn Professoren bei einer in die Tausende gehenden Hörerzahl nicht neben der Vorlesungstätigkeit und der Bewältigung einer internationalen Fachliteratur, von deren Dimensionen der Laie keine Ahnung hat, sowie neben der eigenen literarischen Arbeit den aus didaktischen Gründen notwendigen Kontakt mit der Hörerschaft herstellen und aufrechterhalten können. Das ist also die Aufgabe der wissenschaftlichen Hilfskräfte. Die wissenschaftlichen Hilfskräfte sind die Träger der Rechtslehre von morgen. Ihre rechtliche und wirtschaftliche Stellung trägt aber der Bedeutung, die sie innerhalb des akademischen Forschungs- und Lehrbetriebes haben, nicht entfernt Rechnung. Während die andern Fakultäten über Dutzende wirklicher Assistenten verfügen, steht der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Wien nur ein überlasteter Bibliothekar und ein einziger besoldeter Assistent zu Gebote. Im übrigen muß sie sich mit vertragsmäßig bestellten wissenschaftlichen Hilfskräften begnügen. Diese Stellungen sind beliebig kündbar, zum Teil sogar jährlicher Erneuerung bedürftig und entbehren somit der relativen Stabilität eines Assistentenpostens. Auch stehen die wissenschaftlichen Hilfskräfte in der Entlohnung den Assistenten weit nach. Diese gereiften Männer, die dem Staate überwiegend schon durch viele Jahre Dienste leisteten und sich durch ihre wissenschaftlichen Leistungen und ihre Habilitation als Gelehrte qualifiziert haben, in einigen Fällen sogar den Titel eines außerordentlichen Professors bekleiden, beziehen ein staatliches Einkommen, das kaum dem eines kleinen Angestellten mit Elementarbildung entspricht und in den meisten Fällen hinter den Anfangsbezügen eines pragmatischen Angestellten aller Verwendungsgruppen zurückbleibt. Die prekäre Gegenwart wird aber auch nicht durch einen Ausblick auf die Zukunft erhellt. Die durch die verringerte Zahl der Professuren vergrößerte Unsicherheit über die Frage, ob und wann etwa ein Extraordinariat erreicht werden kann, muß die angehenden Wissenschafter in ihren Arbeiten hemmen. Menschen, die unter solchen Umständen in den akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb hineinwachsen, müssen wahrhaftig einen Ausnahmscharakter besitzen, um aufrechte Gelehrte zu werden, wie unsere hohen Schulen sie erfordern und wie es der wahre Beruf eines Professors, das ist eines Bekenners seiner wissenschaftlichen Überzeugung, sein muß. Die fast ausnahmslose Einschränkung der Berufungen durch andere Staaten schmälert noch mehr die Zukunftsmöglichkeiten der öster-

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reichischen Rechts- und Staatswissenschaften. Durch alle diese Umstände wird selbst bei der heutigen Überfüllung des Arbeitsmarktes der Zuzug zum wissenschaftlichen Beruf an den rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten in bedenklicher Weise gedrosselt. Fehlt ja doch der akademischen Jugend die Aussicht, das opferreiche, vielleicht jahrzehntelange Vorbereitungsstadium in späteren Jahren ideell und materiell belohnt zu wissen. Dem Mittellosen fehlt auch die Möglichkeit zur Anschaffung der notwendigsten wissenschaftlichen Behelfe, zur Durchführung von Studienreisen und zur Teilnahme an Fachkongressen. Alle diese Feststellungen erhalten durch die Tatsache eine treffende Illustrierung, daß es in zunehmendem Maße große Schwierigkeiten verursacht, geeignete Kandidaten für die Posten von „Hilfskräften" ausfindig zu machen. Das ist auch begreiflich, da ja jeder Jurist, der den von der Fakultät unvermeidlicherweise gestellten Bedingungen entspricht, auch trotz der schärfsten Krise einen anderen, aussichtsreicheren Posten finden kann. Mit der Systemisierung des einen oder des andern Assistentenpostens, die die Wiener Rechtsfakultät nach dem verständnisvollen Entgegenkommen aller maßgebenden Stellen erhoffen darf, wird wohl dankenswerterweise einzelnen der verdienstvollsten Kräfte der Fakultät individuell geholfen, leider aber das Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht gelöst sein. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist dazu berufen, den Weltrang der österreichischen Rechts- und Staatswissenschaften im Ausland auch in der Zukunft sicherzustellen. Wenn man berücksichtigt, welches Ansehen verschiedene österreichische Schulen, die von der Wiener Universität ausgegangen sind, im Ausland genießen - es seien nur die Wiener Nationalökonomische Schule von Karl Menger, Wieser und Böhm-Bawerk und die schon in einem Dutzend Sprachen als Wiener Rechtsschule verbreitete „Reine Rechtslehre" genannt - , so wird man einsehen, daß nur ein Nachwuchs von hoher geistiger Qualität diese wissenschaftliche Tradition Österreichs zu wahren imstande sein wird. Es besteht jetzt schon die Gefahr, daß die Posten in ausländischen rechtswissenschaftlichen Gesellschaften, die derzeit noch Österreicher innehaben und die ein Gradmesser des wissenschaftlichen Ranges unseres Landes sind, nach dem Ausscheiden dieser Persönlichkeiten von Angehörigen anderer Nationalitäten besetzt werden. Dem Idealismus muß eine materielle Basis geboten werden, wenn nicht die von den maßgebenden Stellen mit recht so gerühmte Stellung Österreichs als kulturelle Großmacht mit der Zeit beeinträchtigt werden soll.

Naturschutzpark für Österreich Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit eine Reihe deutscher Intellektueller den Beschluß gefaßt hat, einen Verein „Naturschutzpark" zu gründen, der - nach dem Vorbild anderer großer Nationen - auch dem deutschen Volke Naturschutzgebiete schaffen und erhalten sollte. Gemäß den naturhaften Eigentümlichkeiten des deutschen Siedlungsraumes wurde der Plan eines Heideparkes, eines Mittelgebirgsparkes und eines Alpenparkes entworfen. Bei den damaligen politischen Verhältnissen stand es außer Frage, daß der deutsche Alpenpark in Österreich gelegen sein müsse, wo allein die erforderlichen naturhaften und geographischen Bedingungen eines dem deutschen Volke beider Staaten gewidmeten Schutzgebietes erfüllt schienen. Dank dem reichen Zustrom von Mitgliedern, die eine unermüdliche Werbetätigkeit in kurzer Zeit gesammelt hat, und beträchlichen Subventionen öffentlicher Körperschaften, die sich der kulturellen und nationalen Bedeutung des Vereinszweckes bewußt gewesen sind, war der Verein schon vor dem Kriege in die Lage versetzt, Gebiete von beträchlichen Flächenausmaßen käuflich zu erwerben und mit der Zeit durch Zukäufe zu erweitern: eines in der Lüneburger Heide, das den schönsten und charakteristischesten Ausschnitt deutscher Heidelandschaft darstellt, und eines im Stubachtal in Salzburg, im naturhaftesten, unerschlossensten Teil der Hohen Tauern gelegen. Das Besitztum in der Heidelandschaft hat mit seinen mehr als 4400 Hektar Flächeninhalt an sich schon die Maße und Bedingungen eines Naturschutzparkes aufzuweisen und ist zu einem solchen schon rein tatsächlich durch die Widmung und Behandlung von Seite des Eigentümers geworden. Der Vereinsbesitz in Österreich jedoch ist mit seinen kaum 1200 Hektar zu klein, um an sich schon durch die bestimmungsgemäße Behandlung von Seite des Eigentümers einen Naturschutzpark abzugeben, stellt aber doch einen möglichen, ja hervorragenden Grundstock für einen solchen dar. Der Plan des Mittelgebirgsparkes ist unausgeführt geblieben. Wie fast alle kulturellen Aufgaben wurde auch die der Pflege von Schutzgebieten wie Wiener Neueste Nachrichten vom 18. August 1935, S. 1-2.

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überhaupt der Naturschutz vom Kriege, mit seiner Massenvernichtung von Menschen und Massenzerstörung von Naturgebilden zurückgeworfen; es ist ein bewunderungswürdiges Zeichen des unerschütterlichen Natursinnes und Heimatgefühles zahlloser Deutscher, wenn die Entwicklung des Vereines Naturschutzpark seit dem Kriege wenigstens kleine Fortschritte gemacht hat. Indes ist für jeden Kundigen offenbar, daß unser Verein für Österreich das Problem der Schaffung eines Naturschutzparkes bloß angebahnt und noch nicht gelöst hat. Was ein privater Verein an Vorbereitungsarbeit moralischer und materieller Natur für ein derartiges kulturelles Werk leisten kann, das hat aber der Verein Naturschutzpark getan, um auch Österreich in die Reihe jener Staaten einzureihen, die über Nationalparke verfügen und damit dem Gedanken, daß auch die heimische Landschaft mehr als ein Ausbeutungsobjekt, daß sie ein der Nation anvertrautes und das Vaterland mitkonstituierendes Nationalgut ist, den beredtesten Ausdruck gegeben haben. Die Schaffung eines Nationalparkes hängt nicht von einer privaten Tat allein ab. Die Widmung und sachgemäße Behandlung für diesen Zweck geeigneter Grundstücke hat Österreich zwei Vereinen, dem Deutschen und Österreichischen Alpenverein und dem Verein Naturschutzpark zu danken. Dieser zuletzt genannte Verein hat das Verdienst, durch den Erwerb eines Besitztums in Österreich, das bereits jetzt wie ein Naturschutzpark verwaltet, insbesondere, soweit nicht eine gesetzliche Pflicht besteht (Alpzwang und Jagdpacht), nicht genutzt wird, den Gedanken des konservativsten Landschaftsschutzes nach Österreich getragen und aus reichsdeutschen Mitteln auf österreichischem Boden ein Schutzgebiet geschaffen zu haben, das den Kern eines österreichischen Naturschutzparkes abzugeben und damit dem kulturellen Rufe Österreichs zu dienen bestimmt ist, ja vielfach bis jetzt schon in naturwissenschaftlichen Kreisen des Inlands und Auslands als „der österreichische Naturschutzpark" gegolten hat. Zu diesem Zwecke hat der Verein in den Hohen Tauern Salzburgs, aber abseits von den touristischen Heerstraßen, eine Gebietsfläche gesucht und gefunden, die an Eignung für einen spezifisch österreichischen Alpenpark kaum übertroffen werden kann. Trotz der relativen Kleinheit - 4 Kilometer im Geviert - umfaßt der Vereinsbesitz die drei charakteristischen Vegetationszonen: gemischten Hochwald, hochalpinen Zirben- und Krummholzbestand sowie Almboden bis an die Gletscherregion. Das ganze Gebiet von einer seltenen Fülle und Buntheit der Flora und Fauna. Drei wildschäumende Wasserfälle bildende Achen

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gliedern die Fläche in drei Täler, jedes von packender Eigenart. Uttendorf und Mittersill im Pinzgau sind die Eintrittsstationen zu dem Schutzgebiete, das, freilich nur unter fachkundiger Führung bei sonstigem, allein die Unberührtheit der Landschaft sicherstellenden Wegeverbot, selbst weit gewandelten Alpinisten Szenerien von ungeahnter Pracht und Unberührtheit darbietet. Kein Wunder, daß in dieser Landschaft der Steinadler und der Uhu horsten, der Auerhahn häufig anzutreffen ist, und sich selbst der Weißkopfgeier nicht selten einfindet. Auf den eingesprengten Kalkfelsen wurzeln das Edelweiß und die Edelraute und über ihnen fliegt der seltene Bergfalter Apollo. Gemsen und Hirsche sind in dem Revier eine Selbstverständlichkeit, Murmeltiere bevölkern in großer Zahl die Hochregion, und man ist daran, den Steinbock wieder einzubürgern. Nur etwas fehlt diesem Alpenparadies: die Sicherheit, als solches erhalten zu bleiben. Gewiß: das Gebiet selbst wird ungestört in dieser konservativen, jede freiwillige Nutzung verschmähenden und daher nur Kosten verursachenden Weise verwaltet werden, so lange es im ungestören Besitz des Vereines ist, der, fernab jeder Tagespolitik, ausschließlich und unverändert während der viertelhundertjährigen Bestanddauer dem einen kulturellen Ziele dient: deutsche Erde in Ehrfurcht zu betreuen und Gottes Schöpfung, wo sie am ursprünglichsten und menschenfernsten ist, vor menschlichem Eigennutz, menschlicher Herrsch- und Besitzsucht zu beschützen. Auch bieten die in Österreich wohnhaften und beamteten, mit Ausnahme des Forstschutzpersonals durchaus ehrenamtlichen Vereinsorgane (zu denen sich auch der Verfasser dieses Aufsatzes zählen darf), den amtlichen Stellen Gewähr genug, daß der Vereinsbesitz ausschließlich diesem kulturellen Ziele dient, das der Örtlichkeit nach in erster Linie dem Volk von Österreich, dem österreichischen Staat, zugutekommt. Die Problematik dieses Schutzgebietes liegt jedoch darin, daß es bei seiner Kleinheit und Zersplitterung - handelt es sich doch um mehrere Enklaven inmitten von Bundesforsten, die landschaftlich den Charakter des Vereinsbesitzes teilen - möglichen Einflüssen aus der Nachbarschaft in einer den Lebensnerv des Schutzgebietes berührenden Weise ausgesetzt ist. Gewiß ist der Bund, der dem Vereinszweck entgegenkommendste Nachbar, den sich der Verein Naturschutzpark wünschen kann, denn konservative, also naturschützerische Bewirtschaftung des Waldes macht geradezu die Tradition der österreichischen Staatsforste aus. Doch die Verwaltung der Bundesforste ist gesetzlich nicht in der Lage, unter allen Umständen und für alle Zukunft eine solche Wirtschaftsführung zu gewährleisten, die den Charakter des Schutzgebietes nicht beinträchtigt. Es kann

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nicht nur ein übelwollender Jagdpächter den Wildstand des Schutzgebietes dezimieren, eine erzwungene Abholzung den urwaldartigen Charakter des Vereinsbesitzes, der ja doch nur durch Einbeziehung des anschließenden Nachbarwaldes hervorgerufen wird, aufheben, es kann auch ein Industriewerk in der Nachbarschaft den Frieden des Schutzgebietes beträchtlich stören, wie es leider durch das Kraftwerk im Stubachtale ohnehin bis zu einem gewissen Grade bereits geschehen ist, ja, es kann dem Verein selbst eine wirtschaftliche Nutzung seines Besitzes, etwa durch Ausnützung seiner in Wasserfällen sich nutzlos austobenden Wasserkräfte aufgezwungen werden. Der dauernde Charakter des tatsächlichen Schutzgebietes als Naturschutzpark ist somit keinesfalls durch den guten Willen der Vereinsleitung, sondern erst durch eine dauernde rechtliche Widmung des Vereinsbesizes und seiner ebenso schutzwürdigen Umgebung als gesetzliches Schutzgebiet gesichert werden. Eine gesetzliche Handhabe dieser Art hat zunächst in Österreich das niederösterreichische Naturschutzgesetz vom 3. Juli 1924 geboten, in dessen Urenwurf der Verfasser dieser Zeilen bereits - gemäß dem in den „Blättern für Naturschutz und Naturkunde" im Oktober 1923 entwickelten Programme für den gesetzlichen Schutz der Naturdenkmale einen eigenen Abschnitt über Naturschutzgebiete vorgesehen hatte. Die rührige Fachstelle für Naturschutz der österreichischen Bundesländer in Wien hat eine solche Bestimmung nicht nur im Naturschutzgesetze von Niederösterreich, dem ältesten seiner Art, sondern auch in den Schutzgesetzen der meisten anderen Bundesländer, darunter auch in dem des Landes Salzburg durchgesetzt. Freilich schlossen es die Landesfinanzen aus, für die Bannlegung einer Gebietsfläche und die damit verbundenen Wirtschaftsbeschränkungen eine Entschädigung zu gewährleisten. Da aber unter solchen Umständen die Bannlegung einer entschädigungslosen Enteignung gleichkäme, mußte der Gesetzgeber die Bannlegung in der Regel von der Zustimmung des Eigentümers abhängig machen. Das Bestreben des Vereines Naturschutzpark geht nun dahin, den Charakter seines österreichischen Besitzes als Schutzgebiet mit Hilfe der angedeuteten gesetzlichen Handhabe zu sichern, zumal da das Schutzgebiet des Vereines in der Lüneburger Heide längst durch Verordnung der zuständigen preußischen Minister im Sinne des preußischen Gesetzes vom 8. Juli 1920 als „Naturschutzgebiet" anerkannt ist. Es dürfte wohl der erste Fall in

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Österreich sein, daß sich ein privater Besitzer freiwillig darum bewirbt, ja bemüht, daß sein ganzer, einer Ertragswirtschaft fähiger Besitz dem strengen Regime eines Naturschutzgebietes - noch dazu im Herrschaftsbereiche eines anderen Staates - unterworfen werde, und damit freiwillig dauernd auf einen Ertrag dieses Besitzes zu dem einzigen Zweck verzichtet, damit ein wertvolles Stück politisch fremder Scholle auf unabsehbare Zeit der kulturellen Bestimmung als Naturschutzgebiet zugeführt werde. Jeder gute Österreicher muß im Interesse des kulturellen Rufes seiner Heimat wünschen, daß dieses ideale, vor allem für Österreich nützliche Anerbieten angenommen und daß in die Bannlegung auch der den Vereinsbesitz umgebende Gürtel von Bundesforsten einbezogen werde, namentlich der sogenannte Wiegenwald, der den prächtigsten Zirbenbestand Österreichs enthält, denn ohne diese ergänzende Maßnahme wäre das Opfer, das der Verein Naturschutzpark Österreich bringt, sinnlos. Durch diese Einbeziehung der angrenzenden Bundesforste würde auch eine Brücke zu dem soeben - durch Verordnung der Kärntner Landesregierung vom 1. Juli 1935 - erklärten Naturschutzgebiete auf dem Großglockner hergestellt werden. Dieses, fern von aller Tagespolitik, in Erscheinung tretende Zeichen deutscher Kulturgemeinschaft wäre gerade auf Seiten Österreichs kein Opfer, denn Österreich gewänne damit erstmals einen gesetzlich gesicherten Naturtschutzpark von europäischem Format, noch dazu im Herz seiner Alpen, in der Glocknergruppe, der als kulturelle Leistung der zivilisatorischen Leistung der Glocknerstraße ebenbürtig wäre, und in schönster Weise den Gedanken zum Ausdruck brächte, daß Österreich zwar die Kleinodien seiner Landschaft dem menschlichen Zutritt erschließen, aber zugleich dem Zugriff menschlicher Ausbeutung entziehen will. Es müßte aber doch auch jeder weiteren technischen Erschließung des Glocknerraumes und der Gefahr einer Ausrottung seiner zoologischen und noch mehr botanischen Schätze durch den Massenbesuch ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden, wenn der naturwissenschaftliche Charakter eines Naturschutzparkes gewahrt bleiben soll. Jedenfalls müßte aber auch diese Krone der österreichischen Landschaft jedem Deutschösterreicher zu kostbar sein, als daß Bemühungen um ihren Schutz politisch mißbraucht oder - verdächtigt werden könnten. Gilt an sich der Naturschutz schon als symbolhafte kulturelle Tat von besonders idealer Gesinnung, da hiemit gewissermaßen Heimaterde in einer Weise geschützt wird, die der Macht- und Raffgier, dem erbärmlichsten Motor der Weltgeschichte, in den Zügel fällt, so würde es

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bei jenen Nationen, die dem Gedanken des Naturschutzes schon große Opfer gebracht haben, besondere internationale Würdigung finden, wenn Österreich gerade das berühmte und der ganzen Welt erschlossene Herzstück seiner Alpen diesem kulturellen Zwecke widmete!

Das Ordnungsschutzgesetz I. Das Ordnungsschutzgesetz und der Rechtsstaatsgedanke „Die Entdeckung der freien Persönlichkeit ist eine endgültige."1 Diese Worte eines Schriftstellers des heutigen Deutschen Reiches über die angebliche Wirkung des europäischen Liberalismus kommen einem in den Sinn, wenn man die Polizeigesetzgebung mancher heutiger Staaten verfolgt, für die jene Entdeckung spurlos verlorengegangen zu sein scheint. Das österreichische Bundesgesetz zum Schutze der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, BG 282/1937 (OG), das Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen sein soll, distanziert sich indes seiner Idee und Tendenz nach deutlich von den uferlosen Polizeivollmachten autoritärer Staaten, welche in den letzten Jahren ungeachtet des gerühmten Siegeszuges der freien Persönlichkeit gang und gäbe geworden sind. Wenn dieses Gesetz nichtsdestoweniger noch ein Maß an Eingriffen in die freie Persönlichkeit ermöglicht, das in der konstitutionellen Monarchie Österreich undenkbar gewesen wäre, so erklärt sich dies zur Genüge daraus, daß sich Mitteleuropa seit dem Kriege in einem sozialen und politischen Ausnahmezustande befindet, der ein Ausnahmerecht bedingt. Wenn ausländische Beurteiler, namentlich solche aus dem Westen Europas, an diesem Ausnahmerechte, dessen Ursachen die heimischen Regierungen dieser Kritiker durch die Pariser Vororteverträge wesentlich mitbegründet haben, anmaßende Kritik üben, so sollte man sich doch daran erinnern, daß das Anhaltelager - das Paradestück und der Hauptanstoß jener Kritik - eine englische Erfindung ist, die man gegen die Familien der Buren ins Werk gesetzt hat, nachdem man diese durch eine verfrühte Annexion ihrer Länder als Rebellen diskreditiert hatte. Übrigens zeigt der Inhalt des OG die eindeutige Tendenz, das Ausnahmerecht zu verengern,

Juristische Blätter, 66. Jg. (1937), S. 421-426. 1

Karl Huber, Die Anfänge des Liberalismus im Mittelalter, S. 156.

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und damit auch die Tendenz, die durch die Abwehr des politischen Extremismus bedingte Position in absehbarer Zeit zu räumen. Mit diesen Vorbemerkungen ist vorbehaltlos der Fortschritt anerkannt, der in der zusammenfassenden übersichtlichen Kodifikation der ausnahmsweisen Freiheitsbeschränkungen und in deren teilweisem Abbau gelegen ist. Diese vorhaltlose Anerkennung schließt wohl nicht aus, daß in einzelnen Punkten von dem den Gesetzgebern offenbar selbst vorschwebenden idealen Standpunkt des Rechtsstaates aus Vorschläge zu einer weiteren Rückbildung der zu Recht bestehenden Freiheitsbeschränkungen in der Richtung des Rechtsstaates gemacht werden.

I I . Die Verfassungsfrage Ehe auf den Inhalt unseres Gesetzes eingegangen wird, sei ein Wort zu seiner Qualifikation als Bundesgesetz gesagt. Die Form unseres Gesetzes als einfaches Bundesgesetz ist nämlich rechtlich nur dadurch möglich geworden, daß ein am Tage vor dem OG erlassenes Bundesverfassungsgesetz (BVG 280/1937) die Ermächtigung erteilt hat, die verfassungsändernden Bestimmungen, die das OG enthält, im Wege eines einfachen Gesetzes zu treffen. Der verfassungsändernde Charakter des Gesetzes ergibt sich im einzelnen aus folgenden Bestimmungen. A. § 21 beschränkt die Zulässigkeit der Beschwerde an den BGH gegen Strafbescheide. Damit wird die Generalklausel des Art. 164, Abs. 2, al. 1, Verfassung 1934 (Parteibeschwerde an den BGH) eingeengt. B. § 23, Abs. 5 beschränkt die Möglichkeit der Beschwerde an den BGH gegen Bescheide, mittels deren die „Anhaltung" verfügt wird, auf den Fall einer Verlängerung der Anhaltung. Damit wird ebenfalls die Generalklausel des Art. 164, Abs. 2, al. 1, Verfassung 1934 eingeengt. C. § 22, Abs. 1, letzter (unbezifferter) Punkt der Aufzählung, ändert das BVG zur Bekämpfung staatsgefährlicher Bestrebungen in der Privatwirtschaft, BGBl. 473/1935. D. § 26, al. 4 delegiert den Bundeskanzler, im Verordnungswege eine weitergehende Einschränkung der Möglichkeit der Beschwerde gegen Strafbescheide, also eine Einengung der Zuständigkeit des BGH nach Art. 164, Abs. 2, al. 1, Verfassung 1934, zu normieren.

Das Ordnungsschutzgesetz

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E. § 26, al. 5 delegiert den Bundeskanzler, im Verordnungswege bestimmte Eingriffe in das Briefgeheimnis zuzulassen. (Nach Art. 23, Verfassung 1934 verfügt Ausnahmen vom Briefgeheimnis das Gesetz. § 26, al. 5 schränkt also den verfassungsgesetzlichen Gesetzesvorbehalt ein.) F. § 27 hebt unter P. 13, 15 und 18 Bundesverfassungsgesetze auf. Jedenfalls ist der Vorgang, im Wege eines einfachen Gesetzes einem Verfassungsgesetze zu derogieren, wenngleich er durch ein vorhergegangenes Verfassungsgesetz legalisiert worden ist, ungewöhnlich, und nach meiner Kenntnis der Gesetzgebung einzig dastehend. Durch das Ermächtigungsgesetz Nr. 280/1937 ist eine neue Kategorie von Bundesgesetzen geschaffen worden, die eine Zwischenstufe zwischen den Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen einnimmt: Das verfassungsändernde einfache Gesetz: Offenbar eine contradictio in adiecto. Nach der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage ist die Unterscheidung zwischen einfachen Bundesgesetzen und Bundesverfassungsgesetzen ohnehin höchst problematisch, da sich im Zuge der reinen Regierungsgesetzgebung das Bundesverfassungsgesetz vom einfachen Gesetz nicht durch verfahrensmäßige Erschwerungen, sondern lediglich durch den vorangesetzten Titel „Bundesverfassungsgesetz" unterscheidet. Bei dieser Rechtslage ist die Differenzierung zwischen den beiden Gesetzestypen bereits völlig um ihren legislativpolitischen Sinn gekommen, dem Verfassungsgesetz durch Erschwerungen seines Zustandekommens eine erhöhte Bestandgarantie zu geben. Um so problematischer ist es, zwischen die prozessual ohnehin kaum unterschiedenen Gesetzestypen noch den vermittelnden Typus eines verfassungsändernden einfachen Bundesgesetzes einzuschieben. Das normale Rangverhältnis der Rechtsquellen wird übrigens noch stärker als durch den Typus des verfassungsändernden einfachen Gesetzes durch den der verfassungsändernden Verordnung (nach einer anderen Terminologie verfassungsdurchbrechenden Verordnung) in Mitleidenschaft gezogen. (P. D der vorstehenden Aufzählung.) Diese Verordnungsvollmacht hat grundsätzlich wohl nur in jener des Art. 148, Abs. 2 Verfassung 1934 ein Gegenstück, ist aber trotz ihrer engen sachlichen Determination grundsätzlich noch exzeptioneller als die zitierte Verfassungsvollmacht zu Notverordnungen des Bundespräsidenten, weil diese auf eng umschriebene Notstände, namentlich den Fall der augenblicklichen Funktionsunfähigkeit des Bundestages, eingeschränkt ist.

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Die auffälligen Delegationen zur Verfassungsgebung im einfachen Gesetzgebungs-, ja selbst im Verordnungswege, erinnern an die ungewöhnliche Verfassungsrechtslage, daß, solange das Ermächtigungsgesetz vom 30. April 1934, BGBl. I 255, zu recht besteht, auf Grund einer durch ein verfassungsförmiges Ermächtigungsgesetz erteilten Vollmacht sogar die ganze Verfassung durch einfaches Gesetz, ja selbst durch Verordnung irgend einer Verwaltungsbehörde, abgeändert und gänzlich aufgehoben werden könnte, und daher, insolange die Gesetzgebung nicht an die Mitwirkung des Bundestages gebunden ist, im höchsten Maße prekaristisch ist. 2 Der vorstehend festgestellte kodifikatorische Schönheitsfehler wäre bei einer Befassung des Staatsrates mit der Gesetzesvorlage dank der vielfach bewährten überlegenen Sachkenntnis dieses Gesetzgebungsorgans gewiß vermieden worden. I I I . Das System der Ordnungsmaßnahmen Das Ordnungsschutzgesetz gliedert seinen Inhalt folgendermaßen: 1. Ständig geltende Bestimmungen, 2. Bestimmungen für den verschärften

Ordnungsschutz. Daran reiht sich ein

3. Abschnitt, der bisherige Vorschriften für aufgehoben erklärt, und ein 4. Abschnitt mit Schlußbestimmungen. Die Gegenüberstellung des ersten und zweiten Abschnittes ist insofern irreführend, als der erste Abschnitt unmittelbar anwendbar ist und der zweite Abschnitt solche Anordnungen trifft, die erst auf Grund einer Vollmacht in Kraft zu setzen sind. Der Unterschied liegt also nicht in einer ständigen und im Gegensatze dazu vorübergehenden Geltung der beiden Abschnitte, sondern in der unmittelbaren Anwendbarkeit einerseits, in der Bedingtheit durch eine besondere Einführungsmaßnahme anderseits.

2 Vgl. mein „Ständisch-autoritäres Verfassungsrecht", Verlag Julius Springer, 1934, S. 9 ff. und S. 150 unter „Das autoritäre Prinzip".

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Die sogenannten ständig geltenden Bestimmungen, die den Hauptinhalt des Gesetzes ausmachen, bestehen in der Umschreibung von Tatbeständen einer Reihe von Verwaltungsübertretungen mit den zugehörigen Strafsanktionen, sodann gewissen Verfahrensbestimmungen und in der Regelung der sogenannten Anhaltung. Das ganze Gesetz enthält Polizeirecht, und zwar zum überwiegenden Teil Polizeistrafrecht, und stellt sich somit auch als außerordentlich wichtiges materielles Verwaltungsstrafgesetz dar. Wie verlockend es auch wäre, den Gesetzesinhalt mit jenen älteren aus dem Beginne der autoritären Ära stammenden Vorschriften zu vergleichen, die durch unser Gesetz zusammengefaßt und mehr oder weniger abgeändert werden, so muß doch aus Raumgründen davon abgesehen und eine ausschließlich juristisch-dogmatische Betrachtung des wichtigsten Gesetzesinhaltes zum Ziele gesetzt werden. IV. Die Strafrechtsnormen Die Tatbestände des OG sind: 1. Politische Demonstrationen (§ 2); 2. Unzulässige politische Propaganda (§ 3); 3. Beleidigung von Amtsträgern (§ 4); 4. Staatsgefährliche Vorführungen (§ 5); 5. Verbreitung ausländischer Zeitungen staatsgefährlichen Inhaltes

(§ 6); 6. Unfug mit Plakaten und Flugblättern (§ 7); 7. Unfug mit geheimen Druckwerken (§ 8); 8. Unfug mit Schieß- und Sprengmitteln und dergleichen (§§ 9 f.); 9. Terrorakte (§ 11); 10. Verbotene Parteibetätigung (§ 12).

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Eine kasuistische Analyse dieser Tatbestände kommt aus Raumgründen nicht in Frage; nur eine allgemeine Charakterisierung und Anmerkungen zu wichtigen Rechtsfragen, zu denen diese Tatbestände Anlaß geben, mögen gedrängten Platz finden. 1. Der Tatbestand des § 2 (politische Demonstrationen) lehnt sich an die Tatbestände des Art. VIII, Abs. 1 al. a und b EGVG an. Die besondere Qualifikation des in Rede stehenden Deliktstatbestandes ist darin gelegen, daß das polizeiwidrige Verhalten „zum Zwecke einer gegen Staat oder Regierung gerichteten politischen Demonstration" an den Tag gelegt wird. In diesem Falle kommt es nicht darauf an, daß das Verhalten Ärgernis zu erregen geeignet ist oder es wird der ärgerniserregende Charakter des Verhaltens vom Gesetze präsumiert. Zu Auslegungsschwierigkeiten kann der Passus „gegen Staat oder Regierung" Anlaß geben. Zunächst ist der Grund der Differenzierung zwischen Staat und Regierung nicht recht ersichtlich. Die Regierung ist ja nur oberste Repräsentantin des Staates und daher vom Staate nicht wesentlich verschieden. Das österreichische Staatsrecht kennt bekanntlich zwei Typen von Regierungen, die Bundes- und die Landesregierung, weshalb der Gesetzgeber jedesmal zwischen Bundesoder Landesregierung unterscheiden oder im Plural sprechen müßte, wenn er beide Typen von Regierungen im Auge hat. Im unpolitischen Sprachgebrauch ist der Ausdruck Regierung eine Abkürzung für Bundesregierung. Dem strafrechtlichen Asulegungsgrundsatze in dubio pro reo gemäß wären nur gegen die Bundesregierung gerichtete Demonstrationen auf Grund der in Rede stehenden Strafrechtsnorm zu verfolgen. Die rechtspolitische Bedeutung des Tatbestandes liegt darin, daß im Falle von Polizeiwidrigkeiten, die den Charakter von politischen Demonstrationen haben, im Vergleiche mit dem Tatbestande des polizeiwidrigen Verhaltens nach Art. V I I I EGVG die Strafsanktion erhöht und der Rechtsschutz (Berufungsrecht und Beschwerdemöglichkeit) gemindert ist. 2. Der Tatbestand der unzulässigen politischen Propaganda soll den bekannten, nicht erst im autoritären Staate erfundenen politischen Betätigungen mit Pinsel, Farbtopf und dergleichen begegnen. 3. Von größerem juristischem Interesse ist der Tatbestand der Beleidigung von Amtsträgern (§ 4). Diese Strafrechtsnorm bietet insbesondere ausländischen Staatsoberhäuptern, Regierungen und Regierungsmitgliedern sowie

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den beim Bunde beglaubigten Gesandten und Geschäftsträgern verwaltungsstrafrechtlichen Schutz vor Beleidigungen - unbeschadet der gerichtlichen Strafbarkeit. Zur Einleitung des Strafverfahrens wegen der Beleidigung ausländischer Funktionäre ist die Zustimmung des für die auswärtigen Angelegenheiten zuständigen Bundesministers erforderlich. Dieses Zustimmungserfordernis kann insbesondere dem Zweck dienen, den strafrechtlichen Schutz ausländischer Staatsfunktionäre von der formellen Reziprozität abhängig zu machen, ein Zweck, der um so näher liegt, als bekanntlich nach § 25 StG im österreichischen Verwaltungsstrafverfahren das Legalitätsprinzip herrscht, die zuständige Strafbehörde sonach verpflichtet wäre, im Falle des Bekanntwerdens einer unter das Gesetz fallenden Beleidigung das Verfahren einzuleiten, wogegen die analogen österreichischen Staatsfunktionäre gegen Beleidigungen, die ihnen in anderen Staaten widerfahren, schutzlos wären. In demselben Umfang wie ausländischen Staatsfunktionären ist der verwaltungsstrafrechtliche Schutz auch den entsprechenden österreichischen Staatsfunktionären gewährt. Der Kreis dieser Staatsfunktionäre ist auf den Bundespräsidenten, die Mitglieder der Bundesregierung und der Landesregierungen - in diesem Zusammenhange wird also nicht schlechthin, wie im § 2, von der Regierung gesprochen, sondern zwischen den beiden Typen von Regierungen unterschieden - , ferner auf den Bürgermeister und die Vizebürgermeister der Stadt Wien abgestellt. Die Bedingung der Zustimmung des Bundesministers zur Einleitung des Verfahrens kommt im Ergebnis darauf hinaus, als ob das Opportunitätsprinzip herrschte, wenngleich für die Strafbehörde im Falle der Zustimmung Verfolgungspflicht besteht. Das wichtigste Deliktsmerkmal des in Rede stehenden Tatbestandes - „beleidigt" - fällt im Vergleiche mit den analogen Tatbeständen des Strafgesetzbuches durch seine ungewöhnliche Unpräzisheit auf. Wann geht die Kritik, die bei der grundsätzlichen Haltung es österreichischen Gesetzgebers, namentlich in Anbetracht der verfassungsmäßigen Freiheit der Meinungsäußerung, immerhin als zulässig angesehen werden muß, in eine Beleidigung über? Das vage Deliktsmerkmal der Beleidigung ist nur durch das Erfordernis der Öffentlichkeit eingeschränkt. Das Gesetz schweigt auch über den subjektiven Tatbestand, so daß nach der Regel des § 5, Abs. 1 VStG, wonach im Zweifel zur Strafbarkeit fahrlässiges Verhalten genügt, in diesem Falle der Beleidigung auffälligerweise schon fahrlässiges Verhalten den strafbaren Tatbestand begründet. 4. Auch der Tatbestand „staatsgefährlicher Vorführungen" (§ 5) gibt durch seine Vagheit zu juristischen Bemerkungen Anlaß. Eine Verwaltungs-

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Übertretung begeht, wer Filme, Stehbilder, Schallplatten oder Rundfunksendungen staatsgefährlichen Inhaltes anderen Personen vorführt, sofern die Vorführung nicht erwiesenermaßen ohne die Absicht einer staatsgefährlichen Propaganda erfolgt. Der für diesen Tatbestand zentrale Begriff der Staatsgefährlichkeit wird dahin definiert, daß als staatsgefährlich anzusehen ist, „was gegen das Ansehen des Staates, gegen seine Verfassung, gegen seine Regierung oder seine öffentlichen Einrichtungen gerichtet oder was geeignet ist, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören, die sittlichen oder religiösen Gefühle der Bevölkerung zu verletzen oder die wirtschaftliche Enwicklung zu gefährden". Zunächst ist zu dieser Definition zu bemerken, daß sie wiederum die Frage: Bundes- oder auch Landesregierung? unbeantwortet zu lassen scheint, doch ist in diesem Falle auch die Landesregierung durch die Generalklausel „öffentliche Einrichtungen" gedeckt, so daß die Anführung der „Regierung" hier nur exemplifikativen Charakter hat. Der Begriff staatsgefährlich wird dadurch ungewöhnlich weit, daß nicht etwa bloß Beleidigungen von Staatsorganen, sondern alles, was „gegen" sie gerichtet ist, also auch eine nicht beleidigende Kritik darunter subsumiert werden kann; freilich nur unter der Voraussetzung, daß die Äußerung geeignet ist, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören, die sittlichen und religiösen Gefühle der Bevölkerung zu verletzen und die wirschaftliche Entwicklung zu gefährden. Diese Voraussetzung der Staatsgefährlichkeit ist indes außerordentlich dehnbar. Interessant ist, daß dem Beschuldigten die Beweislast aufgebürdet wird, die Vorführung sei ohne die Absicht einer staatsgefährlichen Propaganda erfolgt. Nur die vernünftige und zurückhaltende Anwendung der in Rede stehenden Strafrechtsnorm macht sie für den staatstreuen Staatsbürger ungefährlich. 5. Das Moment der Unsicherheit, das im vorigen Deliktstatbestand das Deliktsmerkmal der Staatsgefährlichkeit mit sich bringt, fehlt dagegen im Deliktstatbestande der „ Verbreitung von ausländischen Zeitungen staatsgefährlichen Inhaltes" (§ 6). Es wäre schlechterdings untragbar, den inländischen Verkäufer einer ausländischen Zeitung für den staatsgefährlichen Inhalt der Zeitung haftbar zu machen. In Wirklichkeit ist aber nicht, wie der Titel des Tatbestandes glauben macht, die Verbreitung ausländischer Zeitungen staatsgefährlichen Inhaltes, sondern die Verbreitung verbotener ausländischer Zeitungen unter Strafe gestellt. Der Verkäufer braucht also nicht zu prüfen, ob der Inhalt der zum Verkaufe gebrachten Zeitung staatsgefährlich ist oder nicht, und bleibt bei noch so staatsgefährlichem Inhalte

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straflos, wofern die Zeitung nicht verboten ist. Nur für das Verbot der Verbreitung der ausländischen Zeitung ist die Frage der Staatsgefährlichkeit relevant, indem die grundsätzlich staatsgefährliche Haltung der Zeitung für das Verbot vorausgesetzt wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhange auch die Bestimmung, daß sich das Verbot auch auf solche Zeitungen bezieht, die dem Wesen nach als mit der betroffenen Zeitung übereinstimmend anzusehen sind. Damit wird ein neuerliches Verbot im Falle einer Tarnung der im Inlande verbotenen Zeitung entbehrlich. Doch ist diese ipso-iure-Erstreckung des Verbotes auf anders benannte oder anders aufgemachte Zeitungen im Hinblick auf den im vorigen besprochenen Deliktstatbestand bedenklich, da hienach der Verkäufer prüfen müßte, ob eine zum Verkaufe gebrachte Zeitung mit einer mit Verbot belegten Zeitung übereinstimmend und daher auch verboten ist. Die Umgehung des Verbotes darf billigerweise und wird bei einer vernünftigen Handhabung des Gesetzes nicht den legitimen Zeitungsverschleiß treffen. 6. Der Unfug mit Plakaten und Flugblättern (§ 7) besteht darin, daß jemand durch Zurschaustellen von Druckwerken, Bildern, Darstellungen oder Schriften oder durch Verbreiten von Flugblättern in einer zur Erregung öffentlichen Ärgernisses geeigneten Weise die Ordnung an öffentlichen Orten stört oder den öffentlichen Anstand verletzt. An sich wäre dieser Deliktstatbestand geeignet, den legitimen Buchhandel usw. schwer zu beeinträchtigen, da man ja nicht absehen kann, an welchen objektiv einwandfreien, jedenfalls nicht verbotenen Druckwerken das Publikum Anstoß nimmt und daher den Beweis erbringt, daß die Zurschaustellung dieser Druckwerke geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen. Für das Verbreiten von Flugblättern von Haus zu Haus ist nicht einmal vorausgesetzt, daß dieses Verhalten geeignet sei, öffentliches Ärgernis zu erregen. Auch dieser Tatbestand wird nur durch die maßvolle Handhabung der Strafrechtsnorm unbedenklich. 7. Eine Verwaltungsübertretung begeht auch, wer ein Druckwerk, dessen Herstellung oder Verbreitung verborgen gehalten wird oder werden soll, herstellt, zum Zwecke der Verbreitung in das Bundesgebiet einführt, zu diesem Zweck vorrätig hält oder verbreitet, wenn der Inhalt des Druckwerkes geeignet ist, die öffentliche Ruhe, Ordnung, Sicherheit zu gefährden (§ 8). Da jedenfalls das Deliktsmerkmal der Heimlichkeit bewußt sein muß, um die Strafbarkeit des umschriebenen Verhaltens zu begründen, ist der Tatbestand vom Standpunkte der Rechtssicherheit aus unbedenklich.

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8. Der strafrechtliche Schutz gegen die politische Propaganda mit dem für einen Denkenden wohl ungeeignetsten Propagandamittel von Explosionen, Erzeugung von Lärm und üblen Gerüchen ist subjektiv sehr weit gezogen (§§9 und 10). Die Strafsanktionen richten sich gegen den legitimen Besitzer von Schieß- oder Sprengmitteln, wofern er sie nicht entsprechend aufbewahrt und entsprechend überwacht und vor dem Zugriff Unberufener zu sichern unterläßt. Ferner macht sich straffällig, wer zu derartigem Unfug geeignete Gegenstände, wie Papierböller, Stinkbomben oder Reizgase erzeugt, einführt, bestellt, anschafft, entgeltlich oder unentgeltlich einem anderen überläßt, ja selbst auch nur derartige Gegenstände einfach besitzt, „wenn nach den Umständen des Falles, insbesondere der notorisch staatsgefährlichen Einstellung des Täters, der Schluß gerechtfertigt ist, daß diese Gegenstände zur Begehung einer strafbaren Handlung bestimmt sind"; dasselbe gilt für den Besitz von Schieß- oder Sprengmitteln und dergleichen, wofern der Besitzer sie nicht für den unmittelbaren Bedarf des Gewerbes, Betriebes oder Berufes benötigt: Fälle von Verdachtsstrafen. Endlich macht sich nach § 10 OG auch strafbar, wer es vorsätzlich unterläßt, von einer der vorgenannten Verwaltungsübertretungen (Verkehr mit und Besitz der vorgenannten Gegenstände), wofern er hievon in glaubhafter Weise Kenntnis erhalten hat, der zuständigen Behörde die Anzeige zu erstatten, obgleich er es leicht und ohne Gefahr für sich, seine Angehörigen oder die unter seinem gesetzlichen Schutze stehenden Personen hätte tun können. 9. Unter dem Titel von Terrorakten (§11) behandelt das Gesetz Delikte von nicht bloß politischem, sondern gemeingefährlichem Charakter. Hienach ist nämlich strafbar, wer vorsätzlich 1. durch Herbeiführung einer Explosion oder Feuersgefahr für fremdes Eigentum in einem größeren Personenkreis Angst oder Schrecken erregt; 2. zur Ausführung einer solchen Handlung einen Sprengstoff herstellt, sich verschafft, bereit hält oder befördert, mit einem anderen die Ausführung einer solchen Handlung verabredet oder sich mit einem anderen zur Begehung derartiger Handlungen verbindet; 3. den Betrieb gewisser, dem öffentlichen Interesse dienender Unternehmungen (wie Eisenbahn, Wasserwerke, Post usw.) durch gewaltsame Handlungen stört oder gefährdet. 10. Als Verwaltungsübertretung ist endlich die Betätigung im Sinne der durch die Verordnungen, BGBl. Nr. 200/1933, Nr. 240/1933, I 78/1934

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verbotenen politischen Parteien strafbar. Doch sind die zitierten Verordnungen in folgender Weise modifiziert: Als solche Verwaltungsübertretung ist auch jede Werbung für eine der fraglichen Parteien und jede auf eine Förderung ihrer Bestrebungen abzielende Betätigung anzusehen, wozu insbesondere auch der öffentliche Gebrauch von Fahnen, Flaggen, Standarten, Wimpeln, sowie das öffentliche Tragen von Uniformen, Uniformstücken oder Abzeichen gehört, soweit nicht Ausnahmen zugelassen sind. Auf die fraglichen Verwaltungsübertretungen finden die Bestimmungen des OG über Strafen, Schadenersatz, Abschaffung, sowie die besonderen Verfahrensbestimmungen Anwendung. Eine besondere Bestrafung wegen einer Verwaltungsübertretung, die in verbotener Parteibetätigung besteht, entfällt, wenn die Tat zugleich eine der oben besprochenen besonderen Verwaltungsübertretungen bildet oder gerichtlich strafbar ist. Beispielsweise ist also das Ausstreuen von Hakenkreuzen oder die Verbreitung einer verbotenen sozialdemokratischen Zeitung nicht nach § 12 OG bzw. den dort bezogenen Verordnungen, sondern nach § 3, bzw. § 6 OG strafbar. Zu den vorstehenden Tatbeständen ist endlich noch zu bemerken, daß die der §§ 2, 3, 5, 7, 9 und 12 nur zu verfolgen sind, sofern die Tat nicht gerichtlich strafbar ist, wogegen bei den Tatbeständen der §§ 4,6,8,10 und 11 die Verwaltungsstrafe unbeschadet einer strafgerichtlichen Ahndung Platz greift. V. Gemeinsame Bestimmungen zu den Strafrechtsnormen Die Strafsanktionen der im vorstehenden dargestellten strafbaren Tatbestände sind in zwei Kategorien abgestuft; die Höchststrafsätze sind Geldstrafen bis zu 5000 Schilling und Arrest bis zu sechs Monaten. Im Straferkenntnis kann, von zwei Ausnahmen abgesehen, bei allen Übertretungen der Verfall der zur Begehung der Tat gebrauchten oder bestimmten Gegenstände, insbesondere auch bei Druckwerken, ausgesprochen werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, wem die vom Verfall betroffenen Gegenstände gehören. Der Versuch aller Übertretungen ist mit drei Ausnahmen für strafbar erklärt. Auf die häufige Konkurrenz der vorstehend besprochenen Verwaltungsdelikte mit Kriminaldelikten nimmt nachstehende Bestimmung (§ 13, Abs. 4) Bedacht: Ist der Beschuldigte wegen derselben Tat gerichtlich

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verfolgt, in der Folge aber freigesprochen oder auf andere Weise außer Verfolgung gesetzt worden, so ist die wegen des Verdachtes einer gerichtlich strafbaren Handlung erlittene Verwahrungs- oder Untersuchungshaft, soweit er sie nicht verschuldet hat, auf die Geld- oder Freiheitsstrafe anzurechnen, die wegen der durch die Tat begangenen Verwaltungsübertretung verhängt wird. So weit geht aber nicht die Rücksicht des Gesetzgebers, daß im Falle einer solchen Anrechnung ein Anspruch auf Entschädigung nach dem Gesetze über die Entschädigung für Untersuchungshaft, RGBl. 318/1918, bestünde. Ein auf die Entschädigungspflicht des Bundes lautender gerichtlicher Beschluß tritt außer Kraft, sobald der Bescheid, womit die Verwahrungs- oder Untersuchungshaft auf die von der Verwaltungsbehörde verhängte Strafe angerechnet wird, in Rechtskraft erwächst; das Gericht hat in einem solchen Fall über die Entschädigungspflicht des Bundes von neuem zu entscheiden. Ist gegen den Beschuldigten im Hinblick auf die Tat ein Anhaltebescheid erlassen worden (der sich durch den gerichtlichen Freispruch als unangebracht erweist), so ist die Dauer der Anhaltung bei der Bemessung der Strafe wegen der Verwaltungsübertretung angemessen (also nicht notwendig nach dem Schlüssel: Anhaltefrist = Strafhaft) zu berücksichtigen. Im Sinne der im § 57 VStG vorgesehenen Möglichkeit, daß auch im Verwaltungsstrafverfahren über einen durch die Tat begangenen zivilrechtlichen Anspruch entschieden wird, sieht § 14 OG ein Adhäsionsverfahren und -erkenntnis in folgenden Fällen vor: Wurde durch eine strafbare Handlung nach § 3 (unzulässige politische Propaganda), § 10 (Unfug mit Schießund Sprengmitteln, Papierböller usw.) und § 11 (Terrorakte) jemand ein Schaden zugefügt, so kann auf Antrag des Geschädigten im Straferkenntnis der Ersatz dieses Schadens und darüber hinaus auch der Kosten, die aufgewendet werden müssen, um die sonstigen Folgen der strafbaren Handlung zu beseitigen, vorgeschrieben werden. Bemerkenswert ist die Sonderbestimmung, daß die Strafbehörde den vorbezeichneten Schadenersatz auch ohne Antrag vorschreiben kann, wenn es sich um den Schaden oder die Kosten einer Gebietskörperschaft oder einer öffentlichen Unternehmung handelt: Der einzige Fall eines Adhäsionserkenntnisses von Amts wegen. Die rechtskräftige Bestrafung wegen einer der im OG umschriebenen Verwaltungsübertretungen begründet jedenfalls bei Personen, die die öster-

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reichische Bundesbürgerschaft nicht besitzen, die Zulässigkeit der Abschaffung nach § 2, Abs. 5 Reichsschubgesetz, RGBl. 88/1871 (§ 15 OG). § 16 OG enthält Verfahrensbestimmungen über das Zusammentreffen von Straßaren Handlungen für den Fall, daß eine Tat nur dann als Verwaltungsübertretung zu ahnden ist, wenn sie nicht gerichtlich strafbar ist. Ist es zweifelhaft, ob die Tat den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, so kann das Verwaltungsstrafverfahren trotzdem durchgeführt und ein eventuelles Straferkenntnis vollzogen werden. Falls jedoch das Gericht rechtskräftig entscheidet, daß die Tat den Tatbestand eines Kriminaldeliktes bildet, so hat die Verwaltungsbehörde das Straferkenntnis außer Kraft zu setzen. Eine allenfalls bereits vollstreckte Verwaltungsstrafe ist auf die wegen derselben Tat verhängte gerichtliche Strafe anzurechnen. Die Frist der Verfolgungsverjährung Monate.

ist für alle Tatbestände des OG sechs

§ 18 OG regelt Haus- und Personsdurchsuchungen von Personen, die einer Verwaltungsübertretung nach §§2-12 OG verdächtig sind. Die Gesetzesbestimmung ist durch die Bestimmungen der Verfassung 1934, Art. 19, Abs. 1 und Art. 22, Abs. 5 gedeckt. Nach den zitierten Verfassungsbestimmungen ist eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit auf Grund von Gesetzen beliebig zulässig und dürfen für Zwecke des Verwaltungsstrafverfahrens in den durch das Gesetz bestimmten Fällen Hausdurchsuchungen vorgenommen werden. Auf den denkbaren Zweifel, ob diese Verfassungsvollmacht auch die Ermächtigung des § 18, Abs. 2 OG deckt, kann hier nicht eingegangen werden. § 19 OG enthält eine weitgehende Ausnahme vom Post-, Telegraphenund Fernsprechgeheimnis. Die Post- und Telegraphenbehörden sind nämlich verpflichtet, in Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen des OG auf Verlangen der Strafbehörde über die Tatsache und den Inhalt des Post-, Telegraphen- und Fernsprechverkehrs bestimmter Personen Auskunft zu erteilen. Eine derartige Ausnahme vom verfassungsgesetzlich gewährleisteten Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis ist durch Art. 23 Verfassung 1934 gedeckt, so daß diese Bestimmung nicht verfassungsändernden Charakter hat. Die Vollmacht geht nicht so weit, daß zum Zwecke der

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Ermittlung von Personen, die einer Übertretung des Gesetzes verdächtig sind, eine Kontrolle des Post- und Telegraphenverkehrs geübt werden dürfte; es muß vielmehr schon gegen bestimmte Personen ein Verwaltungsstrafverfahren anhängig gemacht worden sein, damit eine Kontrolle ihres Post-, Telegraphen- und Fernsprechverkehrs nach § 19 des OG zulässig sei. Der Rechtsschutz im Verfahren wegen der Übertretungen des OG (§§ 20 f.) wird gegenüber den normalen Rechtsschutzeinrichtungen durch nachstehende Sonderbestimmungen über Berufungen und Beschwerden einschneidend eingeschränkt: Gegen Strafbescheide wegen der im OG umschriebenen Tatbestände von Verwaltungsübertretungen ist die Berufung zulässig, wenn eine höhere Strafe als 200 S Geld, zwei Wochen Arrest oder auf Verfall von Gegenständen im Werte von mehr als 500 S erkannt worden ist. Bei den Verwaltungsübertretungen nach §§ 6, 8, 10, 11 kann im Strafbescheid die aufschiebende Wirkung der Berufung ausgeschlossen werden, wenn öffentliche Rücksichten die sofortige Vollstreckung gebieten. Damit wird einerseits die Berufungsmöglichkeit, anderseits die Wirksamkeit einer Berufung wesentlich eingeschränkt. Gegen Strafbescheide wegen der in Rede stehenden Verwaltungsübertretungen ist Beschwerde an den Bundesgerichtshof nur dann zulässig, wenn auf eine höhere Strafe als 200 S Geld, zwei Wochen Arrest oder Verfall von Gegenständen im Werte von mehr als 500 S erkannt wurde. Auch das bedeutet eine empfindliche Einschränkung des Rechtsschutzes, zumal da eine derartige Bestimmung als Verlockung wirken kann, sich in etwas fraglichen Fällen unterhalb der zitierten Strafgrenze zu halten, um das Straferkenntnis unanfechtbar zu machen. Es braucht kaum festgestellt zu werden, daß der Grad der Rechtswidrigkeit eines Straferkenntnisses außer Beziehung zum Ausmaße der Strafe steht und daß beispielsweise ein Irrtum der Behörde in der Person des Täters oder in der Subsumtion der Tat unter das Gesetz im Falle eines geringeren angewendeten Strafsatzes viel eher Abhilfe im Rechtsmittelwege erheischt, als etwa in den Fällen bestehender Rechtsmittel ein zur Behebung des Straferkenntnisses führender Verfahrensmangel. Das Rechtsstaatsprinzip erheischt nichts so dringend als den nachhaltigen Abbau der Einschränkungen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, zumal da sich der Bundesgerichtshof unzweifelhaft im Rahmen des gesetzlich Möglichen als Hüter des Staatsinteresses erwiesen hat und es dem österreichischen Gesetzgeber gewiß fern liegt, für behördliche Gesetzesverletzungen einen Freibrief zu geben.

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VI. Die Anhaltung Von grundsätzlicher Bedeutung ist im Rahmen unseres Gesetzes die Rechtseinrichtung der ,yAnhaltung", die im § 23 OG erschöpfend geregelt wird. Es handelt sich um eine für Österreich neuartige Form des Eingriffes in die Freizügigkeit der Person, und zwar um die Zuweisung eines Zwangsaufenthaltes, der nicht durch eine strafbare Handlung bedingt ist. Die nächstverwandte Rechtseinrichtung ist sonach die Abgabe in Arbeitshäuser gemäß dem Gesetz vom 1. Oktober 1932, BGBl. 167, oder die Abgabe in eine Anstalt für erziehungsbedürftige Jugendliche gemäß dem Jugendgerichtsgesetz vom 18. Juli 1928, BGBl. 234. Der in der Zuweisung dieses Zwangsaufenthaltes gelegene Eingriff in die gesetzlich gewährleistete Freizügigkeit der Person (Art. 17, Verfassung 1934), ist vollauf durch die Verfassung gedeckt, da der bezogene Verfassungsartikel beliebige Ausnahmen in Form einfacher Gesetze zuläßt, so daß also in diesem Falle gar nicht die Ermächtigung zu verfassungsändernden Maßnahmen, die durch das BVG 280/1937 erteilt worden ist, aktuell wird. Das Gesetz sieht drei verschiedene Gründe der Anhaltung vor, die durch den gemeinsamen Zweck der Hintanhaltung von Störungen der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit gekennzeichnet sind: Verdacht der geflissentlichen Förderung staats- oder regierungsfeindlicher Bestrebungen oder der Verleitung anderer zu staats- oder regierungsfeindlichen Handlungen; begründeter Verdacht der Beteiligung an der Störung der öffentlichen Ruhe, endlich Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit durch den sozialen Frieden störendes Verhalten. Diese Voraussetzungen der Anhaltung stempeln sie zu einer sogenannten sichernden Maßnahme, an der aber außergewöhnlich ist, daß sie in dem Eingriff in die persönliche Freiheit und nicht (ursprünglich und in der Hauptsache) in das Vermögen besteht. Der Zweck der Einrichtung macht es selbstverständlich unmöglich, daß die Anhaltung an die Voraussetzung einer bestimmten Handlung oder Unterlassung geknüpft wird, wodurch sie ja aus einer sichernden Maßnahme zu einer Strafmaßnahme würde. Vielmehr sind die Voraussetzungen der Anhaltung mehr oder weniger konkrete Verdachtsgründe, durch deren ausführliche Konkretisierung das Gesetz sich unzweideutig bemüht, das Gefahrenmoment der Freiheitsbeschränkung abzuschwächen und gemäß dem Rechtsstaatsprinzip die Verfügung der Anhaltung berechenbar und damit auch vermeidbar zu machen. Allerdings kann der Natur der Sache nach, da ja kein

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Faktum vorausgesetzt werden kann, sondern ein solches verhindert werden soll, bei der Umschreibung der Voraussetzungen unmöglich jene Präzision erreicht werden wie in einem Straftatbestand. Beachtung verdient auch der ungleiche Rigorismus in der Umschreibung der Anhaltegründe, was immerhin die Gefahr mit sich bringt, daß eine bestimmte Person zwar nicht wegen des ersten, wohl aber wegen des zweiten oder dritten Anhaltegrundes der Maßnahme verfällt. Einerseits ist nämlich vorausgesetzt, daß man geflissentlich staats- oder regierungsfeindliche Bestrebungen fördert. Zwar ist der Grund der Unterscheidung zwischen staats- und regierungsfeindlich in einem autoritären Staate, wo der Staat vor allem durch die Regierung repräsentiert wird, nicht ganz ersichtlich, doch ist jedenfalls mehr als der Verdacht staatsgefährlicher Bestrebungen (§ 5 des Gesetzes) vorausgesetzt. Weches „Verhalten" allerdings genügt, jemand in den Verdacht geflissentlich staats- oder regierungsfeindlicher Bestrebungen zu bringen, ist in das Ermessen der Behörde gestellt. Wesentlich größer ist aber dieses Ermessen in dem Falle des Verdachtes einer Beteiligung an einer drohenden Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit, denn ein solcher Verdacht kann schon durch irgend ein politisch determiniertes, begangenes oder versuchtes Delikt, ja auch schon durch die entfernte Vorbereitung eines solchen, begründet werden. Außerordentlich vage ist die Voraussetzung für die Anhaltung im Interesse des sozialen Friedens, wobei die sozialpolitische Tendenz dieser Ermächtigung gewiß aller Anerkennung wert ist. Die Anhaltung besteht darin, daß jemand zum Aufenthalt in einem bestimmten Ort oder Gebiet verhalten wird. Dieser jemand kann jede physische Person ohne Beschränkung des Alters oder des Geschlechtes sein; auch ist Mangel der Zurechnungsfähigkeit, Krankheit, Pflicht zur Erhaltung anderer Personen, kein Hinderungsgrund der Anhaltung. Die Anhaltung darf immer nur auf bestimmte Zeit ausgesprochen werden, und zwar zunächst auf höchstens drei Monate. Zu dieser Verfügung ist der Sicherheitsdirektor, in Wien der Polizeipräsident zuständig. Gegen die Verfügung ist die Berufung an den für die Angelegenheiten des Sicherheitswesens zuständigen Bundesminister - ohne aufschiebende Wirkung - zulässig. Wenn die Voraussetzungen der Anhaltung bestehen, kann der für die Angelegenheiten des Sicherheitswesens zuständige Bundesminister einmal oder wiederholt ohne irgend eine zeitliche Beschränkung die Anhaltefrist verlängern. Prinzipiell

Das Ordnungsschutzgesetz

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sehr bedeutungsvoll ist, daß gegen den ursprünglichen Anhaltebescheid eine Beschwerde an den Bundesgerichtshof unzulässig ist. Die hiemit vorbehaltene Beschwerde gegen die Verlängerung einer Anhaltung ist darum praktisch nicht allzu bedeutungsvoll, weil ja die Beurteilung der Voraussetzungen der Anhaltung im Ermessen der Verwaltungsbehörde gelegen ist. Der Unterschied der Anhaltung von der Strafe wird insbesondere durch die Vorschrift betont, daß die Anhaltung in Strafanstalten oder gerichtlichen Gefangenenhäusern nicht vollzogen werden darf. Bemerkenswert an der Regelung der Anhaltung ist endlich, daß der Angehaltene nach freiem Ermessen des Sicherheitsdirektors, in Wien des Polizeipräsidenten zum Ersatz der Vollzugskosten verhalten werden kann. Gegen die Vörschreibung der Vollzugskosten ist kein Rechtsmittel zulässig. Es kann immerhin fraglich sein, ob hiedurch auch die Beschwerde an den Bundesgerichtshof gegen diesen Bescheid ausgeschlossen ist, da ja die verwaltungsgerichtliche Beschwerde den Charakter eines außerordentlichen Rechtsmittels hat, das unter die in Verwaltungsgesetzen vorgesehenen Rechtsmittel nicht subsumiert zu werden pflegt. V I I . Der verschärfte Ordnungsschutz Im zweiten Teil des OG wird unter dem Titel des verschärften Ordnungsschutzes eine besondere Art Ausnahmezustand geregelt, die sich mit dem verfassungsgesetzlich vorgesehenen Ausnahmezustand nicht deckt und Art. 147, Abs. 7 Verfassung 1934 berührt. Inwieweit das Ordnungsschutzgesetz als das in Abs. 7 des Art. 147 Verfassung 1934 bezogene Bundesgesetz angesehen werden kann, würde eine besondere Untersuchung erfordern; das vorliegende Gesetz greift in die Grundrechte der Freiheit der Person, des Hausrechts, des Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses ein; die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustandes nach Art. 147 Abs. 7 Verfassung 1934 schließt unter anderem auch die Möglichkeit in sich, die genannten Grundrechte zeitweilig und örtlich, ganz oder zum Teil durch Bundesgesetz zu beschränken. Der verschärfte Ordnungsschutz im Sinne des OG ist durch Verordnung des Bundeskanzlers zu verhängen. Die Voraussetzung des sogenannten verschärften Ordnungsschutzes ist die, daß die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit in ausgedehnten

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Gebieten in bedeutendem Maße gestört wird; also die Gefahr einer solchen Störung genügt nicht, die Störung muß vollzogene Tatsache sein. Unter dieser Voraussetzung kann entweder für das ganze Bundesgebiet oder für Teile des Bundesgebietes „in dem jeweils erforderlichen Umfang vorübergehend" der „verschärfte Ordnungsschutz" verhängt werden. Die Form dieser sicherheitspolizeilichen Maßnahme ist eine Verordnung des Bundeskanzlers. Von juristischem Interesse ist die Rückwirkung der während des verschärften Ordnungsschutzes geltenden besonderen Bestimmungen auf Handlungen, die vor Verlautbarung der Verordnung begangen worden sind. Auf strafbare Handlungen, die in die Geltungsdauer des verschärften Ordnungsschutzes fallen, sind auch nach dessen Aufhebung die besonderen Bestimmungen des verschärften Ordnungsschutzes, die für die Zeit des Ordnungsschutzes erlassen worden sind, anzuwenden, soweit sie das Strafausmaß, die Zulässigkeit von Berufungen und von Beschwerden an den Bundesgerichtshof und die Möglichkeit zur Verhängung besonderer Rechtsfolgen betreffen. Der Inhalt des verschärften Ordnungsschutzes ist im Gesetz fakultativ umschrieben: Insbesondere ist der verschärfte Ordnungsschutz gekennzeichnet durch die Möglichkeit der Erhöhung der Strafsätze des Ordnungsschutzgesetzes auf das Doppelte; die Möglichkeit der Erhöhung der festgesetzten Strafgrenze für die Zulässigkeit von Berufungen, die Möglichkeit einer weitergehenden Einschränkung der Zulässigkeit der Beschwerde an den Bundesgerichtshof, die Möglichkeit der Beschlagnahme und Eröffnung von Briefen und anderen unter Siegel gehaltenen Schriften im Zuge eines Strafverfahrens wegen einer im Ordnungsschutzgesetz als Verwaltungsübertretung mit Strafe bedrohten Handlung. Der Abschnitt I I I des Gesetzes hebt achtzehn taxativ aufgezählte Verwaltungsvorschriften zur Gänze auf. Damit erfüllt unser Gesetz die durch die Fülle und Unübersichtlichkeit der Polizeirechtsquellen der jüngsten Zeit dringlich gewordene Aufgabe einer teilweisen Kommassation des Polizeirechtsstoffes. Die Übergangsbestimmungen haben ihre Aktualität größtenteils verloren. Das OG ist augenscheinlich selbst als Übergangsgesetz gedacht, das sich je eher, je besser überflüssig machen soll. Sollte die politische Unruhe in Europa, die unvermeidlich auch auf unser Österreich ihre Wellen wirft, nicht in absehbarer Zeit verebben und den Abbau oder wenigstens eine weitere Einschränkung der Defensivrüstung ermöglichen,

Das Ordnungsschutzgesetz

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die unser Gesetz dem Staat verleiht, so kann doch jedenfalls die administrative Praxis zur „Normalisierung" im Sinne des Rechtsstaates beitragen, indem sie die außerordentlichen Vollmachten des Gesetzes wie beispielsweise den Ausschluß der aufschiebenden Wirkung von Straferkenntnissen oder die Anhaltung nur als ultima ratio des Ordnungsschutzes auffaßt.

Zur Frage des Naturschutzgebietes in den Hohen Tauern Die Mitarbeiter des Vereines „Naturschutzpark" in Stuttgart würdigen in der interessanten Abhandlung des Herrn Hofrates Ing. Gilde im II. Heft des laufenden Jahrganges der „Vierteljahresschrift für Forstwesen" bedingungslos die naturschützerische Einstellung des geschätzten Verfassers und der Generaldirektion der Bundesforste, die ich übrigens, wie der Verfasser selbst auf S. 80 seiner Abhandlung feststellt, seit jeher gewürdigt habe. Besonders wertvoll ist die Feststellung, daß das fragliche Gebiet einen besonderen rechtlichen Schutz verdient. Mag es auch in den österreichischen Alpen größere Zirbenbestände geben, so ist doch wohl keine der fraglichen Landschaften für den Naturfreund so eindrucksvoll dank ihrer Gletscherumrahmung und der in die Landschaft eingestreuten Hochgebirgsseen. Ich habe übrigens im Wiegenwalde Zirben mit dem Stammumfang von 290 cm in Brusthöhe gemessen, denen an sich der Charakter eines Naturdenkmales zukommt. Indes muß ich feststellen, daß Herr Hofrat Ing. Gilde mir auf Seite 80 seiner Abhandlung mißverständlich eine Ansicht oder Absicht zuschreibt, die ich in keiner meiner Veröffentlichungen über die Frage eines österreichischen Naturschutzgebietes ausgesprochen habe. An der - von Herrn Hofrat Gilde wiedergegebenen - Stelle führe ich aus: „Es muß voll anerkannt werden, daß die Generaldirektion der Bundesforste, bei der der Gedanke des Naturschutzes gewiß in bester Hut ist, das fragliche Gebiet freiwillig schon bisher in konservativem Sinne bewirtschaftet. Der gute Wille der Fachleute genügt aber nicht allein, um das Territorium in seiner gegenwärtigen Gestalt zu erhalten oder es gar zu einem echten Naturschutzpark zu gestalten." Aus dieser Feststellung folgere ich nun nie und nirgends,

Österreichische Vierteljahresschrift für Forstwesen, Bd. 55 NF (1937), S. 276.

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daß der Verein „Naturschutzpark", wie es diesem seinerzeit von österreichischen Funktionären geraten worden war, Bundesbesitz zu dem Vereinsbesitz hinzupachten solle, sondern nur, daß die naturschützerischen Absichten der Bundesforstverwaltung durch die gesetzliche Bannlegung des fraglichen Bundesbesitzes unterstützt und gesichert werden sollten.

Ein deutsch-österreichisches Naturschutzgebiet Die Leser dieses Blattes sind schon durch eine Reihe von Mitteilungen darüber unterrichtet, daß fernab vom Schauplatz der großen Politik, aber auch frei von politischen Absichten, rein mit kultureller Zweckbestimmung ein den Deutschen des Reiches und Österreichs nach Arbeitsleistung und Zielsetzung gemeinsames Kulturwerk heranreift: ein deutsches Naturschutzgebiet auf österreichischem Boden, oder, wie man auch nicht ganz zutreffend sagt, ein österreichischer Naturschutzpark. Über die einzelnen Etappen dieses Kulturwerkes geben die Veröffentlichungen des Vereines Naturschutzpark, E.V. in Stuttgart, die Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines, namentlich mein Aufsatz „Naturschutzgebiete in Österreich", 1934, Heft 5, und gelegentliche Aufsätze in den Wiener Tageszeitungen „Reichspost" und „Wiener Neueste Nachrichten", in diesen namentlich mein Aufsatz „Naturschutzpark für Österreich" vom 18. August 1935 Aufschluß. Von einer für die Sache entscheidenden Tat von amtlicher österreichischer Seite, die ein neues Stadium auf dem Weg zu einem österreichischen Naturschutzgebiet, das internationalen Ausmaßen entspricht, und daher internationale Geltung beanspruchen darf, eingeleitet hat, berichtet der Herausgeber der „Österreichischen Vierteljahresschrift für Forstwesen", Hofrat Ing. Julius Gilde, im jüngsten Heft dieser hochangesehenen forstwissenschaftlichen Fachzeitschrift unter dem Titel „Vom Salzburger Naturschutzgebiet in den Hohen Tauern". Die amtliche Stellung des in Fachkreisen hochangesehenen Verfassers als Leiter der Forsteinrichtungsabteilung der Generaldirektion der österreichischen Bundesforste gibt den Ausführungen und programmatischen Erklärungn dieses Aufsatzes besonderes Gewicht. Der Verfasser wiederholt hier in aller Öffentlichkeit eine bisher bloß mündliche Äußerung, daß die Generaldirektion der österreichischen Bundesforste der Erklärung eines dem Bunde gehörigen Besit-

Wiener Neueste Nachrichten vom 27. Juli 1937, S. 1-2.

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zes in den Hohen Tauern im Ausmaß von annähernd 70 Quadratkilometern als Naturbanngebiet im Sinne des Naturschutzgesetzes für das Land Salzburg vom 16. Mai 1929, LGB1. 67, zugestimmt habe. Damit hat sich der Bund verpflichtet, den wichtigsten Beitrag für den österreichischen Naturschutzpark zu leisten, der, wenn das Gebiet auch überwiegend Ödland einschließlich Gletscher aufweist, flächenmäßig den Beitrag des Vereines Naturschutzpark mit seinen annähernd 14 Quadratkilometern bei weitem übersteigt. Und wenn auch die Grenzen des von den Bundesforsten zur Verfügung gestellten Gebietes nicht ganz den Erwartungen der Naturfreunde entsprechen mögen - mit gewissen weitergehenden Vorschlägen setzt sich Hofrat Güde sachlich auseinander - so müssen doch zwei Tatsachen rückhaltlos anerkannt werden: Daß der obere Wiegenwald, ein durch die Bergumrahmung und meeraugenartige Wasserflächen besonders bezaubernde Zirbenwald, in das künftige Schutzgebiet einbezogen ist, eine Fläche, die freilich, wie Ing. Güde nachweist, vor Jahrhunderten bereits menschlichem Raubbau zum Opfer gefallen war, aber nach den Worten desselben Verfassers als ein naturgewachsener Bestand „möglichst unberührt zu erhalten und - als Naturdenkmal zu schützen" ist. Ferner, daß das Schutzgebiet bis an die Grenze Kärntens reichen und damit eine Brücke zum Schutzgebiet des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines im Großglocknermassiv schlagen soll. Damit ist ausgemacht, daß drei Eigentümer, die ihrer Natur nach vor allem zu einem solchen kulturellen Werk berufen erscheinen, Besitzungen zu dem österreichischen Naturschutzgebiet beisteuern werden: Der Bund, der Deutsche und Österreichische Alpenverein und der reichsdeutsche Verein Naturschutzpark. Schon diese Eigentumsverhältnisse bringen zweierlei zum Ausdruck: daß es sich um ein Werk von privater Initiative unter entscheidender staatlicher Förderung und daß es sich um eine gemeinsame österreichisch-reichsdeutsche Schöpfung auf österreichischem Boden, also unter österreichischer Rechtshoheit, handelt. Gerade Mitglieder und Freunde des Vereines Naturschutzpark werden solche Eröffnungen mit uneingeschränkter Genugtuung zur Kenntnis nehmen, denn dieser Verein verfolgt seit mehr als einem Vierteljahrhundert ohne eine Spur materiellen Interesses und ohne irgendeinen persönlichen Ehrgeiz seiner Mitarbeiter nur das eine Ziel: dem deutschen Volk auch in Österreich ein Naturschutzgebiet von international anerkanntem Format zu verschaffen, wie es alle Kulturvölker geradezu schon als nationale Selbstverständlichkeit eingesehen haben, und wie es gerade jetzt das faschistische Italien

Ein deutsch-österreichisches Naturschutzgebiet

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mit seinem Naturschutzgebiet um den Ortler seinem nördlichen Nachbar mit besonderer Eindringlichkeit demonstriert, so als ob uns gesagt werden würde: Soll sich Österreich mit dem Schutz österreichischer Landschaft vom italienischen Faschismus in den Schatten stellen lassen? Die übereinstimmende Einsicht in diese Kulturaufgabe ist es auch, was die Mitglieder und Mitarbeiter des Vereines Naturschutzpark - der dafür, daß er sich um Österreich ungewöhnlich verdient gemacht hat, wahrhaftig nicht verwöhnt worden ist - darüber hinwegsehen läßt, daß in den Kreisen der Bundesforstverwaltung die Verdienste dieses Vereines um den Naturschutz in Österreich augenscheinlich in keiner Weise gewürdigt werden. Der Verfasser der erwähnten Abhandlung verrät denn auch das Motiv einer solchen Einstellung gegenüber unserem Verein - wobei bei gewissen österreichischen Stellen noch der sachlich völlig unbegründete Verdacht der Tarnung politischer durch kulturelle Ziele mitschwingen mag. Der Verein Naturschutzpark hat sich und das Projekt eines österreichischen Naturschutzparkes den Kreisen der Bundesforstverwaltung dadurch verdächtig gemacht, daß österreichische Berater des Vereines seinerzeit den Vorschlag gemacht haben, die in den Naturschutzpark einzubeziehenden Staatsforste zu pachten und von Vereins wegen zusammen mit dem vereinseigenen Besitz zu bewirtschaften. Wenngleich diese Anregung, wie Hofrat Gilde in korrekter Weise feststellt, von Österreichern ausgegangen ist - die Priorität kommt dem namhaften österreichischen Forstwissenschafter Prof. Guttenberg zu konnte sie doch, als sie von den reichsdeutschen Vereinsfunktionären aufgegriffen wurde, den Anschein erwecken, als verfolge der Verein auf österreichischem Boden gewissermaßen imperialistische Expansionsgelüste auf Kosten der Bundesforstverwaltung. In Wirklichkeit beweist die ganze Haltung des Vereines Naturschutzpark, im einzelnen der Ankauf von Besitzungen auf österreichischem Boden und die Nutzung dieser Besitzungen in dem engsten, gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen, der Nichtgebrauch der auf den Bundesforsten zugunsten des Vereines lastenden Servituten, die Verpachtung der Vereinsjagd an die Bundesforste, zudem um einen viel geringeren Pachtschilling, als die umliegenden bäuerlichen Jagdberechtigten beziehen, die Bereitwilligkeit, diesen Vereinsbesitz jeder von der österreichischen Verwaltungsbehörde dekretierten Beschränkung zu unterwerfen, daß der Verein mit der Verwaltung der Bundesforste in der Auffassung seiner Aufgabe übereinstimmt: Diese selbst gesetzte Aufgabe geht dahin, das anvertraute Stück österreichischer Erde in

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strengster Verantwortung zu betreuen und der Nachwelt als Zeugnis menschlich unbeeinflußter Landschaft zu erhalten. Bei solcher grundsätzlicher Einstellung ist die Methode der Verwaltung des Schutzgebietes nur eine taktische Frage, die nach jeweiliger Zweckmäßigkeit zu beantworten ist. Wiewohl ich in diesem Punkte nicht legitimiert bin, namens des Vereines Naturschutzpark zu sprechen, habe ich doch Grund zur Annahme, daß die Vereinsleitung über ihrem eigentlichen Ziel, den österreichischen Vereinsbesitz als Teil eines österreichischen „Naturschutzparkes" zu betreuen, den nicht von ihr ausgegangenen Gedanken der Pachtung und Verwaltung österreichischen Bundesbesitzes in eigener Regie überhaupt nicht oder nicht mehr ernstlich verfolgt. In diesem Zusammenhang sei mir die Feststellung gestattet, daß ich in meinen sämtlichen Veröffentlichungen zum Problem des österreichischen Naturschutzparkes weder ausdrücklich noch stillschweigend den Gedanken einer Verpachtung von Bundesbesitz an den Verein Naturschutzpark verfolgt habe. Hofrat Güde schreibt mir eine solche Absicht auf Grund folgender Äußerung zu, die ich im Jahre 1934 in den „Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines" gemacht habe: „Es muß voll anerkannt werden, daß die Generaldirektion der Bundesforste, bei der der Gedanke des Naturschutzes gewiß in bester Hut ist, das fragliche Gebiet freiwillig schon bisher in konservativem Sinn bewirtschaftet. Der gute Wille der Fachleute genügt aber nicht allein, um das Territorium in seiner gegenwärtigen Gestalt zu erhalten oder es gar zu einem echten Naturschutzpark zu gestalten." Während ich aus den festgestellten Tatsachen an der fraglichen Stelle und auch anderweitig lediglich folgere, daß der gute Wille und die Sachkenntnis der Leitung der Bundesforste durch rechtliche Sicherungen einer konservativen Bewirtschaftung, eben die gesetzliche Bannlegung des Gebietes, unterstützt werden müsse, legt Hofrat Güde meine Worte als Werbung für die Verpachtung der in das Schutzgebiet fallenden Bundesforste aus. Man sieht, daß Hofrat Güde in allen dem Verein Naturschutzpark nahestehenden Quellen versteckte Angriffe auf die Integrität der Bundesforste und die naturschützerische Eignung ihrer derzeitigen Verwaltung wittert, obwohl ich einer solchen Mißdeutung schon durch die loyale Anerkennung der naturschützerischen Einstellung der Verwaltung der Bundesforste vorzubeugen versucht habe. Wenn ich - wohl im Sinne der meisten Naturschützer - der Meinung Ausdruck gebe, daß die leitenden Persönlichkeiten der österreichischen Bundesforste über jeden Zweifel, den Beruf zur Betreuung eines österrei-

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chischen Naturschutzgebietes zu besitzen, erhaben sind; und daß ich mir sehr wohl eine Verwaltung des österreichischen Naturschutzgebietes von der Art vorstellen kann, daß innerhalb des in der Bannlegungsverordnung normierten Wirtschaftsplanes die einzelnen Grundbesitzer, deren Besitzungen in das Schutzgebiet einbezogen werden, neben einer Verwaltungskommission bestimmenden Einfluß auf die Verwaltung der ihnen gehörigen Gebietsfläche behalten, so dürfte wohl auch Herr Hofrat Gilde bereit sein, dem Verein Naturschutzpark die unzweifelhaften Verdienste um das österreichische Naturschutzgebiet zuzubilligen. Vor allem das Verdienst der Initiative durch Ankauf von Grundstücken, die den Grundstock für ein österreichisches Naturschutzgebiet bilden sollen, das Verdienst des Vorbildes durch der Widmung gemäße Bewirtschaftung dieses Grundstockes, die kürzlich erst ein Fachmann von europäischem Ruf, der Leiter der deutschen Reichsstelle für Naturschutz in Berlin, Professor Dr. Schönichen, anerkannt hat, und nicht zuletzt das für einen reichsdeutschen Verein besonders bemerkenswerte Verdienst einer unermüdlichen Propaganda für den Gedanken eines österreichischen Naturschutzparkes, wie sie selbstverständlich einer österreichischen Amtsstelle versagt wäre. Denn diese Tat, dieses Vorbild, diese nimmermüde Werbung haben es den beamteten Freunden eines österreichischen Schutzgebietes, wie sie sich selbstverständlich unter den österreichischen Forstmännern finden, erst ermöglicht, oder wesentlich erleichtert, ihre latenten Absichten, auch von österreichischer Seite ein geeignetes Stück Landschaft beizutragen, in die Tat umzusetzen. Über eine Frage der gemeinsamen Arbeit am österreichischen Schutzgebiet sind allerdings noch Mißverständnisse zu zerstreuen: Hofrat Ing. Gilde entwickelt in der gedachten Veröffentlichung einen sehr interessanten Plan über naturwissenschaftliche Forschungsmöglichkeiten und -aufgaben, die mit der Erklärung des österreichischen Naturschutzgebietes aktuell werden, und fährt dann fort: „Bei der Lösung der wichtigen Frage der Geldbeschaffung für die gedachten Forschungszwecke könnte der Verein Naturschutzpark, dessen finanzielle Kräfte durch den endgültigen Entfall der für die Pachtung und Verwaltung des ganzen Naturschutzgebietes gedachten Aufwendungen jetzt wesentlich geschont werden, sehr verdienstvoll mitwirken, da die vom Bund und Land zu erhoffenden Subventionen nicht ausreichen werden, um die Bedeckung der Kosten für einen genügend raschen und ersprießlichen Arbeitsfortschritt nachhaltig zu gewährleisten." Falls diese Bemerkung nicht ironisch gemeint ist - zumal da ja für die Pacht der wenig

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ertragreichen und mit starken Gemeindeumlagen belasteten Hochgebirgsforste nur ein Anerkennungszins in Frage gekommen wäre darf doch bemerkt werden, daß man von einem reichsdeutschen Verein, der bereits in einzig dastehender Weise und ohne viel Dank zu ernten, für einen österreichischen Naturschutzpark vor allen berufenen österreichischen Stellen finanzielle Opfer gebracht hat, zumal bei der heutigen Devisenlage nichts Unmögliches, also nicht viel mehr als die sachgemäße Betreuung seines Besitztums erwarten darf. Es sei nur erwähnt, daß beispielsweise der mustergültige Schweizer Naturschutzpark nicht nur zur Gänze aus Schweizer Mitteln errichtet wurde, sondern auch ausschließlich aus in der Schweiz aufgebrachten öffentlichen und privaten Mitteln erhalten wird. Doch darf man hoffen, daß, wie so häufig, der Idealismus geistiger Arbeiter auch unentlohnt nötige Forschungsarbeiten leisten wird. Wenn Hofrat Gilde meint, der Worte über den österreichischen Naturschutzpark seien genug gewechselt, nun sei es Zeit, zu ernster und wirklich wertvoller Arbeit zu kommen, so bedeuten nach allen mühsamen Vorbereitungsarbeiten zwei Akte den unvermeidlichen und verheißungsvollen Auftakt zu dieser Arbeit: Der schon im Jahre 1934 bei der Landesregierung von Salzburg gestellte Antrag des Vereins Naturschutzpark, seine Besitzungen in Salzburg zum Naturschutzgebiet im Sinne des Salzburger Naturschutzgesetzes zu erklären und die Bewirtschaftung des Schutzgebietes allen sachlich wünschenswerten rechtlichen Beschränkungen zu unterstellen, und die eingangs erwähnte konforme Erklärung der Generaldirektion der Bundesforste, womit sie ein von ihr bewirtschaftetes Territorium für das österreichische Naturschutzgebiet gewidmet hat. Der Sachlage nach hat nunmehr die Landesregierung das Wort, um durch die im Salzburger Naturschutzgesetz vorgesehene BannlegungsVerordnung die rechtliche Basis für die Schutz- und Forschungsarbeit der Grundeigentümer herzustellen. Die Landesregierung von Salzburg wird sich durch diesen vergleichsweisen bescheidenen Beitrag das kulturelle Verdienst erworben haben, für das erste oder einzige österreichische Naturschutzgebiet den rechtlichen Grund gelegt und damit das an Gaben der Natur und des Geistes so gesegnete österreichische Bundesland Salzburg durch ein weiteres wertvolles kulturelles Besitztum bereichert zu haben.

Einheitlicher Naturschutz in Großdeutschland Die Leser dieser Blätter wissen aus häufigen Hinweisen der Schriftleitung auf die Lage des Naturschutzes im Deutschen Reiche, daß die Heimkehr Österreichs in das Reich der Landschaft Österreichs und seiner Fauna und Flora eher eine Steigerung als eine Minderung des staatlichen Schutzes bringen wird. 1 Denn das Deutsche Reich hat nicht nur bereits im 19. Jahrhundert, nämlich mit dem Vogelschutzgesetz aus dem Jahre 1888 den Auftakt und ein auch für Österreich maßgebliches Vorbild an gesetzlichen Naturschutzmaßnahmen gegeben, sondern besitzt auch seit dem 26. Juni 1935 ein Reichsnaturschutzgesetz, das wohl das derzeit vollkommenste und im Dienste der Erhaltung bedrohter Naturerscheinungen schärfste Gesetz auf der ganzen Erde ist. Es ist heute noch nicht abzusehen, wann dieses Gesetz für Österreich Geltung erlangen wird, da die Gesetze des Deutschen Reiches nicht auf einmal, sondern nur schrittweise in Österreich in Kraft gesetzt werden können, wenn nicht bei der Beamtenschaft und bei der Bevölkerung Verwirrung und Rechtsunsicherheit eintreten soll. Bei der Nachdrücklichkeit und Zielsicherheit, die auch im Zuge der rechtlichen Gleichschaltung Österreichs mit dem Reiche zutage tritt, ist es aber gewiß nicht verfrüht, sich jetzt schon ein Bild von den Neuerungen zu machen, die das Inkrafttreten des Reichsnaturschutzgesetzes für den Naturschutz in Österreich mit sich bringen wird, und zweckmäßig, wenn sich die beamteten und freiwilligen Naturschützer geistig auf diesen künftigen Rechtszustand umstellen. Österreich ist in der glücklichen Lage, derzeit in den meisten Ländern bereits Naturschutzeinrichtungen zu besitzen, die in ihrem Inhalt und hie

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 25. Jg. (1938), S. 82-85. 1 Vgl. dazu auch Weber-Schönichen, Das Reichsnaturschutzgesetz. Hugo BermühlerVerlag, Berlin-Lichterfelde, und G. Metschke, Das Reichsnaturschutzgesetz, Verlag Parey, Berlin.

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und da auch in ihrer Wirksamkeit zweifelsohne dem deutschen Gesetze sehr nahekommen, sodaß sich in einer Reihe von Ländern Österreichs vom Standpunkt der Bevölkerung aus gesehen am staatlichen Naturschutz, abgesehen von wesentlich verschärften Strafdrohungen gegen die Übertreter der Naturschutzvorschriften nichts Wesentliches ändern wird. Die österreichische Naturschutzbewegung hat immerhin schon elf Jahre vor dem Inkrafttreten des Reichsnaturschutzgesetzes jene gesetzgeberischen Maßnahmen als erforderlich erkannt und in der Hauptsache auch durchgesetzt, die das Reichsnaturschutzgesetz, offenbar auch unter Berücksichtigung der Naturschutzgesetze der österreichischen Bundesländer, in großzügiger und für das ganze Reich einheitlicher Weise für das ganze Deutsche Reich getroffen hat. Es darf in diesem Zusammenhange festgestellt werden, daß weder die vereinsmäßige noch die amtliche Organisation des österreichischen Naturschutzes eine Schuld daran trifft, wenn sich alles sachlich Gebotene nicht auf einmal beim ersten Anlauf durchsetzen ließ. Vor allem war der Gedanke des totalen Naturschutzes, der die Naturschutzgesetze der österreichischen Länder beherrscht und der sich in dem Bestreben erfüllt, einerseits schutzwürdige Individuen von der Art des weitgespannten Kreises der Naturdenkmale, andererseits bedrohte Arten zu erfassen, überdies aber auch jede schöne Landschaft unversehrt zu erhalten und endlich Naturschutzgebiete sicherzustellen, mit dieser Vielfältigkeit von Zielsetzungen so vergleichslos und auch der Erfahrung bar, daß nicht alle Möglichkeiten, die sich aus der Handhabung dieser Bestimmungen ergaben, vorhergesehen werden konnten. Da jeder wirksame Naturschutz dem Eigennutz oder wenigstens dem, was man als materiellen Vorteil ansieht, Schranken ziehen muß, war man überdies genötigt, politische Rücksichten zu nehmen, um die parlamentarischen Mehrheiten in den Landtagen sicherzustellen und naturschützerisch Uninteressierte, aber zur Förderung unserer Bestrebungen notwendige Persönlichkeiten für die Sache zu gewinnen. Es kann hier im einzelnen nicht daran erinnert werden, wie die von der niederösterreichischen Landesfachsteile für Naturschutz ausgehenden Entwürfe zu den Landesnaturschutzgesetzen im Schoß der Landesregierungen und namentlich der Landtage vom Standpunkt der Naturschutzforderungen aus abgeschwächt und sonst verschlechtert worden sind, womit natürlich das kulturelle Verdienst dieser Stellen, überhaupt die Gesetze verabschiedet und damit dem organisierten Naturschutz wertvolle Handhaben im Dienste der Erhaltung der heimischen Natur gegeben zu haben, nicht in Abrede gestellt sein soll. Wer da weiß, was die Fachstellen für Naturschutz in Österreich

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mit ihrer Fachkenntnis und Tatkraft durch die restlose Auswertung aller gesetzlichen Möglichkeiten erreicht und damit für das gesamte deutsche Volk an Naturschönheiten auf österreichischem Boden vor Unverstand und Eigennutz gerettet haben, wird auch für die mangelhaften Gesetze von heute dankbar sein. Unter diesem Gesichtspunkt muß man vor allem zwei Vorzüge des Reichsnaturschutzgesetzes rühmen: Die Tatsache, daß es einheitliches Recht für das ganze Reich geschaffen hat und damit auch jene Teile Österreichs erfassen wird, die sich bisher den Notwendigkeiten gesetzlichen Naturschutzes verschlossen haben; das gilt vor allem für Steiermark, das überhaupt auf ein Naturschutzgesetz verzichtet hat, aber auch für Salzburg und Vorarlberg, sowie bis zu einem gewissen Grade für die Stadt Wien, die dem Naturschutz die sachlich notwendige Organisation ganz oder teilweise versagt haben. Sodann die zwingende Einrichtung von Naturschutzstellen, die als ein geschlossenes Netz von Fachorganen zur fachlichen Beratung jeder einzelnen Naturschutzbehörde im gesamten Reichsgebiete eingerichtet sind, und daher auch nach der Übernahme des Reichsnaturschutzgesetzes für jene Teile Österreichs, die solcher Fachorgane bisher entraten, in Wirksamkeit treten werden. Zu den allgemeinen Aufgaben dieser Naturschutzstellen gehören namentlich die Ermittlung, wissenschaftliche Erforschung, dauernde Beobachtung und Überwachung der vom Gesetz für schutzwürdig befundenen Landschaftsteile; die Feststellung der Sicherungsmaßnahmen, die Anregung der Beteiligten zum Schutze ihrer Naturdenkmale und sonstiger erhaltenswerter Bestandteile der heimatlichen Natur; endlich die Förderung des allgemeinen Verständnisses für den Naturschutzgedanken. Jede dieser Naturschutzstellen besteht nach der Vorschrift der Durchführungsverordnung zum Naturschutzgesetz aus dem Leiter der Naturschutzbehörde, bei der die Naturschutzstelle eingerichtet ist, einem Geschäftsführer (Beauftragten) und 5-10 sachverständigen Personen als Mitglieder, faßt also jene Elemente zusammen, die uns in Österreich einerseits in der amtlichen Fachstelle und andererseits im Fachbeirate begegnen. Im einzelnen ergeben sich aus den Verschiedenheiten des Staatsaufbaues gewiß bemerkenswerte Unterschiede in der Einrichtung der reichsdeutschen und der bisherigen österreichischen Fachorgane für Naturschutz. Im besonderen bestimmt § 3 der Durchführungsverordnung zum Reichsgesetz, daß die Naturschutzstellen als beratende Stellen nicht Teile der Naturschutzbehörden sind; dagegen unterstehen sie infolge der Eigenschaft des Leiters der Naturschutzstelle als

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Vorsitzenden der Naturschutzbehörde gemäß dem Führerprinzip eben dieser Naturschutzbehörde, die sie zu beraten haben. § 20 des Reichsnaturschutzgesetzes verpflichtet „alle Reichs-, Staats- und Kommunalbehörden, vor Genehmigung von Maßnahmen oder Planungen, die zu wesentlichen Veränderungen der freien Landschaft führen können, die zuständigen Naturschutzbehörden rechtzeitig zu beteiligen". Mit dieser Vorschrift ist dem amtlichen Naturschutz eine Mitwirkungsmöglichkeit auch in Fällen gesichert, die aus Kompetenzgründen dem Zugriff der österreichischen Ländergesetzgebung und Länderverwaltung entzogen waren. Bemerkenswert an dieser Vorschrift ist es, daß der Anspruch auf Beteiligung nicht der Naturschutzstelle, sondern der Naturschutzbehörde zusteht, die dann ihrerseits intern verpflichtet ist, den Rat der ihr unterstehenden Naturschutzstelle in Anspruch zu nehmen. Wenngleich somit die reichsdeutsche Gesetzgebung aus staatspolitischen Gründen den Naturschutzstellen nicht die gleiche Rechtsstellung, insbesondere nicht jene Parteirechte einräumt, wie es einzelne österreichische Naturschutzgesetze getan haben, so wird durch diesen rechtlichen Unterschied doch gewiß nicht der Fortschritt wettgemacht, der in der zwingenden Einrichtung solcher Fachorgane für das ganze Reichsgebiet gelegen ist. Auch darf nicht übersehen werden, daß eine gewisse Minderung der Kompetenzen der Fachorgane für Naturschutz durch das Gewicht der Persönlichkeit und außerdem durch den tatsächlichen und rechtlichen Einfluß der Reichsstelle reichlich aufgewogen werden kann. Abgesehen von den im Vorstehenden angedeuteten organisatorischen Neuerungen, die das Inkrafttreten des Reichsnaturschutzgesetzes bringen wird, werden sich auch im Inhalt des Naturschutzes manche Veränderungen ergeben, die überwiegend als Fortschritte zu beurteilen sind. Hervorhebung verdienen unter anderem: Die Bestimmung der §§ 1 und 13 des Reichsgesetzes, daß mit dem Naturdenkmal auch die zu seiner Sicherung notwendige Umgebung unter Schutz gestellt werden kann; die Bestimmung des § 11, daß zum Schutz von Pflanzen und Tieren die Verpflichtung zur Duldung von Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen auferlegt werden kann, soweit dem Eigentümer hierdurch keine wesentlichen Nachteile entstehen. Die Bestimmung des § 15, daß die an einem Grundstück dinglich berechtigten Personen die notwendigen Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen der eingetragenen Naturdenkmale und Naturschutzgebiete nach den Anordnungen der zuständigen Naturschutzbehörde zu dulden verpflichtet sind, ferner die Bestimmung des § 18, daß Grundflächen, die von einem Reichsnaturschutzgebiet

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umschlossen werden oder daran angrenzen, enteignet werden können, wenn dies für Zwecke des Naturschutzes erforderlich ist: Alles Maßnahmen, die in Österreich bisher entweder überhaupt nicht oder nur auf Grund einer ausdehnenden Auslegung des Gesetzes möglich waren. Der § 6 des Gesetzes statuiert absolute Schranken für den Naturschutz, die in höheren öffentlichen Interessen begründet sind; durch den Naturschutz dürfen Flächen, die ausschließlich oder vorwiegend Zwecken der Wehrmacht, der wichtigen öffentlichen Verkehrsstraßen, der See- und Binnenschiffahrt oder lebenswichtiger Wirtschaftsbetriebe dienen, in ihrer Benutzung nicht beeinträchtigt werden. Durchaus Schranken, die im Interesse der von einsichtigen Naturschützern immer betonten Notwendigkeit der Praktikabilität des Naturschutzes verständlich sind. Eine heute noch nicht aktuelle Frage ist, ob nicht gewisse Besonderheiten in der österreichischen Natur, besonders Unterschiede im Vorkommen schutzwürdiger Tiere und Pflanzen, die Aufrechterhaltung gewisser rechtlicher Unterschiede für Österreich wünschenswert erscheinen lassen; die Rahmennatur des Reichsnaturschutzgesetzes ermöglicht dies auf einfache Weise dadurch, daß die Durchführungsverordnungen in einigen Punkten anders gefaßt werden.

Die staatliche Betreuung der großdeutschen Landschaft Dem Deutschen, der seelisch in der deutschen Landschaft wurzelt, wurde durch die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich ein besonderer Wunschtraum erfüllt: Österreich konnte dem Reiche ein so bedeutendes und kostbares Stück der Alpen als eine nach der politischen Abschnürung der letzten Zeit doppelt gewürdigte Gabe heimbringen, daß das Deutsche Reich jetzt erst zu einem wahren Alpenland geworden ist; das Reich hingegen hat uns Österreichern landschaftlich dafür vor allem das Meer und die vom Landschaftskenner gewiß nicht gering geschätzte Heide gegeben. Durch diesen Austausch hat im übrigen das Reich wenigstens im Norden und Süden durch Küste und Alpenkamm natürliche Grenzen empfangen, innerhalb deren sich nun so ziemlich sämtliche mitteleuropäischen Landschaftstypen und Lebensformen finden. Dieser beiderseitige Gewinn hat aber auch neue Aufgaben geschaffen, deren Lösung vornehmlich für uns Alpinisten lebenswichtig ist. Der österreichische Boden kann und soll bis zum Äußersten der Wirtschaft und Wehrhaftigkeit des Gesamtreiches dienen; er hat darüber hinaus noch eine zweite nationale Aufgabe zu lösen: Er soll von nun an für unendlich mehr deutsche Menschen als bisher der Born körperlicher und seelischer Gesundheit, die Quelle einer der reinsten und wertvollsten Freuden, nämlich des Naturgenusses, werden. Es muß dafür gesorgt werden, daß der Deutsche, der sich auf eine Weile eine Ruhstatt sucht, wo er wirklich ungestört durch wirtschaftlich-technische Einflüsse mit Mutter Erde Umgang pflegen kann, immer wieder Österreich zu seinem Reiseziele macht. Es hätte Österreichs Ehrgeiz zu sein, das bevorzugte Reiseland innerhalb des Reiches gerade für jene Deutschen zu werden, die unverdorbene Natur suchen - was natürlich nicht soviel heißt wie Mangel an Zivilisation.

Mitteilungen des Deutschen Alpenvereins, 1938, S. 115-116.

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Die Aufgabe in dieser Lage scheint mir nun die zu sein, baldigst einen Überblick über die österreichische Landschaft in der Hinsicht zu gewinnen, welche Bereiche, insbesondere welche Naturerscheinungen wegen ihrer wirtschaftlichen Wichtigkeit der wirtschaftlichen Nutzung freizugeben sind, wobei ja gewiß auch in diesem Bereich auf die Wahrung des Landschaftsbildes und auf die Erhaltung von Natur-Enklaven Bedacht genommen werden kann, und welche Gebiete wegen ihrer überragenden ideellen Bedeutung, wegen ihrer landschaftlichen Einmaligkeit als Naturreservationen zu behandeln, ja vielleicht sogar von einer weiteren Erschließung durch Verkehrswege auszunehmen sind. Und es kommen vielleicht auch Übergangszonen in Betracht, wo eine maßvolle wirtschaftliche Nutzung, eine das Landschaftsbild besonders schonende verkehrstechnische Erschließung den Charakter als naturhafte Landschaft nicht völlig aufhebt. Allfälligen Einwänden von wirtschaftlicher und technischer Seite darf vielleicht hier schon entgegengehalten werden, daß sich solche Grenzziehungen für Wirtschaft und Technik durch die Vorteile für Fremdenverkehr und Volksgesundheit doch auch letzten Endes als wirtschaftfördernd auswirken. Beispielsweise dürften sich die Krimmler Ache als Erzeugerin des Naturwunders der Krimmler Wasserfälle und die Enns als das belebende Element des Gesäuses usw. mit der Zeit auch wirtschaftlich fruchtbringender erweisen denn als mögliche Quellen von elektrischer Energie. Und unser großdeutsches Reich kann nicht so arm sein, daß es aus seinem erhabensten Berg, dem Großglockner, auf eine andere Weise eine Erwerbsquelle machen ließe als durch die Wirkung seiner ungeschmälerten natürlichen Majestät. Kurz gesagt, es erhebt sich die dringende Aufgabe einer Planung der österreichischen Landschaft unter dem Gesichtspunkt der technisch-wirtschaftlichen Auswertung einerseits, des Naturschutzes andererseits. Bei der Wertung, die das amtliche Deutschland seit jeher dem Alpenverein zuteil werden ließ, wird unzweifelhaft auch dem Alpenverein ein gewichtiges Wort bei dieser Landschaftsplanung zukommen. Die rechtlichen Formen für die von der Staatsführung als notwendig anerkannten Sicherungen der Landschaft 1 sind in wünschenswertem Aus-

1

Vgl. hiezu meinen Aufsatz: „Die Gegenwartslage des Naturschutzes in Österreich" in der Monatsschrift „Naturschutz" Nr. 4 aus 1938, hgg. im Namen der Reichsstelle für Naturschutz von Prof. Dr. W. Schönichen.

Die staatliche Betreuung der großdeutschen Landschaft

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maß einerseits im Reichsnaturschutzgesetz vom 26. Juni 1935, andererseits in den Naturschutzgesetzen jener österreichischen Länder enthalten, die sich überhaupt dieser gesetzgeberischen Aufgabe im Dienste des Volkswohles bewußt geworden sind. Bekanntlich hat das Deutsche Reichsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche vom 13. März 1938 bis auf weiteres das in Österreich geltende Recht und damit auch die Naturschutzgesetze der österreichischen Länder und der Stadt Wien aufrechterhalten. Die ins Werk gesetzte Rechtsangleichung kann, wenn die Bevölkerung und die Beamtenschaft nicht durch das Übermaß an Neuerungen in Verwirrung gebracht werden soll, nur schrittweise vor sich gehen, so daß auf dem Gebiete der Kultur und Wirtschaft auf absehbare Zeit wohl noch mit der Weitergeltung der österreichischen Gesetze zu rechnen sein dürfte. Die vorgezeichnete naturschützerische Aufgabe wird nun aber leider durch die oft gerügten Unterlassungssünden einiger österreichischer Amtsstellen außerordentlich erschwert. Vor allem rächt es sich, daß das Land Steiermark, das wahrhaftig ein kostbares Erbe an Naturschönheiten zu verwalten hat, bisher noch immer nicht ein Naturschutzgesetz erlassen hat, obwohl die rührige Gesellschaft für Naturschutz 2 der Landesregierung in Graz schon vor etwa 13 Jahren einen Musterentwurf eines solchen Gesetzes übermittelt und seither neben anderen Naturschutzinteressenten immer wieder auf die Erlassung eines solchen Gesetzes gedrungen hat. Während die anderen österreichischen Länder, freilich je nach dem verschiedenen Verständnis für die naturschützerischen Aufgaben in sehr ungleichem Maße, dank der eifrigen Mitarbeit der naturschützerisch eingestellten Bevölkerung, namentlich der Ortsgruppen alpiner Vereine, mittels der Handhaben der verschiedenen Landesgesetze eine Fülle gefährdeter Naturerscheinungen retten konnten, war man in Steiermark bisher bloß auf die Wirksamkeit gütlicher Vorstellungen angewiesen. Die Wirksamkeit der Naturschutzgesetze hängt erfahrungsgemäß auch in starkem Maß davon ab, ob bei der Handhabung eigene, mit Fachmännern besetzte Fachstellen für Naturschutz mitzuwirken berufen sind oder nicht. Das erste der österreichischen Naturschutzgesetze, nämlich das des Landes Niederösterreich vom 3. Juli 1924, das dem Deutschen Reichsgesetz um

2

Wien 1, Herrengasse 9.

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.A. Verwaltungsrecht

mehr als ein Jahrzehnt vorangegangen ist und im Ausland viel Beachtung gefunden hat, hatte auch eine eigene Fachstelle für Naturschutz eingerichtet und dieser die Mitwirkung in allen Verwaltungsverfahren, die irgendwie vom Standpunkt des Naturschutzes aus belangvoll sind, sichergestellt. Diesem Vorbilde des niederösterreichischen Gesetzes sind auch die anderen Länder außer Steiermark, Salzburg und Vorarlberg gefolgt. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diese Fachstellen für Naturschutz die tatkräftigsten Anwälte des Naturschutzes bei den Verwaltungsbehörden im Lande sind und daß durch deren Vermittlung insbesondere auch wiederum die alpinistischen Kreise ihre Bedenken und Wünsche am wirksamsten zur Geltung bringen konnten. Nur die Länder Salzburg und Vorarlberg haben es abgelehnt, ihre Verwaltung an die Mitwirkung solcher Fachstellen für Naturschutz zu binden, und haben damit den Naturschutz selbst zum guten Teil unwirksam gemacht. Die praktische Wichtigkeit einer solchen sachverständigen Betreuung der Naturschutzfragen wird dadurch bestätigt, daß das Reichsnaturschutzgesetz zwingend die Einrichtung von Naturschutzstellen bei jeder Naturschutzbehörde vorsieht und diese Naturschutzstellen namentlich mit folgenden Aufgaben betraut: Ermittlung, wissenschaftliche Erforschung, dauernde Beobachtung und Überwachung der schutzbedürftigen Teile der heimatlichen Natur; Feststellung der Sicherungsmaßnahmen, Anregung der Beteiligten zum Schutze ihrer Naturdenkmale und sonstiger erhaltenswerter Bestandteile der heimatlichen Natur; Förderung des allgemeinen Verständnisses für den Naturschutzgedanken. Eine Schwäche des österreichischen Naturschutzes liegt sodann darin, daß in einem sachlich nicht gerechtfertigten Umfang für die einzelnen naturschützerischen Maßnahmen die Zustimmung des Eigentümers und sonst dinglich berechtigter Personen und die Hörung von Körperschaften vorgeschrieben ist; Erschwerungen des Amtsganges, durch die wichtige Maßnahmen verschleppt oder überhaupt vereitelt worden sind. Vielleicht finden sich jetzt die erneuerten Landesregierungen bereit, diese Hindernisse eines wirksamen Naturschutzes durch die notwendigen Gesetzesänderungen zu beseitigen. Denn es ist wahrhaftig ein nationalpolitisches Gebot, daß die österreichischen Länder ihre erhaltungswürdigen Naturschönheiten für das ganze Volk unversehrt bewahren. Beispielsweise ist es doch kaum zu rechtfertigen, daß der Eigennutz eines Grundeigentümers oder das mangelnde Verständnis einer Bezirkslandwirtschaftskammer die Erklärung von schutzwürdigen Bäumen oder Baumgruppen zu Naturdenkmalen vereitelt.

Die staatliche Betreuung der großdeutschen Landschaft

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Manche Straßenzüge und Wiesenhänge sind wahrhaftig schon so vom Baumschmuck entblößt, daß es dort auf die Erhaltung jedes einzelnen alten Baumes ankommt, und wir sollten auch darauf bedacht sein, den deutschen Besuchern dort, wo das Verkehrsbedürfnis nicht unbedingt eine weite, freie Sicht erzwingt, den Reiz unserer schon spärlich gewordenen echten Waldstraßen zu erhalten, die, nur stellenweise durch Fernblicke unterbrochen, kilometerweit unter Baumkronen dahinführen (so etwa die Straße von Puchenstuben nach Wienerbruck, Gußwerk-Seewiesen, Gußwerk-Weichselboden usw.). Überhaupt wäre es erwägenswert, neben der Arbeitsbeschaffung durch Straßenbau, die manchenorts zu einer das Verkehrsbedürfnis überschreitenden Übererschließung führen könnte, auf die Arbeitsbeschaffung durch Wohnbau, Wasserversorgung usw. hinzuweisen. Das schwerste Hindernis, das sich dem Naturschutz in Österreich bisher hie und da entgegengestellt hat, ist erfreulicherweise durch die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reiche weggefallen: Das Unverständnis einzelner Berufspolitiker für die nationale und kulturelle Bedeutung unserer Sache. In meinem Aufsatz „Schutz der deutschen Erde" („Wiener Neueste Nachrichten" vom 3. März 1938) habe ich einen letzten Mahnruf erhoben, daß der zuständige österreichische Landeshauptmann endlich den Besitz des Vereins Naturschutzpark (Stuttgart) in den Hohen Tauern Salzburgs und den angrenzenden Besitz der Bundesforste zum Naturschutzgebiet erkläre und damit Österreich das erste große, gesetzlich geschützte Naturschutzgebiet verschaffe. Vergeblich! Mehr als drei Jahre ist das in der Naturschutzbewegung einzig dastehende großherzige Anerbieten dieses Vereins, einen Besitz im Werte von mehr als RM 200.000.- umsonst Österreich als Naturschutzgebiet zu widmen, überhaupt unbeantwortet geblieben, was ja gewiß die Mitglieder des Deutschen Alpenvereins nach den Schicksalen des Alpenvereinsbesitzes am Großglockner nicht wundernehmen wird. Dutzende Eingaben der ehrenamtlichen österreichischen Vertreter des Vereins, Ersuchschreiben an hervorragende, mehr oder weniger zuständige österreichische Funktionäre, daß die österreichischen Anwälte des Planes des Naturschutzparkes - außer dem Verfasser dieses Aufsatzes der um den Alpenverein so hochverdiente Hofrat Ing. Winter - empfangen werden mögen, um Österreichs Interesse an der rechtlichen Sicherung seines einzigen Naturschutzparkes darzutun, haben nicht einmal zu dem bescheidenen Ergebnis geführt, daß die Genannten gehört worden wären. Diese beispiellose Teilnahmslosigkeit der maßgebenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens

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und nicht etwa, wie die österreichischen Freunde der Heimat versichert sein mögen, der zuständigen Fachkreise, haben das unerhörte Mißverhältnis gezeitigt, daß Österreich die rund 700 Naturschutzgebiete des alten deutschen Reiches nur um ein einziges wirklich bedeutendes, ja großartiges, bisher aber rechtlich noch nicht gesichertes Naturschutzgebiet vermehren kann. In dieser Hinsicht gilt es offenbar, rasch und großzügig Versäumtes nachholen, um namentlich aus dem Bestand wenig ertragsfähiger Bundesforste und allfälligen sonstigen Großgrundbesitzes möglichst naturhafte Flächen auszusondern und sie als Naturschutzgebiete zu widmen, damit Österreich nicht bloß an Natur Schönheiten, sondern auch an wirksamem Naturschutz mit dem übrigen Reiche wetteifern könne. Die österreichischen Alpinisten, insbesondere die Ortsgruppen der alpinen Vereine, können dieser wahrhaft nationalen Aufgabe in der Weise dienen, daß sie wirklich auserlesene und zivilisatorisch noch wenig erschlossene Landschaftsteile, die ihnen wegen ihrer landschaftlichen Schönheit oder naturwissenschaftlichen Bedeutung in erhöhtem Maße erhaltungswürdig erscheinen, womöglich unter Beigabe einer Kartenskizze oder einer Landkarte, in der die fragliche Landschaft kenntlich gemacht ist, raschest der Fachstelle für Naturschutz, Wien 7., Herrengasse 9, bekanntgeben.

Die Gegenwartslage des Naturschutzes in Österreich Die Heimkehr Österreichs in den politischen Verband des Deutschen Reiches, die größte deutsche Tat unter den epochalen geschichtlichen Leistungen des Führers, bedeutet für den deutschen Naturfreund und Naturschützer mehr, als der Zuwachs von 82 000 km 2 deutschen Bodens vermuten läßt. Denn diese mit dem bisherigen Reich vereinte deutsche Erde birgt Landschaftsformen und Lebensformen der Fauna und Flora, die dem bisherigen Deutschland überhaupt nicht eigen oder nur außerordentlich spärlich anzutreffen waren. Was an Erscheinungen der Natur im Rahmen des kleinen Österreich verhältnismäßig häufig ist, wird im Rahmen des Großdeutschen Reiches Seltenheitswert annehmen und daher entweder überhaupt erst oder in erhöhtem Maße schutzbedürftig werden. Nur wenige Beispiele mögen diese allgemeinen Feststellungen beleuchten: Das Deutsche Reich ist mit einem Schlage eines der bedeutendsten Hochgebirgsländer Europas geworden. Der höchste Gipfel des Reiches ist dank dem Erwerb des Großglockners, dem man sich übrigens auf prächtiger Autostraße bis auf 3 km Luftlinie und 2500 m Höhe nähern kann, auf 3798 m Höhe gewachsen. Neben der Schweiz und Norwegen verfügt das Reich heute über das größte Gletschergebiet Europas, während es bisher diese Landschaftsform entbehrt hat. Der Formen- und Artenreichtum der Urgesteinsalpen ist für das Reich eine Neuheit. Die Gemse ist dank ihrem massenhaften Vorkommen in den österreichischen Hochalpenregionen auch in größerem Umfang des Reiches eine häufige Wildart geworden. Selbst das Raubwild einschließlich der Raubvögel ist, soweit es überhaupt noch in Mitteleuropa vorkommt, in der Regel in Österreich häufiger als in den übrigen Teilen des Reiches anzutreffen. Die Zirbe (Pinus cembra) ist dank

Naturschutz. Monatsschrift für alle Freunde der deutschen Heimat, 19. Jg. (1938), Nr. 4; S. 73-76.

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dem gesetzlichen Schutz, den sie in Österreich genießt, in den österreichischen Hochgebirgsländern eine häufige, in verkehrsfernen Gebieten sogar noch ganze Bestände bildende Koniferenform, die es nunmehr infolge des gesteigerten Holzbedarfes mit aller Schärfe für das ganze deutsche Volk zu erhalten gilt. Die Latsche (Pinus montana) kleidet noch die ganze österreichische Kalkalpenzone in ihren prächtig grünen Mantel, der einerseits lebenswichtiger Unterstand für das Wild, andererseits mit dem talwärts sich anschließenden Hochwald immer noch wichtigster Schutz vor Naturkatastrophen, insbesondere Lawinen ist. Es wird eine wichtige Aufgabe des gesamtdeutschen Naturschutzes sein, die durch die Ausfuhr von Krummholz für industrielle Zwecke entstandenen Lücken in den mächtigen Latschenhängen nicht größer werden zu lassen, sondern nach Möglichkeit wieder zu schließen, unter anderm auch darum, daß sich die Massen deutscher Wanderer, die Österreich erwartet, an diesem Prunkkleid unsererAlpen erfreuen können. Und dieses Prunkkleid bekommt seinen höchsten Zauber noch immer durch die buntblühende Fülle von Alpenpflanzen. Nicht zuletzt hat Österreich dem gesamten Reich bekanntlich einen unverhältnismäßig reichen Schatz an Wald zu bieten, in dem die Fichte infolge ihrer außerordentlichen Bevorzugung bei den Aufforstungen der letzten Jahrzehnte zwar insgesamt beträchtlich überwiegt, in dem aber auch die Buche, die Tanne und die Lärche einen beträchtlichen Faktor bilden, während z.B. die Eiche, Birke und Föhre unverhältnismäßig schwächer als im übrigen Reich vertreten sind. Nach sachverständigem Urteil hat entgegen manchen Versionen in den interessierten Kreisen die Waldsubstanz in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich abgenommen, da die Holzinteressenten naturgemäß den Entgang durch die überaus niedrigen Holzpreise vielfach durch übermäßige Abholzungen wettzumachen suchten und überdies aus valutarischen Gründen die Umstellung von Kohlen- auf Holzfeuerung begünstigt worden ist. Der Verwendung von Holz zur Erzeugung von Treibstoffen und Viehfutter, die vom Standpunkt des Naturschutzes gewiß nicht als Dauererscheinung erwünscht sein kann, befindet sich in Östereich noch in bescheidensten Anfängen. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit, den großen deutschen Binnenholzmarkt aus dem neuzugewachsenen Waldreservoir zu sättigen, wird es eine große nationale Aufgabe des Naturschutzes sein, den breiten Waldgürtel der österreichischen Alpen, der nunmehr das Deutsche Reich als natürliches geographisches Gegenstück der Nord- und Ostsee begrenzt, im Wesen unversehrt zu erhalten. Nicht nur im Wirtschaft-

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liehen Interesse Österreichs, dessen Landwirtschaft und Viehzucht in ihrer Leistungsfähigkeit großenteils durch den schützenden Wald bedingt ist, sondern auch, um dem Schönheitsbedürfnis, dem Natursinn des deutschen Volkes einen dauernden Jungborn zu sichern. Und diesem Wald würde der höchste Reiz verloren gehen, würde er nicht von wildschäumenden Gewässern mit einzigartigen Wasserfällen und Hochgebirgsseen durchsetzt sein. Es wird einer strengen Planung bedürfen, was von dem Überschuß an Wasserkräften wirtschaftlich verwertet und was ideell genutzt werden soll. Dem Argument des Auslandes, daß dem Rohstoffbedarf des deutschen Volkes durch den Erwerb Österreichs abgeholfen und mithin der Bedarf an Kolonialgebieten gegenstandslos geworden sei, muß jeder deutsche Naturfreund, nein, jeder Deutsche, mit allem Nachdruck entgegenhalten, daß dem Deutschen Reich jedes seiner Länder und jedenfalls auch die uralte, nun neu erworbene Ostmark, die Heimat seines Führers, an der noch viele ihrer Kinder mit echter deutscher Schollengebundenheit hängen, zu kostbar ist, um wie ein Kolonialland exploitiert zu werden; daß vielmehr die österreichische Erde als landschaftliches Kleinod für das gesamte deutsche Volk erhalten werden und daß insbesondere der deutsche Wald hier und überall nicht in einem Maße in materielle Werte umgemünzt werden darf, daß sein unbezahlbarer ideeller Wert hierdurch in Frage gestellt wird. Es darf als Verdienst der österreichischen Naturschutzbewegung beurteilt werden, wenn trotz vieler Wunden, die teils Verständnislosigkeit, teils Materialismus der Landschaft als dem wertvollsten Sachbesitz des Menschen geschlagen haben, die Bilanz des Landes Österreich vom Standpunkte des Naturschutzes aus doch jedenfalls aktiv ist, so daß Österreich, wie wir Österreicher hoffen, wohl auch unter diesem Gesichtspunkt für das gesamte Reich einen Gewinn bedeutet. Die Idee des gesetzlichen und administrativen, also staatlich beeinflußten Naturschutzes hat Österreich aus dem Deutschen Reich übernommen, indem es von der Jahrhundertwende an das reichsdeutsche Vogelschutzgesetz in Vogelschutzgesetzen der einzelnen österreichischen Länder nachgeahmt und daneben in fast allen Ländern Schutzvorschriften zur Erhaltung der Alpenpflanzen getroffen hat. Unbewußt hat freilich auch schon das noch heute geltende gut deutsche Forstgesetz Österreichs aus dem Jahre 1852 naturschützerische Ziele verfolgt, indem es weit hinaus über bloße forstpolizeiliche Maßnahmen in folgerichtiger Weise, namentlich durch die Verbote der Waldverwüstung und der eigenmächtigen Rodung und durch das Gebot der Wiederaufforstung abge-

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holzten Waldbodens, durch die Verpflichtung zur Bestellung forstwissenschaftlich gebildeter Wirtschaftsführer usw., die Erhaltung der Waldsubstanz sicherzustellen sucht. Noch mehr gilt dies von Walderhaltungsgesetzen, welche einzelne Bundesländer Österreichs nach dem Kriege erlassen haben. Nur eine übertolerante, in privatwirtschaftlichen und sozialen Rücksichten begründete Handhabung dieser gesetzlichen Vorschriften hat deren gute Absicht in der letzten Zeit in Frage gestellt und in zunehmendem Maße die Waldsubstanz angegriffen, so daß abholzungsreife Bestände im allgemeinen nur einerseits im Großgrundbeseitz, andererseits in größeren, der Waldgrenze nahen Höhenlagen zu finden sind.1 Die große Wende im gesetzlichen Naturschutz bringt das niederösterreichische Naturschutzgesetz vom 3. Juli 1924. Es ist der Auftakt und im großen und ganzen das Vorbild für Naturschutzgesetze der meisten übrigen österreichischen Bundesländer, und zwar in zeitlicher Reihenfolge der Länder Tirol, Burgenland, Oberösterreich, Salzburg und Kärnten sowie der Stadt Wien, die die rechtliche Stellung eines Landes einnimmt. Diese Gesetze sind nämlich bewußt und erklärtermaßen vom partiellen zum totalen Naturschutz übergegangen, d.h. sie sind nicht mehr wie ehedem auf einzelne, besonders gefährdete Arten von Naturerscheinungen abgestellt, sondern suchen sämtliche schutzwürdige Erscheinungen der Natur zu erfassen und zu erhalten, wobei die Rahmennatur der Gesetze es ermöglicht, in den Vollzugsverordnungen die Schutzmaßnahmen nach dem Grade der Gefährdung und Schutzbedürftigkeit abzustufen. Schon die Gliederung des Gesetzesinhaltes in den Schutz der Naturdenkmale, den Schutz des Landschaftsbildes, den Schutz des Tier- und Pflanzenreiches, die Einrichtung von Banngebieten und endlich in Straf- und Schutzbestimmungen verrät die Spannweite der Schutzmaßnahmen, die seither wohl außer den österreichischen Naturschutzgesetzen nur vom Reichsnaturschutzgesetz erreicht und teilweise übertroffen worden ist.

1 Über die Idee und Ziele dieser Schutzmaßnahmen unterrichten u.a. die Aufsätze „Mensch und Natur" (2. Heft der österreichischen Flugschriftenreihe des Dürerbundes, Verlag Georg Callwey in München) von Günther Schlesinger, ferner,,Der gesetzliche Schutz der Naturdenkmale", Blätter für Naturkunde und Naturschutz, Oktober 1923, ferner „Erreichtes und Erstrebtes im Naturschutz", ebenda April 1929, beides von Dr. Adolf Merkl; vgl. überhaupt „Blätter für Naturkunde und Naturschutz", herausgegeben von der Gesellschaft für Naturkunde und Naturschutz, und der (populär gehaltene) Hain, herausgegeben vom „Österreichischen Naturschutzbund".

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Den Verhältnissen des Kleinstaates entsprach es, daß überhaupt kein öffentliches Interesse vor dem ideellen und, wie die Erfahrung zeigt, zugleich auch wirtschaftlichen Interesse des Naturschutzes grundsätzlich den Vorrang erhalten hat. Den notwendigen Ausgleich zwischen naturschützerischen und sonstigen staatspolitischen oder wirtschaftspolitischen Forderungen mußte die Anwendung der Gesetze finden. Der Gedanke der möglichsten Wiedergutmachung von „Naturschutzsünden" kommt in eigenartiger Weise in der vereinzelten Bestimmung zum Ausdruck, daß im Falle der Vernichtung von geschützten Bäumen auch der Ersatzbaum unter den gleichen Schutz wie das ursprüngliche Naturdenkmal gestellt werden kann, „wenn nach dem Volksempfinden oder nach der örtlichen Überlieferung ein Baum an diese Stelle des heimatlichen Landschaftsbildes gehört". Diese Gesetzesstelle ist im übrigen für die Einfühlung des Gesetzes in die Anhänglichkeit bezeichnend, die schollegebundene Menschen ihren gewohnten Daseinsgefährten in der Landschaft, wie etwa Dorf- und Kirchhofslinden, Bäumen an Straßen und an Besitzgrenzen entgegenbringen. Im größten Bundesland Niederösterreich, das freilich nicht bloß zeitlich, sondern auch durch die Nachdrücklichkeit der Handhabung des Gesetzes allen Ländern voransteht, wurden allein schon mehrere tausend Naturgebilde von Naturdenkmalcharakter unter Schutz gestellt. Die Bestimmungen zum Schutz des Landschaftsbildes haben sich insbesondere als Mittel bewährt, die verkehrstechnische, industrielle und bauliche Erschließung der freien Landschaft mit den Erfordernissen des Naturschutzes in Einklang zu bringen. Einzelne Länder haben mittels dieser rechtlichen Handhaben dem Reklameunwesen außerhalb der verbauten Ortsteile kräftig gesteuert. Der Kreis der Tier- und Pflanzenarten, deren Verfolgung, Aneignung und Veräußerung entweder ganz oder teilweise verboten ist, schwankt in den einzelnen Ländern, doch ist er allenthalben so gezogen, daß den naturwissenschaftlichen Interessen vollauf Genüge geschehen ist. Die Stadt Wien arbeitet mittels ihres Naturschutzgesetzes mit den Ländern insofern Hand in Hand, als sie die Verbringung der in den Ländern geschützten Tiere und Pflanzen durch Händler oder Ausflügler in die besonders naturhungrige Großstadt verwehrt. Eine Enttäuschung brachte nur die in den meisten Landesgesetzen vorgesehene Errichtung von Banngebieten (Naturschutzgebieten). Bisher gelang es bloß ganz kleine Gebietsflächen, bei denen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bannlegung - Reichtum an Naturdenkmalen oder hervorragende landschaftliche Bedeutung - zutreffen, unter Schutz zu stellen. Die Einrichtung großer Naturschutzparke scheiterte entweder an dem Erfordernis der Zu-

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Stimmung des Eigentümers, die für Grund und Boden außer dem Besitz der öffentlichen Körperschaften erforderlich ist, oder in den wenigen Fällen, in denen der Eigentümer selbst eine Bannlegung erstrebt und beantragt hat (wie etwa der Verein Naturschutzpark mit seinem Besitz in den Hohen Tauern Salzburgs2 und die Bundesforste hinsichtlich des angrenzenden Besitzes im Massiv des Großglockners), an der mangelnden Bereitschaft des zuständigen Landeshauptmanns, von seiner gesetzlichen Vollmacht Gebrauch zu machen. An diesem Falle zeigen sich die unleugbaren Mängel des bisherigen Naturschutzes in Österreich, die einerseits in der bis zuletzt föderalistischen Gestaltung der österreichischen Verfassung, und andererseits im parlamentarischen Ursprung der gesetzlichen Maßnahmen begründet waren. Der Naturschutz war Sache der Länder, ohne daß der Bund als die zentrale Staatsgewalt auf den Inhalt der Gesetze und auf deren Anwendung Einfluß zu nehmen vermochte. Eine gewisse sachliche Rechtfertigung für die Abweichungen zwischen den Gesetzen der einzelnen Länder lag und liegt nur darin, daß die naturhaften Grundlagen der Schutzmaßnahmen in einzelnen Ländern sehr verschieden sind; so sind z.B. Klima und Vegetation der benachbaren Länder Salzburg und Kärnten beträchtlich verschieden, weil sie durch einen 2000 bis 3500 Meter hohen vergletscherten Alpenkamm getrennt sind, und das eine Land nach Norden, das andere Land nach Süden geöffnet ist. Auf diese naturhaften Unterschiede, wie sie im gleich engen Raum im übrigen Deutschland gewiß nicht anzutreffen sind, wird der in einem Maß wie keine andere staatliche Einrichtung an die Bodenverhältnisse gebundene Naturschutz selbstverständlich auch in Zukunft Rücksicht nehmen müssen. Immerhin hat auch schon bisher ein in der Verfassung vorgesehenes Zusammenwirken der naturschützerisch tätigen Länder und die vereinbarungsgemäße Übertragung gewisser gemeinsamer amtliche Funktionen des Naturschutzes an die Fachstelle für Naturschutz des Landes Niederösterreich einen gewissen Ausgleich in der Handhabung der innerlich voneinander abhängigen Gesetze herbeigeführt. Die andere Schwäche des gesetzlichen Naturschutzes in Österreich beruhte in einer im Vergleich mit dem Reichsnaturschutzgesetz sehr weitgehenden Berücksichtigung der In-

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Hierüber berichten meine Aufsätze in den Mitteilungen des Vereins Naurschutzpark E.V., Sitz Stuttgart, aus 1934, 1937 und 1938.

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teressen der Grundeigentümer und anderer dinglich Berechtigter, sowie in der Mitwirkung verschiedener, namentlich landwirtschaftlicher Interessenvertretungen bei der Handhabung der Gesetze - Einflüsse, die sich begreiflicherweise in der Regel für den Naturschutz nicht förderlich, sondern hemmend auswirken. Endlich sind die Strafsanktionen - in der Regel Freiheitsstrafe bis zu einem Monat oder Geldstrafe bis zu 1000 - S - im Vergleiche mit dem deutschen Gesetze sehr zurückhaltend. In der Hauptsache sind freilich, wie die vorstehenden Andeutungen zeigen, die Unterschiede zwischen dem gesetzlichen Naturschutz im Deutschen Reiche und im Lande Österreich nicht so bedeutend, daß die Erstreckung des Reichsnaturschutzgesetzes auf Österreich wesentliche verwaltungsmäßige Schwierigkeiten ergeben würde; die zeitweilige oder selbst dauernde Aufrechterhaltung gewisser Besonderheiten, wenigstens im Bereich der im Verordnungswege erlassenen Bestimmungen, bedarf allerdings der Erwägung. Haupterfordernis eines wirksamen Naturschutzes ist aber, daß er tatkräftigen und fachkundigen Persönlichkeiten anvertraut ist, die als Fachbehörden eine gewisse Selbständigkeit und Initiative besitzen. Die Naturschutzgesetze der Länder Niederösterreich, Oberösterreich, Tirol und Burgenland hatten in diesem Sinne Fachstellen für Naturschutz vorgesehen, die im Verwaltungsverfahren Parteistellung genießen und gewissermaßen als Sonderstaatsanwaltschaften für Naturschutz fungieren. Die gesamte Organisation des österreichischen Naturschutzes wird es aber gewiß als großen Gewinn der Aufnahme Österreichs in den Verband des Reiches begrüßen, hierdurch der Führung der auch hierzulande als vorbildlich bewunderten Reichsstelle für Naturschutz unterstellt zu werden und unter dieser Führung der großen Aufgabe dienen zu können, dem deutschen Volk die deutsche Landschaft unversehrt zu erhalten und damit auch den unschätzbaren Kulturwert der Liebe des Volkes zu seiner Heimat zu bewahren.

Österreichs Wald, sein Recht und die deutsche Zukunft Den österreichischen Forstwirten ist durch die Heimkehr Österreichs ins Deutsche Reich eine nationale Aufgabe bedeutenden Inhaltes und höchster Verantwortung erwachsen. Nicht nur die wirtschaftliche Aufgabe, den Rohstoffbedarf des Reiches mit einem der wichtigsten Bodenerzeugnisse, dem unerhört vielseitigen Holz, zu decken, und damit die wirtschaftliche und wehrhafte Selbständigkeit des Reiches wesentlich zu steigern, sondern auch die ideelle Aufgabe, das kostbarste Erholungsland des Reiches, eine Landschaft, die Jungborn deutscher Kraft und deutschen Geistes sein soll, zu betreuen. Die Verantwortung der österreichischen Forstwirte liegt in der Erwartung der Allgemeinheit begründet, daß der österreichische Wald diese lebenswichtige Doppelrolle nicht bloß in der Gegenwart, sondern auch für künftige Geschlechter spielen soll. „Heute, wie einst ist die Natur in Wald und Feld des deutschen Volkes Sehnsucht, Freude und Erholung": Diese Eingangsworte des Reichsnaturschutzgesetzes bedeuten nicht bloß eine Feststellung, sondern auch eine heilige Verpflichtung. Das ist nun aber der große Vorzug im Beruf des Forstwirtes und der Betreuung der organischen Natur überhaupt vor anderen Technikern, daß sie die Substanz der ihnen vertrauten Werte nicht aufzehren, sondern, daß es zum guten Teil von ihrer Kunst abhängt, ob diese Substanz auch künftigen Geschlechtern unvermindert zur Verfügung steht. Unzweifelhaft war die österreichische Landschaft und vor allem ihr kostbarstes Kleinod, der Wald, bei den österreichischen Forstwirten im allgemeinen in guter Hut, wobei ihnen freilich eine wichtige Stütze zur Seite stand: das trotz seines kalendarischen Alters noch immer junge, gewissermaßen überzeitliche, weil ganz von der kulturellen wie wirtschaftlichen Bedeutung des Waldes, von seiner Gegenwarts- und Zukunftsrolle durchdrungene Reichsforstgesetz. Bei dem vervielfältigten Roh-

Wiener Allgemeine Forst- und Jagd-Zeitung, 56. Jg. (1938), 195.

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stoffbedarf wird aber der österreichische Forstwirt in noch erhöhtem Maße einer solchen gesetzlichen Stütze bedürfen, wenn die wirtschaftspolitischen und kulturpolitischen Zukunftsaufgaben des österreichischen Waldes nicht gefährdet werden sollen, und außerdem wird eine verschärfte Handhabung der gesetzlichen Schutzbestimmungen erforderlich sein, die sich durchaus mit der notwendigen Steigerung des Ertrages der österreichischen Forstwirtschaft vereinbaren läßt. Diese Zielsetzung liegt ganz in der Richtung der laut gewordenen Stimmen, die für eine teilweise Erneuerung und eine Ergänzung des Reichsforstgesetzes eintreten. Diese Bestimmung auf die Zukunftsaufgaben der österreichischen Forstwirtschaft im Dienste Großdeutschlands macht die Frage, welches rechtliche Regime im Forstwesen in Hinkunft herrschen soll, zu einer verantwortungsvollen Gewissensfrage. Die Staatsführung hat selbst schon durch die Tatsache, daß nicht zugleich mit dem Reichsjagdrecht das im Altreich geltende Forstrecht auf Österreich erstreckt worden ist, zu erkennen gegeben, daß nach ihrem eigenen Dafürhalten die Voraussetzungen für die Rechtsangleichung auf dem Gebiete des Jagdwesens andere sind, als auf dem des Forstwesens. Das Forstrecht ist eines der nicht allzu vielen Bereiche des Verwaltungsrechtes, wo der österreichische Rechtszustand trotz seiner im Alter des Reichsforstgesetzes begründeten teilweisen Reformbedürftigkeit vor dem des Altreiches - zumindest für die österreichischen Verhältnisse - in vielen Punkten den Vorzug verdient. Es gibt kaum ein zweites Teilbereich der Rechtsordnung, dessen inhaltreiche Gestaltung dermaßen von den Bodenverhältnissen abhängt, wie das Forstrecht. Jeder Kenner der Verhältnisse wird bestätigen, daß die Forstwirtschaft in Österreich von anderen Lebensbedingungen abhängt und von anderen Gefahren bedroht ist, als etwa die Forstwirtschaft im preußischen Tiefland. Diese sachlichen Unterschiede spiegeln sich deutlich genug in der beiderseitigen Gesetzrechtslage. Im Altreich herrschen polizeirechtliche Vorschriften vor, die den Waldeigentümer vor Schädigung durch dritte Personen schützen sollen; zwei Gesetze, und zwar das Gesetz betreffend den Forstdiebstahl und das Feld- und Forstpolizeigesetz, dienen in ungewöhnlicher Ausführlichkeit diesem Zwecke und sehen dabei verwirrende Abstufungen der Strafen vor. Der große wirtschafts- und kulturpolitische Leitgedanke unseres Reichsforstgesetzes, dem namentlich das Verbot eigenmächtiger Rodung, das Verbot der Waldverwüstung, und das Gebot der Wiederaufforstung dienen, wird in der Gesetzgebung des Reiches durch Sondervorschriften nur teil-

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weise erfüllt, dem besonderen Bedürfnis des Hochgebirgsforstes, auf das die österreichischen Vorschriften über Bannwälder, Bringung der Waldprodukte, namentlich auch durch die Holztrift, zugeschnitten sind, ist in der Gesetzgebung des Reiches begreiflicherweise nicht entsprechend Rechnung getragen. Auch die Neuerungen, die einzelne Walderhaltungsgesetze österreichischer Bundesländer gebracht haben, entbehren ein volles Gegenstück. Unter diesen Umständen dürften auch die Fachleute des Reiches nicht für eine uneingeschränkte Erstreckung der bisherigen reichsdeutschen Vorschriften auf Österreich eintreten, sondern es liegt ein anderer Weg der Rechtsvereinheitlichung um vieles näher. Die führenden Persönlichkeiten des Rechtslebens im Reich sind sich in dankenswerter Weise vollauf dessen bewußt, daß Österreich auch an Rechtsschöpfungen dem Reiche Wertvolles zu geben hat und denken daher vielfach nicht an eine restlose Übertragung reichsdeutschen Rechtes auf Österreich, sondern eher an einen teilweisen Austausch, wodurch auch im Rechtsleben beide Teile geben und nehmen würden. So soll nach offiziellen Erklärungen der Zivilprozeß im Gesamtreich dem weltberühmten Vorbild der österreichischen Zivilprozeßordnung aus dem Jahre 1896 angeglichen werden. Das österreichische Forstrecht verdient aber nicht weniger in seinem wertvollen Kern Beibehaltung in Österreich und Erstreckung auf das Altreich; dieser Vorschlag sei, falls er noch nicht ausgesprochen worden ist, an dieser Stelle mit Nachdruck zur Erwiderung gestellt. Es ist nicht zu zweifeln, daß die Fachmänner des Reiches den Gedanken erwägenswert finden werden, mit den österreichischen Bodenschätzen das ihrer eigentümlichen Lage angepaßte Recht zumindest in seinem heutigen Geltungsgebiet zu erhalten, wenn nicht gar, allenfalls unter Vorbehalt beiderseitiger Besonderheiten, auf das Altreich zu erstrecken. Anders liegen die Verhältnisse auf dem Gebiete des gesetzlichen Naturschutzes, der bekanntlich der Erhaltung der Schönheit der Landschaft und damit das Forstrecht ergänzend - der Sicherung wenigstens der ideellen Werte des Waldes dient. Österreich ist zwar dem Reich auf diesem Gebiete mit bewährten und im Ausland viel beachteten Gesetzesschöpfungen vorangegangen. Dem ersten österreichischen Naturschutzgesetz (des Landes Niederösterreich) aus dem Jahre 1924 ist der Reichsnaturschutz erst rund 11 Jahre später gefolgt. Aber der gesetzliche Naturschutz ist im Reich nicht

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wie in Österreich länderweise zerstückelt und er ist nachdrücklicher, weil seine Ordnung nicht mit den parlamentarischen Schwierigkeiten, wie in Österreich, belastet war. Der Naturschutz des Reiches wird unter diesen Umständen vermutlich schon in der nächsten Zeit - möglicherweise vorbehaltlich einiger örtlich bedachter Besonderheiten - in Österreich Geltung erlangen und damit eine noch allgemeinere und großzügigere Erfassung der Naturschönheiten und insbesondere der herzerfreuenden Bäume und Baumgruppen in Stadt und Land außerhalb der forstwirtschaftlichen Grundstücke, außerdem aber auch die so dringliche Aussonderung von Naturschutzgebieten aus dem Staats- und Gemeindewald in Österreich anbahnen.

Die Großdeutsche Landschaft Die deutsche Landschaft, die der Verein zum Schutze der Alpenpflanzen und Alpentiere mit seinen eigentümlichen Mitteln zu betreuen berufen ist, hat sich durch die Heimkehr Österreichs ins Reich ungeahnt erweitert. Die Aufmerksamkeit, die der Verein schon bisher trotz der staatlichen Trennung seinen Schützlingen, den Alpenblumen und Alpentieren auf österreichischem Boden und den Schutzmaßnahmen zu deren Gunsten zugewendet hat, ist eine Gewähr, daß er sein so vergrößertes Wirkungsfeld mit alterprobter Hingebung betreuen wird. Zum Lohn dafür werden Österreichs Berge, wenn sie nur zur Halbscheid in der bisherigen Ursprünglichkeit erhalten bleiben, die deutschen Freunde der alpinen Tier- und Pflanzenwelt durch ein ungeahnt reiches Vorkommen ihrer Lieblinge erfreuen. Es ist im alten Deutschen Reiche, ja selbst in Österreich in weiten Kreisen - auch solchen, die für die Geschöpfe der Landschaft ein liebevolles und verständnisvolles Auge haben - unbekannt, welche Schätze an Alpenflora und -fauna die von den Hauptadern des Touristenverkehrs weiter abliegende alpine Landschaft, namentlich in Niederdonau (vormals Niederösterreich), Steiermark und Kärnten birgt, wogegen die von Menschen überlaufenen Aussichts- und Kletterberge in unmittelbarer Nachbarschaft dieser Naturparadiese trotz allen Schutzmaßregeln von dem gefährlichsten Feind der Schöpfung, dem Menschen, ihres ursprünglichen Schmuckes schon fast gänzlich beraubt sind. In einer Entfernung von wenig über 100 km von Wien gibt es noch Berge, deren Hänge von Clusius-Primeln und Bergaurikeln („Gamsveigerln", hierzulande „Petergstamm") in einer Weise übersät sind, wie irgendeine Voralpenwiese von Schlüsselblumen (primula elatior und primula officinalis). Es können hier selbstverständlich keine näheren Ortsangaben gemacht werden, um nicht erwerbsmäßige Nutznießer der Alpenflora anzulocken, doch verlohnte es sich wirklich, daß größere Gruppen von Angehörigen unseres Vereines unter sachkundiger Führung gerade diese touristisch

Nachrichten des Vereins zum Schutze der Alpenpflanzen und -tiere, 1938, Nr. 2, S. 5-7.

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weniger dankbaren Berge durchstreiften, um ihre ungeschmälerte Blütenpracht zu genießen. Für den Reichtum dieser Flora ist übrigens auch bezeichnend, daß ein bescheidener, immerhin 20 km von der nächsten Bahnstation entfernter, Voralpenberg in Niederösterreich in der Höhenlage von 600-1300 m seit Jahrzehnten die besonders blumenhungrige Großstadt Wien mit Maiglöckchen versorgt, von deren schier unerschöpflichen Mengen die Tatsache eine Vorstellung gibt, daß in dem am Fuß des Berges liegenden Postamt jeden Abend durch mehrere Mai- und Juniwochen mit Maiglöckchen gefüllte Körbe im durchschnittlichen Gesamtgewicht von 80 kg aufgegeben werden. Diese Ziffer, die nur einen kleinen Bruchteil des Jahresverbrauches einer Großstadt an frei lebenden Pflanzen angibt, erinnert daran, wie viele Kinder der Alpenflora ihr trauriges Ende im Großstadtkehricht finden, - wenn nicht etwa der eine oder andere Gartenbesitzer auf den Gedanken kommt, den verwelkten Zimmerschmuck der Erde anzuvertrauen - und weiters daran, wie viel Opfer Menschen von der Wiege bis zum Sarge (auch wörtlich genommen) von der Natur in Anspruch nehmen, ohne sich für diese als selbstverständlich befundenen Opfer irgendwie verpflichtet zu fühlen! Die Geschichte der deutschen Natur lehrt uns indes, daß jeder scheinbare Überfluß unter den Einwirkungen menschlichen Raubbaues, ja selbst im Dienste durchaus vertretbarer Bedürfnisse zu Neige geht. Der bunte Blumenflor und die schon ziemlich artenarm gewordene Fauna in deutschen Landen werden, wenn keine völlige Umkehr im Verhältnis des Durchschnittsmenschen zur Landschaft eintritt, ebenso in absehbarer Zeit einer trostlosen Eintönigkeit gewichen sein, wie der schier schon sagenhaft gewordene Urwald, ja selbst die ursprünglich anmutende Lebensgemeinschaft des kultivierten Mischwaldes in weiten vom Verkehr erschlossenen Gebieten öden Holzfabriken gewichen ist. Es ist ein Zeichen völliger Verblendung, wenn heute noch in manchen Geschichtslehrbüchern jedwede Rodung von Waldboden als kultureller Fortschritt und als Verdienst der Verantwortlichen beurteilt wird. Ein jeder naturliebende Deutsche sieht heute ein, daß unsere Altvorderen vermeidbare Eingriffe in die Landschaft unternommen haben, die man auch aus wichtigen nationalen Rücksichten ungeschehen machen möchte. Wenn Blut und Boden die Bausteine des der Heimat verhafteten und zukunftsreichen Volkstums sind, so muß diese gestaltende Kraft des Bodens offenbar umso wirkungsvoller sein, je mehr er in seiner Eigenart erhalten ist.

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Wir Deutsche bäumen uns mit Recht gegen die Opfer an deutscher Landschaft auf, die dreister Siegerübermut erzwungen hat: Sei es nun, daß Perlen der deutschen Landschaft unter fremde Staatshoheit gezwungen und damit dem deutschen Naturfreund fast unerreichbar gemacht, obendrein aber, wie etwa die schönsten Teile des Randgebirges von Sudetendeutschland, beispielsweise die dem Deutschen Ritterorden gehörige Kuppe des Altvatergebirges, dem deutschen Besitzer enteignet worden sind; sei es, daß mit dem deutschen Menschen auch der deutsche Boden dem Ausland tributpflichtig geworden, und er zur Erfüllung dieser Tributpflicht seiner grünen Decke mit all ihrem vielfältigen Leben beraubt worden ist - wie es jüngst der deutsche Kulturfim „Ewiger Wald" in aufrüttelnder Anklage den deutschen Volksgenossen vor Augen geführt hat. Wir dürfen aber über dieser fremden Schuld die eigene Schuld nicht übersehen, die deutsche Volksgenossen durch Unverständnis, ja selbst durch Raffgier der deutschen Landschaft gegenüber auf sich laden. Da wurde - wenigstens nach Erfahrungn in meiner Heimat - hier die schönste Wiese, dort der schönste Wald, die Wanderziel und Augenweide für viele Volksgenossen gewesen sind, plötzlich in eine Baustelle, eine Weide, ein Kartoffelfeld, einen Sportplatz verwandelt - obwohl für denselben Zweck in nächster Nähe unkultivierter Boden zur Verfügung stünde, und werden damit zugleich die zur natürlichen Lebensgemeinschaft der derart beeinflußten Landschaft gehörigen Tiere beunruhigt, wenn nicht gar vertrieben oder ausgerottet. In unzähligen Fällen wurden von verständnislosen Eigentümern aus ihren Gärten wie überhaupt aus der Umgebung ihrer Wohnstätten altehrwürdige Bäume entfernt, die oft nach alter deutscher Sitte ihren Baulichkeiten Schutz und Schirm gegeben hatten, und damit auch minder begüterten Mitbewohnern oder Nachbarn, denen der gedankenlos beseitigte Baum Augenweide und gewissermaßen ideeller Mitbesitz gewesen war, gedankenlos ein Stück Glück genommen. Das tief ethische Wort „.Eigentum verpflichtet" erfährt für den Besitz von Boden die besondere Nutzanwendung, die Glücksmöglichkeiten nach Möglichkeit zu achten, die begrünte und belebte Erde dem nichtbesitzenden Volksgenossen bieten. Die modernen Nomaden und oft trotz Bodenbesitzes Wurzellosen haben zwar den großen Entgang von Glück zu leiden, das dem Naturbegeisterten das kleinste Fleckchen belebter Erde zu bieten mag, haben aber vor dem Naturverbundenen den Vorzug voraus, daß ihnen die Enttäuschungen und Bitterkeiten erspart bleiben, die dem Naturfreund auf Schritt und Tritt der Zustand der von den Menschen mißhandelten Schöpfung bereitet. Diese naturentfremdeten Menschen sind in der Lage von

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Gehörlosen, denen ein Höllenlärm von Dissonanzen, oder von Blinden, denen der Blick auf eine Brandstätte oder sonstige Trümmerstätte erspart bleibt. An solchen Erfahrungen zeigt sich die Doppelaufgabe des Naturschutzes: Unmöglich kann gesetzlicher Zwang allein - trotz seiner Notwendigkeit gegenüber dem Menschen, der für unsere kulturellen Bestrebungen jegliches Verständnis vermissen läßt, - unsere deutsche Landschaft der Nachwelt unversehrt erhalten, sondern auch Erziehung zur Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Welt muß hinzutreten. Und eines der wichtigsten Erziehungsmittel ist vertrauter Umgang mit den Naturgeschöpfen, wie er unseren Vereinsbestrebungen entspringt, und als eine Voraussetzung dafür, deren erzieherische Bedeutung heute noch kaum gewürdigt ist, die in der Schule gelehrte und gepflegte Aufgabe des Stadt- wie des Landkindes, ein Stückchen anvertrauter Erde zu betreuen. Bei solcher Vorbildung durch die Schule kann die Eigenheimbewegung mehr als bisher Mithelferin im Kampf zur Erhaltung der Schönheiten der deutschen Landschaft werden. Ein ernstes Problem ist freilich, die aus vielen Gründen begrüßenswerte Freizügigkeit der Berufe im großdeutschen Raum nicht zur Gefahr für die echte deutsche Eigenschaft der Schollegebundenheit für jene Menschen werden zu lassen, die diese kulturell wertvolle Eigenschaft ihr Eigen nennen. Der deutsche Arbeiter des Hirnes oder der Hand dürfte - von echten und unvermeidlichen Wanderberufen abgesehen - nicht Gefahr laufen, auf unbestimmte Zeit gegen seinen Willen der Scholle entzogen zu werden, in der er sich mit gewisser innerer Berechtigung - sei es nun, weil sie die Geburtsstätte oder die Stätte beruflicher Leistungen ist - im physischen und seelischen Sinne des Wortes seßhaft gemacht hat. Wenn wir von diesen Betrachtungen für einen Augenblick nochmals zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, so sei noch die besondere Aufgabe festgestellt, die der Erwerb Österreichs für das Reich unserem Verein gestellt hat: Auch der dem deutschen Volk eingebrachte, ja neugewonnene Schatz an Alpenpflanzen und Alpentieren auf österreichischem Boden ist nicht unerschöpflich. Er konnte zwar mit den bisherigen gesetzlichen Mitteln, namentlich durch die Handhabung der österreichischen Naturschutzgesetze, die dem Reichsnaturschutzgesetz zeitlich nicht unbeträchtlich vorangegangen sind, bisher im großen und ganzen vor Zerstörung bewahrt werden. Die verkehrstechnische Erschließung und wirtschaftliche Auswer-

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tung der bisher noch unberührten Landschaftsteile hat aber das Gefahrenmoment für die von unserem Verein betrauten Landschaftszierden wesentlich gesteigert. Es ist ein Mißverständnis, wenn man glaubt, daß die österreichische Landschaft bisher wirtschaftlich ganz unzulänglich ausgewertet gewesen sei. Soweit die Bringungsverhältnisse günstig sind, ist der Boden, insbesondere der Wald, vielfach sogar übermäßig genutzt. Jetzt sollen aber jene Höhenlagen, die bisher vielfach wegen zu großer Kostspieligkeit der Ausweitung ziemlich unberührt geblieben sind, nutzbar gemacht werden, insbesondere die ungenutzten Wälder bis zur oberen Waldgrenze durch Güterwege (Seilbahnen usw.) erschlossen werden. Auch der Ausbau der Wasserkräfte greift in diese Bergregion ein. Dank der Unerschlossenheit findet sich aber gerade in diesem Bereich die artenreichste und schutzwürdigste Fauna und Flora. Ich habe schon in der amtlichen Monatsschrift „Naturschutz" und in den „Mitteilungen des deutschen Alpenvereins" den Vorschlag gemacht, die vom Standpunkt der Naturwissenschaft und des Naturschutzes kostbarsten Gebietsteile, die bisher wie tatsächliche Naturschutzparks behandelt worden sind, nunmehr aus der Bewirtschaftung gesetzlich auszuscheiden und zu Naturschutzparks zu erklären. Die Unterstützung dieses Vorhabens von Seite unseres Vereines würde solche Pläne noch um vieles aussichtsreicher machen. Darüber hinaus käme dem Verein noch die Aufgabe zu, als durch Satzung und Sachverständnis berufener Träger des Naturschutzgedankens, im Zuge der wirtschaftlichen Erschließung der österreichischen Landschaft selbst auch bestimmte Gebietsteile auszuzeichnen, die aus den fraglichen Gründen die Behandlung als Naturschutzparke verdienen, darüber hinaus auch auf die Abholzungen und sonstigen technischen Maßnahmen mit Rat und Tat in der Richtung Einfluß zu nehmen, daß die Pflanzen- und Tierwelt, soweit es vermeidbar ist, geschont werde. Bei gutem Willen kann zwischen den Forderungen der Zivilisation und der Kultur, der Technik und des Naturschutzes, immer ein vernünftiger Ausgleich gefunden werden. Unser Verein dient der Zukunft des deutschen Volkes, wenn er auch im erweiterten Deutschland seinen Einfluß zugunsten der höchste Kulturwerte bergenden Naturschönheit in die Waagschale wirft.

Schutz der deutschen Erde Die Masse der deutschen Menschen hat von den zwei Bausteinen, aus denen sich der herrschend gewordene deutsche Volkstumsbegriff aufbaut, den Boden über der Rasse beinahe übersehen. Die amtliche Politik dagegen hat für den Sinn der deutschen Erde weitgehendes Verständnis gezeigt und den peinlichen Vorsprung anderer Staaten im Schutz der Landschaft aufgeholt; insbesondere auch den Vorsprung Österreichs, das sich in den Jahren seit dem Umsturz wirkungsvoller als das Deutsche Reich der überkommenen Verbundenheit des deutschen Menschen mit der deutschen Erde besonnen hatte und fast genau ein Jahrzehnt dem Deutschen Reich mit Gesetzen zum Schutze der gesamten schutzbedürftigen und schutzwürdigen Natur vorangegangen war. Bei der zunehmenden Entwurzelung des modernen Menschen und dem Erhabenheitsdünkel, mit dem die Herrschaft über die Erde ausgeübt wird, ist zwar der Blick für die Erscheinung der Heimaterde und das Verständnis für die ihr eigentümlichen Kulturwerte bei weitem nicht mehr Gemeingut unseres Volkes, doch haben die wissenschaftlichen Wahrer der deutschen Landschaft, allen voran der hochverdiente Leiter der Reichsstelle für Naturschutz in Berlin, Prof. Dr. Schönichen , und die Gott sei Dank noch sehr zahlreichen gefühlsmäßigen Diener der deutschen Landschaft bei den zuständigen amtlichen Stellen wirkungsvolle Förderung ihrer Ziele erfahren. Wenn der Dichter dem Deutschen bezeugt, daß er mehr als andere Nationen naturverbunden sei, und wenn unstreitig deutsche Kunst, Lyrik, Malerei und noch mehr Musik in ungewöhlichem Maße von der Landschaft beeinflußt, ja geradezu Erzeugnis der Erde ist, war es ein Gebot der Wahrung nationaler Tradition, sich von keinem Volk und Staat im Dienst um die anvertraute Landschaft übertrumpfen zu lassen: nicht von den angelsächsischen Staaten, die über allem politischen Imperialismus einerseits für die Pflege und Verehrung monumentaler Bäume - als echt germanisches Erbstück - , anderseits für die Erhaltung riesiger Naturschutzgebiete Verständ-

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nis bekundet haben; nicht von ihren Nachbarländern Dänemark und Schweiz, die mit ihren Naturschutzparken beneidenswert großzügige Fremdenverkehrswerbung betreiben; nicht von Polen, das mit seinen in Europa einzigartigen Urwäldern prunkt und öfter auch vor deutschen Staatsmännern Staat macht; nicht von Italien, das in gewohnt großzügiger Weise bemüht ist, die Schäden des Raubbaues früherer Jahrhunderte an seiner Landschaft gutzumachen und durch die Bannlegung des uns österreichischen Deutschen so besonders wertvollen und vertrauten Ortlergebietes zeigt, daß es willens ist, erworbenen deutschen Boden in seiner landschaftlichen Eigenart zu erhalten, soweit nicht militärische Zwecke Eingriffe in die Landschaft bedingen. Die rund 700 Naturschutzgebiete innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches sind im vergangenen Jahr um mehrere landschaftlich besonders bedeutsame Schutzgebiete bereichert worden. Durch Verordnung des Reichsforstmeisters wurden ausgedehnte preußische Staatsforste - der sogenannte Deutsche Elchwald und die Rominter Heide - der wirtschaftlichen Nutzung entzogen und zu Naturschutzgebieten erklärt. Desgleichen wurde das gesamte Zugspitzmassiv einschließlich des Eibsees und das Wettersteingebirge zu einem hochalpinen Naturschutzgebiet zusammengefaßt. Derartige Schutzgebiete entsprechen dank der beispielsweise das Gemeindegebiet von Wien in einzelnen Fällen um ein Mehrfaches übersteigenden Größe und der Strenge der Verwaltungsvorschriften allen wissenschaftlichen Anforderungen an ein Schutzgebiet und sind geeignet, die Aufmerksamkeit der Naturforscher und der Naturfreunde ganz Europas auf sich zu ziehen. Die internationale Weitung und Anziehungskraft einer solchen kulturellen Aktivpost erhellt daraus, daß vor einiger Zeit etwa zwanzig westeuropäische und amerikanische Naturforscher auf einer Besichtigungsfahrt durch die europäischen Naturschutzgebiete auch den einzigen, räumlich sehr bescheidenen Naturschutzpark in Österreich eingehend in Augenschein nahmen, der im Eigentum und in der Verwaltung des reichsdeutschen Vereines „Naturschutzpark" steht. Jeder Österreicher, der auf sein Land und seine Landschaft stolz ist, hat Grund, dem genannten Verein Dank dafür zu wissen, daß er im Sinne seiner satzungsgemäßen Aufgabe, dem deutschen Volk Naturschutzparke zu errichten und zu erhalten, aus öffentlichen und privaten Mitteln des Deutschen

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Reiches im gegenwärtigen Buchwert von mehr als 200.000 Mark auf österreichischem Boden in den Hohen Tauern Salzburgs seinen Alpenpark geschaffen hat. Mit dieser Schöpfung, über die in diesen Blättern schon wiederholt berichtet worden ist 1 , hat der genannte Verein Österreich in die Lage versetzt, bei internationalen Vergleichen der Naturschutzgebiete, die heutzutage für jeden landschaftlich sehenswerten Staat vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus als Selbstverständlichkeit erachtet werden, wenigstens ein bescheidenes Vergleichsobjekt darzubieten. Wahrer Patriotismus äußert sich in dem Verlangen und Bemühen, alle im Vaterland angelegten Möglichkeiten in einer Weise auszuwerten, daß das eigene Land für das Ausland bewundertes Vorbild wird. Der Reichtum der österreichischen Landschaft und der Rang der österreichischen Naturwissenschaft hätten unser Österreich befähigt, wie auf so vielen kulturellen Gebieten, so auch auf dem Gebiete des Landschaftsschutzes, und zwar nicht bloß hinsichtlich der tatsächlich mustergültigen gesetzlichen Maßnahmen, sondern auch hinsichtlich der tatsächlichen naturschützerischen Einrichtungen führend oder wenigstens den fortgeschrittensten europäischen Staaten ebenbürtig zu werden. Wenn man den 700 reichsdeutschen Naturschutzgebieten den Besitz des deutschen Vereines „Naturschutzpark" in Österreich gegenüberstellt, der noch der Erklärung zum ersten und einzigen österreichischen Alpenpark harrt - neben dem dank der naturfreundlichen Einstellung der Wiener Stadtverwaltung die Lobau und der Lainzer Tiergarten als künftige Flachlandsund Hügellandsparke rühmlich zu nennen sind so hat jeder Österreicher Grund, zu bedauern, daß nicht in finanziell günstigeren Zeiten, der Absicht und Einsicht österreichischer Naturwissenschafter und Forstwirte gemäß, naturwissenschaftlich bemerkenswerte und dabei ertragsarme Bundesforste aus der normalen Bewirtschaftung ausgenommen und als Naturschutzgebiete gewidmet worden sind. Nicht an den erforderlichen finanziellen Mitteln, sondern an der erforderlichen Einsicht in die kulturelle Aufgabe hat es gefehlt. Während andere Staaten Millionen aufgewendet haben, um die als Naturschutzpark geeigneten Grundflächen zu erwerben, hat der österreichische Staat solche seit alters besessen. Der Gewinnentgang aus einer solchen Widmung von Staatsbesitz für Zwecke eines österreichischen Naturschutz-

1

Vgl. die „Wiener Neuesten Nachrichten" vom 18. August 1935 und vom 27. Juli 1937.

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parkes von europäischem Format hätte zum Beispiel reichlich aus den Zinsen einzelner Subventionsbeträge gedeckt werden können, die in der parlamentarischen Ära unter dem Titel des landwirtschaftlichen Notopfers über den Kreis wirklich unterstüzungsbedürftiger Land- und Forstwirte hinaus an einzelne Personen und Gesellschaften flüssig gemacht worden sind. Da der Parteienstaat diese Gelegenheit zu kulturell fruchtbarster und in den Auswirkungen auf den Fremdenverkehr auch materiell ergiebiger Verwendung verfügbarer Staatsmittel zugunsten parteipolitisch wünschenswerterer Zwecke versäumt hat, steht der autoritäre Staat mit seiner ungleich rigoroseren Finanzwirtschaft vor der ungelösten, ja noch nicht einmal allseits gewürdigten kulturpolitischen Aufgabe, Österreich auf dem billigsten Weg einen als solchen international anerkannten Naturschutzpark zu verschaffen. Unter diesen Umständen ist es ein besonderer Glücksfall, daß Österreich heute noch in der Lage ist, ohne finanziellem Aufwand der öffentlichen Körperschaften einen Naturschutzpark zu erhalten, der den international gebräuchlichen und wissenschaftlich erforderlichen Maßstäben entspricht. Der Verein „Naturschutzpark" hat seinen im Herbst 1934 bei der Landesregierung Salzburg gestellten Antrag, seinen österreichischen Besitz im Sinne des Salzburger Naturschutzgesetzes zum Naturschutzgebiet zu erklären, trotz schwerer Enttäuschung seiner uneigennützigen, nur unserem Lande dienlichen Absichten bis heute aufrechterhalten, und die Generaldirektion der Österreichischen Bundesforste hat, vornehmlich dank der kulturpolitischen Einsicht der maßgebenden Hofräte Ing. Raymann und Ing. Güde, im Jahre 1936 bei der Landesregierung von Salzburg den Antrag gestellt, den angrenzenden mächtigen Bundesbesitz, der die Brücke zum Besitz des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins im Großglocknermassiv bildet, und dessen Nutzung teils nicht möglich, teils nicht zu verantworten ist, ebenfalls zum Naturschutzgebiet zu erklären. Aus dieser Einstellung dreier benachbarter Grundeigentümer winkt Österreich ein kultureller Gewinn von ungeahnten Ausmaßen. Nur müssen die öffentliche Meinung und die zuständigen Amtsstellen die große Geste würdigen und entsprechend aufnehmen. Vor allem darf man die Antragsteller nicht als gewöhnliche Bittsteller betrachten und behandeln. Als wir österreichischen Naturschützer im österreichischen Parteienparlament im Jahre 1925 dahin vorstellig wurden, daß die sogenannte Kommerzialisierung der Bundesforste nicht zu einer Ausbeutung des Waldbesitzes führe, fragte uns ein namhafter, seither verstor-

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bener Abgeordneter, wessen Interessen wir mit unserer Vorsprache verträten. Das Übermaß an egoistischen Interventionen hatte den Blick für die Möglichkeit benommen, daß jemand ohne Hintermann und ohne Vorteil Wege tun könne, damit dem Volk sein Wald unversehrt erhalten bleibe. Auch der Verein „Naturschutzpark" in Stuttgart hat keine irgendwie materiellen Absichten, er geht weder auf politische noch auf sonstige Eroberungen aus, er will nur seinen als Naturschutzpark gewidmeten Besitz als Naturschutzpark gesichert wissen - womit dieser Besitz endgültig immobilisiert, also wirtschaftlich für den Verein verloren und für Österreich gewonnen sein wird. Darüber hinaus wollen die österreichischen Anhänger des Naturschutzes, daß dem Verein durch den Ausspruch der Bannlegung seines Besitzes nach jahrelangem loyalen Zuwarten die gebührende amtliche Anerkennung seiner Österreich zugute kommenden Widmung zuteil werde. Das Deutsche Reich hat nicht nur dem Verein durch bedeutende Subventionen den Ankauf seiner Besitzungen ermöglicht, es fördert auch durch einen Jahresbeitrag von 50.000 Mark die Pflege des reichsdeutschen Vereinsbesitzes und hat den durch die Nähe der Großstadt Hamburg gefährdeten Vereinsbesitz durch alle gewünschten administrativen Maßnahmen gefördert. In Anbetracht dieser Umstände ist die Erlassung einer Verordnung des Landes Salzburg, mittels deren der Vereinsbesitz zum Naturschutzpark erklärt werden soll, der bescheidenste Beitrag zu den Aufgaben des Vereines, den das offizielle Österreich leisten kann. Zugleich wäre aber diese Geste, wenn sie endlich rasch getan wird, eine nationalpolitisch wertvolle Bekundung kultureller Verbundenheit. Hoffentlich vermögen diese Feststellungen dazu aufzurufen, daß diese Tat endlich getan werde - zum Ansehen Österreichs und im Dienste des gesamten deutschen Volkes!

Naturkenntnis, Naturliebe, Naturschutz Die „wahren Geschichtchen" von Unkenntnissen in der Naturgeschichte, die das erste Heft des laufenden Jahrganges dieser Zeitschrift gebracht hat, beleuchten blitzartig eine der entscheidenden Ursachen der Verarmung der Landschaft, eine Lage, aus der unsere Naturschutzbewegung den deutschen Menschen zu einer der tiefsten Wurzeln deutschen Wesens wieder zurückfuhren will. Das Erlebnis mit den „Männern des Gesetzes", denen der schöne deutsche Baumname Eibe, obgleich er in der Landschaft durch dutzende Ortsbezeichnungen fortgeerbt, in der nordischen Literatur als wegen seines Giftgehaltes „gottverfluchter" Eibenbaum verewigt ist, schon so nichtssagend geworden ist, daß sie dahinter einen Menschennamen, eine gewisse „Frau Eibe" vermuten, verrät uns die Naturentfremdung des deutschen Menschen, wobei auch die sogenannten gebildeten Kreise nur zu oft nichts voraus haben. Jeder, der seine Mitmenschen auf die Probe stellt, wird gleichartige Erfahrungen machen. Ich selbst habe in zwanzigjähriger Tätigkeit als Prüfer des Staats- und Verwaltungsrechtes die besonders im zweitgenannten Fach gelegenen Möglichkeiten benützt, Rechtsfragen zu verlebendigen, indem ich sie mit Vorliebe auf Erscheinungen der Heimat (sowohl der Volks- als auch der Naturkunde) bezogen habe, wobei begreiflicherweise auch die ärgsten beiläufig zutage tretenden Blößen in der Kenntnis der Natur für das Prüfungsergebnis belanglos waren. Heimatverbundene und naturverwurzelte Menschen waren durch eine solche, im Betrieb der Rechtsund Staatswissenschaften gewiß ungewöhnliche Prüfungsart angeheimelt. So etwa der mit seiner Landschaft verwachsene Wiener, der vom Prüfungssaal geistig in den Wienerwald entführt wurde, um über die rechtliche Seite des Wald- und Wiesengürtels seine Meinung zu äußern oder sich in das Höllen- oder Salzatal versetzt sah, um über rechtliche Voraussetzungen der Hochquellwasserleitungen Rechenschaft abzulegen; der Sohn des Donautales, der genötigt war, zur Donauregulierung oder zum geplanten Donaukraft-

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 28. Jg. (1941), S. 41-46.

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werk Stellung zu nehmen; der Oberösterreicher, der sich vorzustellen hatte, daß er an der Traun ein Triftrecht anstrebe oder in seinem Fischereirecht gestört werde; der Salzburger, der auf einige Minuten eingeladen wurde, Anwendungsmöglichkeiten des Denkmalschutzgesetzes in seiner märchenhaften Heimatstadt aufzuzeigen oder über die rechtlichen Voraussetzungen des Baues der Glocknerstraße Aufschluß zu geben. Nach dieser Art gab es für die Söhne und Töchter unserer Landschaften gelegentlich immer wieder Fragen, die den erlernten Rechtsstoff in knappsten Zügen - je nach dem zunächst festgestellten Heimatort - auf eine vertraute Landschaft bezogen haben. Meine - seinerzeit auch in diesen Blättern gewürdigten - „Rechtsfälle aus dem Verwaltungsrecht" 1 geben einige Proben für die Anknüpfungspunkte, die sich dem Rechtslehrer aus seinem Fache für den Dienst an der heimatlichen Landschaft erschließen, und damit auch überhaupt ein Beispiel, wie man scheinbar naturfremde Fächer in den Dienst der Naturkenntnis und des Heimatschutzes stellen kann, so etwa der Rechtsfall 4 von der Nachtigall im Vogelbauer, der Rechtsfall 5 von der Felswand als Turngerät, der Rechtsfall 7 von der Abholzungserlaubnis mit der Auflage, Samenbäume zur natürlichen Verjüngung und Hecken und Sträucher als Nistgelegenheiten zu belassen, der Rechtsfall 15 über den Plan des Großkraftwerkes in den Hohen Tauern, der Rechtsfall 41, der den Vogelhändler mit seinem Vorrat an Meisen und Kleibern und die Blumenhändlerin mit ihrem Vorrat an Alpenrosen und Enzian vorführt - und so in bunter Reihe weiter. Aus den Antworten, die volle Ahnungslosigkeit über die Lebensbedingungen der heimatlichen Landschaft verraten haben, sei als Gegenstück der vorerwähnten „Frau Eibe" nur die Annahme zum Rechtsfall 42 - Ausgraben einer Stechpalme in den niederösterreichischen Voralpen durch einen Waldgeher - erwähnt, der Mann habe - eine Palme ausgegraben. Eine Zwischenfrage stellte fest, daß dieser Volksgenosse allen Ernstes vermeinte, im Alpenvorland - Palmen anzutreffen, denn er sprach in der Annahme, daß es sich um eine Palmenart handle, immer wieder kurzweg von Palmen. Erst mein Vergleich dieser Annahme mit der nicht minder naiven Erwartung, in der niederösterreichischen Landschaft freilebende Affen anzutreffen, brachte diesem Prüfling seinen Schnitzer in der Pflanzengeographie zum Bewußtsein. Indes staunt man über derartige Erlebnisse nicht mehr, wenn man als

1

Vgl. A. Merkl, Rechtsfälle aus dem Verwaltungsrecht und dem Verwaltungsprozeßrecht, Wien und Leipzig 1932, Verlag M. Perles.

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einigermaßen naturkundiger Nichtfachmann immer wieder die Erfahrung macht, daß selbst akademisch gebildete Menschen die Fichte mit der Tanne verwechseln, vor dem Reifen der Früchte den Birnbaum nicht von einem Apfelbaum unterscheiden können und außerstande sind, nach dem Stand der leuchtenden Sonne die Himmelsrichtung zu bestimmen. Derartige Ahnungslosigkeiten erklären sich aus der völligen Interesselosigkeit des naturfernen Menschen am Leben und Weben der Natur, soweit es sich nicht im ursprünglichen Sinne des Wortes ausmünzen läßt, aus der Verengung des Gesichtskreises auf das dem eigenen Ich oder wenigstens dem Menschen materiell Nützliche. Die wenigen naturwissenschaftlichen Kenntnisse, die bei einer derartigen Einstellung überhaupt erworben worden sind, werden abgeworfen wie irgendein überflüssiger, entbehrlicher Gedächtnisballast und sich mit neuen Kenntnissen dieser Art zu beschweren, erscheint als Vergeudung kostbarer Lebenszeit. Wenn solche Menschen einen Ausflug machen, auf Sommerfrische gehen oder einen Sport ausüben, der sie in die Landschaft führt, dann suchen und finden sie wiederum nur sich und ihresgleichen, lassen sich zwar von dem stärkenden Fluidum der Natur durchdringen, werden ihrer aber nicht bewußt. Immer und immer mache ich in der oft unvermeidlichen Gesellschaft von „Nur Menschen", wie ich sie nennen möchte, die Erfahrung, daß sie das Aufmerksammachen auf die sie umgebende Natur als unbliebsame Störung in ihren Gesprächen oder Gedankengängen empfinden, daß sie sich auch in veränderter Umgebung aus ihrer Umwelt, die in Wahrheit nur ihr beschränktes Ich ist, nicht lösen können, daß sie an den Wundern der Natur, die dem Sehenden den erhabensten Lebensinhalt geben, einfach vorbeileben. Als abschreckendstes Beispiel solcher Naturfremdheit wird mir das junge englische Paar in Erinnerung bleiben, das auf der Talfahrt zum Gornergrat (3100 Meter) mir und meiner Frau gegenüber Platz nahm und, ehe sich der Zug in Bewegung setzte, eine Riesenzeitung auf der Kreuzworträtselseite entfaltete, um sie erst am Ziel in Zermatt zuzuklappen. Sie hatten scheinbar überhaupt keinen Blick für die vorübergleitenden Landschaftsbilder, die lockeren Zirbenbestände, die durch das dunkle Astgewirre im letzten Sonnenglast durchschimmernden Gletscher und die gelegentlich als Krönung des Landschaftsbildes auftauchende, unwahrscheinlich leuchtende Pyramide des Matterhorns. Nicht einmal die Entzückenslaute der bei den Windungen der Bahnstrecke von der einen zur anderen Fensterseite eilenden Fahrgäste vermochten diese wunderlichen Globetrotter aus ihrer beschaulichen Beschäftigung zu stören,

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für die im Hinterhaus einer englischen Fabrikstadt der richtige Ort gewesen wäre. Sie hatten eben ihr Programm „erledigt", sie konnten in ihrem Bädeker eine der herrlichsten Aussichtswarten der Schweiz als „gemacht" abstreichen - und daß dies etwas anderes ist als „erlebt", das kommt solchen Geschöpfen in des Herrgotts wunderbarem Tiergarten nicht zum Bewußtsein. Aus Billigkeitssinn muß ich freilich anmerken, daß neben unglaublichem Snobismus und Utilitarismus auch jenseits des Kanals - offenbar als Einschlag nordischen Gedankengutes - Sinn für Geschöpfe der Natur und für menschlich möglichst unberührte Landschaft anzutreffen ist und daß sich andererseits auch manche unserer Volksgenossen Proben der Naturentfremdung leisten, die kaum noch erkennen lassen, daß sich gerade das deutsche Volk nicht nur in seinen Dichtern und Denkern, sondern auch im fast instinktiven Handeln unkomplizierter Erdenkinder, insbesondere in der Einstellung gegenüber ihren „Erdgeschwistern", den Ehrentitel tiefster Naturverbundenheit erworben hat. Welch unerhörte Skala im Reagieren auf Natureindrücke selbst bei Gebildeten, die dicht beieinander wohnen und einen ähnlichen Bildungsgang genossen haben! Womit erwiesen ist, daß Naturverbundenheit eine Sache der Charakteranlage und nur bei einem Mindestmaß an solcher Anlage bis zu einem gewissen Grad Aufgabe und Leistung der Erziehung sein kann. Der Jurist, der als Wegbegleiter von den schönsten Erscheinungen der Landschaft, auf die ihn sein Weggenosse hinlenkt, in Gedanken und im Gespräch sogleich wieder zu den Berufsfragen, einem interessanten Prozeß oder einem Steuerakt und (sei es auch zu den bedeutendsten) Problemen der hohen Politik abgleitet, bekundet damit, daß ihm das äußere und innere Auge und Gehör für das Leben der Natur fehlt. Wenn er dann gar den Sinn des Naturschutzes so deutet, als ob der Herr der Erde in seiner Geberlaune einem hilfsbedürftigen Mann auf die Schulter klopfte, voll Eigendünkel über so viel unbelohnte Protektion, so verrät sich darin völlige Ahnungslosigkeit gegenüber der Tatsache, die niemand so nachdrücklich und unentwegt wie G. Schlesinger in seinen zahlreichen naturschützerischen Schriften ins Licht gerückt hat, daß der Mensch mit der Selbstbeschränkung seines Herrenrechtes über die Natur vor allem seinem wohlverstandenen Interesse dient, nämlich buchstäblich die Daseinsgrundlagen der Menschheit aufrechterhalten hilft. Um nur noch ein Beispiel dieser Naturblindheit zu erwähnen: Der Jünger des Sportes, der in der Landschaft nichts als Gelegenheiten für gelungene

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Skiabfahrten, in den Felsen nichts als Turngeräte sieht - und es gibt bekanntlich solche Entartungen sportlichen Denkens - , der verfehlt eine Hauptleistung des Sportes, soweit er sich in der Landschaft abspielt, den Menschen dieser Landschaft innerlich nahezubringen, dem erfüllt sich, wie es der bedeutende deutsche Philosoph Georg Simmel einmal ausgedrückt hat, der Sinn des Alpinismus in der „Besiegung der natürlichen Hemmnisse, der Unterwerfung des rohen Widerstandes der Materie durch den Menschen". Dem sonst so feinsinnigen deutschen Philosophen ist also der Gang in die Berge so eine Art Boxkampf, bei dem der Gegner ein zwar lebloser, aber trotzdem heimtückischer Berg ist. Von einem derart imperialistischen Alpinismus begreift man, daß „die schließliche ästhetische Ausbeute höchst gering ist". Damit ist freilich nicht bewiesen, daß der Alpinismus kulturlos oder überhaupt sinnlos ist, sondern daß sich mancher Alpinist mit einer falschen Einstellung dem Berge nähert. Der wahre Naturfreund geht nicht als Eroberer in die Berge, der Weg zum Gipfel bedeutet ihm vielmehr, wie ich es in meiner Abhandlung „Der Alpinimus als Kulturfunktion" ausgedrückt habe, „den faustisch-goetheschen Weg zu den Müttern der Erde". 2 Die „Sammlung der schönsten deutschen Natur- und Landschaftsschilderungen" - von Rudolf Borchardt unter dem schlichten Titel „Der Deutsche in der Landschaft" 3 besorgt - offenbart eine ganz andere, dem deutschen Gemüt viel eher entsprechende Einstellung zum Boden in allen seinen Formen. Doch mehr noch als es Worte vermögen, verrät die Handlung einer deutschen Bergbauernfamilie, von der vor einigen Wintern die Zeitungen berichtet haben, die Wirkungsmöglichkeiten wahrer deutscher Naturverbundenheit. Vor Jahrzehnten wurde ein in einem Hochtal gelegener Bauernhof samt seinen Inwohnern Opfer einer Lawine. Die dank ihrer Abwesenheit überlebenden Kinder bauten sich an derselben lawinengefährdeten Berglehne ihr Haus und erfuhren geraume Zeit später dasselbe Schicksal. Und wieder blieben überlebende Kinder der ererbten Scholle treu, doch mit ihrer Wohnstätte wurde nunmehr kürzlich die ganze Familie ausgerottet. In diesem gleich einem uralten Baum wurzelfesten Geschlecht war der Mythos des Bodens geradezu Wirklichkeit geworden. Wenngleich eine derartige Bodenverbundenheit nicht zur ausnahmslosen Regel werden kann, bleibt

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Alpina, Mitteilungen des Schweizer Alpen-Club, 1924, Nr. 11.

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Bremer Presse, Angelsachsen-Verlag zu Bremen.

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sie doch ein gewissermaßen dem Boden entwachsenes Denkmal deutscher Kultur. Solche Unterschiede in der Einstellung zur Natur bedingen offenbar auch verschiedene Mittel zu ihrem Schutze. Der Methodenstreit zwischen Erziehung und gesetzlichem Zwang ist unter diesen Umständen auch in unserem Falle müßig; beide Mittel ergänzen sich in sinnvoller Weise. Manche Schutzmaßnahmen erhalten nur durch gesetzliche Sanktionen ihre notwendige und zugleich hinlängliche Sicherung; so etwa ein Naturdenkmal oder ein Naturschutzgebiet. In diesen Fällen ist zugleich auch eine staatliche Maßnahme nötig, um die rechtliche Eigenschaft als Schutzobjekt zu begründen und öffentlich bekanntzumachen. Der Schutz der schutzbedürftigen Arten des Tier- und Pflanzenreiches wird sich dagegen erst durch nachhaltige Aufklärungsarbeit zum höchsten Wirksamkeitsgrade steigern lassen. Das mannigfaltige verborgene Vorkommen und die eigene Wehrlosigkeit der Schützlinge schließt naturgemäß eine mehr als stichprobenartige Handhabung des Gesetzes aus. Auf einem Gebiet, wie dem des Naturschutzes ausschließlich mit Freiwilligkeit als Frucht der Einsicht rechnen zu wollen, ist ebenso utopisch, wie auf die Entbehrlichkeit des staatlichen Zwanges überhaupt zu hoffen. Diese Erwägungen, die ich bereits in den erläuternden Bemerkungen zu meinen Urentwürfen des niederösterreichischen und eines österreichischen Bundesnaturschutzgesetzes ausgesprochen habe, beherrschen auch das noch schärfer zugreifende Reichsnaturschutzgesetz. Gerade im Raubbau an der Natur rächt sich der menschliche Egoismus am folgenschwersten. Das einzelne Naturgeschöpf erliegt, die Natur als Gesamtheit bleibt aber letzten Endes Sieger über den Menschen, der sich unverständigerweise an dieser seiner Existenzgrundlage vergreift. Wer einmal auf den von lebendigster Natur umbrandeten Ruinen menschlicher Größe gestanden hat, der ahnt das Schicksal einer Menschheit, die nicht durch Naturkenntnis, Naturliebe und Naturschutz die Brücke zu ihrer Daseinsgrundlage aufrechterhält.

Kriegsopfer der Natur Der „männermordende" Krieg, wie ihn ein bildhaftes Wort altgriechischer Dichtung genannt hat, zieht den Kreis seiner unvermeidlichen Opfer heutzutage ungleich weiter, als dieses veraltete, viel zu eng gewordene Attribut besagt. Die Entwicklung einerseits zum technischen, andererseits zum totalen Krieg hat die Kriegswirkungen extensiv erweitert und intensiv vertieft und hat namentlich Opfer nicht bloß der waffenfähigen Jugend, sondern durch rücksichtslose Einbeziehung des Hinterlandes in den Kriegsschauplatz auch des Alters und Opfer an Frauen und Kindern, darüberhinaus aber auch in dem in Erz und noch mehr in Stein verkörperten Ahnenerbe gekostet. Dazu kommt noch, daß der Wiederaufbau der Wohnstätten und, soweit überhaupt möglich, der Kulturstätten, deren Altehrwürdigkeit und geschichtliche Patina natürlich nicht einmal der kunstverständigste Neubau wiedergeben kann, neue Eingriffe in unsere bereits in Mitleidenschaft gezogenen Naturschätze auferlegen wird. Uns Naturschützer gehen aber am nächsten die kriegsbedingten bisherigen und noch bevorstehenden Eingriffe und besonders Substanzminderungen der uns umgebenden Natur an, die erkannt oder unerkannt - der Hort des materiellen und der letzte Quell des ideellen Reichtums eines Volkes namentlich unseres überdurchschnittlich naturverbundenen deutschen Volkes ist. Es ist hier nicht der Ort, den Ursachen so tiefer Rückwirkungen moderner Kriege auf die eigentlichen Lebensgrundlagen eines Volkes nachzugehen. Nur die eine Betrachtung möge Platz finden, weil sie zur möglichsten Überwindung der neuen Kriegsfolgen unbedingt zu beherzigen ist, daß der gesteigerte Materialismus, wie er unter anderem - gewiß nicht am bösartigsten - in übersteigerter Technisierung des Lebens und in der Überschätzung jeglicher „Errungenschaften der Technik" zum Ausdruck kam, durch seine Auswirkungen auf die Methoden der Kriegführung - durch das System von Erscheinungen des „technischen Krieges" - die zerstörerischen KriegswirBlätter für Naturkunde und Naturschutz, 31. Jg. (1944), S. 25-28.

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III.A. Verwaltungsrecht

kungen ungeahnt steigert. Gewiß, das menschliche Dasein und zumal der menschliche Fortschritt in zivilisatorischer Hinsicht fordern unausgesetzt Eingriffe in die Natur. Kein denkender Zeitgenosse wird solche Eingriffe verhindern wollen, ja man darf von einer kulturellen Warte aus sogar der Technik für die vielen großen und kleinen Erleichterungen des Lebens ehrlich dankbar sein, durch die menschliche Zeit und menschliche Kräfte für Kulturschöpfungen und Kulturgenuß, aber auch für die Betreuung und den Genuß der Natur freigesetzt werden. Zwei Schranken sind freilich in den Augen des naturverbundenen Menschen für den Zugriff der Technik auf die Natur als den Quell alles Lebens selbstverständlich: Erstens, daß mit Verantwortungsbewußtsein Opfer und Erfolg abgewogen und mit möglichster Schonung vorgegangen werde; zweitens, daß der zivilisatorische Fortschritt nicht als sozialer Höchstwert gelte, wodurch die Technik zum Selbstzweck entartet. Diese Grenze ist überschritten, wenn die möglichst erschlossene, künstlich beeinflußte Landschaft an sich schon der möglichst naturbelassenen Landschaft vorgezogen wird, wie es etwa aus der populären Vorstellung einer Verschönerung der Landschaft durch ihre möglichste Erschließung durch großzügige Verkehrswege und große Hotels zutage tritt. Es ist nicht deutsche Denkungsart, diese Dinge zum Gradmesser des „Kulturfortschrittes" zu machen. Besonders gefährlich wird der zivilisatorische Fortschritt, wenn er die Beziehungen des Menschen zur Scholle, seine seelische Bindung an die Heimat, lockert und damit dem eben erst entdeckten und zum politischen Grundwert erhobenen Mythos des Bodens entgegenwirkt oder durch die Möglichkeit des Mißbrauchs die menschlichen Errungenschaften auf anderen Gebieten gefährdet. Man darf nicht übersehen, daß infolge der Verflechtung der Schicksale von Völkern der verschiedensten Rasse und des verschiedensten kulturellen Ranges die von dem einen Volk als technische Errungenschaft gehütete Erfindung in der Hand des anderen zu einem satanischen Zerstörungsmittel entarten kann. Die Terrorflüge der Engländer und Amerikaner gegen friedliche Ziele im deutschen Raum sind Belege dafür. Aber auch die Erwägung vermöchte den „technischen Höhenflug" - fast möchte man manchmal von einem Machtrausch der Technik sprechen etwas einzudämmen, daß die Zeit eines Kant, Goethe und Beethoven doch gewiß einen Höhepunkt der deutschen Kultur darstellt, dabei aber technisch in den Kinderschuhen gesteckt hat und damit auf einem niedrigen Fuß von Zivilisation stand, ohne sich darum arm und unglücklich zu fühlen.

Kriegsopfer der Natur

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Die Moral aus solchen Überlegungen ist, daß wir nach dem Kriege, soweit dies nicht schon durch andere Umstände erzwungen wird, der Technik wie überhaupt der menschlichen Nutzbarmachung der Natur feste Schranken ziehen müssen, nicht etwa um der Natur willen, sondern um dem Menschen den Quell seines körperlichen und geistigen Lebens auch für die Zukunft zu sichern. Wir Naturschützer müssen bei aller dankbaren Anerkennung des Verständnisses der maßgeblichen amtlichen Kreise für die Idee des Naturschutzes uns darüber Rechenschaft ablegen, welche Kerben der Krieg der deutschen Landschaft geschlagen, welche Eingriffe in die Naturschätze er zu Lasten der Zukunft verursacht hat. Gewiß, für das Ziel der Sicherung der physischen und staatlichen Existenz eines Volkes ist kein Preis zu hoch. Aber über der einen völkischen Pflicht darf nicht die andere der Sicherung der nationalen Zukunft übersehen und vernachlässigt werden - und gerade der im tiefsten Nationalgefühl verankerte Naturschutz ist hier der berufene Mahner und Ratgeber. Um nur einige der wichtigsten Tatsachen anzudeuten: Die Holzerzeugung war, zum großen Teil für zwar unvermeidliche, aber vergängliche Aufgaben wie Behelfsbauten, Fasergewinnung u.a. zu beträchtlichen Eingriffen auch in den deutschen Wald und Vorgriffen auf die Zukunft genötigt, das Landschaftsbild hat durch notwendige und auf die bequemste Weise errichtete Anlagen mitunter peinliche Veränderungen erlitten, die Latschenfelder sind rings um stark besetzte Unterkunftsstätten auffällig gelichtet, weil Brennholz genommen werden muß, wo es am bequemsten zur Hand ist; altehrwürdige Parke sind, sei es infolge von Feindeinwirkung oder um solcher vorzubeugen, vernichtet. War aber der hiemit noch lange nicht erschöpfte Kriegstribut der deutschen Landschaft bedeutend, so stehen noch weitergehende Anforderungen an die deutsche Landschaft in der erneuerten Friedenswirtschaft bevor. Wenngleich dem mächtig gewordenen Reich die beträchtlichen Holztribute erspart bleiben werden, die das ohnmächtige Weimarer Deutschland seinen Feinden bringen mußte, wenngleich wir auch hoffen dürfen, daß nicht wiederum, wie nach dem letzten Krieg, Kohlennot und Transportschwierigkeiten die Stadtbewohner verlocken werden, die benachbarten Wälder wild abzuholzen und als Brennholz heimzutragen, so wird doch andererseits die deutsche Landschaft in einem ungewöhnlichen Maße in den Dienst des allseitigen Wiederaufbaues gestellt werden müssen, um so mehr, je kärglicher Auslandslieferungen sein werden. Die Landschaft wird einerseits Baustoffe liefern, andererseits infolge der Notwendigkeit aufgelockerten Wohnens völlig neuen Siedlungsraum darbieten müssen, wobei zeit- und kostensparendes

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Bauen vom Standpunkt des Naturschutzes vergrößerte Gefahrenquellen bedeuten. Ein Volk wie das deutsche, das sich in großer Zahl - leider noch lange nicht zur Gänze - des Mythos seines Bodens bewußt geworden ist, braucht selbst in kritischer Zeit nicht jenen Gefahren zu erliegen, die über andere Völker Krieg und Raubbau heraufbeschworen haben: Vernichtung und Verkarstung des Waldes, Schmälerung der Landwirtschaft, Schmälerung des Lebensraumes. Wir verfügen über die erforderliche objektive und subjektive Rüstung, um solchen Gefahren viel wirksamer als ehedem etwa die Griechen und Römer zu begegnen. Die deutsche Naturwissenschaft und der deutsche Naturschutz kennen vor allem die Gefahren und ihre Gegenmittel. Der von den vormals österreichischen Alpengauen in verschärfter Auflage auf das Gesamtreich übertragene gesetzliche Naturschutz, der sich in seinem Ursprungsland Niederdonau seit dem Jahre 1924 als erster totaler Naturschutz der Erde bewährt, bietet für alle Eventualitäten Vorsorge, wenn er nur entschlossen gehandhabt wird. Nur eines tut zunächst not, worauf vor allem in Fachkreisen hingewiesen sei: ein ungeschminkter Einblick in die Gefahrenlage der deutschen Landschaft und - analog der Planung zum Wiederaufbau der deutschen Städte - auch hier eine rechtzeitige und großzügige Planung, die am Vorspruch des Reichsnaturschutzgesetzes ausgerichtet ist: „Heute wie einst ist die Natur in Wald und Feld des deutschen Volkes Sehnsucht, Freude und Erholung.... Die deutsche Reichsregierung sieht es als ihre Pflicht an, auch dem ärmsten Volksgenossen seinen Anteil an deutscher Naturschönheit zu sichern."

Der Streit um die Krimmler Wasserfälle Die Ausführungen von J. /?., Währing, zu dem Thema verlangen einige Richtigstellungen. In keinem Lande der Erde können alle Wasserkräfte wirtschaftlich verwertet werden; es ist kulturpolitisch wichtig, jene Flußstrecken und Wasserfälle von der wirtschaftlichen Nutzung auszunehmen, die als international anerkannte Naturdenkmale den Gipfelleistungen der Kunst ebenbürtig und daher ebenso wie diese erhaltungswürdig sind. Dieser Höchstwert eines landschaftlichen Schaustückes erklärt ja auch, daß die meisten Staaten, die sich wirtschaftlich ungenutzter Naturschönheiten erfreuen, gesetzlich ausgedehnte Flächen, in denen sich auserlesene Naturdenkmale finden, zum Schutzgebiet (Naturschutzpark) erklären. Auch in Österreich bestehen Pläne, solche Schutzgebiete, zum Beispiel eines in den Hohen Tauern, zu bestimmen. Der Verzicht auf wirtschaftliche Nutzung aus Gründen des Naturschutzes, also im Dienste einer kulturellen Mission, die innerhalb der Arbeiterschaft vor allem von den Naturfreunden erfaßt worden ist, betrifft höchstens ein Zehntel der noch nicht ausgenützten Energievorkommen in Österreich. Solange die übrigen neun Zehntel noch nicht ausgewertet sind, ist es also überhaupt verfrüht, dem Naturschutzverband oder sonstigen Gruppen nachzusagen, daß sie der Gewinnung von Devisen aus unseren Wasserkräften im Wege stünden. Wer es rückschrittlich findet, daß man Wasserfälle, die man im Ausland wie im Inland als wahres Weltwunder einschätzt, nutzlos in die Tiefe brausen läßt, statt sie in Genußgüter umzumünzen, dem muß es auch als sinnlose Sentimentalität erscheinen, die steinernen Zeugen der Antike „nutzlos" in den Himmel ragen zu lassen und dafür noch Erhaltungskosten aufzuwenden, statt ihr kostbares Material etwa als Baustoff für Neubauten zu verwerten!

Arbeiter-Zeitung vom 26. April 1952, S. 5.

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Angesichts der Tatsache, daß das österreichische Volk selbst nach der furchtbaren Entgüterung durch den zweiten Weltkrieg mindestens das Vierzigfache des Betrages, den der Bund für Kulturpflege verausgabt, für reine Genußgüter, wie Alkohol und Tabakwaren, verwendet und die beträchtlichen Devisen für die Einfuhr der erforderlichen Rohstoffe, aber auch für Personenwagen und manches andere nicht Existenznotwendige aufbringt, ist es wohl eine Ehrenpflicht unseres Landes, die ererbten, weitberühmten Prunkstücke der Natur und Kunst zu erhalten. Damit dienen Staat und seine Menschen nur im bescheidensten, aber selbstverständlichsten Ausmaß unserem Ruf und Anspruch als Kulturvolk.

Erreichtes und Erstrebtes im Naturschutz Zugleich ein Denkmal für die Pioniere des österreichischen Naturschutzes

Auf Einladung des Begründers und langjährigen Hauptes der österreichischen Naturschutzbewegung, Prof. Dr. Günther Schlesinger , habe ich im Jahre 1929 in den „Blättern für Naturkunde und Naturschutz" über den damaligen Stand der österreichischen Naturschutzbewegung berichtet. Auch heute, da die Lage des österreichischen Naturschutzes mit der damaligen viele Ähnlichkeiten aufweist, ist es nützlich, eine ähnliche Besinnung über das Erreichte und Erstrebte anzustellen. Der erste Kampf um die Krimmler Wasserfälle Zur Zeit jener ersten Betrachtung war die erste Bedrohung der Krimmler Wasserfälle abgewendet. Ein ausländisches Finanzkonsortium hatte die Krimmler Fälle zur Gewinnung und Ausfuhr von elektrischer Energie stillegen wollen und als Gegenwert verlockende Anbote gemacht. Alles hing von der Einsicht und dem kulturellen Verantwortungsbewußtsein der Bundesregierung und auch der Salzburger Landesregierung ab, wobei noch nicht einmal ein gesetzlicher Schutz der Naturdenkmale bestand. Nach der Zertrümmerung des österreichischen Kaiserstaates war die Devisenlage um vieles beengter als heute. Trotzdem widerstanden die damals maßgebenden Persönlichkeiten der ungeheuren Verlockung der Preisgabe des gewaltigsten Wasserfalles Österreichs um Geld oder Geldes wert, wie sie ja auch den Verkauf unersetzlicher, für Österreich repräsentativer Kunstschätze aus öffentlichem Besitz vermieden und dem Verkauf aus Privatbesitz durch die Einwirkung des Denkmalschutzgesetzes einen Riegel vorgeschoben hatten.

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 39. Jg. (1953), S. 29-32.

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Diese Erinnerung an die Haltung der für den kulturellen Rang der Heimat Verantwortlichen während der schlimmsten Jahre nach dem ersten Weltkrieg sollte und wird, wie wir hoffen, auch für heute und morgen Mahnung und Verpflichtung sein. Der Kampf um die Erhaltung der Bundesforste Ein anderes Sorgenkind der österreichischen Naturschutzbewegung nach dem ersten Weltkrieg war das Programm der „Kommerzialisierung der Bundesforste" in der Form der Errichtung eines eigenen Wirtschaftskörpers nach dem Vorbilde des Wirtschaftskörpers der „Österreichischen Bundesbahnen". Am 10. April 1925 verlautbarte die Bundesregierung einen diesbezüglichen Gesetzentwurf mit dem Auftrage, die gesamten Bundesforste zu „kommerzialisieren", um dadurch diesen Bundesbetrieb gewinnbringend zu gestalten. In den „Blättern für Naturkunde und Naturschutz" vom 1. Mai 1925 veröffentlichte darauf Prof. Günther Schlesinger einen von mir gezeichneten Aufsatz über „Die Neuordnung der Bundesforstverwaltung und die Interessen des Naturschutzes". Darin wird ausgeführt, daß nur für den Absatz der Forstprodukte die Richtlinie möglichsten Gewinnstrebens Geltung haben könnte, daß jedoch die Pflege des Waldes dem öffentlichen Interesse der Walderhaltung dienen müsse. Petitionen sämtlicher am Naturschutz interessierten Kreise haben eine gründliche Umarbeitung des Gesetzentwurfes erzielt. Die ersten österreichischen Naturschutzgesetze Vor allem aber galt die Bemühung der Veteranen des österreichischen Naturschutzes der Schaffung von Naturschutzgesetzen. Diese Gesetze sollten, in traditionsgebundener Auswertung der Gedanken des österreichischen Reichsforstgesetzes, einen auf alle schutzbedürftigen und schutzwürdigen Naturerscheinungen erstreckten Schutz gewährleisten. Ein vom November 1923 bis April 1924 im Rahmen des österreichischen Bundesdenkmalamtes von Fachmännern aller einschlägigen naturwissenschaftlichen Disziplinen und juristischen Beratern ausgearbeiteter Entwurf eines Landesnaturschutzgesetzes hat in je einem Abschnitt den Schutz der Naturdenkmale, den Schutz des Landschaftsbildes, den Schutz des Tier- unf Pflanzenreiches, die Errichtung von Banngebieten und endlich Straf- und Schlußbestimmungen vorgesehen.

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Es bedeutet die Erfüllung einer Dankespflicht an die Pioniere des österreichischen Naturschutzes, heute, nach dem Inkrafttreten der ersten, erneuten österreichischen Naturschutzgesetze, die geistigen Väter der ursprünglichen österreichischen Gesetze, soweit sie mittlerweile verstorben sind, zu nennen: Den Vorsitzenden dieser Beratungen, Prof. Dr. Günther Schlesinger, dessen überlegene Sachkenntnis, dessen unüberbietbares Unterscheidungsvermögen zwischen idealer Forderung und dem praktisch Erreichbaren und dessen Energie bei der Vertretung des gesetzespolitischen Minimums gegenüber den politischen Kreisen erst die Arbeit der Gesetzesredaktoren fruchtbar gemacht hat. Ferner die Professoren der Wiener Universität Ginzberger, Vierhapper und Werner, die Professoren der Hochschule für Bodenkultur Cisar und Leeder:; an lebenden Zeugen dieser allwöchentlichen Beratungen seien Dr. O. Wettstein und der Beamte des Landesmuseums Dr. Amon genannt, ferner der Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Coulon. Wirksamkeit und Fernwirkung der Naturschutzgesetze Auf Grund dieser Vorarbeiten hat Niederösterreich als erstes Bundesland am 3. Juli 1924 das erste österreichische Naturschutzgesetz beschlossen1 und binnen eines weiteren halben Jahres Tirol ein nahezu gleichlautendes Gesetz verabschiedet. Die anderen Bundesländer (außer Steiermark) sind diesen Vorbildern gefolgt, wobei sie, ständig vom Fachbeirat der österreichischen Bundesländer beraten, den Besonderheiten ihrer Landschaft Rechnung getragen haben. Die Energie der Fachleute, vor allem Dr. Schlesingers, hat aus diesem Rahmengesetz Unwahrscheinliches herausgeholt: das Semmeringgebiet und andere bevorzugte Landschaften, die, wie heute etwa Südtiroler Landschaften, durch schreiende Reklame verunstaltet waren, wurden buchstäblich „reingefegt", tausende Naturdenkmale wurden für künftige Geschlechter gesichelt, der Neusiedler See, dessen Trockenlegung bereits beschlossen war, wurde gerettet.

1

Der Text des ersten österreichischen Naturschutzgesetzes vom 3. Juli 1924 ist in Jg. 1925, H. 2 dieser Zeitschrift mit einem Vorwort von Prof. Dr. Günther Schlesinger abgedruckt, in dem freilich weder die Verdienste dieses Mannes um das Zustandekommen dieses schwer erkämpften Werkes zum Ausdruck kommen, noch die im Zuge der Gesetzgebung erzwungenen Abschwächungen des von den Fachmännern bereitgestellten Entwurfes.

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Es ist heute fast vergessen, daß die in den Zwanzigerjahren in Kraft gesetzten österreichischen Naturschutzgesetze samt ihren Durchführungsverordnungen von französischen Naturschutzkreisen als mustergültige, für das ganze Ausland vorbildliche Kulturtat in französischer Übersetzung veröffentlicht worden sind, und daß das führende Werk über Naturschutz von Prof. Walter Schoenichen, dem vormaligen Direktor der Rechtsstelle für Naturschutz in Berlin, sie als wesentliche und wertvolle Vorarbeit für das Reichsnaturschutzgesetz vom 31. Oktober 1935 erklärt hat. Die geltenden Naturschutzgesetze Es spricht für die neuen Naturschutzgesetze, zunächst der Länder Niederösterreich und Tirol, daß sie sich als eine organische Fortentwicklung der seinerzeitigen Gesetze darstellen. Die zahlreichen Verbesserungen im Vergleiche mit ihren Vorläufern sind einerseits die Frucht der gesetzestechnisch sehr geschickt verwerteten Erfahrungen, einer jahrzehntelangen Gesetzesanwendung, andererseits der wesentlich verminderten Reibungswiderstände bei der Inkraftsetzung der Gesetze. Man darf also hoffen, daß die anderen österreichischen Bundesländer dem Vorbilde, das auch diesmal wie 1924 und 1925 die Länder Niederösterreich und Tirol gegeben haben, alsbald folgen werden. Wir Naturschützer müssen uns freilich eingestehen, daß die Natur, der Gegenstand unserer Sorge und Liebe, durch den Krieg und die Kriegsfolgen schwerste Wunden erlitten hat, deren Gutmachung die heute Erwachsenen zum Teil überhaupt nicht mehr erleben können. Wichtigste Zielsetzungen Insbesonders hat unser Wald durch einen beispiellosen Raubbau schwerste Schmälerung erfahren. Die Forderung des Naturschutzes muß hier sein: endgültiger Schluß mit diesem Raubbau und sinnvolle Aufforstung möglichst mit Mischbeständen! Eine ebenso dringliche Aufgabe ist aber eine Planung des Ausbaues der Wasserkräfte in der Weise, daß den wirtschaftlichen Notwendigkeiten weitestgehend Rechnung getragen wird, daß aber die Kleinodien der Landschaft ein für allemal sichergestellt werden und sie daher, wenn uns heute die

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Abwehr von Begehrlichkeiten gelingt, nicht im nächsten Jahr wiederum zum Gegenstand dringlicher Planungen gemacht werden können. Es muß durch Schule, Presse, Rundfunk die Einsicht verbreitet werden, daß die Glanzpunkte der heimatlichen Natur den Spitzenleistungen der Kunst, namentlich der Architektur, gleichwertig sind und daß daher die Ehre des Volkes und Staates am Spiele steht, wenn sie zum Handels- und Ausbeutungsobjekt gemacht werden! Die tatsachenwidrige, immer wiederkehrende Behauptung, daß die Vertreter des Naturschutzes Feinde der technischen Entwicklung seien, ihre Kennzeichnung als die „ewig Gestrigen", wird durch die realistische Haltung des amtlichen und vereinsmäßigen Naturschutzes in Österreich widerlegt. Wir Naturschützer können aber darauf verweisen, daß die Österreichische Akademie der Wissenschaften als das höchste geistige Forum Österreichs sich nach gewissenhafter Prüfung aller Für- und Gegengründe in zwei Entschließungen 1951 und 1952 für die uneingeschränkte Erhaltung der Krimmler Wasserfälle ausgesprochen hat. Wir stehen nicht vor der Alternative: Naturschutz oder Ausbau der Wasserkräfte, sondern es handelt sich bloß darum, einen kleinen Teil der erhabensten Naturschönheiten von der wirtschaftlichen Nutzung auszunehmen! Endlich ist es eine Ehrenpflicht der österreichischen Länder, weitere Natur- und Landschaftsschutzgebiete einzurichten. Wenn Österreich heuer Naturschützer aus aller Welt zum internationalen Naturschutzkongreß in Salzburg empfangen wird, so hat es mehr noch als etwa die Veranstalter einer Mustermesse die Ehrenpflicht, eine wirklich international sehenswerte Leistungsschau naturschützerischer Art darzubieten. Eine solche kann sich nicht in rühmenswerten Gesetzen erschöpfen, sondern es erwartet der Fachmann auch gleichwertige Früchte ihrer Handhabung. Wenn ausländische Fachleute auf Grund der vorbildlichen Naturschutzgesetze in Österreich eine entsprechend vorbildliche Pflege der Naturdenkmale zu finden erhoffen und sie dann etwa die berühmten Krimmler Wasserfälle in eine Art menschlichen Wasserspiels verwandelt fänden, das man nach Belieben ein- und ausschalten kann, so würde sie dies ebenso berühren wie den Kunstfreund, der auf Grund der Schilderung von Reiseführern in österreichischen Museen berühmte Gemälde alter Meister erwartete, sie in Wirklichkeit jedoch durch brave Kopien ersetzt fände, weil es

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nicht zu verantworten gewesen sei, die devisenbringenden Originale nutzlos zu erhalten.

Tiroler Servitutengesetz verfassungswidrig? Rechtsgutachten über die Frage der Vereinbarkeit des Tiroler Landesgesetzes v. 17.IIL1952, LGB1.21 mit dem Bundesgrundsatzgesetz von 1951 über die Behandlung der Wald- und Weidenutzungsrechte sowie bes. Felddienstbarkeiten

Die für einen Bundesstaat charakteristische Einrichtung der komplementären Gesetzgebung in der Weise von Grundsatzgesetzen des Gesamtstaates und Durchführungsgesetzen der Gliedstaaten wird in Art. 12 (1), P. 5 B-VG unter anderem vorgesehen für Angelegenheiten der Bodenreform, insbeson-

Holz-Kurier. Forst- und holzwirtschaftlicher Wochendienst, 10. Jg. (1955), Nr. 29, S. 1-2. Diesem Artikel wurde folgende Vorbemerkung des Österreichischen Forstvereins vorangestellt: Zum Grundsatzgesetz 1951 über die Behandlung der Wald- und Weidenutzungsrechte (BGBl. Nr. 103 vom 19.5.1951) folgte u.a. in Tirol ein Ausführungsgesetz. Im Hauptausschuß des Österreichischen Forstvereins machte der Delegierte des Forstvereins für Tirol und Vorarlberg darauf aufmerksam, daß sich durch zuweit gehende Bestimmungen des Tiroler Ausführungsgesetzes ein Schaden für die Gesamtwirtschaft und - infolge vermehrter Lawinengefahr - auch für die Bergbauern selbst ergeben kann. Im Tiroler „Wald- und Weideservitutengesetz" (LGB1. Nr. 21 vom 17.3.1952) sind z.B. im § 13 punktweise die Maßnahmen aufgezählt, auf die sich die Regulierung von Weiderechten zu erstrecken hat. Dort finden sich u.a. folgende Bestimmungen: „Wenn durch Aufforstung alter Blößen die Beweidung eingeschränkt wird, so sind Weideplätze nötigen Falles durch Rodung anzuweisen. Auf Kahlschlägen ist, solange der Forstbetrieb ruht, der Graswuchs zu fördern. Eine lockere Bestockung ist im Walde zu beschaffen und zu erhalten." Die geforderte Schaffung einer lockeren Bestockung an der oberen Waldgrenze ist aber wegen Begünstigung der Lawinenbildung gefährlich, ebenso kann die Begünstigung des Graswuchses wirken. Mit diesem Problem, auch anderen Bestimmungen des Ausführungsgesetzes, befaßte sich - nach geleisteter wertvoller Vorarbeit durch den „Fachausschuß für Forstpolitik" - der Hauptausschuß des Österreichischen Forstvereines. Auf Beschluß dieses Hauptausschusses wurde der Vertreter der Staatslehre und des Österreichischen Verfassungsrechtes sowie der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechtes an der Universität Wien, o.ö. Professor Dr. Adolf Merkl, um ein Rechtsgutachten gebeten.

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dere agrarische Operationen und Wiederbesiedlung. Das Wesen dieser komplementären Gesetzgebung besteht darin, daß die Ausführungsbestimmungen des betreffenden Landesgesetzes sich auf eine denselben Gegenstand betreffende Anordnung des Grundsatzgesetzes stützen müssen, und daß sich die Bestimmungen des Ausführungsgesetzes logisch im Rahmen der Bestimmungen des Grundsatzgesetzes bewegen müssen. Das logische Verhältnis zwischen einem Grundsatzgesetz und einem Ausführungsgesetz entspricht völlig dem logischen Verhältnis zwischen einem formellen Gesetz einerseits und einer Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz andererseits. Jede Behandlung von Fragen im Ausführungsgesetz, für die nicht eine grundlegende allgemeinere Rechtsregel im Grundsatzgesetz enthalten ist und jede Regelung im Ausführungsgesetz, die den durch die allgemeinere Regel des Grundsatzgesetzes umschriebenen Rahmen überschreitet, stellt sich als eine Verletzung der Bundesverfassung dar. Ein derartiger Widerspruch zwischen Grundsatzgesetz und Ausführungsgesetz kann vor dem Inkrafttreten des Landesgesetzes vermittels eines Einspruches der Bundesregierung gegen den Landesgesetzbeschluß gemäß Art. 98 B-VG und nach dem Inkrafttreten des Landesgesetzes unbefristet im Wege der Anfechtung des Landesgesetzes beim Verfassungsgerichtshof nach Art. 140 B-VG beseitigt werden. Im vorliegenden Fall bestehen zweifellos Widersprüche zwischen dem zitierten Bundes- und Landesgesetz sowohl von der Art, daß das Landesgesetz Gegenstände regelt, die im Bundesgesetz nicht geregelt sind, als auch von der Art, daß Regelungen des Landesgesetzes inhaltlich mit der Regelung des Grundsatzgesetzes nicht in Einklang zu bringen sind. Ein Widerspruch zwischen der Regelung des Grundsatzgesetzes und des Ausführungsgesetzes besteht im Falle des § 5 des Ausführungsgesetzes. § 5

Dieses Rechtsgutachten konnte dem Hauptausschusse des ÖFV in der Sitzung vom 9. Juli 1955 zur Kenntnis gebracht werden. Die Delegierten der Landesforstvereine gaben der außerordentlichen Genugtuung über das Vorliegen des Rechtsgutachtens Ausdruck und betonten, daß auch in anderen Bundesländern, z.B. in Steiermark und in Oberösterreich, gesetzliche Regelungen zu Ungunsten der Forstwirtschaft teils bereits vorliegen, teils geplant sind, indem den Servitutsberechtigten auch solche Vorteile eingeräumt werden, die im Grundsatzgesetz des Bundes nicht gedeckt sind. Der Hauptausschuß beschloß daher, das vorliegende Rechtsgutachten zu veröffentlichen.

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bestimmt: (1) „Kann die zustehende Brennholzmenge in den vorgesehenen minderwertigen Sortimenten im belasteten Wald nicht aufgebracht werden, so hat der Verpflichtete auch höherwertiges Holz ohne Rücksicht auf dessen Mehrwert als Brennholz abzugeben. (2) Es steht ihm jedoch frei, das fehlende Brennholz in einem anderen Wald anzuweisen, wo es nicht ungünstiger bringbar ist." Es bedeutet dies eine Steigerung der Belastung des belasteten Waldes, für die im Grundsatzgesetz des Bundes jede Grundlage fehlt und es stellt sich daher der § 5 als Verletzung des Grundsatzgesetzes dar. Desgleichen entbehren die Bestimmungen des § 13 des Landesgesetzes einer Grundlage im Grundsatzgesetz des Bundes. Die §§8-12 des Bundesgrundsatzgesetzes handeln von der Neuregulierung und Regulierung der Nutzungsrechte. Der § 13 des Durchführungsgesetzes („Regelung von Weiderechten") erstreckt diese Maßnahmen unter anderem im Punkt d auf „Anweisung von Weideplätzen, besonders wenn die Beweidung durch Aufforstungen, z.B. alter Blößen, eingeschränkt wird, nötigenfalls auch durch Rodung." Für diese Ermächtigung fehlt im Grundsatzgesetz jede Grundlage. Die Eventualermächtigung des Ausführungsgesetzes, „nötigenfalls auch durch Rodung" Weideplätze für den Servitutsberechtigten zu gewinnen, greift überdies in die bundesgesetzliche Bestimmung des Reichsforstgesetzes betreffend Waldrodungen ein. Die Ermächtigung von § 13, Punkt i des Ausführungsgesetzes „Förderung des Graswuchses während der Forstbetriebsruhe bei Kahlschlägen" ferner die Ermächtigung von § 13, Punkt m „Schaffung und Haltung einer entsprechend lockeren Bestockung im Wald" entbehren ebenfalls einer Grundlage im Grundsatzgesetz und sind daher gesetzwidrig. Dasselbe gilt für die Bestimmungen des § 33 des Ausführungsgesetzes über Voraus- und Nachbezüge. Insbesondere erscheint mir die Bestimmung des Abs. 2, daß bei wirtschaftlich zweckmäßigen Bauvorhaben zur Deckung des Holzbedarfes der Nachbezug nach bestehenden Abrechnungsperioden bereits verfallener Holzmengen beansprucht werden könne, nicht bloß bedenklich, sondern eindeutig als gesetzwidrig. Es muß grundsätzlich daran festgehalten werden, daß es nicht genügt, wenn Bestimmungen des Ausführungsgesetzes durch Subsumtionskunststiicke mit dem Grundsatzgesetz vereinbart werden können, sondern es muß

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das Grundsatzgesetz eine durch logische Denkoperation unzweifelhaft feststellbare, allgemeingültige Rechtsregel enthalten, die im Ausführungsgesetz näher bestimmt ist. Unter diesem Gesichtspunkt wäre zweifellos noch eine große Zahl von Bestimmungen des Ausführungsgesetzes festzustellen, für die eine einwandfreie Grundlage im Grundsatzgesetz fehlt. Es ist zwar begreiflich, daß vom forstpolitischen Standpunkt aus nur die wirtschaftlich bedenklichen Abweichungen des Ausführungsgesetzes vom Grundsatzgesetz beanständet werden, aber es müßte darauf hingewiesen werden, daß die betreffenden Widersprüche zwischen Grundsatzgesetz und Ausführungsgesetz nur aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht bekämpft werden. Das gegenständliche Grundsatzgesetz leidet allerdings an einer Reihe von Stellen nach meinem Eindruck an dem Mangel von präzisen Grundsatzbestimmungen. Das Ausführungsgesetz ist dagegen auch insoferne zu beanständen, als es sich bei seinen einzelnen Anordnungen nicht durch Zitate auf jene Bestimmungen des Grundsatzgesetzes bezieht, die näher durchgeführt werden. Die Unterlassung dieser Zitierung erleichtert die vielfachen Abweichungen vom Grundsatzgesetz. Eine Verletzung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung gemäß Art. 18 (1) B-VG kann freilich in den Abweichungen des Ausführungsgesetzes vom Grundsatzgesetz nicht erblickt werden, weil sich ja das Ausführungsgesetz als formelle Gesetzgebung darstellt. Auch die Bescheide, die von den Landesbehörden zur Ausführung des Ausführungsgesetzes erlassen werden, stehen nicht zu dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung im Widerspruch, wenn sie sich im Rahmen des Ausführungsgesetzes halten, weil ja dieses Ausführungsgesetz, solange es in Geltung steht, eine gehörige gesetzliche Grundlage gemäß Art. 18(1) B-VG darstellt. Auf die Übereinstimmung der Ausführungsgesetze mit dem Grundsatzgesetz kann mit den Mitteln des Art. 15 (8) B-VG und 140 B-VG hingewirkt werden. Nach Art. 15 (8) B-VG steht dem Bund das Recht zu, die Einhaltung der von ihm erlassenen Vorschriften wahrzunehmen. Diese Verfassungsbestimmung gibt die Handhabe, beim Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft bittlich zu werden, daß es das Nötige veranlasse, um die Einhaltung der Bestimmungen des Grundsatzgesetzes sicherzustellen. Im

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vorliegenden Falle erscheint mir zweckmäßig, die Abänderung des Landesgesetzes in den beanständeten Punkten und seine Anpassung an das Bundesgesetz vorzuschlagen. Der Art. 140 B-VG gibt der Bundesregierung die Möglichkeit, das Landesgesetz wegen seines Widerspruches zum Bundesgesetz, der nicht eine bloße Gesetzwidrigkeit, sondern auch eine Verfassungswidrigkeit darstellt, beim Verfassungsgerichtshof anzufechten. Dieser Schritt wäre der letzte Ausweg, um die forstpolitisch notwendige Anpassung des Landesgesetzes an das Bundesgesetz herbeizuführen.

Geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Hochschulreform Das Wesen der freien Staatsuniversität

Die Freiheit der Wissenschaft und die Autonomie der Hochschulen gelten im hochschulrechtlichen Schrifttum als die beiden Bestandteile der „akademischen Freiheit". Diese besteht nicht in einem Freiheitsrecht zugunsten der Benutzer der Hochschule, sondern in einer rechtlichen Privilegierung der Hochschulen als solche. Durch die Rechtsentwicklung der Neuzeit ist zwar die Hochschule von ihrer mittelalterlichen Stellung als „Staat im Staat", die sich sogar in einer die Verfügung über Leib und Leben einschließenden Strafgewalt des Rektors geäußert hatte, zu einem Instrument des Staates geworden. Durch die akademische Freiheit ist sie aber trotzdem dem Einfluß der Staatsführung entzogen und bei der unmittelbaren Erfüllung ihrer Aufgaben nicht Dienerin des Staatswillens, sondern der reinen Erkenntnis der wissenschaftlichen Wahrheit. Geschichtlich ist die Autonomie älter als die Freiheit von Wissenschaft und Lehre. Die Verstaatlichung der Universität hat dagegen die Autonomie zu einem bloßen Mittel der Hochschule gemacht, das mit ihren einzelnen Emanationen die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft in Forschung und Lehre sicherstellen soll. Ihrem Anwendungsbereich nach dient freilich die Hochschulautonomie nicht dem privaten, sondern nur dem amtlichen, von der staatlichen Hochschule geleisteten Wissenschaftsbetrieb. In Staaten, wo infolge des Mangels eines privaten Mäzenatentums ausschließlich staatliche Initiative und Kostendeckung dauernde wissenschaftliche Einrichtungen ermöglicht, ist die Hochschulautonomie eine Lebensbedingung der Pflege der Wissenschaft, weil sie die für die Untenichtsverwaltung unverzichtbaren Folgerungen aus dem Staatscharakter der Hochschule soweit begrenzt, wie es die Freiheit der Forschung und Lehre bedingt.

Österreichische Hochschulzeitung vom 1. Juli 1955, S. 2.

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Für den österreichischen Kaiserstaat hat zuletzt das Reichsgesetz vom 27. April 1873 betreffend die Organisation der akademischen Behörden im Zusammenhalt mit dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 in einer dem liberalen Zeitgeist entsprechenden Weise die Idee der staatlichen und doch zugleich freien Universität verwirklicht. Die Republik hat diese Rechtslage übernommen, jedoch durch die Verschärfung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz und eine großzügigere Handhabung des Ermessens bei der Zulassung von Bewerbern um die akademische Lehrtätigkeit personelle, namentlich parteimäßige Einengungen beseitigt oder doch gemildert. Angesichts dieser Rechtslage hat die bevorstehende Hochschulreform nicht die Aufgabe einer grundsätzlichen Erneuerung, sondern nur einer Ausdehnung der Einrichtungen der Hochschulautonomie auf alle Hochschultypen und darüber hinaus gewisser gesetzestechnischer Verbesserungen. Der Inhalt der Hochschulautonomie Hochschulautonomie ist in der österreichischen Sinngebung dieses Ausdruckes die Bezeichnung für ein Gefüge von Rechtseinrichtungen, die in ihrer Gesamtheit über den Wortsinn der Autonomie hinausgehen, nämlich die Selbstbestimmung der Hochschule unbeschadet ihres staatlichen Charakters sicherstellen wollen und mittelbar der Freiheit der Forschung und Lehre dienen. Im einzelnen werden zur Hochschulautonomie in der Regel folgende Rechtseinrichtungen gerechnet, wobei in unserem System jene Kompetenz der Hochschule an die Spitze gestellt wird, die dem ganzen Komplex der Rechtseinrichtungen den Namen gibt: a) Die Selbstgesetzgebung der Hochschule im Sinne der Aufstellung von Verhaltensregeln für die Hochschulorgane und Hochschulbenützer, in der Hauptsache also für Dozenten, Studenten und Hochschulbedienstete. Die von der Hochschule erlassenen Rechtsnormen können nur im Rahmen der formellen Staatsgesetze und etwaiger, auf Grund dieser Gesetze erlassener Verordnungen der zuständigen Bundesverwaltungsbehörden, praktisch also der Durchführungsverordnungen des Unterrichtsministeriums, ergehen. Inhaber dieser Verordnungskompetenz der Hochschule, für die nur im Rahmen der Staatsgesetze und Verordnungen Raum ist, sind die akademischen

Geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Hochschulreform

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Behörden und Institute („Zweiganstalten") der Hochschule innerhalb ihrer Wirkungskreise, Adressaten der Verordnungen sind das Hochschulpersonal und auch die hochschulfremden Benutzer der Institute. Die SelbstGesetzgebung ist also bloße Selbstverwaltung, nicht anders als die normierende Tätigkeit echter Selbstverwaltungskörper, etwa der Gemeinden. b) Die auf konkrete Angelegenheiten bezogene Geschäftsführung der akademischen Behörden; nach dem Universitätsorganisationsgesetz als Wirkungskreis der Professorenkollegien beispielsweise die Verleihung des Doktorates, die Erteilung von Gutachten über Gegenstände der von der Fakultät gepflegten Disziplinen; als Wirkungskreis der Dekane der Vorsitz in den Fakultätssitzungen, ihr Recht, Beschlüsse des Kollegiums zu sistieren; bei Gefahr im Verzuge „selbständig" an Stelle des Kollegiums „Anordnungen zu treffen"; das Recht des Akademischen Senates, Beschlüsse der Professorenkollegien zu sistieren, die Rolle als Berufungsinstanz gegenüber den Entscheidungen der Dekane und Kollegien; die den Dekanen analoge Zuständigkeit des Rektors gegenüber der Gesamtuniversität. c) Die Bestellung akademischer Behörden, namentlich des Rektors, der Dekane, der Senatoren, der Disziplinarsenate, durch Universitätsorgane. Gerade diese auffällige Zuständigkeit, die die Hochschulen mit echten, der Rechtspersönlichkeit teilhaftigen Selbstverwaltungskörpern wie Gemeinden und Berufsverbänden teilen, erklärt die Bereitschaft der Theorie und Praxis, die Hochschulen, obgleich man ihnen überwiegend bei ihrer heutigen Rechtsstellung eigene Rechtspersönlichkeit abspricht, sondern sie an der Rechtspersönlichkeit des Bundes teilnehmen läßt, doch als Träger von Selbstverwaltung zu deuten. Das Erfordernis der Bestätigung der aus der Mitte der Hochschule gewählten Amtsträger durch das Ministerium bestätigt geradezu den Eindruck der gesamten Amtsträger als solcher der Selbstverwaltung. d) Der Einfluß der Hochschulen auf die Ergänzung und Erneuerung ihres Lehrkörpers. Mit dieser Zuständigkeit wird die Tatsache anerkannt, daß die Hochschule selbst in erster Linie imstande und berufen ist, die fachliche und wohl auch die persönliche Eignung einer Person für die akademische Betreuung einer wissenschaftlichen Disziplin zu beurteilen. Die einschlägigen Zuständigkeiten sind bekanntlich das Habilitationsrecht der Hochschulen oder der Fakultäten und deren Vorschlagsrecht ßr die Ernennung von

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.A. Verwaltungsrecht

Professoren. Da die Habilitation kein unvermeidliches Durchgangsstadium zur Professur ist, besteht zwar die theoretische Möglichkeit der Ernennung eines Professors, der von der Hochschule nicht für geeignet befunden ist. Die Praxis hat allerdings die Übereinstimmung von Hochschule und Unterrichtsverwaltung zur ausnahmslosen Regel für die Ernennung eines Professors gemacht. Die Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes und Willens bringt aber die Möglichkeit mit sich, daß fachlich und charakterlich berufene Kandidaten gegenüber weniger qualifizierten, aber schmiegsameren Kandidaten den kürzeren ziehen. Die Universitätsgeschichte im deutchen Kulturraum bezeugt allerdings durch mannigfache Amtsverluste, die anpassungsfähigere Naturen meist vermieden hätten, z.B. im Revolutionsjahr 1848, ferner ab 1933 bzw. 1938, und vordem schon durch das Schicksal der „Göttinger Sieben", daß auch akademisches Bekennertum an deutschsprachigen Hochschulen seine Entfaltungsmöglichkeiten hatte, und, wollen wir hoffen, heute noch hat. e) Die Disziplinargewalt der Hochschule gegenüber den Professoren, Privatdozenten, wissenschaftlichen Hilfskräften, Angestellten und Studierenden. Gerade die gegenständliche Rechtslage in Österreich ist ein vorbildliches Zeugnis der Einsicht in die Erfordernisse einer von externen Einflüssen freien Wissenschaftspflege. Die Freiheit der Wissenschaft kann an staatlichen Hochschulen am ehesten dadurch gefährdet werden, daß die unbeirrte Vertretung einer Wissenschaft je nach den Umständen dieses Bekennermutes als Widerspruch zu Beamtenpflichten des akademischen Lehrers gedeutet wird. Die immer wiederkehrenden Kollisionen zwischen Hochschulen und Unterrichtsverwaltungen im deutschen Reich, in denen die letzteren zu disziplinaren Maßnahmen gegriffen haben, beleuchten die praktische Bedeutung der österreichischen Regelung, daß in erster Instanz eine hochschuleigene Disziplinarbehörde zu beurteilen hat, ob die Betätigung im Dienste der wissenschaftlichen Lehre und Forschung eine disziplinar zu ahndende Verletzung der Beamtenpflichten begründet habe. Es sei in diesem Zusammenhange festgestellt, daß die rechtliche Fassung der Pflichten des akademischen Lehrers und sein Diensteid auf die Tatsache Rücksicht nehmen müßten, daß er sinngemäß unmittelbar der Wissenschaft und nur mittelbar dem Staat verpflichtet ist. Im Zuge der Vorbesprechungen eines Hochschullehrerdienstrechtes, die auf dem Boden der Universität Wien in den Jahren vor 1938, auch im Rahmen einer Rektorenkonferenz, stattgefunden haben, haben meine Vorschläge Anklang gefunden, in den Professoren-

Geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Hochschulreform

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diensteid die Verpflichtung zu unbeirrbarem Dienst für die Wahrheit in Forschung und Lehre und getreue Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Hochschulautonomie ergeben, aufzunehmen.

Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechts Nach Abschluß des Staatsvertrages

Mit dem Abschluß des Staatsvertrages über die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich fällt der erste grundlegende Schritt zur Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes zeitlich nicht ganz zufällig zusammen. Der endlich wieder von jeder ausländischen Bevormundung freie Nationalrat hat am 13. Juli 1955 mit seltener Stimmeneinhelligkeit ein Bundesgesetz über die Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen zum Beschluß erhoben, das mit Beginn des Studienjahres 1955/56, also am 1. Oktober 1955 in Kraft getreten ist. Nach weiteren eingehenden Beratungen zwischen der Unterrichtsverwaltung und den zuständigen Wortführern der Hochschulen, die schon die Fassung des erledigten Hochschulorganisationsgesetzes entscheidend beeinflußt haben, soll das österreichische Gesamtparlament mit je einem Gesetz über die Hochschulstudien und über das Dienstrecht der Hochschullehrer befaßt werden, das ein deutlicher als bisher als Dienst für die Wissenschaft gekennzeichnetes besonderes Beamtenrecht in Kraft setzen soll. Das erste bereits verabschiedete Hochschulgesetz führt im Rahmen der unverändert fortgehenden formell verfassungsgesetzlichen Grundlagen der Wissenschaftspflege und des Hochschulwesens für sämtliche wissenschaftlichen Hochschulen eine einheitliche Hochschulverfassung ein, die nur für die Fachschulen durch deren Eigenart bedingte geringfügige Abwandlungen erfährt. Als Hochschulen von Wissenschaftscharakter sind wie schon bisher anerkannt: Die Universitäten in Wien (gegründet 1365), Graz und Innsbruck, die Technischen Hochschulen in Wien und Graz, die Katholisch-theologische Fakultät in Salzburg, die Montanistische Hochschule in Leoben,

Deutsche Universitätszeitung, 11. Jg. (1956), Nr. 7/8, S. 22.

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die Hochschule für Bodenkultur in Wien, die Tierärztliche Hochschule in Wien und die Hochschule für Welthandel in Wien. Die Universitäten gliedern sich wie bisher in die theologische, rechts- und staats wissenschaftliche, medizinische und philosophische Fakultät. Die gemeinsame verfassungsförmige Grundlage der wissenschaftlichen Hochschulen ist das Freiheitsrecht des Art. 17 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei"; sodann die Zuständigkeitsnorm des Verfassungsübergangsgesetzes vom 1. Oktober 1920, wonach die Angelegenheiten der Hochschulen in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache sind. Die Ordnung der gesetzmäßigen Verwaltung, wonach sich die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund von formellen Gesetzen abspielen darf, bedingt für die gesamte Tätigkeit der Hochschulen, gleichviel ob Lehr- und Forschungstätigkeit oder Hochschulverwaltung durch die Hochschule selbst, die inhaltliche Bindung durch Bundesgesetze. Das Gesetz erklärt die wissenschaftlichen Hochschulen zu Anstalten des Bundes, macht also von der ausschließlichen Bundeskompetenz im Sinne eines Bundesmonopols Gebrauch. Den Hochschulen als solchen und selbst den Fakultäten wird beschränkte Rechtsfähigkeit verliehen; ausdrücklich nur eine solche des Privatrechtes, nämlich die Fähigkeit zum Abschluß unentgeltlicher Rechtsgeschäfte unter Lebenden, die die Fakultät begünstigen, ferner die Beschlußfassung über die Annahme und Ausschlagung von Erbschaften und Vermächtnissen, schließlich die Verwendung des so gewonnenen eigenen Hochschul Vermögens. Die weitgehende Selbstbestimmung der Hochschulen in Angelegenheiten der eigenen Hoheitsverwaltung, so die Wahl der akademischen Behörden, vorbehaltlich der Bestätigung durch das Ministerium, die Beschlußfassung über die Geschäftsordnung der akademischen Behörden, über die Benützungsordnung der Hochschulinstitute, die Disziplinarhoheit der Hochschule - nach österreichischer Überlieferung nicht bloß über die Studierenden, sondern auch über die Professoren, Dozenten und das gesamte sonstige Hochschulpersonal - , dieser hier nur angedeutete überaus komplexe Inhalt der Hochschulautonomie verleiht aber der österreichischen Hochschule unausgesprochen auch die Eigenschaft einer juristischen Person des öffentlichen Rechts. In den Angelegenheiten des staatlichen Wirkungskreises der Hochschulverwaltung sind die Organe der Hochschulen - dienstrechtlich übrigens ausnahmslos Organe des Bundes - an die Weisungen des Ministeriums gebunden und endet der Rechtsmittelzug regelmäßig beim Ministerium. In ihrem - weitaus überwiegen-

Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechts

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den - autonomen Wirkungskreis werden die Hochschulen, zwar rechtlich gebunden, aber frei von Weisungen, auf Grund eigener Willensbildung ihrer Organe tätig. Sie unterliegen in diesem Bereiche bloß einer streng begrenzten Staatsaufsicht zur Wahrung der gesetzlichen Bindungen und auf Beschwerde von Parteien, die sich in ihren Rechten verletzt erachten, einer Rechtskontrolle des Verwaltungsgerichtshofes. Die bisher rein tatsächlich veranstalteten Zusammenkünfte der Hochschulrektoren zur Besprechung von Hochschulangelegenheiten werden durch die zwingende Gesetzesvorschrift rechtlich fundiert, daß sich die Rektoren sämtlicher wissenschaftlichen Hochschulen wenigstens einmal jährlich zu einer gemeinsamen Beratung zu versammeln haben. Die Beratungen der Rektorenkonferenzen über frei gewählte Gegenstände des Hochschulwesens können in Vorschläge an die Unterrichtsverwaltung münden; diese kann andererseits dem Rektorenkollegium Gutachten abverlangen. Beim Ministerium für Unterricht wird ein Akademischer Rat errichtet; in diesen entsendet die Bundesregierung, die Rektorenkonferenz und der Bundesminister für Unterricht je fünf Mitglieder für je fünf Jahre. Endlich stellt das Gesetz die akademischen Grade unter Schutz und behält die Bezeichnungen Hochschule, Universität, Fakultät, Klinik, akademisch ausschließlich den Hochschuleinrichtungen vor. Die unbefugte Verwendung der akademischen Titel und Bezeichnungen wird als Verwaltungsübertretung mit Geld bis zu 30 000 S oder mit Arrest bis zu sechs Wochen bestraft. Alle kulturell Interessierten hoffen, daß die schweren Rückschläge, die der Wirtschaftskrieg des Nationalsozialismus und der von ihm entfachte blutige Krieg mit der zwangsläufigen zehnjährigen Besetzung mit sich gebracht haben, unter der Herrschaft des neuen Gesetzes aufgeholt werden.

Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes Mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrages über die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich fällt der erste grundlegende Schritt zur Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes zeitlich zusammen. Der endlich von jeder ausländischen Bevormundung freie Nationalrat hat mit Stimmeneinhelligkeit ein Bundesgesetz über die Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen zum Beschluß erhoben, das mit Beginn des Studienjahres 1955/56 in Kraft getreten ist. Je ein Gesetz über die Hochschulstudien und über das Dienstrecht der Hochschullehrer sollen voraussichtlich die Hochschulreform vollenden. Das am 13. Juli 1955 beschlossene Hochschulgesetz führt im Rahmen der unverändert fortgeltenden verfassungsgesetzlichen Grundlagen der Wissenschaftspflege und des Hochschulwesens, besonders der Gewährleistung freier wissenschaftlicher Lehre und Forschung, für sämtliche wissenschaftlichen Hochschulen eine einheitliche Hochschulverfassung ein, die zugunsten der Fachhochschulen geringfügige Besonderheiten vorsieht. Als wissenschaftliche Hochschulen werden wie bisher anerkannt: die Universitäten in Wien (gegründet 1365), Graz und Innsbruck, die Katholisch-Theologische Fakultät in Salzburg, die Technischen Hochschulen in Wien und Graz, die Montanistische Hochschule in Leoben, die Hochschule für Bodenkultur, die Tierärztliche Hochschule und die Hochschule für Welthandel in Wien. Das Gesetz erklärt die wissenschaftlichen Hochschulen zu Anstalten des Bundes, macht also von der ausschließlichen Bundeskompetenz in Hochschulangelegenheiten im Sinne eines Bundesmonopols Gebrauch. Den Hochschulen als solchen und selbst den Fakultäten wird beschränkte

Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, 11. Jg. (1956), S. 322-323.

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Rechtsfähigkeit, im besonderen Vermögensfähigkeit, verliehen. Die weitgehende Selbstbestimmung der Hochschulen in Angelegenheiten der eigenen Hoheitsverwaltung, die Wahl der akademischen Behörden vorbehaltlich ihrer Bestätigung durch das Ministerium für Unterricht, die Beschlußfassung über die Geschäftsordnung der akademischen Behörden, über die Benützungsordnung der Hochschulinstitute, die Disziplinarhoheit der Hochschulen - nach österreichischer Überlieferung nicht bloß über die Studierenden, sondern auch über die Professoren, Dozenten, Beamten und Vertragsangestellten an den Hochschulen - sind der wesentlichste Inhalt der Hochschulautonomie. Aus den Einzelheiten des Gesetzes verdient die Gewährleistung des Anteiles der Hochschule an der Gewinnung ihrer Lehrkräfte hervorgehoben zu werden, im besonderen das Habilitationsrecht und das Vorschlagsrecht für die Ernennung von Professoren. Die Regierung und der zur Ernennung von Hochschulprofessoren zuständige Bundespräsident sind zwar an den Besetzungsvorschlag - regelmäßig ein Tema-Vorschlag - rechtlich nicht gebunden, doch sind in der Zeit der demokratischen Republik die Vorschläge ausnahmslos berücksichtigt worden. Die bisher rein tatsächlich veranstalteten Zusammenkünfte sämtlicher österreichischer Hochschulrektoren zur Besprechung von Hochschulangelegenheiten werden im Gesetz durch die Vorschrift verankert, daß sich die Rektoren sämtlicher wissenschaftlicher Hochschulen wenigstens einmal jährlich zur gemeinsamen Beratung, zur Beschlußfassung von Vorschlägen an die Unterrichtsverwaltung und zur Erstattung von abgeforderten Gutachten als sogenannte Rektorenkonferenz zu versammeln haben. Dem Bundesministerium für Unterricht wird als beratendes Organ ein Akademischer Rat beigegeben. In diesen entsendet die Bundesregierung, die Rektorenkonferenz und der Bundesminister für Unterricht (dieser hauptsächlich aus Hochschulkreisen) je fünf Mitglieder für je fünf Jahre. Endlich stellt das Gesetz die akademischen Grade unter Schutz und behält die Bezeichnungen Hochschule, Universität, Fakultät, Klinik, akademisch, ausschließlich den Hochschuleinrichtungen vor. Alle um die kulturelle Zukunft Österreichs Besorgten hoffen, daß die schweren Rückschläge, die die Folgen des ersten Weltkrieges, der Wirtschaftskrieg des Nationalsozialismus und der von ihm entfachte blutige

Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes

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Krieg mit der zwangsläufigen zehnjährigen Besetzung durch die „Befreiungsmächte" den Hochschulen zugefügt haben, unter der Herrschaft des neuen Gesetzes dank der wiedergewonnenen politischen Freiheit aufgeholt werden.

Kriegsauszeichnungen Die Frage des Tragens jener Kriegsauszeichnungen, welche durch Angehörige der österreichischen Wehrmacht seinerzeit in der Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschen Reiches erworben wurden, ist nicht eine Angelegenheit des freien Ermessens der zuständigen Kommandanten der österreichischen Wehrmacht oder anderer Organe, einschließlich des Bundespräsidenten und der Bundesregierung. Es sind vielmehr der Entscheidung dieser Frage Grenzen durch staatsrechtliche und völkerrechtliche Gegebenheiten gezogen und zu beachten. Der von der österreichischen Bundesregierung, wenngleich nicht unwidersprochen, angenommene rechtliche Standpunkt in bezug auf die Herrschaft des nationalsozialistischen Reiches in Österreich ist, daß Österreich völkerrechtswidrig okkupiert und, unbeschadet des vom nationalsozialistischen Reich geäußerten Annexionswillens, nicht der territorialen Souveränität des Deutschen Reiches unterworfen war. 1 Die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, die von den Vertretern der demokratischen politischen Parteien, namentlich von Dr. Karl Renner, Dr. Adolf Schärf und Leopold Kunschak unterzeichnet worden ist, erklärt im Artikel I I den im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungenen Anschluß für null und nichtig. Diese Erklärung ist „ex tunc" zu verstehen, d.h. der Anschluß ist als von vornherein rechtsunwirksam anzusehen. Die Folge dieses offiziell bezogenen Standpunktes ist, daß Österreich als souveräner Staat auch von 1938 bis 1945 fortbestanden hat, in dieser Zeit als „bloß" seiner Handlungsfähigkeit, aber nicht seiner Rechtsfähigkeit beraubt gewesen ist, ferner daß die Österreicher nicht Staatsbürger des nationalsozialistischen Reiches geworden sind, wofern nicht besondere Erwerbsgründe, wie etwa Vereheli-

Die österreichische Nation, 9. Jg. (1957), S. 2-3. 1

Vgl. insbesondere Alfred Verdroß, Völkerrecht, 3. Aufl.; Stephan Verosta, Die Politik der vollendeten Tatsachen, Wissenschaft und Weltbild, 1954, Heft 9/10.

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III.A. Verwaltungsrecht

chung einer Österreicherin mit einem Deutschen, eine Änderung der Staatsbürgerschaft bewirkt haben. Bei dieser Rechtslage waren die Österreicher nicht verpflichtet, in der Wehrmacht des nationalsozialistischen Reiches Wehrdienst zu leisten, sondern haben dies nur gezwungen getan. 2 Die erwähnte Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs macht auch ausdrücklich die Feststellung, daß infolge der völkerrechtswidrigen Okkupation das Deutsche Reich „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals voraussehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat". Aus diesen rechtlichen Prämissen ergeben sich nachstehende Folgerungen: 1. Die Kriegsauszeichnungen, die das nationalsozialistische Reich erteilt hat, stammen von einem ausländischen Staat; ihr Tragen im Dienst ist also bestenfalls dem Tragen ausländischer Auszeichnungen gleichzuhalten. 2. Die amtliche Ermächtigung zum Tragen dieser Auszeichnungen kann als eine Preisgabe der Rechtsauffassung gedeutet werden, daß der Anschluß und im Gefolge des Anschlusses die Teilnahme am Krieg des Deutschen Reiches Österreich völkerrechtswidrig aufgezwungen worden sei. Eine solche Deutung entzieht aber allen rechtlichen Ansprüchen, die Österreich aus der Rechtswidrigkeit des „Anschlusses" gefolgert hat und folgert, die rechtliche Grundlage. Wäre Österreich rechtswirksam ein Bestandteil des nationalsozialistischen Reiches geworden, dann wären alle Vermögensübergänge von Österreich auf das Deutsche Reich, die Österreich bisher zum Anlaß von Ersatzforderungen gemacht hat, rechtswirksam erfolgt, denn das nationalsozialistische Reich konnte sein neugewonnenes Staatsgebiet und seine neugewonnenen Untertanen für die Zwecke des nationalsozialisti-

2 Prof. Gerhard Ritter, Freiburg, der Verfasser von Biographien Luthers und Friedrich „des Großen", Vorsitzender der Vereinigung deutscher Historiker, stellt mit Beziehung auf den Hitlerkrieg fest, daß Martin Luther im Falle eines ungerechten Krieges militärischen Ungehorsam vorausgesetzt habe.

Kriegsauszeichnungen

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sehen Staates beliebig heranziehen. Insbesondere sind unter dieser rechtlichen Voraussetzung keinerlei Ansprüche aus der Beschlagnahme des Goldschatzes der Österreichischen Nationalbank, der Devisenbestände dieser Bank und österreichischer Privatpersonen, keinerlei Ansprüche aus der Einziehung des Kapitals der österreichischen Sozialversicherungsinstitute und insbesondere auch nicht aus den Kriegsschäden, einschließlich der jährlich derzeit noch mehr als eine Milliarde Schilling betragenden Leistungen der Kriegsopferfürsorge, begründet. Bei der Entscheidung über die Frage des Tragens von Kriegsauszeichnungen ist jedenfalls auf diese Konsequenz einer präjudiziellen Haltung Österreichs Rücksicht zu nehmen. Auf ein anderes Blatt gehört die Frage, ob die Auszeichnungen mit oder ohne Hakenkreuz getragen werden dürfen. Eine solche Ermächtigung würde eine zusätzliche politische Komplikation mit sich bringen, da sie als nachträgliche Gutheißung dieses nicht nur für Österreich katastrophalen Staatssymboles gedeutet werden könnte. Bedeutet eine Auszeichnung für Verdienste, die als Waffenträger Hitlers in einem jedenfalls völkerrechtswidrigen Krieg erworben worden sind, eine zweifelhafte Ehrung, zumal für einen Österreicher, der völkerrechtswidrig für diesen Krieg in Dienst genommen worden ist, so ist die Zumutung, als Bestandteil dieser Auszeichnung ein Hakenkreuz zu tragen, für einen gebildeten und daher der Tragweite dieser Geste bewußten Menschen geradezu eine Beleidigung.

Sorgen der Wissenschaft des öffentlichen Rechts Es ist kein Geheimnis, daß wichtige wissenschaftliche Disziplinen der österreichischen Rechtsfakultäten von ähnlichen Sorgen um den Nachwuchs bedrückt werden wie die Nationalökonomie, über deren Zustand Univ.-Prof. DDr. Alexander Mahr hier vor einigen Wochen berichtete. Namentlich die auch praktisch so wichtigen Fächer der Staatslehre und des Staatsrechtes, wozu auch die gesamte Theorie der Politik zu rechnen ist, sowie der Verwaltungslehre und des österreichischen Verwaltungsrechtes sind infolge der Auswirkungen der politischen Umbrüche einerseits, hochschulpolitischer Maßnahmen andererseits bloß durch eine unverhältnismäßig kleine Zahl akademischer Lehrer vertreten. Die weitere Auswirkung jener Tatsachen und Maßnahmen stellt die heutigen Lehrkanzelinhaber vor die verantwortungsschwere Frage nach geeigneten Nachfolgern aus dem Kreis der heutigen akademischen Jugend. Folgen aus Jahrzehnten Der Verfasser dieses Artikels hat schon während seiner Dekanatsführung an der Wiener Rechtsfakultät im Studienjahr 1934/35 dieser sich schon damals ankündenden Schwierigkeit bei den maßgebenden Stellen Ausdruck gegeben, und unter anderem auch auf Einladung des damaligen geschäftsführenden Chefredakteurs Dr. Ernst Molden in der „Neuen Freien Presse". Seit der Herrschaft des Nationalsozialismus, der die politisch begreiflicherweise besonders gefährdeten damaligen Vertreter der Staatslehre und des Staatsrechtes, der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes vom Boden der Wiener und zum Teil auch der anderen österreichischen Universitäten vertrieben und damit die Kontinuität der akademischen Pflege dieser Fächer unterbrochen hat, ist aber die Sorge um die künftige Verfügbarkeit geeigneter Nachfolger wesentlich verschärft worden.

Die Presse vom 31. Juli 1957, S. 6.

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I.A. Verwaltungsrecht

Die Vertreter des öffentlichen Rechtes haben nicht, wie die Nationalökonomen, lediglich zu klagen, daß die Zahl der Professuren an den wissenschaftlichen Hochschulen nicht vermehrt, sondern daß sie wesentlich unter das in der Monarchie und in der ersten Zeit der Republik systemisierte Maß verringert worden ist. An der Universität Wien ist das neben den überlieferten beiden Ordinariaten bestehende Extraordinariat eingezogen und trotz wiederholten Anträgen der Fakultät, die beim Bundesministerium für Unterricht verständnisvolle Aufnahme gefunden haben, ungeachtet des mit berechtigtem Stolz festgestellten wirtschaftlichen Aufstieges und der dadurch ermöglichten beträchtlichen Ausweitung des Bundeshaushaltes bisher nicht wiederhergestellt worden. Es sei daran erinnert, daß die einzigartige Schöpferkraft Hans Kelsens bis zu dem Zeitpunkt, als ein Ordinariat frei geworden ist, für die Universität Wien durch die Betrauung mit einem zusätzlich systemisierten Extraordinariat gesichert werden konnte. (Kelsen ist freilich schon 1931 infolge seines unfreiwilligen Ausscheidens aus dem Verfassungsgerichtshof, der seine originelle rechtspolitische Idee gewesen war, für Österreich endgültig verlorengegangen.) Auch der vielseitige Rechtslehrer Rudolf Laun konnte zunächst, ehe er einem Ruf an die Universität Hamburg folgte, durch die Betrauung mit einem Extraordinariat der Universität Wien erhalten werden. Auch im Nebenberuf zu wenige Außer diesem systemisierten Lehrkanzeln für Staats- und Verwaltungsrecht sind an der Wende von Monarchie und Republik wichtige Teilgebiete dieser ausgedehnten Disziplinen von hervorragenden Männern der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in deren Eigenschaft als Honorarprofessoren oder mit einer venia legendi ausgestatteten Titularprofessoren literarisch und durch akademische Lehrveranstaltungen betreut worden. Es seien u.a. die Senatspräsidenten des Verwaltungsgerichtshofs Friedrich Tezner und Rudolf Hermann Herrenritt sowie Carl Brockhausen genannt, der dem Amt eines Universiätskanzleidirektors durch sein jahrzehntelanges literarisches wie akademisches Wirken Glanz und Ansehen verliehen hat. In der Republik haben leider nur ganz wenige Persönlichkeiten der Verwaltungspraxis einen derartigen wissenschaftlichen Nebenberuf angestrebt und erreicht; die dieserart entstandenen Lücken im Lehrplan und in der Literatur konnten begreiflicherweise von der verringerten Zahl der hauptberuflichen akademischen Lehrer nicht ausgefüllt werden.

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Unerwartete Abgänge, wie der zu frühe Tod von Ludwig Adamovich, dem ersten österreichischen Spezialisten unseres Verfassungsrechts und Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, und die Berufung des noch jungen Grazer Staatsrechtlers Hans Spanner an eine deutsche Universität, haben den Kreis der Fachvertreter in Österreich noch weiter verengt. Hypothek aus Doppelfunktionen Es ist eine Auszeichnung, zugleich aber arbeitsmäßig eine Hypothek für unsere Fächer, daß einer der beiden Wiener Lehramtsinhaber schon traditionell dank der facheigenen theoretischen Ausbildung außer dem Lehramt das Amt eines Vizepräsidenten oder Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes bekleidet; diese Persönlichkeit wird begreiflicherweise durch diese außerakademische Funktion so beträchtlich in Anspruch genommen, daß die Verpflichtungen der Forschung und Lehre, zumal das Studium der umfangreichen ausländischen Literatur, bloß um den Preis schwerster persönlicher Opfer erfüllt werden können. Außerdem bringt das Fach für die Lehrkanzelinhaber eine überdurchschnittliche Beanspruchung für die Zwecke der akademischen Selbstverwaltung, wie Pflichtgutachten, und die Notwendigkeit mit sich, sich auch außerakademischen Kreisen für fachliche Tagesfragen, wie etwa Probleme der Staatsverträge (deutsches Eigentum usw.), ehrenamtlich zur Verfügung zu halten. Endlich ist der akademische Spielraum unserer Disziplinen dadurch unter das fachbedingte Existenzminimum gedrückt worden, daß die ehemaligen, aus der Monarchie in die Republik übernommenen Professuren für öffentliches Recht, die an der Technischen Hochschule und an der Hochschule für Bodenkultur systemisiert waren und in der für diese Hochschulen notwendigen rechtswissenschaftlichen Fachausbildung ihre Rechtfertigung hatten, eingezogen worden sind und heute nur noch von fachwissenschaftlich nicht ausgewiesenen Lehrbeauftragten wahrgenommen werden. Die hochschulpolitische Bedeutung dieser vormaligen Spezialprofessuren wird beispielsweise durch die Tatsache beleuchtet, daß sie seinerzeit von namhaften Fachmännern, wie Professor Gustav Marchet, dem Unterrichtsminister in der Regierung Max Wladimir Frhr. v. Becks und sodann von Professor Ernst v. Seidler, dem späteren Ministerpräsidenten, einem angesehenen Fachmann des Wasser- und Energierechtes, ausgeübt worden sind. Mit der Einziehung dieser Professuren ist die Chance von Universitätsdozenten des Staats- und

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I A . Verwaltungsrecht

Verwaltungsrechtes verlorengegangen, an einer dieser Fachhochschulen eine akademische Lebensstellung zu erlangen, wenn die wenigen einschlägigen Professuren an den Universitäten besetzt gewesen sind. Welche Chancen für Begabte? Die volle Qualifikation für die vier Teilfächer der staats- und verwaltungsrechtlichen Professuren bedeutet einen derartigen Zeit- und Kraftaufwand für die Anwärter des akademischen Lehramtes, daß er bei den im Inund Ausland bestehenden Berufschancen nur erwartet werden kann, wenn eine zumutbare Anwartschaft auf die Erreichung einer als Lebensgrundlage dienenden Lehrkanzel besteht. Es wäre eine aussichtslose Spekulation auf den Idealismus der akademischen Jugend, ihr ein solches Opfer zuzumuten, wenn sie nicht vor der allgemeinen Notwendigkeit gesichert ist, nach der Enttäuschung begründeter Erwartungen auf eine akademische Laufbahn mit wissenschaftlich nicht interessierten Praktikern in Konkurrenz zu treten. Die Stellung der länger dienenden Assistenten ist allerdings im Vergleich mit der Lage vor 1938, wo es habilitierte und selbst als Professoren titulierte hauptberufliche Hochschulassistenten mit einem Monatsfixum von brutto 200 öS (natürlich des damaligen Wertes) gegeben hat, dankenswerterweise wesentlich verbessert worden. Doch hat die fachlich interessierte und qualifizierte Juristengeneration von heute in der Praxis, im besonderen im Dienst der Ministerien und der Wirtschaftskammern, aber auch in der freien Wirtschaft, solche berufliche Chancen, daß sie sich nicht für einen sozusagen ziellosen akademischen Beruf festzulegen bereit ist, wenn ein ihrer wissenschaftlichen Vorbereitung entsprechendes akademisches Lehramt nur als eine unbestimmte ferne Möglichkeit winkt. Vergleichsweise darf ich anführen, daß während meines Wirkens an der Universität Tübingen zwischen den Jahren 1946 und 1950 in meinen Lehrfächern drei Doktoren der Rechte habilitationsreif geworden sind, von denen leider nur einer, Professor Joseph Kaiser, 1956 ein Ordinariat an einer deutschen Universität (Freiburg im Breisgau) erreicht hat, ein anderer, gleichbegabter, jedoch wenige Tage nach Einbringung seines wohlfundierten Habilitationsbegehrens einen plötzlichen Tod fand und ein dritter nach einem Studienaufenthalt in Amerika es vorgezogen hat, in Übersee zu bleiben.

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Gefahren des Niveauverlustes Männer der Praxis mögen der Ansicht sein, daß just diese Fächer nötigenfalls am Ende sogar besser von einem höheren Beamten und im besonderen das Völkerrecht von einem Berufsdiplomaten gelehrt werden könnten. Dabei verkennt man aber, daß ein Professor auch gerade in diesen Fächern im Urteil des kritischeren Auslandes nur durch eine seiner Lehrtätigkeit vorangehende und sie unterbauende fachwissenschaftliche Leistung, insbesondere durch im Ausland erscheinende wissenschaftliche Werke, Mitarbeit in ausländischen Fachzeitschriften, Übersetzung der eigenen Werke in Fremdsprachen, voll qualifiziert ist. Die kulturelle Wertung eines Staates geht allmählich, aber sicher verloren, wenn er selbst seine Anforderungen an die Inhaber akademischer Lehrkanzeln auf die angedeutete Weise herabschraubt.

Der Streit um den Sozialismus als Wissenschaft Gibt es ein Lehrverbot für Sozialisten an der Universität? Antwort auf einen politischen Angriff

Die „Arbeiter-Zeitung" vom 9. Februar hat in einem Aufsatz „Der Ungeist im Drimmel-Reich" einen massiven Angriff gegen die rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten der österreichischen Universitäten gerichtet. Im Grunde werden gegen die Vertreter der staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer zwei Vorwürfe erhoben: Erstens, daß sie das ihrer Forschung und Lehre anvertraute Gedankengut, soweit es der sozialistischen Ideologie zuzurechnen ist, in unsachlicher Weise vernachlässigen und verzerren. Zweitens, daß sie die lehramtliche Betätigung von Anhängern des Sozialismus auf dem Boden von Universitäten sabotieren. Solche Behauptungen kommen, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne des Wortes, einem Vorwurf des Mißbrauches der akademischen Amtsgewalt gleich. Marxismus als Prüfungsfrage Wenn mir ein persönliches Geständnis gestattet ist, so darf ich bekennen, daß ich, seitdem ich die Fächer Allgemeine Staatslehre, Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht an einer österreichischen Universität zu vertreten die Ehre habe, also seit 1921, mit der durch den Nationalsozialis-

Die Presse vom 6. März 1958, S. 8. Diesem Artikel wurde folgende Vorbemerkung vorangestellt: Vizekanzler Dr. Pittermann und die „Arbeiter-Zeitung" haben, wie berichtet, Angriffe gegen Unterrichtsminister Doktor Drimml und gegen die Universitäten wegen angeblicher Einschränkung der Lehre und Forschung auf dem Gebiet des Sozialismus und wegen Unterdrückung des sozialistisch eingestellten Nachwuchses gerichtet. Darauf erwidert im Namen der staatswissenschaftlichen Fachgruppe der Wiener Universität Professor Dr. Adolf Merkl im folgenden Aufsatz. Er betont in einem Brief an die „Presse", daß er dabei den Standpunkt der Universität und nicht den der Unterrichtsverwaltung vertrete.

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mus auferlegten Unterbrechung von 1938 bis 1950, es als meine Gewissenspflicht angesehen habe, auch die politische Theorie (die ökonomische Theorie fällt bekanntlich in das Gebiet der Wirtschaftstheoretiker) der wichtigsten Spielarten des Sozialismus, namentlich des Marxismus, und die Beziehung des Sozialismus zu den Problemen der Staatsentstehung (Klassenkampftheorie), der Staatszwecke (sozialistischer Interventionismus auf dem Gebiet des Wohlfahrtszweckes) und der Staatsformen (Demokratie und Diktatur) zu behandeln und auch immer wieder als Prüfungsfrage zu stellen. Selbstverständlich muß beider ganze Bibliotheken füllenden Literatur der Staatslehre die angedeutete Fragestellung in ein mengenmäßiges Verhältnis zu den anderen Problemen der allgemeinen Staatslehre gebracht werden. Die Beratung der Hörer in der Fachliteratur ist die besondere Aufgabe der Assistenten, die freilich in einem sehr ungleichen Ausmaß von der Studentenschaft in Anspruch genommen wird, wobei ein über den Durchschnitt hinausgehendes Interesse von Studenten aus Arbeiterkreisen nicht festgestellt werden kann. Lernfreiheit gewährleistet Der akademischen Lernfreiheit ist keine Schranke gezogen. Im besonderen werden Referate der Hörer über Theorie und geschichtliche Persönlichkeiten des Sozialismus in den einschlägigen Seminaren ohne inhaltliche Vorzensur angenommen, vorgetragen, diskutiert und objektiv gewürdigt. Insbesondere sind in meinen Seminarveranstaltungen Karl Renners politisches und literarisches Lebenswerk, ferner Otto Bauer, aber auch Vorläufer des Marxismus behandelt und auch zum Gegenstand von Dissertationen gemacht worden, jüngst von dem Wiener Sozialisten Dr. Ferdinand Maly. Nicht ein österreichischer, sondern ein griechischer Sozialist hat an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Wien das Thema „Die Verelendungstheorie des Marxismus" als Gegenstand seiner Doktordissertation gewählt. Meine wiederholt gegebene Anregung, die politische Theorie und die Nationalitätentheorie Renners zum Gegenstand einer Habilitationsschrift zu machen, hat bisher keine Früchte getragen. Sozialistische Lehrer Der Vorwurf, daß keinem Sozialisten bisher die Möglichkeit gegeben worden sei, auf akademischem Boden über Fragen des Sozialismus auf Grund einer Lehrbefugnis zu sprechen, verkennt völlig die Grundlagen des

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Universitätsrechtes, die im Jahre 1920 durch die Bundesverfassung und 1955 durch das Hochschulorganisationsgesetz auch die einhellige Zustimmung der sozialistischen Parlamentsfraktion erhalten haben. Es ist für den Rechtskundigen selbstverständlich, daß die Zulassung zur Lehrtätigkeit als Hochschuldozent der Habilitation von Seiten der Professorenkollegien und der Genehmigung der Habilitation durch das Bundesministerium für Unterricht bedarf. Noch in der Monarchie hat Karl Grünberg, ein anerkannter sozialistischer Wissenschaftler, den der Artikel der „Arbeiter-Zeitung" verschweigt, die Lehrbefugnis und später eine Professur für Wirtschaftswissenschaft erhalten und Gelegenheit gehabt, unangefochten sozialistische Theorien vorzutragen. Ähnliches gilt für Max Adler. Karl Renner ist von bürgerlicher akademischer Seite ermuntert worden, denselben Weg zu gehen, und er wäre gewiß, wenn ihn nicht die Rolle als Staatsmann davon abgehalten hätte, eine Leuchte der Rechts- und Staatswissenschaften geworden. Böhm-Bawerk und Philippovich, Bernatzik und Kelsen, die der Verfasser des fraglichen Artikels ausdrücklich als aufgeschlossene und führende (bürgerliche) Staatswissenschaftler anerkennt, wären sicherlich bereit gewesen, in voller Unbefangenheit auch jeden, dem Normalmaß der Anforderungen entsprechenden sozialistischen Wissenschaftler zu habilitieren. Doch hat zu ihrer Zeit außer Grünberg und Adler kein Bekenner des Sozialismus von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Mangelndes Interesse Dasselbe gilt aber auch für die Zeit der Republik bis 1933 und seit 1945. Die wirtschaftliche Möglichkeit wäre jetzt sicherlich leichter gegeben, indem etwa ein Kammer- oder Gewerkschaftsfunktionär für wissenschaftliche Arbeit und akademische Funktionen freigestellt würde, und es fänden sich wohl auch Persönlichkeiten von entsprechender Befähigung. Doch haben bisher offenbar das nötige Interesse und die Entschlußkraft gemangelt, sich zunächst um eine Habilitation zu bewerben, die die rechtliche Möglichkeit gibt, sich in Lehrveranstaltungen mit der ökonomischen und politischen Theorie des Sozialismus zu befassen. Es wäre eine haltlose Ausrede, daß der unvermeidliche Zeitaufwand für die wissenschaftliche Fachausbildung eine vergebliche Bemühung sei, weil ein offenes oder verstecktes Veto das Ziel nicht erreichen ließe. Mache man doch endlich die

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Probe, selbst auf die eingebildete Gefahr hin, als Märtyrer der weltanschaulichen, politischen oder wissenschaftlichen Überzeugung zu scheitern! Ein Gegenbeweis gegen die Behauptung, daß einem erklärten Sozialisten die akademische Vertretung einer Disziplin, in der der Sozialismus seine besondere Meinung hat, verschlossen sei, ist die vor wenigen Wochen bestätigte Habilitation des Sekretärs der Arbeiterkammer Linz, Dr. Strasser, der mir auf Befragen bestätigt hat, daß seiner Habilitation für Arbeitsrecht keinerlei grundsätzliche oder persönliche Schwierigkeiten begegnet sind. Es wäre also unehrlich, den Mangel von Bewerbern damit zu erklären, daß ein Anbot von dieser Seite nicht angenommen werden würde. Die Bewerber aus sogenannten bürgerlichen Kreisen sind wirtschaftlich in nachweisbaren Fällen mehr gehemmt als Angehörige aus Kreisen der Angestellten und der Arbeiterschaft. Es würden sich zweifellos im akademischen Nachwuchs auch Anhänger des Sozialismus finden, die der wissenschaftlichen und akademischen Arbeit Interesse und Können entgegenbringen. Ich möchte hoffen, daß jener Student aus Arbeiterkreisen eine Einzelerscheinung ist, der mir durch seine mit Klugheit gepaarten Kenntnisse aufgefallen war und den ich daher für wissenschaftliche Arbeiten interessieren wollte, jedoch auf die Frage, was seine regelmäßige Lektüre sei, mit naiver Ehrlichkeit gestanden hat, daß er regelmäßig nur die Sportnachrichten seiner Zeitung lese. Voraussetzung: Qualifikation Eine Bedingung müßte allerdings auch ein sozialistischer Bewerber erfüllen, um eine Lehrbefugnis als Dozent zu erreichen, nämlich die fachwissenschaftliche Qualifikation für das ganze Gebiet oder für ein größeres, selbständiges Teilgebiet eines wissenschaftlichen Faches (§13 des Hochschulorganisationsgesetzes). Die Theorie des Sozialismus wäre für sich allein ebensowenig ein zulässiges Habilitationsfach eines Staatswissenschaftlers wie etwa die Medizin des Herzens oder eines anderen Organs ein mögliches Habilitationsfach eines Mediziners wäre. Die politische Theorie des Sozialismus ist nur ein Ausschnitt der Theorie der Politik, die ihrerseits wiederum ein verhältnismäßig kleines Teilgebiet der allgemeinen Staatslehre ist. Ebensowenig wie an einer rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät die Habilitation für die Staatsauffassung des Christentums vertretbar ist, obwohl diese eine altehrwürdige Geschichte und noch wesentlich umfangreichere Literatur als die politische Theorie des Sozialismus hat, und

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desgleichen auch nicht ein Habilitationsfach der politischen Theorie des Konservativismus, Liberalismus, Nationalismus, Kommunismus und Anarchismus in Frage kommt, könnte eine Habilitation für jenes sicherlich bedeutsame Teilgebiet, das dem Verfasser des „Ungeistes im DrimmelReich" vorschwebt, rechtlich und wissenschaftlich verantwortet werden. Den mit der Lehrbefugnis für allgemeine Staatslehre ausgestatteten Dozenten steht es dann selbstverständlich zu, in einer Spezialvorlesung oder in einer Seminarveranstaltung die politische Theorie des Sozialismus zu pflegen, wobei von ihm wie von jedem anderen Akademiker vorausgesetzt werden muß, daß er dieses Teilgebiet im systematischen Zusammenhang des Gesamtlehrfaches behandelt. Um einem erklärten Sozialisten den Weg zur akademischen Pflege der Theorie des Sozialismus an einer österreichischen Universität zu eröffnen, bedarf es also nicht einer symbolischen Tat der sozialistischen Bewegung, „die Tore und die Fenster der österreichischen Hochschulen aufzustoßen und der wahren Lern- und Lehrfreiheit Raum zu schaffen", sondern bloß der Fähigkeit und des Entschlusses, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Dozentur zu erfüllen. Es ist also eine auch durch Unvertrautheit mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht entschuldbare Anmaßung, zu behaupten, daß es eine sozialistische Zukunftsaufgabe sei, die österreichischen Universitäten aus Stätten des Obskurantismus zu Stätten der Geistesfreiheit zu machen.

Naturschutz in der Steiermark Meine Damen und Herren! Liebe Gesinnungsfreunde! Die heutigen Referenten und zuletzt der Sprecher des Schlußwortes haben uns allen aus dem Herzen gesprochen. Ich bin von tiefstem Dank erfüllt, vor allem für die Veranstalter der Tagung, von Dank für das gastfreundliche Land und die gastfreundliche Stadt, von Dank für Wort und Bild, für den Rahmen, für den bezaubernden Einblick und Ausblick, den uns diese Tagung gegeben hat. Ich habe hier nur die Pflicht, auch ein Wort an die Abwesenden zu sprechen. Sehen Sie sich, an die Außenwelt gewendet, ein bißchen um und Sie finden mehr als genug Menschen, die uns, den wahren Freunden nicht nur der Heimat, sondern auch des Vaterlandes, des Volkes, das versagen, was sie uns bei tiefster Einsicht in ihre Gewissenspflicht schuldig wären. Ich habe hier vor allem bedauert, daß nicht der ganze Saal ständig gefüllt war von der Jugend und den Lehrern unseres Landes und unserer Stadt. Es gibt von jedem Fach aus Beziehungen zum Naturschutz. Ich als Lehrer des Staats- und Verwaltungsrechtes habe mir dieses Fach erwählt, um mit den mir gegebenen Mitteln der Natur zu dienen auf dem Wege des Rechtes und der Rechtswissenschaft. Ja, meine Damen und Herren, etwa ein Drittel der Wiener Rechtshörer kann ich erfassen, andere Rechtshörer gehen in andere Lehrveranstaltungen, wo sie ja immerhin auch die tatsächliche Feststellung eines Naturschutzgesetzes hören, wo sie es aber nicht mit Liebe und Sympathie, mit Begeisterung ausgesprochen hören und wo sie eben nicht dafür gewonnen werden, jene Hindernisse aus dem Wege zu räumen, denen die tätigen Naturschützer immer wieder begegnen. Immer wieder höre ich die Frage, „ja werden wir bei dieser oder jener Behörde Verständnis finden? Werden die Anträge von der Bezirkshauptmannschaft, von diesem und jenem Magistrat gewürdigt werden?" Ja, grundsätzliche Bereitschaft ist Protokoll der 5. Österreichischen Naturschutztagung, Wien 1958, S. 94-95.

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schon vorhanden, wenn man aber dann irgend etwas geben soll oder irgend jemand widersprechen soll, mit dem man sich nicht verfeinden will, wenn man auf die Stimmung der Bevölkerung unbedingt hören muß, die eben auch aus Gegnern des Naturschutzes, aus Materialisten zusammengesetzt ist, dann versagt dieser Appell. Ja, meine Damen und Herren, es ist auch der Beruf des Rechtslehrers, den Rechtshörern zum Bewußtsein zu bringen, daß auch die Natur ein Gegenstand des Schutzes des Rechtes ist, und daß sie bei ihrem Gewissen verpflichtet sind, im Beruf draußen dieser ihrer Verpflichtung zu entsprechen, als Beamter dieser und jener Behörde aufgeschlossen zu sein für die Forderungen eines Naturschutzes. Ich kann von einem beträchtlichen Stock meiner Hörer sagen, daß sie den Naturschützern in der Praxis keine Hindernisse in den Weg legen werden. Wie die Öffentlichkeit, wie die Tageszeitungen, große österreichische Tageszeitungen, unseren selbstverständlichen Forderungen gegenüber eingestellt sind, mögen Sie aus einer Leserzuschrift entnehmen, welche die Zeitung ohne jede Notiz, ohne jede Entgegnung gebracht hat und damit also ihr Einverständnis mit dieser Äußerung ausgeprochen hat. Es sagt hier der Schreiber: „Die ewig Gestrigen geistern schon wieder mit einem Volksentscheid, diesmal um die Rettung der Krimmler Wasserfälle. Drei Viertel der österreichischen Bevölkerung haben zwar zeitlebens keine Möglichkeit, die Wasserfälle zu besuchen und sie zu bewundern, aber sie sollen zu einer Entscheidung im Interesse des Fremdenverkehrs schreiten." Und nun noch der Schlußsatz dieser Zuschrift: „Die Fremden kommen doch nicht wegen der Krimmler Wasserfälle nach Österreich! Sie kommen zum Großteil, weil sie hier - trotzdem für Österreich teuren Preisen - billiger leben und einkaufen können. Handeln wir also, wie es Vernunft und Zeit verlangen: Wir brauchen immer mehr Strom, immer mehr elektrische Kraft, - sollen wir immer teure Kohle einführen müssen, während die weiße Kohle nutzlos niederstürzt?" Ich möchte nun noch in wenigen Sätzen sagen, was ich in dieser Zeitung als Erwiderung durchsetzen konnte. Wer es rückschrittlich findet, daß man Wasserfälle, die man im Ausland wie im Inlande als wahres Weltwunder einschätzt, nutzlos niederstürzen läßt, dem muß es als sinnlose Sentimentalität erscheinen, die steinernen Zeugen der Antike nutzlos in den Himmel ragen zu lassen und dafür noch Erhaltungskosten aufzuwenden, statt ihr kostbares Material etwa als Baustoff für Neubauten zu verwenden. Und angesichts der Tatsache, daß das österreichische Volk selbst nach den furchtbaren Verwüstungen durch die beiden Weltkriege mehr als ein Vier-

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zigfaches des Betrages, den der Bund für Kulturpflege verausgabt, für reine Genußgüter wie Alkohol und Tabakwaren verwendet und die beträchtlichen Devisen für die Einfuhr der erforderlichen Rohstoffe aufbringt, ist es eine Ehrenpflicht unseres Landes, die ererbten weltberühmten Prunkstücke der Natur und Kunst zu erhalten. Damit dient der Staat und seine Menschen nur im bescheidensten, aber selbstverständlichsten Ausmaße unserem Ruf und Anspruch als Kulturvolk. Meine Damen und Herren, die Menschen, die von der Begeisterung für die Natur erfaßt und besessen sind, die sind alle dieser Taten und Untaten unfähig, von denen die heutigen Tageszeitungen voll sind. Wer jemals von dieser Köstlichkeit mit innerer Begeisterung genossen hat, findet eben an diesen Scheingenüssen und diesen Entgleisungen des menschlichen Geschmackes keinen Gefallen. Meine Damen und Herren, unsere Bewegung dient mehr als der Erhaltung der Natur, sie dient auch der Erhaltung unseres Volkes und seiner moralischen Werte.

Wann erhält Österreich seinen Nationalpark? Das Land Salzburg hat das Wort

Wozu ein Nationalpark? Auf diese Frage, die nicht jeder gebildete Österreicher zu beantworten weiß, gab bereits das Naturschutzgesetz des Landes Salzburg vom 16. Mai 1929 folgende Teilantwort: „Unbeschadet des Schutzes von Naturgebilden können Gebietsflächen, von denen das Amt der Landesregierung festgestellt hat, daß sie wegen des Vorkommens von geschützten Naturgebilden oder wegen ihrer hervorragenden landschaftlichen Bedeutung erhaltungswürdig sind, mit Zustimmung derjenigen, denen die Verfügung über diese Gebiete zusteht, als Banngebiet erklärt werden." Für die Widmung einer Landschaft als Nationalpark ist im Sinne der international gebräuchlichen Begriffsbestimmung die weitere Voraussetzung zu erfüllen, daß das fragliche Gebiet durch seine naturwissenschaftliche Bedeutung und seine landschaftliche Eigenart im ganzen Staatsgebiet hervorragt und für den betreffenden Staat als repräsentativ gelten kann. Die gebräuchlichen Ausdrücke Naturschutzpark und im besonderen Nationalpark als sprachliche Kennzeichnung von Naturschutzgebieten, die gewissermaßen mit einer international gültigen Marke hervorgerufen werden soll, dürfen selbstverständlich nicht dahin mißverstanden werden, daß es sich wie bei einer Gartenanlage um eine künstliche menschliche Schöpfung handelt; im Gegenteil ist im Vergleich mit dem überwiegend technisch erschlossenen Staatsraum eine verhältnismäßig große Ursprünglichkeit der Landschaft vorauszusetzen, indem sich die menschlichen Beeinflussungen möglichst auf die Sicherung dieser Ursprünglichkeit und auf die Erhaltung von Wegen und Unterkunftsstätten

Salzburger Nachrichten vom 9. August 1958, S. 10. Etwas verkürzt wiederabgedruckt in: Naturschutzparke, Heft 17 (1960), S. 34-36.

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beschränken, die das Schutzgebiet den Naturfreunden zugänglich und insbesondere auch der ausländischen Fachwelt wissenschaftlich nutzbar machen. So macht die Marke „Nationalpark", wenn sie nicht zu Zwecken einer illegalen Konkurrenz mißbraucht wird, die fragliche Landschaft zu einer internationalen Empfehlung für den Staat, der in der Lage ist, seinen Besuchern mit Recht derart gekennzeichnete Landschaftsziele darzubieten und hiedurch zu einem zusätzlichen, Naturwissenschaftler und naturbegeisterte Laien ansprechenden Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr. Österreich ist trotz seines Reichtums an landschaftlichen Schönheiten im Vergleich mit anderen landschaftlich gesegneten Kulturstaaten in einem bedauerlichen Rückstand, der besonders fachkundigen Ausländern völlig unverständlich ist und als kulturelles Defizit geweitet wird. Naturschönheit ist nämlich ebenso wie menschliche Schönheit ein überaus empfindliches und gefährdetes Gut, das nicht bloß durch Raubbau, sondern auch durch zahllose unbedachte Eingriffe ästhetisch unkritischer Menschen alltäglich, von den Augen der Mehrzahl fast unbemerkt, vermindert und in der Gesamtschau entstellt wird. Der aufmerksame menschliche Betrachter sieht mit eigenen Augen je nach seinem Temperament mit Entrüstung oder mit Resignation, wie nicht nur durch Krieg, sondern auch durch sozusagen planvolle Friedensarbeit vormalige Naturparadiese in Zivilisationswüsten verwandelt werden. Josef Schöjfel, der vermeintliche „Retter des Wienerwaldes", würde das Ziel seiner Träume und Kämpfe in seiner trotz der Planung eines Wald- und Wiesengürtels heute verbliebenen, freilich gegenüber einem denkbaren Endstadium um jeden Preis zu verteidigenden Gestalt nicht mehr wiedererkennen. Und ebenso ergeht es wohl anderen Städtern einschließlich der Salzburger - bei liebevollem Betrachten des Weichbildes ihrer Heimatstadt. Vorbilder, Entwürfe und Probestücke Das internationale Vorbild des Nationalparkes haben die Vereinigten Staaten in einer Mehrzahl von Exemplaren geschaffen, um dem ungestümen, den Menschen und die Natur verzehrenden Vordringen der Technik unübersteigliche, großräumige Schranken zu ziehen, innerhalb deren sich die zivilisatorisch noch nicht völlig der Natur entfremdeten Menschen an oft gewaltigen Erscheinungen einer gestaltenreichen, menschlich fast völlig unberührten Natur erfreuen, erbauen und erholen können. Nach diesem

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Vorbild haben aber auch andere großräumige Staaten, namentlich die britischen Dominien, Nationalparks als Reservationen, insbesondere auch für eine von den Menschen verfolgte Tierwelt und als Lebensraum von wirklichen Urwäldern, von dem übrigen, leider fast schonungsloser Ausbeutung preisgegebenen Staatsgebiet abgegrenzt. Das staatenreiche, kleine Europa findet begreiflicherweise für Nationalparks der überseeischen Ausmaße, die den Flächenraum des Landes Salzburg in einzelnen Fällen übersteigt, bei ihrer technischen Erschließung und Bevölkerungsdichte keinen Raum. Nichtsdestoweniger haben sie auch in mittleren und kleinen Staaten Europas bei der notwendigen Beschränkung auf wenige tausend Quadratkilometer, gewissermaßen als Oasen möglichst unberührter Natur einen guten Sinn, wenn sie nicht etwa als Museen gedacht werden, in denen die restlichen Repräsentanten einer im übrigen dem technischen Fortschritt geopferten unberührten Natur, wie Wasserfälle und heute schon selten gewordene Tierund Pflanzenarten konserviert, gehegt und gepflegt werden, und auch jene Menschen - Sonderlinge in den Augen der Mehrheit - auf ihre Rechnung kommen, denen ein Baum, eine frei wachsende schöne Blume und ein frei lebendes Tier zu beobachten und zu bewundern mehr bedeutet als ein primitiver physischer Genuß. Mit Neid erinnern sich die österreichischen Naturfreunde, daß die Schweizerische Eidgenossenschaft mit Bundesbeschluß vom 3. April 1914, betreffend die Errichtung eines Schweizerischen Nationalparkes gewissermaßen vor den Toren Österreichs im Engadin unter Würdigung der gesamten europäischen Fachwelt einen Schweizerischen Nationalpark im Engadin gegründet hat, dem Österreich an Flächenumfang und Naturschönheit völlig gleichwertige Schutzgebiete zur Seite stellen könnte. Eine peinliche Mahnung an versäumte Gelegenheiten war es, als das Königreich Italien als Gegenstück zu seinem Nationalpark in den Abruzzen das Ortler-Massiv zu seinem alpinen Nationalpark erklärt hat, während die österreichischen Naturfreunde, falls dieser Gebirgsstock bei Österreich verblieben wäre, vielleicht heute noch vergeblich auf den gleichen gesetzlichen Schutz ihres mächtigsten Heimatberges warten müßten. Das Deutsche Reich hat Österreich in den vom Verein „Naturschutzpark" in Stuttgart erworbenen Grundstücken in den Hohen Tauern Salzburgs gewissermaßen ein Probestück eines freilich nicht gesetzlich als Naturschutzpark deklarierten, aber wie ein solcher fachmännisch gepflegten Schutzgebietes vor Augen gestellt und in gewissem Sinne geschenkt. Als damaliges wie jetziges Ausschußmitglied

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des genannten deutschen Vereines und ehrenamtlicher Sachwalter habe ich in einem ungefähr 40 Briefe umfassenden Schriftwechsel mit der Vereinsleitung in Stuttgart Beweise dafür, wie dieser Verein schon damals bemüht gewesen ist, nach großzügiger Aufwendung beträchtlicher Kaufsummen, und unter möglichster Hintanhaltung wirtschaftlicher Nutzung der erworbenen Liegenschaften, diese gewissermaßen als Zelle eines österreichischen Naturschutzparkes zu widmen und bereitzuhalten. In Auswirkung des Vermögensvertrages zwischen der österreichischen und deutschen Bundesrepublik wird dieser freilich durch einen im Jahr 1938 von den Reichsbahnen erzwungenen Kaufvertrag in seiner Substanz geänderte Besitz in den nächsten Wochen dem genannten deutschen Verein zurückerstattet, von diesem aber selbstverständlich auch in Zukunft als Schutzgebiet verwaltet werden, und, wie wir österreichischen sowie die deutschen Naturfreunde hoffen, einen Bestandteil des ersten österreichischen Nationalparks bilden. Der Alpenverein und die österreichischen Bundesforste waren vor 1938 bereit, ihre Besitzungen in den Hohen Tauern in einen solchen österreichischen Naturschutzpark einzuschließen. Die aktiven Vertreter des Naturschutzgedankens in Österreich waren im vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts der guten Hoffnung, daß der damals schon ausgereifte Gedanke eines Naturschutzparks vom Charakter eines Nationalparks in naher Zeit verwirklicht werde. Außer in einer Reihe von Aufsätzen der dem Naturschutzgedanken aufgeschlossenen Tagespresse habe ich als akademischer Vertreter des Naturschutzrechtes und als damaliges Mitglied des Fachbeirates für Naturschutz der österreichischen Bundesländer in den „Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereines" vom 1. Mai 1934 über das Thema „Naturschutzgebiete in Österreich" berichtet. Die politische Krise hat leider damals den ausgereiften Plan vernichtet. Es ist das Verdienst des Österreichischen Naturschutzbundes und im besonderen seines rührigen Institutes für Naturschutz, daß er im Jahre 1952 in einer fachkundigen und lebensnahen, an alle maßgeblichen Stellen versendeten Denkschrift den Gedanken der Errichtung von Naturschutzparken neuerlich aufgegriffen und der Öffentlichkeit unterbreitet hat. In der Hauptversammlung vom Dezember 1955 hat dieser österreichische Verein einhellig die Resolution beschlossen, von den zuständigen Stellen die Einrichtung eines oder zweier österreichischer Nationalparke zu fordern. Als solche kommen vorzugsweise das Kernstück der Hohen Tauern mit der GlocknerGruppe, Venediger-Gruppe und der dazwischen liegenden Granatspitzgrup-

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pe - namentlich mit den landschaftlichen Glanzpunkten des Pasterzengletschers und der Krimmler Wasserfälle und, als Gegenstück dieser hochalpinen Landschaft, der Raum des Neusiedler Sees für die Erklärung zum Nationalpark in Frage. Der Weg zum Ziel ist frei Gleich den landschaftlichen sind aber auch die rechtlichen Voraussetzungen zu den skizzierten Zielen in Österreich geradezu vorbildlich erfüllt. Schon vor dem eingangs erwähnten Naturschutzgesetz hatten die ältesten Naturschutzgesetze von Niederösterreich und Tirol und nach ihrem Vorbild alle späteren sowie die nach 1945 erneuerten österreichischen Landesgesetze mit gewissen unwesentlichen Variationen die gesetzliche Erklärung von Naturschutzgebieten vorgesehen. Um den großen Gedanken zu verwirklichen, bedarf es nur eines die vorhandenen Möglichkeiten auswertenden beherzten Beschlusses der zuständigen Landesregierungen und freilich auch eines komplementären Aktes des Bundesgesetzgebers. Eine auf Grund der landesgesetzlichen Ermächtigung ergehende Verordnung der Landesregierung müßte eine den Ansprüchen eines Nationalparks entsprechende Landschaft unter Naturschutz stellen und ein Bundesgesetz, zweckmäßigerweise ein Bundesverfassungsgesetz, dem vom Lande umschriebenen Schutzgebiet den rechtlichen Charakter eines österreichischen Nationalparkes verleihen. Die einschlägigen schweizerischen Rechtsregeln könnten mit gewissen Änderungen als Muster dienen; freilich mit dem großen Unterschiede, daß der künftige österreichische Nationalpark und seine allfälligen Nachfolger unbeschadet des Titels als österreichische Nationalparks Einrichtungen des Landes sind und bleiben. Soweit ein Nationalpark etwa über die Landesgrenzen übergreifen soll, bedarf es hiezu nur auf Grund der Handhabe des Art. 107 des B-VG einer völlig im Rahmen der Länderautonomie gelegenen Vereinbarung mit dem Nachbarland. Die im Dienste eines österreichischen Nationalparks zu leistende Arbeit legislativer und administrativer Natur ist denkbar einfach. Schwierig ist bei den österreichischen Nationaleigentümlichkeiten nur der Entschluß, an das Werk zu gehen und die eingebildeten Bedenken und Hindernisse zu überwinden. Die Einsicht, daß die Prunkstücke der heimischen Natur in dem gleichen Maße schütz- und erhaltungswürdig sind wie die Gipfelerscheinungen der bildenden Kunst, und der Ehrgeiz, dem eigenen Lande die Ehre

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des Sitzes des ersten österreichischen Nationalparkes, den das Ausland zusammen mit den aufgeklärten Österreichern schon längst erwartet, zu verschaffen, kann, sollte man meinen, genügender Antrieb zur Tat sein. Warum soll das Land Salzburg unserem Vaterland außer der ersten österreichischen Festspielstadt nicht auch den ersten österreichischen Nationalpark schenken?

Die rechtlichen und sonstigen Voraussetzungen für die Schaffung eines Nationalparkes in Österreich Rechtsgutachten über die Erklärung eines Schutzgebietes zum Österreichischen Nationalpark

Die Frage der Zuständigkeit Die Angelegenheiten des Naturschutzes fallen nach Gesetzgebung und Vollziehung nach Art. 15 Abs. 1B-VG in die Zuständigkeit der Länder. Dies gilt insbesondere auch von der Erklärung eines Naturschutzgebietes und Landschaftsschutzgebietes. Fraglich kann nur werden, ob die Bundesländer dazu zuständig sind, ein derartiges Schutzgebiet zum „Nationalpark" und im besonderen zu einem oder dem „Österreichischen Nationalpark" zu erklären. Die Zuständigkeitsverteilung des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) enthält indes keine Bestimmung, die eine derartige, zur Zeit der Erlassung des B-VG und seiner Novellen nicht aktuell gewesene Erklärung eines Nationalparkes betrifft. Falls die einseitige Erklärung eines Schutzgebietes als Nationalpark die Zuständigkeit der Länder gemäß Art. 15 Abs. 1 B-VG übersteigt, wäre daher der Weg eines Bundesverfassungsgesetzes erforderlich, um einem Nationalpark die erforderliche bundesgesetzliche Grundlage zu geben. Da es der Idee und der Bedeutung einer solchen, in den meisten Kulturstaaten der Erde bereits seit längerem bestehenden kulturellen Einrichtung widerspräche, die Entstehung des Österreichischen Nationalparks zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den Bundesländern, in denen das

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 45. Jg. (1959), S. 77-78.

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Naturschutzgebiet gelegen ist, und der Bundesregierung zu machen, empfiehlt es sich, den Entwurf der Verordnung oder - falls es aus dem besonderen Anlaß erwünscht ist - des Landesgesetzes, mittels dessen ein Bundesland die Initiative zu einem solchen Akt ergreift, der Bundesregierung mit Feststellung mitzuteilen, daß das Land im offenkundigen Dienste des Bundes und im Interesse des Ansehens der Republik Österreich eine solche Maßnahme treffen, und sie von vornherein allfälligen Verfassungsstreitigkeiten entziehen wolle. Das fragliche Bundesverfassungsgesetz

könnte etwa lauten:

§ 1. Der Bund erklärt das vom Bundesland ... mittels der Verordnung (Gesetz) geschaffene Landesnaturschutzgebiet (Landschaftsschutzgebiet), unbeschadet der verfassungsgesetzlichen Zuständigkeit der Bundesländer zur gesetzgeberischen Einrichtung und Verwaltung solcher Schutzgebiete, zum Österreichischen Nationalpark. § 2. In die vom Lande ... eingerichtete Kommission zur Verwaltung des Schutzgebietes entsendet die Bundesregierung einen Vertreter zur Wahrung der Bundesinteressen. Auch bei strengster Wahrung des föderalistischen Standpunktes bestehen gegen die im vorstehenden vorgesehene Mitwirkung des Bundes bei der gesetzlichen Erklärung eines „Österreichischen Nationalparks" und bei dessen Verwaltung keine Bedenken vom Landesstandpunkt. Der Schweizerische Nationalpark ist trotz und unbeschadet des im Schweizerischen Staatsgebäude stärker verwirklichten Föderalismus ausschließlich auf Bundesebene eingerichtet worden, steht im Eigentum der Eidgenossenschaft und wird von dieser verwaltet.

Für und wider den Nationalpark Salzburg hat gesprochen!

Die „Salzburger Nachrichten" haben am 9. August 1958 die Frage aufgeworfen: „Wann erhält Österreich seinen Nationalpark?" Diese Frage habe ich mir durch das Sprachrohr der weitverbreiteten und angesehenen Salzburger Tageszeitung an die verantwortlichen Vertreter des Landes Salzburg zu stellen erlaubt und zugleich den Nachweis versucht, daß kein Bundesland so wie Salzburg berufen ist, stellvertretend für ganz Österreich diese in unserer Heimat bisher ungelöste Kulturaufgabe zu verwirklichen. Innerhalb des Landes Salzburg liegt jene österreichische Landschaft, die, auf internationalen Verkehrswegen leicht erreichbar, nicht nur alle Schönheiten und besondere Glanzpunkte aufweist, durch die sie sich mit allen europäischen und manchen außereuropäischen Naturschutzgebieten messen kann, sondern auch derzeit noch von technischen Eingriffen in dem für einen Nationalpark unbedingt vorauszusetzenden Maße unberührt ist. Salzburg hat außerdem jene kulturelle Tradition, die dem Unternehmen innerhalb und außerhalb Österreichs das Vertrauen der öffentlichen Meinung und der wissenschaftlichen Kreise sichert und dem Lande das Recht und die Pflicht der Initiative namens des ganzen Bundesstaates zuteilt. Salzburg hat außerdem jene Eigentumsverhältnisse, durch die der Kern des Nationalparks schon seit Jahrzehnten vorgezeichnet ist, nämlich den Besitz des Alpenvereins in den Hohen Tauern, der gemäß den Zwecken dieser naturgebundenen Gemeinschaft tatsächlich seit je als Schutzgebiet behandelt wird, ferner den Besitz der Österreichischen Bundesforste, der die Garantien einer konservativen Bewirtschaftung bietet, und die zwar kleinen, aber durch den Vereinszweck vorbildlichen Grundflächen des deutschen Vereins „Natur-

Salzburger Nachrichten vom 6. April 1959, S. 1-2, 8.

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schutzpark e.V." in Stuttgart, die dem Vereine heuer zurückerstattet worden sind, aber nach den Absichten der Vereinsleitung gemäß den Vereinssatzungen geradezu ein vorbildlich verwalteter Bestandteil eines Alpen-Nationalparkes werden soll. Die tatkräftige Führung des Vereins, sein den Satzungen gemäß grundsätzlicher Ausschluß jedes Erwerbsstrebens bei der Verwaltung des Vereinsbesitzes und die Erfahrungen des Vereins bei der Betreuung des deutschen Naturschutzparkes und der Einrichtung weiterer Schutzgebiete werden hoffentlich der Lösung der österreichischen Organisationsaufgaben zugute kommen. Endlich hat Salzburg in seiner bergverbundenen Bevölkerung und in seiner vortrefflich geschulten und tatkräftig geführten Naturschutzjugend einen Stock von ehrenamtlichen Betreuern des künftigen Schutzgebietes. Last not least besitzt Salzburg in der Persönlichkeit des Herrn Landeshauptmannes einen Mann, der sich wie kein anderer österreichischer Staatsmann mit Entschiedenheit und Sachkenntnis für den Gedanken eines österreichischen Nationalparks ausgesprochen hat. Um so eher muß der Nationalpark im Lande Salzburg gelegen sein, und von hier aus zu seiner Vollendung in die benachbarte Landschaft Kärntens und womöglich auch Tirols hinüberwachsen. Schon in seiner Begrüßungsrede an den Naturschutztag in Krimml im September 1951 hat Landeshauptmann Dr. Klaus seine Bereitschaft, dem Naturschutzgedanken im Lande Salzburg eine besondere Heimstatt zu schaffen, unmißverständlich ausgesprochen. Dann hat er der Planung des österreichischen Naturschutzbundes, der 1952 die Grenzen eines Naturschutzparks im Lande Salzburg und die Grundgedanken seiner Organisation gezeichnet hat, seine grundsätzliche Zustimmung entgegengebracht. Ich verdanke dem Herrn Landeshauptmann ein Schreiben vom 22. Jänner 1953, in dem er in eingehender Erwiderung meiner auf jahrzehntelangen Vorarbeiten beruhenden Anregungen für die Schaffung eines Naturschutzparkes in den Hohen Tauern die auf denselben Gegenstand von ihm geführten bezüglichen Besprechungen in Salzburg und den Schriftwechsel mit den Ländern Kärnten und Tirol verweist und schließlich versichert, daß er sich bemühen werde, eine Plattform für eine Verwirklichung dieser Projekte zu finden. Auch zu dem eingangs genannten Beitrag in den „Salzburger Nachrichten" vom 9. August 1958 hat sich der Herr Landeshauptmann vorbehaltlos zustimmend geäußert. Nicht bloß die Schrittmacher des vor rund sechzig Jahren erstmals geplanten österreichischen Nationalparks, sondern alle heimatgebundenen

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Österreicher danken dem Landeshauptmann Salzburgs für das verpflichtende Wort, das er in seiner Ansprache auf der letzten Jahrestagung des Österreichischen Alpen Vereins im September 1958 gesprochen hat. „Österreich wird nicht lange mehr zögern dürfen, auch in seinen hohen Bergen einen Naturschutzpark zu errichten, in dem die Erhabenheit, die Schönheit unserer Berge auch für kommende Jahrzehnte und Jahrhunderte vollkommen geschützt und erhalten bleiben soll. Wahrscheinlich werden es die Hohen Tauern sein, die den ersten österreichischen Naturschutzpark beherbergen sollen." Die ehrenamtlichen Sachwalter des österreichischen Naturschutzes - zu hauptberuflichen haben, zum Unterschied von ausländischen Staaten, dem Bund und den Ländern bisher die finanziellen Mittel gefehlt - wissen aus enttäuschenden Erfahrungen, wie groß die Spannung von Wort und Tat, von Wollen und Können ist. Die beschämende Enttäuschung der österreichischen Naturbegeisterten soll nicht vergessen werden, daß nicht nur die Schweiz, sondern sogar Italien uns durch die Errichtung eines alpinen Nationalparks (im Ortler-Massiv) zuvorgekommen ist. Es war vor allem das Verdienst heimatverbundener Zeitungen und Zeitschriften, und dann der von der Naturschutzbewegung ausgesprochene Lehrerschaft aller Schultypen - leider noch lange nicht aller Schulen daß der Gedanke und die Aufgabe des Naturschutzes in unserem Volke Wurzel geschlagen haben. Heute wäre es doch kaum mehr möglich, was dem Altmeister der österreichischen Naturschutzbewegung, Günther Schlesinger, und mir bei einer Vorsprache bei einem hochgestellten Staatsmann, den wir für bestimmte gesetzliche Maßnahmen im Dienste der Natur gewinnen wollten, im Jahre 1925 widerfahren ist. Die erste, verblüffende Frage des Gesprächspartners: „Vor allem, meine Herren, wer zahlt das?", konnten wir mit bestem Gewissen dahin beantworten, daß die durch menschlichen Eigennutz gefährdeten Pflanzen, Tiere, Wasserfälle und sonstige Naturschönheiten, aber auch die Menschen, an ihnen Gefallen finden, für ihre Fürsprecher keine Honorare übrig haben, daß aber die Interessenten jedes Raubbaues jene idealistischen Fürsprecher verwünschen und mundtot machen wollen. Kürzlich schleuderte mir ein solcher Vertreter des ungehemmten Nützlichkeitsprinzips den sachlich sinnlosen - Vorwurf ins Gesicht: „Sie mit ihrem Naturschutz sind schuld, daß uns das Ungeziefer in die Gegend kommt!" Immerhin haben es die spärlichen Vertreter der österreichischen Naturschutzbewegung durch ihre von keinem Unverständnis und Übelwollen erschütterte Beharrlichkeit

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dahin gebracht, daß sie, beginnend mit den Naturschutzgesetzen der Länder Niederösterreich und Tirol im Jahre 1924, Schritt für Schritt in ganz Österreich gesetzliche Handhaben zum Schutz der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten, zum Schutz der Naturdenkmale, zum Schutz des Landschaftsbildes vor vermeidbaren Verunstaltungen und zur Einrichtung von Naturschutzgebieten durchgesetzt haben und daß diese gesetzlichen Handhaben dank der im allgemeinen verständnisvollen Anwendung durch die zuständigen Verwaltungsbehörden überwiegend ihren Zweck erfüllen. Die einschlägigen Gesetze selbst haben sogar - mit Vorbehalten, die sich aus Änderungen im Zuge der Gesetzwerdung ergeben haben - bei den Fachkreisen des Auslandes die Anerkennung als eine vorbildliche Kulturtat erfahren. Nur die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit eines Naturschutzgebietes von europäischem Format ist, zum Leidwesen der österreichischen Naturschützer und zum Befremden ihrer ausländischen Gesinnungsfreunde bisher ungenützt geblieben. Der gelegentliche Einwand, warum ausländische Vorbilder nachahmen, ist in unserem Falle angesichts der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten um vieles lächerlicher, als wenn wir uns mit der gleichen Begründung gegen ausländische Erfindungen, wie Telegraph, Telephon, Rundfunk usw., ablehnend verhalten hätten, zumal Österreich auf anderen Gebieten des Naturschutzes dem Ausland wesentliche Anregungen gegeben hat. Beachtlicher ist unstreitig der Einwand, ob es zu verantworten sei, aus ideellen Gründen der Technik und damit dem Fortschritt der Zivilisation (nicht mit Kultur zu verwechseln!) „künstliche Hemmungen" aufzurichten. Man muß sich zunächst besinnen, daß die Technik nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck eines bestimmten völkischen Lebensstiles ist. Alle technisch nutzbaren Naturerscheinungen in käufliche Gebrauchsgegenstände umzumünzen, wäre ein unvorstellbare Verarmung der Kulturnationen. Eine Leserstimme der in Wien erscheinenden „Arbeiter-Zeitung" hat z.B. im April 1952 die Auswertung der Krimmler Wasserfälle zur Gewinnung von elektrischer Energie mit der Begründung verlangt, daß es nicht zu verantworten sei, wegen des Naturgenusses einiger „Ewiggestriger" (von dem die Arbeiterschaft aus Geldgründen ausgeschlossen sei) nutzlos zu Tal brausen zu lassen. Mit der gleichen Scheinbegründung könnte man die Verwertung der Reste antiker Baukunst für Volks Wohnungen und die Veräußerung der Schätze der Gemäldegalerie zum Zwecke der unentgeltlichen Ausstattung aller Jugendlichen mit Motorfahrzeugen auf Staatskosten verlangen. Selbst

Für und wider den Nationalpark

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wenn man tatsachenwidrig annimmt, daß der Schutz von Natur- und Kunstdenkmalen ein bloßes Anliegen einer anspruchsvollen Minderheit ist, müßte sich jeder verantwortliche öffentliche Funktionär und Zeitungsschreiber vor Augen halten, daß eine Demokratie zum Bankrott verurteilt ist, wenn sie nicht die international anerkannten Werte von Eliten anerkennt und sicherstellt. In diesem Sinne hat unter anderen Vorkämpfern des Naturschutzes in Österreich auch der Verfasser dieser Zeilen seit Jahrzehnten in der Tagespresse und Fachpresse, z.B. in dem Jubelheft des Vereins Naturschutzpark 1934 unter dem Titel „Der Naturschutzpark in Österreich" oder in den Mitteilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins vom 1. Mai 1934, einen Naturschutzpark als unabweisliche kulturpolitische Aufgabe dargestellt. Ein Naturschutzpark hat die unverzichtbare kulturelle Aufgabe, Spitzenerscheinungen der heimatlichen Natur für das eigene Volk und für das Ausland unter Schutz zu stellen und mit den nötigen Sicherungen zur Schau zu stellen. Im Laufe der Jahrzehnte stehen wir freilich an einem Punkte, wo ein weiteres Zaudern die sachlichen Voraussetzungen für die Kulturtat in Frage stellt, weil die kontinuierlichen menschlichen Eingriffe das Mindestmaß an Ursprünglichkeit des Schutzgebietes bedrohen. Man beachte das warnende Beispiel der Schicksale des Wald- und Wiesengürtels von Wien. Unverantwortliche Eingriffe haben den großen Gedanken Josef Schöffeis und die organisatorische Tat Karl Luegers in einer Weise entstellt, daß die Gegenwart nur noch einen Schatten der Vergangenheit bedeutet. Die Zeit ist wirklich reif geworden. Der Nationalpark muß indes nicht in einem Wurf entstehen, er kann von einem festen Kristallisationspunkt aus in die Breite wachsen. In diesem Sinne möge das Land Salzburg noch in diesem Jahre für Österreich handeln!

Wald und Recht Das ganze Volk kommt um sein gutes Recht, wenn der Waldbestand verloren geht

Unter dem Titel „Wald und Recht" rollt die kulturpolitische Wochenschrift „Die Furche" in ihrer Ausgabe vom 13. Februar 1960 eine wirtschafts- und kulturpolitische Frage Österreichs auf, die in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden kann. Das angesehene konservative Blatt gibt hier Ausführungen eines Doktor Erich Brachmann-Nagel Raum, die mit ihrem Untertitel „250.000 Eigentümer bedürfen der Förderung" programmatisch den Standpunkt einer unabsehbar weitgehenden staatlichen Intervention mit den Methoden des Wohlfahrtsstaates zugunsten des in seiner Gesamtheit als entrechtet, verfolgt und schutzbedürftig beurteilten Waldbesitzes einnehmen, als nächstes extrem individualistisches Ziel aber den Abbau oder Ausschluß jedes forstlichen Verbotsgesetzes proklamieren. Wer, wie der Verfasser dieser Zeilen, inmitten der österreichischen Alpen aufgewachsen und im heimatlichen Forsthaus den Dienst am Wald als eine Lebensbedingung des Volkes und als soziale Pflicht erfaßt hat, darüber hinaus sogar den akademischen Beruf als Mittel der Verteidigung der heimatlichen Landschaft vor naturwidrigen Eingriffen gewählt hat (wie in des Verfassers Biographie im Rahmen der „Österreichischen Rechts- und Staatswissenschaften", Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1923, nachzulesen ist, A.d.R.), wird nicht durch den von Dr. Brachmann-Nagel erhobenen Pauschalvorwurf betroffen, die Waldbesitzer als die „eigentlichen Schuldigen der heutigen Lage" zu „geißeln", deren Tun gesetzliche Verfolgung erheische. Auch mit der weiteren Behauptung, daß durch ein forstliches Verbotsgesetz die Wunden, die Weltwirtschaftskrise, Krieg und Inve-

Salzburger Nachrichten vom 3. März 1960, S. 8.

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stitionszwang dem Wald zugefügt haben, nicht geheilt werden können, rennt der Verfasser bei Sachkundigen offene Türen ein. Ferner die Feststellung, daß „Österreichs Wald von 245.000 immerhin formellen Eigentümern bewirtschaftet wird, die wohl weniger des Knüppels, als der Förderung bedürfen", klingt freilich bereits wie der Protestruf eines doktrinären Altliberalen, der den Knüppel des Polizeistaates dem ach so toleranten und gebefreudigen Versorgungsstaat andichtet, um diesen Staat von heute mehr als bisher gegenüber dem Waldbesitz gebefreudig zu machen. Die angedeuteten Ausführungen haben mich an ein fachliches Gespräch mit den um 1935 aus Österreich nach den Vereinigten Staaten emigrierten Professor Ludwig Mises erinnert, der kurzweg jede gesetzliche Beschränkung der Verfügungsfreiheit des Waldeigentümers über sein Eigentum für ein Unding und die beliebige, willkürliche Widmung des Waldbodens für welchen Verwendungszweck immer als eine Bedingung menschlicher Freiheit und einer harmonischen Gesellschaft erklärte. Eine solche Haltung steht auf einer Linie mit der Polemik englischer Doktrinäre gegen die angebliche kontinentaleuropäische „Vielregiererei" in der Gestalt der Pflichtschule und der Armenfürsorge, die der zur Macht gelangte Liberalismus in den konstitutionellen Staaten des Kontinents, wie übrigens auch die mangels eines privaten Mäzenatentums unvermeidliche staatliche Hochschule von seinem absolutistischen Vorgänger übernommen hatte. Die vorliegende, durch ihren Ort beachtenswerte Stellungnahme aus Kreisen des Waldbesitzes zielt möglicherweise nur darauf ab, an Stelle etwaiger Verschärfungen des Forstgesetzes durch Zwangsvorschriften im Dienste der Walderhaltung Erleichterungen zu erreichen, die die bisher ohnehin großzügig geübte Toleranz gegenüber den zeitbedingten Schwierigkeiten des Waldbesitzes im neuen Forstgesetz verankern oder sogar steigern. Darüber dürfte auch die große Mehrzahl der Waldbesitzer, zumindest jener, die ihren Besitz ererbt und nicht durch Spekulationskauf erworben haben, eines Sinnes sein, daß die Grundtendenz des in bald 108jähriger Geltungsdauer im wesentlichen bewährten Forstgesetzes, nämlich die Erhaltung der Waldsubstanz, auch aus Rücksicht auf das internationale Ansehen Österreichs nicht preisgegeben werden darf. Zu diesem Ziele sind die drei im Forstgesetz des Jahres 1852 verankerten Grundpflichten des Waldeigentümers, das Verbot der eigenmächtigen Rodung, der Waldverwüstung und das Gebot der Wiederaufforstung von abgeholztem Waldgrund, unvermeidlich und unverzichtbar: für die Würdigung der Lage des einzelnen

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Waldbesitzers ist bei der Nutzanwendung dieser Gesetzesregeln auf den Einzelfall Raum. Die Annahme einer gleichen Untragbarkeit der gesetzlichen Pflichten und der verwaltungsbehördlichen Verfügungen für die Gesamtheit der 245.000 Waldeigentümer ist willkürlich: Die Besitzgröße, die forstwirtschaftliche Verfassung der einzelnen Liegenschaft, die Frage, ob und inwieweit die Waldwirtschaft in Ackerbau und Viehzucht eine Ergänzung erfährt, spielt eine entscheidende Rolle, die der Verfasser bei der Behauptung von der gleichen Förderungswürdigkeit der Gesamtheit der Waldbesitzer vernachlässigt. Einen großen Unterschied macht es auch, ob und inwieweit die Eigentümer oder deren Vorgänger die Bundessubvention im Sinne des Gesetzes vom 16. Juli 1930, betreffend außerordentliche Hilfsmaßnahmen „zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes" (BGBl. 1930,2, Nr. 220), die grundsätzlich nach der Besitzgröße innerhalb des ungewöhnlich großen Spielraums zwischen 10 und 500.000 Goldschilling abgestuft war, trotz Mangels eines gesetzlichen Verwendungsnachweises sinnvoll in ihren Grundbesitz investiert haben. Es darf schließlich nicht übersehen werden, daß die Erhaltung eines forstwirtschaftlich einwandfrei behandelten Waldes als Voraussetzung der Erhaltung der Waldsubstanz nicht eine wirklichkeitsfremde Liebhaberei von doktrinären Phantasten, sondern eine Daseinsbedingung der Waldeigentümer selbst und einer ganzen Reihe anderer Wirtschaftszweige, namentlich der Landwirtschaft, Wasserwirtschaft und Elektrizitätswirtschaft ist. Wenn in beträchtlichen Waldgebieten einzelner Bundesländer - das Land Salzburg ist in erfreulich bevorzugter Lage - an Stelle der vor dem Ersten Weltkrieg gültigen 120jährigen „Umtriebszeit" der Forstbehörden bereits Kahlschläge von 60jährigen Beständen abgerungen werden, kann man sich leicht ausrechnen, wann die „Sparkasse" des Bauernwaldes erschöpft ist und damit auch die Rolle als Investitionskapital ein Ende findet. Man kann gewiß nicht jedem Einzeleigentümer den entsagungsvollen Gemeinsinn von geistlichen Orden zumuten, die ihre Wälder nicht für eine Nachkommenschaft, sondern für die Allgemeinheit bis heute noch als bestaunte Hochwälder erhalten, deren Erlebnis für viele österreichische Landbewohner bereits zur Seltenheit geworden ist. Soll man es durch Erschöpfung des bestenfalls noch Brennholz spendenden Kleinwaldbesitzes dazu kommen lassen, daß dem konservativen Mittel- und Großgrundbesitz vorzeitige Abholzungen zugemutet werden, bis schließlich in größtem Umfang die holzverarbeitenden Menschen arbeitslos werden und in andere Berufe übergeführt werden

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müssen und Österreich aus einem Holzexport- zu einem -importland geworden ist? Ich will nicht für meinen schon 1921 veröffentlichten Aufsatz „Der bedrohte Wald" Beachtung erbitten, darf dagegen auf das „Forstprogramm zum Wiederaußau Österreichs" verweisen, das 1953 im Verlag Georg Fromme in Wien von Professor Dr. Heinrich Lorenz-Liburnau mit einem Geleitwort des damaligen Bundesministers für Land- und Forstwirtschaft Franz Thoma und mit einem überaus ernsten, die Gefahrenlage unverblümt schildernden Vorwort von Generaldirektor der österreichischen Bundesforste Ferdinand Preindl herausgegeben worden ist. Hier sprechen die berufensten Fachmänner, die sich mit den Existenzinteressen des Waldbesitzes auf Gedeih und Verderb verbunden fühlen, von den der Masse des Volkes noch nicht bewußten, doch nur noch durch strengste Selbstzucht zu überwindenden Folgen der damals bereits Jahrzehnte andauernden Überschlägerung und waldbaulichen Vernachlässigung großer Teile unserer Heimat. Das ganze Volk kommt um sein gutes Recht, wenn dem Wald ein Mindestmaß von rechtlichem Schutz versagt wird, wobei persönliche Härten solange vermieden werden mögen, als für Milde noch ein Spielraum besteht.

Über die Rechtmäßigkeit von Enteignungen ohne Entschädigung Bei der Handhabung wirtschaftspolitischer und kulturpolitischer Gesetze (zum Beispiel Forstgesetz, Wasserrechtsgesetz, Naturschutzgesetz, Denkmalschutzgesetz usw.) taucht gelgentlich das Bedenken auf, ob die gesetzlich vorgesehenen Eingriffe in das Privateigentum und andere dingliche Rechte zulässig seien, wenn nicht die geforderte oder wenigstens die als angemessen erachtete Entschädigung geboten werden kann. Diese Bedenken sind nach der gegenwärtigen Rechtslage unbegründet. Nach österreichischem Recht ist das zuständige Organ (Beamter und Behörde) selbst dann disziplinarrechtlich verpflichtet, ein Bundes- oder Landesgesetz insolange anzuwenden, als es nicht in dem verfassungsrechtlichen Überprüfungsverfahren vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben worden und die Aufhebung gemäß der behördlichen Kundmachung in Kraft getreten ist (Art. 140 Abs. 3 B-VG). Begründung § 365 ABGB bestimmt: „Wenn es das allgemeine Beste erheischt, muß ein Mitglied des Staates gegen eine angemessene Schadloshaltung selbst das vollständige Eigentum einer Sache abtreten." Diese Gesetzesbestimmung ist teilweise durch das dank dem Art. 149 B-VG von der Republik rezipierte und noch heute geltende Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. 142, abgeändert worden. Art. 5 des zitierten Gesetzes besagt: „Das Eigentum ist unverletzlich, eine Enteignung gegen den Willen des Eigentümers kann nur in den Fällen und in der Art eintreten, welche das Gesetz bestimmt." Hiemit ist die Festsetzung einer Entschädigung für eine Enteignung in das freie Belieben des zuständigen Bundes- und Landesgesetzgebers gestellt. Die zahlreichen

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 48. Jg. (1962), S. 40-41.

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einschlägigen Gesetze, die unter anderem Enteignungsmöglichkeiten für den Straßenbau, Eisenbahnbau, Bau von Elektrizitätswerken, Wasserbauten, beim Bergbau, für sanitäre und militärische Zwecke vorsehen, regeln die Entschädigungsfrage bald im positiven, bald im negativen Sinn und gelten in ihrer Mannigfaltigkeit als verfassungsmäßig. Weder Juristen noch Laien zweifeln, daß die Enteignung von Geldbesitz in Form von Abgaben, namentlich Steuern, und von Geldstrafen rechtlich gedeckt ist, obwohl diese für jeden Staat selbstverständlichen Eingriffe in das Eigentum im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger nicht einmal ausdrücklich vorbehalten sind. Um so mehr gilt es als selbstverständlich, daß die der Enteignung verwandten, aber doch begrifflich verschiedenen Eigentumsbeschränkungen, wie zum Beispiel die gesetzliche Ermächtigung von Naturschutzdenkmalen, Maßnahmen des Landschaftsschutzes, Verbot der Verfolgung geschützter Pflanzen und Tiere, auch von Seiten des Eigentümers rechtlich einwandfrei sind, obwohl solche Eigentumsbeschränkungen, die im Dienste des allgemeinen Wohles immer häufiger werden und durch eine soziale Auffassung gerechtfertigt sind, ohne irgend eine Entschädigung angeordnet werden dürfen. Moderne, in der sozialpolitischen Ära entstandene Gesetze sind gegenüber gesetzlichen Eingriffen in das Eigentum noch viel weniger bedenklich als unser der Hochblüte des Liberalismus entstammendes Staatsgrundgesetz. Die Bedürfnisse des Kultur- und Wohlfahrtsstaates setzen sich über Rücksichten der Billigkeit gegenüber dem Eigentümer immer häufiger durch.

Grundzüge des österreichischen Hochschulrechtes1 I. Geschichtliche, geistige und rechtliche Grundlagen der wissenschaftlichen Hochschulen Der Zerfall des österreichischen Kaiserstaates und die Gründung der Republik Österreich hat am 30. Oktober 1918 von den rund 52 Millionen Bewohnern der Staatenunion der österreichisch-ungarischen Monarchie rund 6,6 Millionen in einem neuen Nachfolgestaat geeint. Die Begleitumstände dieses Unterganges des bisherigen Staates Österreich und der Gründung eines neuen Staates Österreich durch und für etwa ein Achtel der Einwohner der beiden Staaten Österreich und Ungarn haben die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlagen der österreichischen Hoch-

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 12 NF (1962), S. 277-331. 1 Da sich die Fortführung der Hochschulreform wegen parteipolitischer Gegensätze über das Hochschulstudiengesetz übermäßig verzögert, wird im vorliegenden Bericht vorläufig bloß das Hochschulorganisationsgesetz (HOG) behandelt. Grundlegende Ausführungen und Bezugnahmen auf das Hochschulstudienrecht wurden ausgeschieden. An Schriften zum Gegenstand wurden berücksichtigt: Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 13. Aufl., S. 568 ff., Erläuterung des Art. 142 Bornhak, Conrad, Die Korporationsverfassung der Universitäten, Berlin 1910. Festgabe zur 100jährigen Jubelfeier der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885 Ermacora, Felix, Österreichisches Hochschulrecht, Wien 1956. (Der wertvollste Behelf zur Einführung in das österreichische Hochschulrecht.) Flexner, Abraham, Die Universitäten in Amerika, England, Deutschland, Berlin 1932 Horn, E. Akademische Lehrfreiheit, 1905 Kahl, Wilhelm/Meinecke, Friedrich und Gustav Radbruch, Die deutschen Universitäten und der heutige Staat, Tübingen 1926 Kaufmann, Georg, Geschichte der deutschen Universitäten, Stuttgart 1888 Ders., Die Lehrfreiheit an den deutschen Universitäten im 19. Jhdt., 1898 König, René, Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935 Köttgen, Arnold, Deutsches Hochschulrecht, Berlin 1933 Lemayer, Carl, Die Verwaltung der österreichischen Hochschulen von 1868-1977, Wien 1878

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schulen gänzlich verändert, besonders den Mittelstand, aus dem sich zum weitaus überwiegenden Teil Lehrerschaft und Hörerschaft der Hochschulen zusammengesetzt hatten, in seiner großen Mehrheit sozial entrechtet und wirtschaftlich enteignet. Die Rechtsform der Hochschule, die Gestalt der freien Staatsuniversität, die durch die konstitutionell-monarchische Verfassung vom 21. Dezember 1867 ihr Gepräge erhalten hatte, konnte dagegen von der demokratischen Republik mitsamt dem größten Teil des sonstigen Rechtsstoffes der Monarchie fast unverändert - mit der Umbenennung der Hochschulen in „deutsche Lehr- und Forschungsanstalten" - rezipiert und bis zur Besetzung Österreichs durch das nationalsozialistische deutsche Reich in Wirksamkeit belassen werden. Im Umbruchsjahr 1945 war mit der Notwendigkeit des Abbaues des wesenhaft nationalsozialistischen Gedan-

Lentze, Hans, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Kommisionsverlag Hermann Böhlaus Nachf., Graz 1962 Mangoldt, Wilhelm v., Das Bonner Grundgesetz, 1953 Meister, Richard, Die Lehr- und Lernfreiheit nach der Thunschen Hochschulreform und nach dem Hochschulorganisationsgesetz. Anzeiger der phil. hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1957 Merkl, Adolf, Geistesgeschichtliche Voraussetzungen der Hochschulreform, Österr. Hochschulzeitung, 1955 Ders., Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes, Universitas, Stuttgart, Heft 3/1956 Ders., Die Erneuerung des österreichischen Hochschulrechtes nach Abschluß des Staatsvertrages, Deutsche Universitätszeitung, Göttingen, Heft 7/8,1956 Mischler, Ernst, Universitäten, Österr. Staatswörterbuch Mischler-Ulbrich, 2. Aufl., 1909, 4. Bd., S. 650 Müller, Max, Die Lehr- und Lernfreiheit, 1911 Nipperdey, Hans Carl, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Kommentar zum 2. Teil der Reichsverfassung, Berlin 1930,2. Bd., Art. 142, Satz 1, Die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst, S. 449 ff., erläutert von Kitzinger Paulsen, Friedrich, Die akademische Lehrfreiheit und ihre Grenzen, Pr.J.B., 1898, S. 515 ff Ders., Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902 Pfeifer, Helfried, Das neue Hochschulorganisationsgesetz, „Die Aula", 1955, Folge 12 Schmidt, Walter A.E., Die Freiheit der Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte und Auslegung des Art. 142 der Reichsverfassung, Berlin 1929 Thieme, Werner, Deutsches Hochschulrecht, Berlin-Köln 1956 Thoma, Richard, Die Lehrfreiheit der Hochschullehrer und ihre Begrenzung durch das Bonner Grundgesetz, Tübingen 1952 Weber, Werner, Die Rechtsstellung des deutschen Hochschullehrers, Göttingen 1952 Wehrhahn, Herbert, Lehrfreiheit und Verfassungstreue; Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Nr. 183/184, Tübingen 1955 Wölff, Hans I., Die Rechtsgestalt der Universität; Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 52, Köln 1956

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kengutes, das 1933 die deutschen und 1938 die österreichischen Hochschulen stark beeinflußt hatte, und der Unmöglichkeit des Rückgriffes auf die österreichische Rechtslage der Jahre 1933 bis 1938, die dem obrigkeitlichen Zeitgeist Zugeständnisse gemacht hatte, eine allgemeine Reform der Hochschulen sicherlich viel näher gelegen als 1918, jedoch im Zustand der neuerlichen Besetzung durch die „Befreiungsmächte" ebenfalls nicht angezeigt. Was man als ersten Schritt zu einer Hochschulreform bezeichnen kann, hat sich daher im Jahre 1945 mit gutem Grunde auf einige Übergangsmaßnahmen beschränkt. Die letzte große Gesetzgebungsaktion auf dem Gebiet des österreichischen Hochschulwesens reicht in das Jahr 1873 zurück. Das im wesentlichen bis 1955 unveränderte Gesetz über die Einrichtung der akademischen Behörden vom 27.4.1873 steht noch mit dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867 im ursächlichen Zusammenhang. Es hat die Bedeutung der organisatorischen Grundlegung der Universitäten im Sinne der staatsgrundgesetzlichen Ordnung der wissenschaftlichen Lehre und Forschung. Als im ständisch-autoritären Staat sowohl von der Unterrichtsverwaltung als auch von den Hochschulen erstmals eine tiefergreifende gesetzgeberische Neuordnung des Hochschulwesens erwogen worden ist, handelte es sich den Sachwaltern der Hochschule um eine unter den geänderten verfassungsrechtlichen Verhältnissen für wünschenswert erachtete gesetzgeberische Sicherung der überlieferten Hochschulverfassung und eine gewisse Modernisierung des gesetzestechnisch nicht sehr glücklichen Universitätsorganisationsgesetzes sowie eine Kodifikation des Hochschullehrerdienstrechtes. Mit den Richtlinien dieser Gesetzgebungsakte haben sich sowohl die drei Universitäten als auch die Rektorenkonferenz befaßt, doch ist es verständlicherweise nicht zu einer Neukodifikation gekommen, weil die zunehmende politische Krise unseres Staates die Bereitschaft zu größeren kulturpolitischen Gesetzgebungsaktionen begreiflicherweise schließlich bis zu völliger Passivität herabgemindert hat. Die Hochschulen waren zufrieden und der Hochschulverwaltung im Grunde dankbar, daß die Staatsführung von der in gewissen Kreisen zunächst besorgten Nachahmung des deutschen nationalsozialistischen Beispiels auf dem Gebiete der Hochschulen unterlassen hat. Nach der Beseitigung der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs ist man begreiflicherweise zunächst im wesentlichen auf dem Gebiet des Hochschulwesens zu dem Zustand zurückgekehrt, der in Österreich bis zum Jahr 1938 geherrscht hatte.

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Anwendungsbereich des vom HOG im Jahre 1955 geschaffenen Hochschulrechtes sind die wissenschaftlichen Hochschulen. § 6 zählt in seiner ursprünglichen Fassung erschöpfend als solche auf: die Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck, die Katholisch-theologische Fakultät in Salzburg, die Technischen Hochschulen in Wien und Graz, die Montanistische Hochschule in Leoben, die Hochschule für Bodenkultur in Wien, die tierärztliche Hochschule in Wien, die Hochschule für Welthandel in Wien. Eine Änderung dieser Liste bedingt eine Gesetzesnovelle. Eine solche hat der Nationalrat am 19. Juli 1962 unter BGBl. Nr. 188 beschlossen. Hiermit vermehren sich die wissenschaftlichen Hochschulen um eine Universität in Salzburg und eine Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz. Dieser vom Bundes- und Länderstandpunkt bedeutsame Ausbau des Systems der Hochschulen wurde erst durch die hochschulpolitischen Entscheidungen des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 ermöglicht, das entgegen partikularistischen Entwürfen die Bundeskompetenz festgelegt hat, und des Hochschulorganisationsgesetzes 1955, das für alle Hochschultypen eine im wesentlichen gleiche Rahmenordnung festlegt. Die Neuschöpfung von Hochschulen verpflichtet aber auch zu personeller und funktioneller Wettbewerbsfähigkeit mit den artgleichen Hochschulen des deutschsprachigen Auslandes.2 Sämtlichen wissenschaftlichen Hochschulen wird derselbe Leistungsauftrag erteilt, wodurch sich erst der Charakter als wissenschaftliche Hochschule erfüllt: Hochschulen zur Pflege und zum Unterricht von Künsten (Musik und darstellende Kunst) sind nicht wissenschaftliche Hochschulen, die begriffsnotwendig der Pflege von wissenschaftlichen Disziplinen dienen. Akademien, z.B. die sogenannten Verwaltungsakademien und „Volkshochschulen", dienen zwar meist ihrer Satzung gemäß der Lehre, jedoch nicht notwendig der Forschung im Bereich der Wissenschaft, erfüllen aber durch ihre Lehrmethoden und durch ihre Lehrkräfte, für die nicht grundsätz-

2 Eine naheliegende Gelegenheit ist durch rein politische und völlig unsoziale Subventionsmaßnahmen leider versäumt worden, z.B. die Verordnung der Bundesregierung vom 9. Oktober 1930, betreifend Richtlinien über die Art und den Umfang der außerordentlichen Maßnahme zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes. Ein Zehntel dieser nach Maßgabe der Besitzgröße zur freien Verwendung ausgeschütteten Beträge hätte nach Meinung von Patrioten genügt, die heutigen der kulturellen Geltung der beiden Bundesländer und Österreichs dienenden Maßnahmen zu treffen.

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lieh ein wissenschaftlicher Bildungsgang vorausgesetzt wird, nicht den Charakter von wissenschaftlichen Hochschulen.3 „Die Hochschulen dienen der wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Die wissenschaftliche Lehre umfaßt insbesondere auch die wissenschaftliche Berufsausbildung, die Vermittlung einer höheren Allgemeinbildung und die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses" (§ 1 Abs. 2). Außer zwei allgemeinen werden also den Hochschulen auch drei besondere Aufgaben erteilt, und zwar im Sinne einer Ermächtigung, durch die dem Hochschulbetrieb die nach Art. 18 Abs. 1 B-VG erforderliche formell-gesetzliche Grundlage verliehen wird, aber auch einer Verpflichtung der mit einem wissenschaftlichen Wirkungskreis betrauten Hochschulorgane. Der wissenschaftlichen Lehre werden ausdrücklich drei besondere Ziele gesetzt: Die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse darf sich nicht in der Übertragung des Wissensstoffes vom Lehrer auf den Lernenden erschöpfen, sondern hat auch darauf Bedacht zu nehmen, daß der Lernende die gewonnenen Kenntnisse für einen theoretischen und praktischen Beruf verwerten kann und soll. Die wissenschaftliche Lehre darf sich auch nicht in der Vermittlung von Einzelkenntnissen einer bestimmten Disziplin erschöpfen, sondern hat eine über die Aufgaben einer Mittelschule hinausgehende Allgemeinbildung anzustreben und zu diesem Zwecke die wissenschaftlichen Disziplinen als Teilbereiche einer allgemeineren wissenschaftlichen Bildung zu pflegen, wodurch auch der Rückgriff auf die Grundlagen- und die Nachbarwissenschaften der einzelnen Disziplinen in einem gewissen Maß gefordert und gerechtfertigt wird. Schließlich hat die wissenschaftliche Lehre um die Heranbildung künftiger Diener der wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Sinne einer eigenständigen Regeneration der wissenschaftlichen Hochschulen bemüht zu sein. Eine nichtwissenschaftliche Aufgabe der wissenschaftlichen Hochschule ist ihre Mitwirkung an der eigenen Verwaltung (§ 2 HOG). Die hienach den Hochschulen übertragenen Angelegenheiten gliedert das Gesetz in einen staatlichen und einen übertragenen Wirkungsbereich. Beide Wirkungskreise sind freilich als Staatsaufgaben zu erkennen, doch sind sie nach abwei-

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Eine zwölfjährige Lehrtätigkeit an der Volkshochschule Volksheim in Wien war mir freilich durch den Umgang mit wißbegierigen Hörern ein unschätzbarer moralischer Gewinn.

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chenden Vorschriften zu besorgen. Im staatlichen Wirkungskreis sind die Organe der Hochschulen an ministerielle Weisungen gebunden, im autonomen Wirkungskreis zwar - gemäß der auch hier maßgeblichen Vorschrift des Art. 18 Abs. 1B-VG (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) an die geltenden Rechtsvorschriften, jedoch frei von Weisungen, die außerhalb der Hochschulorganisation ihren Ursprung haben, da auch im Verhältnis zwischen höheren und niedrigeren Hochschulorganen die Weisungsbefugnis im Sinne des Art. 20 B-VG gilt. § 3 HOG begründet eine Rechtsvermutung für den staatlichen Wirkungskreis und bringt eine taxative Aufzählung der Agenden des übertragenen Wirkungskreises. In den Angelegenheiten des staatlichen Wirkungskreises endet der administrative Instanzenzug im Zweifel beim Ministerium für Unterricht, in den Angelegenheiten des autonomen Wirkungskreises bei der gesetzlich berufenen obersten akademischen Behörde. § 5 HOG normiert ein verhältnismäßig weitgehendes ministerielles Aufsichtsrecht. Außer der Pflicht der spontanen Vorlage von Verhandlungsschriften besteht die Pflicht zur Vorlage von Akten gemäß besonderer Weisung, zur Auskunftserteilung und zu Anstellung aufgetragener Erhebungen. Schließlich kann das Ministerium die Ausführung von Beschlüssen der akademischen Behörden, soweit diese nicht ohnedies seiner Genehmigung bedürfen, in Ausübung des Aufsichtsrechtes einstellen, wenn sie mit bestehenden Vorschriften in Widerspruch stehen. Die zuständigen akademischen Behörden sind in einem solchen Fall verhalten, den der Rechtsanschauung des Ministeriums entsprechenden Zustand unverzüglich mit den ihnen rechtlich zu Gebote stehenden Mitteln herzustellen. Der bisherige Widerhall der österreichischen Hochschulreform im Ausland ist schon in Anbetracht des bescheidenen Umfanges der einschlägigen Ausführungen, die freilich kaum erschöpfend erfaßt werden können, überwiegend bloß referierend, nur bei Prof. DDr. Hans Gerber, Freiburg i.Br., in seinen Aufsätzen über das neue österreichische Hochschulorganisationsgesetz4 in einzelnen Teilen ziemlich kritisch. Die Bedenken richten sich einerseits gegen die vermeintliche oder wirkliche Unklarheit gewisser Stellen des Gesetzes, andererseits gegen zu starke Beschränkungen der Freiheit der Wissenschaft und der Autonomie, namentlich infolge zu weitgehender Eingriffsmöglichkeiten der Unterrichtsverwaltung. Die österreichische

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Deutsches Verwaltungsblatt, 20. Jg., 1955, S. 767 ff., 807 ff.

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Ordnung bleibe in mehreren wesentlichen Punkten „auf einem Standpunkt stehen, der von den Hochschulen der Bundesrepublik als unvereinbar mit der Wissenschaftsfreiheit bezeichnet wird". Die taktvolle Handhabung des Aufsichtsrechtes hat m.W. freilich solchen Bedenken nicht Recht gegeben. Das neue Hochschulrecht geht auf zwei Wurzeln zurück: Die Hochschulautonomie ist eine teilweise Rezeption der Korporationsverfassung der Universitäten, die der mittelalterliche und neuzeitliche Ständestaat verwirklicht hatte. Die verfassungsrechtliche Gestaltung des privaten und namentlich amtlichen Wissenschaftsbetriebes ist dagegen die Nutzanwendung von liberalen Gedanken auf die wissenschaftliche Lehre und Forschung. Die diesen Wurzeln kongenialen Rechtseinrichtungen sind im 19. Jahrhundert eine Symbiose eingegangen, welche den rechtlichen Charakter der österreichischen Hochschulen bis heute kennzeichnet. Eine große und lange Geschichte hat auf österreichischem Boden die sogenannte Hochschulautonomie aufzuweisen. Unter dem Titel der Hochschulautonomie werden in der Regel mehrere Rechtseinrichtungen zusammengefaßt, die in ihrer Gesamtheit nur einen bescheidenen Rest der im Mittelalter und an der Schwelle der Neuzeit herrschend gewesenen Korporationsverfassung darstellen. Zur Hochschulautonomie werden im einzelnen gerechnet: die Zuständigkeit der Hochschulen zur Verwaltung von Hochschulangelegenheiten durch selbstgewählte, wenngleich der staatlichen Bestätigung bedürftige Organe, namentlich den Rektor und die Dekane, den Akademischen Senat und gewisse andere Kollegialorgane, namentlich die Disziplinarausschüsse, jedoch nicht uneingeschränkt die Professorenkollegien; die Zuständigkeit der Hochschulen zur Selbstergänzung ihrer wissenschaftlichen Lehrkräfte, und zwar einerseits das Habilitationsrecht, andererseits das Recht für die Besetzung von Lehrkanzeln Vorschläge an die Unterrichtsverwaltung zu erstatten; die Disziplinargewalt über die Hochschüler, aber auch noch immer zum Unterschied vom heutigen Deutschland über die Hochschullehrer, die Hochschulbeamten und -angestellten. Ein unkritischer Sprachgebrauch rechnet zur Hochschulautonomie auch eine rechtliche Sonderstellung des sogenannten akademischen Bodens, nämlich die Einrichtung, daß sogenannter akademischer Boden von den zuständigen staatlichen Organen nur mit Zustimmung von hochschuleigenen Organen, insbesondere des Rektors, betreten und zum Schauplatz von Amtshandlungen gemacht werden dürfe. Im engsten Sinn des Wortes bedeutet Hoch-

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schulautonomie das Recht von Hochschulorganen, innheralb der staatlichen Gesetze sowohl im allgemeinen als auch im Einzelfall Anordnungen über die Erfüllung der Hochschulaufgaben zu treffen. Diese Zuständigkeit ist gewissermaßen als Kern der im weiteren Sinne sogenannten Hochschulautonomie noch erhalten geblieben, durch die Ausführlichkeit der staatlichen Regelungen des Hochschulwesens jedoch um einen guten Teil ihres Inhaltes und ihrer Bedeutung gekommen. Der Sprachsinn des Begriffes der Hochschulautonomie wird überschritten, wenn man in sie auch die Zuständigkeit weniger der Hochschule als solcher als vielmehr ihrer einzelnen wissenschaftlichen Lehrer verlegt, nach bestem Wissen und Gewissen der Aufgabe der wissenschaftlichen Lehre zu obliegen. Richtiger wird diese Zuständigkeit als ein Ausfluß der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Lehrfreiheit gedeutet. Sämtliche genannten Einrichtungen, die als Summe die Hochschulautonomie im weiteren Sinne des Wortes ergeben, sind aber nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck im Dienste der freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre. Sie sollen nämlich gewährleisten, daß die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft innerhalb der Forschung und der Lehre zum Durchbruch komme und weder durch Einflüsse von außen noch durch die Haltung der Hochschullehrer selbst getrübt werde. Weder die Hochschulautonomie noch die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung sind Privilegien bestimmter Personen oder eines bestimmten Standes, der privaten oder beamteten Wissenschafter, sondern sind rechtstechnische Mittel, die reine Erkenntnis der Wahrheit, soweit dies unter Menschen und mit menschlichen Mitteln erreichbar ist, sicherzustellen. Dieser Sicherung der Wissenschaft dient mehr als alle anderen Einrichtungen der Autonomie die Selbstergänzung des Kreises der Hochschullehrer durch das Habilitationsrecht und durch das Vorschlagsrecht. Das Habilitationsrecht insofern, als es den Zutritt zur wissenschaftlichen Lehrtätigkeit von der Initiative und ausschließenden Entscheidung bestimmter Kreise der Hochschullehrer in der Erwägung abhängig macht, daß nur der beamtete Fachmann erkennen kann, ob eine bestimmte Person die sachliche Befähigung für die Vertretung einer wissenschaftlichen Disziplin an der Hochschule besitzt. Das Vorschlagsrecht für die Ernennung von beamteten Hochschullehrern ist freilich nicht in derselben Weise wie das Habilitationsrecht wirksam, wenn und insolange der Vorschlag für die Hochschulbehörde nicht bindend ist. Wenn sie sich an einen rechtlich bindenden Vorschlag hält, d.h. die Auslese im Rahmen des Vorschlages vornimmt, ist das Vorschlagsrecht

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allerdings eine ebenso wirksame Gewähr in der Richtung, daß nur eine von den Fachmännern für geeignet gehaltene Person das Lehramt erhält. Das aristokratische Ausleseprinzip ist im demorkatischen Staat regelmäßig das einzige in seiner Art und als solche Ausnahme durch die Sonderaufgabe im Dienste der Pflege der Wissenschaft gerechtfertigt. Die anderen Zuständigkeiten der Hochschulen und im besonderen bestimmter Hochschulbehörden, die aus Angehörigen der Hochschule zusammengesetzt sind oder wenigstens der Leitung von Hochschullehrern unterstehen, haben nur eine Hilfsstellung im Dienste der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zu erfüllen. Durch die überlieferte Einrichtung der Hochschulbehörden werden immerhin mögliche unsachliche Einflüsse auf den Wissenschaftsbetrieb hintangehalten. Die Eignung dieser organisatorischen Einrichtungen im Dienste der Wissenschaft hängt offenbar von der Beziehung dieser Verwaltungsstellen zur staatlichen Unterrichtsverwaltung ab. Die Endgültigkeit ihrer Amtshandlungen je nach der Gestaltung des Rechtsmittelzuges lassen diese Hochschulorgane als unabhängige Repräsentanten der Hochschulaufgaben oder als bis in den Hochschulbetrieb hinein verlängerten Arm des Staates erscheinen. Im Dienst des eigenständigen Wissenschaftsbetriebes ist das selbständige Satzungsrecht der Hochschule bzw. ihrer eigenen Organe das wichtigste Mittel der akademischen Selbstbestimmung, weil es einen Rechtszug zu hochschulfremden Stellen, namentlich zu vorgesetzten staatlichen Aufsichtsbehörden der Natur der Sache nach ausschließt. Die Disziplinargewalt der Hochschule über Hochschullehrer, über sonstiges Personal der Hochschule und die Hochschüler ist zwar nur ein bescheidener Rest der vor hunderten Jahren weitgespannten akademischen Gerichtsbarkeit; aber auch in dem beschränkten Umfang einer Rechtskontrolle gegenüber hochschuleigenen Organen ist sie eine wirksame und wenigstens prophylaktische Sicherung dafür, daß nicht durch hochschulfremde Einflüsse die Eigengesetzlichkeit der Lehre und Forschung getrübt wird. Die Disziplinargewalt der Hochschule macht die für die Regel der Fälle tragbare Bindung von Verwaltungsorganen an gesetzwidrige Weisungen gemäß Art. 20 B-VG hochschulpolitisch tragbar, da der allfällige Mißbrauch des Weisungsrechtes zum Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft und Lehre dank der Zuständigkeit einer akademischen Stelle zur Ausübung der Disziplinargewalt durch die Annahme unschädlich gemacht werden kann, daß die Weisung von einem unzuständigen Organ erteilt worden und daher unverbindlich sei.

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I A . Verwaltungsrecht

Der sogenannte Schutz des akademischen Bodens vor dem Zugriff von Außenseitern, nämlich nichtakademischen Behörden, steht sicherlich zu der Freiheit der Wissenschaft im losesten Zusammenhang und entspricht eigentlich nur einem begreiflichen Prestigebedürfnis. Die Frage des Hochschulstudiums von Frauen war auch unter der Herrschaft des Grundrechtes der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 2 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867, RGBl. 142) im Sinne des ausschließlichen Vorbehaltes der Hochschulen für das männliche Geschlecht - eines Vorbehaltes nicht bloß für die Lehrer, sondern auch für die Hörer - , geregelt. Den ersten Versuch der Eröffnung der Hochschule für weibliche Hörer trat ein grundsätzlicher Erlaß des k.k. Ministeriums für Kultur und Unterricht vom 2. September 1873 mit der Feststellung entgegen: „Die Zulassung von Frauen zu dem akademischen Studium kann im Geiste der bestehenden Normen nicht gestattet werden, da es ein durchgehender Grundsatz unseres Unterrichtswesens ist, daß wenigstens der höhere Unterricht unter Trennung der beiden Geschlechter erteilt wird. Hienach kann weder eine eigentliche Immatrikulation weiblicher Studierender noch eine allgemeine Zulassung derselben zu den für die männlichen Studierenden bestimmten Collegien vorkommen." Ein im Jahre 1895 vom Ministerium eingeholtes Gutachten der Akademischen Senate österreichischer Universitäten besagt: „Eine Änderung des scientifischen und disciplinaren Charakters der Universität aber zu Ungunsten der Männer und zu Gunsten der Frauen, namentlich einiger, im besten Falle lediglich neugieriger und solcher, welche, den ihnen durch Natur und Sitte angewiesenen Wirkungskreis verkennend, darüber hinaus in den Kreis der Männer störend einzutreten beabsichtigen, kann weder im Interesse der Wissenschaft noch einer selbst fortschrittlichen sozialen Ordnung liegen. Die Universität ist heute noch und wohl für lange hinaus wesentlich eine Vorschule für die verschiedenen Berufszweige des männlichen Geschlechtes, und so lange die Gesellschaft, was ein günstiges Geschick verhüten möge, die Frauen nicht als Priester, Richter, Advokaten, Ärzte, Lehrer, Feldherren, Krieger aufzunehmen das Bedürfnis hat, das heißt, so lange der Schwerpunkt der Leitung der sozialen Ordnung noch in dem männlichen Geschlechte ruht, liegt auch keinerlei Nötigung vor, den Frauen an der Universität ein Terrain einzuräumen, welches in den weiteren Folgen un-

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möglich zu begrenzen wäre." Nicht durch eine Änderung des Textes, sondern der Auslegung des Gesetzes sind die Hochschulen dem weiblichen Geschlecht eröffnet worden. Art. 7 B-VG hat diese Auslegung legitimiert, indem er Vorrechte des Geschlechtes von Bundesbürgern ausschließt. Aufgabe der im Zuge befindlichen Hochschulreform ist - nach der im wesentlichen bereits im Jahr 1945 gelungenen Ausmerzung der hochschulrechtlichen Fremdkörper aus der Zeit des autoritären und totalitären Zwischenspiels von 1934 bis 1938 und 1938 bis 1945 - nicht etwa ein Systemwechsel des Hochschulrechtes im Vergleich mit den bewährten Einrichtungen der konstitutionellen Monarchie und der demokratischen Republik, sondern eine Neukodifikation des Hochschulrechtes. Diese gesetzgeberische Aufgabe zielt auf eine großzügige Vereinheitlichung des geltenden Hochschulrechtes in bezug auf die Technik der Rechtsquellen und in bezug auf das sachliche Geltungsbereich der künftigen Gesetze ab. Mit dieser äußeren legislativen Reform sollte auch eine Läuterung der Gesinnung in der Hochschulverwaltung und im akademischen Leben einhergehen, die demokratische Freiheit im Staate und die akademische Freiheit im Lehramt und in der Hochschulverwaltung als ausnahmslose Verpflichtung zu verstehen, durch fachliche Leistung und durch Bekennermut etwa nach dem Vorbild der „Göttinger Sieben", aber entgegen den Verirrungen des autoritären und totalitären Staates den Beruf eines Professors als Bekenner der wissenschaftlichen und moralischen Überzeugung zu verstehen und unbeirrbar zu betätigen. Das rechtstechnische Reformziel geht dahin, die Vielzahl der geltenden förmlichen Hochschulgesetze durch drei Hauptgesetze zu ersetzen, die komplementären Inhalt haben sollen: das Hochschulorganisationsgesetz, das am 13. Juli 1955 vom Nationalrat einhellig zum Beschluß erhoben worden ist, ferner ein Hochschulstudiengesetz, dessen unter weitgehender Mitwirkung der Hochschulen verfaßter Ministerialentwurf noch nicht als Gesetzesvorlage dem Nationalrat vorliegt, und schließlich eine Hochschullehrerdienstrechtsordnung, deren Entwurf erst im Werden ist. Die gesetzgeberische Zusammenfassung des Hochschulrechtes hat die bisherigen Sonderregelungen für die einzelnen Hochschultypen - Universitäten, Technische Hochschulen, Hochschule für Welthandel, Hochschule für Bodenkultur, Tierärztliche Hochschule, Montanistische Hochschule - in Form von Sondergesetzen entbehrlich gemacht und berücksichtigt die wünschenswer-

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ten Abweichungen der Verfassung der Hochschultypen, namentlich den Unterschied, der in der Gliederung in Fakultäten einerseits und in gemeinsamen Professorenkollegien andererseits besteht, bloß durch Sonderbestimmungen innerhalb des einen Organisationsgesetzes. Die Vereinheitlichung macht aber darüber hinaus die unübersichtliche Regelung der Hochschuleinrichtungen durch zahlreiche nebeneinander geltende Verordnungen und Durchführungserlässe entbehrlich. Der Erfolg einer solchen Kodifikationstechnik besteht darin, daß bisherigen gegensätzlichen Auslegungen der Boden entzogen und hiedurch das Mahnwort Kirchmanns: „Ein berichtigendes Wort des Gesetzgebers und Bibliotheken werden zur Makulatur!" wirksam geworden ist. Eine gewollte oder gar verwirklichte hochschulpolitische Reaktion, etwa eine Aushöhlung der akademischen Freiheit und der einzelnen Rechtsinstitute, aus denen sie sich zusammensetzt, namentlich der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und der Hochschulautonomie, kann keinesfalls festgestellt werden; im Gegenteil hat zum mindesten die gesetzgeberische Klärung dieser Einrichtungen im Wege der authentischen Interpretation die Wirkung einer Sicherung des Rechtszustandes, soweit er bisher in Frage gestellt werden konnte. Viel eher als eine kodifikatoiische Steigerung der akademischen Freiheit könnte eine Sicherung der kulturellen Leistungsfähigkeit der Hochschuleinrichtungen vermißt werden. Doch die Erfüllung eines solchen Wunsches ist nicht eine Aufgabe der Hochschulgesetzgebung, sondern der ganzen Staatspolitik, und der Weg hiezu eine - da die Kriterien der Gerechtigkeit auch in diesem Punkte sehr vage sind - vor der eigenen Staatsgeschichte und vor der Umwelt zu verantwortende Leistungsbereitschaft des Volkes für kulturpolitische Aufgaben. Die Zuständigkeit des Bundes zu Gesetzgebung und Vollziehung im Sinne der ZuständigkeitsVerteilung zwischen Bund und Ländern (Art. 1015 B-VG) greift der Entscheidung des einfachen Gesetzgebers nicht vor, ob die privatwirtschaftliche Verwaltung in den dem Bund oder den Ländern zugewiesenen Angelegenheiten dem Bund, dem Lande oder einem anderen öffentlichen Verwaltungsträger vorbehalten oder hoheitsfreien Privatrechtssubjekten überlassen oder auch, ob die Errichtung und Führung der Hochschulen nach einem in der Verfügungsfreiheit des zuständigen Gesetzgebers gelegenen Schlüssel zwischen Bund und Ländern oder sonstigen Personifikationen der Gemeinwirtschaft einerseits und Privatrechtssubjekten andererseits verteilt wird. 5

5

Auch das kirchliche Subsidiaritätsprinzip gibt Wahlfreiheit.

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Das HOG macht nun in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtslage von dieser gesetzgeberischen Wahlfreiheit im Sinne eines ausschließlichen Vorbehaltes der Errichtung und Führung der Hochschulen durch den Bund Gebrauch. Wissenschaftliche Hochschulen können demnach in Österreich nur vom Bund errichtet und in der vom Hochschulorganisationsgesetz des näheren geregelten Weise eingerichtet und betrieben werden. Damit sind Privathochschulen ebenso wie Hochschulen anderer Hoheitsträger als des Bundes rechtlich ausgeschlossen. Hoheitliche und nichthoheitliche Tätigkeiten der wissenschaftlichen Hochschulen sind Bundesverwaltung, soweit sie nicht von den Hochschulen als juristischen Personen des Privatrechts besorgt werden. Eine besondere Folge dieser Monopolisierung der Hochschulen zugunsten des Bundes ist der Vorbehalt der hochschulmäßigen theologischen Forschung und Lehre für den Bund, wie sie in den im § 6 und 7 des Gesetzes vorgesehenen katholisch-theologischen Fakultäten und in der allein im Rahmen der Universität Wien eingerichteten evangelisch-theologischen Fakultät zum Ausdruck kommt. Das notwendige Gegenstück einer solchen radikalen Verstaatlichung des österreichischen Hochschulwesens ist die Hochschulautonomie, die in Nutzanwendung auf die Bundeshochschule den Typus der, freien" BundesHochschule begründet. Den Hochschulen wird im besonderen der Charakter von „Anstalten des Bundes" verliehen (§1 Abs. 1, erster Satz). Der Bund ist also (im Sinne der Ausdrucksweise der deutschen Verwaltungsrechtslehre) das „Muttergemeinwesen" der österreichischen Hochschulen. Das will sagen, daß der Bund die Hochschulen gründet, unbeschadet der Sonderbestimmungen des Gesetzes sie leitet und sie erhält, nämlich für den Aufwand der Hochschulen aufkommt. Nicht dagegen bedeutet die Bundeseigenschaft der Hochschulen notwendig, daß sie die Rechtspersönlichkeit des Bundes teilen. Die rechtspolitische Frage nach der Rechtspersönlichkeit der Hochschulen war im bisherigen Hochschulrecht nicht eindeutig beantwortet. Infolge des Schweigens der Gesetzgebung war das Schrifttum zu entgegengesetzten Auffassungen gekommen. Das HOG beantwortet die bisher umstrittene Rechtsfrage der Rechtspersönlichkeit einheitlich für alle wissenschaftlichen Hochschulen, und zwar

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vom Standpunkt des bisherigen Hochschulrechtes völlig neu, im Sinne der Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Hochschulen und ihrer Fakultäten. Freilich ist diese Rechtspersönlichkeit im Vergleich mit jener von anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechtes verhältnismäßig „beschränkt". Sie haben nämlich „Rechtspersönlichkeit, soweit sie Angelegenheiten besorgen, auf die die Bestimmungen des § 26 Abs. 2 lit. w und x oder § 38 Abs. 1 lit. 1 und m oder § 52 Abs. 2 lit w und x dieses Bundesgesetzes anzuwenden sind." Die Zuständigkeiten der Hochschulen bzw. Fakultäten, durch die die Rechtspersönlichkeit begründet wird und in denen sie sich nach Anordnung des Gesetzes erschöpft, sind folgende: Der Beschluß des Professorenkollegiums, betreffend den Abschluß unentgeltlicher Rechtsgeschäfte unter Lebenden, die die Fakultät begünstigen (besonders also die Annahme von Schenkungen), ferner die Beschlußfassung über die Annahme und Ausschlagung von Erbschaften und Vermächtnissen, schließlich die Verwendung des so gewonnenen Vermögens nach Maßgabe des Willens des Spenders; der Beschluß der Professorenkollegien, betreffend den Beitritt zu Vereinen, deren Zweck die Förderung von Hochschulaufgaben ist. Beiderlei Beschlüsse berechtigen und verpflichten, falls sie, was man im Zweifel annehmen darf, namens der Fakultät gefaßt werden, unter der weiteren Voraussetzung der Genehmigung des Bundesministeriums für Unterricht (§ 26 Abs. 3) die Fakultät als juristische Person. - Dasselbe gilt für die analogen Beschlüsse der Faklultätskollegien an den Technischen Hochschulen, desgleichen für die Beschlüsse der Professorenkollegien an den Hochschulen ohne Fakultätsgliederung (§ 52 Abs. 2 lit. w und x). Der Zweck dieser gesetzlichen Verleihung einer inhaltlich sehr beschränkten Rechtsfähigkeit besteht darin, einerseits der Hochschule oder Fakultät unter bestimmten Voraussetzungen den Erwerb von hochschuleigenem Vermögen sowie die Verwendung des so erworbenen Vermögens, sodann die Mitgliedschaft der Hochschule oder Fakultät bei kulturellen, zur Förderung von Hochschulaufgaben bestimmten Vereinen zu ermöglichen. Zugleich soll damit die Privatinitiative angespornt werden, die wissenschaftliche Lehre und Forschung oder auch die anderen, noch zu besprechenden Aufgaben der Hochschulen durch Zuwendung von Geldmitteln und auch in sonstiger Weise zu fördern, weil durch die Gewährung der Rechtspersönlichkeit von Hochschuleinrichtungen eine rechtliche Gewähr geboten wird, daß die betreffenden, aus privaten Quellen stammenden Mittel ausschließlich Hochschuleinrichtungen zugute kommen und für die von den zuständigen Hochschulorganen gutgeheißenen Zwecke verwendet werden, daß sie also nicht

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in den allgemeinen Topf des Bundesvermögens fließen können und ihre Verwendung nicht von hochschulfremden Organen beeinflußt werden kann. Die Rechnungs- und Gebarungskontrolle der Hochschulen und Fakultäten im Rahmen ihrer Eigenschaft als besonderer juristischer Personen gemäß Art. 121 B-VG und dem Bundesgesetz vom 16. Juni 1948, BGBl. 144/48, über den Rechnungshof wird durch diese Gewährung einer besonderen Rechtspersönlichkeit nicht ausgeschlossen. Die Rechtsfähigkeit der Hochschulen und Fakultäten erschöpft sich nach der Fassung des Gesetzes in privatrechtlichen Angelegenheiten. Hiedurch erlangen die Hochschulen und Fakultäten kraft Gesetzes juristische Persönlichkeit des Privatrechtes. Schon damit ist für eine eng begrenzte akademische Selbstverwaltung nichtobrigkeitlicher Art die rechtliche Grundlage geschaffen. Das Gesetz begründet jedoch bloß die Möglichkeit, daß die Hochschulen und Fakultäten „in eigener Person" Privatrechtsgeschäfte tätigen. Es ändert nichts an der bisherigen Rechtslage, daß die privatrechtliche Verwaltung der Hochschulen im Zweifel von diesen als Organen des Bundes ausgeübt wird, ja insolange ausschließlich in dieser rechtlichen Eigenschaft ausgeübt wird, als nicht ausnahmsweise die Hochschule oder Fakultät als solche privatrechtlich berechtigt oder verpflichtet wird. Das Anstaltsvermögen der Hochschulen, genauer ausgedrückt, das von den Hochschulen verwaltete Vermögen, im besonderen die Hochschulgebäude und die Forschungs- und Lehrmittel, bleiben also Vermögen des Bundes. Die Gestaltung des Hochschulwesens als Hochschulmonopol des Bundes ist übrigens nicht das Ergebnis eines verfassungspolitischen Kompromisses zwischen den politischen Parteien, sondern einer grundsätzlich übereinstimmenden Auffassung aller Parlamentsfraktionen der konstituierenden Nationalversammlung der Jahre 1918-1920, die einhellig am 1. Oktober 1920 die Bundesverfassung zum Beschluß erhoben haben. Außerhalb der rechtlichen Organisation der Hochschule steht die Organisation der Hochschüler. Die „Hochschülerschaft" ist eine „Körperschaft des öffentlichen Rechtes", die durch die gesetzvertretende Verordnung StGBl. 170/1945 gegründet wurde und derzeit noch durch die Verordnung BGBl. 191/1946 geregelt ist. Die Hochschülerschaft ist ein Zwangsverband der ordentlichen Hörer österreichischer Staatsbürgerschaft an sämtlichen österreichischen Hochschulen. An jeder einzelnen Hochschule wissenschaftlicher oder künstlerischer Richtung besteht eine besondere Hochschü-

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lerschaft ohne Rechtspersönlichkeit, also bloße Teilgemeinschaft des sämtliche Hochschulen umfassenden Gesamtverbandes. Die engste Teilgemeinschaft der Hochschülerschaft, die Fachschaft, faßt die Mitglieder innerhalb der Fakultät zusammen. Organ des Gesamtverbandes ist der Zentralausschuß, Organ der Hochschülerschaft der einzelnen Hochschule der Hauptausschuß, Organ der Fachschaft der Fachschaftsausschuß. Der Wirkungskreis der Hochschülerschaft ist in der Verordnung StGBl. 170/1945 erschöpfend aufgezählt. I I . Die Freiheit der Wissenschaft als Daseinssicherung der Hochschulen Die verfassungsgesetzliche Gewährleistung der Freiheit der Wissenschaft (Art. 11 StGG) schließt Weisungen außerakademischer Stellen, namentlich des für die Wissenschaftsverwaltung zuständigen Ministeriums insoweit aus, als sie die Selbstbestimmung des beamteten Wissenschafters in bezug auf wissenschaftliche Forschung und Lehre einzuschränken versuchen. Mithin sind Weisungen über den Gegenstand und die äußeren Umstände des Wissenschaftsbetriebes zulässig, hingegen Weisungen in bezug auf Methode und Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und Lehre unzulässig. Weisungen, die die Selbstbestimmung des Wissenschafters in bezug auf den Betrieb der Wissenschaft einzuschränken versuchen, z.B. eine Weisung, in der eine bestimmte Wissenschaftsrichtung geboten oder verboten wird oder einen bestimmten Weg der Forschung und Lehre vorschreibt, sind verfassungswidrig. Gesetzwidrige und selbst verfassungswidrige Weisungen berechtigen aber noch nicht an sich zum Ungehorsam, sondern nur unter der weiteren Voraussetzung, daß die Weisung von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde. Das bedeutet, daß sogar verfassungswidrige Weisungen im Zweifel zu befolgen sind, daß also die Verfassung selbst eine noch enger umschriebene Gesetzwidrigkeit der Weisung allein als Rechtfertigung des Ungehorsams annimmt. Es mag einer solchen Ausdehnung der Gehorsamspflicht, derzufolge nicht einmal die Verfassungswidrigkeit zum Ungehorsam berechtigt, aus einem Redaktionsversehen bei der Kodifikation des gegenständlichen Verfassungsartikels zu erklären sein. Es können unter diesen Umständen aber die unzulässigerweise in den Wissenschaftsbetrieb eingreifenden Weisungen nur dann zu einem Ungehorsam das Recht geben, wenn man ihren Fehler als einen Fall der Weisung eines

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unzuständigen Organs deuten kann, und in dieser Hinsicht ist eine extensivere Interpretation des Gesetzes in der Richtung immerhin denkbar, daß man Weisungen der außerakademischen Wissenschaftsbehörden als unzuständigerweise ergangene Weisungen ansieht. Friedrich Paulsen 6 nennt die verfassungsgesetzliche Gewährleistung der Freiheit der Forschung und Lehre das „Grundrecht der Universität". Diese Bezeichnung hat den Sinn einer oberflächlichen Orientierung, darf aber nicht wörtlich genommen werden. Vor allem wäre die Annahme mißverständlich, daß die Universität überhaupt und die Universität allein durch das Grundrecht persönlich berechtigt sei. Eine solche Annahme würde die Rechtspersönlichkeit der Universität voraussetzen, ist aber nicht einmal in diesem Falle begründet. Eine solche Annahme findet schon in der Verfassung von Weimar und im Grundgesetz von Bonn keine Bestätigung. Wenn dieses Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 bestimmt, „Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei", so sind damit im Zweifel Menschen, im besonderen Menschen, die Wissenschaft und Kunst betreiben, gemeint und in einem bestimmten Sinn berechtigt. Auch das österreichische Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (1867) bezieht die Anordnung „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" auf die Wissenschaft als solche und nicht auf die Universität als eine personifizierte Stätte der Wissenschaft. Die österreichische Verfassung gewährleistet das fragliche Grundrecht bloß Menschen, und zwar allen Menschen, die Wissenschaft auf dem Wege der Forschung oder der Lehre betreiben. Damit sind in erster Linie die Menschen gemeint, die lehramtlich an wissenschaftlichen Hochschulen obligatorisch oder fakultativ mit der Pflege der Wissenschaft befaßt sind. In bezug auf andere staatliche Schulen nimmt die Praxis (die Staatswirklichkeit) überwiegend einen anderen Standpunkt ein. Soweit es sich um die Lehrtätigkeit in Fächern handelt, die an sich Gegenstand einer Wissenschaft sind, zu Unrecht, weil Vollmacht und Auftrag zur Lehrtätigkeit etwa an Mittelschulen im Zweifel ebenfalls wissenschaftliche Disziplinen zum Gegenstand haben. Doch auch sogenannte „freie Wissenschafter" und solche Wissenschafter, die sich in einem Privatdienstverhältnis wissenschaftlich betätigen, sind durch das Grundrecht vor staatlichen Eingriffen, nicht aber vor Eingriffen ihres Dienstgebers geschützt. Auch die Pflege der Theologie entzieht sich jedem staatlichen Zugriff.

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A.a.O., S. 154.

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III.A. Verwaltungsrecht

Für die Freiheit der Lehre in bezug auf Staats- und Gesellschaftseinrichtungen findet der Philosoph Friedrich Paulsen in seinem Werk „Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium", Berlin 1902, folgende Worte: „ M i t der Ausschließung des Vortrags schlechthin staatsfeindlicher Doktrinen vom Universitätskatheder, das allerdings nicht zum Experimentierfeld für alle möglichen und unmöglichen Gedanken gemacht werden soll - man vergesse nicht, daß Anarchismus noch immer zum Absolutismus geführt hat - , ist natürlich nicht zugleich die Kritik bestehender Staatseinrichtungen und sozialer Verhältnisse ausgeschlossen. Vielmehr bin ich der Ansicht, daß einer freimütigen und sachlichen Kritik der weiteste Spielraum zu lassen ist. Kritik ist hier, wie in allen menschlichen Dingen eine notwendige Funktion. Wenn sie das Überlebte, das Verfehlte, das Falsche und Schlechte trifft, das als Hemmnis gesunder Entwicklung des Ganzen wirkt, dann ist sie, vom Standpunkt des Volkslebens gesehen, eine höchst verdienstliche Sache. Und sie wird auch im akademischen Unterricht ihren Ort haben; die Einstellung der Aufmerksamkeit der Führer der nachfolgenden Generation auf notwendige Weiterbildung der öffentlichen Lebensordnungen im Sinne der Gerechtigkeit und Wohlfahrt des Ganzen ist eine unerläßliche Aufgabe dieses Unterrichts" (a.a.O., S. 321 ff.). „Man wird sich bei solcher Gelegenheit doch auch daran erinnern, daß es nicht die ewig Zufriedenen, nicht die gesättigten Existenzen waren, die das Leben weiter gebracht haben, die nach ihrem Tode als die großen Führer zu höherem Dasein geehrt werden. In allen wahrhaft großen Männern war eine edle Unzufriedenheit mit dem, was ist, mit den bestehenden Verhältnissen in Staat und Recht, in Kirche und Religion, in Gesellschaft und Erziehung, in Wissenschaft und Literatur. Ich erinnere, um Männer aus der geistigen, der akademischen Welt zu nennen, an Sokrates und Plato: als Unzufriedener mit dem Glauben und Wissen, mit der Erziehung und Verfassung seiner Umgebung ist jener gerichtet worden, als der erste unter den großen Einsamen ist dieser durch das Leben gegangen, in seinen Schriften den Ausdruck seiner großen Sehnsuchten ausprägend. Ich erinnere an Kant und Fichte, auch sie zwei große Unzufriedene: mit brennender Sehnsucht schauen sie nach einem Vollkommeneren aus, das möglich ist, weil es sein soll; in Religion und Recht, in Kirche und Staat überall bleibt die Wirklichkeit unendlich weit zurück hinter der Idee, wie sie die ,reine Vernunft' mit Notwendigkeit denkt. Männer des Gedankens waren jene, nicht Männer der Tat, aber Gedanken sind die Wurzeln von Taten. Mit Stolz dürfen die

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deutschen Universitäten sich rühmen, daß es an edlen Unzufriedenen, die Gedanken zu künftigen Taten gesäet haben, in ihren Kreisen nie gefehlt hat. Möge es ihrer zu aller Zeit geben, möge die Universität zu aller Zeit Raum für sie haben." (Paulsen, a.a.O., S. 323) Der Schweizer Rechtshistoriker Hans Fehr übersteigert die rechtliche Bedeutung der Freiheit der Wissenschaft durch das Urteil, die Freiheit der Wissenschaft sei das höchste Grundrecht der Hochschulen. „Fällt es, so hören die Hochschulen auf, Stätten der Wissenschaft zu sein ... Und da die Wissenschaft ein internationales Gut ist - weil die Erforschung der Wahrheit keine staatlichen Grenzen kennt so muß jeder Angriff auf die akademische Lehrfreiheit sämtliche Hochschulen berühren. Sie sind in diesem Sinne solidarisch. Sie haben den Schild der freien Forschung und der freien Lehre gemeinsam rein zu halten."7 Der Verfasser scheint hiermit den Bestand der Wissenschaft von ihrem Rechtsschutz abhängig zu machen. Die Wissenschaft hat aber durch lange Zeit überhaupt und entbehrt auch derzeit noch in weiten Räumen den typisch liberalen Rechtsschutz. Dieser ist bloß eine gewiß wertvolle Stütze, nicht aber eine Lebensbedingung der Wissenschaft. Das zeigen uns die geschichtlichen Proben wissenschaftlichen Märtyrertums, die an Opferbereitschaft einerseits dem religiösen Märtyrertum nahekommen; das zeigt uns auch die Zivilcourage, die aus in Wort und Schrift abgelegten Bekenntnissen von Professoren spricht, die damit ihrem Titel Ehre machen. Andererseits wird der Opportunist und Karrieremacher auch durch den wirksamsten Rechtsschutz nicht ermutigt, irgendwelche persönliche Vorteile durch den kompromißlosen Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit zu gefährden. Also ist der Rechtsschutz der Wissenschaft in der Gesamtschau nur einer der Faktoren, die den wissenschaftlichen Fortschritt in einem je nach Ziel, Ort, Disziplin und Person verschiedenen Ausmaß fördern. - Hans Fehrs hohes Ideal ist unwirklich. Da das letzte Ziel des Wissenschaftsbetriebes Erkenntnis der Wahrheit ist, könnte man glauben, daß bloß unanfechtbare oder feststehende Wahrheiten des Schutzes der Freiheit der Wissenschaft teilhaftig sind. Eine solche Auslegung würde aber den Grundrechtsschutz sinnwidrig verengen, insbesondere den wissenschaftlichen Fortschritt hemmen. Wenn man sich des

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Hans Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte, 5. Aufl., 1952.

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tragischen Weges der Wissenschaft besinnt, eines Weges, der über ungezählte, heute unangezweifelte Irrtümer, nur spiralenförmig zur Wahrheit geführt hat, so muß auch der Irrtum als erfahrungsmäßig unvermeidlicher Umweg zur Wahrheit des Grundrechtsschutzes teilhaftig sein. Die Unvermeidlichkeit des Grundrechtsschutzes für verschiedene einander ausschließende und daher auch unrichtige Auffassungen erklärt sich aus dem Wandel wissenschaftlicher Standpunkte und der Abhängigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts von paradoxerweise sogenannten Wissenschaftsirrtümern, die in Wirklichkeit Irrtümer der Wissenschaft treibenden Menschen sind. Der einzelne Mensch lernt nach wissenschaftlicher Erfahrung aus eigenen und fremden Irrtümern, aber auch für die Wissenschaft als kulturgeschichtliche Ercheinung und für die ganze Menschheit als Schöpferin und Trägerin der Wissenschaft sind Irrtümer oft fruchtbarer als Wahrheiten. Die Grenze des „zulässigen", d.h. schutzwürdigen und rechtlich geschützten Irrtums ist allerdings eine ungelöste und unlösbare Frage. Nur soviel steht fest, daß gewisse Irrtümer des Wissenschaftsbetriebes vom gesetzlichen Grundrechtsschutz toleriert und andere nicht toleriert werden. Als Beispiele nicht erträglicher und daher nicht rechtlich geschützter Irrtümer können etwa der Widerspruch gegen die unbezweifelten Wahrheiten der Mathematik und der Astronomie gelten, etwa der Rückgriff zur Auffassung der Erde als Scheibe oder der Rückgriff auf das ptolemäische Weltbild in den Geisteswissenschaften etwa die Annahme von Dämonen und Hexen. Auch die Rechtswissenschaft ist ein Tummelfeld einander ausschließender Thesen, die trotz ihrer unvermeidlichen teilweisen Unwahrheit den Grundrechtsschutz der Wissenschaft genießen. Im einzelnen beanspruchen bekanntlich unterschiedliche und unvereinbarliche Rechtstheorien, einschließlich der vielfältigen Naturrechtsauffassungen und unterschiedliche Lösungen von Rechtsfällen die Anerkennung und den Schutz wissenschaftlicher Forschung und Lehre. Als Beispiele seien etwa angeführt die einander widersprechenden Wertungen des religiösen und des profanen Naturrechts, also jener Naturrechtssysteme, die als Quelle ihrer Wertungen letztlich Gott oder die menschliche Vernunft behaupten, innerhalb des religiösen Naturrechts die inhaltlich wenigstens zum Teil unvereinbarlichen Varianten der religiösen Bekenntnisse einerseits, der politischen Ideologien andererseits. Würde man den verfassungsrechtlichen Schutz auf die wahren Aussagen beschränken, den unwahren Aussagen versagen, so wäre die Wissenschaft

Grundzüge des österreichischen Hochschulrechtes

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wegen der Unbestimmtheit der Wahrheit rechtlich schutzlos. Also müssen, wenn der Rechtsschutz der Wissenschaft wirksam sein soll, auch bestrittene „Wahrheiten", als auch unrichtige Aussagen, den Rechtsschutz genießen. Für den Rechtsschutz genügt der Vorsatz der Wahrheit, genügt das unbestreitbare wissenschaftliche Gewissen des Forschers und Verkünders der Wissenschaft. Als Grenze der Freiheit der Wissenschaft bezeichnet das ausländische Schrifttum vielfach die Bindungen, die sich in den Fällen der „Staatsuniversität" aus dem Dienstverhältnis zum Staate ergeben. Diese Grenzziehung ist jedenfalls eine sachliche Einschränkung der herrschenden Annahme, daß das eigentliche Bereich der Freiheit der Wissenschaft die Hochschule sei, denn unter der Voraussetzung dienstrechtlicher Beschränkungen der Wissenschaftsfreiheit wird dieses Freiheitsrecht geradezu in seiner wesenhaften Domäne eingeengt, wenn nicht überhaupt in Frage gestellt. Unter Bezugnahme auf die sogenannte Treueklausel des Art. 5 Abs. 3 Satz 2 des Bonner Grundgesetzes wird aus der mit dem Dienstverhältnis verbundenen Treuepflicht eine Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit gefolgert. Nach dieser Gesetzesstelle sind zwar „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei", „die Freiheit der Lehre entbindet jedoch nicht von der Treue zur Verfassung". Die Statuierung der Verfassungstreue als Schranke der Freiheit der Wissenschaft macht die Auslegung von einem sogenannten unbestimmten Gesetzesbegriff abhängig. Es ist zwar eine eindeutige Lösung des Problems vom Gesetzgeber beabsichtigt und die Auffassungen dürften zwar nicht voneinander abweichen, tun es aber trotzdem. Begreiflicherweise ist man geneigt, die Treuepflicht strenger zu fassen, soweit man persönlich die Verfassung gutheißt, sie dagegen weitherziger zu verstehen, wenn man selbst zur Verfassung in einem rechtspolitischen Gegensatz steht. Wenngleich unzweifelhaft eine Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit nur soweit Platz greifen soll, als die Einstellung des Hochschullehrers einen feindseligen und die Staatsautorität gefährdenden Zug annimmt, so führt doch, wie die Erfahrung zeigt, die psychologische Untersuchung und Kritik der Haltung eines Hochschullehrers im konkreten Falle nicht immer zu einem eindeutig unwiderleglichen Ergebnis. Daraus erklären sich wohl auch die Bedenken der Parlamentarier, die bei der Fassung der Treueklausel laut geworden sind. Der verfassungsrechtliche Schutz der wissenschaftlichen Forschung und Lehre findet nach der herrschenden Auffassung selbst ohne ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt in strafgesetzlich verpönten Verhaltensweisen eine Gren-

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ze, steht also einer strafgerichtlichen Verfolgung wegen der allgemeinen Unrechtstatbestände nicht im Wege. Dagegen wäre es verfassungswidrig, die wissenschaftliche Forschung und Lehre als solche oder einzelne Äußerungen dieser Geistestätigkeit strafrechtlich oder disziplinarrechtlich zu verpönen. Die verfassungsgesetzliche Gewährleistung der Freiheit der Wissenschaft würde also einer Verfolgung wegen Hochverrates gem. § 58 StG nicht im Wege stehen, wenn etwa die Rechtslehre im Zuge der Darstellung des Widerstandsrechtes gegen die Staatsgewalt es als verdienstlich beurteilt, die bestehende Staatsform gewaltsam zu ändern. Ebenso wenig wäre es ein Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft, wenn im Zuge einer Vorlesung Philosophie der Tatbestand der Religionsstörung im § 122 Ab. d (Verbreitung von Unglauben) gesetzt würde. Ferner wäre es keine Verletzung der Freiheit der Wissenschaft, wenn im Zuge einer Vorlesung über Verwaltungsrecht bestimmte Anordnungen oder Entscheidungen von Behörden herabgewürdigt würden und ein strafgerichtliches Verfahren wegen § 300 StG stattfände. Dagegen stünde es zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Freiheit der Wissenschaft im Widerspruch, wenn die Feststellung der Erkenntnis, daß die Anordnung oder Entscheidung einer Behörde rechtswidrig sei, zum Gegenstand eines strafgerichtlichen Verfahrens gemacht würde, denn die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Staatsaktes und der Rechtsbehelfe zur Beseitigung dieses gesetzwidrigen Staatsaktes kann an sich nicht als strafbare „Herabwürdigung" von Behörden beurteilt werden, wenn auch nur ein Rest von Freiheit der wissenschaftlichen Lehre bestehen soll. Ludwig Adamovich legt den Rechtssatz des Art. 17 StGG „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei" folgendermaßen aus: „Dieser Grundsatz beinhaltet insbesondere die Freiheit der Lehre an den Hochschulen und richtet sich dagegen, daß Organe der Verwaltung ohne gesetzliche Grundlage in die wissenschaftliche Tätigkeit eingreifen und diese behindern oder beschränken. Der Grundsatz bedeutet weiters, daß niemand wegen der Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrsatzes als solchen gerichtlich oder sonderbehördlich verfolgt werden darf. Im übrigen sind aber wissenschaftliche Vorträge keinesfalls von jeder Verantwortung frei." 8 Diese Auslegung bedarf einer mehrfachen Ergänzung: Das Freiheitsrecht schützt

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Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechtes, 1957, S. 458.

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außer der Lehre auch die wissenschaftliche Forschung als die begriffliche Voraussetzung der wissenschaftlichen Lehre, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie von Hochschullehrern im weitesten Sinne des Wortes, von sonstigen Staatsorganen oder von Privatgelehrten ausgeübt wird. Eingriffe in die so verstandene Freiheit der Wissenschaft werden mangels eines an der wiedergegebenen Gesetzesstelle ausgesprochenen Gesetzesvorbehaltes auch durch eine ausdrückliche Grundlage in Form eines einfachen Gesetzes nicht zulässig, ausgenommen den Fall, daß die Forschungs- und Lehrtätigkeit zu allgemeinen Gesetzen, namentlich zum Strafgesetz in Widerspruch steht. Unzulässig sind sonach einfache Gesetze oder andere Rechtsvorschriften, die bestimmte Haltungen und Äußerungen der wissenschaftlichen Forschung und Lehre als solche unterbinden wollen. Ein ganzer Komplex von Sondervorschriften ist darum bemüht, „innere", „wesenhafte", d.h. in der Regel überhaupt nicht ausdrücklich gezogene oder aus anderen Zusammenhängen der Rechtsordnung erschließbare Rechtsschranken, die der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre entgegenstehen, und welcher Rechtsgehalt unseres Freiheitsrechtes sich aus dieser Zusammenschau von Recht und Schranke ergibt, klarzustellen. Darauf gehe ich erst in der angedeuteten monographischen Behandlung ein, zumal da die etwas paradox wirkende Bemühung einzelner Schriftsteller, die ja doch nicht ihnen persönlich, sondern die ihrer Lebensaufgabe zugedachten Rechtsvorteile einzuengen, nicht den Grundton vorliegender rechtswissenschaftlicher Skizze verstimmen soll. Als beispielhaft möge indes hier die synoptische Registrierung rechtlicher Schranken nicht der Forschungs-, sondern der Lehrfreiheit ohne Für- und Gegengründe erwähnt werden, die Richard Meister, als Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein grundsätzlicher Bejaher einer maximalen, auf den Staat bezogenen Freiheit der Wissenschaft, festgehalten hat: Im Vortrag über das Thema „Lehr- und Lernfreiheit in der Thunschen Universitätsreform und in der Gegenwart in Österreich" (Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1957, Nr. 15) zeigt der Verfasser „sechs Grenzen in der Ausübung der Wissenschaft auf 4 , die, soweit ich verstehe, doch nicht die Rechtsvermutung der Freiheit der Lehre aufheben sollen: die staatspolitische, die allgemein-rechtliche, die wissenschaftliche, die fachliche, die berufspraktische, die weltanschauliche. Die staatspolitische ist die aus dem Verhältnis von Wissenschaft und Staat und der amtlichen Stellung des Hochschullehrers sich ergebende Grenze („Grenze der

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Loyalität"). Wenn man diese Schranke mit Meister als das Recht des Staates auf die Sicherung seiner Existenz und seiner Verfassung deutet, dann durfte eine rechtswissenschaftliche Argumentation, durch die ich mehrere kaiserliche Verordnungen als die Schranken des berühmten § 14 des Grundgesetzes über die Reichs Vertretung vom 21. Dezember 1867 (freilich noch in meiner damaligen Eigenschaft als Rechtspraktikant eines Straflandesgerichtes) verletzend nachzuweisen versucht hatte (Juristische Blätter, 15. August 19159) nicht wegen des angeblichen „Tatbestandes der Aufwiegelung gegen die Staatsgewalt" mit dem behördlichen Publikationsverbot belegt werden; aus demselben Grunde konnte meine verfassungsjuristisch begründete Kritik an der Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes mittels einer Regierungsverordnung, die sich auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gestützt hatte, nicht beim wörtlichen Abdruck dieser Kritik in den vom damaligen Privatdozenten Dr. Karl Winter herausgegebenen „Politischen Blättern" die Beschlagnahme dieser Nummer der „Politischen Blätter" wegen angeblichen Tatbestandes der Aufwieglung rechtfertigen. Die unleugbare Grenze der Loyalität bedarf also noch einer Präzisierung, damit sie nicht als Forderung des Servilismus gegenüber jedem „sie volo sie jubeo" einer Behörde gedeutet werde! Klare, wenngleich ebenfalls einer Präzisierung bedürftig und im Einzelfall trotzdem problematisch sind die anderen Grenzziehungen der Freiheit der Wissenschaft; ihre das Für und Wider erschöpfende Beleuchtung würde indes den Rahmen dieses einer allgemeinen Orientierung von Wissenschaftern aller Fächer in großen Zügen dienenden Aufsatzes sprengen. Die „Freiheit der Wissenschaft" harrt der Lösung! I I I . Rechtliche Sicherungen der Freiheit der Wissenschaft Als verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht genießt die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre vor allem den Rechtsschutz der verfassungsgesetzlichen Garantien, und zwar im Sinne des Art. 144 B-VG die Möglichkeit der Beschwerde der in unserem Grundrecht verletzten natürlichen Person gegen Bescheide, durch die der Beschwerdeführer in dem Grundrecht des Art. 18 StGG verletzt zu sein behauptet. Bei Vertretern der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, die in einem Organverhältnis

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stehen, ergibt sich die Frage eines zusätzlichen Rechtsschutzes der Organstellung, durch den Eingriffe in die Organstellung verhütet werden und gegebenenfalls abgestellt werden können, soweit sie die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre berühren. Die Eigentümlichkeit der Organstellung schließt deren unbedingte und unbeschränkte Sicherung vor Eingriffen und insbesondere vor unfreiwilligem Verlust aus. Die staatsgrundgesetzliche Gewährung der Freiheit der Wissenschaft bedingt bloß Sicherungen dagegen, daß die Organstellung wegen des sinngemäßen Gebrauchs der Freiheit der Wissenschaft in Frage gestellt werden würde, insbesondere also etwa die Entziehung oder Aberkennung einer Professur oder einer Dozentur, aber auch administrative Erschwerungen der Ausübung dieser Organstellung, soweit sie dem Zweck dienen, die Ausübung der Freiheit der Wissenschaft unmöglich zu machen oder zu erschweren. Die gesetzliche Regelung des öffentlichen Dienstes ist allgemein und im besondern auch zugunsten der beamteten Hochschullehrer so gestaltet, daß ein Erlöschen der Organstellung wegen einer bestimmten Ausübung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre nicht vorgesehen und daher unzulässig ist. Das trifft zunächst für die dienstrechtliche Stellung der „beamteten", anders ausgedrückt in einem sogenannten pragmatischen Dienstverhältnis zum Bund stehenden Hochschulprofessoren, zu. Bezüglich der Hochschuldozenten trifft § 13 Abs. 7 HOG folgende Anordnung: „Die Lehrbefugnis als Hochschuldozent erlischt: a) durch Verzicht, b) durch dauernde Abwesenheit vom Hochschulort, c) durch fortgesetzte unbegründete Nichtausübung durch zwei Jahre, d) durch ein Disziplinarerkenntnis nach Maßgabe besonderer Vorschriften". Der Entzug der venia legendi aus dem eingestandenen oder uneingestandenen Motiv einer nicht genehmen Ausübung der Lehrbefugnis wäre eine Verletzung des Grundrechts der Freiheit der Wissenschaft. Das Recht ohne Verfassungsrang darf einen Entzug der Lehrbefugnis wegen der Vertretung bestimmter wissenschaftlicher Lehren nicht zulassen. Praktisch würde die Freiheit der Wissenschaft allerdings auch durch eine Hochschulpolitik beeinträchtigt werden, die die Verleihung eines Hochschullehreramtes oder die Verleihung einer Lehrbefugnis als Dozent, wie übrigens auch die anderen hochschulrechtlichen Verwendungen (Lektor, Gastprofessor, Gastdozent, Gastvortragender, Lehrbeauftragter sowohl nach § 16 als auch nach § 18 HOG, Instruktor, Assistent und wissenschaftliche Hilfskraft, Hilfsarzt und Demonstrator) von einer bestimmten wissenschaftlichen Haltung abhängig machen würden.

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Eine Ermächtigung zu dienstrechtlichen Maßnahmen gegenüber ordentlichen und außerordentlichen Professoren sowie gegenüber ordentlichen und außerordentlichen Hochschulassistenten, wie sie das Bundesgesetz vom 7. August 1934, BGBl. 208, betreffend Maßnahmen an Hochschulen, zuließ, ist mit der verfassungsgesetzlichen Gewährleistung der Freiheit der Wissenschaft nicht zu vereinbaren. Art. 3 I I I § 1 dieses Gesetzes hatte den Bundesminister für Unterricht ermächtigt, Hochschulprofessoren ohne besonderes Verfahren und ohne Beschränkung auf bestimmte Gründe in den zeitlichen Ruhestand zu versetzen und das Dienstverhältnis der Hochschulassistenten vor Ablauf der jeweils für sie festgesetzten Bestellungsdauer ohne besonderes Verfahren mit sofortiger Rechtswirkung aufzulösen. Das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre ist schon in der Praxis der konstitutionellen Monarchie nur in ganz vereinzelten Ausnahmsfällen in Frage gestellt worden. Die Praxis der demokratischen Republik, die mit der provisorischen Verfassung vom 30. Oktober 1918 begründet worden ist, hat bloß zu einigen Bemängelungen Anlaß gegeben, die den Kern des Grundrechtes keinesfalls berührt haben. Ernster sind einige Eingriffe in das akademische Leben während der Zeit des autoritären Zwischenspiels von 1933-1938 zu beurteilen, die aber infolge des gelockerten Rechtsschutzes - wurde ja doch der Verfassungsgerichtshof durch eine „kriegswirtschaftliche" Verordnung vom 23. Mai 1933, BGBl. 191, lahmgelegt und durch die Verfassung vom 1. Mai 1934 durch einen Bundesgerichtshof ersetzt, dem die Überprüfung der einschlägigen Verwaltungsakte, welche bis zu seinem Inslebentreten gesetzt worden war, entzogen worden ist, ohne Abhilfe blieben. Die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs, die sich auf das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre beziehen, seien trotzdem, um ein annäherndes Bild der praktischen Anwendung des Grundrechtes zu bieten, an der Hand der Sammlung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes 1919-51 von Präsident Ludwig Adamovich (Verlag der österreichischen Staatsdruckerei, Wien 1952) erwähnt. Das Erkenntnis der Amtlichen Sammlung 1969 enthält den Spruch: Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre umfaßt das Recht unbehinderter wissenschaftlicher Forschung und das Recht der freien wissenschaftlichen Lehre. Dieser Spruch

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legt den Art. 17 StGG dahin aus, daß die wissenschaftliche Forschung den gleichen Rechtsschutz wie die wissenschaftliche Lehre genießt. Es handelt sich nur um eine sinngemäße Ergänzung des allzu knappen Gesetzestextes, denn nicht die Wissenschaft als abstrakte Erscheinung, sondern nur der Wissenschaftsbetrieb bestimmter Menschen kann Gegenstand des rechtlichen Schutzes sein. Der Spruch der Sammlung Nr. 1969 besagt: „Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre kann nur verletzt werden, wenn einer Person überhaupt ein Recht auf Ausübung einer Lehrbefugnis zukommt." Die Lernfreiheit ist der Wortbedeutung nach die Freiheit zu einer geistigen Betätigung, im besonderen die Freiheit, sich Wissensstoff und damit Kenntnisse anzueignen. Diesen Gebrauch der Lebenszeit kann kein Gesetzgeber verbieten und darum sinnvoller Weise auch nicht erlauben, denn eine solche Freiheit versteht sich ebenso von selbst wie die Freiheit zu atmen, zu schlafen usw. Eine solche Lernfreiheit ist ein unausgedachtes Geisteskind eines extrem liberalen Denkens. Unter diesen Umständen ist auch eine verfassungsrechtliche Verankerung der Lernfreiheit überflüssig und sinnlos. In der formellgesetzlichen, im besonderen verfassungsgesetzlichen Regelung der persönlichen Freiheit durch das österreichische Recht, im besonderen durch die Grundrechtskodifikationen des Bundes-Verfassungsgesetzes, des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, BGBl. 142, und in sonstigen verfassungsrechtlichen Nebengesetzen oder Neben-Rechtsquellen finden sich somit keinerlei Spuren eines Freiheitsrechtes, das als Lernfreiheit bezeichnet werden könnte. Was man unter Lernfreiheit versteht, hat sonach überhaupt nichts mit den im herkömmlichen Sinn sogenannten Freiheitsrechten zu tun. Das Wort Lernfreiheit ist eine irreführende, aber gebräuchliche Bezeichnung für die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten der Schüler, die öffentlichen Schulen angehören. Lernfreiheit gibt es an Pflichtschulen und an Schulen, die Kenntnisse an Personen vermitteln, die sich frei zu dem Besuch dieser Schulen entschließen, oder an minderjährige Schüler verbreiten, welche von ihren verantwortlichen Erziehern zum Besuche dieser Schulen verpflichtet werden. Im ersten Fall sind die sogenannten Freigegenstände, beispielsweise Musik, Kurzschrift und sonstiger Kunstunterricht, Schnellschreiben, Schönschreiben Nutzanwendungen der Lernfrei-

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heit. Soweit Schulen nicht der Erfüllung der Schulpflicht dienen, ist ihr Bestand und ihre Benützung Nutzanwendung der Lernfreiheit. Die Lernfreiheit besteht in bezug auf die vielerlei Typen von Nicht-Pflichtschulen in der Wahlfreiheit, in solche Schulanstalten einzutreten, vorausgesetzt, daß die durch die Schulordnung bestimmten Voraussetzungen hiefür zutreffen, oder von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch zu machen. Im Dienste eines geregelten Schulbetriebes nimmt freilich eine derartige Schulanstalt für die Schüler, die sich für den Eintritt entschieden haben, den Charakter einer Pflichtschule an, soweit das Schulprogramm Pflichtgegenstände enthält. Die akademische Lernfreiheit wird im besonderen in der Bestimmung einer Studienordnung erblickt, wonach es den Studierenden freisteht, zu wählen, welche Vorlesung und bei welchem Lehrer sie dieselben hören wollen. Doch hat auch eine so verstandene Lernfreiheit naturnotwendige nahe Grenzen. Die obligaten Lehrveranstaltungen sind jedenfalls zu belegen, weil die Kenntnisnahme ihres Lehrstoffes Voraussetzung der Erlernung einer bestimmten Wissenschaft ist. Die Lernfreiheit kann sich insoweit also bestenfalls auf die Reihenfolge des Besuches der Lehrveranstaltungen und im Falle, daß verschiedene Lehrpersonen die gleiche Lehrveranstaltung abhalten, auf die engere Wahl zwischen den Lehrpersonen beziehen. Einleuchtenderweise kann also einem Hörer der Medizin nicht freigestellt werden, etwa Chirurgie vor Anatomie zu belegen, oder höhere Mathematik vor deren Anfangsgründen. Der tiefere Sinn der Lernfreiheit äußert sich wohl am deutlichsten in der Wahlfreiheit zwischen mehreren Dozenten, die dasselbe Fach vertreten. Unter diesen Umständen wird es verständlich, daß der Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 5. Juli 1851, betreffend Bemerkungen und Weisungen in bezug auf die Durchführung der allgemeinen Studienordnung, in einem Atem mit der Anerkennung der Lernfreiheit, diese doch nur im allgemeinen zuläßt, und die weitere Einschränkung macht, daß sie nicht „als ein Recht zum absolut Unvernünftigen" aufgefaßt werden dürfe. Das heikelste Problem der Lernfreiheit ist die Frage der Besuchspflicht in bezug auf die belegten oder wenigstens die obligatorischen Lehrveranstaltungen. Die Verordnung des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945, StGBl. Nr. 168, statuiert die Besuchspflicht. Die Freiheit der Wissenschaft setzt, um wirksam zu werden, d.h. einen eigenständigen und eigengesetzlichen Wissenschaftsbetrieb auf dem Boden einer staatlichen wissenschaftlichen Schule sicherzustellen, die Erfüllung

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persönlicher und sachlicher Erfordernisse voraus: Die Schaffung organisationsrechtlicher Einrichtungen, die dauernd der Forschung und Lehre der Wissenschaft dienen; im einzelnen einen rechtsverbindlichen Plan der zu betreuenden Wissenschaften, einen Plan der Veranstaltungen, die der wissenschaftlichen Forschung und der wissenschaftlichen Lehre zu dienen haben, und die Beistellung von Gebrauchsgegenständen und Geldmitteln zur Ermöglichung und Sicherung des Wissenschaftsbetriebes. Die Einrichtung der einzelnen Dienstposten, durch die ein systematischer Wissenschaftsbetrieb bereitgestellt wird, und die Besetzung der Dienstposten aus dem verfügbaren Kreis von Wissenschaftern ist die Aufgabe und Leistung der staatlichen Personalpolitik im Dienste der Wissenschaft. Das Schrifttum der Theorie und Praxis der Wissenschaft pflegt diese Aufgaben bloß zu streifen. Es sei an dieser Stelle, ohne Ehrgeiz, die Lücke des Schrifttums auszufüllen, nur soviel angedeutet, daß das rechtliche Erfordernis eines, wenn auch nicht rechtsverbindlichen Vorschlags der jeweils zuständigen Wissenschaftsbehörde an das Besetzungsorgan den Sinn hat, die unvermeidlicherweise nicht im einzelnen fachkundige wissenschaftliche ressortzuständige Staatsbehörde aus dem Kreise der beamteten Wissenschafter zu beraten. Die methodische und gegenständliche Spannweite der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen bringt es nun aber regelmäßig mit sich, daß die vorgeschlagenen Kandidaten der ihnen gesetzten Aufgabe in sehr verschiedenem Maße entsprechen. Hier ist es die schwer erfüllbare Kunst der Personalpolitik, nicht nur die innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin bestehenden verschiedenen Richtungen in Forschung und Lehre zum Zuge kommen, sondern durch die verfügbaren Dozenten in Forschung und Lehre ein annäherndes Bild der einzelnen Disziplinen erstehen zu lassen. IV. Die Amtsträger an den Hochschulen Der zweite Abschnitt des HOG regelt unter dem der Kaufmannssprache entlehnten und ungenauen Titel „Personal der Hochschulen" die Typen der Einzelorgane, die an den Hochschulen und für die Hochschulen tätig sind, gleichviel, ob sie der eigentlichen Hochschulaufgabe der wissenschaftlichen Forschung und Lehre (§ 1 Abs. 2) oder der im engeren Sinne sogenannten Hochschulverwaltung (§ 2), also der behördlichen und privatwirtschaftlichen Hilfstätigkeit zur wirksamen Erfüllung des Forschungs- und Lehrzweckes der Hochschule dienen. Eine strenge Arbeitsteilung zwischen den für diese beiden Verwaltungsaufgaben bestimmten Amtsträgern findet nicht

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statt, vielmehr sind die beiden Aufgabenkreise in den meisten Organen (Rektor, Dekan, Institutsvorstand) miteinander vereinigt. Die genannten Amtsbezeichnungen und Geschäftskreise betreffen freilich nur Aufgaben außerhalb des Forschungs- und Lehrzweckes. Der Eingang zu § 8, der bloß den Titel „Personal" trägt, verdeutlicht den Kurztitel des ganzen zweiten Abschnittes durch die Feststellung, daß „das Personal an jeder Hochschule" aus den Angehörigen des Lehrkörpers, dem anderen wissenschaftlichen Personal und dem nichtwissenschaftlichen Personal besteht. Die österreichische Hochschule hat kein eigenes, d.h. zu ihr in einem Dienstverhältnis stehendes Personal, da ihre Rechtspersönlichkeit nicht eine solche rechtliche Möglichkeit in sich schließt, sondern bedient sich ausschließlich solcher Amtsträger 10, die in einem öffentlich-rechtlichen oder privat-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bunde stehen und berechtigt und in der Regel der Fälle auch verpflichtet sind, an einer Hochschule bestimmte Tätigkeiten für diese Hochschule zu entfalten. Die Rechtsstellung des sogenannten Hochschulpersonals unterscheidet sich also nicht von den Einzelorganen, die irgendeiner staatlichen Behörde zur Erfüllung ihres Wirkungskreises zugewiesen sind. Das gilt auch für die Aufgaben, in denen eine Hochschule oder Fakultät als Rechtspersönlichkeit (§ 1 Abs. 1) tätig wird. Mangels der Verleihung der Dienstherreneigenschaft oder Dienstgeberfähigkeit an die Rechtssubjekte Hochschule oder Fakultät muß sich die Hochschule und Fakultät selbst in diesem engeren Bereiche des autonomen Wirkungsbereiches, nämlich zur Geschäftsführung im Bereiche der eigenen Rechtspersönlichkeit, des ihr vom Bund zur Verfügung gestellten Personals bedienen. Diese Gestaltung der akademischen Personalverhältnisse ist richtig, zumal da die Hochschulassistenten und zuweilen auch die wissenschaftlichen Hilfskräfte zur Vertretung von Professoren und Dozenten in der Lehrtätigkeit fallweise verwendet werden können und tatsächlich verwendet werden. „.Hochschuldozenten sind Personen, die an einer Fakultät oder an einer nicht in Fakultäten gegliederten Hochschule die Lehrbefugnis für das ganze Gebiet oder für ein größeres selbständiges Teilgebiet eines wissenschaftlichen Faches besitzen." (§13 Abs. 1 HOG) Die gesetzliche Fassung des Gegenstandes der Habilitation leidet an einer Unbestimmtheit, die freilich

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Walter Antonioiii verwendet für die Einzelorgane eines zusammengesetzten Organs den Ausdruck „Amtswalter" (Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954).

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unvermeidbar ist, wenn sie sich auf einen Ausschnitt des Lehramtes eines Lehrkanzelinhabers soll beschränken können. Eine solche Beschränkungsmöglichkeit ist hochschulpolitisch darum erwünscht, weil je nach der Größe und Schwierigkeit des Faches einer Lehrkanzel die Habilitation neuer Dozenten in einer die Besetzung vakanter Lehrkanzeln drosselnden Weise erschwert werden könnte. Die Habilitation für Teilgebiete einer Lehrkanzel bietet dank der Möglichkeit der Erweiterung der Habilitation - freilich unter der unabdingbaren Voraussetzung, daß zusätzliche wissenschaftliche Leistungen erbracht werden, die zumindest durch ein ergänzendes Kolloquium erwiesen werden - ein Reservoir von voll legitimierten Anwärtern auf die Betrauung mit der Lehrkanzel heranwachsen kann. Die gesetzlichen Begriffe des konkreten Wahlfaches, und zwar sowohl das Merkmal eines selbständigen Teilgebietes wie auch eines größeren Teilgebietes sind so unbestimmt, daß die Festsetzung des Habilitationsfaches dem Ermessen der Hochschule oder Fakultät einen beträchtlichen Spielraum gibt. Es ist eine heikle Aufgabe, eine sinnvolle Koordination der innerhalb eines Faches, innerhalb einer Fakultät und der ganzen Hochschule und sämtlicher Hochschulen des Staatsgebietes gebräuchlichen Habilitationen festzulegen und festzuhalten. Sinnlos wäre etwa die Umschreibung des Habilitationsgegenstandes mit dem Vormundschaftsrecht oder dem Erbrecht, mit dem Recht der Verbrechenstatbestände oder Übertretungstatbestände, mit der Agrarpolitik oder der Handelspolitik, mit dem Recht der direkten oder der indirekten Steuer, mit der Zoologie der Fische und der Vögel usw., da derartige, dem Bestreben der Erleichterung entspringende Begrenzungen den Gegenstand der Erkenntnis unsachlich zerreißen, unterscheidet sich grundsätzlich von der ursprünglichen Universität des deutschen Mittelalters und der frühen Neuzeit, nämlich einer fast wie ein Staat im Staat eingerichteten öffentlichrechtlichen Körperschaft, sondern entspricht dem Typus der Hochschule als einer Staatsanstalt oder auch einer mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten (selbständigen) Anstalt, deren „Selbständigkeit" aber, wie im heutigen Österreich nunmehr zufolge dem § 1 HOG sehr beengt ist. Tragbar und sinnvoll wird die Beschränkung der Hochschule auf - juristisch gesehen fremdes Personal, nämlich im Dienste des Bundes stehende Organe, namentlich auf „öffentlich-rechtliche Angestellte" (in der deutsch-rechtlichen Ausdrucksweise „Beamte") und auf Vertragsangestellte des Bundes, durch die Tatsache, daß die dauernde Indienststellung für eine öffentliche Anstalt in erster Linie eine psychische Bindung an die Anstaltszwecke und nur in zweiter Linie eine solche an den rechtlichen Träger der Anstalt mit sich

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bringt. So ist es unfolgerichtig, aber rechtlich möglich, daß die Hochschule eigenes Vermögen aber nicht eigene Organe haben kann. § 8 HOG gliedert „das Personal an jeder Hochschule" in die Angehörigen des Lehrkörpers, das andere wissenschaftliche Personal und das nichtwissenschaftliche Personal. Als Angehörige des Lehrkörpers gelten a) Personen mit der Lehrbefugnis für ein wissenschaftliches Fach (venia docendi) an der betreffenden Hochschule: die ordentlichen und außerordentlichen Hochschulprofessoren, die emeritierten Hochschulprofessoren, die Honorarprofessoren und die Hochschuldozenten; b) Personen mit der Lehrbefugnis für ein praktisches Fach oder für eine Fertigkeit an der betreffenden Hochschule: die Hochschullektoren; c) Personen mit der Lehrbefugnis für ein wissenschaftliches Fach an einer anderen in- oder ausländischen Hochschule: die Gastprofessoren, Gastdozenten und Gastvortragenden; d) Personen ohne Lehrbefugnis, die mit der Abhaltung verschiedener Lehrveranstaltungen betraut werden: die Lehrbeauftragten und Instruktoren. Der sogenannte Lehrkörper hat mangels eines ihm gesetzlich eingeräumten Wirkungskreises oder gar einer bureauförmigen oder kollegialen Zusammenfassung nicht die Eigenschaft eines besonderen Organes, geschweige denn einer Korporation innerhalb der Hochschule. Die Lehrbefugnis als Hochschuldozent wird auf Grund eines Habilitationsverfahrens vom Professorenkollegium oder der sonst zuständigen akademischen Behörde verliehen ( § 1 3 Abs. 2). Die gesetzliche Regelung dieses Verfahrens ist durch die Verordnung vom 19. November 1955, BGBl. 232, in einer Weise durchgeführt, daß die Verordnung im Vergleiche mit dem grundlegenden HOG im einzelnen sehr beachtliche Neuerungen enthält. Das Habilitationsverfahren gliedert sich in mehrere Abschnitte, die mit je einem Beschluß des Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen Behörde abzuschließen sind, mittels dessen ausgesprochen wird, ob der Bewerber zu den weiteren Abschnitten des Habilitationsverfahrens zugelassen wird. Diese Abschnitte haben zum Gegenstand: Die Prüfung des Ansuchens auf die Eignung des Bewerbers im allgemeinen, für die vorausgesetzt wird: 1. der Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft, 2. der Besitz eines im Inland gültigen Reifezeugnisses einer mittleren Lehranstalt, 3. der Besitz eines inländischen oder ausländischen gleichwertigen Doktorates,

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das für das Habilitationsfach in Betracht kommt, 4. ehrenhaftes Vorleben, 5. volle Handlungsfähigkeit, 6. der Nachweis, daß seit Abschluß des Hochschulstudiums mindestens zwei Jahre vergangen sind (die Erfordernisse 1, 2 und 6 sind dispensabel); sodann die Begutachtung der Habilitationsschrift und der sonstigen wissenschaftlichen Leistungen des Bewerbers; die Aussprache über das Habilitationsfach (Kolloquium); die Begutachtung einer Probevorlesung. Nach positiver Beurteilung aller Abschnitte hat das Professorenkollegium oder die sonst zuständige akademische Behörde zu entscheiden, ob der Bewerber auf Grund der erbrachten Leistungen zu einer Lehrtätigkeit als Hochschuldozent zugelassen wird. Fällt eine der Entscheidungen des Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde gegen den Bewerber aus, so steht es ihm frei, binnen sechs Wochen gegen den Beschluß die Aufsichtsbeschwerde an das Bundesministerium zu erheben (§13 Abs. 6 HOG). Die Beschwerdegründe, aus denen dieses außerordentliche Rechtsmittel eröffnet ist, werden vom Gesetz erschöpfend aufgezählt - so besonders die Verletzung der Vorschriften über das Habilitationsverfahren und der Widerspruch gegen andere Rechtsvorschriften. Diese Beschwerdegründe machen das Rechtsmittel zu der Einrichtung einer reinen, strengen Rechtskontrolle. Die persönliche und fachliche Würdigung des Habilitationswerbers bleibt somit ausschließlich der Hochschule vorbehalten. Trotzdem durchbricht die Einschaltung des Ministeriums als Rechtsmittelinstanz das System des Verfahrens in Hochschulangelegenheiten, denn die Verleihung der Lehrbefugnis als Universitätsdozent gehört nach § 26 Abs. 2 a 1 d HOG zum autonomen Wirkungskreis der Professorenkollegien, in denen nach § 4 Abs. 3 „der administrative Instanzenzug bei der gesetzlich berufenen akademischen Behörde" endet. Die verfahrensrechtliche Sonderregelung gibt also, juristisch gesehen, dem Habilitationsrecht eine Zwischenstellung zwischen dem autonomen und staatlichen Wirkungskreis der Hochschulen. Die nach der Bundesverfassung allgemeingültig bestehende Möglichkeit, wegen Rechtsverletzungen Bescheide von Verwaltungsbehörden beim Verwaltungsgerichtshof anzufechten, war den Kodifikatoren vermutlich zumindest wegen des langen Laufes einer verwaltungsgerichtlichen Rechtsbeschwerde unzulänglich erschienen. Falls das Ministerium einen der Gründe der Aufsichtsbeschwerde für gegeben erachtet, hat es den Beschluß der Hochschule mit der Folge zu beheben, daß die zuständige akademische Behörde das Habilitationsverfahren neu durchzuführen hat. Gegen den neuerlichen Beschluß steht wegen Rechtswidrigkeit nach Art. 130 B-VG die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof offen.

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Die Lehrbefugnis eines Hochschuldozenten erlischt durch Verzicht, dauernde Abwesenheit vom Hochschulort, fortgesetzte unbegründete Nichtausübung durch zwei Jahre, ferner durch ein Disziplinarerkenntnis, mittels dessen die Lehrbefugnis strafweise aberkannt wird, endlich mit dem Ablauf des Studienjahres, in dem der Hochschuldozent das 75. Lebensjahr vollendet. Die an einer österreichischen Hochschule erworbene Lehrbefugnis kann ohne nochmaliges Habilitationsverfahren vom Professorenkollegium oder der sonst zuständigen akademischen Behörde einer anderen Fakultät oder Hochschule auf Grund der Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen und Lehrtätigkeit anerkannt werden. Die Hochschuldozenten haben nicht die Eigenschaft von Beamten oder Vertragsangestellten, erlangen aber durch ihre Lehrbefugnis an einer staatlichen Hochschule die Eigenschaft einer besonderen Art von Bundesorganen. Dies galt sogar schon vor dem Inkrafttreten des HOG für die damals fälschlich sogenannten „Privatdozenten", eine Sonderart von Staatsorganen. Hochschullektoren sind Personen und - dank ihrer Berechtigung und gewisser, der Berechtigung entsprechenden akademischer Verpflichtungen - Bundesorgane, die die Lehrbefugnis für den Unterricht in einem praktischen Fach oder in einer Fertigkeit besitzen. Die Lehrbefugnis kann von dem Professorenkollegium oder der sonst zuständigen akademischen Behörde nach Maßgabe des Bedarfes verliehen werden (§ 14). Erwerb, Verlust und Rechtsmittel sind in Anlehnung an die Dozentur geregelt (§ 16). Eine Neuerung des Gesetzes bedeuten zwei weitere Typen von Angehörigen des Lehrkörpers: Die Lehrbeauftragten (§ 16) und die Instruktoren (§ 17). Gelehrte und sonstige Fachleute, die dem Lehrkörper der Hochschule nicht schon in einer anderen Rechtsstellung, namentlich also als Professoren oder Hochschuldozenten angehören, können vom Professorenkollegium oder der sonst zuständigen akademischen Behörde mit Genehmigung des Ministeriums als Lehrbeauftragte mit der Abhaltung bestimmter Lehrveranstaltungen wissenschaftlichen Charakters auf bestimmte oder unbestimmte Zeit oder mit der Abhaltung einzelner Vorträge betraut werden. Hochschulpolitisch wird die Einrichtung von nicht habilitierten wissenschaftlichen Dozenten bloß dadurch gerechtfertigt, daß für eine bestimmte, „dringend" erwünschte Lehrveranstaltung ein geeigneter habilitierter Fach-

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mann nicht zur Verfügung steht. Eine Umgehung der Regel, daß wissenschaftliche Lehrveranstaltungen an wissenschaftlichen Hochschulen Personen vorbehalten bleiben sollen, die den verhältnismäßig strengen fachlichen und persönlichen Voraussetzungen eines Hochschuldozenten entsprechen, könnte im Geiste des Gesetzes dadurch wirksam vermieden werden, daß der Lehrauftrag befristet wird, bis die vorläufig mit dem Lehrauftrag ausgestattete Person oder ein anderer, geeignet erscheinender Fachmann auf Grund des gesetzlichen Habilitationsverfahrens die Lehrbefugnis erhalten hat. Die durch die Ausübung des Lehrauftrages an den Tag gelegte Lehrbefähigung dürfte für sich allein keinesfalls den Verzicht auf die Habilitation rechtfertigen, wenn nicht das wissenschaftliche Niveau des Lehrkörpers durch seine Durchsetzung mit Lehrbeauftragten wenigstens optisch durch die Inflation von Lehraufträgen in weiterer Entwicklung aber auch tatsächlich herabgesetzt werden soll. Das Gesetz befristet zwingend Lehraufträge mit der Vollendung des 75. Lebensjahres. Ein Dienstverhältnis wird durch den Lehrauftrag nicht begründet, doch empfiehlt es sich, daß das Hochschullehrerdienstrecht oder ein anderes Gesetz für die ordnungsmäßige Erfüllung des Lehrauftrages, der sich als ein zustimmungsbedürftiger, also zweiseitiger Verwaltungsakt darstellt, gewisse Kautelen aufstellt. Sind die Lehrbeauftragten gewissermaßen eine Surrogaterscheinung neben den Dozenten, so die Instruktoren eine Parallelerscheinung neben den Lektoren. Instruktoren sind Personen, die vom Professorenkollegium oder der sonst zuständigen akademischen Behörde mit der Abhaltung bestimmter Lehrveranstaltungen aus einem praktischen Fach oder aus einer Fertigkeit (z.B. Turn- oder Sportunterricht) auf bestimmte oder unbestimmte Zeit betraut werden. Die Rechtsstellung eines Instruktors bedeutet unbeschadet des Ausschlusses eines Dienstverhältnisses ebenfalls eine Rechts- und Pflichtbeziehung zur Hochschule, die mit Vollendung des 70. Lebensjahres befristet ist. Auf Antrag des Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde kann das Ministerium Angehörigen des Lehrkörpers besondere Lehraufträge erteilen, Professoren jedoch nur dann, wenn die Zuordnung eines an einer Hochschule wirkenden Funktionärs zum Lehrkörper darin besteht, daß bestimmte Handlungen der so gekennzeichneten natürlichen Person der Hochschule zugerechnet werden müssen und daß zu ihren Gunsten die Rechtsvermutung des Teilhabens an der verfassungsrechtlich gewährleisteten Forschungs- und Lehrfreiheit spricht. Die Umschrei-

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bung der Aufgabe der zum Lehrkörper gerechneten Hochschullektoren (§ 14) und Instruktoren (§ 17) schließt indes für diese Gruppen innerhalb des „Lehrkörpers" jene verfassungsrechtlichen Privilegien ganz oder teilweise aus. Ein akademischer Turnlehrer ist beispielsweise nach der offenbar einem bloßen Gliederungsbedürfnis entsprechenden Umschreibung des Lehrkörpers und Abgrenzung gegenüber anderem Personal zwar „Angehöriger" des Lehrkörpers, aber aus dem bloßen Titel dieser Angehörigkeit durch keinerlei Berechtigungen und Verpflichtungen gekennzeichnet, dagegen kommt einzelnen Organen im Rahmen des „sonstigen wissenschaftlichen Personals" (§ 19) der grundrechtliche Schutz der Wissenschaft zugute. Es kann nur fraglich sein, ob ein Hochschulassistent bei der ihm übertragenen Beurteilung von Schülerarbeiten bloß gegenüber der Unterrichtsverwaltung oder auch gegenüber dem Hochschulprofessor (Lehrkanzelinhaber), dem er zugeteilt ist, als weisungsfrei angesehen werden muß. „.Emeritierte Hochschulprofesssoren sind berechtigt, ihre Lehrbefugnis unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Unterrichtes weiter auszuüben und die Einrichtungen ihres früheren Institutes (ihrer früheren Klinik) nach Maßgabe der gegebenen Möglichkeiten und im Einvernehmen mit dem neuen Instituts-(Klinik-)Vorstand zu benützen. Die Lehrbefugnis erlischt mit dem Ablauf des Studienjahres, in dem sie das 75. Lebensjahr vollenden." (§11 HOG). Das Bundesgesetz vom 18. November 1955, BGBl. 236, regelt die Pensionsbehandlung von Hochschulprofessoren und deren Emeritierung. Der Rechtsinhalt der Emeritierung ist in folgenden Bestimmungen festgesetzt: Hochschulprofessoren, die das 70. Lebensjahr vollendet haben, sind von Amts wegen von ihrer Lehrverpflichtung zu entheben (Emeritierung). Emeritierte Hochschulprofessoren gelten, sofern in diesem Bundesgesetz nichts anderes vorgesehen ist, nicht als Beamte des Dienststandes. Sie erhalten für die Dauer der Emeritierung jenen Gehalt und jene für die Ruhegenußbemessung anrechenbaren Personalzulagen, die der im Zeitpunkt der Emeritierung erreichten dienstrechtlichen Stellung entsprechen. Die Enthebung von der Lehrverpflichtung tritt mit Ablauf des Studienjahres in Wirksamkeit, in dem der Hochschulprofessor das 70. Lebensjahr vollendet. Soweit es das Interesse des fortlaufenden Unterrichtes erfordert, bleibt es dem Bundesministerium für Unterricht vorbehalten, die Emeritierung eines Hochschulprofessors erst mit dem Amtsantritt seines Nachfolgers, spätestens jedoch am Schluß des auf die Vollendung des 70. Lebensjahres nächstfolgenden Stu-

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dienjahres in Wirsamkeit zu setzen (§ 4 I.e.). Den Professorenkollegien gehören auch jene emeritierten Universitätsprofessoren und Honorarprofessoren an, die mit der Vertretung einer Lehrkanzel betraut sind. Überraschenderweise rechnet das Gesetz auch „Personen mit der Lehrbefugnis für ein wissenschaftliches Fach an einer anderen in- oder ausländischen Hochschule" (§ 9 I.e.) zum „Personal der Hochschule" und im besonderen zum „Lehrkörper" jener österreichischen Hochschule, an der sie die Rolle eines „Gastprofessors, Gastdozenten oder Gastvortragenden" spielen. Die Zweckmäßigkeit einer solchen Subsumtion wird schwerlich einleuchten. Der keine Rechtspflichten und nur die äußerliche Berechtigung, sich als Angehöriger des Lehrkörpers, etwa der Universität Wien, und im besonderen als Gastprofessor, Gastdozent und Gastvortragender mündlich und schriftlich zu bezeichnen, in sich schließende Charakter einer Person als Angehöriger des Lehrkörpers der Hochschule wird durch die Inhaltsleere fast sinnlos. Es leuchtet auch nicht ein, warum bloß „Personen mit der Lehrbefugnis für ein wissenschaftliches Fach an einer anderen inoder ausländischen Hochschule" in der Eigenschaft eines „Gastprofessors, Gastdozenten und Gastvortragenden" zur Abhaltung bestimmter Lehrveranstaltungen oder zur Abhaltung einzelner Gastvorträge auf bestimmte oder unbestimmte Zeit mit Genehmigung des Bundesministeriums für Unterricht vom Professorenkollegium eingeladen werden können. Man fragt sich, warum die Rolle eines Gastvortragenden an einer österreichischen Hochschule unbedingt an die Voraussetzung einer akademischen Funktion an einer anderen, gleichviel, ob in- oder ausländischen Hochschule gebunden ist und nicht etwa ein international anerkannter Privatgelehrter einer solchen Auszeichnung fähig sein kann. Die Bedingung der Lehrbefugnis an einer beliebigen ausländischen Hochschule ist deswegen fragwürdig, weil die unerhörte Mannigfaltigkeit des ausländischen höheren Schulwesens die Erfüllung dieser gesetzlichen Voraussetzung bei einem in Aussicht genommenen Gastprofessor, Gastdozenten oder Gastvortragenden zweifelhaft machen kann. Die Einbeziehung der Lehrbeauftragten und Instruktoren in den Kreis des Lehrkörpers (§ 91 d) wie übrigens selbst die der Hochschullektoren (§ 91 b) macht die Grenze zwischen Lehrkörper und sonstigem wissenschaftlichen Personal sachlich unscharf und unfolgerichtig, zumal da die Hochschulassistenten und zuweilen auch die wissenschaftlichen Hilfskräfte zur Vertretung von Professoren und Dozenten in der Lehrtätigkeit fallweise verwendet werden können und tatsächlich verwendet werden.

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Hochschuldozenten sind Personen, die an einer Fakultät oder an einer nicht in Fakultäten gegliederten Hochschule die Lehrbefugnis für das ganze Gebiet oder für ein größeres selbständiges Teilgebiet eines wissenschaftlichen Faches besitzen (§13 Abs. 1 HOG). Die Bestimmung des entsprechenden Höchst- und Mindestumfanges der venia docendi ist Frage des Ermessens, z.B. die Entscheidung im Sinne einer Lehrbefugnis für die Geschichte des Altertums, des Mittelalters oder der Neuzeit, die Abhaltung der Lehrveranstaltung nicht zu ihrer Lehrverpflichtung gehört oder wenn die Lehrverpflichtung nicht auf die erwünschte Lehrveranstaltung ausgedehnt wird. Für die Erfüllung eines solchen Lehrauftrages gebührt eine vom Gesetz als Remuneration bezeichnete Vergütung. Außerhalb des Lehrkörpers stehen der Hochschule als sonstiges wissenschaftliches Personal folgende Dienstnehmer zur Verfügung: Hochschulassistenten, die nach dem geltenden Organisationsrecht in einem ständigen oder nichständigen Beamtenverhältnis stehen, wissenschaftliche Hilfskräfte, Demonstratoren, Beamte und Vertragsbedienste des wissenschaftlichen Dienstes und verwandter Dienstzweige sowie „pragmatische", d.s. in einem Beamtenverhältnis stehende oder vertragsmäßig angestellte Bundeslehrer. Eine Vereinfachung dieser Typen des Hochschulpersonals und die Überprüfung der Abgrenzung dieser Typen von gewissen Grenzerscheinungen des Lehrkörpers wäre theoretisch und praktisch erwägenswert. Dieses wissenschaftliche Personal untersteht unmittelbar dem Leiter der Lehr- und Forschungseinrichtung, der es zur Dienstleistung zugeteilt ist, z.B. dem Inhaber einer Lehrkanzel oder Vorstand eines Hochschulinstitutes. Die Stufenleiter der Vorgesetzten dieses wissenschaftlichen Personals setzt sich über den Dekan bis zum Rektor fort. Die Bestellung des vertragsmäßigen wissenschaftlichen Personals kann vom Bundesministerium für Unterricht im Einvernehmen mit dem Bundeskanzleramt und dem Bundesministerium für Finanzen den akademischen Behörden übertragen werden: Da es sich trotzdem um Angestellte des Bundes handelt, ein typischer Fall von staatlicher Verwaltung der Hochschulen. Die Ernennung von Hochschulassistenten und außerhalb des Lehrkörpers stehenden pragmatisch angestellten Bundeslehrern mußte (unausgesprochen) den Hochschulen vorenthalten und dem Ministerium vorbehalten bleiben, weil nach Art. 66 B-VG die Ernennung von Bundesangestellten (in der Sprache der deutschen Gesetzgebung von Beamten) in die Zuständigkeit des Bundespräsidenten fällt und von diesem

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nur den zuständigen Mitgliedern der Bundesregierung übertragen werden kann. Die vom allgemeinen Dienstrecht abweichende Eigentümlichkeit der Ernennung von Hochschulprofessoren besteht im Vorschlagsrecht des Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde (§ 10 Abs. 3 HOG). Das Professorenkollegium (die zuständige akademische Behörde) hat das Recht, zur Besetzung eines freien Dienstpostens eines ordentlichen oder außerordentlichen Hochschulprofessors 11 Vorschläge zu erstatten, die in der Regel drei Personen zu enthalten haben (Ternavorschlag). Ausnahmen sind zu begründen. Die erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des Hochschulorganisationsgesetzes (578 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, VII. GP) begründen diese Regelung der Mitwirkung der Hochschule an der Bestellung seines Lehrkörpers folgendermaßen: „Als ein Kernstück des Entwurfes ist die Vorschrift des § 10 Abs. 3 anzusehen. Es ist dort von dem Vorgang anläßlich der Ergänzung der Professorenkollegien die Rede, also von dem Berufungsverfahren bei der Vakanz von Lehrkanzeln. Der Entwurf geht zunächst von dem seit 1848 beobachteten Grundsatz aus, wonach bei solchen Berufungen der Staat und die Hochschule die Verantwortung teilen, nebeneinander und miteinander in Erscheinung treten sollen, läßt aber erkennen, daß die Kompetenz, die der Staat zur Verwirklichung der Interessen des öffentlichen Unterrichtes wahrzunehmen hat, nicht geschmälert werden soll. In diesem Sinne hebt der Entwurf aus dem vor dem Inkrafttreten der Habilitationsnorm ergangenen Erlaß des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 11. Dezember 1848, RGBl. Nr. 20, Ergänzungsband, das Recht zur Erstattung des Ternavorschlages heraus." Die Besetzung des Dienstpostens eines Hochschulprofessors ist damit zum Ergebnis eines mehrgliedrigen obrigkeitlichen Verwaltungsverfahrens gemacht, an dem die sachlich betroffene Hochschule notwendig, und zwar an erster Stelle, vor dem Bundesministerium für Unterricht, der Bundesre-

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Die Zahl der Dienstposten an den Hochschulen ist im Dienstpostenplan festgesetzt. Der im Zeitpunkt der Niederschrift maßgebliche Dienstpostenplan für die österreichischen Hochschulen ist dem Bundesfinanzgesetz vom 11. Dezember 1956, BGBl. 6/1957, S. 226, zu entnehmen.

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gierung und dem Bundespräsidenten, durch ein Vorschlagsrecht beteiligt ist. Das Ministerium darf weder, ohne den Vorschlag abzuwarten, noch abweichend von dem Vorschlag, die Besetzung des freien Dienstpostens bewirken. Mit dem Sinn eines Vorschlagsrechtes und der Aufgabe der Hochschule als einer zur Pflege von Forschung und Lehre bestimmten Anstalt (§ 1 HOG) wäre nicht zu vereinbaren, daß die Hochschule aus irgendwelchen Gründen und mit irgendwelchen Mitteln, etwa durch den Vorschlag von charakterlich oder von staatspolitisch untragbaren Persönlichkeiten, die Besetzung eines freien Dienstpostens vereiteln darf. Jedoch hat das Ministerium der zuständigen Hochschule Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zumutbaren Frist, von der die Hochschule in Kenntnis gesetzt ist, von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch zu machen. Auch widerspräche es dem Sinn des Vorschlagsrechtes, wenn das Ministerium von einem rechtlich einwandfreien und erfüllbaren, jedoch dem Ministerium nicht genehmen Vorschlag beliebig abweichen dürfte. Das Vorschlagsrecht macht die Ernennung von einer Willensübereinstimmung zwischen dem vorschlagenden und den sonstigen an der Bestellung des Professors beteiligten Organen abhängig. Es sind dies Bundesministerium, Bundesregierung und Bundespräsident. Diese Willensübereinstimmung wird durch das als „Regel" aufgestellte Erfordernis eines Dreiervorschlages für das Ministerium erleichtert. Der Dreiervorschlag gibt die Möglichkeit, zwischen drei nach der Auffassung der Hochschule möglichen, wenn auch nicht gleichwertigen Kandidaten zu wählen, die etwa verschiedene wissenschaftliche Richtungen repräsentieren, verschiedene berufliche Laufbahnen aufweisen oder, äußerstenfalls, auch verschiedene politische Überzeugungen vertreten, da ein solcher Auslesegrund, zumal im Parteienstaat, rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Die einschränkende Gesetzesbestimmung, wonach Ausnahmen vom Ternavorschlag zu begründen sind, gibt freilich der Hochschule die Möglichkeit, sich auf einen Zweiervorschlag oder auf den Vorschlag einer einzigen Person zu beschränken. Eine sachliche Begründung für diese Einengung der Wahlfreiheit des Ministeriums ist die bevorzugte oder ausschließliche Eignung einer bestimmten Person, möglicherweise in Verbindung mit dem Umstände, daß mehr oder gleich geeignete andere Personen keinesfalls eine Berufung annehmen würden. Der Vorschlag darf nämlich sinnvoller Weise nur der Besetzung des Dienstpostens dienen, jedoch nicht ein bloßer Gefälligkeitsdienst für irgendwelche fachlich in Frage kommende Persönlichkeiten bedeuten. Der Sinn eines Vorschlagsrechtes kann auch nicht der sein, daß der Vorschlag unbedingt bindend ist, jedenfalls also eine der mehreren genannten oder die einzige im

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Vorschlag genannte Person ernannt werden müßte. Dem Ministerium steht es frei, innerhalb einer angemessenen Frist einen neuen, abweichenden Vorschlag einzuholen. So kann es von Rechts wegen zur Einholung wiederholter Vorschläge kommen, doch finden diese Prozeduren an einem etwaigen Ermessensmißbrauch der einen oder anderen Stelle eine Schranke und ein rechtlich gebotenes Ende. Gleichschaltung der beiderseitigen Absichten durch Einigung auf eine beiderseits annehmbare Person ist das Ziel des Verfahrens. Der rechtspolitische Sinn dieser Verfahrensordnung für die Bestellung von Hochschullehrern, im besonderen die Einschaltung des rechtlichen Erfordernisses mehrerer Vorschlagsrechte als Voraussetzung des Schlußaktes der Bestellung eines Hochschullehrers ist der, die höchste erreichbare Sicherheit für die Auswahl der menschlich und fachlich geeignetsten Fachleute zu erzielen. Die Beleuchtung der in Frage kommenden Kandidaten in den Beratungen mehrerer verschieden zusammengesetzter Kollegien, die geeignet und zugleich berufen sind, verschiedene Bewertungsmaßstäbe anzulegen, ist das geeignetste Mittel, Fehlbesetzungen zu vermeiden. Die unvermeidlich lange Vorbereitungszeit für ein akademisches Lehramt, insbesondere die Aneignung eines Mindestmaßes von Literaturkenntnissen in jenen Fächern, die eine schier unübersehbare und jedenfalls unausschöpfliche Weltliteratur aufweisen, so daß der gewissenhafte Fachmann am Ende eines einer bestimmten Wissenschaft gewidmeten Lebens vor dem Anspruch zurückschrickt, die Literatur seines Faches „zu beherrschen", die Opferbereitschaft, neben der Ausübung und der Fortbildung im gewählten Fach auf eine von allen anderen Berufen als selbstverständlich vorausgesetzte Freizeit zu verzichten, ferner die immer zunehmende Spezialisierung der Fächer und die warnende und das Studium drosselnde Wirkung der praktischen Unverwendbarkeit einiger Wissenschaften, wie etwa Astronomie, Archäologie, exotische Sprachen, verengen in einem kleinen Volk die Aussicht, durch die Wahl des Faches mittels eines Hochschullehramtes eine Lebensgrundlage zu gewinnen, in einem Maße, daß im Bedarfsfall geeignete und erreichbare Bewerber fehlen und daher das Ausleseverfahren mit seinen Hürden gegen weniger geeignete Bewerber um seinen Sinn kommt, im besonderen der grundsätzlich vorgesehene Dreiervorschlag rein optisch gemeint ist, weil bestenfalls einer der Genannten praktisch in Frage kommt.

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Aus den angedeuteten Umständen erklärt es sich, daß das Hochschullehramt, abgesehen von größtenteils überwundenen Vorbehalten gewisser Fächer für den „geistlichen Stand", zur Zeit der Herrschaft aristokratischer Staatsverfassungen nicht durch soziale Sperrmaßnahmen, wie etwa Privilegien des Standes, abgeriegelt war, die auch in Österreich sogar trotz der im Jahre 1867 verfassungsgesetzlich angeordneten Gleichheit vor dem Gesetz und gleichen Ämterfähigkeit aller Staatsbürger den diplomatischen Beruf und hohe sonstige Verwaltungsdienstposten wie den eines „Statthalters" tatsächlich zum Vorbehalt des Adels gemacht haben. Für das Hochschullehramt war auch auf der Höhe des Stände- und Kastenstaates aus instinktiver Einsicht in eine sachliche Notwendigkeit der Grundsatz „Freie Bahn dem Tüchtigen" herrschend geworden. (Eine Mahnung für den modernen Ein- oder Mehrparteienstaat, den Zutritt zu Hochschullehrämtern nicht durch eine individuelle Herabschraubung der dem Ermessensurteil unterliegenden Anforderungen zu erleichtern und dadurch sachlich berufenere Bewerber zurückzusetzen.) Die tatsächliche Zugänglichkeit des Lehramtes für Frauen, die von Rechts wegen schon dank dem Art. 3 des Staatsgrundgesetzes vom 21.12.1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger („Die öffentlichen Ämter sind für alle Staatsbürger gleich zugänglich") bestand, hat bisher die Berufungsmöglichkeit von Hochschullehrern nicht im entferntesten im Verhältnis der Zahl der beiden Geschlechter vermehrt sei es nun, daß sich die akademisch gebildeten Frauen trotz aller Bewährungsproben in anderen akademischen Berufen, besonders im mittleren Lehrberuf, nicht zutrauen, im Berufe eines Hochschullehrers mit den Männern in vollen Wettbewerb treten zu können, oder daß die Frauen den Hochschulbehörden, in denen die Männer bislang die erdrückende Mehrheit innehaben, nicht zutrauen, daß sie von ihrem Vorschlagsrecht in nennenswertem Ausmaß zugunsten von Frauen Gebrauch machen und damit die Bemühung der Frauen lohnen werden, die sich durch Studien und literarische Leistungen das männliche Normalmaß an sachlicher Eignung erworben haben. Unter diesen Umständen wird die Berufung von ausländischen Fachleuten, besonders in Disziplinen, die wie Geschichte und die Wissenschaft des internationalen Rechtes, staatlich nicht gebunden sind, die Berufung von Ausländern auf Hochschullehrämter zur Voraussetzung der Sicherung des wissenschaftlichen Niveaus vor den Gefahren der „Inzucht". Freilich fehlt bei den zuständigen Organen noch die Einsicht, daß eine überdurchschnitt-

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liehe literarische Leistung, namentlich in qualitativer Hinsicht, einen Seltenheitswert hat, der ebenso wie eine überdurchschnittliche künstlerische Leistung eines Dirigenten und Opernsängers finanziell gewürdigt werden muß, wenn nicht die primäre gesetzliche Aufgabe der Hochschule - wissenschaftliche Forschung - neben der sekundären Aufgabe der wissenschaftlichen Lehre versiegen soll, zumal da die Lehr- und Prüfungstätigkeit, die nicht in nennenswertem Maße aus der eigenen Forschung und deren Ausdrucksmittel, der fachlichen Publikation, gespeist wird, den Charakter einer wissenschaftlichen Funktion allmählich verliert. Aus guten Gründen hat die österreichische Gesetzgebung auf die Aufstellung des ausnahmslosen Erfordernisses eines fachlichen Befähigungsnachweises des Hochschullehrers verzichtet. Die Erwerberung der Lehrbefugnis als Hochschuldozent gemäß § 13 HOG ist nicht Voraussetzung des Vorschlags und der Ernennung einer Person zum Hochschulprofessor. Hochschuldozenten sind Personen, die an einer Fakultät oder an einer nicht in Fakultäten gegliederten Hochschule die Lehrbefugnis für das ganze Gebiet oder für ein größeres selbständiges Teilgebiet eines wissenschaftlichen Faches besitzen.12 Die Lehrbefugnis als Hochschuldozent wird auf Grund eines Habilitationsverfahrens vom Professorenkollegium (der zuständigen akademischen Behörde) verliehen (§13 Abs. 1, 2 HOG). Der Kern des Habilitationsverfahrens besteht in der Erbringung eines wissenschaftlichen Befähigungsnachweises durch Wort und Schrift. Der rechtspolitische Grund des gelegentlichen Verzichtes des Gesetzgebers auf den normalen Befähigungsnachweis durch die Habilitation ist allein in der Tatsache zu suchen, daß eine Person, deren Ernennung zum Hochschulprofessor in Frage kommt, auf eine andere Weise als durch das Habilitationsverfahren einen zumindest gleichwertigen Befähigungsnachweis mitbringt, so daß die Durchführung des Habilitationsverfahrens für die akademische Behörde oder für den in Aussicht genommenen Professor oder für beide Teile unzumutbar wird. Die bisherige Hochschulpraxis in Österreich hat bis in die jüngste Zeit diesen Ausnahmscharakter nichthabilitierter Hochschulprofessoren geradezu gewohnheitsrechtlich festgehalten. Erleichterung des Arbeitsrechtes in bezug auf Vorbildungserfordernisse be-

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Siehe oben.

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deutet kulturellen Abstieg. Angesichts der Entwicklungstendenz des Dienstrechtes in Nutzanwendung auf die Hochschule, den Befähigungsnachweis zu erleichtern, wäre eine gesetzgeberische Einschränkung der Ernennung nicht habilitierter oder nicht voll, d.h. für alle Disziplinen, die Gegenstand der Lehrverpflichtung sein sollen, habilitierten Personen rechtspolitisch wünschenswert gewesen, um das Aufkommen zweier ungleichwertiger Ränge von Hochschulprofessoren zuverlässig zu verhindern. Eine solche Gesetzesbestimmung könnte etwa den § 10 Abs. 3 HOG dahin ergänzen, daß die Vorschläge des Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde auch Personen enthalten dürfen, die für das gegenständliche Lehrfach entweder überhaupt nicht oder nur für ein größeres selbständiges Teilgebiet (§13 Abs. 1 HOG) habilitiert sind, wenn sie eine sonstige wissenschaftliche Leistung aufweisen, die dem Erfordernis einer Habilitation wenigstens gleichkommt. Ein klassischer Fall einer solchen Professur war in der österreichischen Universitätsgeschichte der Fall des weit über das damalige Österreich hinaus berühmt gewordenen Geologen Suess, der unter anderem der Öffentlichkeit durch die wissenschaftliche Planung der Ersten Wiener Hochquellenleitung bekannt geworden war. Rechtspolitisch bedeutet es eine beachtenswerte Sicherung des Bedürfnisses der Hochschule nach einer formal gleichmäßigen Behandlung der Hochschulprofessoren in bezug auf die Habilitation, von der offenbar die interne und externe Bewertung der Hochschullehrer abhängt, daß die Hochschule im Rahmen ihres Vorschlagsrechtes den gleichen Einfluß auf einen erschöpfenden Befähigungsnachweis nehmen kann, wie die übrigen an der Ernennung beteiligten Faktoren: Begreiflicherweise hat die Hochschule ein Standes- und ein wissenschaftliches Interesse daran, daß ihre autonome Zuständigkeit zur Habilitation in sachlich gebotenem Umfang gewahrt bleibt, daß aber andererseits der anerkannte wissenschaftliche Rang einer nicht habilitierten Persönlichkeit nicht durch das Beharren auf dem Formerfordernis der Habilitation sinnlos angezweifelt wird. Um peinliche Befragungen des in Aussicht genommenen Kandidaten und die Einsicht in die Habilitationsakten, die als unsachliches Mißtrauen gedeutet werden könnten, zu vermeiden, würde es sich empfehlen, in den Personaldatenverzeichnissen der Hochschule neben manchen minder wichtigen Angaben die Habilitationsdaten ersichtlich zu machen. Im Falle des Vorschlages von ausländischen Gelehrten kann und muß die Erfüllung der ausländischen Voraussetzungen des Erwerbes eines Lehramtes genügen. Die Wertgleich-

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heit des dem ausländischen Recht entsprechenden Befähigungsnachweises mit dem in Österreich maßgeblichen wird mittelbar im Vorschlag und in der Ernennung des Ausländers zum österreichischen Professor beurteilt. Nach meinen persönlichen Erfahrungen wurde im Falle der Berufung an die deutschsprachige Universität in Prag und an die Universitäten in Marburg und Tübingen die dem österreichischen Recht entsprechende Habilitation für die an der ausländischen Fakultät zu betreuenden Lehrfächer vorausgesetzt und anerkannt, und zwar mit der Maßgabe, daß tschechoslowakisches bzw. deutsches Verfassungs- und Verwaltungsrecht nach Ablauf einer zumutbaren Zeit zu betreuen seien. Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer hat auf ihrer Tagung in Freiburg i.Br. im Oktober 1961 einhellig beschlossen, ihren Mitgliedern, ohne Unterschied der deutschen, österreichischen und schweizerischen Staatsbürgerschaft, die Haltung zu empfehlen, daß nach Maßgabe der verschiedenen Universitätsordnungen bzw. Satzungen die Habilitation aus Staatsrecht samt allgemeiner Staatslehre als der Grundlagenwissenschaft des gesamten öffentlichen Rechts auch für die Fachprofessoren des Kirchen- und Völkerrechtes vorauszusetzen sei. Infolge des Charakters der Hochschuldozentur als Vorbereitungsstadium für eine Professur ergibt sich eine sachgemäße Beziehung zwischen dem Umfang des Befähigungsnachweises des Professors und des Dozenten. § 17 der Habilitationsnorm, BGBl. Nr. 232/1955, besagt: „Der Hochschuldozent darf die Lehrbefugnis nur an der Hochschule (Fakultät), an der er zugelassen wurde, und nur für das Fachgebiet ausüben, für das ihm die Lehrbefugnis verliehen wurde. Das Professorenkollegium (die zuständige akademische Behörde) hat darüber zu wachen, daß die vom Hochschuldozenten jeweils angekündigten und abgehaltenen Vorlesungen den Rahmen der ihm erteilten Lehrbefugnis nicht überschreiten." Diese Bestimmungen sind das Bekenntnis zur Kongruenz zwischen den Gegenständen des Befähigungsnachweises und der befugten Lehrtätigkeit. Jede Erweiterung der Lehrtätigkeit des Hochschuldozenten setzt eine Verleihung der Lehrbefugnis voraus (§ 13, 8 HOG). Die Rangserhöhung des Hochschullehrers in der akademischen Hierarchie kann sinnvollerweise nicht eine Minderung der Erfordernisse in bezug auf den Befähigungsnachweis mit sich bringen, zumal da mit der Ernennung zum Professor die Erweiterung der akademischen Befugnisse um das Recht der Abhaltung von Rigorosen und der Teilnahme am Habilitationsverfahren von Habilitationskandidaten, insbesondere der Begutach-

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tung der Habilitationsschrift, der aktiven Teilnahme am Kolloquium und der Begutachtung der Probevorlesung verbunden ist (§ 13 Abs. 3 HOG). Wenn dem Dozenten eine Überschreitung des Habilitationsfaches in irgendein Nachbarfach im Zuge seiner Vorlesungen verwehrt wird, so kann es nicht die Absicht des Gesetzgebers sein, ihm nach seiner Ernennung zum Professor ipso iure ohne bezügliche Habilitation (oder einen gleichwertigen sonstigen Rechtstitel seiner Ernennung für dieses Fach) die besonderen Vorrechte eines Professors ausüben zu lassen. Nach der österreichischen Hochschulpraxis genügt z.B. für die Ernennung auf eine Lehrkanzel für Philosophie nicht die Habilitation für das Teilgebiet der Logik oder der Erkenntnistheorie oder der Ethik, sondern wird die gleichzeitige oder sukzessive Habilitation für diese Teilgebiete der Philosophie vorausgesetzt. Nach demselben Prinzip genügt nicht die Habilitation für Urgeschichte zur Betrauung mit der Lehrbefugnis für die gesamte Geschichtswissenschaft, die Habilitation für Agrar-, Industrie-, Gewerbe oder Handelspolitik oder für Finanzwissenschaft nicht für die Betrauung mit dem Lehramt für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik; ebensowenig die Habilitation für Strafprozeßrecht oder Kriminologie für die Betrauung mit dem Lehramt für Strafrecht und Strafverfahrensrecht. Gleiches gilt sinngemäß für die Besetzung eines Dienstpostens für Allgemeine Staatslehre und österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht. Die Entsprechung zwischen dem Gegenstand der Habilitation und der Professur erklärt sich sachlich daraus, daß die Habilitation ihre sachliche Rechtfertigung nicht in dem Nachweis der Eignung zu einer akademischen Lehrtätigkeit überhaupt, sondern zur Forschungs- und Lehrtätigkeit für ein bestimmtes, durch den Gegenstand und eine spezifische Literatur gekennzeichnetes Gebiet der wissenschaftlichen Erkenntnis findet. Die fachliche Qualifikation, die durch eine Habilitation für einen unter Umständen eng begrenzten Ausschnitt des Gegenstandes einer Lehrkanzel erwiesen ist, versteht sich nicht von selbst für einen in zahlreichen Fällen oft ein Vielfaches an Wissensstoff und Literatur umfassenden Gegenstand einer Professur. Die Freistellung der Wahl des Ausschnittes der Lehraufgaben einer Lehrkanzel für den Zweck einer Habilitation schließt die untragbare Gefahr in sich, daß die Wahl des am leichtesten zu bewältigenden Ausschnittes Fachmänner für bloß kleine Teilgebiete eines Lehrfaches zu Lehrkanzelinhabern werden läßt, während die Hauptdisziplinen der Lehrverpflichtung durch die Habilitation nicht erfaßt sind

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und voraussichtlich auch in der akademischen und literarischen Tätigkeit des Lehrkanzelinhabers vernachlässigt bleiben. Das Erfordernis einer das gesamte Lehrfach umfassenden Habilitation ergibt sich indes nicht bloß aus der isolierten Sinndeutung der hochschulrechtlichen Rechtsvorschriften, sondern wird überdies durch Analogieschluß aus anderen Gebieten des österreichischen Verwaltungsrechtes bestätigt. Österreich gilt im Ausland als fast einzigartiges Beispiel der Herrschaft eines auf die Spitze getriebenen Befähigungsnachweises, besonders im Gewerberecht. Der aus dem Ständestaat überlieferte Standort dieses Befähigungsnachweises sind die handwerksmäßigen Gewerbe. Hier herrscht das Erfordernis der Erlernung des Gewerbes in einer jahrelangen Lehrlings- und Gehilfenzeit als unvermeidliche rechtliche Sicherung gegen das sogenannte „Pfuschertum" ungelernter Unternehmer. Der Gesetzgeber hat sich die Auffassung der handwerklichen Gewerbetreibenden fast unangefochten zu eigen gemacht, daß der Nachweis der Erlernung des Handwerkes Voraussetzung der erlaubten Ausübung des Gewerbes sein müsse. Die Möglichkeiten eines Dispenses vom Befähigungsnachweis bedeuten nicht einen Verzicht auf das Erlernen der gewerblichen Tätigkeit, sondern nur einen etwa durch den Besuch besonderer Fachschulen gerechtfertigten Ersatz für den allgemein vorgesehenen Weg der Lehr- und Gehilfenzeit unter der Führung eines fachkundigen Meisters. Die gewerbebehördliche Praxis sieht in der unbefugen Ausübung eines an den Befähigungsnachweis gebundenen Gewerbes durch einen nicht befähigten Unternehmer geradezu den Gipfel eines vom gewerbepolizeilichen Standpunkt aus strafwürdigen Verhaltens. Eindrucksolle Nutzanwendungen des verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Erfordernisses des Befähigungsnachweises sind Fälle von der Art, daß der Inhaber eines Handschuhmacher- oder Schuhmachergewerbes das Schneidergewerbe ausübt und umgekehrt oder daß ein Hufschmied sich berufen fühlt, das Goldschmiedgewerbe auszuüben, aber auch, daß ein Goldschmied dem Hufschmied ins Handwerk pfuscht. Noch auffälliger ist die Einrichtung des österreichischen Gewerberechtes, daß gewisse Handelsgewerbe, wie etwa der Gemischtwarenhandel, ja sogar der Flaschenbierhandel, an einen Befähigungsnachweis gebunden sind, obwohl hier weniger die berufliche Eignung als der Schutz vor unerwünschtem Wettbewerb bestimmend ist. Es kann hierbei die Frage unentschieden bleiben, ob das Auslegungsergebnis, demzufolge im Bereich der Lehre der Wissenschaft das Erfordernis

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des Befähigungsnachweises gemäß den Erfordernissen der Habilitationsnorm für jedes einfache Lehrfach besteht - wobei im Falle einer stufenweisen Habilitation sinnvollerweise auf einen neuerlichen Probevortrag verzichtet wird - durch Geseizesanalogie oder /?ec/iteanalogie begründet wird. 13 Die Auslegung des Rechtes führt sonach ohne oder mit Zuhilfenahme der Analogie zu dem Ergebnis, daß für jedes einzelne Lehrfach nicht nur der Dozent, sondern um so mehr der Professor dem Erfordernis des Befähigungnachweises unterliegt. Teilhabilitationen ohne Ergänzung durch komplementäre Habilitationen für das vom künftigen Lehrkanzelinhaber zu betreuende Fachgebiet sind unsachliche und unzulässige Erleichterungen der akademischen Berufswahl. Die Lehrverpflichtung eines Lehrkanzelinhabers kann hingegen auf Grund einer Forschungstätigkeit, die vor allem durch zusätzliche literarische Arbeiten belegt wird, über das in der ursprünglichen Umschreibung der Lehrverpflichtung festgesetzte Ausmaß hinaus erweitert werden. Derartige hypothetische Zuwiderhandlungen gegen das Hochschulrecht werden dadurch noch bedenklicher, daß sie zugleich in der Regel eine Verletzung des Grundrechts der Gleichheit vor dem Gesetz bedeuten würden. Der Schwierigkeitsgrad der Erlangung eines Hochschullehramtes für gegenständlich weitgespannte Fächer, die den Inhalt einer Lehrkanzel ausmachen, schwankt offenbar in ungeheurem Maße, je nachdem, welche Teilgebiete durch eine Habilitation belegt sind. Wenn es gar dem Belieben eines Bewerbers, der zum Schaden der Hochschule an sich geringere Ansprüche stellt, anheimgestellt ist, für welches Teilgebiet er sich der Habilitation unterzieht, dann könnte es dazu kommen, daß die den geringsten Arbeitsaufwand bedingenden Fächer durch eine Habilitation fundiert werden, wogegen die die größte Denkarbeit und das Höchstmaß an Literaturkenntnis bedingenden Fächer ohne Habilitation durch einen fehlerhaften Verwaltungsakt zum Inhalt einer Lehrverpflichtung des Lehrkanzelinhabers werden. Die Toleranz in bezug auf die Gegenstände der Habilitation kann zu einer unsachlichen Schwergewichtsverlagerung in der Ausübung der Lehr- und Forschungsaufgabe, die § 1 HOG zur pflichtmäßigen Aufgabe

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Oskar Pisko, In Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch von Heinrich Klang, 1. Aufl., 1. Bd., 1. Halbband, besonders S. 7 ff.

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der wissenschaftlichen Hochschulen macht, und schließlich zu einer katastrophalen Schrumpfung wissenschaftlicher Fächer im Vergleich mit anderen Hochschulen und vielleicht noch mehr im Vergleich mit anderen Staaten werden. Die eigene Bemühung des Hochschullehrers um die Ersatzleistung für das Defizit in der Habilitation durch schriftstellerische Tätigkeit kann gewiß mit der Zeit einen Ausgleich herstellen, entlastet aber doch nicht den Nutznießer von Vorteilen von dem Odium einer sachlich ungerechtfertigten Sonderbehandlung. Die Bedenken gegen eine solche rechtswidrige Sonderbehandlung wiegen um so schwerer, als die unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnisse der rechtlich voll legitimierten Hochschullehrer an sich unvermeidlich starke Abstufungen der tatsächlichen Forschungs- und Lehrarbeit mit sich bringen. Eine Ausnahme von dem Rigorismus des Habilitationserfordernisses scheint unvermeidlich und gerechtfertigt zu sein: die Tatsache, daß der vorhandene inländische Nachwuchs für die freiwerdenden Dienstposten nicht genügt. Gerade der Beruf des Hochschullehrers, wie übrigens auch Spitzenverwendungen im Kunstbetrieb und in der Wirtschaft, ermöglicht und bedingt jedoch eine Ergänzung der inländischen Kräfte aus dem Ausland, im besonderen für Österreich aus einem einzigartigen Reservoir gleichsprachiger Kräfte. Die Ausrede mit dem finanziellen Unvermögen ist angesichts des Parallelfalles der Heranziehung ausländischer Kunstkräfte um ein Vielfaches der im Inland üblichen Honorare nicht ernst zu nehmen. Die Spannung zwischen in- und ausländischen Entgelten ist in der Wissenschaft viel geringer als in der Kunst; sie kann und muß im Interesse der Parität der Versehung der einzelnen Forschungs- und Lehrfächer mit dem vergleichbaren Ausland in Anbetracht der Elastizität des staatlichen Subventionsaufwandes geleistet werden und macht sich bezahlt, nicht zuletzt als Durchbrechung einer niveaumindernden Inzucht und eines Ansporns des inländischen Nachwuchses bei der Gemeinschaftsarbeit mit ausländischen Fachgenossen. Mit der Ernennung erwirbt der ordentliche und der außerordentliche Hochschulprofessor die Lehrbefugnis für das ganze Gebiet seines Faches. Seine Lehrverpflichtung wird vom Bundesministerium für Unterricht jeweils nach Maßgabe des Bedarfes und unter Berücksichtigung der Studienvorschriften festgesetzt (§ 10 HOG). Diese neue gesetzliche Umschreibung der Lehrbefugnis des Hochschulprofessors bedeutet für die rechts- und

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staatswissenschaftliche Fakultät im Vergleich mit der bisherigen Rechtslage eine wesentliche Einengung. Während nach der bisherigen Rechtslage jeder wirkliche (beamtete) Professor berechtigt war, sämtliche Lehrfächer der Fakultät zu lehren, also Vorlesungen und sonstige Lehrveranstaltungen aus sämtlichen Fachgebieten anzukündigen und abzuhalten, „wird nunmehr die Lehrbefugnis auf das ganze Gebiet seines Faches", das mit der Ernennung festgesetzt und in der Ernennungsurkunde umschrieben ist, eingeschränkt. Die Lehrbefugnis deckt sich nicht notwendig mit der Lehrverpflichtung, doch muß sich die Lehrverpflichtung sinngemäß im Rahmen der durch die Ernennung und einen allfälligen späteren Bescheid umschriebenen Lehrbefugnis halten. Je enger die Lehrverpflichtung umschrieben ist, desto größer ist die Ermessensfreiheit in bezug auf die praktische Auswertung der Lehrbefugnis, die Wahlmöglichkeit von Lehrveranstaltungen, wofern die Hörerschaft Interessen außerhalb der Pflichtveranstaltungen an den Tag legt. V. Die Akademischen Behörden Die akademischen Behörden an den Universitäten sind: die Professorenkollegien, die Dekane, der Akademische Senat und der Rektor, also zwei Kollegialorgane und zwei Einzelorgane. Die Einzelorgane sind zugleich Chefs der ihnen beigegebenen Büros, der Rektorate und Dekanate, die vom Gesetz „Dienststellen" der Hochschulen genannt werden. Das Rektorat ist zugleich das Büro zur Ausführung der Amtsgeschäfte des Akademischen Senats, das Dekanat das Büro zur Ausführung der Amtsgeschäfte des Professorenkollegiums. Die Zahlungsgeschäfte besorgt an jeder Hochschule, und zwar in deren doppelter Eigenschaft als Organ des Bundes und der juristischen Personen Hochschule und Fakultät eine Quästur, ebenfalls unter Leitung des Rektors. An den Fachhochschulen erfährt diese Organisation gewisse in der Regel vereinfachende Abwandlungen. Die Fakultäten werden vom Professorenkollegium und vom Dekan, die Universitäten vom Akademischen Senat als oberster akademischer Behörde und vom Rektor „geleitet". Der Ausdruck „leiten" ist hier im einfachen Sinn der Besorgung der Hochschulverwaltung (abgesehen von der Lehr- und Forschungstätigkeit) zu verstehen, zumal da den genannten Kollegialorganen keine Ausführungsorgane unmittelbar unterstellt sind. Insbesondere stehen der Dekan und der Rektor zu den unter seinem Vorsitz funktionierenden Kollegialorganen nicht in einem Über- und Unterordnungs-, sondern in einem Gleichordnungs Verhältnis.

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Selbstverständlich darf die Bestätigung der Wahl eines akademischen Amtsträgers weder ausdrücklich noch verschwiegenermaßen aus einem von der Rechtsordnung verpönten Grund verweigert werden. Die Verweigerung der Bestätigung eines Dekans von Seiten des ehemaligen k.k. Ministeriums für Kultus und Unterricht unter der einbekannten Begründung, daß der Dekan einem bestimmten, übrigens gesetzlich anerkannten religiösen Bekenntnis angehöre, war schon damals ungeachtet der grundsätzlichen Ermessensfreiheit des Ministeriums verfassungswidrig, was ein abändernder Bescheid des Ministeriums eingesehen hat. Eine gleichartige Haltung des Bundesministeriums für Unterricht, die bloß als irreale Hypothese erwogen werden kann, würde dem Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz in der Fassung des Art. 2 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger und des Art. 7 B-VG, dem Grundrecht der gleichen Zugänglichkeit aller öffentlichen Ämter für alle Staatsbürger, schließlich dem Grundrecht der Unabhängigkeit des Genusses der bürgerlichen Rechte von dem Religionsbekenntnisse nach Art. 14 des zit. StGG widersprechen. Die Dekane und Rektoren sind für jedes Studienjahr im Monat Juni des vorhergehenden Studienjahres zu wählen. Der Gewählte ist zur Annahme der Wahl verpflichtet, soweit nicht in seiner Person gelegene Gründe die Annahme unzumutbar machen, worüber das Wahlkollegium entscheidet (§ 22 HOG). Die Wahl bedarf der Genehmigung des Ministeriums, das nach Ermessen, mit Begründungspflicht im Fall der Ablehnung, entscheidet. Der Rektor wird bei zeitweiliger Verhinderung, wofür nach bisheriger Gepflogenheit die einfache Erklärung der Verhinderung genügt, durch seinen Amtsvorgänger (Prorektor) vertreten. Diesen vertritt der Dekan der Fakultät, aus der der Rektor hervorgegangen ist. Der Dekan wird durch seinen Amtsvorgänger (Prodekan) und dieser durch den dienstältesten Professor vertreten. Bei Abgang oder dauernder Verhinderung eines akademischen Funktionärs entscheidet das Professorenkollegium bzw. der akademische Senat, ob eine Neuwahl für den Rest der Funktionsperiode vorzunehmen ist oder ob die Stellvertretung fortzudauern hat (§ 23 HOG). Den Professorenkollegien gehören mit Sitz und Stimme an: die ordentlichen und außerordentlichen Professoren, emeritierte und Honorarprofessoren jedoch nur, wenn sie mit der Vertretung einer Lehrkanzel betraut sind, worin eine wesentliche Beschränkung der Rechtsstellung des emeritierten Professors im Vergleiche mit den entsprechenden Einrichtungen des Auslandes gelegen ist, ferner, je nach der Zahl der Hochschuldozenten, zwei bis vier von den

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gesamten Dozenten der Fakultät auf je ein Jahr gewählte Vertreter der Dozenten (§ 24 HOG). Das gesetzliche Quorum für Beschlüsse und damit sinngemäß für das ganze Verfahren des Professorenkollegiums, das eine rechtliche Voraussetzung der Beschlüsse darstellt, ist die Hälfte der Mitglieder. Ein Antrag gilt als angenommen, wenn die absolute Mehrheit der in der Sitzung anwesenden Mitglieder für den Antrag stimmt, wobei mangels einer anderen gesetzlichen Anordnung die rechtliche Stellung des Mitgliedes (etwa als Dozentenvertreter) für die Bewertung der Stimme belanglos ist. Stimmengleichheit bedeutet sonach Ablehnung des Antrages. Ob und welche Abstimmungen öffentlich oder geheim stattfinden, bestimmt mangels einer gesetzlichen Anordnung die vom Professorenkollegium mit Dreiviertelmehrheit der anwesenden Mitglieder zu beschließende Geschäftsordnung des Professorenkollegiums. Jedes Mitglied des Professorenkollegiums hat die Pflicht, an den Sitzungen teilzunehmen. Diese Fassung des Gesetzes erlaubt das Urteil, daß die Organstellung als Mitglied einer akademischen Behörde vor jeder zeitlich kollidierenden anderen akademischen Verpflichtung Vorrang hat. Bei Verhinderung hat das Mitglied dem Dekan die Gründe für sein Fernbleiben rechtzeitig bekanntzugeben. Über die Stichhältigkeit der angegebenen Entschuldigungsgründe befindet das Professorenkollegium. Wenn also den Umständen des Falles nach das Professorenkollegium nicht schon vor der Abwesenheit seines Mitgliedes über deren Rechtfertigung Beschluß fassen kann, so bleibt eben das Mitglied unter seiner eigenen Verantwortung auf die Gefahr hin der Sitzung fern, im Disziplinarverfahren für eine ungerechtfertigte Absenz verantwortlich gemacht zu werden. Die maßgebliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Abwesenheit trifft sonach die Disziplinarbehörde. Die Präsenzpflicht der Mitglieder der akademischen Kollegien und eine strenge Auslegung dieser Präsenzpflicht entspricht der Vorstellung, daß die Selbstverwaltung der Hochschule und die Beteiligung des einzelnen Hochschullehrers an diesem Vorrechte eine Auszeichnung der Hochschule und des einzelnen Hochschullehrers ist. Diese Erkenntnis erlaubt auch die Auslegung, daß nicht die bloße Beteiligung, sondern auch ein eindeutiges Bekenntnis, sei es nun für oder gegen den zur Abstimmung gestellten Antrag, geboten ist. Gerade in einem solchen eindeutigen, ohne Rücksicht auf die persönlichen Folgen geäußerten Bekenntnis erfüllt sich

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außer in der Unbeirrbarkeit der eigenen Überzeugung in Forschung und Lehre der sprachgerechte Sinn und Berufeines Professors. Die wenigstens disziplinarrechtlich geschützte Pflicht der Bekundung - und nur im Falle der öffentlichen Abstimmung des Bekenntnisses - der Überzeugung in den Angelegenheiten, die zum Wirkungskreis der akademischen Kollegien gehören, ist der kleine, rechtlich geforderte Preis für das große Vorrecht der freien Forschung und Lehre. Zugleich ist die Mitgliedschaft in den akademischen Kollegialorganen die Vorbereitung für eine dem akademischen Geist entsprechende Betätigung als Einzelorgan der Hochschulverwaltung, im besondern als Rektor und Dekan. Das Professorenkollegium kann aus seiner Mitte ständige und nicht ständige Kommissionen bilden, denen es die Vorberatung, Begutachtung und Bearbeitung einzelner Angelegenheiten übertragen kann. Selbst die Entscheidung einzelner Angelegenheiten kann einer Kommission übertragen werden, die somit für diese Angelegenheit dank der gesetzlichen Ermächtigung zur Subdelegation voll in den Wirkungskreis des Professorenkollegiums eintritt (§ 25 Abs. 5 HOG). Die Geschäftsordnung des Professorenkollegiums hat festzustellen, für welche Angelegenheiten und mit welchen Vollmachten ständige Kommissionen eingesetzt werden, ferner in welchen Angelegenheiten jedenfalls ein Beschluß des Professorenkollegiums notwendig ist, so daß für alle nicht in dieser Weise dem Plenum vorbehaltenen Angelegenheiten der Beschluß einer vom Plenum eingesetzten Kommission genügt. Eine Neuerung bedeutet die Vorschrift, daß der Schriftverkehr der Professorenkollegien mit dem Ministerium über den Rektor zu leiten ist. Der Rektor hat das Recht, Geschäftsstücke der Professorenkollegien, ausgenommen Anträge auf Ernennung ordentlicher oder außerordentlicher Professoren, dem akademischen Senat vorzulegen; mangels einer näheren Bestimmung doch wohl trotz der Stellung des Senats als der obersten akademischen Behörde bloß zu dessen Unterrichtung. Der Wirkungskreis der Professorenkollegien wird durch eine großzügige Generalklausel umschrieben, innerhalb deren die wichtigeren Angelegenheiten des autonomen Wirkungskreises in einer demonstrativen Aufzählung von 24 Punkten hervorgehoben werden. Zum Wirkungskreis der Professorenkollegien gehören alle Angelegenheiten des Forschungs- und Lehrbetriebes der Fakultät, ferner alle Angelegenheiten der Hochschulverwaltung, die nicht ausdrücklich dem Akademischen Senat vorbehalten oder die nicht

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nach Maßgabe besonderer Regelung anderen Dienststellen übertragen werden. Es spricht also insbesondere eine gesetzliche Vermutung zugunsten der Professorenkollegien, einerseits in der Beziehung zum Dekan der Fakultät, andererseits sogar in Beziehung zum Akademischen Senat und unausgesprochen auch gegenüber dem Rektor. Beschlüsse über die Verleihung der Lehrbefugnis als Honorarprofessor, Universitätsdozent, Universitätslektor, die Bestellung als Gastprofessor, Gastdozent und Gastvortragender, die Betrauung von Lehrbeauftragten und Instruktoren, über die Geschäftsordnung des Professorenkollegiums, die Wahl der akademischen Funktionäre der Fakultät, über die Instituts- bzw. Klinikordnungen, über die Führung von Hochschulkursen und über die Betätigung der Fakultät als Rechtspersönlichkeit des bürgerlichen Rechtes bedürfen der Genehmigung des Ministeriums (§ 26). Das Professorenkollegium hat jährlich aus der Zahl der ordentlichen Professoren, im Bedarfsfall auch der außerordentlichen Professoren, wenn sie einem Institut oder einer Klinik vorstehen, den Dekan zu wählen. Führt der erste Wahlgang und die Stichwahl zwischen den im zweiten Wahlgang mit der höchsten Stimmenzahl bedachten Kandidaten zu keinem Ergebnis, so hat der Akademische Senat zwischen den in die Stichwahl einbezogenen Kandidaten zu entscheiden. Der Dekan ist der „Vorstand der Fakultät", der Vorsitzende des Professorenkollegiums (§ 28) und der Leiter des Dekanats als des der Fakultät beigegebenen Büros (§ 56). Dem Dekan als Vorstand der Fakultät obliegt die Durchführung der Beschlüsse des Professorenkollegiums und die Vollziehung der jeweils anzuwendenden Vorschriften. Steht die Durchführung eines Beschlusses des Professorenkollegiums nach Ansicht des Dekans im Widerspruch zu diesen Vorschriften, so hat der Dekan mit der Durchführung zunächst auszusetzen und dem Bundesministerium zu berichten, das die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat. Hiemit wird dem Organ der autonomen Hochschulverwaltung eine Rolle im Zuge der Staatsaufsicht auferlegt. Als Vorsitzender des Professorenkollegiums kann der Dekan Geschäftsstücke, die von geringerer Bedeutung sind, namens des Professorenkollegiums selbst erledigen, sofern nicht die Geschäftsordnung einen Beschluß des Kollegiums ausdrücklich für erforderlich hält (§ 28). Dieses Eintrittsrecht des Dekans in Angelegenheiten des Kollegiums gibt ihm Gelegenheit, nach seinem Ermessen in bezug auf das Ob und Wie die

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Geschäftsbehandlung der Fakultät über die Subdelegation von Angelegenheiten an Fakultätskommissionen hinaus zu vereinfachen. An die Stelle des Plenums kann demnach nicht nur allgemein eine Kommission, sondern fallweise sogar der Dekan treten. Der Akademische Senat der Universitäten besteht aus dem Rektor, dem Prorektor, den Dekanen, Prodekanen und den Senatoren, welche von der Katholisch-theologischen, Rechts- und staatswissenschaftlichen, Medizinischen und Philosophischen Fakultät für die Dauer von drei Studienjahren aus den Mitgliedern des Professorenkollegiums zu wählen sind. Der Wirkungskreis des Akademischen Senats wird durch eine Generalklausel umschrieben, innerhalb deren 10 Angelegenheiten des Senats in einer demonstrativen Aufzählung hervorgehoben werden. Zum Wirkungsbereich des Akademischen Senats gehören die Beratung und Beschlußfassung über Angelegenheiten des Forschungs- und Lehrbetriebes sowie über Angelegenheiten der Hochschulverwaltung, in allen Fällen jedoch nur, wenn sie über den Wirkungsbereich einer Fakultät hinausreichen oder die Interessen von mehr als einer Fakultät berühren. Beschlüsse des Akademischen Senates über seine eigene Geschäftsordnung, ferner über die Verleihung des Ehrendoktorates und anderer akademischer Ehrentitel sowie der Widerruf dieser Ehrentitel bedürfen der Genehmigung des Ministeriums. Der Rektor der Universität wird im Juni jedes Studienjahres aus der Zahl der ordentlichen Professoren durch Wahlmänner, die von den Fakultäten entsendet werden, gewählt. Berufungsorgan ist im Einklang mit der österreichischen Hochschulüberlieferung ein bloß zum Zwecke der Rektorswahl berufenes Kollegialorgan. Die Wahl des Universitätsrektors wird in § 31 HOG in Anlehnung, aber nicht völliger Übereinstimmung mit dem bisherigen Rechtszustand geregelt. Der Rektor wird jährlich aus der Zahl der ordentlichen Universitätsprofessoren durch Wahlmänner, die von den Fakultäten entsendet werden, gewählt. An jeder Fakultät, an der die Zahl der außerordentlichen Universitätsprofessoren beziehungsweise der Universitätsdozenten wenigstens ein Viertel der Zahl der ordentlichen Universitätsprofessoren erreicht, wählen die ordentlichen Universitätsprofessoren aus ihrer Mitte vier Wahlmänner,

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die außerordentlichen Universitätsprofessoren sowie die Universitätsdozenten je einen Wahlmann aus ihrer Mitte. An Fakultäten, an denen die Zahl der außerordentlichen Universitätsprofessoren beziehungsweise der Universitätsdozenten geringer ist als ein Viertel der Zahl der ordentlichen Universitätsprofessoren, wählen die Professorenkollegien aus ihrer Mitte vier Wahlmänner, von denen zwei aber auch außerordentliche Universitätsprofessoren oder Universitätsdozenten sein können. Die Zahl und die Auslesemethode der Wahlmänner ist sonach verschieden geregelt, je nach der Zahl der der Fakultät angehörenden ordentlichen und außerordentlichen Professoren und Universitätsdozenten. Wenn nämlich die Zahl der außerordentlichen Professoren oder die Zahl der Dozenten weniger als ein Viertel der ordentlichen Professoren beträgt, entfällt die Aufgliederung der Fakultät in die drei Wahlkörper, die aus den ordentlichen, den außerordentlichen Professoren und den Universitätsdozenten zusammengesetzt sind, sondern die Fakultät wählt als ein einziger Wahlkörper, dem alle drei Gruppen von Angehörigen des Lehrkörpers angehören. In dem letzteren Fall ist eine Wahl von außerordentlichen Professoren und Dozenten nicht obligatorisch, sondern fakultativ vorgesehen; sonach ist es möglich, daß bloß ordentliche Professoren zu Wahlmännern gewählt werden oder daß neben zwei oder drei ordentlichen Professoren ein bis zwei außerordentliche Professoren oder Universitätsdozenten gewählt werden. Der Rektor ist Vorstand der Universität und Vorsitzender des Akademischen Senates (§ 32 Abs. 1 HOG). Als Vorstand der Universität obliegt dem Rektor die Durchführung der Beschlüsse des Akademischen Senates und die Vollziehung der jeweils anzuwendenden Vorschriften. Steht die Durchführung eines Beschlusses des Akademischen Senates nach Ansicht des Rektors im Widerspruch zu diesen Vorschriften, so hat der Rektor mit der Vollziehung zunächst auszusetzen und dem Bundesministerium für Unterricht zu berichten, das die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat (§ 32 Abs. 2 HOG). Der Rektor ist also gleich den Dekanen unter den bezeichneten Voraussetzungen vorbereitendes Organ der Staatsaufsicht. Gleich den Dekanen ist der Rektor berechtigt, Angelegenheiten des akademischen Kollegiums, dem er vorsitzt, wenn sie nach seinem Ermessen von geringerer Bedeutung sind, namens des Akademischen Senates selbst zu erledigen, wofern nicht die Geschäftsordnung einen Beschluß des Senates ausdrücklich für erforderlich erklärt (§ 32 Abs. 3 HOG).

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Der Rektor hat für die Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem „Boden" der Universität zu sorgen. Diese für jeden Chef einer Anstaltsverwaltung selbstverständliche Rechtspflicht wird im Gesetze darum ausgesprochen, weil nach der Überlieferung der österreichischen Hochschulen die namentlich der Würde einer höchsten Kulturanstalt angemessene Ruhe und Ordnung in vergangenen Jahren durch Hochschüler und hochschulfremde Personen nicht selten gestört worden ist. Zur Erfüllung dieser Aufgabe erteilt das Gesetz dem Rektor, abgesehen von dem in den Disziplinarvorschriften vorgesehenen Befugnissen, die Berechtigung, Studierenden bis zum rechtskräftigen Abschluß des einzuleitenden Disziplinarverfahrens und hochschulfremden Personen, die die Ordnung auf dem Boden der Universität gestört haben oder gefährden, die Anwesenheit bei Lehrveranstaltungen und akademischen Prüfungen (die nach österreichischem Recht unbeschränkt öffentlich abzuhalten sind), oder das Betreten des Universitätsbodens zu verbieten und die zur Durchführung des Verbotes notwendigen Weisungen zu erteilen. Gemeint sind hiemit doch wohl nur Weisungen an hochschuleigene Organe. Da das Gesetz über den Inhalt dieser Weisungen schweigt, ist aus dem Zweck der Vollmacht die Ermächtigung zu folgern, daß die angewiesenen akademischen Vollzugsorgane nötigenfalls Brachialgewalt gegen die verbotswidrig auf akademischem Boden anwesenden Personen anwenden können. Weitergehende Vollstreckungsmittel bedürfen nach dem Grundsatz der rechtsstaatlichen Verwaltung einer besonderen formell-gesetzlichen Ermächtigung (Art. 18 Abs. 1 B-VG). Zur Erfüllung dieser Aufgaben bedient sich der Rektor zunächst des ihm unterstellten Personals (§ 33 Abs. 5). Das Gesetz läßt die Frage: was dann? unbeantwortet. Die Antwort ergibt sich aus anderen Rechtsvorschriften, vor allem aus dem Art. 22 B-VG, wonach alle Organe des Bundes, der Länder oder Gemeinden im Rahmen ihres gesetzmäßigen Wirkungskreises zur gegenseitigen Hilfeleistung verpflichtet sind, der Rektor sonach andere Verwaltungsorgane rechtswirksam ersuchen kann, seine Befehle im Dienste der Aufrechterhaltung der Ordnung auf akademischem Boden befolgen zu machen. Zur Verhinderung drohender und zur Verfolgung begangener strafbarer Handlungen sind die Organe der Sicherheitspolizei berechtigt und verpflichtet, - falls der Rektor nicht ihre Hilfe in Anspruch nimmt, was bei Unkenntnis der akademischen Organe von den polizeiwidrigen Vorgängen naheliegt, selbst spontan, - korrekterweise unter gleichzeitiger Mitteilung an den Rektor, die im Gesetz vorgesehenen Amtshandlungen, z.B. die Festnahme der fraglichen Person vorzunehmen, nötigenfalls von der Waffe Gebrauch zu machen. Mangels einer

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gesetzlichen Begriffsbestimmung des „Bodens der Universität" (sowie der anderen Hochschulen) ist auf die übliche Auslegung dieses Begriffes verwiesen, und sind darunter alle den Zwecken der Hochschule gewidmeten Räume und Grundstücke (wie etwa Sportplätze), gleichviel, ob sie im Eigentum des Bundes stehen oder etwa gemietet oder gepachtet sind, zu verstehen. Aus den einigermaßen abgewandelten Organisationsbestimmungen für die anderen Hochschulen ist besonders bemerkenswert, daß die Technischen Hochschulen außer dem Akademischen Senat ein mit überwiegenden Zuständigkeiten ausgestattetes „Gesamtkollegium" aufweisen, daß hingegen an Hochschulen ohne Fakultätsgliederung als Kollegialorgan der autonomen Hochschulverwaltung bloß das Professorenkollegium besteht. VI. Die Lehr- und Forschungseinrichtungen der Hochschulen In einem letzten organisationsrechtlichen Abschnitt regelt das Gesetz jene Hochschuleinrichtungen, die unmittelbar der Verwirklichung der im § 1 vorgezeichneten Aufgabe der Hochschule, nämlich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre dienen, wogegen der vorangehende, viel ausführlichere Teil des Gesetzes die organisatorischen Werkzeuge entwickelt, gewissermaßen die menschlichen Medien gestaltet, durch die die Lehr- und Forschungseinrichtungen lebendig werden. An einzelnen Lehr- und Forschungseinrichtungen sieht das Gesetz vor: Lehrkanzeln (§ 58), Institute und Kliniken (§ 59), Lehrveranstaltungen (§ 60), Bibliotheken (§ 61) und Hochschulkurse (§ 62). Die rechtliche Form dieser vom Gesetz konstruierten Einrichtungen hat bloß so viel gemeinsam, daß sich innerhalb dieser weder personifizierten noch nach einem herkömmlichen Organtypus (Behörde, Amt, Dienststelle und dergleichen) gestalteten Hochschuleinrichtungen die Lehr- und Forschungsaufgabe abspielt. Die Institute und Kliniken einerseits, die Bibliotheken andererseits geben außerdem einer besonderen Instituts- und Klinikverwaltung bzw. Bibliotheksverwaltung Raum und erfüllen dieserart durch das in ihnen zusammengefaßte und einen akademischen Sonderzweck gewidmete Personal und öffentliche Vermögen die Rechtsfigur von Zweiganstalten der Anstalt Hochschule, der sie zugehören.

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a) Die Lehrkanzeln (§ 58 HOG) Im einzelnen dienen die Lehrkanzeln der wissenschaftlichen Lehre. Sie können „Zur Vertretung" a) eines Faches in seinem ganzen Umfang, b) eines selbständigen Teilgebietes eines Faches, c) „desselben Faches durch mehrere Lehrkanzeln" errichtet werden. Der Fall, daß eine Lehrkanzel zwei oder mehr „Fächer" im gebräuchlichen fachwissenschaftlichen Sinn dieses Wortes, z.B. die Staatslehre und das Verfassungsrecht, und die Verwaltungslehre und das Verwaltungsrecht, an einer Hochschule zu betreuen hat, wird nicht ausdrücklich vorgesehen, soll aber vermutlich nicht ausgeschlossen sein. Es können dann wohl die in der wissenschaftlichen Systembildung unterschiedenen, aber in einer Lehrkanzel zusammengefaßten Fächer als „ein Fach" im Sinne des Gesetzes verstanden werden. Der Fall „eines selbständigen Teilgebietes eines Faches" erfüllt sich etwa in der Einrichtung besonderer Lehrkanzeln zur Pflege der antiken, mittelalterlichen, neueren Geschichte, Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte. Jedes dieser Teilgebiete eines Faches im wissenschaftlichen Sinn ergibt dann ein von der Lehrkanzel betreutes Fach im juristischen Sinn. Schwer vorstellbar ist die Ausdrucksweise des Gesetzes, daß Lehrkanzeln auch „zur Vertretung desselben Faches durch mehrere Lehrkanzeln errichtet werden" können. Gemeint ist offenbar der Fall, daß je nach dem Bedarfe der Hochschulen mehrere Lehrkanzeln für „dasselbe" Fach, anders ausgedrückt, mit übereinstimmender Abgrenzung des zu betreuenden Faches errichtet werden können. Lehrkanzeln werden nach Anhörung des zuständigen Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde vom Ministerium errichtet, benannt und aufgelassen. Das Ministerium bestimmt nach Anhörung der zuständigen akademischen Behörde, welche Fächer (im wissenschaftlichen Sinne des Wortes) von den einzelnen Lehrkanzeln zu betreuen sind. Der in der Weise eines „Kurztitels" gewählte Name einer Lehrkanzel braucht also nicht erschöpfend zu sein, sondern ist nur ein annähernder sprachlicher Hinweis auf das wissenschaftliche Gebiet, das von der Lehrkanzel zu betreuen ist. Es sei hervorgehoben, daß das Gesetz mit der Lehrkanzel nur eine Lehr- und nicht eine Forschungsaufgabe verbindet. Dem Inhaber der Lehrkanzel bleibt selbstverständlich unbenommen, neben seiner Lehraufgabe auch Forschung auf dem Gebiete seines Lehrfaches wie jedes anderen Faches zu betreiben, ja, er ist sogar im Dienste seiner Lehraufgabe verpflichtet, soweit auch der Forschung zu dienen, als es notwendig ist, daß er über eine Lehrmeinung nicht bloß berichtet, sondern sich zu einer Lehrmeinung

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als richtig oder möglich bekennt. Ein bloßes unparteiisches Referat über die Lehrmeinung des Schrifttums ohne den Versuch einer eigenen Stellungnahme zu deren Wahrheitsweit wäre kaum als wissenschaftliche Lehre und damit als Erfüllung der Lehraufgabe eines Hochschullehrers zu beurteilen. Ständiger Inhaber einer Lehrkanzel ist der für dieses Fach oder ein selbständiges Teilgebiet, also ein Fach im rechtlichen Sinn des Wortes ernannter ordentlicher oder außerordentlicher Hochschulprofessor. Als Lehrkanzel im rechtlichen Sinne unseres Gesetzes gilt sonach nicht der Wirkungsbereich sämtlicher Mitglieder des Lehrkörpers einer Hochschule, deren Lehrbefugnis oder Lehrauftrag identisch ist, sondern der Wirkungskreis je eines einzelnen Mitglieds des Lehrkörpers. Die Lehrkanzeln im hochschulrechtlichen Sinn decken sich also inhaltlich mit Dienstposten im dienstrechtlichen Sinne des Wortes. Mit der zeitweiligen Vertretung einer Lehrkanzel (Supplierung) kann auch der Inhaber einer anderen Lehrkanzel, ein emeritierter Hochschulprofessor, ein Honorarprofessor oder ein Hochschuldozent auf Antrag des Professorenkollegiums vom Ministerium betraut werden. Der Inhaber der Lehrkanzel hat für die Vollständigkeit und Zweckmäßigkeit der Lehrveranstaltungen zu sorgen. Da diese Lehrveranstaltungen höchstpersönliche Pflicht des Inhabers der Lehrkanzel sind und nicht etwa eines anderen Organes sein können, handelt es sich um eine Rechtsregel des Hochschullehrerdienstrechtes, die in der Maske einer Organisationsnorm für Lehrkanzeln im Hochschulorganisationsgesetz ihren Platz gefunden hat. Meinungsverschiedenheiten über die Abgrenzung der von den einzelnen Lehrkanzel zu betreuenden Wissenschaftsbereiche hat erforderlichenfalls das Professorenkollegium bzw. das Fakultätskollegium der Hochschule zu entscheiden (§ 28 Abs. 4 HOG) - eine zusätzliche Zuständigkeit außerhalb der demonstrativen Aufzählung der §§26 und 38 HOG. Von einer rechtlichen Verselbständigung des Wirkungskreises der Hochschuldozenten und Lektoren nach dem Vorbild der Lehrkanzeln etwa in Dozenturen und Lektorate hat das Gesetz zweckmäßigerweise - handelt es sich doch nicht um rechtlich notwendige, sondern bei entsprechendem „Angebot" nur mögliche Einrichtungen im Dienste der Lehrtätigkeit - abgesehen. b) Institute und Kliniken (§ 59 HOG) Zur Durchführung der Forschungs- und Lehraufgaben sind an den Hochschulen (außer den Lehrkanzeln) Institute eingerichtet. Die Institute der

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medizinischen Fakultäten, die zugleich Krankenabteilungen einer öffentlichen Krankenanstalt sind, führen die Bezeichnung Universitätskliniken. Institute und Kliniken werden nach Anhörung des zuständigen Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde vom Bundesministerium für Unterricht errichtet, benannt und aufgelassen. Das Ministerium bestimmt, ebenfalls nach Anhörung der zuständigen akademischen Behörde, welche Fächer von den einzelnen Instituten und Kliniken zu betreuen sind. Während sämtliche Hochschulfächer in Lehrkanzeln eine Stätte ihrer hochschulmäßigen Pflege finden, hängt es vom Ermessen der Unterrichtsverwaltung ab, ob diese Fächer auch (kumulativ und nicht alternativ) von Hochschulinstituten betreut werden. Da die Institute kraft zwingender Gesetzesvorschrift sowohl der Forschungs- als auch der Lehraufgabe zu dienen haben, hängt es von dieser Entscheidung der Unterrichtsverwaltung ab, für welche wissenschaftlichen Disziplinen die Forschungsaufgabe der Hochschule organisatorisch aktualisiert wird. Das Bedürfnis nach Einrichtung von Instituten besteht naturgemäß vor allem für naturwissenschaftliche Fächer, in denen die Forschung und die Lehre sich des Experimentes und besonderer disziplineigener Forschungs- und Lehrmittel außer den für jeden Wissenschaftsbetrieb unvermeidlichen Büchern bedienen muß. Für reine unbestrittene Geisteswissenschaften besteht unter diesen Umständen nicht das gleiche Bedürfnis der Einrichtung besonderer Institute, da die für den Wissenschaftsbetrieb erforderlichen Bücher auch anderen Forschungsinstituten oder bloßen Bibliotheken entlehnt werden können. Hier entscheidet dann das Zuvorkommen in der etwaigen Antragstellung der Hochschulen bzw. Fakultäten und die Bedeutung und Eigenart des Faches, ob für den Lehr- und Forschungsbetrieb für das Bereich des einzelnen Faches ein besonderes Institut eingerichtet wird. Die Institute und Kliniken werden von ordentlichen oder außerordentlichen Hochschulprofessoren, erforderlichenfalls auch von anderen Angehörigen des Lehrkörpers, insbesondere Hochschuldozenten, geleitet. Die Leitung besteht hier nicht bloß in der verantwortlichen Verfügung über den Sachapparat, sondern auch in der Vorgesetzten-Rolle gegenüber dem unvermeidlichen wissenschaftlichen und je nach den Umständen auch nicht wissenschaftlichen, dem Institut zugeteilten Personal. Die Vorstände der Institute und Kliniken sind auf Antrag des zuständigen Professorenkollegiums oder der sonst zuständigen akademischen Behörde vom Ministerium zu bestellen. Es liegt im Ermessen des Ministeriums, ob es einen einzelnen oder mehrere Inhaber von Lehrkanzeln, die zur Betreuung der Fächer des Institutes eingerichtet sind, zu Vorständen

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des Institutes bestellt und in dem letzteren Falle zweckdienlicher Weise einen der ernannten Vorstände mit der Geschäftsführung für das ganze Institut betraut. Das Professorenkollegium oder die sonst zuständige Behörde hat auf Antrag des Institutsvorstandes (Klinikvorstandes) eine Institutsordnung (Klinikordnung) zu beschließen, die der Genehmigung des Ministeriums bedarf. Die Institutsordnungen sind also, ähnlich den Geschäftsordnungen des Professorenkollegiums und des Akademischen Senates, autonome Satzungen der Hochschule, die freilich in ihrer Rechtswirksamkeit durch die ministerielle Genehmigung bedingt sind. c) Lehrveranstaltungen (§ 60 HOG) Die Angehörigen des Lehrkörpers sind berechtigt, im Rahmen ihrer Lehrbefugnis Vorlesungen, Übungen, Seminare und sonstige Lehrveranstaltungen abzuhalten, ein Blankett, das vom Gesetz nicht näher konkretisiert wird. Sie sind verpflichtet, die ihnen zugemessene Lehrverpflichtung bzw. den ihnen zugewiesenen Lehrauftrag persönlich zu erfüllen. Diese Lehrveranstaltungen können indes nicht als eine besondere Lehr- und Forschungseinrichtung von der Art der Lehrkanzeln, Institute und Kliniken gewertet werden, sondern sind bloß die methodisch unterscheidbaren Erscheinungsformen der Lehrtätigkeit. Es handelt sich nicht um eine allgemeine organisationsrechtliche, sondern um eine dienstrechtliche Bestimmung, die, wie manche andere, an dieser Stelle des HOG vorweggenommen wird. Die Vorschrift der persönlichen Erfüllung der Lehrverpflichtung bzw. des Lehrauftrages muß cum grano salis ausgelegt werden, wenn die Beistellung von wissenschaftlichem Personal, namentlich von Hochschulassistenten, wissenschaftlichen Hilfskräften und Demonstratoren einen anderen Zweck als den der wissenschaftlichen Fortbildung dieses Personals haben soll. Diese naturgemäße, bei Anfängern freilich kaum voll ausgenützte Zweckbestimmung des sonstigen wissenschaftlichen Personals besteht sinnvoller Weise darin, den Hochschullehrer zu entlasten und für Aufgaben der wissenschaftlichen Forschung freizustellen. Unter diesen Umständen ist es mit der Pflicht zur persönlichen Erfüllung obligatorischer Lehrveranstaltungen wohl zu vereinbaren, wenn nicht nur die Beratung der Studierenden außerhalb der Lehrveranstaltungen, sondern auch gewisse Hilfstätigkeiten zur Durchführung der Lehrveranstaltungen, namentlich die Vorbegutachtung von Schülerarbeiten und die Entgegennahme von mündlichen Referaten und sonstiger Aufgaben der Forschung und Lehre unter Aufsicht des Instituts-

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Vorstandes der Hilfskraft, im Falle der Verhinderung des Vortragenden, übertragen wird. Ist ein Angehöriger des Lehrkörpers aus in seiner Person gelegenen Gründen (dauernd) verhindert, die vorgenannte Verpflichtung zu erfüllen, so hat das Professorenkollegium bzw. Fakultätskollegium für die Durchführung der Lehrveranstaltungen in geeigneter Weise vorzusorgen. d) Bibliotheken (§ 61 HOG) An jeder Hochschule ist eine Studienbibliothek eingerichtet. Diese hat die für die Erfüllung der Forschungs- und Lehraufgaben der gesamten Hochschule notwendige Literatur bereitzustellen. Außer dieser gesetzlich notwendigen Zentralbibliothek der Hochschule können im Rahmen der Institute und Kliniken Fachbibliotheken für die Literatur der von diesen Zweiganstalten der Hochschule betrauten Fächer eingerichtet werden. Ob und wie sich die Studienbibliothek der Hochschule mit den Fachbibliotheken der einzelnen Institute in die Aufgabe der Literaturbeschaffung teilt, hängt von der Dotierung der Institute aus den budgetrechtlich der Hochschule zukommenden Mitteln ab. Jedenfalls ist eine gegenseitige Ergänzung einer zentralen und besonderer fachlicher Studienbibliotheken zweckmäßig. Der Leiter der zentralen Bibliothek der Hochschule ist ein Beamter oder Vertragsbediensteter des Bibliotheksdienstes, der nach Anhörung der obersten akademischen Behörde bestellt wird und als einziger Bediensteter des Bundes, der bei einer Hochschule in Verwendung steht, nicht durch Vermittlung eines anderen Hochschulorgans, nicht einmal des Rektors, sondern unmittelbar dem Bundesministerium für Unterricht untersteht. Das Gesetz verpflichtet ihn zwar, die Wünsche der akademischen Behörden und der Angehörigen des Lehrkörpers entgegenzunehmen, verpflichtet ihn des weiteren, nach Ablauf des Studienjahres an die oberste akademische Behörde über den Zustand und die Benützung der Bibliothek zu berichten; ob und inwieweit jedoch der Leiter der Bibliothek diesen Wünschen entspricht, hängt von seinem Ermessen und von den Weisungen des Ministeriums ab. Wenn das Gesetz bestimmt, daß er mit den Leitern der einzelnen Lehr- und Forschungseinrichtungen „Vereinbarungen" über den Ankauf notwendiger Werke trifft, so läßt ihm das Gesetz auch in diesem Fall freie Hand bei der Verwaltung der Bibliothek. Die Benützungsordnung der Bibliothek wird nach Anhörung der obersten akademischen Behörde vom Ministerium erlassen, ist also der Hochschulautonomie entzogen. Dieser gesetzlichen Ordnung gemäß ist zwar die Hochschul-Bibliothek eine Zweiganstalt der

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Hochschule, jedoch den anderen Hochschulinstituten nicht gleichgeordnet, sondern aus der gesamten Hierarchie der Hochschule als staatsunmittelbares Hochschulinstitut herausgehoben. Bei aller Bereitschaft der autonomen Hochschulverwaltung und der zentralen Hochschul-Bibliothek zur Zusammenarbeit im Dienste der beiderseits vorgegebenen Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung und Lehre wird das Bedürfnis nach Fachbibliotheken an der Hochschule, die in die autonome Hochschul-Verwaltung eingegliedert sind, lebendig bleiben. e) Hochschulkurse (§ 62 HOG) Hochschulkurse sind Lehrveranstaltungen, die von einer Hochschule oder einzelnen Fakultät außerhalb des durch die Studienvorschrift geregelten Unterrichts zur Erfüllung besonderer Unterrichtszwecke abgehalten werden. Sie können auch außerhalb des Standortes der Hochschule und während der vorlesungsfreien Zeit veranstaltet werden. Die Einrichtung volkstümlicher Hochschulkurse oder einer Sommer-Hochschule sind Nutzanwendung dieser Vollmacht des Gesetzes. Es handelt sich hiebei nicht um besondere Hochschul-Institute, sondern um eine besondere Art von Lehrveranstaltungen, die schon durch die im § 60 HOG ausgesprochene Vollmacht zu „sonstigen Lehrveranstaltungen" gedeckt wären, für die aber § 62 eine Sondervorschrift trifft. Die zuständige akademische Behörde hat Ort und Zeit der Hochschulkurse, den Studienplan, die Zulassungsbedingungen, die mit dem Unterricht betrauten Lehrpersonen (selbstverständlich unter der Voraussetzung ihrer rechtlich freistehenden Einwilligung) zu bestimmen: ein Beschluß, der überdies der Genehmigung des Ministeriums bedarf. f) Akademische Ehrentitel (§§ 63-67 HOG) 1. Ehrendoktorate Jede wissenschaftliche Hochschule kann eines der von der Hochschule zu verleihenden Doktorate ohne Erfüllung der in den Studienvorschriften geforderten Voraussetzungen ehrenhalber verleihen. Die Voraussetzungen für die Verleihung eines Ehrendoktorates sind vielleicht im Hinblick auf eine gewisse Auflockerung der bisherigen Praxis zugunsten von Ausländern besonders streng gefaßt. Die für diese akademische Auszeichnung ausersehene Person muß auf Grund ihrer wissenschaftlichen Leistung in Fachkrei-

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sen hohes Ansehen genießen und außerdem sich um die durch die Hochschule vertretenen wissenschaftlichen und anderen kulturellen Ziele hervorragende Verdienste erworben haben. Der Beschluß der obersten akademischen Behörde bedarf der Genehmigung des Ministeriums. Die Ehrendoktoren erhalten ein Diplom; ihre Namen werden in einem Ehrenbuch der Hochschule verzeichnet; an akademischen Feierlichkeiten dürfen sie im Gefolge der akademischen Funktionäre teilnehmen (§ 63 HOG). 2. Erneuerung akademischer Grade (§ 64 HOG) Das Professorenkollegium oder die sonst zuständige akademische Behörde kann die Verleihung eines akademischen Grades zu bestimmten Zeiten, insbesondere anläßlich der 50. Wiederkehr des Tages der Verleihung, erneut vornehmen, wenn diese Ehrung wegen der besonderen wissenschaftlichen Verdienste oder der hervorragenden beruflichen Wirksamkeit oder wegen der engen Verbundenheit des Gefeierten mit der Hochschule gerechtfertigt ist. Bei dieser akademischen Auszeichnung entfällt so wie für die ursprüngliche Verleihung eines akademischen Grades eine Mitwirkung des Ministeriums. 3. Ehrensenatoren und Ehrenbürger (§65 HOG) Die oberste akademische Behörde einer Hochschule kann Personen, die sich um die von der Hochschule vertretenen wissenschaftlichen oder anderen kulturellen Ziele besondere Verdienste erworben haben, den Titel eines Ehrensenators und Personen, die sich um die Ausgestaltung oder Ausstattung einer Hochschule besondere Verdienste erworben haben, den Titel eines Ehrenbürgers verleihen. Beiderlei Beschlüsse bedürfen der Genehmigung des Ministeriums. Gewerbetreibenden, die mit einer Hochschule oder mit einer ihrer Einrichtungen in ständiger Geschäftsverbindung stehen, kann die oberste akademische Behörde als Zeichen der Anerkennung das Recht zur Führung eines Titels verleihen, der diese ständige Verbundenheit zum Ausdruck bringt (z.B. Universitätsbuchhändler, Universitätsoptiker und dergleichen). Der verliehene Titel darf in der äußeren Geschäftsbezeichnung und im Geschäftsverkehr geführt werden (§ 66 HOG).

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4. Widerruf

von Ehrentiteln (§ 67 HOG)

Die akademische Behörde, die einen akademischen Ehrentitel verliehen hat, kann mit Genehmigung des Ministeriums die Verleihung widerrufen, wenn der Ausgezeichnete sich durch sein Verhalten der Auszeichnung unwürdig erweist. V I I . Organisatorischer Überbau der Hochschulen g) Rektorenkonferenz (§ 68 HOG) Die bisher rein tatsächlich veranstalteten Zusammenkünfte der Hochschulrektoren werden im IX. Abschnitt des Gesetzes zu einer dauernden Einrichtung gemacht, und zwar in der rechtlichen Gestalt eines kollegialen Vertretungsorganes der wissenschaftlichen Hochschulen Österreichs. Die Rektoren der Hochschulen und der Dekan der katholisch-theologischen Fakultät in Salzburg versammeln sich wenigstens einmal in jedem Studienjahr zur gemeinsamen Beratung und zu gewissen, teils fakultativen, teils obligatorischen Beschlußfassungen. Der institutionelle Charakter der Rektorenkonferenz als ein ständiges, autonomes Organ, das von sämtlichen wissenschaftlichen Hochschulen beschickt wird, erklärt das Erfordernis einer Geschäftsordnung, die von der Rektorenkonferenz zu beschließen ist und der Genehmigung des Bundesministeriums für Unterricht bedarf. Als Vorsitzender der Rektorenkonferenz, der zugleich auch zur Einberufung der Konferenz und zur Festsetzung der Tagesordnung zuständig ist, fungiert der jeweilige Rektor der Universität Wien. Kommen Angelegenheiten zur Beratung, die auch für die Akademie der Bildenden Künste und die Kunstakademien von Bedeutung sind, so sind der Rektor der Akademie der Bildenden Künste und die Präsidenten der Kunstakademien zur Teilnahme an der Rektorenkonferenz einzuladen. Der Wirkungskreis der Rektorenkonferenz ist teils fakultativer, teils obligatorischer Natur. Sie ist berechtigt, über alle Gegenstände, die das Hochschulwesen betreffen, an das Ministerium Vorschläge zu erstatten. Sie ist verpflichtet, das Ministerium zu beraten und förmliche Gutachten über diejenigen Gegenstände zu erstatten, die ihr vom Ministerium bezeichnet werden. Die Bestimmungen über die Geschäftsführung des Professorenkollegiums, namentlich über die Präsenzpflicht der Mitglieder und über die Willensbildung des Kollegiums, gelten auch für die Rektorenkonferenz.

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h) Der Akademische Rat (§ 69 HOG) Während die Rektorenkonferenz eine Hochschuleinrichtung von autonomem Charaker ist, stellt sich der „Akademische Rat" als Beirat der staatlichen Hochschulverwaltung dar. Er besteht aus 15 auf fünf Jahre bestellten Mitgliedern; fünf hievon entsendet die Bundesregierung nach Maßgabe der Zusammensetzung des Hauptausschusses des Nationalrates, also nach dem Proporz der politischen Parteien, fünf weitere entsendet die Rektorenkonferenz, die restlichen fünf Mitglieder bestellt der Bundesminister für Unterricht vorwiegend aus den Angehörigen des Lehrkörpers der Hochschulen. Beratungen, die auch für die Akademie der Bildenden Künste von Bedeutung sind, ist der Rektor dieser Akademie mit den Rechten eines Mitgliedes des Akademischen Rates beizuziehen. Den Vorsitz im Akademischen Rat führt der Bundesminister für Unterricht oder ein von ihm beauftragter Vertreter. Der Akademische Rat kann nur auf Initiative des Unterrichtsministers tätig werden, indem ihm dieser die Beratung bestimmter Hochschulangelegenheiten überträgt. Die Tätigkeit hat bloß den Charakter eines votum consultativum, d.h. die Beschlüsse verpflichten niemanden. Das Gesetz enthält auch nicht rahmenweise Bestimmungen über die Geschäftsführung, so über die Frage eines Quorums und der Mehrheit. Das Bundesministerium für Unterricht ist aber durch die allgemeine Verordnungsvollmacht des Art. 18 Abs. 2 B-VG ermächtigt, mittels einer Durchführungsverordnung zum Hochschul-Organisationsgesetz eine Geschäftsordnung des Akademischen Rates zu erlassen. Das Gesetz selbst ermächtigt bloß die einzelnen Mitglieder des Akademischen Rates, an den Bundesminister für Unterricht Anfragen über Hochschulangelegenheiten zu stellen, verpflichtet aber nicht den Minister zu einer sachlichen Beantwortung der Anfragen. Ein Fragerecht von Mitgliedern eines nicht öffentlich tätigen Organs ist indes nur sinnvoll im Falle der Verpflichtung zu einer sachlichen Beantwortung. Da der Akademische Rat und dessen einzelne Mitglieder als Organe der Bundesverwaltung anzusehen sind, unterliegen sie auch hinsichtlich der Antworten auf ihre Anfragen der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit nach Art. 20 Abs. 2 B-VG, doch ist diese Verschwiegenheitspflicht nur bei solchen Mitgliedern, die in einem öffentlich- oder privatrechtlichen Dienstverhältnis stehen, durch die Unrechtsfolgen des Dienstrechtes sanktioniert.

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V I I I . Strafrechtlicher Schutz der akademischen Titel (§ 69 HOG) Die Bezeichnung „Hochschule", „Universität", „Fakultät", „Klinik", „akademisch" und andere dem Hochschulwesen nach den Bestimmungen des HOG eigentümliche Titel und Bezeichnungen, also auch die Titel Rektor, Dekan, Senator, ferner die akademischen Grade sind strafrechtlich geschützt. Wer die genannten Titel und Bezeichnungn sowie die akademischen Grade, sei es, daß sie allein, sei es, daß sie in Zusammensetzungen gebraucht werden, unberechtigt führt, begeht, sofern die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit einer strengeren Strafe bedroht ist, eine Verwaltungsübertretung und wird mit Geld bis zu 30 000 S oder mit Arrest bis zu sechs Wochen bestraft. Von der Strafbarkeit ist der Fall ausgenommen, daß die an akademische Einrichtungen erinnernde Bezeichnung herkömmlich ist. Daher sind Bezeichnungen wie Volkshochschule und Verwaltungsakademie für die so benannten Einrichtungen, obwohl ihnen zweifelsohne in ihrer gegenwärtigen, aber auch in einer denkbaren anderen, der Hochschulorganisation mehr angenäherten Gestalt die gesetzliche Eigenschaft von Hochschulen nicht zukommt, statthaft. Dagegen wäre die Bezeichnung Klinik für eine private Krankenanstalt, da sie in Österreich nicht üblich ist, eine strafbare Übertretung des Gesetzes. * * H« Einen unermeßlich größeren Schaden als es jedwede illoyale Konkurrenz vermöchte, hat den österreichischen Hochschulen die Verstrickung unseres Vaterlandes in zwei Weltkriege zugefügt. Es gilt nicht nur das alte Sprichwort „inter arma silent leges", sondern es ist auch die Wissenschaft, ja die ganze Kultur zum Schweigen oder wenigstens zur Unfruchtbarkeit verurteilt; die Finanzkrise und die Entfremdung des Volkes und sogar der Schichten, aus denen sich der wissenschaftliche Nachwuchs rekrutiert, zu geistigen Interessen erschwert noch lange über die Kriegsereignisse hinaus die Wiederkehr des kulturellen und im besonderen des wissenschaftlichen Normalstandes aller Kulturländer. Die Erlassung des Hochschul-Organisationsgesetzes bedeutet unter diesen Umständen die Selbstbesinnung von Regierung und Nationalrat auf die politischen und moralischen Verpflichtungen eines alten Kulturstaates und den ersten Schritt zur Wiedererlangung des durch den Krieg und die Kriegsfolgen erschütterten Standes der nationalen Kultur: ein amtliches Bekenntnis zu den überlieferten und verpflichtenden Einrieb-

Grundzüge des österreichischen Hochschulrechtes

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tungen der Hochschulen als den Hauptträgern der Wissenschaft in unserer Heimat. Bloß rücksichtsloser Dienst an der Wahrheit, der die eigene Bequemlichkeit der beamteten Diener der Wissenschaft zu jedem Opfer an Freizeit und zu jeder Enttäuschung wissenschaftsfremder Männer ihres Vertrauens verpflichtet, kann der unendlichen Aufgabe der Wissenschaft, der Erkenntnis dessen, was der durch seine wissenschaftliche Erprobung legitimierte Wissenschafter für wahr hält, gerecht werden. Aus dieser Einsicht habe ich jede andere Förderung meines akademischen Lebensweges als jene, die mir durch die Anerkennung meiner akademischen Lehrer und durch gewiß nicht immer zustimmende Kritik von Fachgenossen zuteil geworden ist, als unsachlich abgelehnt und die mehr als zwölfjährige, mit der „Verbreitung einer politisch untragbaren Lehre begründete" Entfernung von meinem durch 17 Jahre ausgeübten Lehramt als naturgemäßes, dem Wissenschaftsberuf gebrachtes, wenngleich für meine Angehörigen empfindliches Opfer auf mich genommen. - Unbeschadet des internationalen Charakters der Wissenschaft hat deren Diener besonders als Rechtslehrer außerdem die Pflicht gegenüber der Heimat, unter Vermeidung unsachlicher Beschönigungen, sein ganzes Wissen dazu zu verwerten, die positiven Leistungen des eigenen Staates und Volkes, die der internationalen Beurteilung standhalten, einer übelwollenden ausländischen Kritik entgegenzuhalten. Dieses Bemühen bedarf wie jede Aufklärungsarbeit der verständnisvollen Unterstützung der Fach- und Tagespresse. „Das unvergängliche Freiheitserbgut" (gemeint sind die erlauchten Vorbilder wie der Frankfurter Paulskirche folgenden Rechtsschöpfungen), zu dem ich mich 1950 in meinem Beitrag zur Festgabe für Heinrich Klang bekannt habe, möge besonders zur Widerlegung der bösartigen Legende vom „Völkerkerker Österreichs" von berufenen Sprechern der österreichischen Hochschulen mit Unterstützung der Tages- und Fachpresse fortgepflanzt werden". 14

14 Es sei hier namentlich die verständnisvolle Hilfeleistung für diese heikle Lehr- und Erziehungsaufgabe dankbar gewürdigt, die in zahlreichen Fällen der kürzlich verstorbene Schriftleiter der vormaligen „Wiener Neuesten Nachrichten", Hans Maute, ein hochgesinnter kämpferischer Ostdeutscher, und neuestens auch die „Salzburger Nachrichten" großzügig dargeboten haben.

100 Jahre Alpenverein 100 Jahre Naturschutz Berufenere als ein einfaches, wenn auch treu verbundenes Mitglied werden die Dienste des jubilierenden Alpenvereins als Erschließer der ideellen und gesundheitlichen Werte unserer Bergwelt feiern. Als einer der bei festlichen Gelegenheiten so genannten Pioniere des Naturschutzes darf und muß ich aber wohl die Verdienste ins Licht rücken, die der Alpenverein, vielleicht zunächst unbewußt, in seinen führenden Persönlichkeiten, aber immer bewußter und entschiedener im Dienste des Schutzes der heimatlichen Natur und damit eines unschätzbaren ideellen und materiellen Wertes der Heimaterde entfaltet hat und im kommenden Jahrhundert seines Bestandes entfalten soll und wird. Aus dem gesunden egoistischen Willen nach einer sinnvollen, inhaltsvollen Freizeitgestaltung schließen sich alljährlich die wertvollsten Angehörigen des Jungvolks den Sektionen des Alpenvereins und anderen, trotz verschiedener Farben ideell doch verwandter alpiner Gemeinschaften an und bleiben ihnen dank der Eigenart des Gemeinschaftszwecks eher als den meisten anderen Zwecken dienenden Vereinen lebenslänglich treu. Die Menschen lernen eben im Umgang mit der Natur deren einzigartigen ideellen und in zweiter Linie auch materiellen Nutzen kennen und als erhaltungswürdig schätzen. Die alpinen Vereine erfüllen dieserart neben und nach der Schule die Aufgabe als Erzieher des Volkes, und deren Mitglieder verfallen wohl nur zu einem geringen Bruchteil jenem Mißbrauch der Natur, den ich ausführlich in meinem Beitrag zur Zeitschrift des Schweizerischen Alpenvereins „Alpina", Bern 1924, „Der Alpinismus als Kulturfunktion", geschildert und verurteilt habe. Es ist sonach kein Zufall, daß fast sämtliche aktiven Fachmänner des Naturschutzes, mit denen ich in naturschützerischen Organisationen in

Salzburger Nachrichten vom 13. September 1962, S. 10.

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.A. Verwaltungsrecht

Berührung gekommen bin, z.B. die Mitglieder des Fachbeirats für Naturschutz des Landes Niederösterreich und in der Folge der österreichischen Bundesländer und des Arbeitsausschusses des deutschen Vereins „Naturschutzpark" in Stuttgart, dem ich, zunächst als einziges österreichisches Mitglied seit 1931 angehören darf, zugleich alpinistisch, also gewissermaßen als Genießer der Natur, und naturschützerisch, also als bewußte Erhalter der Naturschönheiten organisiert sind. Aus dieser Paarung von Gemeinschaftszwecken erwächst das Bewußtsein der Unvermeidlichkeit eines überlegten Kompromisses zwischen dem Verbrauch der Natur im Dienste des menschlichen Daseins auf einer unverzichtbaren Stufe der Zivilisation und Kultur und eines Verzichtes auf ihren Verbrauch im Dienste der Erhaltung ihrer Schönheit und daraus quellenden Lebenssteigerung.

Um die Wanderfreiheit im Walde! Das ganze Volk kommt um sein gutes Recht, wenn der Waldbestand verlorengeht - diesen Gedanken habe ich seit Jahren in öffentlichen Publikationen mehrfach zum Ausdruck gebracht. Hat aber „das ganze Volk" ein echtes Recht an „seinem" Wald, wo nach den derzeitigen Besitzverhältnissen bloß ein kleiner Bruchteil der Volksgesamtheit Eigentumsrecht an Bestandteilen des Waldbodens hat? Die Mehrheit der naturliebenden und naturverbundenen Menschen ist auf den Mitgenuß „fremder" Naturschönheiten angewiesen. Das „Soziale Grün" bedeutet sonach die Sicherung der Schönheits- und Wohlfahrtswirkungen von rechtlich fremdem Boden für die Volksgemeinschaft. In dieser Tatsache liegt unter anderem die Schwierigkeit, das Programm eines Josef Schöffel „Rettung und Erhaltung des Wienerwaldes für künftige Geschlechter" nicht nur gegenüber illegalen Eingriffen in den Waldboden, sondern auch gegenüber den auf ertragsreichste materielle Nutzung abzielenden Eigentümern durchzusetzen und durchzuhalten. Immer wieder müssen die wahren Naturfreunde, die sich zu einem verhältnismäßig großen Hundertsatz gerade in der städtischen Bevölkerung finden, die Erfahrung machen, daß die für den Städter lebenswichtige Naturlandschaft unverständliche und unerträgliche Substanzverluste erleidet. Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß entgegen den bekannten rechtlichen Widmungen und programmatischen Erklärungen hoher Amtsträger immer wieder, selbst im Gemeindegebiet der Stadt Wien, Abholzungen vorgenommen werden, welche die Substanz der Grünfläche, wenn auch langsam, so doch wirksam vermindern und im Zusammenhalt mit rechtmäßigen und illegalen Eingriffen privater Personen die großzügige Planung eines Schöffel bereits zu einem Zerrbild gemacht haben und, bei Fortdauer

Blätter für Naturkunde und Naturschutz, 49. Jg. (1963), S. 26-28.

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I.A. Verwaltungsrecht

der heutigen Sorglosigkeit, spätestens in einem Jahrhundert gänzlich zunichte gemacht würden. In meiner Eigenschaft als Mitglied des Arbeitsausschusses des Vereines Naturschutzpark Stuttgart in Hamburg konnte ich erfahren, mit welcher Energie deutsche Stadtverwaltungen privaten und amtlichen Forderungen auf Opferung des innerstädtischen Baumbestandes, die auch dort mit Erleichterung und Beschleunigung des Straßenverkehrs begründet werden, entgegentreten. Auf einer Führung des genannten Vereins durch die hochindustrialisierte Rheinstadt Ludwigshafen (1960) erklärte der vom Oberbürgermeister beauftragte Führer: „Wir kämpfen um jeden einzelnen Baum im Stadtgebiet und opfern den Wünschen der Polizei und der Automobilisten nur solche Bäume, die eindeutig sicherheitsgefährlich sind." Welch bewunderungswürdiges soziales Verantwortungsbewußtsein in einer Situation, wo der weitaus überwiegenden Arbeiterbevölkerung inmitten der Stadt als Erholungsraum der prächtige „Ebertpark" und in sichtbarer Nähe das mehr als ein Viertel des Stadtgebietes von Wien messende Naturschutzgebiet „Pfälzerwald" zur Verfügung stehen! Ich selbst war seinerzeit an Vorsprachen beteiligt, bei denen der Volksbürgermeister Karl Seitz an Hand beweiskräftiger Beispiele nachwies, wie er um die Verwirklichung des von ihm bedingungslos bejahten Vermächtnisses Schöffeis bemüht sei. Aus einer 12jährigen Vortragstätigkeit an der Volkshochschule Volksheim weiß ich, wie ein beträchtlicher Teil der Hörer gegenüber der Schönheit und der sozialen Aufgabe der Natur und der Natureinschlüsse im Stadtgebiet aufgeschlossen war und die Mahnung aufgenommen und weitergegeben hat, das Naturerlebnis neben den Offenbarungen der Bücher zum Hauptinhalt der Freizeit zu machen. Die Bekenntnisse der heutigen Amtsträger der Stadtverwaltungen Österreichs, namentlich Wiens, im Sinne ihrer Verpflichtungen im Dienste des „Sozialen Grüns" dürfen nicht bezweifelt werden, doch ihr Arm reicht offenbar nicht immer bis zu den ausführenden Organen, die vielfach anderer Meinung sind. Eine Wanderfreiheit des Schönheit und Erholung suchenden Menschen in fremder Naturlandschaft kennt die österreichische Gesetzgebung derzeit grundsätzlich nur auf öffentlichen Wegen. Die unbestreibare Undiszipliniertheit eines leider eher zunehmenden Teiles der Ausflügler läßt kaum erwarten, daß der Grundbesitz eine gesetzliche Auflockerung dieser tatsächlichen und rechtlichen „Sperre" des privaten Grundes und Bodens zulassen

Um die Wanderfreiheit im Walde!

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werde. Eine Steigerung des Respektes der großen Massen gegenüber der Natur wird erst den Genuß der Natur zum Gemeingut machen können. Gewiß, Ausflügler, zumal aus der Großstadt, verstehen sich oft im Wald nicht richtig zu benehmen und bringen Unannehmlichkeiten mit sich. Die Erfahrung des zunehmenden Forstfrevels, der Lärmentwicklung der für die wahre Naturschönheit blinden Massenwanderer durch Johlen und Lautsprecher, die Erfahrungstatsache, daß Berggipfel und Gletscherränder, etwa sogar der erhabenen Pasterze, Ablagerungsstätte für Abfälle jeglicher Art werden, sind keine Ermutigung für größere Toleranz der Eigentümer.

B. Personalia (Laudationes, Nachrufe etc.)

Professor Hans Kelsen Zu seinem Abschied von Wien

In wenigen Tagen verläßt Hans Kelsen Wien und Österreich, um seine Lehrtätigkeit an der Universität in Köln aufzunehmen. Nicht mit fliegenden Fahnen folgt Kelsen dem stimmeneinhelligen Vorschlag der Rechtsfakultät einer der deutschesten Städte, der sein Deutschtum außer jedem Zweifel stand, dem ehrenden Rufe der Unterrichtsverwaltung des größten deutschen Landes, die für den wissenschaftlichen Rang des großen österreichischen Juristen ein besseres Verständnis fand als die maßgebenden offiziellen und politischen Kreise seiner Heimat. Der Eingeweihte muß ehrlicherweise feststellen, daß Kelsen nur nach schwerem Entschlüsse scheidet, nur dem moralischen Zwange von Unverständnis und Unduldsamkeit weicht, um sein Wirken an einer Stätte fortzusetzen, wo es auch von berufener amtlicher Seite entsprechend gewürdigt wird. Man braucht den intellektuellen Kreisen Österreichs die wissenschaftliche Persönlichkeit Hans Kelsens nicht erst bekanntzumachen. Einen richtigen Maßstab für die Größe des Verlustes, von der die österreichische Wissenschaft durch Kelsens Scheiden betroffen wird, gibt allerdings erst die Resonanz, die Kelsens Lehre und Schule jenseits unserer engen Grenzpfähle gefunden hat. Sein Werk spricht in den Sprachen der Mehrzahl aller Kulturvölker zu der teils begeistert zustimmenden, teils entschieden ablehnenden, jedenfalls aber allenthalben interessevoll aufhorchenden Juristenwelt. Sein Schrifttum, das in schier unübersehbarer Fülle die beiden zentralen Schriften, die vorwiegend kritischen „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" (1911) und die systematisch-konstruktive „Allgemeine Staatslehre" (1925) umrankt, hat dem Gelehrten Kelsen in der Republik der Wissenschaften ein

Neue Freie Presse vom 26. Oktober 1930, S. 7.

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III.B. Personalia

unantastbares Ehrenbürgerrecht erworben. Die Berufung in den fünfgliedrigen Direktionsrat des Institut international de droit public - dieser exklusiven internationalen Organisation der Wissenschaft vom öffentlichen Recht - legt, um nur einen äußeren Beweis anzuführen, ein Zeugnis für die wissenschaftliche Bewertung Kelsens in den berufensten wissenschaftlichen Kreisen ab, das durch keine sachliche oder politisch orientierte Kritik in Frage gestellt werden kann. Zumal die oft wiederkehrende Behauptung, daß Kelsens Theorie in wirklichkeitsfremder Weise dem positiven Rechte nicht gerecht werde oder gar die Autorität des Staates oder Rechtes untergrabe, kann Punkt für Punkt aus dem Schrifttum Kelsens, das die Souveränität des Rechtes proklamiert und das eine Recht erkennen will, widerlegt werden. Wenn gar Kelsens Rechtslehre zu einer Geistesverwandten von Marxens Lehre gestempelt wurde, so konnte wohl nur völlige wissenschaftliche Ahnungslosigkeit Kelsens radikal „entpolitisierte" Theorie des Rechtes mit der sozialökonomischen oder politischen Theorie des Marxismus in Zusammenhang bringen. Freilich, wer von einer Wissenschaft und gar von einer Theorie des Staates und Rechtes Brauchbarkeit für praktisch-politische Zwecke erwartet oder gar eine juristische Lehre nach den Diensten beurteilt, die sie irgendwelchen Parteiinteressen zu leisten vermag, der mußte durch die bewußt „zwecklose", grundsätzlich apolitische Lehre Kelsens enttäuscht werden. Am schwersten trifft Kelsens Scheiden naturgemäß den großen Schülerkreis, den seine ausgesprochen „Schule machende" Führerpersönlichkeit um sich gesammelt hat. Für ihn als echten Wissenschafter ist der strengste Konservative und der radikalste Sozialist, wenn sie nur ehrlichen wissenschaftlichen Willens sind, gleich wertvoll; katholische Kleriker und orthodoxe Juden können sich erfahrungsgemäß gleicherweise seiner Förderung erfreuen, wenn es ihnen nur ernst ist um die Wissenschaft. Zu allen Vorzügen eines Lehrers, mit denen Kelsen Schüler aus allen Kreisen unlöslich in den Bann seiner wissenschaftlichen und menschlichen Persönlichkeit gezogen hat, kommt als rühmenswertester seine echt wissenschaftliche Toleranz gegenüber eigenen Meinungen und Strömungen aus einem Schülerkreise, dank deren Kelsens theoretisches Lehrgebäude - natürlich unter Festhaltung der Fundamente - in einer von Kennern stark beachteten und von dem Lehrmeister selbst reichlich gewürdigten Weise ausgebaut, ja selbst umgebaut wurde. Wie notwendig eine solch innere Entwicklung einer wissenschaftlichen Schule auch ist, um eine Erstarrung der Lehre zu vermeiden,

Professor Hans Kelsen

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so muß es doch einem Lehrmeister hoch angerechnet werden, daß er - damit die echte wissenschaftliche Führerpersönlichkeit erweisend - eine solche Fortbildung seiner Lehre mit allen Kräften fördert. In einer Zeit, wo selbst Männer der Wissenschaft vor allem nach ihrer politischen Zugehörigkeit und Zuverlässigkeit beurteilt zu werden pflegen, hat Kelsen die Maxime betätigt, daß dem Wissenschafter vor allem Zuverlässigkeit gegenüber der selbst erkannten wissenschaftlichen Wahrheit gezieme. An Kelsen konnte man den in der öffentlichen Meinung fast verlorengegangenen Beruf eines echten „Professors" lernen, der sinngemäß ein Bekenner der wissenschaftlichen Überzeugung zu sein hat, mag er durch ein solches Bekenntnis auch berechtigte Interessen und selbst seine eigenen persönlichen Interessen schädigen. Von dem Gelehrten und nicht etwa dem Parteimann Kelsen war es eine Selbstverständlichkeit, daß er seiner theoretischen Überzeugung - niemandem zur Freude und niemandem zu Leide auch als praktischer Jurist Ehre gegeben hat. Der unbeugsame führende Wissenschafter wurde ein - nach dem Urteil aller objektiven Kenner ebenso unbeugsamerßhrender Richter. Nicht Parteidienst, den ihm böswillige Kritik imputiert hat, sondern bloß Treue gegenüber der eigenen wissenschaftlichen Überzeugung brachte ihn mit mächtigen Interessen in einen von ihm nie gesuchten Konflikt. Die Gegner Kelsens erleben nun, zum Schaden Österreichs, die Genugtuung, Kelsen nicht nur von seinem Richteramt, sondern auch von seinem Lehramt scheiden zu sehen. Seinen Freunden muß es genügen, Kelsens noch immer aufwärtsstrebende Schaffenskraft, wenngleich nicht in unserer engeren Heimat, so doch auf deutschem Boden und zur Ehre der deutschen Wissenschaft, fortwirken zu wissen. Seinem engeren Wiener Freundeskreis, der seinen Führer aus seiner Mitte gerissen sieht, bleibt die Aufgabe, den Schatz einer neuen Wissenschaft von Recht und Staat unserem heimischen Boden nach Kräften zu hüten und zu mehren.

Hans Kelsen als Verfassungspolitiker Zu seinem fünfzigsten Geburtstag am 11. Oktober 1931

Es ist ein seltener Zufall, wenn sich in ein und derselben Persönlichkeit rechtstheoretische Intuition mit rechtsschöpferischer Kraft vereinigt. Abschweifungen in das Bereich der Politik sind ja freilich im Zuge juristischer Untersuchungen keine Seltenheit, aber sie stellen gemeiniglich nur die Reinheit der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis in Frage, ohne zugleich die Berufung zum Gesetzgeber zu erweisen. Eine vollkommene Vereinigung der beiden Verhaltensweisen zum Rechte, die den Beruf des Rechtsschöpfers und Rechtswissenschafters ausmachen, findet sich aber in der Persönlichkeit Kelsens, dem es längere Zeit, leider wie der Kenner feststellen muß, nicht dauernd gegönnt war, in diesem Doppelberufe zu wirken. Das Scheiden Kelsens von seiner österreichischen Wirkungsstätte hat diesen Blättern Gelegenheit gegeben, das rechtstheoretische Wirken dieses Rechtsgelehrten, soweit es sich auf der Höhe, also noch inmitten seines Wirkens überblicken läßt, zu würdigen. 1 Der fünfzigste Geburtstag unseres Rechtsgelehrten möge ein Anlaß sein, das in diesen Blättern gegebene Bild seines Wirkens durch eine Darstellung seiner politischen Leistung zu ergänzen. Das politische Werk Hans Kelsens steht gewiß nicht so scharf umrissen vor seinen Zeitgenossen, wie seine theoretische Leistung, für die seine von persönlichster Note beherrschten Publikationen Zeugnis ablegen; vielmehr muß diese politische Leistung zum guten Teile aus Dokumenten erschlossen werden, denen er nicht unbeschränkt und unbeirrbar seinen persönlichen politischen Willen aufprägen, denen vielmehr er seine politischen Absichten

Juristische Blätter, 60. Jg. (1931), S. 385-388. 1

Vgl. Alfred Verdroß, JB1.1930,421.

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.B. Personalia

nur gebrochen durch abweichende Willensrichtungen und so viel wie möglich anonym einflößen mußte. Es ist vor allem dem denkbaren Mißverständnis vorzubeugen, als ob die rechtstheoretischen und rechtswissenschaftlichen Werke Kelsens zugleich Dokumente der politischen Überzeugung Kelsens wären. Der sprichwörtliche Bekämpfer des Methodensynkretismus wußte selbstverständlich die politischen und juristischen Problemstellungen und Problemlösungen auseinanderzuhalten. Aber schon die politischen Schriften Kelsens, obgleich vorwiegend der Theorie der Politik gewidmet, legen ein eindeutiges politisches Bekenntnis ab, ohne das freilich dieses Bekenntnis die Erkenntnisse des Theoretikers der Politik beeinflussen würde. Diese politischen Bekenntnisschriften sind namentlich die Werke „Sozialismus und Staat", sowie „Vom Wesen und Wert der Demokratie", die beide, unter dem Eindruck des revolutionären und demokratischen Erlebnisses der Umsturzjahre entstanden, ein unverhülltes Bekenntnis zur Demokratie darstellen. In der erstgenannten Schrift verteidigt bekanntlich Kelsen das demokratische Prinzip gegen die Entstellung durch die orthodoxe, im Grunde anarchistische politische Theorie des Marxismus, in der zweitgenannten Schrift gegen seine Verzerrung in der neokommunistischen Praxis und Theorie, die das autokratischeste System der Gegenwart durch manche ihrer theoretischen Apologeten als Demokratie ausgeben. Es spricht ein unverkennbares, wenn gleich die Erkenntnis nicht trübendes, prodemokratisches Ressentiment aus den Ausführungen, in denen einerseits der anarchistische Grundzug der politischen Theorie Marxens, andererseits der autokratische Charakter der politischen Praxis des Bolschewismus, z.B. die oligarischen Beschränkungen des Wahlrechtes zu den Sowjets, wie etwa den Wahlrechtsraub an Kaufleuten trotz unvermeidlicher vorläufiger Freigabe des Handels, oder an den Angestellten der religiösen Kultusgemeinden trotz scheinheiliger Anerkennung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, aufgezeigt werden. Kelsen leitet bekanntlich sein prodemokratisches Bekenntnis aus seiner philosophischen Grundeinstellung ab; es ist dies der Relativismus, der konsequenter Weise auf allen Lebensgebieten und so auch im Staatsleben den Absolutismus ablehnen muß; und Demokratie ist Negation des politischen Absolutismus. Die angedeutete philosophische Fundierung des Demokratismus im Relativismus erklärt denn auch die besondere Färbung, die Kelsen der Idee der Demokratie gegeben hat, und die bekanntlich von der demokratischen Praxis nur zu oft unkenntlich gemacht wird: die kompromissarische Natur

Hans Kelsen als Verfassungspolitiker

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der Demokratie, wonach die der Demokratie wesentliche Mehrheitsherrschaft durch die in Minderheitsschutzbestimmungen gewährleistete Mitbestimmung der Minderheit gemildert ist. Wie überhaupt das demokratische Ideal nur in asymptotischer Annäherung realisierbar ist, so zeigt bekanntlich in diesem Punkte die Praxis der demokratischen Staaten den größten Abstand zum demokratischen Prinzipe, weil der Majorität die Aufgabe des Minderheitsschutzes meist nur dann und dort gegenwärtig ist, wo sie zugleich die Rolle der Minderheit spielt oder sie damit rechnen muß, Minderheit zu werden. Gerade in diesem Punkte könnten die pseudodemokratischen Absolutisten aus der echt demokratischen Haltung Kelsens eine Lehre ziehen. Das für den Kenner sprechendste demokratische Bekenntnis Kelsens tritt uns aber nicht einmal in den politischen Schriften Kelsens, sondern in Österreichs Verfassungsurkunde, dem Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, entgegen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß der ursprünglich in Kraft getretene Text des Bundes-Verfassungsgesetzes auf dem Konzepte Kelsens beruht, welches sowohl von der christlichsozialen als auch von der sozialdemokratischen Partei zu je einem parteipolitisch gefärbten Verfassungsentwurf adaptiert worden war. Diese beiden Verfassungstexte, in denen Kelsens Gedankengut unverkennbar enthalten ist, wurden sodann im Zuge der parlamentarischen Verhandlungen in echt demokratischer Redaktionstechnik unter nachhaltiger Mitwirkung Kelsens als des verfassungsrechtlichen Beraters des Verfassungsausschusses zu einem kompromissarischen Text verschmolzen, der als Bundes-Verfassungsgesetz Gesetzeskraft erlangt hat. Es wäre nun selbstverständlich ein Mißverständnis, Kelsen das Verdienst daran zuzuschreiben, daß überhaupt im Bundes-Verfassungsgesetz das demokratische Prinzip verwirklicht ist. Insoweit bestand für jeden Gesetzesredakteur gebundene Marschroute, seit das bekannte Gesetz über die Staatsform vom 12. November 1918 Österreich zur demokratischen Republik erklärt hatte. Nur die Art und Weise, wie Kelsen das ihm aufgegebene kodifikatorische Programm dank seiner Einfühlung in Wesen und Wert der Demokratie und dank seiner Einsicht in die kodifikatorischen Notwendigkeiten, durch die eine Verfassung dem Wesen und Wert der Demokratie voll gerecht wird, verwirklicht hat, ist das besondere Verdienst Kelsens, das seine Auftraggeber, selbstverständlicherweise muß man sagen, nicht voll zu würdigen wußten, und das eigentlich erst die nunmehr zehnjährige Erfahrung mit der Bundesverfassung außer Zweifel gestellt hat.

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I . B . Personalia

Beim Urteil über die Bundesverfassung im allgemeinen und ihren für die Staatsform, im besonderen für die Demokratie, relevanten Inhalt, muß selbstverständlich auseinandergehalten werden, was Richtlinie für den Kodifikator oder Parteikompromiß gewesen ist und was innerhalb des hiedurch eindeutig gegebenen Rahmens die kodifikatorische Leistung Kelsens ist. Es ist eine beliebte Methode der Kritiker an dieser vielgeschmähten Verfassung - ohne deren befriedende Wirkung unser Österreich vielleicht ein Schauplatz eines bellum omnium contra omnes, eine balkanisierte Interessensphäre irgendwelcher Nachbarn, oder eine Kolonie der Entente wäre, daß man alles, was an den politischen Zuständen Österreichs unerfreulich ist, diesem sogenannten „Machwerk" einer Verfassung und im besonderen wiederum ihrem Verfasser Kelsen in die Schuhe geschoben hat.2 Mit solcher faktiöser Kritik und mit Kritikern, die teils vom wirklichen Hergang der Verfassungskodifikation keine Ahnung haben, teils selbst außer Stande wären, selbst auch nur einen juristisch haltbaren Verfassungsartikel zu formen, kann und soll nicht gerechtet werden. Nur für einen fachkundigen Leserkreis soll die redaktionelle Leistung Kelsens mit Beschränkung auf die von ihm gestalteten Verfassungseinrichtungen, die als Realisierung seines politischen Ideales der Demokratie zu deuten sind, und selbst insoweit nur mit Beschränkung auf die markantesten Beispiele, ins Licht gerückt werden. Die sogenannte Lückenhaftigkeit der Verfassung, zu deren Behauptung namentlich das Fehlen einer Neukodifikation der Grundrechte Anlaß gegeben hat und das durch die unveränderte Rezeption der Grundrechte des Jahres 1867 gegebene Manko an demokratischem Gehalt ist umsoweniger auf das Konto Kelsens zu setzen, als sein Urentwurf der Verfassungsurkunde eine Neufassung der Grundrechte enhält, sondern beruht auf einem Parteienkompromiß. Dasselbe gilt von der redaktionell schwächsten Partie des Bundes-Verfassungsgesetzes, nämlich von den irrationell kasuistischen Kompetenzartikeln, die übrigens von den beiden Verfassungsreformen der Jahre 1925 und 1929 noch überflüssigerweise komplizierter gemacht worden sind - ein redaktioneller Mangel, der ohne die Spur einer Begründung und ohne eine zureichende Ursache in der Verfassungsdiskussion der letzten Jahre selbst von angeblich fachkundiger Seite Kelsen zugerechnet wurde.

2 Daß die Abhängigkeit vom Ausland trotzdem empfindlich genug zutage trat und tritt, ist selbstverständlich nicht auf das Konto der Verfassung zu setzen, sondern die Folge sozusagen angeborener Schwäche und verfehlter Wirtschaft.

Hans Kelsen als Verfassungspolitiker

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Die vorbildlose kodifikatorische Leistung Kelsens und zugleich sein Verdienst in den Augen jener, die in der Herrschaft der generellen Gesetzesnorm vor dem Durchbruch individueller, sei es auch parteipolitisch noch so erwünschter Willkür einen Vorzug erblicken, sind die von Kelsen teils erfundenen, teils eigenartig um- oder ausgeprägten Rechtsinstitute, die der für den Rechtsstaat charakteristischen unverbrüchlichen Herrschaft der Gesetze und der Sicherung dieser Herrschaft dienen. In der Gestaltung dieser Einrichtungen hat sich denn auch das demokratische Bekenntnis Kelsens in unverkennbarer Weise kodifikatorisch ausgelebt, denn die rechtstechnische Einführung und Sicherung der Gesetzesherrschaft bedeutet in einer Staatsform, wo die Gesetze ausschließlich von einer auf Grund des breitesten und gleichen Wahlrechtes gewählten Volksvertretung geschaffen werden, Herrschaft der Volksvertretung und somit mittelbar des Volkes, genauer der Volksmehrheit unter Kontrolle seiner Minderheit. Unter den angegebenen Voraussetzungen ist geradezu die Demokratie auf den einfachsten juristischen Nenner der Gesetzesherrschaft oder des Gesetzesstaates zu bringen. Dieser kodifikatorischen Verankerung der Gesetzesherrschaft in der Verfassung dient vor allem die Kodifikation des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung in der geradezu klassisch zu nennenden Formel des Art. 18 B-VG, wonach die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf. Der Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung ist bekanntlich ein Gemeingut rechtsstaatlicher Verfassungen, aber die ausdrückliche Aufnahme dieses Grundsatzes in die Verfassungsurkunde und mehr noch die besondere inhaltliche Gestaltung dieses Grundsatzes ist das originelle Werk Kelsens. Bekanntlich muß der Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung für andere rechtsstaatliche Rechtsordnungen auf interpretativem Weg ermittelt werden und ist somit, wenn auch nicht in seiner Existenz, so doch in seiner Tragweite, wie jeder Gegenstand der Rechtserkenntnis, Anzweifelungen ausgesetzt. Über Sinn und Tragweite des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung in den einzelnen Rechtsordnungen ist bekanntlich eine ganze Literatur entstanden. In diesem Fall hat sich wiederum das bekannte Wort Kirchmanns bestätigt: „Ein berichtigendes Wort des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden Makulatur." Noch bedeutsamer wird aber die Kodifikation des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung durch das Geltungsbereich, das die Verfassung diesem Grundsatz in unzweideutiger Weise verschafft hat, wenn auch in Theorie und Praxis die Einsicht in diesen Umfang noch nicht allgemein geworden ist. Der Grundsatz der

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III.B. Personalia

gesetzmäßigen Verwaltung hat in verschiedenen Rechtsordnungen und selbst innerhalb der einzelnen Staatsrechtsordnung in verschiedenen Ären einen verschiedenen Inhalt. Der Kreis der Verwaltungstätigkeiten, die diesem Grundsatze unterstellt sind, ist nämlich je nach Ort und Zeit verschieden weit gezogen. Gemeinsam ist den vom Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung beherrschten Rechtsordnungen mithin nur, daß irgendwelche Bereiche der Verwaltung (generellen) Gesetzen unterworfen sind; welche Bereiche, das ist eine Frage des positiven Rechtes, ebenso wie sich überhaupt die Herrschaft des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung nicht von selbst versteht, sondern positivrechtlich bedingt ist und zeitlich mit der Begründung des Rechtsstaates zusammenfällt. Aus der Natur der Verwaltung als einer Staatsfunktion versteht sich nämlich nur die rechtliche Bindung der Verwaltung von selbst, nicht aber daß die Rechtssätze, die die Verwaltung regeln, Gesetze sein müssen. So war es ja für den absoluten Polizeistaat charakteristisch, daß zu einer Zeit, wo die Zivil- und Strafjustiz bereits durch (generelle) Gesetze gebunden, mithin zu reiner Gesetzesvollziehung geworden war, die Verwaltung völlig nach dem Ermessen der Obrigkeit, letztlich des Herrschers, vor sich ging. Das Bedürfnis, die Willkür der gesetzlich nicht determinierten Entscheidung im Einzelfalle auszuschließen, war bekanntlich für den Grad bestimmend, bis zu dem mit der Einführung parlamentarischer Gesetzgebung der Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung erstreckt wurde. Eingriffe in Leben, Freiheit und Vermögen sind jene Verwaltungstätigkeiten, die ursprünglich an das Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung gebunden wurden, weil gegen sie, zumal bei der sprichwörtlichen Polizei Willkür des Polizeistaates, das Individuum am empfindlichsten reagierte, und ebendieselben Verwaltungstätigkeiten, also im großen und ganzen die Polizei- und Abgabeverwaltung, sind es, auf die in nicht wenigen Staaten das Erfordernis gesetzlicher Grundlage für die Verwaltung bis heute beschränkt blieb. Die rechtstechnische Form der verfassungsmäßigen Bindung der Verwaltung an gesetzliche Ermächtigungen sind bekanntlich die Grundrechtskataloge, namentlich die Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Freizügigkeit, der Unverletzlichkeit des Eigentums usw. So kommt diesen Grundrechten der Charakter partieller Kodifikationen des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung zu: Eine Bedeutung, die sie von vornherein vielleicht gar nicht intendiert haben, die aber die Rechtswissenschaft bei ihrem begreiflichen Bestreben, den Grundrechtskodifikationen einen vernünftigen Sinn, will sagen, einen positivrechtlichen Gehalt, abzugewinnen, in sie hineingelegt hat. Ein anderes Bereich der

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Verwaltung, das desgleichen fast allenthalben in Verfassungsstaaten dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung unterstellt wurde, waren finanziell bedeutsame, namentlich Kosten verursachende Staatsakte. Die rechtstechnische Form für die Erfassung dieses Komplexes an Verwaltungshandlungen für den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit ist das parlamentarische Budgetrecht; dessen rechtliche wie politische Bedeutung liegt bekanntlich darin, daß Staatsausgaben, also Staatstätigkeiten, die den Staatsschatz belasten, nur insoweit statthaft sind, als hiezu die Volksvertretung, in der Regel in Gesetzesform, die Ermächtigung erteilt hat. Auch dem Institute des Budgetrechts kommt somit für ein weiteres Bereich der Verwaltung der Charakter einer partiellen verfassungsmäßigen Legalitätsklausel zu. Doch war und ist die Tragweite des im Budgetrechtssatz begründeten Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung noch problematischer als die aus den Grundrechtskatalogen gewonnenen gleichartigen Grundsätze, weil bekanntlich der Inhalt des parlamentarischen Budgetrechtes vielfach umstritten und nach manchen Rechtsordnungen (anders als nach der österreichischen Bundesverfassung) gewiß nicht so weitgehend ist, daß die Budgetbewilligung Voraussetzung für Staatsausgaben, mithin für kostenverursachende Verwaltungsakte, wäre. Bei unserem schematischen Überblick über die bisher übliche Rechtstechnik der Statuierung des Grundsatzes gesetzmäßiger Verwaltung kann füglich von weiteren positivrechtlichen Varianten dieses Grundsatzes abgesehen werden; das, wenn auch nicht bewußt, Gemeinsame dieser Kodifikationen ist die Tatsache, daß die Herrschaft des Gesetzes in der Verwaltung immer nur mittelbar, durch zunächst anderen Zwecken dienende Rechtseinrichtungen und immer nur stückweise begründet wurde, so zwar, daß das Gesamtbereich der gesetzlich bedingten Verwaltungstätigkeit sich aus einzelnen, allmählich dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung erschlossenen Verwaltungstätigkeiten summiert und, wenigstens nach herrschender Auffassung, niemals die gesamte Verwaltungstätigkeit erfaßt. Erst der Vergleich mit diesen herkömmlichen Methoden der Normierung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung wirft volles Licht auf die neue, von Kelsen im zitierten Art. 18 B-VG vollzogene Kodifikation desselben Grundsatzes. Die Vorzüge der Einfachheit und Großzügigkeit im Vergleiche mit der bisherigen Kodifikationspraxis sind so einleuchtend, daß sie kaum der Hervorhebung bedürfen. Die neue Fassung stellt sich als die denkbar weiteste Generalklausel dar, die jedwede Spezialklausel des Grund-

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satzes der gesetzmäßigen Verwaltung entbehrlich macht. Es ist kaum ein Nachteil, daß durch diese Generalklausel die in unserer Rechtsordnung verstreuten Spezialklauseln, namentlich viele Artikel des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, um ihren Sinn gebracht wurden, soweit sich dieser Sinn in der Statuierung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung erschöpft. Es wäre auch kein zutreffender Einwand gegen die Fassung des Art. 18 B-VG, daß sie nur den immanenten Sinn der Gesetzgebungsermächtigung der Verfassung zum Ausdruck bringe, und daher nur einen Gedanken wiederhole, den die Rechtswissenschaft im Auslegungswege aus anderen Zusammenhängen der Verfassungsurkunde entnehmen könne. Daran ist soviel richtig, daß die Rechtswissenschaft die Gesetzgebungskompetenzen der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung dahin verstehen kann, daß die verfassungsmäßig eingesetzten Gesetzgeber innerhalb ihres gesetzgeberischen Wirkungskreises unter andern auch den Verwaltungsorganen Inhalt und Grenzen ihrer Tätigkeit vorzuschreiben haben. Diese Auslegung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung ist aber nicht zwingend, und vor allem nicht gebräuchlich. Und so erreicht eine Verfassung, die dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung allgemein Gültigkeit verschaffen will, gerade das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt, wenn sie sich auf die unwirkliche Möglichkeit einer diesen Grundsatz erkennenden Auslegung des Verfassungsinhaltes verläßt, sondern ist es ihre unausweichliche gesetzgeberische Aufgabe, diesem Grundsatze unzweideutigen Ausdruck zu verleihen. Das ist die bei näherem Zusehen so selbstverständlich erscheinende Neuerung des im Art. 18 B-VG formulierten Legalitätsprinzipes. Inhaltlich geht die neue Fassung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung, die im einzelnen zu interpretieren hier selbstverständlich nicht der Ort ist, über alles Hergebrachte insoweit hinaus, als auch solche Verwaltungstätigkeiten, die selbst bei Formulierung verschiedener partieller Legalitätsklauseln ausgenommen bleiben, in das Herrschaftsbereich des Gesetzes einbezogen sind. Diese herkömmliche Exemption zeigt, daß es sich um Verwaltungstätigkeiten handelt, bei denen ein praktisches Bedürfnis der Bindung an das Gesetz bisher nicht zutage getreten ist, allgemein ausgedrückt also Verwaltungstätigkeiten, die sich weder als Belastung Einzelner, noch des Gemeinwesens darstellen. Und so mag, auf den ersten Blick gesehen, die schier uferlose Erweiterung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der österreichischen Bundesverfassung eine sehr

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überflüssige Neuerung sein. Dies ist sie auch, an jenen Wertmaßstäben gemessen, die für die Statuierung des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung im bisherigen Umfang bestimmend waren. Die legislativpolitischen Gründe für die Bindung von Verwaltungstätigkeiten an das Gesetz sind bekanntlich unter anderm der Wunsch, Willkür der Behörden bei Eingriffen in die persönliche Freiheit auszuschalten und diese Eingriffe auf Fälle zu beschränken, die nach dem Volksbewußtsein Freiheitsschranken rechtfertigen (womit die gesetzliche Bindung der Polizeiverwaltung gerechtfertigt ist); ferner der Wunsch, Eingriffe in das Vermögen der Untertanen wiederum auf das Maß zu beschränken, das durch das Volksbewußtsein gerechtfertigt ist, und sie für den Betroffenen voraussehbar und berechenbar zu machen (das legislativpolitische Motiv der gesetzlichen Bindung der Abgabenverwaltung); die Finanzgebarung ökonomischer und für die Bevölkerung wie für die Volksvertretung offenkundig zu machen (das legislativpolitische Motiv des parlamentarischen Budgetrechtes). Dergleichen Erwägungen reichen aber nicht aus, die Unterordnung der gesamten Verwaltung unter die Gesetzgebung zu erklären und vollends jene Erschwerung der Verwaltungstätigkeit zu rechtfertigen, die sich unstreitig aus einer Abhängigmachung jedweder noch so harmlosen, vom Standpunkt des Untertanen mitunter sogar sehr erwünschten Verwaltungstätigkeit von gesetzlicher Ermächtigung ergibt. In seinem, der österreichischen Bundesverfassung eigentümlichen Umfang empfängt der Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung nur aus der demokratischen Ideologie seinen Sinn, der anfänglich wohl auch nur seinem Urheber bewußt gewesen ist. Das demokratische Prinzip erfordert es, daß, wenn und weil die Verwaltung, zumal in einem staatssozialistisch orientierten Staat, keinesfalls in der Hauptsache in den Händen des Volkes oder vom Volk gewählter Organe liegen kann, sondern gemäß dem auch für die Staatsverwaltung maßgeblichen Wirtschaftsgesetze der Arbeitsteilung einer Bürokratie (im weitesten Sinne) überantwortet werden muß, die Verwaltung doch nicht sozusagen eigenwillig, sondern zur Gänze nach dem Willen der vom Volk gewählten Volksvertretung vor sich gehe. Das demokratische Prinzip erfordert es unter den angegebenen Umständen, daß die Initiative für jedwede Verwaltungstätigkeit einer Volksvertretung vorbehalten und dem Verwaltungsapparat nur die Vollstreckung dieses Volkswillens übertragen werde. Da nun aber die rechtliche Form des Volkswillens die Gesetzesform ist, ergibt sich zwangsläufig als Ausfluß aus dem demokratischen Prinzip die restlose Subordination der Verwaltung unter das Gesetz, und Transformation der gesamten Verwaltung in bloßen

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Gesetzesvollzug. Das ist die demokratische Wurzel des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung in seiner der österreichischen Verfassung bewußt einverleibten Fassung; und damit hat ihr Verfasser der Demokratie der Verwaltung und damit der ganzen Staatsordnung gewiß einen größeren Dienst getan als es die bekannten nicht ideologisch verwurzelten, sondern bloß praktisch motivierten Demokratisierungsvorschläge vermöchten. Eine ebenso charakteristische, aus derselben ideologischen Wurzel fließende Verfassungseinrichtung ist der Rechtssatz des Art. 20 Abs. 1 B-VG, auch in seiner ursprünglichen, auf die ersten beiden Sätze beschränkten Fassung. „Unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder führen nach den Bestimmungen der Gesetze auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe die Verwaltung. Sie sind, soweit nicht verfassungsgesetzlich anders bestimmt wird, an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwortlich." Auch mit dieser Rechtseinrichtung wird eine altbekannte Institution erstmals in der Verfassung verankert und zugleich auf ein ihr bisher neues Anwendungsgebiet verpflanzt. Mit den zitierten Verfassungssätzen wird nämlich die herkömmliche Vorschrift der Dienstordnungen vom dienstlichen Gehorsam zu einem allgemeingültigen Institute der Verwaltungsorganisation ausgebaut und damit der Gesetzesherrschaft in der ganzen Verwaltung dienstbar gemacht. Der funktionelle Zusammenhang unserer Bestimmung mit dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung ist darin zu suchen, daß durch sie der Gesetzesherrschaft eine subjektiv-organisationsrechtliche Garantie geschaffen wird; und zwar unbekümmert darum, ob die dank dem Grundsatz der gesetzmäßigen Verwaltung zur Gänze als Gesetzesvollzug funktionierende Tätigkeit von ernannten Organen (Bürokraten) oder gewählten Organen (Politikern) ausgeübt wird. Derselbe, allgemeingültig in Art. 20 B-VG ausgesprochene Rechtsgedanke kehrt in besonderer Nutzanwendung auf ein gewähltes Verwaltungsorgan, nämlich den Landeshauptmann, in den Art. 103 und 142 B-VG wieder, indem dieser einer strengen Gehorsamspflicht und Verantwortlichkeit unterworfen wird. Wenn man an der Gehorsamspflicht gewählter Verwaltungsfunktionäre oft mit der Begründung Anstoß genommen hat, daß die Subordination des Beamten undemokratisch sei, so verkennt eine solche mißverständlich demokratische Argumentation völlig den höchsten Sinn der Funktion jedes Verwaltungsfunktionärs in der Demokratie, als da ist: Beugung unter fremden Willen, Vollziehung des Gesetzes als des rechtlich geformten Volkswillens.

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Eine wesensverwandte, komplementäre Einrichtung ist die zivilrechtliche Haftpflicht der Verwaltungsorgane wie der Justizorgane für den aus Rechtsverletzungen bei ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden. Zum Unterschied von den oben besprochenen Rechtsinstituten handelt es sich in diesem Falle nicht um eine originelle Neuerung der österreichischen Verfassung, sondern um eine gesetzgeberische Selbstverständlichkeit eines Kulturstaates, der z.B. die Weimarer Reichsverfassung mit unmittelbarer Wirksamkeit Rechnung getragen hat (zugleich also um ein dankbares Objekt für eine Rechtsangleichungsaktion). Durch diese Feststellung wird aber nicht das Verdienst Kelsens geschmälert, das er sich um die Verankerung der zivilrechtlichen Haftpflicht der Vollzugsorgane im Bundes-Verfassungsgesetz (in dem mittlerweile verschlimmbesserten Art. 23) erworben hat. Man wird dieser Bestimmung selbstverständlich nicht gerecht, wenn man sie bloß von dem freilich nächstgelegenen individualistischen Standpunkt des Geschädigten aus betrachtet; von einem objektiven Standpunkt aus gesehen ist diese Haftpflicht, namentlich dank der prophylaktischen Wirkung einer prompt funktionierenden Schadenshaftung, ein weiteres Glied im System der Sicherungen der Gesetzesherrschaft. Und es ist, wie hier nebstbei bemerkt werden darf, ein Fleck am Ehrenschild der Demokratie, weil sozusagen ein Freibrief für gelegentliche ungefährliche Gesetzesverletzungen, daß der Gesetzgeber bisher noch nicht diese Verfassungspromesse eingelöst hat. Am bekanntesten ist Kelsens Verdienst um die justizförmigen Garantien der Gesetzesherrschaft in Form der Verwaltungs- und mehr noch der Verfassungsgerichtsbarkeit, sodaß insoweit an dieser Stelle einige Feststellungen genügen können. Auch die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich ideologisch im demokratischen Prinzip verankern und Kelsens originelle Neuerungen auf diesem Gebiete sind ein unzweifelhafter, bewußter Ausfluß der demokratischen Ideologie. Der ideologische Sinn der Verwaltungs- wie insbesondere auch der Verfassungsgerichtsbarkeit ist wiederum nur, wie bei den bereits betrachteten Institutionen, Sicherung der Gesetzesherrschaft als der Volksherrschaft nach einer weiteren, ergänzenden Methode. Bei der höchsten Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, nämlich der Gesetzesprüfung am Maßstab der Verfassung, wandelt sich der allgemeine Gedanke der Garantie der Gesetzesherrschaft gegenüber dem Gesetzesanwender in den besonderen Gedanken einer Garantie der Verfassung als der höchsten Ausdrucksform des Gesetzes und damit der höchsten

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Erscheinungsform des Volkswillens gegenüber dem Gesetzgeber in seiner Eigenschaft als Anwender und somit möglicherweise ungehorsamem Diener des Gesetzes. Daß Idee und Umfang der Verfassungsgerichtsbarkeit gerade in Juristenkreisen noch angezweifelt, ja abgelehnt wird, und zwar mit Begründungen, die einem Berufspolitiker, nicht aber einem Juristen alle Ehre machen würden, mutet so an, als ob sich ein Jurist von den Zuständen staatlich geordneter Gerichtsbarkeit in die Zeit der Selbsthilfe und des Faustrechtes zurücksehnte, denn die Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer spezifisch österreichischen Gestalt bedeutet Ausschaltung politischer Machtentscheidungen zugunsten richterlicher Rechtsentscheidungen, und somit die relativ zuverlässigste Gewähr für die Durchsetzung des Rechtes als des Volkswillens. Für diesen Rechtsgedanken hat Kelsen als Gesetzgeber so viel getan, als mit rechtlichen Mitteln überhaupt zu tun ist. Dessen, wie überhaupt der rechtsschöpferischen Leistung Kelsens dankbar sich zu erinnern, ist dieser Tage Ehrenschuld des Österreichers, zumindest des österreichischen Juristen, obwohl Kelsen nunmehr mit seiner unverbrauchten Schaffenskraft nicht mehr Österreich, sondern dem ganzen deutschen Volke dient.

Nekrolog für Ernst Seidler Am 23. Jänner 1931 starb der mit dem Titel eines ordentlichen Professors bekleidete Privatdozent für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht Dr. Ernst Seidler.

Ernst Seidler wurde am 5. Juni 1862 als Sohn des Landesgerichtsrates Dr. Stefan Seidler in Schwechat (Niederösterreich) geboren. Er absolvierte die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität in Wien und erwarb an dieser den Doktorgrad. Den nachhaltigsten Einfluß auf Seidlers berufliche wie wissenschaftliche Entwicklung nahm schon während seiner Universitätsstudien die Persönlichkeit Karl Mengers . Noch als Sechzigjähriger zollte Ernst Seidler diesem seinem Lehrer Dank, indem er sein Hauptwerk über „Die sozialwissenschaftliche Erkenntnis" dem Andenken Karl Mengers widmete. Seine ebenso erfolgreiche wie wohlverdiente Berufslaufbahn eröffnete Seidler nach vorübergehender Verwendung im Finanz- und Justizdienst als Juristenpräfekt der Theresianischen Akademie in Wien, als der er von 1891 bis 1894 fungierte. Sein starkes wirtschaftspolitisches Interesse, das dem theoretischen Interesse die Waage hielt, veranlaßte Seidler im Jahre 1894 zur Übernahme der Stelle eines Sekretärs der Handelskammer in Leoben, an der er durch sieben Jahre wirkte. Diese Wirksamkeit, die auch bereits in wirtschaftspolitischen Schriften ihren Niederschlag fand, machte Regierungskreise auf Seidlers Fähigkeiten aufmerksam und hatte im Jahre 1900 seine Einberufung in das k.k. Ackerbauministerium als Leiter des neu geschaffenen handelspolitischen Departements zur Folge. In diesem für Seidler ungemein arbeits- und anerkennungsreichen Wirkungskreis entwickelte er sich zu einer erstrangigen Autorität in allen Fragen der Landeskultur, insbesondere aber zu einem Spezialisten des Wasserrechtes,

In: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1931/32, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1932, S. 34-37.

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als der er weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt wurde. Früher als irgendein maßgebender österreichischer Bureaukrat hat Seidler die Bedeutung der Wasserkräfte für die wirtschaftliche Zukunft Österreichs erkannt und die rechtlichen Wege zu deren technischer und wirtschaftlicher Verwertung gewiesen. Wenngleich Seidlers großzügige wasserrechtliche Reformpläne in der Monarchie zunächst wegen der dauernden politischen Krise und sodann wegen des Krieges nicht verwirklicht wurden, so erlebte er nach dem Umsturz doch die Genugtuung, daß seine legislativpolitischen Grundgedanken in Wasserrechtsgesetze der Länder Eingang fanden und sich durch Schaffung gewisser rechtlicher Voraussetzungen für wichtige technische Leistungen in der österreichischen Republik (z.B. Elektrifizierung der Bundesbahnen usw.) segensreich erwiesen. Die berufliche Laufbahn führte Seidler in amtlich wie außeramtlich anerkannter Arbeit durch die ganze bureaukratische Hierarchie bis zur Leitung des Ackerbauministeriums empor. Im Dienste der Praxis verlor aber Seidler niemals sein theoretisches Interesse und sein akademisches Ziel aus dem Auge. Seine Einberufung in das Ackerbauministerium nach Wien gab ihm alsbald (1901) Gelegenheit, sich an der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät als Privatdozent für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht zu habilitieren, nachdem er während seiner beruflichen Tätigkeit in Leoben bereits an der dortigen montanistischen Hochschule Honorardozent geworden war. Im Jahre 1906 verließ er sogar auf kurze Zeit seine Wirkungsstätte im Ackerbauministerium, um einer Berufung als ordentlicher Professor für Verwaltungsrecht an die Hochschule für Bodenkultur in Wien Folge zu leisten, wurde jedoch im Jahre 1908 als Ministerialrat in das Ackerbauministerium zurückberufen und daselbst im Jahre 1909 zum Sektionschef ernannt. Während dieses zweiten Zeitraumes seiner Wirksamkeit im Ackerbauministerium war Seidler an allen Handelsvertragsverhandlungen und an den Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn in hervorragender Weise beteiligt. Selbst diese staatsmännische Betätigung hielt Seidler nicht ab, Semester für Semester verwaltungsrechtliche und verwaltungspolitische Vorlesungen und Seminarübungen an der Wiener Universität abzuhalten, in denen er es verstand, seiner Hörerschaft, zu der sich auch der Unterzeichnete zählen durfte, die aktuellen verwaltungsrechtlichen und verwaltungspolitischen Probleme seines Ressorts in glücklicher Verbindung von Theorie und Praxis nahezubringen. Gerade Ernst Seidler war ein sprechender Beweis dafür, wie wichtig es ist, hervorragende Fachmänner der Verwaltung bei entsprechender theoretischer Schulung dem akademischen Unterrichte in

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der Verwaltungslehre und im Verwaltungsrecht zu gewinnen. In Würdigung dieser lehramtlichen Verdienste beantragte die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät, Seidler den Titel eines ordentlichen Universitätsprofessors zu verleihen; dem Antrag wurde 1914 Folge gegeben. Inzwischen war Seidler bereits in die staatswissenschaftliche und rechtshistorische Staatsprüfungskommission berufen und zum Professor an der Exportakademie bestellt worden. Nach dem Umsturz wurde Seidler zum Vizepräsidenten der erstgenannten Prüfungskommission ernannt. Der Krieg stellte Seidler vor unvorhergesehene, noch größere Aufgaben. Im Juni 1917 wurde Seidler mit der Leitung des Ackerbauministeriums betraut und noch am 23. Juni desselben Jahres zum Ministerpräsidenten ernannt. Nach mehr als einjähriger Amtsführung führte jedoch der von Seidler eingeschlagene „Deutsche Kurs", trotz des persönlich äußerst konzilianten Wesens Seidlers, zu einem Zerwürfnis mit den Parteien nichtdeutscher Nationalitäten und in der Folge zu seiner Demission als Ministerpräsident. Gleichzeitig wurde Seidler als Vertrauensmann des letzten österreichischen Kaisers zum Kabinettsdirektor bestellt und verblieb in dieser Stellung bis knapp vor dem Umsturz. Dem politischen Wirken Seidlers als Regierungschef eines schon in seinen Grundfesten wankenden Staates waren naturgemäß enge Grenzen gezogen und größere Erfolge versagt. Es verkleinert gewiß auch nicht Seidlers Persönlichkeit und Leistung, wenn man feststellt, daß ihm - als in relativ stiller Facharbeit groß gewordenem Verwaltungstechniker - das politische Parteigetriebe, in das er sich unvermittelt versetzt sah, nicht sonderlich gelegen war. Weder von befreundeter noch von gegnerischer Seite - Feinde hatte Seidler im öffentlichen Leben keine - wurde es aber zu bestreiten gewagt, daß er auch in dieser hervorragendsten Stellung seiner Laufbahn mit selbstloser Aufopferung sein Bestes gab. Übrigens hat er sich auch in seinen sonstigen Stellungen um die Bewältigung der durch den Krieg aufgeworfenen Verwaltungsaufgaben so als leitender Funktionär des Ackerbauministeriums wie als Berater des Kaisers in den verschiedensten wirtschaftspolitischen Fragen (Ernährungswesen des Reiches usw.) - verdient gemacht. Erst der Umsturz gab Ernst Seidler Gelegenheit, sich ungestört seinen wissenschaftlichen Interessen hinzugeben. In diesen Jahren seines Ruhestandes reifte Seidlers schon erwähntes Hauptwerk über „Die sozial wissenschaftliche Erkenntnis, ein Beitrag zur Methodik der Gesellschaftslehre"

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(Jena, Verlag Gustav Fischer, 1930). In diesem Werke erweist sich Seidler weit über sein engeres Fachgebiet hinausgewachsen - als origineller Methodiker der Soziologie. Wenngleich an dieser Stelle nicht der Raum ist, dieses Hauptwerk des Verstorbenen gebührend wissenschaftlich zu würdigen, so soll doch so viel angedeutet werden, daß Seidler auf dem Boden der Auffassung steht, wonach ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen den Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften nicht gegeben sei, daß jedoch die Besonderheit des Objektes sozialwissenschaftlicher Erkenntnis die soziale Erscheinung - gewisse Abweichungen von der naturwisenschaftlichen Methode bedinge; wie der Ausgangspunkt der sozialen Erkenntnis gleich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis die Erfahrung sei, so sei auch das Ziel der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis die Feststellung und Erklärung dessen, was wirklich ist, nicht dessen, was sein soll. So kommt Seidler im Dienste der Methodenreinheit des weiteren dazu, die Aufstellung von ethischen oder politischen Postulaten aus der Sozialwissenschaft auszuschließen. Im einzelnen untersucht Seidler in seiner vielseitigen Arbeit Wesen und Methode der Geschichtswissenschaft, der Soziologie im besonderen, der Rechtswissenschaft, der Staatslehre und der Volkswirtschaftslehre. Die zahlreichen kleineren Abhandlungen Seidlers liegen einerseits im Rahmen seines engeren akademischen Lehrfaches, andererseits seines beruflichen Aufgabenkreises und haben somit verwaltungsrechtliche, bzw. volkswirtschaftspolitische Probleme zum Gegenstand. Hervorgehoben seien namentlich seine zahlreichen Abhandlungen zu Problemen des Wasserrechtes und der Wasserwirtschaft in Österreich, die zum guten Teil aus Vorträgen hervorgegangen sind, in denen er für diesen Gegenstand dieses seines Hauptinteresses um Verständnis der Fachkreise und der breiteren Öffentlichkeit geworben hat; so insbesondere das heute noch hochaktuelle Referat über „Österreichs Wasserwirtschaft in Vergangenheit und Zukunft" (nach einem im niederösterreichischen Gewerbe verein am 10. Dezember 1920 gehaltenen Vortrag); die Artikelreihe „Agrarrecht und Agrarverwaltung in Österreich" in der „Österreichischen Agrarzeitung" (1913); die zusammen mit A. Freud herausgegebene Broschüre „Die Eisenbahntarife in ihren Beziehungen zur Handelspolitik" (Leipzig, Verlag Duncker und Humblot, 1904). Nicht zuletzt verdient der offizielle Entwurf des k.k. Ackerbauministeriums, betreffend ein neues Wasserrechtsgesetz, genannt zu werden, der in der Hauptsache das geistige Werk Seidlers ist.

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Seidler war, wenn man sein Lebenswerk zusammenfassend würdigt, eines der immer spärlicher werdenden bedeutenden Verwaltungstalente Österreichs, der rastlose Verwaltungsarbeit für sein Vaterland mit reger fachwissenschaftlicher und akademischer Tätigkeit und nicht zuletzt mit lauterster Menschlichkeit verbunden hat.

Seipel und die Demokratie Der erste Gedenktag an den allzu frühen Tod jener schon geschichtlich gewordenen Persönlichkeit, die dem Staatsleben der österreichischen Republik mehr als jede andere ihren durch einen scharfen Intellekt geklärten Willen aufgedrängt hat, war für seine Gesinnungsfreunde eine willkommene Gelegenheit, seines Lebenswerkes zu gedenken. Aber daß Ignaz Seipel nicht bloß ein der Vergangenheit angehöriges Werk, sondern auch ein der Zukunft aufgegebenes politisches Programm hinterlassen hat, wurde bei dieser schicklichen Gelegenheit, auch seiner zu gedenken, völlig totgeschwiegen. Und darum sei es nachträglich der Vergessenheit entrissen; ist es doch um so aktueller, als der von Seipel gekämpfte Kampf um die Verfassung im Sinne seiner Gesinnungsfreunde jetzt erst zu Ende gekämpft werden muß. Seipels „Kampf um die Verfassung" war nun nach seinem eigenen, immer wiederholten Bekenntnis ein Kampf um die Demokratie, freilich nicht um eine beliebige, sondern, wie er sein Bekenntnis späterhin einzuschränken pflegte, ein Kampf um die „echte", „wahre" Demokratie. Schon der werdenden österreichischen Republik hat Seipel das Ziel gesetzt: „Deutschösterreich muß ein freier, demokratischer Staat werden. Dieser ist das Gegenteil eines Herrschaftsstaates. Er schließt sowohl die Beherrschung des Staatsvolkes durch einen oder mehrere, die es nicht selbst zur Herrschaft berufen hat, als auch die Beherrschung einer Nation, einer Bevölkerungsgruppe, einer Klasse und in letzter Vollendung auch einer Partei durch eine andere aus. Die vollkommene Demokratie verträgt sich nicht mit gewaltsamer Verdrängung einer Minderheit von jenem Anteil an der Bildung des Staatswillens und den Staatsgeschäften, den diese ohne Schädigung des Ganzen ausüben könnte." („Reichspost" vom 20. November 1918)

Der österreichische Volkswirt, 25. Jg. (1933), S. 1105-1108.

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Hier wird das autoritäre System zugunsten des demokratischen, der Herrschaftsstaat zugunsten des Volksstaates eindeutig abgelehnt. Folgerichtig schließt Seipel auch jedes Verfassungsoktroi aus: „Wenn ein demokratischer Staat sich neu bildet, dann muß auch der Weg, auf dem er ins Dasein tritt, ein demokratischer sein. Eine oktroyierte Demokratie ist keine Demokratie." (Ebendort) Es wäre eine Beleidigung Seipels, wenn man ihm entweder dieselbe Unkenntnis des Wesens der Demokratie zumutete, die freilich bei den heutigen Kritikern der Demokratie regelmäßig anzutreffen ist, oder wenn man ihm die Mentalreservation imputierte, daß er unter Demokratie etwas vom hergebrachten Sprachsinn völlig Abweichendes verstanden habe. Wer da meint, solche Aussprüche aus dem Munde des führenden christlichsozialen Politikers seien nicht wörtlich zu nehmen, der wird von ihm auf der Stelle Lügen gestraft: „Wehe uns, wenn wir in die neue Zeit mit einer Lüge eintreten, wenn wir unserem neuen Staate demokratische Namen und Formen geben, aber keine demokratische Verfassung." („Reichspost" vom 21. November 1918) Seipel schildert dann diese demokratische Verfassung in einer Weise, wie sie uns in den Schulbeispielen der Demokratie begegnet. Vor allem wird als Merkmal einer demokratischen Verfassung „ein möglichst breites, allgemeines und gleiches Wahlrecht" angeführt. Und präjudizierlich fügt er bei: „Dieses ist uns für die Zukunft wohl gesichert." Allerdings gibt Seipel schon im November 1918 einem Staat den Vorzug, der „seine Bürger auf dem Umweg über ihre Familien und Berufsstände erfaßt" - so daß es von ihm nur folgerichtig war, wenn er in der Verfassungsreform des Jahres 1929 und in der Folge die Einrichtung eines Ständerates betrieb, dem er freilich in dem Vortrag, den er am 16. Juli 1929 in Tübingen hielt, ziemlich skeptische Betrachtungen widmet. Aber ungeachtet seines ständestaatlichen Ideals fällt es Seipel nicht ein, „jemals wieder das politische Wahlrecht einengen zu wollen." („Reichspost" vom 21. November 1918) „Das allgemeine Wahlrecht ist aber noch nicht das Um und Auf der Demokratie. Es darf auch sachlich keine Schranken für die Einflußnahme des Volkes auf die Führung der Staatsangelegenheiten geben." Eine Konsequenz daraus ist ihm sogar die Demokratisierung der Verwaltung. Damit macht sich Seipel eine Forde-

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rung zu eigen, die unbezweifelbare Demokraten, wie Kelsen und der Schreiber dieser Zeilen (namentlich in der Broschüre „Demokratie und Verwaltung", Wien, Perles), sogar als Überspannung der Demokratie nachweisen zu müssen glaubten. In einem Schlußartikel faßt dann Seipel die Bausteine seines demokratischen Verfassungsprogramms also zusammen: „Damit ist unsere nächste Aufgabe klar umschrieben: es heißt, den freien Staat fest und für alle Zukunft unzerstörbar begründen; so fest, daß ihm, wenn einmal der Friede geschlossen ist, von innen her keine neuen Erschütterungen drohen; daß die Freiheit des Volkes weder von oben noch von unten angetastet werden kann." („Reichspost" vom 21. November 1918) Und der stets beherrschte und konservative Seipel schließt seine programmatischen Betrachtungen über die künftige Verfassung Österreichs mit dem Ausruf, der den Vertreter des autoritären Staatsdenkens an Revolution und Barrikaden denken und nach dem Zensor rufen läßt: „Die Freiheit über alles!" Diese Reihe von markanten Bekenntnissen zur Demokratie ließe sich noch durch zahlreiche wesensgleiche Belege ergänzen. Wer wie ich die seltene Gelegenheit hatte, als Beamter des Verfassungsdienstes der Staatskanzlei die Verfassungsverhandlungen zu verfolgen und ihre aktenmäßigen Unterlagen zur Kenntnis zu nehmen, kann auch aus Erfahrung bestätigen: Seipel wandte sich während des Werdens der heute so geschmähten Bundesverfassung, die politisch viel mehr sein Werk war, als es heute seine Parteifreunde wahr haben wollen, in einer zielsicheren Mittlerrolle zwar gegen die unitarischen Tendenzen der Sozialdemokratie, aber auch gegen den übertriebenen Föderalismus in den Reihen seiner eigenen Partei, die ja anfänglich unter anderem selbst die Schulen bis zu den Universitäten und die Polizei für die Länder reklamierte. Auch gegen gewisse Erscheinungen eines radikalen Parlamentarismus wandte sich Seipel schon von Anfang an. Die Forderungen der Demokratie jedoch, die in der - selbst bei „Gebildeten" - üblichen Weise mit dem Parlamentarismus in einen Topf zu werfen, Seipel zu gebildet war, hatten an ihm keinen Gegner, sondern, wenn nötig, einen Anwalt. Und so konnte er am Eingang seiner großen Rede, mit der er in der 100. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung vom 29. September 1920 den Entwurf der Bundesverfassung einbegleitete, auch mit Beziehung auf sich selbst mit vollem Rechte sagen:

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„Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß." Seipels eigene - vor allem in der „Reichspost" geschriebene - Worte widerlegen also die Kritik, mit der das von Seipel einbegleitete und ausdrücklich gutgeheißene Werk - seine ausdrücklichen „Vorbehalte" beziehen sich auf fehlende, nicht auf vorhandene Verfassungseinrichtungen, insbesondere die Vertagung der Finanzverfassung und der Schulverfassung - an derselben Stelle (20. Juli 1933) also herabgesetzt wird: „Eine Verfassung ist zusammengebrochen, bei der sie1 seinerzeit zwar das Schlimmste hatte verhindern können, nicht aber die Tatsache, daß schon in ihrem Eingang die von Leo XIII. verurteilte gottlose Volkssouveränität festgelegt war; die nur ein Recht kennen wollte, das ,vom Volke' ausgeht; die einzig und allein die numerische Überzahl herrschen ließ, ohne Rücksicht auf Recht, Sittlichkeit und Religion." Eine erstaunliche Blütenlese von Anwürfen, wenn man bedenkt, daß sie auf den parlamentarischen Berichterstatter über das Bundesverfassungsgesetz, nämlich keinen Geringeren als Ignaz Seipel, zurückfallen müssen, der sich in seinem Bericht (Stenographische Protokolle der Konstituierenden Nationalversammlung, S. 3375 bis 3383) rückhaltlos zum Verfassungsentwurf bekannt hatte und niemals seine Mitverantwortung für das Verfassungswerk bestritten hat. Aber man scheut sich nicht, einen Seipel solcher für den Eingeweihten unverkennbaren - Kritik auszusetzen, wenn man damit nur erreicht, sein von ihm verantwortetes, aber von seinen Parteifreunden über Bord geworfenes Werk vor der unkundigen Leserwelt schlechtzumachen! Seipel war es auch, der im Unterausschuß des Verfassungsausschusses dem von akademischer Seite gemachten Vorschlag, dem 1. Artikel die heutige Fassung zu geben („Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus"), mit den lapidaren Worten zustimmte: „Einverstanden. Diese Fassung gefällt mir sogar viel besser!" Und ohne ein Wort der Widerrede, aber auch ohne jede Nötigung, wurde diese nunmehr so verketzerte Fassung einstimmig zum Beschluß erhoben. Also war insbe-

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Die Christlichsoziale Partei.

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sondere Seipel derjenige, der, um mit seinem publizistischen Sprachrohr zu sprechen, „nur ein Recht kennen wollte, das vom Volke ausgeht und das göttliche verleugnete". Freilich wäre dies eine unrichtige Auslegung der zitierten Gesetzesstelle, denn sie vermeidet ja gerade, in der traditionell demokratischen Weise das Volk zum „ Träger der Staatsgewalt" zu erklären, sondern reklamiert nur die Rechtserzeugung für das „Volk" - im Gegensatz zu einer autokratischen Autorität. Doch selbst wenn die Volkssouveränität proklamiert worden wäre, bestünde nicht das geringste gedankliche Hindernis, sie metaphysisch zu verwurzeln, wie ja auch die theologische Staatsauffassung die Fürstensouveränität auf Gottes Einsetzung oder Zulassung zurückgeführt hat. Und so haben auch katholische Parteien - zuletzt das deutsche Zentrum - nicht gezaudert, der Proklamation der Volkssouveränität zuzustimmen, und halten zahllose Millionen Katholiken dieses politische Bekenntnis mit ihrem religiösen für vereinbar. Einer unerfahrenen Leserschaft kann man ja wohl weismachen, daß der Kampf um eine neue Verfassung der Christianisierung der Verfassung gelte, aber vor der Wissenschaft hält ein solches Argument nicht stand. Seipel konnte sich auch als Priester getrost zur Demokratie und zur demokratischen Verfassung der österreichischen Republik bekennen - und auch mit seiner unverhohlenen Hinneigung zur Monarchie geriet er damit nicht in Konflikt - denn Monarchie und Demokratie sind keine notwendigen Gegensätze, erfahrungsgemäß sind vielmehr in Europa gerade Monarchien die verläßlichsten Horte der Demokratie geworden, man denke nur an die nordischen Königreiche, die allesamt die Behauptung widerlegen, daß die Demokratie der nordischen Rasse nicht kongenial sei. Das eine ist allerdings unbestreitbar: Seipel war nicht gefühlsmäßig, sondern verstandesmäßig Demokrat. Was aber diesen durchdringenden Denker bewogen haben mochte, in der Umsturzzeit sich geradezu outriert zur Demokratie zu bekennen, macht ihm, aber auch der Demokratie alle Ehre. Er bezog kompromißlos die Position der Demokratie, weil sie auch nach dem völligen politischen Systemwechsel jener Tage seiner Weltanschauung und seinem Glauben Existenzrecht und Entwicklungsmöglichkeiten verhieß. Geschichte und Gegenwart sagten ihm, daß eine auch noch so tief im Volke verwurzelte Weltanschauung in der Autokratie von der Gnade der jeweiligen Autokraten abhängt, in der Demokratie aber, wenn sie nur im Volke Rückhalt hat, auch staatlicherseits ungefährdet ist. Gewiß, die Demokratie entbehrt der tragischen Größe, sie gewährt ruhige Sicherheit; sie

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schafft keine Märtyrer, sie hindert aber auch keine soziale Bewegung, offen Anhänger zu werben. Seipel begab sich mit der demokratischen Gruppe innerhalb des Marxismus auf die gemeinsame politische Plattform der Demokratie, um die andere Richtung, die dem Bolschewismus und dessen politischem Mittel, nämlich der Diktatur, zuneigte, um so sicherer unschädlich zu machen. Seipels Bejahung der Demokratie schloß immer unausgesprochen, manchmal auch ausdrücklich, eine Verneinung der Diktatur in sich, und zwar begreiflicherweise jener Spielart, die zuerst auf der politischen Bildfläche erschienen war und zuerst der Demokratie - als der damaligen politischen Form der europäischen Kultur - Krieg angesagt hatte, nämlich der bolschewistischen Diktatur. Jene politischen Parteien, die nicht zuletzt dank der politischen Form der Demokratie - existent geblieben und so erstarkt sind, daß sie später eine ihnen genehme Diktatur aufrichten konnten oder können, hätten allen Grund, der Demokratie - als der ersten großen politischen Gegenspielerin bolschewistischer Diktatur - eine bessere Nachrede zu halten, als es gemeiniglich geschieht. Die Demokratie war für sie gut genug, ihnen gegen die Gefahr bolschewistischer Diktatur Rückhalt zu gewähren, und muß jetzt den Undank erleiden, zum - revolutionären Schutt geworfen zu werden. Seipel selbst hat Zeit seines Lebens sein demokratisches Bekenntnis nie widerrufen. Mögen seine politischen Äußerungen mit der Zeit auch mehrdeutig geworden sein, das demokratische Bekenntnis war immer eindeutig und da man keinen empirischen Beweis für eine gegenteilige Haltung hat, hat man auch kein Recht, dieses freiwillig immer erneuerte Bekenntnis als Lippenbekenntnis in Frage zu stellen. Gewiß - Seipel hat auch immer mehr an der Realität der Demokratie Kritik geübt - aber ihr doch immer wieder die unverfälschte Idee der Demokratie als sein politisches Ideal gegenübergestellt. Statt vieler Belege aus einer späteren politischen Ära seien nur einige wenige aus der von Seipel so genannten Münchener und Tübinger „Kritik der Demokratie" (zwei Vorträgen aus dem Jahre 1929) hervorgehoben. In München fühlt sich Seipel noch verpflichtet, seine Kritik an der Wirklichkeit - nicht an der Idee - der Demokratie mit der Bemerkung einzuleiten: „Ich glaube, es kann eine Zeit kommen - und sie wird kommen - , in der niemand an der Demokratie an sich Kritik übt." Ja, Seipel versteigt sich sogar zu einer Deutung des Willens Gottes in einem bestimmten politischen

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Sinn, und zwar bemerkenswerterweise in einem freiheitlichen und nicht autoritären Sinn: „Gott will, daß die Menschheit heranwachse zur vollkommenen Freiheit auch in ihren gemeinschaftlichen Bindungen." Er nennt den Glauben, man müsse etwas anderes finden oder erfinden, eine andere Form, in der die Völker als Völker leben sollen, die besser sei als die Demokratie, einen Irrtum und er erklärt die Abirrungen der realen von der idealen Demokratie - man könnte auch sagen: die Krise der Demokratie - mit Recht damit, daß die Menschen - und auch die Menschen, die andere Menschen zu führen berufen seien - noch nicht durchaus reif seien zur Demokratie. Aber auch in seiner um einen Grad skeptischeren „Tübinger Kritik der Demokratie" will Seipel „ein Bekenntnis zur Demokratie abgelegt" haben und alle seine konkreten Reformvorschläge zur Demokratie bewegen sich noch im Rahmen des ungeachtet aller realen Variationsmöglichkeiten wissenschaftlich feststehenden Begriffes der Demokratie. Kurz, Seipel hatte seiner politischen Haltung in einer Weise präjudiziell, daß er ohne einen radikalen Frontwechsel die politische Entwicklung des laufenden Jahres unmöglich hätte decken können. Bezeichnenderweise kann das gegenwärtige politische Regime seine politische Ideologie nicht aus der christlichen Staatsphilosophie beziehen, sondern muß bei ganz anderen politischen Ideologien geistige Anleihen machen, die man bei einem politischen Gegner keinesfalls gelten ließe. Und muß es nicht zu denken geben, daß sich gerade bei den prominenten Führern des politischen Katholizismus in Österreich, nämlich Lueger und Seipel, auf die man sich mit Recht so gern beruft, zahlreiche Redewendungen finden, die geradezu als Kritik der gegenwärtigen, wie ich unlängst ausgeführt habe, selbst weit hinter der konstitutionellmonarchischen Ära zurückgeschraubten Verfassungslage lesen? Würde man beispielsweise Seipels Artikel „Das Recht des Volkes" („Reichspost" vom 19. November 1918) auszugsweise ohne Namensnennung wiedergeben, so könnte seine beredte Kritik des Kriegsregimes als Kritik des „.Kriegswirtschaftlichen" Regimes gedeutet werden und würde unfehlbar der Zensur verfallen. Doch nicht bloß als Lehrmeister der Demokratie könnte Seipel seinen Nachfahren dienen, wenn diese seinen politischen Nachlaß einer Betrachtung würdigen wollten. Von Seipel konnten zum Beispiel auch die Kritiker des Liberalismus, die dieser politischen Idee wohl alles Schlechte von dem einen Extrem der „Staatsvergottung" bis zum anderen Extrem des „Nihilismus" nachsagen, eine gerechtere Würdigung mancher seiner politischen

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B. Personalia

Leistungen lernen, zu denen unter anderem eine geschichtlich unübertroffene rechtliche Garantie der individuellen religiösen Lebenssphäre gehört. Selbst den Parlamentarismus hat Seipel vor jenen Kritikern in Schutz genommen, die ihn ablehnen, weil sie mit ihm nicht umzugehen verstehen. Nicht zuletzt hat Seipel zur Idee des Ständestaates, den Gedankenschatz der „Quadragesimo anno4' fortentwickelnd, Gedanken beigetragen, die sich bei all ihrer Kürze als vernichtende Kritik gewisser halboffiziöser Projekte auf diesem Gebiet darstellen. Würde Seipels politischer Nachlaß für seine Nachfolger und Verwahrer, die sich als seine Willensvollstrecker berufen fühlen, aus einem toten Objekt für Gedenkreden und Gedenkartikel zu lebendigem Material für politische Konzepte, zu Bausteinen für den Neubau Österreichs, so brauchte uns um die politische Zukunft unserer Heimat weniger bange zu sein.

Nekrolog für Friedrich Hawelka Am 21. Oktober 1933 starb der mit dem Titel eines a.o. Univ.-Prof. bekleidete Privatdozent Dr. Friedrich Hawelka.

Hawelka, am 18. November 1875 zu Preßburg geboren, absolvierte das Gymnasium in Wien-Döbling und wurde im Jahre 1899 an der Universität Wien zum Doktor der Rechte promoviert. Schon im Juli 1898 war er als Statthalterei-Konzeptspraktikant bei der k.k. Statthalterei in Brünn in den politischen Verwaltungsdienst eingetreten, wurde jedoch bereits 1899 zur statistischen Zentralkommission in Wien versetzt und im Jahre 1904 in das k.k. Handelsministerium einberufen. Hier wurde er in verschiedenen Wirkungskreisen verwendet und sodann im Jahre 1917 als Sektionsrat in das neugegründete k.k. Ministerium für soziale Fürsorge übernommen. Die vielseitige literarische Tätigkeit, die er bis dahin als Universitätsdozent entfaltet hatte, war hauptsächlich dafür bestimmend, daß Hawelka vom k.k. Ministerratspräsidium knapp vor dem Umstürze zu den großen Arbeiten an der Staatsreform herangezogen wurde. Diese Arbeiten sind allerdings durch den Umsturz gegenstandslos geworden. Im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit diesen verfassungspolitischen Arbeiten wurde sodann Hawelka vorübergehend in die neugegründete Staatskanzlei übernommen, um hier an den kodifikatorischen Arbeiten zur Einrichtung der deutschösterreichischen Republik teilzunehmen. Als enger Mitarbeiter Hawelkas hatte damals der Verfasser dieses Nachrufes Gelegenheit, die auf theoretischen Kenntnissen und praktischer Kodifikationserfahrung beruhenden Leistungen Hawelkas fortlaufend kennen zu lernen und zu würdigen. Die großen sozialpolitischen Arbeiten jedoch, vor die das Staatsamt für soziale Fürsorge unmittelbar nach dem Umsturz gestellt war, waren der Grund, daß

In: Bericht über das Studienjahr 1933/34, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1935, S. 17-20.

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dieses Staatsamt den als Sozialpolitiker schon so reichlich bewährten Prof. Hawelka für sich in Anspruch nahm und er im Dezember 1918 dorthin zurückberufen wurde, um die Leitung des Departements für Pensionsversicherung zu übernehmen. Als neuernannter Ministerialrat wurde Hawelka im Jahre 1920 mit der Leitung der Abteilung für Rechtsprechung auf dem Gebiete der gesamten Sozialversicherung und im Juni 1922 mit der Leitung der sozialpolitischen Sektion betraut, endlich im Jahre 1923 zum wirklichen Sektionschef ernannt. Mit 1. Jänner 1931 wurde er in den dauernden Ruhestand versetzt. Als Departementsvorstand und Sektionschef des sozialpolitischen Ressorts war Hawelka mehr oder weniger fast an allen kodifikatorischen Arbeiten sozialpolitischen Inhalts beteiligt, die in den gesetzgeberisch so fruchtbaren Jahren der Nachkriegszeit Gesetzeskraft erlangten. Die Entwürfe des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Arbeiterversicherungsgesetzes sind unter seiner unmittelbaren Leitung zustande gekommen und tragen seine persönliche Note. Da Hawelka die Materie, mit der er sich amtlich zu befassen hatte, auch wissenschaftlich durchdrang, entwickelte er sich zu einem der angesehensten Fachleute des Sozialversicherungswesens in Österreich, dessen Ruf auch in Einladungen zu sozialpolitischen Expertisen und ausländischen Fachkongressen zum Ausdruck kam. Hawelka wurde auch seit Gründung des Internationalen Arbeitsamtes des Volkerbundes in Genf regelmäßig zu dessen Verhandlungen als Vertreter der österreichischen Bundesregierung delegiert. Sein Scheiden aus dem Bundesministerium für soziale Verwaltung hat eine bedeutende Lücke hinterlassen. War er doch der Typus des vormaligen österreichischen Fachbeamten, der seinen Ehrgeiz darauf gerichtet hatte, seine ganze praktische Arbeit theoretisch zu fundieren, wie auch seine wissenschaftlichen Arbeiten durch die reiche Erfahrung seiner Beamtenpraxis zu befruchten. Um so mehr widmete sich Hawelka nach seiner Pensionierung seinem ehrenamtlichen akademischen Beruf. Den Grundstein zu seiner literarisch-akademischen Betätigung legte Hawelka als eifriger Teilnehmer der staats- und verwaltungsrechtlichen Seminarien der Professoren Edmund Bernatzik und Adolf Menzel. Unter der Anleitung Bernatziks verfaßte Hawelka seine größere Erstlingsschrift, die unter dem Titel „Studien zum österreichischen Friedhofsrecht" 1904 erschien. Aus Seminarreferaten ging in der Folge auch sein ebenfalls im Rahmen der „Wiener staatswissenschaftlichen Studien" im Jahre 1910 veröffentlichtes Werk „Das Recht an öffentlichen Wegen in Österreich"

Nekrolog für Friedrich Hawelka

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hervor, auf Grund dessen er sich im Jahre 1911 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht habilitierte. Schon im Jahre 1905 war Hawelka zum Mitglied der staatswissenschaftlichen Staatsprüfungskommission ernannt worden; im Jahre 1915 wurde er durch die Verleihung des Titels eines a.o. Universitätsprofessors ausgezeichnet. Zu großen wissenschaftlichen Arbeiten hat in der Folge die amtliche Tätigkeit Hawelka nicht mehr kommen lassen. Dagegen verfaßte er, teilweise durch seinen amtlichen Wirkungskreis angeregt, teilweise als Ausfluß eines weitgreifenden privaten Interessenbereiches, ungewöhnlich viele fachwissenschaftliche Abhandlungen, die in den verschiedensten Zeitschriften Österreichs und des Deutschen Reiches erschienen sind. Im letzten Jahrzehnt spezialisierte sich Hawelka in seinen Publikationen auf das soziale Verwaltungsrecht. Seine einschlägigen Veröffentlichungen sind ein reifer Niederschlag seines bedeutsamen amtlichen Wirkungskreises. Aus der Fülle der Abhandlungen seien hervorgehoben: Herbert Spencer (Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, IX. Band) Fürst Krapotkin und der Anarchismus (ebda., X. Band) Ein System der objektiven Soziologie (Statist. Monatschrift 1900) Die tierce-opposition des französischen verwaltungsgerichtlichen Prozesses. (JB1. 1911) Über die rechtliche Natur der StraßenbenützungsVerträge (ebda. 1912) Die baupolizeiliche Behandlung des Kupelwieserschen Sanatoriumsprojektes durch die Gemeinde Breitenstein-Semmering (ebda. 1912) Die gesetzlichen Bestimmungen über Kinderschutz (Schriften des II. österr. Kinderschutzkongresses, 1913) Grundzüge des österreichischen Gewerberechtes (1929) L'assurance maladie en Autriche (Revue du Travail, 1923) Die Gesetzgebung über Betriebsräte in Österreich (Der Arbeitgeber, Berlin 1925) Die Arbeitslosenversicherung in Österreich (ebda., 1926) Deutsche Rechtsgedanken im sozialen Recht (Das neue Reich, 1929) Berichte über Arbeitsrecht in Österreich (Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Berlin 1933)

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Die österreichischen Gesetze der Arbeits- und Versammlungsfreiheit (Deutsche Juristenzeitung 1930) Tarifangehörigkeit (Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Berlin 1930) Nachwirkung des Tarifvertrages und Tarifrechtsreform (ebda. 1931) Rückschau auf die X. Internationale Arbeitskonferenz (Zeitschrift Wirtschaftsdienst 1927) Wiener Tagung der Internationalen Vereinigung für sozialen Fortschritt (ebda. 1927) Probleme der XI. Internationalen Arbeitskonferenz (ebda. 1928) Internationales Sozialversicherungsrecht (Schriftenreihe der Österr. Gesellschaft für Versicherungswissen 1932) Sozialrecht (Rechtsangleichungstagung der Rechtsausschüsse der deutschösterreichischen und österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft 1932) Der Schutz der Eingebornenarbeit und Hafenarbeit auf der XII. Internationalen Arbeitskonferenz von 1929 (Der deutsche Volkswirt) Das nur auszugsweise angeführte Schrifttum beweist vor allem die Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Interessen Hawelkas und seine Aufgeschlossenheit gegenüber andringenden Zeitproblemen. Alle Veröffentlichungen weisen aber auch, wenngleich sie nicht außerordentliche Originalität verraten, wissenschaftliche Gründlichkeit und Gediegenheit auf. Die erfolgreiche Arbeitstechnik Hawelkas bestand darin, die von ihm aufgeworfenen, sachlich meist eng begrenzten Probleme in abgerundeter, monographischer Darstellung zu umreißen und auszuschöpfen. Die nachmalige berufliche und fachwissenschaftliche Spezialisierung Hawelkas für das Sozialrecht machte ihn auch zu einer schwer entbehrlichen und ersetzbaren akademischen Lehrkraft. Bei der Erfüllung seiner Lehraufträge für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht konnte er aus dem Borne seiner einzigartigen Erfahrung als Kodifikator und Rechtsanwender auf diesem Gebiete schöpfen. Als vielseitige und doch in sich geschlossene, nie rastende Persönlichkeit, die ihre Mußestunden neben der geliebten Musik vor allem der Fachwissenschaft gewidmet hat, hat sich Hawelka redlich das dankbare Gedenken der Universität verdient.

Nekrolog für Leo Wittmayer Am 15. Juli 1936 starb der mit dem Titel eines ordentlichen Universitätsprofessors bekleidete Privatdozent Dr. Leo Wittmayer. Er wurde am 25. August 1876 in Wien geboren, promovierte am 16. Juli 1900 an der Universität Wien zum Doctor iuris, habilitierte sich an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien im Jahre 1911 für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, erhielt im Jahre 1915 den Titel eines außerordentlichen Professors und im Jahre 1929 in besonderer Würdigung seiner ungewöhnlichen literarischen Leistungen den Titel eines ordentlichen Professors. Im Hauptberufe war Wittmayer nach ursprünglicher richterlicher Verwendung Verwaltungsbeamter im österreichischen Staats- bzw. Bundesdienste. Den Hauptteil seiner administrativen Laufbahn legte Wittmayer als Beamter des k.k. Handelsministeriums und des k.k. Ministeriums für soziale Fürsorge, nachmals des Bundesministeriums für soziale Verwaltung, zurück. Zuletzt bekleidete er als Ministerialrat das Amt eines Abteilungsvorstandes des genannten Ministeriums und wurde als solcher im Jahre 1932 in den Ruhestand versetzt. Wittmayer entfaltete eine ungwöhnlich rege publizistische Tätigkeit, die zum guten Teil in Fachzeitschriften Österreichs, aber namentlich des Deutschen Reiches verstreut ist und ihn als einen stets auf der Höhe der Zeit stehenden Kenner der rapiden staatsrechtlichen Entwicklung beider Staaten erwies. Gerade diese Publikationsform ließ die charakteristische Technik seiner Arbeitsmethode wirksam hervortreten. Er schrieb mit Vorliebe fein pointierte, die gegnerische Ansicht - nicht den Gegner - geistreich ironisierende Essays.

In: Bericht über das Studienjahr 1935/36, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1937, S. 38-40.

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An selbständigen wissenschaftlichen Schriften Wittmayers sind namentlich hervorzuheben: Unser Reichsrats Wahlrecht, 1901 Die organisierende Kraft des Wahlsystems, 1903 Das Genossenschaftswesen nach dem Entwurf der Gewerbenovelle, 1903 Emil Steinbach als Sozialphilosoph, 1907 Die Ausgleichsgesetze vom30.XII. 1907,1908 Staats- und völkerrechtliche Rückblicke auf den Ausgleich, 1908 Eigenwirtschaft der Gemeinden und Individualrechte der Steuerzahler, 1910 Österreichisches Verfassungsrecht, 1923 Demokratie und Parlamentarismus, 1928 Das Hauptwerk Wittmayers ist das zu seiner Zeit viel beachtete und von den maßgebendsten Beurteilern außerordentlich anerkannte Buch „Die Weimarer Reichsverfassung" (1922). Das Werk erschien zum dritten Jahrestag dieser Verfassung und war der erste und letzte großzügige, unzweifelhaft gelungene Versuch einer umfassenden politischen Würdigung des Weimarer Verfassungswerkes. Auch in der Anlage dieses Werkes tritt uns die Arbeitsmethode Wittmayers plastisch entgegen: Die Schrift liest sich wie eine Summe geistvoller Essays, in denen die einzelnen Probleme einer Verfassung überhaupt und der Weimarer Verfassung im besonderen abgehandelt werden. Im Vorwort gesteht der Verfasser selbst, er habe das Buch so geschrieben, als hätte er in sich abgeschlossene Vorlesungen über die einzelnen Themen gehalten. So ergibt sich eine lebendige, nur manchmal in der Ausdrucksweise gesucht erscheinende Sprache, die weit entfernt von trockener Bürokratensprache, ja selbst von der Juristensprache ist. Und zum Unterschied von der minutiösen Kleinarbeit, die die deutsche Rechtsgelehrsamkeit vor und nach Wittmayer dem Weimarer Verfassungswerk gewidmet hat, liegt die Stärke unseres Verfassers in der Synthese des Materials sub specie der großen geschichtlichen und politischen Leitgedanken der deutschen Verfassungsentwicklung. Im Vergleich mit der herrschenden Auffassung übertreibt gewiß der Verfasser die historische Rolle des Objektes seiner Betrachtung, das er zugleich willensmäßig bejaht und als bleibende Errungenschaft betrachtet. Das Neue an der Verfassung ist ihm nicht bloß der demokratische und parlamentarische Charakter, nach der von Wittmayer eingehend begründeten Meinung von Einzelgängern soll Weimar auch erst den deutschen Bundesstaat geschmiedet haben, während das Bismarcksche

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Reich nur ein loser Fürstenbund gewesen sei. Und so ist für Wittmayer erst das Weimarer Reich das zweite Deutsche Reich. Nicht bloß im Gegenstand, sondern auch in der Methode der Erkenntnis liebt Wittmayer die Synthese. Was andere als Methodensynkretismus verurteilen, erhebt er zum Programm: Die Vereinigung von juristischer und politischer Methode. Er macht sich geradezu zum Leitprinzip: „Die Beobachtung des Verfassungsrechts unter Gesichtspunkten politischer Dynamik", was eine staatsrechtliche Betrachtung erst wahrhaft reizvoll mache. Wittmayer hat nicht geahnt, daß jenes Hauptobjekt seines wissenschaftlichen Lebenswerkes nur Episode bleiben werde, doch wird durch dieses Urteil der Geschichte die wissenschaftliche Leistung trotz der unleugbaren Mängel der Methode nicht verkleinert. Auch das eigenartige Werk von Weimar, das bewußt an einen Höhepunkt des deutschen Geisteslebens angeknüpft hat, war eine Welle des deutschen Staatslebens und darf von der Wissenschaft des deutschen Staates und der deutschen Geschichte nicht übersprungen werden. Man darf als Österreicher stolz sein, daß den wertvollsten Beitrag für die damit gekennzeichnete wissenschaftliche Aufgabe ein Österreicher geleistet hat. Die deutsche Staatswissenschaft hat denn auch zu ihrer Zeit diese literarische Leistung entsprechend gewürdigt und den Verfasser durch ehrenvolle Nominierung in Besetzungsvorschlägen für staatsrechtliche Lehrkanzeln wiederholt persönlich geehrt. Eine annähernd erschöpfende Würdigung des literarischen Lebenswerkes Wittmayers darf nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß seine vielseitige Persönlichkeit auch in geistvollen, unter einem Pseudonym veröffentlichten Gedichten in Erscheinung getreten ist. Alles in allem eine reiche, überaus begabte, vor dem selbst gesetzten Ziel, jedenfalls zu früh aus dem Schaffen gerissene Persönlichkeit, die sich aber das ehrende Andenken der Universität voll verdient hat.

Adolf Menzel zum 80. Geburtstag Am 9. Juli 1937 vollendet der Nestor der Wissenschaft des öffentlichen Rechtes in Österreich, Adolf Menzel, in Wien sein 80. Lebensjahr. Ein Reichenberger von Geburt, ist er einer der zahlreichen, nationalpolitischem Kampfboden entsprossenen Sudetendeutschen, die auf befriedetem deutschen Boden ihre Berufsstätte gesucht und in ihrer Gesamtheit das deutsche Kulturleben reich befruchtet haben. Als junger Dreißiger wird er nach kurzem akademischem Wirken an der Deutschen Universität in Prag zum Extraordinarius und alsbald zum Ordinarius an der Rechtsfakultät der Universität Wien ernannt, wo er bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand (1928) als Lehrer der allgemeinen Staatslehre, des Staatsrechtes, der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes durch fast vier Jahrzehnte tätig war. Doch noch im Ruhestande hält Menzel als Honorarprofessor Vorlesungen aus Rechtsphilosophie und Soziologie, jenen Disziplinen, denen sich seine Forschungsfreude mit zunehmenden Jahren in besonderem Maße zugewendet hat. Bis zur Stunde ist Menzel in seinem am Saum des Wienerwaldes gelegenen Arbeitsheim unermüdlich literarisch tätig und beschenkt die Wissenschaft mit Gaben, die den inneren Reichtum eines langen Arbeitslebens, die Erfahrung und die Abgeklärtheit einer im geistigen Umgang mit den Philosophen des Altertums gereiften Persönlichkeit zur Schau tragen. Adolf Menzel kommt seiner wissenschaftlichen Entwicklung nach vom Privatrecht, dem seine ersten Veröffentlichungen, wie „Die Schuldübernahme" (1884), „Das Anfechtungsrecht der Gläubiger" (1886), „Das Überbot" (1891), „Die Kartelle und die Rechtsordnung" (1894) gewidmet sind; Menzel habilitierte sich auch zunächst für das bürgerliche Recht. Die großen sozialpolitischen Kodifikationen des Deutschen Reiches, namentlich Bis-

Forschungen und Fortschritt, 13. Jg. (1937), S. 239-240.

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marcks Sozialversicherungwerk, und die gleichlaufende österreichische Gesetzgebung geben dem wissenschaftlichen Schaffen Menzels die Wendung zum öffentlichen Recht. „Die Unfall- und Krankenversicherung" (1889) und „Die Arbeiterversicherung nach österreichischem Recht" (1893) sind der Niederschlag dieser neuen Arbeitsperiode Menzels. Namentlich das zuletzt genannte Werk wird durch Jahrzehnte zum führenden und auch heute in der internationalen Literatur über den Gegenstand noch immer zitierten Schrift jenes Problemkreises. Bei diesen wie bei allen Forschungen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechtes kommt dem Verfasser und der von ihm vertretenen neuen Disziplin die Schulung an dem technisch seinerzeit viel höher entwickelten und fachwissenschaftlich viel tiefer erforschten privaten Recht in hohem Maße zugute. Das Lehramt bringt Menzel mit neuen Problemkreisen in Berührung. Dem Bereiche des Staatsrechtes gehören unter anderen die Schriften über „Systeme des Wahlrechtes" (2. Aufl. 1906) und „Zur Lehre von der Notverordnung" (1908) an. Die eigene Staatsauffassung, eine Variation der organischen Staatsauffassung, kommt namentlich in seiner Wiener Rektoratsrede „Zur Psychologie des Staates" (1915) und in der Abhandlung „Die energetische Staatslehre" (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 1931) zum Ausdruck. Den Hauptinhalt seines literarischen Wirkens aber machen in der Folge seine Forschungen im Bereiche der Geschichte der Staatslehre und der Rechtsphilosophie aus. Es erscheint im Laufe der Jahre eine schier unübersehbare Folge von kritischen Darstellungen der Lehren antiker und moderner Staatsphilosophen, die dank dem liebe- und verständnisvollen Eingehen auf die Urtexte und der ungewöhnlichen Belesenheit des Autors vielfach in neuer Beleuchtung erscheinen. Menzels Verdienst ist es, daß die Ergebnisse der Altertumswissenschaft und Philologie mit Hilfe des staatstheoretischen Rüstzeuges in reichem Maße ergänzt und auch berichtigt werden. Den größeren Teil der einschlägigen Monographien hat die Akademie der Wissenschaften in Wien im 210. Band ihrer Sitzungsberichte unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte der Staatslehre" gesammelt und veröffentlicht; unter anderm Beiträge allgemeinen Inhaltes, wie die Abhandlungen: „Umwelt und Persönlichkeit in der Staatslehre", „Staatslehre und Weltanschauung", „Über soziale Wertmaßstäbe", „Zum Problem Recht und Macht", „Zur Lehre vom Naturrecht", ferner „Beiträge zur griechischen Staatslehre", namentlich „Das Problem der Demokratie in der griechischen Staatslehre", „Gesetzesherrschaft", „Protagoras als Theoretiker der Demo-

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kratie" und „Protagoras als Begründer der positivistischen Rechtslehre", die „Griechische Machttheorie", sodann eingehende Forschungen über die Staatslehre Spinozas, endlich Beiträge zur neuzeitlichen Staatslehre, namentlich über „Österreichische Staatsphilosophen des 18. Jahrhunderts", „Mirabeau und die Menschenrechte", „Herbert Spencers Staatslehre", „Die Staatslehre Léon Duguits", schließlich „Soziologie und Staatslehre". Außerhalb dieser Sammlung ist vor allem „Kallikles, eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Rechte des Stärkeren" (1922) zu nennen. Völlig originelle Forschungsergebnisse Menzels bringt auch der 216. Band der Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien (1936) unter dem Titel „Griechische Soziologie". Das bemerkenswerteste Ergebnis der Forschungen Menzels in der antiken Literatur ist die Erkenntnis, daß moderne Staatstheorie und Politik noch viel mehr, als man bis in die jüngste Zeit geahnt hat, von der Antike beeinflußt sind oder in der Antike unbewußte Vorläufer haben. Das hat Menzel zuletzt sogar vom Staatsgedanken des Faschismus in seiner gleichbenannten Schrift (Wien 1935) nachzuweisen vermocht. Wenn Menzel selbst den Erfahrungssatz ausspricht: „Für Bürgertugend und Gemeinsinn gibt es wohl kaum bessere Lehrmeister als die klassischen Schriftsteller", so ist dieser Ausspruch dahin zu ergänzen, daß auch der praktische Staatsmann aus Menzels Forschungen reichliche Belehrungen schöpfen kann.

Adolf Menzels Lebenswerk und die Jurisprudenz Zu seinem 80. Geburtstag

Wer die fachwissenschaftliche Literatur verfolgt, wird nur mit Überraschung vernehmen, daß Adolf Menzel am 9. Juli dieses Jahres sein 80. Lebensjahr vollendete, denn der literarisch interessierte Jurist ist nach wie vor gewohnt, Büchern und fachwissenschaftlichen Abhandlungen dieses Autors zu begegnen. Als das staatliche Gesetz des Alters dem akademischen Wirken Menzels nach rund vier Jahrzehnte langer Berufsausübung ein Ziel gesetzt hatte, ließ Menzel, ungebeugt durch das Naturgesetz des Alters, seinem zwischen Lehramt, Richteramt, akademischen Würden und literarischer Produktion geteilten Lebenswerke ein Jahrzehnt konzentrierten literarischen Schaffens folgen, das unsere Wissenschaft in ungewöhnlicher Weise beschenkt hat und uns noch weitere Bereicherungen verspricht. Dabei ist dieses Schrifttum, wie seit je, in schier unglaublicher Weise der Zeit aufgeschlossen, nämlich an den jeweils aktuellsten Problemen des Fachgebietes orientiert, insofern aber jedenfalls überzeitlich, als der Verfasser dank seiner unerhörten staats- und gesellschaftsphilosophischen Belesenheit die Gegenstände seines wissenschaftlichen Interesses sub specie aeternitatis schaut und in den Zusammenhang des jahrtausendelangen Ablaufes der Ideen und Institutionen von Staat und Recht einordnet. Um kurz die äußere literarische Entwicklung des Jubilars zu verfolgen, sei daran erinnert, daß Menzel vom Zivilrecht ausgegangen ist, für das er sich denn auch an der deutschen Universität in Prag habilitiert hat. Diesem Abschnitt seiner literarischen Tätigkeit gehören namentlich folgende Schriften an: „Zur Lehre von der Schuldübernahme" (1884), „Das Anfechtungsrecht der Gläubiger nach österreichischem Recht " (1886), „Das Über-

Juristische Blätter, 66. Jg. (1937), S. 289-291.

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bot" (1891), „Die Kartelle und die Rechtsordnung" (1894), „Das Recht des Notweges" (1896). Mittlerweile hatte jedoch Menzel bereits jene Wendung in seinem literarischen Schaffen vollzogen, die für seine fernere Laufbahn entscheidend werden sollte, den Übergang zum öffentlichen Recht und seiner Theorie. Den Anstoß hiezu gaben die großen Kodifikationen des Sozialversicherungsrechtes im Deutschen Reich und Österreich. Den kleineren Abhandlungen über „ Unfall- und Krankenversicherung" (1889) und „Soziale Gedanken im Bergrecht" (1891) folgt das monumentale Werk „Die Arbeiterversicherung nach österreichischem Rechte mit Berücksichtigung des deutschen Reichsrechtes systematisch bearbeitet" (1893). Man braucht den Literaturkenner kaum daran zu erinnern, daß das genannte Werk die grundlegende Behandlung des neuen Problems war, jahrzehntelang als das Standardwerk des Gegenstandes gegolten hat und auch heute, wie die Zitierungen in der Fachliteratur erweisen, nur im Stoff, aber nicht in der Methode veraltet ist. Menzel kam auf den Problemkreis noch in gelegentlichen Abhandlungen zurück. Die staats- und verwaltungsrechtliche Lehrkanzel der Universität in Wien, die Menzel dank jener literarischen Großtat bezogen hat, bringt nun aber unseren Jubilar mit neuen positivrechtlichen, rechtspolitischen und in der Folge mit staatstheoretischen Problemen in Berührung, die er in konsequentem Studium aufrollt und meistert. Aus diesem Kreise von Publikationen seien erwähnt: „Die Systeme des Wahlrechtes" (1895, 2. erw. Auflage 1906), „Die Novelle zum Heimatgesetz" (1894), „Das Verwaltungsverfahren" (1897), „Zur Lehre von der Notverordnung" (in der Festgabe für Paul Laband, 1908). In diesen Abschnitt positivrechtlicher Publikationen reicht nun aber bereits die dritte, längste und fruchtbarste Periode im Schaffen Menzels, sein schier unerschöpfliches Forschen in der Geschichte der Staatstheorie herein. Den Auftakt zu dieser Gruppe von Publikationen bilden seine Untersuchungen zur Staatslehre Spinozas, die uns ein heute fast ausnahmslos anerkanntes neues Bild dieses als Staatstheoretiker so arg vernachlässigten Forschers gegeben haben. Im einzelnen befassen sich folgende Abhandlungen mit dem bezeichneten Thema: „Wandlungen in der Staatslehre Spinozas" (1898), „Homo sui iuris, eine Studie zur Staatslehre Spinozas" (1905), „Der Sozialvertrag bei Spinoza" (1906), „Spinoza und die deutsche Staatslehre der Gegenwart" (1907), „Spinoza und das Völkerrecht" (1908),

Adolf Menzels Lebenswerk und die Jurisprudenz

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„Spinozas Lehre von der Geistesfreiheit" (1929). Die Persönlichkeit, die hernach das Forscherinteresse Menzels gefesselt hat, war der Sophist Pro tagoras. Folgende Abhandlungen zeigen die grundlegende Bedeutung dieses antiken Philosophen für die Wissenschaft von Staat und Recht auf: „Protagoras , der älteste Theoretiker der Demokratie" (1909), „Protagoras als Theorektiker der Demokratie" (1910), „Protagoras als Gesetzgeber von Thurii " (1910), „Protagoras als Kriminalist " (1910). Die literargeschichtliche Bedeutung dieser Forschungen liegt darin, daß uns in Protagoras ein scharf profilierter Dogmatiker der Demokratie und damit zugleich der Begründer der demokratischen Doktrin , in Spinoza ein ebenso charakteristischer Dogmatiker des Liberalismus vorgeführt wird. Man sieht an diesen beiden Fällen, namentlich aber an Spinoza, dessen politische Theorie neben seinem philosophischen System fast übersehen worden war, daß manche Ideengebäude ohne den Zufall, daß sie ein verstehender Entdecker hebt, fast oder ganz verschollen bleiben würden. In sachlichem Zusammenhang mit den Forschungen über die Staatslehre Spinozas stehen die Macchiavelli-Studien (1902), da ja Macchiavelli der einzige Vorgänger ist, auf den Spinozas unverhältnismäßig originelle Staatslehre teilweise zurückgeführt werden kann. In dieselben Jahre fallen Menzels „Untersuchungen zum SokratesProzeß ", die im Rahmen der Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften erschienen sind (1902). Mit der Sonde des Staatstheoretikers und Rechtsgelehrten untersucht Menzel in dieser für den Juristen besonders ergiebigen Schrift die Anklage gegen Sokrates und seine Verteidigung und kommt so dazu, das von den Altertumsforschern und Philologen gezeichnete Bild der athenischen Prozeßpraxis, wie es uns etwa in der Darstellung Pöhlmanns begegnet, wesentlich zu berichtigen. Daß auch die so modern anmutende Machttheorie eine Erfindung des Altertums ist, beweist uns Menzel an der Hand reichen Quellenmateriales in seiner Schrift „Kallikles. Eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Rechte des Stärkeren ", die als selbständige Abhandlung 1922 erschienen ist. Das hochgeistige, bewegliche Griechentum hat, wie uns hier gezeigt wird, Nietzsches Ideal des Übermenschen fast wörtlich vorweggenommen. Und eine der jüngsten Schriften Menzels entdeckt unter dem Titel „Griechische Soziologie" (herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften in Wien, 1936) Ansätze einer Soziologie der Griechen, womit der Anspruch zünftiger Soziologen, die jüngste Sozialwissenschaft zu vertreten, und außerdem zahlreiche Prioritätsansprüche in bezug auf einzelne soziologische Thesen erschüttert sind.

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Aus dem Kreis der französischen Revolutionsphilosophie hat Menzel besonders die Persönlichkeit des Grafen Mirabeau gefesselt, wovon seine Abhandlung „.Mirabeau und die Menschenrechte" (1907) Zeugnis ablegt. Aus dem Kreis der französischen Sozialreformer wird „Proudhon als Soziologe" (1931) gewürdigt und in ein neues Licht gerückt. Der Aufsatz „Eine realistische Staatstheorie" (1913) befaßt sich mit der Staatslehre Duguits. Unter den englischen Staats- und Gesellschaftsphilosophen hat Herbert Spencer von Seite unseres Autors eine monographische Untersuchung erfahren (1921). Unter den Deutschen ist es namentlich die Persönlichkeit Goethes, der sich Menzel mit den Augen des Staatstheoretikers genähert hat. Die beiden knappen Aufsätze „Goethe und die griechische Philosophie" (1932) und „Goethes Beziehungen zur Staatslehre" (1933) sind eine kostbare Fundgrube für die Beziehung Goethes zu den verschiedensten Problemen des Staates und in ihrer photographischen Treue ein vernichtendes Urteil über alle jene Bestrebungen, die Goethes politische Einstellung für eine bestimmte Richtung, neuestens beispielsweise in dem Buche von Johann Georg Sprengel „Der Staatsgedanke in der deutschen Dichtung" (1933) für den totalen Nationalstaat reklamieren wollen. Zu den zahlreichen Belegen für die allein haltbare These, daß Goethe hoch über den Parteien gestanden ist, wenngleich er sich gelegentlich einen „gemäßigten Liberalen" genannt hat, könnte vielleicht noch das ironistische Distichon aus den „Jahreszeiten" zitiert werden: „Jene machen Partei, welch unerlaubtes Beginnen! Aber unsere Partei, freilich, versteht sich von selbst!" Alles in allem kann in vollendetem Maße Menzels abschließendes Urteil zum Gegenstand rechtfertigen: „So steht Goethe auch als Politiker und Sozialdenker in einsamer Höhe." - Es ist geradezu selbstverständlich, daß Menzel auch durch die Persönlichkeit Kaiser Josefs II. gefesselt worden ist und dessen Staatsauffassung untersucht hat. Die Abhandlung: „Kaiser Josef IL und das Naturrecht" (1920) ist das Ergebnis dieser Untersuchung. Dem unserem Jubilar in mehr als einer Hinsicht nahestehenden österreichischen Soziologen und Wirtschaftstheoretiker Friedrich Frh. von Wieser setzt Menzel in seiner Abhandlung „Friedrich Wieser als Soziologe" (1927) ein Denkmal wissenschaftlicher Würdigung und freundschaftlicher Gesinnung. Dem italienischen Staatsdenken wendet sich Menzel neuestens in seinem gedankenreichen Buche „Der Staatsgedanke des Faschismus" (1935) zu. Hier werden bei aller Bewunderung für die Persönlichkeit des Schöpfers der fachistischen Staatsidee doch auch die Denker und Gedankenrichtungen gewürdigt, auf denen selbst diese ungewöhnlich originelle politische Ideologie - Men-

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zel spricht vielleicht nicht ganz zutreffend von einer Weltanschauung des Faschismus - fußt. Ein beträchtlicher Teil der vorzitierten staatstheoretischen Schriften, die bisher in den verschiedensten Fachzeitschriften verstreut und daher schwerer zugänglich waren, sind dankenswerterweise von der Akademie der Wissenschaften in Wien in einem mächtigen Sammelband unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte der Staatslehre" herausgegeben und damit einem größeren Leserkreise zugänglich gemacht worden (1929). Man möchte dies freilich auch von den sonstigen Forschungsergebnissen Menzels auf dem Gebiete der Geschichte der Staatstheorien dringlichst wünschen. Eine von Menzel selbst veranlaßte Ausgabe von Studien aus der jüngeren Geschichte der Gesellschaftstheorie gibt eine Überschau über eine Reihe von Staatsund Gesellschaftstheorien unter einem bestimmten Blickpunkt unter dem Titel:„.Naturrecht und Soziologie" (1912). Das ungewöhnliche literarkritische Verdienst dieser Abhandlung besteht in dem Nachweis, daß der Grundgedanke und die Methode des Naturrechtes, mittels der Konstruktion des Staats- oder Sozialvertrages den Staat und im besonderen eine bestimmte Staatsverfassung zu erklären oder vielmehr zu rechtfertigen, unter den verschiedensten Masken bis zur Gegenwart, auch bei Staats- und Gesellschaftstheoretikern, die dem rationalistischen Naturrecht durchaus entwachsen zu sein meinen, fortgewirkt hat. An der Hand von unwiderleglichen Belegen wird der Beweis geführt, daß die sich kausalgesetzlich gebärdende moderne Soziologie unter den verschiedensten Formen und Formeln, etwa dem Entwicklungsgedanken, rechtspolitische Forderungen nach der Art des Naturrechtes aufstellt, utopische Idealstaaten darstellt. Damit wird literarkritisch ein Gedanke unterbaut, den Menzel schon in einem seiner zahlreichen Vorträge („Natur- und Kulturwissenschaft", 1903) entwickelt hat. Menzel spricht in seiner vornehm-liebenswürdigen Art den Gedanken nicht ausdrücklich aus, für den er jedoch bei den gutgläubigsten und hervorragendsten Vertretern der Sozialwissenschaften reichlichstes Belegmaterial beibringt, daß die Sozialwissenschaften zum Unterschied von den Naturwissenschaften in einem unerhörten Maße weniger der Wissenschaft als politischen Bedürfnissen dienen. Gelegentlich hat Menzel, wenn auch sehr abstrakt, diesen Gedanken für ein viel umfassenderes Gebiet so gefaßt: „Auf dem Gebiet der sozialen Erscheinungen - Recht, Religion, Sittlichkeit, Staatsverfassung - gibt es schwerlich eine reine Wahrheitsforschung mit objektiven Ergebnissen" (Untersuchungen zum Sokrates-Prozeß, S. 63).

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Und gegen Pöhlmann wendet er an derselben Stelle ein, daß nicht bloß Sokrates, sondern „jeder religiöse oder soziale Reformator der ,Wahrheit' zu dienen glaubt; gibt es aber auf dem Gebiete der sozialen Erscheinungen wirklich ein rein wissenschaftliches Denken?" Die starke subjektive Bedingtheit der Staatsauffassung kommt auch in den Schriften Menzels „Umwelt und Persönlichkeit in der Staatslehre" und „Demokratie und Weltanschauung" (1921) zu sprechendem Ausdruck. Indes kann und soll natürlich das ehrliche Ringen der Mehrzahl der Staatswissenschafter um die objektive Wahrheit und die Möglichkeit einer asymptotischen Annäherung an die Wahrheit nicht in Frage gestellt werden. Das gilt nicht zuletzt von den eigenen staatstheoretischen Bekenntnisschriften des Jubilars, in denen Menzel seiner eigenen Staatsauffassung Raum gibt. In diesem Zusammenhang sind zunächst der Beitrag Menzels im Handbuch der Politik (1. Aufl.) „Begriff und Wesen des Staates" (1912), sodann die Inaugurationsrede „Zur Psychologie des Staates" (1915) und endlich die Abhandlung im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (1931) „Die energetische Staatslehre" zu nennen. Wenn Menzel den Staat als ein mit den Mitteln der Psychologie erkennbares Energiezentrum deutet, so stellt sich seine Staatsauffassung als eine Variante der organischen Staatsauffassung dar, die sich selbstverständlich von den biologischen Exzessen und Exzentrizitäten dieser Staatsauffassung freihält. Mag sich Menzel, wie in dem Großteil seines literarischen Lebenswerkes, in fremde Staatsauffassungen einfühlen und ihnen die den eigenen Urhebern oft kaum bewußte systematische Stellung in der schier unübersichtlichen Geschichte der Staatstheorie zuweisen, oder in bescheidener Zurückhaltung seine eigene Überzeugung vom Sinn und Wesen des Staates vertreten immer bleibt er der unbestechliche Forscher von jener Abgeklärtheit, wie wir sie nur bei den griechischen Philosophen finden, denen er seine ganze verstehende Verehrung zugewendet hat. Im Falle unseres Jubilars ist aber auch die äußere Würdigung dem inneren Werte seines Lebenswerkes vollauf gerecht geworden: Menzel hat nicht nur wiederholt das Amt eines Dekans der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät und in kritischer Kriegszeit das Amt des Rektors der Universität in Wien bekleidet, sondern gehört auch seit Jahrzehnten der Akademie der Wissenschaften und seit der Gründung des „Institut international de droit public" bei einem numerus clausus von 40 Mitgliedern als einer unter drei Österreichern dieser internationalen

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Organisation seiner Fächer an. Menzels ehemalige Kollegen und der Akademische Senat der Universität Wien durften endlich voriges Jahr den Nestor der österreichischen Staatswissenschaften - und sich selbst - dadurch ehren, daß sie ihn zum Ehrendoktor der Staatswissenschaften kreierten.

Carl Brockhausen f Aus Kitzbühel kommt die Nachricht, daß der vormalige Honorarprofessor der Wiener Universität, Dr. Carl Brockhausen, ein gebürtiger Rheinländer, im Alter von 92 Jahren gestorben ist. Der greise Gelehrte hatte sich dorthin zurückgezogen, als Wien Nazikriegsschauplatz geworden war. Der alten Generation der Wiener Akademiker ist er noch aus seiner rund zwanzigjährigen Tätigkeit als Universitätskanzleidirektor in Erinnerung. Das war ein Amt, dem er wie kein Zweiter durch seine starke freigesinnte Persönlichkeit Inhalt und Bedeutung gab, zumal da er zugleich als ein gegenüber den Überbleibseln der absolutistischen Verwaltung überaus kritischer Dozent der Verwaltungswissenschaft wirkte. So erklärt es sich, daß Karl Renner als Staatskanzler der Republik Carl Brockhausen als fallweisen Berater bei der republikanischen Erneuerung der Verwaltung heranzog, wobei Brockhausen mit Hans Kelsen, dem Erneuerer der Staatsverfassung, verständnisvoll zusammenarbeitete. Brockhausen war zeitlebens ein unbeugsamer Liberaler, etwa vom Typus Julius Ofners, dabei sozial völlig aufgeschlossen und in unüberbietbarer Weise hilfsbereit. Seine kosmopolitische Gesinnung hat er namentlich durch seine Schrift „Deutschland - Frankreich", in der er alles die beiden Nationen Verbindende zusammentrug, und durch die geistreiche pazifistische Bekenntnisschrift „Erdwandel - Seelenwandel" bewiesen. Zur Zeit, als der politische Kurs der Universität Wien bereits im Banne des Nazismus stand, war es gewiß eine Kühnheit, daß sich der mittlerweile zum Märtyrer des KZs gewordene Dekan der Rechtsfakultät, Professor Hupka, gegen die terroristischen Studentenkundgebungen auf ein aus der Mitte der Fakultät stammendes Rechtsgutachten berief, das die Pflicht der Polizei feststellte, auch auf akademischem Boden für die Unversehrtheit der

Arbeiterzeitung vom 26. September 1951.

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Person und für die Ungestörtheit des Lehrbetriebes einzutreten. Als die damals ausschlaggebenden akademischen Kreise eine solche Auffassung als Verrat der Rechte und Interessen der Universität denunzierten, griff Brockhausen mit einer für die akademischen Behörden bestimmten spontanen Äußerung ein, in der er den so unpopulären Standpunkt des Rechtes mit dem Zusatz unterstrich, daß er der Wahrheit kein Mäntelchen umhängen lasse, und seine Überzeugung nötigenfalls in aller Öffentlichkeit vertreten werde. Brockhausen verdient, als guter Geist der Universität in dauerndem Andenken erhalten zu werden. Er hat dem Beruf eines Professors Ehre gemacht, denn er war bei aller Verbindlichkeit der Form ein rücksichtsloser Bekenner seiner Überzeugung, mochte sie ihm Vorteile oder Nachteile bringen.

Karl Renners staatswissenschaftliches Lebenswerk1 I. Renners geistiger Werdegang Die Würdigungen, die der Persönlichkeit des letzten österreichischen Bundespräsidenten im Inland und Ausland in reichem Ausmaße zuteil geworden sind, haben naturgemäß fast ausschließlich dem hochverdienten österreichischen Patrioten und dem großen Europäer gegolten, der in den tiefsten Wellentälern der österreichischen Geschichte, im Zusammenbruch nach zwei unser Vaterland in seinen Grundlagen erschütternden Kriegen zum Retter Österreichs geworden ist. Die österreichische Juristenwelt hat aber in Renner auch einem der Besten aus ihrer Mitte nachzutrauern, der ihr als Schriftsteller von ungewöhnlichem Gedankenreichtum und seltener Lebensnähe Ehre gemacht und durch sein ganzes Lebenswerk bewiesen hat, wie die staatsmännische Tat durch wissenschaftliche Vorbereitung und Untermauerung mitgestaltet und durchgeistigt werden kann. Der Staatsmann Renner ist weitgehend durch den juristisch-politischen Schriftsteller vorherbestimmt. Theorie und Praxis sind bei Renner Ausdruck einer geschlossenen Persönlichkeit, welche die staatsmännische Leistung einerseits durch wissenschaftliche Analyse vorbereitet und andererseits nachträglich wissenschaftlich deutet. Das schriftstellerische Lebenswerk Karl Renners ist schon mengenmäßig mit seinen rund 60 Büchern, größeren Abhandlungen und im Druck herausgegebenen öffentlichen Vorträgen im Gesamtausmaß von mehreren tausend Druckseiten überaus stattlich und legt für den Bienenfleiß des hauptberuf-

juristische Blätter, 73. Jg. (1951), S. 121-126. 1 Unter teilweiser Benützung des Aufsatzes des Verfassers „Karl Renner als WissenschafterWiener Universitätszeitung vom 2.1.1951, und der vom Verfasser in der Trauerfeier der Universität Wien am 20.1.1951 gehaltenen Gedenkrede.

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lieh im öffentlichen Leben stehenden Mannes und für die Vielseitigkeit seiner literarischen Interessen ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Renners Persönlichkeit war nicht etwa in der Weise gespalten, daß er für die im Rampenlicht der Öffentlichkeit entfaltete Tätigkeit Gegengewicht und Entspannung in der Stille der Gelehrtenstube gesucht hätte. Wenn man auch von den rein volksbildnerischen und parteipolitischen Schriften absieht, ist die schriftstellerische Tätigkeit Renners fast ausnahmslos durch brennende politische Zeitfragen ausgelöst und zu wissenschaftlicher Klärung der Voraussetzungen und Lösungsmöglichkeiten staatsmännischer Aufgaben bestimmt. Renner war es zwar nicht gegönnt, staatsmännischer Baumeister seiner originellsten Planungen zu werden. Diese literarischen Planungen werden aber zum Spiegelbild der politischen Problematik ihrer Zeit. Durch die bloßen Problemstellungen seiner langen Schriftenreihe, die bis 1918 in ihrer Gesamtheit den Titel „ U m Österreichs Erneuerung" tragen könnte, den Renner nur für eine einzelne Artikelreihe gewählt hat, wird uns Renner der zuverlässigste Wegweiser in dem Irrgarten der österreichischen Innenpolitik. Es sei in diesem Zusammenhange festgestellt, daß es mir als eine Ehrenpflicht der österreichischen Wissenschaft erscheint, dieses zum Teil vergessene literarische Erbe zu pflegen, darüber hinaus aber Karl Renner der akademischen Jugend als Anwalt der politischen Freiheit und Baumeister unseres Staates darzustellen und im Gedächtnis wachzuhalten. Ein kurzer Rückblick in unserem Rahmen gebührt zunächst dem Studenten Karl Renner. Die erste Kindheit und Volksschulzeit hatte sich noch in seinem Heimatdorf Tannowitz in Mähren in der Hut des Elternhauses, freilich unter dem Druck der größten Dürftigkeit abgespielt. Es stellt der kleinbäuerlichen Familie, der Renner entstammt, ein gutes Zeugnis aus, daß trotz der großen Kinderschar der zehnjährige Karl oder Anton (der Vorname steht infolge Vertauschung des Zwillingspaares nicht fest), auf Grund der ersten Zeichen der Begabung in das zwei Wegstunden entfernte Staatsgymnasium in Nikolsburg in Mähren eingeschrieben wird. Von Anbeginn mußte er durch „Freitische" bei wohlgesinnten Familien seinen Lebensunterhalt fristen, sein Quartier am Studienort mußte er sich bei wechselnden Kostfrauen durch kleine Hilfsdienste für die Hausbewohner verdienen. Daß ein Jahr nach dem Eintritt in das Gymnasium sein Elternhaus unter den Hammer, seine Eltern ins Armenhaus kamen und seine zahlreichen Geschwister buchstäblich auf der Straße standen, hätte dem Studium Renners ein Ende gesetzt, wenn nicht die Schulleitung für den Vorzugsschüler ein Stipendium

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erwirkt hätte. Das zusätzlich für den Lebensunterhalt Nötige mußte sich der Gymnasiast in den folgenden Schuljahren als Hauslehrer und Hofmeister verdienen. Trotzdem wuchsen die Erfolge Renners in der Schule und er bestand im Alter von 18 Jahren die Reifeprüfung mit Auszeichnung und lieferte u.a. eine Arbeit, die seinem Lateinlehrer das Lob entlockte, selbst Cicero habe kein schöneres Latein geschrieben. Von vornherein stand für Renner fest, daß er die Universität besuchen und Rechts- und Staatswissenschaften studieren werde. Daß er sich seinen ganzen Lebensunterhalt auch als Hochschüler verdienen mußte, hielt ihn nicht davon ab, das Hochschülerdasein als Recht und Pflicht zu verstehen und viele Stunden des Arbeitstages in den Hörsälen und Bibliotheken der Universität zu verbringen: dies war die praktische Folgerung aus seiner Einstellung zur Hochschule. In seinen Lebenserinnerungen stellt er fest, daß er beim Betreten der Universität das Gefühl der Genugtuung, ja des Sieges gehabt habe. „Mit wieviel Mühsal unter wievielen Wechselfällen des Schicksals hatte ich mir das Recht erobert, in diese Hörsäle einzutreten und an den durch Jahrtausende aufgehäuften Schätzen des Wissens Anteil zu erlangen! So war ich weit entfernt von der gelangweilten Selbstverständlichkeit, mit der allzu viele Hörer das Hochschulstudium als den unvermeidlichen Umweg zu einer einträglichen und angesehenen Stellung hinnahmen." Nicht als Last, sondern als Lohn empfindet der sozusagen sozial Enterbte den so schwer erkämpften Zutritt zur Universität. Renner gedenkt ausdrücklich ehrend der Anregungen, die er in den Vorlesungen der Professoren Exner, Sigi, Zallinger y Gross, empfangen hat, also in den Vorlesungen der seinerzeitigen Lehrer des römischen, deutschen und des Kirchenrechtes. Noch stärker haben ihn aber die Lehrer der Nationalökonomie Anton und Karl Menger und des Staats- und Verwaltungsrechtes Edmund Bernatzik und der Volkswirtschaftslehrer Eugen Phillipovich beeindruckt. Diese beiden erkennen auch seine wissenschaftlichen Fähigkeiten und raten ihm, unbekümmert um sein Parteibekenntnis, sich an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu habilitieren; der letztere empfiehlt ihn auch den maßgebenden Persönlichkeiten zur Anstellung als Bibliothekar an der Parlamentsbibliothek. Renner hat sich mittlerweile - noch als Student - als Redner und Vortragender zu schulen begonnen. Schon als 19jähriger versammelt er an Sonntagen die Tischgäste eines Speisehauses zu Vorlesungen aus deutschen

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Klassikern und zu Diskussionen über soziale Fragen und alsbald betätigt er sich in Bildungsinstituten für die Arbeiterschaft und hilft so den Ruf Wiens als Zentrum eines hochstehenden Volksbildungswesens mitbegründen. Das erste Werk von ungezählten, die er der Universitätsbioliothek entlehnt hat, war das „Kapital" von Karl Marx. Mit seiner Anstellung als Bibliothekar an der Parlamentsbibliothek in Wien, ist ihm in ganz anderer Weise als bisher die Wunderwelt des Buches eröffnet; nun ist er durch den bescheidenen Gehalt der Notwendigkeit enthoben, sich jeden einzelnen Schritt der Weiterbildung durch Broterwerb zu ermöglichen, nun ist er auch der Stätte seines künftigen Wirkens, dem Parlament, räumlich und geistig nahegerückt, nun setzt seine reiche schriftstellerische Tätigkeit ein. In diesen Schriften wird er nicht etwa auf Grund seiner harten Lebenserfahrungen ein fanatischer destruktiver Ankläger von Staat und Gesellschaft, sondern ein konstruktiver Kritiker. Herkunft und Charakter Renners erklären auch, daß seine theoretische Arbeit letztlich praktischen Zielen gedient hat, an der Verbesserung von Staat und Gesellschaft ausgerichtet war und daß er den Beruf eines Wissenschafters, der für ihn offen stand, dem Berufe als Staatsmann geopfert hat. Renner hat jedenfalls das Zeug in sich gehabt, eine Zierde seiner Wissenschaft zu werden - als Mann einer wissenschaftlich fundierten Praxis durfte er aber seinem Volke unvertretbare Dienste leisten, die in die Geschichte unseres Vaterlandes eingegangen sind, und die Berufswahl und den Berufsweg geschichtlich rechtfertigen. I I . Renner als staatswissenschaftlicher Schriftsteller Mehr als alle anderen Probleme des öffentlichen Lebens hat den Schriftsteller Renner die nationale Frage beschäftigt, die er deutlicher als die meisten Zeitgenossen, deutlicher sogar als die verantwortlichen Regierungsmänner, als die Schicksalsfrage des Acht-Völker-Reiches erkannt hat. Diesem Problem war schon die Erstlingsschrift Karl Renners, das im Jahre 1899 herausgebene Büchlein „Staat und Nation" gewidmet. Aus demselben Problemkreise läßt Renner im Jahre 1902 die großangelegte Schrift „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat" folgen. 1908 die Schrift „Der soziale Ausgleich in den Sudetenländern", 1914 die Schrift „Die Nationen als Rechtsidee und die Internationale", 1917 das Buch „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen", das im Grunde schon längst von ihm Gesagtes eindrucksvoll zusammenfaßt. Renner stellt sich in diesen hier zum Teil erwähnten Schriften die Frage, wie der Rechtsgrundsatz der

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nationalen Gleichberechtigung, den die liberale Staatsverfassung im Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21.12.1867 verkündet hatte, praktisch wirksam gemacht - nämlich aus einer zerstörenden in eine aufbauende Kraft des Staatslebens verwandelt werden, wie der Kampf der benachbarten Volksstämme gegeneinander - ein Kampf, der im Grunde nicht um die Vorherrschaft, sondern nur um Vorteile gegenüber dem konkurrierenden Volksstamm, um Beamtenposten, Schulen usw. gegangen war - , in ein friedliches Nebeneinander und Miteinander verwandelt werden könne. Der Kerngedanke der gesetzgeberischen Vorschläge Renners ging dahin, die streitenden Volksstämme, die nicht bloß auf der Reichsebene bei Anerkennung von acht Staatssprachen als Staatsgenossen zusammengefaßt waren, sondern auch im Bereiche der Mehrzahl der Kronländer als feindliche Partner der Landeshoheit einander gegenüberstanden, durch die rechtliche Organisationsform der nationalen Autonomie zu isolieren und zu befrieden. Es sollten nach Renners Vorschlag entweder die österreichischen Staatsbürger deutscher, tschechischer, polnischer, ukrainischer, slowenischer, kroatischer, italienischer und rumänischer Volkszugehörigkeit nach ihrem nationalen Bekenntnis in je einen Personenverband, vergleichbar der ebenfalls auf dem Bekenntnisgrundsatz beruhenden Kirchen, zusammengefaßt und mit der Besorgung der kulturellen Staatsaufgaben für ihre nationale Gemeinschaft, namentlich mit dem Schulwesen, betraut, oder es sollten die Siedlungsräume der einzelnen Volksstämme als Gliedstaaten innerhalb des in einen Bundesstaat aufgelockerten Reiches eingerichtet werden. Staatsrechtlich gesehen bedeuten solche Vorschläge, daß die Staatsform des Föderalismus als besondere Technik der kollektiven politischen Freiheit auf das Vielvölkerreich angewendet und Österreich zu einem Nationalitätenbundesstaat umgestaltet werde. Es schwebte dem Verfasser vor, den Vielvölkerstaat, den er als heimattreuer Österreicher mit allen Fasern seines Herzens bejaht, der aber auch von den maßgebenden Führern der nichtdeutschen Volksstämme durchaus nicht grundsätzlich abgelehnt wird, zu einer Heimstatt für die Donauvölker von der Art der Schweiz zu machen. Es war kein Planen im luftleeren Raum, wenngleich der Ausdruck eines starken Optimismus, wenn Renner bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges die zentripetalen Kräfte als gewichtiger einschätzte als die zentrifugalen. Zumal nach seiner im Jahre 1907 erfolgten Wahl in das Parlament des allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrechtes hatte er für seine Ideen die erwünschte Resonanz und Kontrolle in den Vertretern der anderen Nationalitäten - seine Parlamentskollegen waren unter vielen an-

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deren bedeutenden Politiker Jan Masaryk, der erste Staatspräsident der ¿SR und Aleide de Gasperi, der heutige Ministerpräsident Italiens, also wahrhaftig keine Strohmänner, sondern ehrliche Vertreter ihrer Nationen. Renner entkräftet durch sein Wort und Werk für die Zeit der konstitutionellen Monarchie die heute noch im Ausland verbreitete Legende vom „Völkerkerker Österreich". Renner ist sich freilich auch bewußt, daß die nationalpolitische Staatsreform keine Verzögerung verträgt. Schon 1902 schreibt er: „Die österreichischen Nationen haben sich, wie oben konstatiert, nach und nach auf außerrechtlichem, rein faktischem Wege die Staatsgewalt dienstbar gemacht, ihre Verantwortung aber tragen sie nicht, denn der Monarch und die Zentralgewalt verantworten die Handlungen, zu denen sie ein ungeordneter Einfluß der Nationen drängt. Die Nationen fordern unablässig vom Staate: Hoch- und Mittelschulen, Ämter und Amtsstellen, ohne Rücksicht darauf, wer die Lasten trägt. Die Lasten werden bestritten aus dem unbestimmten, nationslosen, unerschöpflichen Staatssäckel, aus den Taschen der Massen, die namenlos sind, die als nationslos gescholten werden, weil ihre Opfer die Beute aller Nationen sind. Das ist die hinkende Demokratie, das Recht ohne Pflicht, die Herrschaft ohne Verantwortung, der Sieg ohne Opfer, der Ruhm ohne Tat. Das ist die Autonomie, welche die Beute teilt, Kriegskosten und Niederlage aber der unbestimmten Gesamtheit aufbürdet, welche die Früchte teilt, aber dem namenlosen Zentralstaat Pflanzung und Pflege des Gartens überläßt, welche maßlos ist im Fordern." („Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat", Springer, S. 174). „In ein, zwei Jahrzehnten ist die Welt geteilt. Kommen wir nicht rasch zur Lösung, dann haben wir nicht nur selbst den Wurf versäumt, dann werden wir diejenigen sein, über die das Los geworfen wird." Die sozialdemokratische Partei machte auf ihrem Parteitag in Brünn bereits 1900 die nationalpolitischen Vorschläge Renners zur Forderung ihres Programms. Auch die Gesetzgebung österreichischer Kronländer, namentlich Mährens und der Bukowina, macht sich die Vorschläge teilweise zu eigen. Die Regierung des österreichischen Gesamtstaates aber zögert. Im sogenannten bürgerlichen Schrifttum finden Renners nationalpolitische Vorschläge keine stärkere und zustimmende Resonanz. Ignaz Seipel z.B., mit dem Renner die seltene Fähigkeit ausgeprägter Parteimänner zu überparteilichem Denken, starke Betonung des Eigenwertes des österreichischen Stammes innerhalb des beiden Persönlichkeiten eigentümlichen Be-

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kenntnisses zum deutschen Volke und die Bejahung des übernationalen Staates als unschätzbarer kultureller Wert verbindet, gedenkt zwar in seinem heute noch im hohen Maße lesenwerten Buche „Nation und Staat" (Verlag W. Braumüller, Wien 1916) im allgemeinen achtungsvoll der nationalpolitischen Schriften Renners, sagt aber zu seinen nationalpolitischen Reformvorschlägen: „Ein Vorkämpfer der nationalen Autonomie ist Karl Renner." Aber er kämpft für etwas, zu dem, wie er selbst zugeben muß (Österreichs Erneuerung, S. 63), weder in der gegenwärtigen Verfassung noch in der Geschichte Österreich-Ungarns der Grund gelegt ist. Aber ist denn eine territoriale Abgrenzung überhaupt notwendig? Wenn man diese Frage bejahen müßte, so wäre das ein sehr ungünstiges Zeugnis für die österreichische Nation. Man wird doch vernünftige Menschen, auch wenn die Verschiedenheit ihrer Interessen sie in der Vergangenheit oft gegeneinander aufgebracht hat, nicht wie die Raubtiere eines Tierparkes in verschiedene Käfige sperren, nur damit sie sich nicht bei der nächsten Begegnung gegenseitig zerfleischen." Abgesehen davon, daß der Vergleich mit einem Tiergarten der Planung der nationalen Autonomie noch weniger gerecht wird als der mit einem Ghetto, beurteilt Seipel die nationalen Kampfhähne zu sehr nach seinem intellektuellen und moralischen Niveau und verkennt er sogar noch nach dem alarmierenden Signal des Attentates Princips - eines bosnischen Landesangehörigen ! - den staatsgefährlichen Charakter des nationalpolitischen Sprengstoffes, wenn ihm der nationale Kampf bloß Anlaß zum „Verdruß" ist. Doch auch der Regierung fehlt die Einsicht Renners in die Notwendigkeit entscheidender Taten. Erst das kaiserliche Manifest vom 16.10.1918 bekennt sich zu den Gedanken, die Renner geprägt hatte. Es enthält den vielsagenden Satz „Österreich soll dem Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaate werden, an dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet." Die Völker Österreichs mit Ausnahme des deutschösterreichischen haben zu dieser Stunde, in den letzten Tagen des bereits entschiedenen Krieges, den Vorschlag des Kaisers nicht mehr aufgegriffen, sondern ihren eigenen Nationalstaat gegründet, die Tschechoslowakei und Polen, oder sich anderen Staaten wie Italien, Rumänien, Jugoslawien angeschlossen. Das bedeutet kein Urteil der Geschichte über die staatsrecht-

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liehen Konstruktionen Renners, die übrigens noch 1925 in der estländischen Kulturautonomie verwertet werden. Es macht einen großen Unterschied aus, ob eine Staatsführung in Frieden und in Freiwilligkeit eine Staatsreform vorschlägt oder ob sie unter dem Druck der Kriegsentscheidung den bereits in voller Auflösung begriffenen Staat durch einen föderalistischen Umbau zusammenzuhalten versucht. Die Vorwürfe, die das historische Schrifttum, z.B. Karl Friedrich Nowak in seinem Buch „Der Zusammenbruch der Mittelmächte", gegen das kaiserliche Manifest erhoben hat, treffen also im Grunde nicht den geistigen Urheber des Grundgedankens des Manifestes, das überdies ohne sein Zutun und ohne sein Wissen zustande gekommen war, sondern nur die Art und Weise der Verwertung dieser staatspolitischen Idee. Man kann übrigens nicht zweifeln, daß auch ohne diesen Rettungsversuch in letzter Stunde die Geschichte Österreichs den bekannten Verlauf genommen hätte, da der Zusammenbruch nicht erst durch die Ankündigung einer föderalistischen Staatreform ausgelöst worden ist. In einem nur im Druck erschienenen Anhang zu der Rede des Bundespräsidenten Renner, die er am fünften Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik gehalten hat, gibt Renner anderen, ja geradezu sämtlichen politischen Parteien Österreichs die Ehre, das nötige Verständnis zur Lösung des nationalpolitischen Staatsproblems aufgebracht zu haben. „Es waren also nicht die Massen des Volkes deutscher Zunge in Österreich, die das Hindernis für dessen Entwicklung zu einer Föderation freier Nationen bildeten, für deren Verwirklichung viele Vorbedingungen politischer und wirtschaftlicher Natur gegeben waren. Die Hemmnisse lagen vielmehr in der mangelnden Einsicht und Voraussicht des Hofes und der Regierenden, in der immer mehr gesteigerten Verhetzung der intellektuellen Schichten aller Volksstämme. Zu ihrer Überwindung bedurfte es geraumer Zeit, die dem alten Österreich nicht mehr gegönnt war. Die eigensinnig magyarische Politik der transleithanischen Gentry, insbesondere der slawischen Bewegung gegenüber, verhinderte jeden entscheidenden Schritt, sie führte zur Mordtat von Sarajewo, zum ersten Weltkrieg, zur Niederlage und zur Zertrümmerung der Monarchie. Den Österreichern deutscher Zunge suchte die nationalistische Propaganda der sogenannten Sukzessionsstaaten eine Schuld aufzubürden, an der sie nur geringen Anteil hatten, geringeren als der machthungrige Nationalismus der anderen Nationalitäten, den Otto Bauer den „Imperialismus der Kleinen" nannte. Die

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Folge war, daß die Westmächte es versäumten, in den Friedensschlüssen von 1919 und 1920 die damals noch gegebenen Möglichkeiten auszunützen, um die Nationen von Südosteuropa in einer demokratischen Föderation zu konstituieren. Das aber war eine historische Schuld, die sich in ihren Auswirkungen zum heute sichtbaren Zerfall des alten Kontinents steigerte und ihn zum Rückzug aus seiner alten Weltgeltung nötigte. Was war die Reaktion der Deutschösterreicher? Auch sie wollten zu einem neuen Staate vereinigt werden, entsprechend dem nationalstaatlichen Ziel, zu dem sich ja auch die Alliierten des ersten Weltkrieges bekannt hatten. Auch die Sudetendeutschen wollten dazu gehören, sie gingen nicht, was heute nicht vergessen werden darf, nach Berlin, sondern nach Wien in die konstituierende Nationalversammlung. Versailles und St. Germain entschieden anders: sie unterwarfen drei Millionen Deutsch-Österreicher der tschechischen, die Südtiroler der italienischen Fremdherrschaft. Sie haben damit einen Scheinfrieden gestiftet, der einer der stärksten Antriebe für den Nationalsozialismus Hitlers werden sollte." („Für Recht und Frieden". Eine Auswahl der Reden des Bundespräsidenten Dr. Karl Renner, herausgegeben von der österreichischen Bundesregierung zum 80. Geburtstag Karl Renners, Druck und Verlag der österreichischen Staatsdruckerei, S. 106). Die anderen Hauptprobleme des politischen Schrifttums Renners waren in der Zeit vor dem Zusammenbruch der Monarchie die so sehr umstrittene Ordnung des Rechtsverhältnisses zwischen den durch Realunion verbundenen Staaten Österreich und Ungarn, ferner die Einrichtung der österreichischen Volksvertretung, deren Demokratisierung begreiflicherweise das Hauptanliegen Renners war, das durch die Wahlreform des Jahres 1907 weitgehend Erfüllung gefunden hat. Die historische Antiquiertheit dieser Themen macht ein näheres Eingehen auf ihre wie immer geistreich zurückgelegten Gedankengänge entbehrlich. 1904 veröffentlichte Renner die Schrift: „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute", die ihrem Gegenstande nach Jurisprudenz und Soziologie vereinigt. Er kehrt zu diesem Problemkreis im Jahre 1929 mit der Abhandlung zurück: „Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion. Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechtes". Renner will hiemit beweisen, welcher geradezu revolutionäre Funktionswandel innerhalb der Rechtsform des Eigentums und bis zu einem gewissen Grade auch anderer Rechtsinstitute durch Änderung ihres wirtschaftlichen Inhaltes eintreten kann und eingetreten ist.

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Eine Reihe von Vorträgen Renners wie der: „Vom liberalen zum sozialen Staat", „Staat und Menschheit", „Gesellschaft, Staat und Demokratie", „Menschenrechte und das Recht der Menschheit", „Unvergängliche Menschheitsideen", zeigen Renners Kraft, soziale Entwicklungen geistvoll zu deuten und auf einprägsame Formeln zu bringen. Überhaupt kommt dem Redner und Schriftsteller Renner die Kunst zugute, durch ihre Bildhaftigkeit packende und einprägsame Formulierungen seiner Gedanken zu finden. Es dürfte wenige Staatsmänner geben, die abgesehen von der ungewöhnlichen publizistischen Leistung solche Bekenntnisse zur geistigen Arbeit und besonders zur kulturellen Aufgabe der Wissenschaft abgegeben haben wie Karl Renner. Der Beruf des geistigen Arbeiters wird von ihm in seinem Berliner Vortrag „Der geistige Arbeiter in der gegenwärtigen Gesellschaft und Geschichtsepoche" (1926) gewürdigt: Kein Bekenntnis zu Privilegien, wohl aber zu moralischen Pflichten und Ansprüchen des geistigen Arbeiters. Die Ansprache des Akademischen Senates aus Anlaß seines 80. Geburtstages erwidert Renner mit einer Rede, die u.a. nachstehendes Bekenntnis enthält: „Während der zwei Generationen politischer Kämpfe war ich immer von der Überzeugung getragen und in meiner praktischen Arbeit geleitet, daß die Wissenschaft der stärkste Hebel allen Fortschrittes der menschlichen Gesellschaft und der zuverlässigste Wegweiser der Staatsgewalt ist. Umso schmerzlicher mußte ich empfinden und empfinde ich in dieser Stunde, daß zwei Weltkriege unser Hochschulwesen so schwer beeinträchtigt haben." Eine Einsicht und ein Bekenntnis, die bei einem Staatsoberhaupt ungewöhnlich und rühmenswert sind. I I I . Staatsmännische Nutzanwendung der politischen Bekenntnisschriften Der militärische und der dadurch ausgelöste politische Zusammenbruch des Jahres 1918 stellt Renner in das Rampenlicht der Geschichte. Aus dem Mann der Feder und der Rede, den übrigens die überlange Ausschaltung des Parlamentes, in das er 1907 gewählt worden war, zum Verstummen aber nicht zum Rasten gebracht hatte, wird der Staatsmann Renner, der aber in seinen Reden und Taten die jahrzehntelange wissenschaftliche und literarische Vorbereitung auf das Amt nicht verleugnet. In einer Zeit, in der die bisherigen nichtdeutschen Staatsgenossen durch Gründung neuer Nationalstaaten oder durch den Anschluß an bestehende Staaten den übernationalen

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österreichischen Kaiserstaat sprengen und in der der Generalstabschef Generaloberst von Arz die Auflösung aller militärischen Disziplin in den zurückflutenden vielsprachigen Heeresmassen für unmittelbar bevorstehend erklärt, springt Karl Renner als politischer Geschäftsführer der deutschsprachigen Österreicher in die Bresche und wird er für seine Landsleute zum Kristallisationspunkt einer neuen staatlichen Ordnung. Auf seinen Antrag beschließen die als deutsch-österreichische Nationalversammlung zusammentretenden deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates am 30. Oktober 1918 eine provisorische Verfassung, und erkennen Renner als den Staatskanzler des deutsch-österreichischen Nationalstaates vorbehaltlos an. Unbekümmert um den Protest des Vizepräsidenten des Herrenhauses, der gewissermaßen als Hausherr dem in den Parlamentsräumen amtierenden Staatskanzler mit der Strafanzeige wegen Hausfriedensbruches droht, ermächtigt der letzte kaiserliche Ministerpräsident Prof. Heinrich Lammasch ihm unterstellte Beamte, (zeitlich vor allen anderen den Verfasser dieser Zeilen, der damals dem staatsrechtlichen Bureau des Ministerratspräsidiums zugeteilt war), sich zur Dienstleistung bei der deutsch-österreichischen Staatsregierung zur Verfügung zu stellen und legalisiert er überdies, soweit dies in seiner Macht gelegen ist, - jedenfalls als treuer Sohn Österreichs - , den Regierungswechsel, indem er den Kanzler Renner in den ersten Novembertagen 1918 im Parlamentsgebäude aufsucht und mit ihm Fragen der Geschäftsübergabe bespricht, insbesondere ihm die Räumlichkeiten des k.k. Ministerpräsidiums zur Verfügung stellt. Karl Renner, der Mann der geschichtlichen Evolution wurde zum Träger einer formellen Revolution, die aber in ihren Formen den leitenden Staatsmännern mit Renner als Kanzler, Seitz, Hauser und Dinghofer als Präsidenten der Nationalversammlung alle Ehre gemacht hat. Die Seele der organisatorischen Arbeit am neuen Staate war bis 1920 Karl Renner. Vieles, was er unter anderen Verhältnissen programmatisch ausgesprochen hatte, konnte bei der Staatseinrichtung nunmehr praktisch erprobt werden, vieles mußte von Renner mit der ihm eigenen geistigen Beweglichkeit improvisiert werden. Die Einrichtung des neuen Österreich als demokratische Republik ging nach den Plänen Renners, nachdem er mit Energie und Zivilcourage einem selbstmörderischen „Weitertreiben der Revolution" entgegengetreten war, fast reibungslos vor sich. Unendlich schwieriger und die größte Enttäuschung für alle guten Österreicher wurde der Weg der außenpolitischen Sicherung des neuen Staates. Die erste Sorge Renners in dieser Hinsicht war

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die Abgrenzung des deutschsprachigen Siedlungsraumes innerhalb der Monarchie, wozu die kaiserlichen Regierungen zum größten Bedauern Renners jede Vorarbeit, namentlich durch die oft erörterte Schaffung einer Kreiseinteilung des Staatsgebietes, unterlassen hatten. Das von Renner selbst verfaßte und am 12. November 1918 in der Nationalversammlung eingebrachte „Gebietsgesetz" unternahm es, nach dem Grundsatz der jeweiligen nationalen Mehrheit die Grenzen zu ziehen. Die Entscheidung über diese unter vielen anderen Lebensfragen hing freilich von der Wohlmeinung der Alliierten und der Nachfolgestaaten Österreichs ab. Am 12. Mai 1919 trat die österreichische Friedensdelegation unter Führung des Staatskanzerls Dr. Renner den „Bußgang nach Sankt Germain" an, wie er in seinem Rechenschaftsbericht diese verantwortungsvollste Fahrt seines Lebens nennt, einen Bußgang für fremde Schuld. Renner wird von Parteimännern, die die einzelnen politischen Gruppen und sämtliche Länder repräsentieren, und von einem Stab von Sachverständigen begleitet, die er, um für alle denkbaren Aufgaben gewappnet zu sein, geradezu nach einem wissenschaftlichen System zusammenstellt; auch der letzte kaiserliche Ministerpräsident Professor Lammasch, der im Ausland als Völkerrechtler und Pazifist großen Ruf genießt, gehört zu ihnen; von der Wiener Universität außerdem der Zivilist Walker und der Statistiker Winkler. Mit diesem Stabe von Sachverständigen kämpft Renner gewissermaßen mit unsichtbaren Gegnern, denn die Delegation wurde nicht mündlich gehört, um die Existenz und die Lebensbedingungen seines in seiner Masse unfreiwillig in den verlorenen Krieg verwickelten Volkes. Er kämpft vor allem als gewiegter Volkstumstheoretiker und -politiker um den geschlossenen deutschsprachigen Siedlungsraum innerhalb der Monarchie, namentlich um Deutsch-Südtirol, Kärnten, das Burgenland und um seine engere Heimat in den ehemaligen Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien. Er stützt sich auf des Präsidenten Wilson Verkündung der nationalen Selbstbestimmung und die Vorwegnahme dieses Rechtes durch die anderen ehemaligen österreichischen Staatsgenossen. Er bietet in weitem Umfang zur Erhärtung der nationalen Ansprüche Volksabstimmungen unter Kontrolle der Alliierten an, wobei ja zu erwarten war, daß dem ärmsten Nachfolgestaat nur seine treuesten Anhänger folgen würden, und er nötigt durch dieses Anerbieten die Gegenseite, abgesehen von den Sonderfällen Kärntens und des Burgenlandes, in denen sich insbesondere Italien des österreichischen Standpunktes annimmt, das Prinzip der nationalen Grenzen fallen zu lassen und die tatsächlich verwirklichte Grenzziehung mit militärischen oder wirtschaftlichen

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Notwendigkeiten oder mit der historischen Überlieferung zu erklären. Von den zwölf Millionen deutschsprachigen Bewohnern Österreich-Ungarns werden bloß sechseinhalb Millionen der Republik Österreich als Bürger zugebilligt, die übrigen werden einer nationalen Fremdherrschaft überantwortet. Die Auflage eines völkerrechtlichen Minderheitenschutzes hat zwar für die große Mehrzahl dieser ehemals österreichischen Staatsbürger die Fremdherrschaft der Idee nach gemildert, doch hat die Praxis selbst nach dem unzweifelhaft unvoreingenommenen Urteil des Paneuropäers Coudenhove-Kalergi („Aus meinem Leben", Atlantis-Verlag, Zürich, S. 103) den Minderheitenschutz stark entwertet. Renner warnt die alliierten Mächte, daß die Preisgabe des von den Alliierten selbst angenommenen Nationalitätsprinzipes und die anderen Ungerechtigkeiten gegenüber Österreich bei der Auseinandersetzung mit den Nachfolgestaaten (wie etwa die Aschenbrödelrolle bei der Verteilung des Restbestandes von Gold und Devisen) zur schwärenden Wunde Europas und zum Gefahrenherde für neue Konflikte werden würde, wie es ja durch die Häufung des Minderheitenschicksales (für mehr als 40 Millionen Europäer) tatsächlich der Fall gewesen ist. Der prozessuale Mangel der Friedensverhandlungen und mangelnder politischer Instinkt haben den Sieg der Vernunft und Gerechtigkeit hintangehalten. Renner glaubt, daß bei offener beiderseitiger Information Österreich besser abgeschnitten hätte. Man darf wohl auch beifügen, daß die Voraussicht in die politische Stabilität dieses Rest-Österreich, in den Ordnungsund Freiheitswillen seines Volkes der Entscheidung von St. Germain einen erträglicheren Inhalt gegeben hätte. Auch die regelmäßige Erklärung österreichischer Minderheits vertreter auf den europäischen Minderheitskongressen, daß sie keine ihren Wirtstaat betreffenden Wünsche oder Beschwerden hätten, war späterhin geeignet, das moralische Ansehen Österreichs zu erhöhen. Kein Wissender hat aber Renner für das Ergebnis verantwortlich gemacht, das er mit seinem starken Willen und Verstand zu mildern bestrebt gewesen ist. Ist doch auch seine eigene Heimat, ebenso wie die Heimat eines Franz Schubert und Adalbert Stifter, entgegen dem Prinzip der nationalen Grenzen von Österreich losgetrennt worden, sodaß Renner, falls er nicht im heutigen Österreich eine Wahlheimat gefunden hätte, als alter Mann bestenfalls das Los der 2 1/2 Millionen heimatvertriebenen Flüchtlinge österreichischer Abstammung erlitten hätte, die im heutigen Deutschland Zuflucht gefunden haben. Nach einer längeren Pause nach dem Austritt aus der Regierung der ersten Republik war es Renner bekanntlich beschieden, als erfahrungsreicher und

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objektiver Präsident des Nationalrates zu fungieren. Die Ereignisse des März 1933, die letztlich als Auswirkung der Machtergreifung Adolf Hitlers im Deutschen Reiche zu verstehen sind, setzten aber seinem öffentlichen Wirken ein jähes Ende. Karl Renner versuchte eine Entwirrung der verworrenen Lage durch den Vermittlungsvorschlag, das Parlament wenigstens noch ein einziges Mal einzuberufen mit der knappen Tagesordnung: Beschluß einer Erklärung der Volksvertretung, daß sie - unter der außenpolitisch so völlig veränderten Lage - auf der Unabhängigkeit Österreichs beharre, und Einsetzung einer Regierung mit der Vollmacht, bis zur Bannung der Gefährdung des Staates die Staatsgeschäfte ohne Parlament zu fuhren. Staatsrechtlich gesehen wäre dies eine verfassungsmäßige kommissarische Diktatur gewesen, die schon nach altrömischem Vorbild als Ausnahmslösung für Gefahrenzeiten bei entsprechenden Kautelen mit dem Prinzip der Demokratie vereinbar ist. Renner als alter Demokrat konnte sich mit dem Gedanken nicht abfinden, daß der staatsbejahenden politischen Opposition ein Mitspracherecht verwehrt sei. Für Renner lag mehr als für jeden anderen der Vergleich der politischen Lage mit jener zum Ausgang des ersten Weltkrieges nahe. Für ihn und die anderen maßgeblichen Männer seiner Partei war es damals selbstverständlich gewesen, daß sämtliche deutschsprachige Mitglieder des Abgeordnetenhauses der Monarchie bis zur alsbaldigen Durchführung von freien Völkswahlen die provisorische Volksvertretung der österreichischen Republik bilden sollten, daß die drei großen Parteigruppen innerhalb dieser Volksvertretung, die Christlichsozialen, Deutschnationalen und Sozialdemokraten, je einen Präsidenten der provisorischen Nationalversammlung mit gleichen Rechten stellen und durch diese Präsidenten wöchentlich abwechselnd die Rolle des Staatshauptes ausüben sollten, ferner, da offenbar ein Alternieren in den Geschäften des Bundeskanzlers nicht möglich war, der christlichsozialen Partei das Amt des Vizekanzlers zufallen sollte. Diese Rollenverteilung in der Staatsführung, aber auch die Verteilung der Ministerposten, war Ausdruck der Vorstellung, daß allen im Volk verwurzelten politischen Parteien ein ihrer voraussichtlichen ziffernmäßigen Stärke entsprechender Anteil an der Staatsführung gebühre, also verwirklichte Demokratie. Nach Herbert Kohlich, der zum 75. Geburtstag Renners in den „Sozialistischen Heften" (Folge 7), die „Ernte eines politischen Lebens" zusammenfaßt, hat Renner, dieser vaterlandstreue Sozialist, in einer Aussprache mit dem damaligen Bundespräsidenten Miklas in Aussicht gestellt, daß die

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Arbeiterschaft die Demokratie mit der Waffe in der Hand verteidigen werde - ein Wort, das durch die vernichtenden Worte Renners über unverantwortlichen Waffengebrauch, durch seine harte Abrechnung mit dem ersten Weltkrieg und durch seine Brandmarkung des Spielens mit einem zweiten Weltkrieg - namentlich in seinen Parlamentsreden 1917 und 1918 und in seiner Schrift „Novemberverbrecher? Die Anklagen der Hitler-Bewegung gegen die ,Novemberverbrecher' wegen nationalen Verrates" (Wien 1932) - doppeltes Gewicht erhält. Es mußte die Geschichte bis zum Tiefpunkt des April 1945 ihren tragischen Verlauf nehmen, bis neuerlich Renners große Stunde schlug. Es war mir persönlich gegönnt, im März 1943 meinen vormaligen Chef aus den Anfängen der Staatskanzlei der Republik zu sprechen und ihm die Aussichtslosigkeit der zivilen Opposition gegen das Regime im heutigen Deutschland zu schildern. Renner erwiderte damals, Selbstvorwürfe wegen des Geschehenlassens seien angesichts des lückenlosen Terrors unbegründet, wenn man sich selbst an den Handlungen des Regimes nicht gemein mache. In dieser Lage sei es die einzige Anstandspflicht, sich bereit zu halten, um nach der unvermeidlichen Selbstvernichtung des Regimes zu retten, was noch zu retten sei. Mit dieser Andeutung hat Renner die sich selbst gesetzte letzte Lebensaufgabe umschrieben. Es ist noch in aller Erinnerung, wie Renner inmitten des Chaos des neuerlichen Zusammenbruchs, durch die Stimme des Gewissens eines guten Österreichers getrieben, mit seinem strahlenden Optimismus in Wien erscheint, gleichgesinnte Männer aus der eigenen und aus anderen Parteien um sich schart und Schritt für Schritt als abermaliger Kanzler einer österreichischen Regierung eine österreichische Staatsgewalt aufbaut. Die aus der Feder Renners stammende Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs vom 27. April 1945 mit ihrer wuchtigen Abrechnung mit dem Mißbrauch einer nationalen Ideologie für persönliche Machtzwecke durch die Hitlerregierung, mit der flammenden Anklage, daß Österreich jeder Spur von Selbstbestimmung, eines kostbaren und unersetzlichen Teiles seiner Jugend und fast seiner gesamten materiellen Mittel für Zwecke eines verbrecherischen Krieges beraubt worden sei, waren das würdigste Bekenntnis des Selbstbewußtseins und des Lebenswillens unseres Landes. - Die Sammlung von Reden des Bundespräsidenten Dr. Karl Renner, die der Verlag der österreichischen Staatsdruckerei unter dem Titel „Für Recht und Frieden"

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zum 80. Geburtstag des Retters unseres Vaterlandes veröffentlicht hat, faßt zahlreiche Gedanken aus dem reichen Schrifttum und den Reden Karl Renners in knapper, durch Altersweisheit verklärter Fassung zusammen und ist ein letztes Vermächtnis des großen Toten an die Lebenden, daß Österreich in wiedergewonnenener und endlich gesicherter Freiheit leben möge. Wenn es unserem Toten beschieden gewesen wäre, die Erfüllung dieser Forderung, um die er bis an die Schwelle des Grabes unablässig mit Wort und Schrift gerungen hat, zu erleben, so dürfte man das Leben dieses Verewigten vollendet nennen.

Georg Jellinek, dem österreichischen Meister der Staatslehre zum Gedenken (Zum 100. Geburtstag)

Als Edmund Bernatzik an der Wiener Universität am Tage nach dem Sterbetage Georg Jellineks - dem 11. Januar 1911 - vor Beginn seiner Vorlesung einen Nachruf von wenigen Minuten hielt, da wurde seinen Hörern, zu denen auch ich mich zählen durfte, bewußt, daß ein ganz großer Vertreter der Wissenschaft vom Staate dahingegangen war. Der Redner hatte durch seine Art scharf, ja vernichtend in seiner Kritik - karg und unbestechlich in seinem Lob gegenüber Vergangenen und Gegenwärtigen - keinen Zweifel daran gelassen, daß Georg Jellinek damals zum mindesten der bedeutendste deutschsprachige Systematiker und Essayist der Wissenschaft vom Staate gewesen war. Glückliche Zeit für die Wissenschaft, wo ein solches Urteil ohne Hemmungen nicht nur überhaupt möglich war, sondern vorurteilsfrei von einem betont deutschnational, ja großdeutsch eingestellten Staatsrechtslehrer über einen kosmopolitisch und liberal gesinnten Fachgenossen gefällt worden ist! Diese Zeiten haben sich beträchtlich geändert, nachdem freiheitliche Gesinnung, nicht bloß liberalen, sondern auch demokratischen Gepräges als vermeintliches oder behauptetes wesenhaftes Bekenntnis der Siegerstaaten oder -Völker in Mißkredit geraten und deutsche mit reaktionärer Gesinnung verwechselt oder gleichgesetzt worden war. Unerhörterweise hat aber der Ruhm und die Kenntnis von Jellineks wissenschaftlichem Lebenswerk weder in seinem Tode, noch mit dem Tode der deutschen Freiheit abgenom-

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men, sondern hat Jellineks Lehrgebäude, wenigstens seine „Allgemeine Staatslehre", auch in der Zeit grundsätzlicher Diskriminierung seiner Richtung im deutschen Sprach- und nationalsozialistischen Herrschaftsbereich als überwiegender, nur mit systemfremden Zutaten verbrämter Lehrbehelf fortgewirkt, als ob die Mehrzahl der Fachgenossen die stillschweigende Übereinkunft geschlossen hätte: „Judaica excerpiuntur seu traduntur, sed non citantur." Symptomatisch für diese in den Mitteln befremdliche, im Ergebnis aber kaum unerfreuliche Haltung ist jener Rechtslehrer, der an die Spitze seines rechtswissenschaftlichen Werkes die Feststellung gesetzt hat, jede fachwissenschaftliche Untersuchung müsse von Adolf Hitlers „ K a m p f ihren Ausgang nehmen, mit dieser und einigen anderen äußerlichen Tarnungen sich aber die Möglichkeit erkauft hat, bewährtes, aber verpöntes liberal-individualistisches Rechts- und Staatsdenken in überraschendem Maße einzuschmuggeln, - jedenfalls in viel umfangreicherem Ausmaß, als ohne eine solche Tarnung im Druck hätte erscheinen können. Diese von einem deutschen Staatsrechtslehrer sogenannte Methode der „oppositionellen Kollaboration" hat es mit sich gebracht, daß die Jellineksche Staatstheorie im deutschen Schrifttum der beiden letzten Jahrzehnte nicht entwurzelt worden ist, und heute, zu seinem hundertsten Geburtstag, Georg Jellinek geradezu tonangebender Staatstheoretiker im deutschsprachigen juristischen Schrifttum ist, während sein großer Schüler und Kritiker Hans Kelsen im heutigen Deutschland zu einem nur noch dem Namen nach bekannten Außenseiter geworden ist, dessen Werke freilich durch Dutzende Übersetzungen im außerdeutschen Kulturbereich Georg Jellinek in den Schatten gestellt haben. Georg Jellinek wurde am 16. Juni 1851 als Sohn des aus Wien stammenden Oberrabbiners Adolf Jellinek in Leipzig geboren, kam jedoch schon als angehender Volksschüler nach Wien, legte hier den gesamten Studiengang zurück, abgesehen von einigen Hochschulsemestern, die er an den Universitäten Leipzig und Heidelberg verbrachte, und habilitierte sich auch in Wien im Jahre 1879 unter uns heute sehr befremdlich anmutenden Schwierigkeiten, die durchaus etwa nicht „rassisch" bedingt waren, mit der Abhandlung: „Die Klassifikation des Unrechtes" und der Habilitationsvorlesung über „Absolutes und relatives Unrecht". Diese Erstlingsschriften, die den künftigen geisteswissenschaftlichen Polyhistor kaum vermuten lassen, sind in den „Ausgewählten Schriften und Reden", Berlin 1911, abgedruckt. Jellinek gilt zwar dank diesen Anfängen seiner wissenschaftlichen Laufbahn und

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vielleicht mit mehr Recht dank seinem geistigen Habitus, der in seiner Themenstellung und vielleicht auch in Methode und Ergebnissen seines Schrifttums zum Ausdruck kommt, nicht zuletzt aber auch dank seiner dauernden seelischen Verbundenheit mit der Heimat seiner Vorfahren im Ausland wie im Inland als großer Österreicher, den darum seine österreichische Heimat als den Ihren feiern darf. Man muß aber billigerweise einräumen, daß er an der Universität in Wien nicht Wurzeln geschlagen hat, und daß auch die Größen der Fakultät, von denen man dies vielleicht hätte erwarten dürfen, - es seien nur etwa Josef Unger und Julius Glaser genannt - , seine Bedeutung nicht erkannt und ihn nicht seiner österreichischen Heimat zu erhalten versucht haben. Schon 1883 folgte er einem Ruf als außerordentlicher Professor an die Universität in Basel, erhielt dort im Jahre 1889 ein Ordinariat, entschloß sich aber 1891, seine Wirkungsstätte an die Universität Heidelberg zu verlegen, wo er durch seine nun erst voll gewürdigte literarische Tätigkeit und einen internationalen Hörerkreis Weltruf erwarb. A m 12. Januar 1911 hat ihn der Tod vorzeitig aus fruchtbarstem wissenschaftlichem Schaffen herausgerissen. Als Hauptstationen seiner literarischen Tätigkeit müssen in diesem Rahmen wenigstens genannt werden: Die sozial-ethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe (1878), Die rechtliche Natur der Staats Verträge (1880), Die Lehre von den Staatenverbindungen (1882), Gesetz und Verordnung (1887), System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895), - eine kleine, in mehreren Auflagen erschienene Schrift, die im Ausland vielleicht die größte Beachtung und Verbreitung unter sämtlichen Schriften Jellineks gewonnen hat. Im Jahre 1900 gab er sodann seine Allgemeine Staatslehre heraus, die unstreitig sein Hauptwerk geworden und seither in mehreren unveränderten Neudrucken erschienen ist. Der Sohn Georg Jellineks, Walter Jellinek, der seit Jahrzehnten mit der durch die nationalsozialistische Herrschaft bedingten Pause an der Universität Heidelberg den Lehrstuhl seines Vaters einnimmt und das staatstheoretische Schrifttum seines Vaters durch bedeutende Werke aus dem Verwaltungsrecht ergänzt hat, gab 1911 aus dem literarischen Nachlaß seines Vaters zwei Bände „Ausgewählte Schriften und Reden" heraus, die erst den umfassenden Interessenkreis unseres Denkers belegen, wenngleich hier aus Gründen der Pietät neben Perlen unserer Wissenschaft auch Gelegenheitsarbeiten einschließlich von zeit- und ortgebundenen Trinksprüchen Platz gefunden haben.

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Für den Fachmann wie für jeden Rechtskundigen mag freilich ein Einblick in die wissenschaftlichen Ergebnisse des Meisters der Rechts- und Staatswissenschaft von unvergleichlich größerer Bedeutung sein, als die Erinnerung an die Titel seiner Schriften, die immer äußerst fragmentarisch bleiben muß, wenn sie nicht in eine monotone Aufzählung ausarten will. Freilich müssen im Rahmen einer juristischen Fachzeitschrift einige Hinweise auf Ergebnisse seiner Gelehrtenarbeit genügen, die der Bedeutung der Erkenntnisse Jellineks nicht entfernt gerecht werden können. Wohl die beachtlichste Eigentümlichkeit des Jellinekschen Staatsdenkens ist, daß er den reinen Positivismus im Staatsrecht überwunden hat, dessen klassischer Repräsentant der ihm doch auch wieder in vielem verwandte, in vielem aber antipodisch wirkende Paul Laband gewesen ist. Georg Jellinek hat dieser Ausweitung oder Wandlung des Staatsdenkens die besondere Gestalt gegeben, daß er neben der Rechtslehre vom Staate auch eine Soziallehre vom Staate und, wie sich bei näherem Zusehen zeigt, wohl auch eine Kulturlehre vom Staate entwickelt hat. Diese Aufspaltung der Wissenschaft vom Staate ist für ihn eine logische (aber doch wohl nicht notwendige und folgerichtige) Konsequenz der Anschauung, daß der Staat nicht nur ein Denkgebilde von Normen, sondern ein wirkliches Gebilde gesellschaftlichen Lebens sei. Diese Tatsache rechtfertigt für Jellinek verschiedene Betrachtungsweisen, die alle auf das Phänomen des Staates gerichtet seien, aber, wie Jellinek in einem unklaren Bild es ausdrückt, verschiedene „Seiten" des Staates zum Gegenstand hätten. Dem Staat als Rechtsordnung diene die juristische Betrachtung, dem Staat als gesellschaftliche Wirklichkeit werde nur die sozialwissenschaftliche Betrachtung gerecht. Der Staat als eine Kulturform bedinge eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Nur solche einander ergänzende Erkenntniswege vermöchten ein erschöpfendes Ergebnis zu erzielen, d.h. den Staat als Ganzes zu erkennen, das sich aus Rechts-, Gesellschafts- und Kulturfunktionen zusammensetze. An dieser originellsten Neuerung der Jellinekschen Staatslehre setzt bekanntlich die Kritik Hans Kelsens ein, der ja durch längere Zeit in Heidelberg Jellinek gehört und mit ihm ausgiebigen Gedankenaustausch gepflogen hat. Kelsen bezeichnet es in seiner „Allgemeinen Staatslehre" (Berlin 1925, S. 6) als eine methodologische Unmöglichkeit, ein und denselben Gegenstand von zwei Wissenschaften erfassen zu lassen, deren Erkenntnisrichtungen voraussetzungsgemäß gänzlich auseinanderfallen, deren Erkenntnisobjekte daher nicht identisch sein können. Diese sogenannte Zweiseitentheorie (rieh-

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tiger wohl Mehrseitentheorie) vom Staate scheitere an der erkenntnistheoretischen Einsicht, daß die Identität des Erkenntnisgegenstandes nur durch die Identität des Erkenntnisprozesses, die Identität der Erkenntniswege gewährleistet ist. Trotz dieser erkenntnistheoretischen Kritik wird aber die Soziallehre vom Staat, wie ich vermeine, nicht zur unfruchtbaren Geistesbemühung, sondern sie behält zum guten Teil ihre Gültigkeit als Erkenntnis von etwas anderem als dem Rechtsbegriff des Staates, nämlich von einer dieser Rechtswelt korrespondierenden, in der Seinsebene gelegenen höchst bedeutsamen Gegebenheit. Geradezu unerschöpflich sind die minder charakteristischen Ergebnisse von Jellineks Staatsdenken, die uns heute oft als Gemeinplätze anmuten, aber erstmals von Jellinek formuliert worden sind. Wer denkt heute noch daran, daß Georg Jellinek die Formel der normativen Kraft des Faktischen geprägt hat, mit der eine Grundtatsache des Rechtslebens aller Zeiten glücklich erkannt und benannt worden ist? Die Lehre vom „Verfassungswandel " bedeutet eine originelle Nutzanwendung der Theorie des Gewohnheitsrechtes für die Verfassungssphäre des Staates. Sie bewährt sich z.B. in der Änderung der Rechtsanschauung über Ministerernennung und Sanktionsverweigerungen durch den Herrscher bei völliger Unverändertheit der Buchstaben des geschriebenen Rechtes. Jellinek zeigt an der Hand dieses Erkenntnismittels, wie ganze Verfassungsteile absterben und neue zuwachsen. Der englische Premierminister Baldwin hat sich in einer Rede vom 19. Mai 1937 unbewußt diese Lehre Jellineks zu eigen gemacht, wenn er sagt: „Die alte Doktrin des Gottesgnadentums ist dahin und wir haben nicht die Absicht, an ihrer Stelle eine neue Doktrin vom Gottesgnadenrecht des Staates aufzurichten. Kein Staat, den es je gab, ist eines freien Mannes Anbetung würdig." Die theoretisch anfechtbare Lehre Jellineks von der Selbstverpflichtung des Staates, die sich aus dem Grundsatz der Autonomie des Willens ergebe, ist vielleicht nur ein unbewußter Ausdruck der politischen Grundeinstellung Jellineks , aus der die Vorstellung von der rechtlichen Gebundenheit des Staates notwendig hervorgeht. Jellineks Rechts- und Staatsidee ist in gewissem Sinn „bipolar ", indem es außer dem Staat , den Einzelmenschen zum Eckpfeiler des Rechts- und Staatsgebäudes macht. Hier, mehr oder weniger bewußt auch in anderen Fassungen, bricht die individualistische Weltanschauung unseres Meisters hervor, durch deren besondere Prägung er auch

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wiederum zum Gegenspieler Labands wird. Während für Laband der notwendige Freiheitsgehalt des staatlichen Kollektivums durch die deutsche Reichsverfassung seiner Zeit restlos erfüllt ist, die ihm sonach zur ratio scripta des staatsbejahenden Liberalismus geworden ist, bleibt für Jellinek trotz Bejahung der staatlichen Wirklichkeit die menschliche Freiheit eine unendliche Aufgabe, die der Staat in jeder geschichtlichen Gestalt anzustreben habe und in keiner Gestalt restlos zu verwirklichen vermöge. Nach Jellineks Weltanschauung schließt die Idee der Gemeinschaft den Eigenwert des Einzelnen neben dem Eigenwert der Gemeinschaft in sich. Jellineks noch heute maßgebende Monographie über die subjektiven Rechte ist das überzeugende Bekenntnis zu diesem Eigenwert des Menschen und dadurch ein besonders eindrucksames Bekenntnis seiner liberalen Staatsauffassung. So erklärt es sich wohl auch, daß Jellinek der Tatsachen- und Ideengeschichte der Menschen- und Bürgerrechte nachgeforscht hat. In seiner wiederholt aufgelegten Schrift über die „Erklärung der Menschenund Bürgerrechte", die bekanntlich die französische Revolution am 26. August 1789 als ihr wichtigstes staatsrechtliches Werk gezeitigt hat, erbringt Jellinek den Nachweis (der auf die damals herrschende Lehre geradezu umstürzend gewirkt hat), daß die Erklärung keine originelle Erfindung der Franzosen, sondern eine Übernahme aus den neuenglischen Verfassungen Amerikas ist. In völliger Unbefangenheit weist Jellinek den religiösen Ursprung der Idee der Freiheit und damit zugleich der Freiheitsrechte nach, die durch einen gewaltigen Säkularisierungsprozeß des Liberalismus auf außerreligiöse Werte der menschlichen Persönlichkeit aus den Bereichen der Kultur und Wirtschaft ausgeweitet worden sind. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Schrifttum Jellineks der Gedanke der Personwerdung des Menschen (wie übrigens auch des Staates) durch die Rechtsentwicklung. Er ist wie wenige Rechtswissenschafter hellhörig für die kämpferische Dynamik der Rechtsgeschichte, die für ihn zugleich eine Geschichte der Rechtsbrüche und damit der Ansätze für neue Rechtssysteme und Rechtsideen ist. Sein allzu unkritischer Fortschrittsoptimismus, etwa auch in Bezug auf die grundsätzliche Zunahme der Freiheit auf Kosten des Zwanges, ist zwar in den Augen des Gegenwartsmenschen durch die jüngste Staatengeschichte widerlegt, aber durch die Zeitlage von Jellineks Wirken mit seinem Höhepunkt am Beginn unseres Jahrhunderts verständlich gemacht. Hat ja auch sein Zeitgenosse Friedrich von Wieser ein soziologisches Gesetz der abnehmenden Macht behauptet.

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Von einem blinden Optimismus des Erkennens ist ein Geist von seiner Größe selbstverständlich frei geblieben. Sagt er doch ausdrücklich, daß für die letzten Grundlagen unseres Forschens kein zweifelfreies Wissen, sondern nur ein Bekennen möglich sei. Das Bekenntnis sei die ethische Tat des Gelehrten. Jellineks Bekenntnis hatte übrigens, wie schon die vorstehenden Andeutungen bezeugen, nicht bloß Erkenntnisse, sondern auch politische Ideale zum Gegenstand. Man mißdeutet wohl nicht den Meister der Staatslehre, wenn man ihn als Erzieher zur politischen Freiheit versteht. Die Freiheitsforderung Jellineks ist jedoch nicht maßlos, sondern der sozial erforderlichen Schranken der Freiheit bewußt, und sie nimmt auch nie eine kulturkämpferische Haltung ein. In Bezug auf den Krieg, dessen Bewertung für die Weltanschauung eines Menschen besonders aufschlußreich ist, nimmt Jellinek in seinen allzu sehr vernachlässigten Abhandlungen über „Die Zukunft des Krieges" und „Zur Eröffnung der Friedenskonferenz" eine überraschend vermittelnde Haltung ein; nicht nur, daß er dem Krieg als Staaten- wie auch als Bürgerkrieg eine unvermeidliche Zukunft voraussagt, rechtfertigt er ihn in Widerspruch zu dem Glauben an den Höchstwert der Persönlichkeit und zu einer religiösen Ethik nicht bloß als Verteidigungskrieg, sondern auch zur Durchsetzung völkerbewegender Ideen. Jellineks literarische Leistung ist so umfangreich und originell, daß zum Teil sogar tiefgreifende Irrtümer verständlich sind und seiner Größe nichts anhaben. Es ist ein typischer Fehler des engsten Schüler- und Freundeskreises großer Geister, daß er die Großtaten des verehrten Meisters unkritisch verhimmelt. Die Größe einer Persönlichkeit zeigt sich auch und gerade in ihren unvermeidlichen Irrtümern, die aber, wie bei unserem Meister, schöpferisch und fruchtbar sind. Jellinek hat sich durch sein Gesamtwerk eine wissenschaftliche Bedeutung und Rolle durch weitere Jahrhunderte gesichert.

Zum Tode von Carl Brockhausen Universitätsprofessor Dr. Carl Brockhausen, der langjährige Kanzleidirektor und Honorarprofessor der Universität Wien, ist am 16. September 1951 in Kitzbühel in Tirol, wohin er sich, als Wien zum Kriegsschauplatz geworden war, zurückgezogen hatte, im 93. Lebensjahr1 gestorben. Um eines einzigen Satzes willen, den Brockhausen zum Gebrauche der Akademischen Behörden geschrieben hat, verdient sein Ansehen in akademischen Kreisen und in der Juristenwelt wachgerufen und wacherhalten zu werden: „Ich werde der Wahrheit die Ehre geben und ihr kein Mäntelchen umhängen lassen"; denn durch dieses nicht alltägliche Wort, mit dem er seinen, gewissen akademischen Kreisen unbequemen Standpunkt einbegleitete, bekannte er sich zum eigentlichen Berufe eines Professors als eines Bekenners der gewissenhaft erworbenen, wenngleich den maßgebenden Kreisen unerwünschten Überzeugung und kennzeichnete er unwillkürlich seine ganze, nicht alltägliche Berufs- und Lebensauffassung. 2 Am 9. Mai 1859 in Emmerich am Rhein, dicht an der niederländischen Grenze, geboren, kam er in jugendlichen Jahren nach Wien. Er erwarb den Doktorgrad der Rechte im Jahre 1882 an der Universität Wien und trat in den österreichischen Verwaltungsdienst. In jungen Jahren wurde er in das damalige k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht einberufen und war

Juristische Blätter, 73. Jg. (1951), S. 544-546. Nahezu wortgleich, jedoch ohne Fußnoten und mit einem Schriftverzeichnis Brockhausens, ebenfalls erschienen in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. IV (1952), S. 257-262. 1

Vgl. meinen Nachruf auf Carl Brockhausen unter dem Zeichen A. M. in der Nummer der „Arbeiterzeitung" 222 vom 26. September 1951. 2 Der Anlaß für diese Bewährung Brockhausens als wahrer Professor war ein Rechtsgutachten, das der damalige Dekan der Wiener Rechtsfakultät Professor Josef Hupka wegen einer der dazumal üblichen pseudonationalen Studentenkundgebungen von einem fachlich zuständigen Professor der Universität erbeten und dem Akademischen Senat vorgelegt hatte.

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unter anderem in Hochschulangelegenheiten tätig. In dieser Dienstleistung legte er theoretisch und praktisch den Grund für das Amt eines Kanzleidirektors der Universität Wien, dem er aus dem Schatze seiner reichen und freien Persönlichkeit wie kaum ein Zweiter Inhalt und Ansehen gab, zumal da er sich 1894 auf Grund seines Buches über Vereinigung und Trennung der Gemeinden als Privatdozent für Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht habilitierte, auf Grund weiterer wissenschaftlicher Werke den Titel eines a.o. und später eines o. Professors erhielt. Noch nach seiner Pensionierung als Universitätskanzleidirektor stellte Carl Brockhausen seine Erfahrungen und Ratschläge in den Dienst der Allgemeinheit. Verschiedene Ministerien der österreichischen Monarchie und Republik erbaten seine Dienste als Berater bei großen und wichtigen organisatorischen und gesetzgeberischen Arbeiten. So schon Professor Friedrich von Wieser und Professor Viktor Mataja in ihrer Eigenschaft als k.k. Handelsminister, bzw. Minister für soziale Fürsorge zur Begutachtung der sozialpolitischen Gesetzentwürfe, die in den letzten Weltkriegsjahren in den von ihnen geleiteten Ministerien ausgearbeitet worden sind, z.B. über die Beschwerdekommissionen, die zur Schlichtung der Arbeitsstreitigkeiten in der Kriegsindustrie berufen waren, und zur Neuordnung der Gewerbeinspektion. Auch in der Republik hat der Sozialminister Hanusch, insbesondere aber der Staatskanzler Karl Renner, fallweise die Dienste Brockhausens als Begutachter von Gesetzentwürfen in Anspruch genommen. Als der jüngste damalige rechtskundige Beamte der sozialpolitischen Sektion des Handelsministeriums, sodann des Ministeriums für soziale Verwaltung und nach dem Umbruch der Staatskanzlei, konnte ich beobachten, mit welcher Sachkenntnis, ja Meisterschaft Brockhausen die Arbeiten beeinflußt hat und wie bei der zuständigen Beamtenschaft seine redaktionellen Ratschläge verständnisvoll Beachtung gefunden haben.

Das Rechtsgutachten war zu dem Schluß gekommen, daß die Polizeiorgane zur Sicherung des ungestörten Studienbetriebes - demonstrierende Studenten waren in Hörsäle eingedrungen und hatten lärmend Abbruch der Vorlesungen gefordert, hatten außerdem in einer Reihe von Fällen ihnen aus politischen oder rassischen Gründen mißliebige Studenten verletzt auch auf akademischen Boden einzuschreiten berechtigt und verpflichtet seien. Als eine solche Rechtsauffassung von einer bestimmten akademischen Seite als Verrat an den Rechten und Interessen der Universität verurteilt wurde, pflichtete Brockhausen als gewiegter Theoretiker und Praktiker des Universitätsrechtes spontan in einer schriftlichen Erklärung mit unüberbietbarer Entschiedenheit dem vorerwähnten Rechtsgutachten bei.

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Es war mein Stolz, wie Brockhausen in den genannten Ämtern mir als dem um mehr als drei Jahrzehnte jüngeren, im Habilitationsstadium befindlichen Fachgenossen vorschußweise fachliches und kameradschaftliches Vertrauen entgegenbrachte und damit ein Verhältnis gewissermaßen väterlicher Freundschaft begründete, das bis ins hohe Greisenalter Brockhausens fortbestand, trotzdem daß durch die Verlegung meiner Berufstätigkeit nach Württemberg und die kriegs- und nachkriegsbedingte Abschnürung von der Heimat der persönliche (nicht auch der briefliche) Verkehr unterbrochen worden war. Auch während der großen Verwaltungsreform, namentlich bei der Ausarbeitung der VerwaltungsVerfahrensgesetze des Jahres 1925, wollten die maßgebenden Persönlichkeiten des Bundeskanzleramtes und des Ministeriums des Innern, namentlich die Ministerialräte Dr. Mannlicher und Dr. Coreth die beratende Mitarbeit Brockhausens nicht missen und wußten die Beratung durch Brockhausen hoch einzuschätzen. Die schriftstellerische Leistung Brockhausens darf, wenn man von den zahlreichen inhaltsreichen Zeitungsaufsätzen absieht, mit denen er zu verwaltungspolitischen Tagesfragen Stellung genommen hat, nicht nach Seitenzahlen gemessen, sondern muß mit der Goldwaage inneren Gehaltes gewogen werden. Das Schrifttum Brockhausens ist äußerlich von einer Sprachschönheit und logischen Folgerichtigkeit, also von stilistischem und logischem Rang, wie man ihn nur selten bei deutschen Juristen antrifft. Offenbar jeder Satz, ja jedes Wort ist abgewogen und ausgereift, wie ein Kunstwerk aus dem Rohmaterial der Sprache herausgemeißelt. Dem Gegenstand nach gehören die rechts- und staatswissenschaftlichen Schriften Brockhausens drei Problemkreisen an: Vorzugsweise der Selbstverwaltung, besonders dem Gemeinderecht; sodann dem Polizeirecht, endlich der Werwaltungsreform, und zwar vorzugsweise der Reform des Organisations- und Verfahrensrechtes. Seine Erstlingsschrift befaßt sich de lege lata und de lege ferenda mit dem „Instanzenzug in Gemeindeangelegenheiten" (Zeitschrift für Verwaltung, 1888). Sein erstes Buch hat die „ Vereinigung und Trennung von Gemeinden" zum Gegenstande (Wien, Manzscher Verlag, 1893). Die Schrift beschränkt sich nicht auf eine Auslegung der einschlägigen Rechtssätze und auf rechtspolitische Vorschläge, sondern gibt auch Gelegenheit, den in Theorie und

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Praxis umstrittenen Begriff der Gemeinde zu klären. In überzeugender Beweisführung beweist er die Sinnlosigkeit der gesetzlichen Gegenüberstellung von „selbständigem" und „übertragenem" Wirkungskreis der Gemeinde und schlägt als zutreffendere Bezeichnungen der rechtlichen Sachverhalte das Wortpaar eigenen und fremden Wirkungskreis vor. Die bekannteste und wohl umstrittenste fachwissenschaftliche Veröffentlichung Brockhausens ist die Abhandlung in der Grünhut'schen Zeitschrift (1896), „Über das sogenannte Verbotsrecht der landesfiirstlichen, politischen und polizeilichen Behörden". Suaviter in modo und fortiter in re zerpflückt hier der Verfasser eines der auffälligsten Rudimente des Absolutismus, das sogar über die Jahrhundertwende hinaus die Einführung der konstitutionellen Verfassung überdauert hat. Die österreichischen Verwaltungsbehörden haben nämlich unbekümmert um die Verfassungsvorschriften über den Weg der förmlichen Gesetzgebung und über die Verfassungsbestimmung, daß Verordnungen nur auf Grund von Gesetzen erlassen werden dürfen, unter Berufung auf den § 7 der vorkonstitutionellen Verordnung vom 20. April 1854 im allgemeinen und im Einzelfall völlig unberechenbare Verbote im Dienste der „öffentlichen Ordnung" erlassen. Diese Verbote wollten nicht bloß Übelständen wie dem öffentlichen Lärmmachen, der Theateragiotage steuern, sondern auch die Bekundung politischer Überzeugungen unmöglich machen, indem sie das Tragen roter Krawatten, Blusen und sonstiger Abzeichen einer unerwünschten politischen Gesinnung untersagten; auch wurde u.a. bestimmten Frauen, die den Sprößling eines „guten Hauses" mit Erinnerungen an gegebene Eheversprechen belästigt haben, das Schreiben von „Briefen an den Betreffenden" bei sonstiger Strafe verboten. Brockhausen weist nun überzeugend nach, daß diese unrühmliche Polizeipraxis nicht nur nicht mit der konstitutionellen Verfassung in Einklang zu bringen war, sondern nicht einmal in der bezogenen vorkonstitutionellen Rechtsquelle eine Grundlage hatte, die als oberste Vollstreckungsnorm für anderweitig begründete Verbote gedacht gewesen sei. Wie in diesem, so wird Brockhausen auch in anderen Fällen zum unermüdlichen und im letzten Ergebnis auch erfolgreichen Mahner im Dienste des Rechtsstaates. In der Abhandlung „Die Strafpflicht der politischen Behörden" (Grünhut'sche Zeitschrift, 1898) bricht Brockhausen für das in Österreich ungewöhnlich umfangreiche Gebiet der Verwaltungsstrafsachen politisch und

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juristisch eine Lanze im Sinne einer Strafpflicht als einziger Möglichkeit, aus der Strafrechtspflege politische Protektion zu verbannen. Das Buch „Die österreichische Gemeindeordnung" (Wien, 1905, Verlag Manz) ist eine überaus originelle juristische Analyse des Österreichischen Gemeinderechtes, an die in gewohnter Weise Reformvorschläge geknüpft werden. Das Buch ist zu umfangreich und das Thema zu speziell, um es in einer allgemeinen juristischen Fachzeitschrift aus dem konkreten Anlaß entsprechend zu würdigen. Der Verfasser, als Liberaler ein wahrer Freund der Gemeindeselbstverwaltung, kommt für den gemischtnationalen Staat zu dem pessimistischen Schluß, „daß infolge einer seltsamen Verkettung von Verhältnissen die Autonomie zum Grab der Gemeindefreiheit zu werden drohe" (S. 240). Die als selbständiges Werk bei Franz Deuticke in Wien (1908) veröffentlichten „Verwaltungsrechtlichen undverwaltungspolitischen Essays" fassen mehrere oben bereits behandelte mit einigen weiteren aktuellen Abhandlungen zusammen. Den Abschluß der Essays bildet eine Studie unter dem Titel „Erhöhung der Wehrkraft im Wege der Abrüstung" - für die Zeit der großen europäischen Unruhe eine aktuelle und mutige Schrift, in der erstmals im Schrifttum Brockhausens der pazifistische Gedanke durchbricht. Unter dem Titel „Österreichische Verwaltungsreformen" veröffentlicht Brockhausen bei Franz Deuticke, Wien 1911, sechs in der „Wiener freien staatswissenschaftlichen Vereinigung" gehaltene rechts- und staatspolitische Vorträge unter dem Motto: „Das Staatsrecht zerreißt Österreich, die Verwaltung hält es zusammen." Das Motto war bekanntlich im ersten Teil begründetermaßen pessimistisch, im zweiten Teil freilich wegen des in der nahen Zukunft Schoß ruhenden Krieges übertrieben optimistisch. Das Büchlein „Zur österreichischen Verwaltungsreform" (Wilhelm Braumüller, Wien 1917) faßt 14 während des ersten Weltkrieges in der „Neuen Freien Presse" veröffentlichte Aufsätze zum Gegenstand zusammen. Brockhausen berührt sich hier in wesentlichen Dingen mit dem impetuoseren Freund des alten Österreich und Zweifler an den zuständigen österreichischen Männern, Karl Renner. Viel Neues der Gedankengänge Brockhausens teilt das Schicksal der vertrauten älteren Reformideen, bei den berufenen Männern völlig unbeherzigt zu bleiben.

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Mit der Broschüre „.Europa 1914 und 1924 (Bild und Gegenbild(Verlag der Wiener Literarischen Anstalt, Wien 1924), betritt Brockhausen die internationale weltpolitische Arena. Der Verfasser zeigt hier, wie der Friede im Kern ein Unfrieden und - nur entfernt geahnt - der Keim neuer Kriege ist. Die Schrift wird zum flammenden, im Ergebnis aber auf beiden Seiten unfruchtbaren Appell, aus der tragischen Geschichte zu lernen. Die Broschüre „.Deutschland im Spiegel Frankreichs" (Verlag Reimar Hobbing, Berlin 1926) ist eine Antwort auf das Buch von Henri Lichtenberger (einem Pariser Universitätsprofessor) „L'Allemagne d'aujourd'hui dans se relations avec la France" und bemüht sich um die Gewinnung einer Diskussionsgrundlage, die beiden nationalen Standpunkten gerecht wird und dem für die europäische Einigung wichtigsten zwischenstaatlichen Brückenschlag grundlegend werden könnte. Mit Recht tadelt Brockhausen das beliebte Verfahren, die Geschichte nicht als kontinuierliche Erscheinung zu behandeln, sondern sie bei einem dem Betrachter sympathischen Punkt willkürlich beginnen zu lassen, z.B. die von Elsaß-Lothringen mit der Reannexion von Elsaß-Lothringen durch das Deutsche Reich im Jahre 1871. Vielleicht vernachlässigt aber der Verfasser allzusehr die Tatsache, daß die Einstellung der Elsässer und Lothringer zu diesem Staatenwechsel unbeachtet geblieben und kaum etwas unternommen worden ist, die Seele der Volksgenossen für die „Heimkehr ins Reich" zu gewinnen, wozu ja das Schicksal Österreichs in den Jahren 1938-1945 eine naheliegende, freilich im heutigen Deutschland vielseits unverstandene, als „österreichischer Undank" beurteilte Parallele ist. Die Schrift Brockhausens mündet in eine geradezu leidenschaftliche Apotheose der Völkerverständigung, zu der freilich das deutsche Volk als überwiegend leidender Teil der jüngsten Geschichte den entscheidenden Beitrag zu leisten vermöge. Die Schrift „Erdwandel, Seelenwandel und die Völker Europas" (Verlag Rudolf M. Rohrer, Baden bei Wien, 1936), das letzte Werk des ins Patriarchenalter aufgerückten Mannes, ist eine vom Gemüt diktierte pazifistische Bekenntnisschrift. Aus dem Wandel des Weltbildes, aus der Tatsache, daß die Erde nicht nur als Kugel erkannt, sondern auch für den Verkehr der Völker zur Kugel geworden ist, folgert der Verfasser, daß die alte Nachbarnund Hintermänner-Politik ihren Sinn verloren habe, daß das Sich-Vertragen der Nachbarn nicht bloß ein Gebot der Sittlichkeit, sondern auch der Vernunft geworden sei. Der formschöne Aufruf zu einer besseren, nein, zu einer wahren internationalen Ordnung wurde von der harten Wirklichkeit des

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zweiten Weltkrieges drei Jahre später ins Reich der Utopie verwiesen, war aber ein charakterlich zwangsläufiger Abschiedsgruß des Verewigten an diese Erde. Der verehrungswürdige Tote lebte, um die Worte einer von ihm stammenden Gedichtsammlung zu gebrauchen, fern allen äußerlichen Ehrungen an der Seite einer gleichgesinnten Gattin „still sein eigenes Leben und mußte seinen Inhalt selber sich geben". Es war ein innerlich reiches, subjektiv und objektiv vollendetes Leben.

Karl Renner als Wissenschafter Mit Dr. Karl Renner, dem ersten Bundespräsidenten der zweiten Republik, ist nicht nur ein großer Staatsmann, sondern auch ein bedeutender Wissenschaftler dahingeschieden. Die Universität Wien hat mit der Verleihung des Ehrendoktorates an Dr. Karl Renner im November 1945 nicht bloß den Staatsmann, sondern auf gleicher Linie - nach den Feststellungen der Promotionsurkunde - auch den Mann der Wissenschaft geehrt. Renners schriftstellerisches Arbeitsfeld waren seinem akademischen und beruflichen Werdegang gemäß die Sozialwissenschaften; seine Veröffentlichungen, denen die bewußte Beschränkung auf bestimmte akademische Disziplinen fehlt, sind im einzelnen innerhalb der Rechtswissenschaften, der Staatslehre und dem österreichischen Staatsrecht, der Verwaltungslehre und dem österreichischen Verwaltungsrecht, ferner der Volkswirtschaftslehre und der Gesellschaftslehre zuzuzählen. Die stärksten fachwissenschaftlichen Anregungen hat Renner nach seinem eigenen Geständnis von zwei Lehrern der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät, dem Staatsrechtslehrer Edmund Bernatzik und dem Volkswirtschaftslehrer Eugen Phillipovich empfangen. Die Wahl der Themen, auch soweit sie aus der Zeit vor dem Eintritt in die politische Laufbahn stammen, verrät die brennende Anteilnahme an den politischen Zeitfragen. Die Methode der Behandlung verknüpft auf Schritt und Tritt Erkenntnis der rechtlichen und staatlichen Gegebenheiten mit rechtspolitischen Vorschlägen und zeigt den Mangel jedes Doktrinarismus, aber auch jedes Opportunismus, geradezu leidenschaftlichen Dienst für die als richtig erkannte Sache, jedoch ohne ersichtlichen Dienst für ein Parteiprogramm. Das literarische Werk Renners ist also reiner Ausdruck einer dem Leben zugewandten wissenschaftlichen Persönlichkeit.

Wiener Universitätszeitung vom 2. Jänner 1951.

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Aus der sogenannten „Badeni-Krise" erwuchs im Jahre 1899 Renners Erstlingsschrift „Staat und NationDer Verfasser zeichnet als Gegenbild der österreichischen Wirklichkeit die rechtlichen Einrichtungen, die nach seiner Überzeugung ein friedliches Zusammenleben der Völker Österreichs ermöglichen würden. Der Kerngedanke Renners, den er hier in kurzen Zügen und in späteren Werken ausführlich entwickelt, ist der, die Idee des Föderalismus als eine besondere Technik der politischen Freiheit zur Befriedung der Volksstämme innerhalb des Vielvölkerreiches zu verwerten. Während der Nationalitätenhader durch die Zusammenfassung der schärfsten nationalen Gegner innerhalb einzelner Kronländer in den beiden Stockwerken des Staatsgebäudes mehr als verdoppelt worden ist, sollen nach der konstruktiven Idee Renners die Nationalitäten als Körperschaften des öffentlichen Rechtes von einander geschieden und zu verantwortlichen Teilhabern der Staatsgewalt gemacht werden. Der die Zeitgenossen, namentlich Parlament und Regierung, zunächst utopisch anmutende Gedanke hatte später immerhin bedeutsame Auswirkungen: Das Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie, das auf dem Brünner Parteitag 1900 beschlossen worden ist, beruht auf Renners Vorschlägen. Von anderen Fernwirkungen abgesehen, haben Renners Gedanken aber auch dem Programm des kaiserlichen Manifestes vom 16. Oktober 1918 seinen Inhalt gegeben, Österreich als Nationalitätenbundesstaat aufzubauen, um die Nationalitäten mit dem Vielvölkerstaat zu versöhnen. Die Ratgeber des Kaisers haben den Gedanken allerdings zu spät aufgegriffen, als daß er den Zerfall der Doppelmonarchie hätte verhindern können, nämlich angesichts des feststehenden Entschlusses der Nationen, eigene Nationalstaaten zu gründen oder sich bereits bestehenden Nationalstaaten anzuschließen. In dem Buch „Der Kampf der österreichischen Nationen und der Staat" (1902), das in umgearbeiteter Auflage unter dem Titel „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich" erscheint, untersucht Renner (unter dem Pseudonym Rudolf Springer) die politischen Voraussetzungen und die rechtlichen Formen des nationalen Friedens. Der Begriff der Nation und ihre Rolle im Staat werden eingehend entwickelt; abschließend wird der sehr ins einzelne gehende Plan eines Bundesstaates entworfen, der sich aus Nationen als Gliedgemeinschaften aufbaut. Eine ungewöhnliche Voraussicht spricht aus den Worten dieser

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Schrift: „In ein, zwei Jahrzehnten ist die Welt geteilt. Kommen wir nicht rasch zur Lösung, dann haben wir nicht nur selbst den Wurf versäumt, dann werden wir diejenigen sein, über die das Los geworfen wird." Der ehemalige österreichische Professor Schäffle stimmt dem Gedankengange Renners geradezu begeistert zu als einem „Versuche, der staatswissenschaftlich bedeutsam bleiben wird, auch wenn ihn die professionelle Nationalitätenhetze für Österreich nicht wird zur Verwirklichung gelangen lassen". Ohne einen rechtzeitigen und ernsthaften Versuch der Meisterung des Nationalitätenproblems ist der Vielvölkerstaat der Erschütterung des ersten Weltkrieges zum Schmerz Karl Renners, des unermüdlichen Mahners und Ratgebers einer Staatsreform, zum Opfer gefallen. Einer unter den zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen Renners wirft schon 1901 das andere große Problem des Kaiserstaates Österreich auf, die Reform des Parlamentes. Unter dem Titel „Staat und Parlament analysiert Renner das herrschende System der „Interessenvertretung" und gelangt zur Forderung des „allgemeinen gleichen Wahlrechtes mit Minoritätenvertretung". Ein in der Gesellschaft der Wiener Fabier gehaltener Vortrag, der 1904 als selbständige Broschüre erscheint, behandelt unter dem Titel „Mehrheitsoder Volksvertretung?" ebenfalls ein Kardinalproblem parlamentarischer Organisation. Die im Jahre 1904 herausgegebene Abhandlung „Die Krise des Dualismus und das Ende der Deakistischen Episode in der Geschichte der habsburgischen Monarchie" ist der Auftakt von Veröffentlichungen Renners, die das Rechtsverhältnis der beiden Bestandteile der österreichisch-ungarischen Staatenunion zum Gegenstande haben. Das Buch „Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie" (1906) zeichnet auf der Grundlage einer geschichtlichen Analyse der Staatskonstruktion beider Teilstaaten eine Lösung des Staatsproblemes der Donaumonarchien mit dem letzten Ziel einer Überwindung des Dualismus unter Verwendung des alten Rezeptes Renners, „die Bevölkerung zweimal zu organisieren, territorial und national" (S. 245), wobei er hofft, daß die Initiative Österreichs die analoge Neukonstruktion Ungarns infolge der werbenden Kraft der Reform gegenüber den zurückgesetzten Nationalitäten und Klassen auslösen werde. Dieser „Völkerstaat", vergleichbar einer „demokratischen Schweiz mit monarchischer Spitze", das Österreich des Kremsierer Reichstages im Sinne der Reichsidee von 1804, sei die eine Alternative - die andere

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die Teilung Österreichs, unser Heimatland als Schlachtfeld der europäischen Rassen, die Arena eines neuen dreißigjährigen Krieges! Die Sammlung von „politisch-programmatischen" Aufsätzen, die unter dem Titel „Österreichs Erneuerung" 1916 erschienen ist, folgert aus einer treffenden Analyse die bestehenden Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen Reformen auf allen Stufen des Staatsgebäudes. Der Entwurf einer Verwaltungsreform offenbart besonders einen scharfen Blick für das Wesentliche einer autonomen und autarken Lokalverwaltung. Ein letzter Abschnitt über Österreich-Ungarn und Mitteleuropa behandelt in der Hauptsache wirtschaftspolitische, besonders zollpolitische Fragen. Die knappste Auslese der wichtigsten Schriften Renners zum österreichischen Staatsproblem gibt eine annähernde Vorstellung, wie Renner seinen starken Verstand und Willen für die Zukunft Österreichs auch schriftstellerisch eingesetzt hat. Geschah es auch ohne den mit warmem Herzen erstrebten Erfolg, so hat Renner doch mit seinem Schrifttum der Erkenntnis der Vergangenheit unseres Gemeinwesens wissenschaftlich einen bleibenden Dienst getan. Bezeichnend für die Auffassung Renners von dem Beruf des geistigen Arbeiters ist sein Berliner Vortrag „Der geistige Arbeiter in der gegenwärtigen Gesellschaft und Geschichtsepoche" (1926). Die Bestimmung seines Berufes „Vorhut der Zukunft zu sein" klingt wie eine Mahnung an jeden alten und insbesonders jeden jungen Akademiker. Das Buch Renners „Die Rechtsinstitute des Privatrechtes und ihre soziale Funktion" mit dem Untertitel „Ein Beitrag zur Kritik des bürgerlichen Rechtes" (1929) zeigt in tiefschürfendem Gedankengang, welcher geradezu revolutionäre Funktionswandel innerhalb der Rechtsform des Eigentums durch Änderung seines wirtschaftlichen Inhaltes eingetreten ist. Bei aller Knappheit ist der Vortrag des Bundespräsidenten Dr. Renner „Vom liberalen zum sozialen Staat" ein besonders wertvoller Beitrag zur Theorie der Politik. Der Vortrag des Bundespräsidenten Dr. Renner zur Feier des 4. Jahrestages der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen, gehalten an der

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Universität Wien (1949) unter dem Titel „Mensch, Staat und Menschheit", ist eine großzügige Zusammenschau dieser drei Gegenstände gesellschaftswissenschaftlicher Forschung. Unausgesprochen ist das vielfältige Schrifttum Renners ein Bekenntnis, daß jede ernstzunehmende politische Forderung und Handlung wissenschaftliche Klärung der sachlichen Voraussetzungen und der Ziele bedingt. Unausgesprochen ist das Leben Renners auch ein Bekenntnis zum Buch als der Zelle menschlicher Kultur. Die Universität Wien gedenkt ehrend der vielseitigen Bereicherung, die verschiedenen von ihr gepflegten Disziplinen durch das emsige und schöpferische Schrifttum Karl Renners zuteil geworden ist, dankt aber auch besonders ihrem Ehrendoktor für jene, seinem Wirken innewohnenden Bekenntnisse, die zwar im Grunde selbstverständlich, trotzdem aber ungewöhnlich sind.

Rezension von:

Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 8, Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Heidelberg am 20. und 21.10.1949 Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hat vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus ihre letzte (7.) Tagung im November 1931 in Halle a.S. abgehalten. Es war für den nationalsozialistischen Staat symbolisch, daß unter den vielen wissenschaftlichen Gesellschaften, die er liquidiert hat, auch die Vereinigung der Staatsrechtslehrer gewesen ist. Was wäre denn auch möglicher Gegenstand einer solchen wissenschaftlichen Gesellschaft gewesen, nachdem an die Stelle geschriebener Verfassungen der freiheitlichen europäisch-amerikanischen Rechtsüberlieferung die als „Volksempfinden" kostümierte Willkür des Führers getreten war?! Am 20.10.1949 konstituierte sich auf Einladung mehrerer im neuen Deutschland beamteter Staatsrechtslehrer eine erneuerte Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, die sich derzeit aus 82 Mitgliedern zusammensetzt. Der Gesellschaft gehören sämtliche in der heutigen Deutschen Bundesrepublik beamteten und einige emeritierte oder pensionierte Staatsrechtslehrer an, die innerhalb dieses Staates ihren Wohnsitz haben, sodann eine eng begrenzte Zahl von Staatsrechtslehrern, die in der „demokratischen Volksrepublik" Deutschland ihren Wohnsitz haben, an Österreichern Adamovich , Ebers, Merkl (also kein Grazer Fachprofessor), schließlich der vormalige Wiener Privatdozent und Professor der Universität Prag Rudolf Schranil, der an der saarländischen Universität ein Lehramt bekleidet. Nach § 2 der am 21.10.1949 beschlossenen und in der vorliegenden Veröffentlichung abgedruckten Satzung kann Mitglied der Vereinigung werden, „wer

Juristische Blätter, 73. Jg. (1951), S. 218-219.

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an einer deutschen Universität oder sonstigen Hochschule als Lehrer des Staats- und Verwaltungsrechtes tätig ist, oder gewesen ist und sich der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gesamtgebiete dieser Wissenschaften gewidmet hat..." „Gegenwärtige oder frühere Staatsrechtslehrer an ausländischen deutschsprachigen Universitäten oder Hochschulen können auf ihren Antrag als Mitglieder aufgenommen werden." Beachtlich ist die Mitgliederliste jedenfalls auch unter dem Gesichtspunkt, welche vormaligen noch lebenden Staatsrechtslehrer nicht als präsumptive Mitglieder zur 1. Tagung der neu gegründeten Vereinigung eingeladen worden sind - diese bilden nämlich nach der Satzung den Kreis der ursprünglichen Mitglieder und auch seither noch nicht in dem Aufnahmeverfahren, das eine Siebung der politisch belasteten oder sonst unerwünschten Bewerber ermöglicht, zugelassen worden sind. Die Zusammensetzung des neuen Vorstandes der Gesellschaft aus den Fachgelehrten Erich Kaufmann, Walter Jellinek und Werner Weber deutet einen mächtigeren Erdrutsch an, als er tatsächlich eingetreten ist. Die Tagung wurde mit einer kurzen Ansprache des hochangesehenen Mitgliedes em. Professors Richard Thoma eröffnet, der in der Folge zum lebenslänglichen Ehrenpräsidenten bestellt worden ist. Beratungsgegenstände der Tagung waren außer den im Vorstehenden angedeuteten Organisationsfragen folgende zweifachwissenschaftliche Themen, die dem neuen westdeutschen Staatsrecht entnommen waren. Über „Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz" haben Walter Jellinek und Hans Schneider, über „Tragweite der Generalklausel im Art 19, Abs. 4 des Bonner Grundgesetzes" haben Friedrich Klein und Heinrich Herrfahrdt berichtet. Über diese dem Interessenkreis der „Juristischen Blätter" einigermaßen entrückten, dagegen für das Rechtsleben der Deutschen Bundesrepublik sehr bedeutsamen Verhandlungsgegenstände sei nur in aller Kürze folgendes angedeutet. Das Bonner Grundgesetz hat im Art. 67 den zumindest in seiner Durchführung originellen Versuch unternommen, das Staatsschiff zwischen der Gefahr einer zügellosen Parlamentsmehrheit, namentlich der Laune von Zufallsmehrheiten, einerseits und einer diktatorischen Gewalt des Staatspräsidenten andererseits durchzulotsen. Das rechtstechnische Mittel zu diesem Ziel ist „das konstruktive Mißtrauensvotum" des Art. 67: „Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen,

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daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen." Die Frucht der Berichte und der Diskussion auf der Tagung war eine wohl erschöpfende, rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Analyse der Verfassungsbestimmung, wobei auch einige rechtstechnische Mängel der grundsätzlich gutgeheißenen Bestimmung zutage getreten sind. Der zweite Beratungsgegenstand betraf in methodisch gleicher Weise den Verfassungsrechtssatz: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben." - Jeder Berichterstatter gab sicherlich in grundsätzlich immanenter wissenschaftlicher Kritik sein Bestes; eine Bewertung der Berichte wäre unangebrachter Ausdruck von subjektiven Beurteilungsmaßstäben. In der Diskussion erlaubte sich der Rezensent den „Appell", die Aufgabe der Staatsrechtslehrer darin zu erblicken, „die deutsche Jugend aus der Skepsis gegenüber dem erneuerten Verfassungsleben herauszureißen, damit nicht der Zustand der Weimarer Zeit sich wiederhole, daß weite Kreise dem Verfassungsleben entfremdet werden". Staatliche Einheit und demokratische Freiheit seien die „eigentliche staatspolitische Aufgabe, hinter der alle Textfragen an Bedeutung verschwinden". (S. 60 des Verhandlungsberichtes) - Die nach der achtzehnjährigen, unermeßlich ereignisreichen Pause des Vereinslebens vielleicht überraschende Beschränkung auf sei es auch wichtige Auslegungsfragen und der Verzicht auf ein grundsätzliches Thema, wie etwa Diktatur und Widerstandsrecht, erklärt sich wohl zum Teil auch aus der Zusammensetzung der Gesellschaft, die in politischer Sicht von der Linken bis zur äußersten Rechten reicht.

Nekrolog für Karl Brockhausen Am 16. September 1951 starb in Kitzbühel (Tirol) der Titular-ordentliche Professor des Verwaltungsrechts und emeritierte Kanzleidirektor der Universität Wien Dr. jur. Karl Brockhausen. Seine rechtswissenschaftlichen Studien und seine ganze berufliche Laufbahn legte er (am 9. Mai 1859 in Emmerich am Rhein geboren) in Österreich zurück. Im Jahre 1882 wurde er an der Universität Wien zum Doktor der Rechte promoviert. In demselben Jahre trat er bei der Statthalterei für Niederösterreich in den österreichischen Staatsdienst ein. Nach kurzer Zeit wurde er in das k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht einberufen. Hier erwarb er sich die Vorkenntnisse für das Amt eines Kanzleidirektors der Universität Wien, das er in den Jahren 1891-1908 bekleidete und dem seine kulturgesättigte Persönlichkeit Inhalt und Ansehen gab. Im Jahre 1891 habilitierte er sich für Verwaltungsrecht an der Universität Wien mit der Schrift über „Vereinigung und Trennung von Gemeinden"; 1905 erhielt er auf Grund seines Buches „Die österreichische Gemeindeordnung, Grundgedanken und Reformideen" den Titel eines außerordentlichen Professors, 1907 den Titel eines ordentlichen Professors. Als Kanzleidirektor der Universität trat Brockhausen im Jahre 1908 in den Ruhestand. Neben der beruflichen, lehramtlichen und literarischen Tätigkeit war Brockhausen um die Förderung des kulturellen Lebens seiner österreichischen Wahlheimat bemüht. Schon als Student übernahm er 1881 als Obmann die Leitung des Lesevereines der Wiener Hochschulen. Als promovierter Doktor war er der Vorsitzende der akademischen Goethefeier zum 50. Todestage Goethes. 1896 war er Mitbegründer der Wiener volkstümlichen Universitätskurse, die die ersten ihrer Art in Europa geworden sind. 1916 war er in bestimmender Weise an der Gründung der „Internationalen Rund-

in: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1951/52, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1952, S. 35-40.

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schau" in Zürich beteiligt, die den wechselseitigen Verleumdungen der Kriegsmächte entgegentreten sollte. Im Ruhestand lebte Brockhausen nicht bloß seinen schöngeistigen Neigungen, sondern blieb er auch in seinem Fach auf dem laufenden. Besonders stellte er sich verschiedenen Ministern der Monarchie und der Republik ehrenamtlich zur Redaktion und Begutachtung gesetzgeberischer Arbeiten ihrer Ministerien zur Verfügung: so dem k.k. Handelsminister Professor Friedrich Freiherr von Wieser und dem k.k. Minister für soziale Fürsorge Professor Viktor Mataja, sodann dem ersten Staatskanzler der Republik Österreich Karl Renner. Im Zuge der Verwaltungsreform, die mit der Erlassung der VerwaltungsVerfahrensgesetze des Jahres 1925 ihren Abschluß fand, wußten die Ministerialreferenten Mannlicher und Coreth die Beratung durch Brockhausen hoch einzuschätzen. Kurz nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus, dem Brockhausen von vornherein mit Sorge und Ablehnung gegenüberstand, verlegte er seinen Wohnsitz von Wien nach Kitzbühel. Den hochbetagten Mann beschäftigte immer wieder der Gedanke, wie der Völkermord und die drohende Katastrophe des deutschen Volkes, dem er sich bei aller Kritik seiner Führung treu verbunden fühlte, abzuwenden sei. In seltener geistiger Regsamkeit und bei befriedigender körperlicher Verfassung durfte er noch am 9. Mai 1949 seinen 90. Geburtstag begehen. Von einer im Frühjahr 1951 überstandenen Lungenentzündung hat sich Brockhausen nicht mehr erholt. Das Leben Brockhausens, das sich subjektiv und objektiv vollendet hatte, erlosch in Kitzbühel am 16. September 1951. Das Schrifttum Brockhausens befaßt sich bis zum ersten Weltkrieg fast ausschließlich mit Fragen des Verwaltungsrechtes und der Verwaltungspolitik. Die einschlägigen Arbeiten gehören in der Hauptsache drei Problemkreisen an: der Selbstverwaltung, namentlich dem Gemeinderecht; dem Polizeirecht; schließlich der Verwaltungsreform, und zwar vorzugsweise der Reform des Organisations- und Verfahrensrechtes, womit Brockhausen für die Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechtes durch die österreichische Republik wertvolle Vorarbeit geleistet hat. Die Erstlingsschrift Brockhausens betrifft den „Instanzenzug in Gemeindeangelegenheiten" (Zeitschrift für Verwaltung, 1888). Das erste Buch Brockhausens hat die „Vereinigung und Trennung von Gemeinden" zum

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Gegenstand (Wien, Manzscher Verlag, 1893). Die Auslegung und Darstellung der einschlägigen Rechtssätze stützt sich auf eine vom Verfasser geistvoll entwickelte eigene Theorie der Gemeinde. Der Verfasser beweist überzeugend die Sinnlosigkeit der herkömmlichen Gegenüberstellung von „selbständigem" und „übertragenem" Wirkungskreis und ersetzt sie durch das Wort- und Begriffspaar „eigener" und „fremder" Wirkungskreis. Die bekannteste und zu ihrer Zeit umstrittenste fachwissenschaftliche Veröffentlichung Brockhausens benennt sich „Über das sogenannte Verbotsrecht der landesfürstlichen, politischen und polizeilichen Behörden" (Grünhutsche Zeitschrift, 1896). Brockhausen weist überzeugend nach, daß diese in der Tageskritik viel angefochtene Polizeipraxis nicht einmal mit der vorkonstitutionellen Rechtsquelle in Einklang zu bringen war, auf die sie sich ausdrücklich gestützt hat. Aus den Quellen ergebe sich nämlich, daß der für jene generellen und im Einzelfall ergehenden polizeilichen Verbote herangezogene § 7 der Verordnung vom 20. April 1854 (des sogenannten „Prügelpatentes") nur als Vollstreckungsnorm für bereits anderweitig verankerte Verbote gedacht gewesen sei. Um so weniger sei die polizeiliche Verbotspraxis mit der konstitutionellen Verfassung vom 21. Dezember 1867 vereinbar gewesen, da sie für Gegenstände nunmehriger formeller Gesetzgebung ein selbständiges verwaltungsbehördliches Verordnungsrecht in Anspruch genommen hat. Mit dieser Abhandlung, die ein für die Praxis schier unentbehrliches Überbleibsel des Polizeistaates bekämpft, wird Brockhausen zum Mahner und Schrittmacher des Rechtsstaates. Die gleiche rechtspolitische Rolle spielt im Grunde auch die Abhandlung ,J)ie Strafpflicht der politischen Behörden'" (Grünhutsche Zeitschrift, 1898). Das in Österreich ungewöhnlich weitgespannte Verwaltungsstrafrecht erscheint ihm nur vertretbar durch die Anerkennung einer Strafpflicht der Verwaltungsbehörden, die am ehesten der durch die Weisungsbefugnis ermöglichten politischen Protektion wehren könne. Das Buch „Die österreichische Gemeindeordnung" (Manzscher Verlag, Wien 1905) ist eine juristische Analyse des österreichischen Gemeinderechtes, die Brockhausen als bewährter Kenner von Theorie und Praxis der Selbstverwaltung unternimmt. Brockhausen, ein überzeugter Anhänger der Selbstverwaltung, kommt für den gemischtnationalen österreichischen Staat zu dem pessimistischen Schluß, daß infolge einer seltsamen Verkettung von Verhältnissen die Autonomie zum Grab der Gemeindefreiheit zu werden drohe (S. 240).

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Das Sammelwerk „ Verwaltungsrechtliche und verwaltungspolitische Essays" (Verlag Franz Deuticke, Wien 1908) faßt die bemerkenswertesten, in Zeitschriften verstreuten Aufsätze Brockhausens zu diesem Gegenstand zusammen. Den Abschluß der Essays bildet die Untersuchung: „Erhöhung der Wehrkraft im Wege der Abrüstung"', für die Zeit der großen europäischen Unruhe eine aktuelle und mutige Schrift, in der im Schrifttum Brockhausens zum erstenmal der pazifistische Gedanke durchbricht. Unter dem Titel „Österreichische Verwaltungsreformen" veröffentlicht Brockhausen (Franz Deuticke, Wien 1911) sechs in der „Wiener freien staatswissenschaftlichen Vereinigung" gehaltene rechts- und staatspolitische Vorträge unter dem Motto „Das Staatsrecht zerreißt Österreich, die Verwaltung hält es zusammen". Zum Erlebnis des ersten Weltkrieges nimmt Brockhausen mit der Schrift „Österreichs Kriegsziel" (Verlag Ed. Holzel, Wien 1915) Stellung. Er bekennt sich darin in ähnlicher Weise wie Karl Renner und Ignaz Seipel für Österreich zur Idee und europäischen Mission des übernationalen Staates: „ U m seiner eigenen Existenz willen muß Österreich ein Staat der ausgleichenden Gerechtigkeit sein, der die einander widerstrebenden Völker verbindet: ... damit ist Österreich gezwungen, sittlich eine Stufe höher zu stehen als mancher andere Staat... deshalb befinden wir uns in einem gewaltigen Ringen, um die Völkerprobleme des Beisammenseins auf Grund der Gerechtigkeit und Wahrheit zu lösen ... Das unmöglich Erscheinende, die Symbiose der Nationen, hier wird es Ereignis." Die Broschüre „Zur österreichischen Verwaltungsreform" (Wilhelm Braumüller, Wien 1917) faßt 14 während des Weltkrieges veröffentlichte Aufsätze zum Gegenstand zusammen. Die Gedanken, die sich in manchem mit denen Karl Renners berühren, teilen mit diesen das Schicksal, bei den berufenen Staatsmännern unbeherzigt zu bleiben. Mit der Broschüre „Europa 1914 und 1924. Bild und Gegenbild" (Verlag der Literarischen Anstalt, Wien 1924) betritt Brockhausen die weltpolitische Arena. Er zeigt, wie der Friede im Kern Unfrieden und der Keim neuer Kriege ist. Die Schrift wird zum flammenden Appell, aus der Geschichte zu lernen. Die Broschüre „Deutschland im Spiegel der Mittelmächte" (Verlag Reimar Hobbing, Berlin 1926) ist eine Auseinandersetzung mit dem Profes-

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sor der Sorbonne Henri Lichtenberger aus Anlaß von dessen Buch über die derzeitigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und bemüht sich um eine Diskussionsgrundlage, die beiden nationalen Standpunkten gerecht werden und einen Brückenschlag von Nation zu Nation ermöglichen könnte. Die Schrift ,vErdwandel, Seelenwandel und die Volker Europas" (Verlag Rudolf M. Rohrer, Baden bei Wien 1936) ist eine pazifistische Bekenntnisschrift. Aus dem Wandel des Weltbildes, aus der Tatsache, daß die Erde nicht nur als Kugel erkannt, sondern auch für den Verkehr der Völker zur Kugel geworden ist, folgert der Verfasser, daß die vormalige Nachbarn- und Hintermänner-Politik ihren Sinn verloren habe, daß das Sich-Vertragen der Nachbarn nicht bloß ein Gebot der Sittlichkeit, sondern auch der Vernunft geworden sei. Die Schrift war der - durch den neuen Weltkrieg um den besten Sinn gebrachte - literarische Abschiedsgruß des Verewigten an diese Erde.

Starhemberg - der Schatten Mussolinis In der bisherigen Erörterung des Falles Starhemberg ist ein Umstand vermutlich außer acht gelassen worden, der zwar an der nunmehr vom Nationalrat zu entscheidenden Rechtsfrage schwerlich etwas ändert, dagegen bei der ethischen und rechtspolitischen Beurteilung dieses Falles miterwogen zu werden verdient. Das vorbehaltlose Parteiergreifen Starhembergs für die Person und Politik Mussolinis fällt zeitlich mit dem in der Geschichte nationaler Minderheiten einzig dastehenden Ausnahmezustand zusammen, unter dem unsere Südtiroler Brüder und Schwestern ihr Volkstum nur durch einen opferreichen unterirdischen Kampf gegen die faschistische Staatsgewalt aufrechterhalten konnten. Faschistisch und christlich-autoritär In dem Buch des deutschen Geschichtslehrers Paul Herre über die Südtiroler Frage, in Vorträgen von Wiener Universitätsprofessoren über Deutschsüdtirol, unter ihnen der gegenwärtige Universitätsrektor Alfred Verdroß und der Prodekan der Wiener Rechtsfakultät Winkler, in der Schrift „Die Seelennot eines bedrängten Volkes" von Athanasus, die aus kirchlichen Quellen in der Marianischen Vereinsbuchhandlung in Innsbruck herausgegeben worden ist, und in zahlreichen anderen glaubwürdigen Situationsberichten ist die Rechts- und Tatsachenlage dieser Kampfjahre von 1923 bis 1938 unanfechtbar festgehalten. Die gewalttätige Unterdrückung der deutschsprachigen Presse, des deutchen Unterrichtes, der deutschen Predigt und der deutschen Volksbräuche, die Tatsache, daß opferbereite Lehrer, die unter Berufung auf das christliche Naturrecht auf Erziehung in der Muttesprache geheimen deutschen Unterricht erteilt hatten, jahrelang auf den Liparischen Inseln inhaftiert oder

Weltpresse, 1952, Nr. 39, S. 3.

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sonstwie ihrer Freiheit beraubt worden sind, daß die meisten Strafen wegen Verletzung dieses faschistischen Scheinrechtes unter Ausspruch des „Ehrverlustes" verhängt worden sind, hat sogar bei vielen antifaschistisch eingestellten Italienern aller Parteirichtungen Bedauern und Beschämung hervorgerufen und war selbstverständlich den österreichischen Regierungsmännern bis in alle Einzelheiten bekannt. Mochte man auch zur vermeintlichen Abwehr der nationalsozialistischen Gefahr eine Vernunftehe mit dem faschistischen Italien für geboten erachten, so verpflichtete doch das traurige Schicksal der ehemaligen Südtiroler Staatsgenossen zu einer würdigen Zurückhaltung bei den öffentlichen Bekundungen der Schicksalsgemeinschaft zwischen dem faschistischen Italien und dem „christlich-autoritären" Österreich. Die Bedrückung Südtirols Wer öfter und längere Zeit jenseits des Brenners verweilt und mit Südtirolern aus allen Schichten über Erfahrungen und Hoffnungen ihrer Volksgruppe gesprochen hat, der weiß, welche Enttäuschung und Bitterkeit die aus österreichischen und gelegentlich auch aus italienischen Zeitungen durchsickernden Äußerungen Starhembergs und seiner Presse über die Bewunderungswürdigkeit des Duce und die Vorbildlichkeit des italienischen Faschismus für Österreich hervorgerufen haben. Zumal die vorbehaltlose und betonte Zustimmung der Kreise um Starhemberg zu dem faschistischen Krieg in Abessinien, in dem Tiroler Gebirgssoldaten für gut genug befunden worden waren, einer schlechten Sache ihr Leben und ihre Gesundheit zu opfern, konnte, wie ich von Kriegsteilnehmern weiß, bei den unfreiwilligen Helden kein Verständnis finden. Wie konnte man auch von einem System und von einem Mann, die Mussolini hörig waren und ihm nicht einmal das bitterböse, von Seipel einst zurückgewiesene Wort „Österreich ist, was es ist'\ nachtrugen, erwarten, daß sie sich ehrlich und erfolgreich beim nationalen Unterdrücker für die Unterdrückten einsetzen würden? Die Tatsache, daß bis 1938 mehrere Dutzend katholische Geistliche in Südtirol gutgläubig der Nationalsozialistischen Partei beigetreten waren, ist ein Ausdruck des Unglaubens, von der alten Heimat entscheidende morali-

Starhemberg - der Schatten Mussolinis

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sehe Unterstützung zu erhalten, und eines freilich unbegründeten Vertrauens auf Sicherung der tausendjährigen Heimat durch Hitler, der sich aus taktischen Gründen zunächst vom Faschismus Mussolinis distanziert hatte. Der akatholische Mussolini Wie abwegig überhaupt das Beginnen österreichischer Kreise war, alles auf die bekannt wandlungsfähige Karte Mussolinis zu setzen, das erhellt unter anderem aus verschiedenen Stellen der Tagebücher des italienischen Außenministers Grafen Ciano, des Schwiegersohnes Mussolinis. Man beachte nur die Tagebucheintragung über Mussolini: „Er ist heftig über den Papst. Er sagt: ,Ich unterschätze nicht seine Macht, aber er darf auch meine nicht unterschätzen ... Ein Wink von mir würde genügen, den ganzen Antiklerikalismus unseres Volkes zu entfesseln, das nur sehr mühsam einen jüdischen Gott geschluckt hat... Deshalb bin ich akatholisch und antichristlich. 4 " Seipel und die Verfassung Wie naiv war die Vorstellung, in dem erklärten Antichristen Mussolini einen grundsätzlichen Protektor eines erklärtermaßen „christlichen Regimes" zu sehen! Wenn auch die konkrete Äußerung Mussolinis erst später durch Ciano in die Öffentlichkeit gedrungen ist, so konnte man doch seit je von deutschen und italienischen Gewährsmännern erfahren, daß die Gewährung der Staatlichkeit für die Vatikanstadt und die ganze Verständigungspolitik gegenüber der Kirche nur Diplomatie gewesen war, die die katholischen Kreise Italiens dem Faschismus günstig stimmen sollte. Für die Eingeweihten bleibt Starhemberg der Mann, der den Südtirolern bei ihrem nationalen Existenzkampf in den Rücken gefallen ist. Noch ein anderes, fast vergessenes Wort verdient im Hinblick auf die hundertfältige Propagandalüge Starhembergs und seiner Presse, daß die Verfassung der ersten Republik revolutionär und bolschewistisch sei und darum auf welchem Wege immer beseitigt werden müsse, in Erinnerung gebracht zu werden. Professor Ignaz Seipel fand sich nicht nur bereit, als Mitglied des Verfassungsausschusses der verfassunggebenden Nationalversammlung in seinem schriftlichen und mündlichen Bericht aus dem Oktober 1920 die unveränderte Annahme dieser angeblich revolutionären und bol-

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schewistischen, im Jahre 1933 pötzlich auch von österreichischen Ministern für untragbar befundenen Verfassung zu empfehlen, sondern er sprach damals im Oktober 1920 auch das beherzigenswerte Wort, das er in seinem Buch „Der Kampf um die österreichische Verfassung" wiedergibt: „Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß. Dies ausdrücklich festzustellen, war damals viel weniger im Hinblick auf die Gefahr einer sogenannten Reaktion notwendig, als mit Rücksicht darauf, daß die Gefahr drohte, es könnte die demokratische Herrschaft durch die Diktatur einer einzelnen Klasse ersetzt werden." Ironie der Geschichte, daß die Diktatur von der entgegengesetzten Seite, und zwar vor allem durch die Schrittmacherrolle Starhembergs, gekommen ist. Nach bösen Lehrjahren hat die Masse des österreichischen Volkes im Jahre 1945 zu dem Bekenntnis des Jahres 1920 zurückgefunden, wie der einhellige Beschluß beweist, „Österreich im Geiste der Verfassung 1920 zu erneuern". Man kann aber nicht daran zweifeln, daß Starhemberg, der Totengräber der österreichischen Demokratie, ihr Feind geblieben ist.

Frantisek Weyr f Am 29. Juni 1951 ist, über 72 Jahre alt, der tschechische Rechtslehrer Dr. Frantisek Weyr, Professor des Staats- und Verwaltungsrechts an der Masaryk-Universität in Brünn, dortselbst gestorben. Weyr wurde als Sohn eines Professors der (deutschsprachigen) Technischen Hochschule in Wien am 25. April 1879 geboren und hat in Wien seine Schulbildung einschließlich des Universitätsstudiums genossen. Schon durch diesen Bildungsgang wurde er in den deutschen Kulturkreis eingeführt. Seine Schriften, die er zum guten Teil in deutscher Sprache verfaßt hat, sind auch ein eindeutiger Beweis dafür, daß er zeitlebens ohne Rücksicht auf die politische Entwicklung dem deutschen Kulturkreis innerlich verbunden gewesen ist, wofür namentlich das immer wiederkehrende Bekenntnis zu Immanuel Kant als die für ihn höchste philosophische Autorität bezeichnend ist. Weyr hat außerdem auch in einer Zeit, als dies in chauvinistischen Kreisen seines Vaterlandes Anstoß erregen konnte, an dieser Zeitschrift geradezu ständig mitgearbeitet. Darüber hinausgehend hat Weyr die von Alfred VerdroßDroßberg herausgegebene Festschrift zum 50. Geburtstag Hans Kelsens („Gesellschaft, Staat und Recht", Wien, Julius Springer, 1931), als „höchst dankenswerte Gelegenheit zu einer offiziellen wissenschaftlichen Konfession" benützt. Alles zusammen begründet die Ehrenpflicht unserer Zeitschrift, dieser Persönlichkeit von einem leider aussterbenden Typus zu gedenken: Die seelische Kreuzung des Ost- und Westeuropäers, wie sie besonders das österreichische Vielvölkerreich ohne Entnationalisierungspolitik durch kulturelle Assimilation in zahlreichen Fällen wirklich, die selbstmörderischen Kriege der abendländischen Völker aber durch die Aufrichtung politischer und kultureller Scheidewände beinahe unmöglich gemacht haben; denn heute würde eine solche komplexe Persönlichkeit in beiden Hemisphären des aus seiner geistigen und politischen Herrscherrolle entthronten Europa heimatlos sein, ja vielen geradezu als Verräter erscheinen.

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 5 NF (1953), S. 5-14.

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Das Massenschicksal der Vertreibung von 12 bis 14 Millionen deutschsprachigen Menschen aus ihrer oft seit vielen Jahrhunderten innegehabten Heimat im östlichen Europa hat bei zahllosen Angehörigen der betroffenen Nation, gewiß auch bei Lesern dieser Zeitschrift, zumindest solchen des Auslandes, die Erwartung ausgelöst, daß auf die Dauer dieser ungerechten Pauschalhaftung Unschuldiger für die Haltung des Hitler-Reiches Angehörige der aus diesem Landraub profitierenden Herren Völker unbeachtet bleiben soll. Eine abendländisch eingestellte Rechtszeitschrift kann sich jedoch diesen Standpunkt einer kollektiven Talion nicht zu eigen machen. Zumal nicht bei Weyr, der bei aller Treue gegenüber seinem Volke - dessen Unabhängigkeitsverlangen gegenüber der geschichtlich gegebenen österreichischen Staatsgemeinschaft er bedingungslos gutgeheißen hat - die Rechtspflicht der rechtlichen und tatsächlichen Gleichbehandlung der nationalen Minderheiten mit dem tschechischen Staatsvolk ernst genommen und den darin verankerten hochschulpolitischen Forderungen der deutschen Minderheit Gehör geschenkt und Unterstützung geliehen hat. Unter diesen Umständen darf der Verfasser dieses Nachrufes gegenüber latenten Kritikern seiner Würdigung des um seine Wissenschaft und um das deutsche Volk verdienten tschechischen Gelehrten, dem das nationalsozialistische Reich durch die Schließung der tschechischen Hochschulen jede berufsmäßige Wirkungsmöglichkeit genommen hatte, für sich den guten Glauben in Anspruch nehmen, daß sich Weyr mit der unterschiedlosen Austreibung der staatspolitisch nicht für erwünscht befundenen deutschen Staatsgenossen nicht identifiziert habe.1 Die nachstehende Würdigung kann dem Schrifttum des Verstorbenen nur teilweise gerecht werden, denn sie muß sich auf die sprachlich zugänglichen Schriften Weyrs beschränken. Vor den chronologisch gebrachten theoretischen Schriften Weyrs sei eine für die Kennzeichnung der Persönlichkeit bedeutsame rechtspolitische Bekenntnisschrift vorweggenommen. Ein ethisches und rechtspolitisches Bekenntnis seiner Auffassung vom richtigen Bau des Staates, in den er hineingeboren ist, legt Franz Weyr in seiner Antwort auf die u.a. auch an ihn gerichtete „Rundfrage der Zeitschrift des

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Eine eingeschriebene Zuschrift des Verfassers an Professor Weyr aus der Zeit unmittelbar nach Einrichtung des sogenannten Protektorates ist als unbestellbar zurückgekommen.

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öffentlichen Rechts" im Jahre 1916 ab. Die Frage war unter dem Titel „Die Stellung der Kronländer im Gefüge der österreichischen Verfassung" dahin gegangen, „ob die Autonomie der Länder als historischer Individualitäten fort- oder rückgebildet, oder ob sie gänzlich beseitigt werden und welche Änderung der Organisation vorgeschlagen werden soll". Diese Frage war eine Teilfrage, zugleich aber die Kernfrage des Problemkreises der Neugestaltung der Verfassung und Verwaltung Österreichs. Die Herausgeber der Zeitschrift für öffentliches Recht sagen an der Spitze des Sonderheftes „Länderautonomie", daß sie „infolge der Kriegsereignisse dringlicher als je geworden und auch mit besserer Hoffnung auf gedeihliche Lösung in das Bewußtsein aller vaterländisch Gesinnten" getreten sei. Mit einer unter Kriegsverhältnissen unüberbietbaren Deutlichkeit enthüllt hier Weyr seinen Standpunkt, der für den zwischen den Zeilen Lesenden nur bedingt im Vielvölkerreich, bei Nichterfüllung der Bedingungen aber in einem künftigen tschechischen Nationalstaat gelegen ist. Der Verfasser geht von der Annahme eines wesenhaften (nach der unausgesprochenen Meinung des Verfassers, unüberbrückbaren) Interessengegensatzes zwischen dem Staat und seinen Volksstämmen aus: „Die des Staates könnte man charakterisieren als das Bestreben nach möglichster Konsolidierung und Einheitlichkeit, also Zentralisierung im allgemeinen. Diesem Bestreben stehen die Interessen der einzelnen Nationalitäten durchaus feindlich gegenüber. Sie richten sich vor allem einerseits auf Erhaltung, Pflege und Fortschritt der Nationalsprachen, anderseits auf die Erhaltung, Pflege und den Fortschritt aller Nationalgüter, die man allgemein nationale Kulturgüter nennen könnte." Wenn man bedenkt, daß nicht der abstrakte und auch kein konkreter Staat, sondern nur Menschen „Interessen", das sind psychische Erlebnisse, haben können, und daß in den verschiedenen geschichtlichen Staaten, auch in den so verschieden organisierten gemischtnationalen Staaten, die Interessenlage nicht einheitlich ist, kann die gewollt allgemein gehaltene These von der Unvereinbarkeit der Interessen im gemischtnationalen Staat nur eine Aussage über die Verhältnisse von Österreich des Jahres 1917 - d.h. der Zeit seines Gutachtens - machen, und zwar im Sinne der allgemein gehaltenen Aussage: die Interessen der einzelnen Nationalitäten sind untereinander und mit der Staatsführung trotz der von der Verfassung versuchten und vorgeschützten Interessenharmonie unvereinbarlich.

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Die Abhandlung „Das Verfassungsrecht der tschechoslowakischen Republik", Bd. I I der Zeitschrift für öffentliches Recht, 1921, will den ausländischen Lesern Einblick in Entstehung und Inhalt der tschechoslowakischen Staatsverfassung geben, legt aber außer dieser mit den international erprobten Erkenntnismitteln bestens erfüllten Erkenntnisaufgabe auch für den theoretischen Standpunkt des Verfassers Zeugnis ab. Mit nicht allgemein anzutreffender Klarheit setzt Weyr für die Staatsgründung das Zusammentreffen eines neuen Rechtsnormenkomplexes mit einer bestimmten Tatsachenlage voraus. „Der am 28. Oktober 1918 vollzogene politische Umsturz hat in dem ersten Gesetz des Nationalausschusses vom 28. Oktober 1918 seinen normativen Ausdruck gefunden." Nur weil die Forderungen dieses revolutionären Zirkels zunächst wenigstens im Siedlungsraume des tschechischen und des slowakischen Volkes2 allgemeine Bereitschaft zum Gehorsam angetroffen haben, war die Verkündung dieser Forderungen die Geburtsstunde eines neuen Staates, und der Inbegriff dieser Forderungen nicht ein utopisches Programm, sondern eine gültige Staatsverfassung. Eine theoretische Schwierigkeit bestand nur darin, daß das Staatsgebiet dieses Staates auch von Weyr von Anbeginn in dem von den Staatsgründern angenommenen Umfang angenommen wurde, obwohl die nationalen Minderheiten in Übereinstimmung mit Gesetzen dieser Staaten zunächst die Zugehörigkeit zur Republik Österreich und dem Königreich Ungarn in Anspruch genommen hatten und ihr Staatsgehorsam gegenüber dem tschechischen Staate erst allmählich durch Machtmittel erzwungen werden mußte. Der kriegsbedingte Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie hatte eben außer den eindeutig bestimmten Neustaaten zugehörigen Gebietsteilen solche Gebiete entstehen lassen, die von zwei Staaten in Anspruch genommen worden sind und infolge der Ungeklärtheit der Gehorsamsfrage vielleicht zunächst als staatenlos angesehen werden konnten. Auf die Frage der Staatsgründung kommt Weyr außer an anderen minder beachtlichen Stellen in seiner bedeutsamen Besprechung des Grundrisses des tschechoslowakischen Staatsrechtes von Ludwig Adamovich (damaligem Professor der deutschen Universität in Prag) zurück (Zeitschrift für

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Weyr ist sich dessen bewußt, daß es sich um zwei Volksstämme handelt.

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öffentliches Recht, Bd. X, S. 141 ff.). Er anerkennt an diesem Werk, das „der Absicht des Verfassers gemäß keine theoretische Arbeit" sei, „die im großen und ganzen objektive und richtige Art der Darstellung auch an jenen Punkten, die auf das engste mit der leidigen Politik zusammenhängen", entwickelt aber (in durchaus maß- und respektvoller Polemik gegen den rezensierten Autor) bestimmte Anschauungen, die für seine (Weyrs) grundsätzliche Staatsauffassung kennzeichnend sind. Gegen „die bekannte These von der Entrechtung' der in der revolutionären Nationalversammlung nicht vertretenen Nationen, insbesondere der Deutschen", wendet Weyr ein, daß eine „erfolgreiche Revolution in jedem Falle eine Entrechtung deijenigen Elemente bedeutet, gegen die sie gerichtet war" 3 . „ I m gegebenen Falle könnte daher lediglich die Frage strittig sein, ob es politisch ratsam war (vom rein juristischen Standpunkte kann über die Zulässigkeit des gewählten Vorganges kein Zweifel herrschen), die sogenannte - definitive - Verfassungsurkunde von der revolutionären Nationalversammlung, also mit Ausschluß der nichttschechoslowakischen Nationen, beschließen zu lassen. Diese Frage muß ich mit Rücksicht auf die damaligen politischen Verhältnisse, weiters im Hinblick auf den zweifellos nationalen Charakter der tschechoslowakischen Revolution, die unter anderem auch gegen die deutsche Nation gerichtet war, sowie endlich auf die technische Unmöglichkeit einer raschen Durchführung von allgemeinen Parlamentswahlen, die ihrerseits wieder die Schaffung einer notwendigerweise durch die revolutionäre Nationalversammlung zu beschließenden (daher oktroyierten oder entrechtenden) Wahlordnung voraussetze, unbedingt bejahen." Man geht nicht fehl, wenn man in diesen in deutscher Sprache gebrachten staatstheoretischen und staatspolitischen Ausführungen den Kern der ausführlichen tschechischen Werke Weyrs zum tschechoslowakischen Staatsrecht erblickt. Die erste theoretische Schrift Weyrs ist unter dem Titel „Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems" im „Archiv für öffentliches Recht" (1908) erschienen. Der Verfasser vergleicht das Dogma der Zweiteilung des

3 Es kann wohl nur eine Entrechtung im rechtspolitischen, nicht im juristischen und rechtstheoretischen Sinne gemeint sein, weil eine revolutionäre Verfassung nicht Rechtsvollzug, sondern Schöpfung einer neuen Verfassung bedeutet.

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Rechts mit den am besten fundierten Lehrsätzen der Naturwissenschaften, „die bereits so ausgemacht sind, daß kein Verständiger an ihrer Richtigkeit zweifeln kann". Er selbst jedoch zieht diese Zweiteilung des Rechtsganzen mit Gründen in Zweifel, die eine unbewußte Vorwegnahme des Kerns der „Reinen Rechtslehre" bedeuten. Das erste literarische Bekenntnis zur Reinen Rechtslehre in jener Fassung, die in Hans Kelsens rechtstheoretischer Erstlingsschrift „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" (Tübingen 1911) verkörpert ist, legt Weyr in dem knappen Aufsatz „Über zwei Hauptpunkte der Kelsenschen Staatsrechtslehre" ab (Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart von C. S. Grünhut, 40. Bd., Wien 1914, S. 175 ff.) Der Verfasser geht hier von der Erfahrung aus, daß sich juristische Schriftsteller oft überhaupt nicht verstehen; nicht weil sie über den nämlichen Gegenstand verschiedener Meinung sind, sondern weil sie bewußt oder unbewußt unter dem Titel der Jurisprudenz verschiedene Gegenstände behandeln. Die Qual des Lesenden sei unerträglich, wenn er selbst eine ausgesprochene Vorliebe für juristische Denkungsart habe, „während der Schreiber eher Soziologe, Psychologe oder Sozialethiker" sei, „sein Werk aber trotzdem ein juristisches sein soll" (S. 176). Gegenüber dieser Einstellung zu dem genannten juristischen, oder wie Weyr meint, pseudojuristischen Schrifttum, erscheinen ihm die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" Hans Kelsens geradezu als Offenbarung und er nennt sie nach dem bekannten Vorbild „Kritik der reinen juristischen Vernunft". Es ist die Reinigung der Rechtserkenntnis von naturrechtlichen, soziologischen und (sonstigen) naturwissenschaftlichen Ausführungen. Die formelle Jurisprudenz kenne weder Zwecke noch Gesetze der Entwicklung, für sie könne nichts modern oder unmodern sein, ihr einziger Gegenstand sei „die positive Rechtsordnung". Ein Jurist, der sich mit anderem als der Analyse und der Systematisierung dieses Gegenstandes befasse, sei dabei ebensowenig Jurist als beim Flötenblasen oder Geigenspielen. „Ein Verfassungsbruch, eine Revolution wird juristisch' konstruiert; evident gegen das Gesetz verstoßende Entscheidungen von Gerichten, welche allenfalls im besten Glauben dem sogenannten Zuge der Zeit folgen, werden juristisch fundiert - und man merkt nicht, daß durch diese Methode das ganze Gebäude der Jurisprudenz ins Wanken gerät. Teleologische Gesichtspunkte sind

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entscheidender als juristische." Mit dieser Kritik der zu seiner Zeit herrschenden Lehre mutet freilich Weyr der Rechtswissenchaft mehr zu, als die Reine Rechtslehre von heute wahrhaben will, nämlich eine maßgebliche Kritik des Handelns der obersten, bzw. zuletzt entscheidenden Staatsorgane an der Hand der dem Rechtswissenschafter vorschwebenden juristischen Wahrheit. Alles in allem bedeute Kelsens Werk ein „Sich-auf-sich-selbstBesinnen" der Jurisprudenz. Im Bezug auf die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht erhebt Weyr unter Hinweis auf die vorzitierte Arbeit einen Prioritätsanspruch, billigt aber Kelsen die treffendere Formulierung der theoretischen Unhaltbarkeit jenes Rechtsdualismus zu. Die Gliederung des Rechts in privates und öffentliches Recht sei besonders darum keine wahre Gliederung des Rechts, weil unter der Maske von zwei Rechtsbereichen Rechtsund Gewaltverhältnisse einander gegenübergestellt würden. Die Antikritik der Kritik der Reinen Rechtslehre von Seite Dr. Wilhelm Jockels in dessen Buch „Hans Kelsens rechtstheoretische Methode" gibt Franz Weyr die Gelegenheit zum entschiedensten Bekenntnis für die Reine Rechtslehre und zu einer zusätzlichen Klärung vieler ihrer umstrittenen Positionen (Zeitschrift für öffentliches Recht, 1931, S. 458 ff.). Aus dieser ausführlichen Besprechung, die im Wesen eine grundlegende Abhandlung darstellt, darf zum mindesten die scharfe Abrechnung mit den Vorwürfen der Minderbewertung des Stoffes oder der Geringschätzung des empirischen Faktors von Seiten der Reinen Rechtslehre hervorgehoben werden. Es handle sich voraussetzungsgemäß hierbei nicht um Gegenstände der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis, ähnlich wie es für die Mathematik belanglos sei, ob ihr System von Zahlen zur Zählung von Münzen, Lebewesen und dergleichen verwertet werde. Der Beitrag Weyrs für die Festschrift zum 50. Geburtstag Hans Kelsens (siehe oben) hat das Thema „Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht" zum Gegenstand. Die wissenschaftliche Leistung dieser Monographie liegt in der Hauptsache darin, daß das Verwaltungsrecht des bisherigen Schrifttums als das Tummelfeld metajuristischer Bewertungen durchleuchtet wird. Die juristische Person, um die sich die Rechtstheorie und die Jurisprudenz des Verwaltungsrechts drehe, ist der Staat, der aber dank seiner Bedeutung, Würde und Stärke, dank seiner Einzigartigkeit und Großartigkeit, hoch über

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seinen Gegenspieler, den „simplen Untertan" gestellt werde. Trotz Rechtsstaat gelte der „Untertan" als dem Staate, aber auch dem physischen Repräsentanten, dem Herrscher, und endlich dem Rechte „Untertan". Eine zur juristischen Selbstbesinnung gelangte Wissenschaft von der Verwaltung muß nach Weyr diese als ein System von Rechtsverhältnissen erkennen, wie es übrigens der Verfasser dieses Nachrufes in seinem Allgemeinen Verwaltungsrecht (Springer-Verlag, Berlin-Wien, 1926) versucht hat. Der Aufsatz „Natur und Norm" (Revue Internationale de la Théorie du Droit, 6. Jahrgang, Heft 1) stellt allgemeine Betrachtungen über die Dignität wissenschaftlicher Erkenntnisobjekte an und bekennt sich zur werthaften Parität der Objekte der Naturwissenschaften und der Normwissenschaften. Damit dient Weyr der philosophischen Grundlegung des Dualismus der Erkenntnisgegenstände, bzw. der Erkenntnismethoden, wie ihn die Reine Rechtslehre zur Voraussetzung hat. Ein Spezialproblem des Verwaltungsrechts, das allerdings zum Teil über dieses Sondergebiet hinausgreift, behandelt Weyr in seiner Abhandlung „Zur Lehre von den konstitutiven und deklaratorischen Akten" (Bd. V I I I der Zeitschrift für öffentliches Recht). In breiter Beweisführung kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß die Begriffe konstitutiv und deklaratorisch nicht der normwissenschaftlichen, sondern der kausalwissenschaftlichen Ebene angehören und daß sie daher im rechtswissenschaftlichen System fehl am Platz seien. Hier werde nichts verursacht, bewirkt, erzeugt, also konstituiert. (Diese Erklärung des Wortsinns hindert indes nicht, daß die fraglichen Ausdrücke bildlich oder analog für Rechtsverfahren oder Rechtsergebnisse verwertet werden, und zwar mit der Sinngebung, daß konstitutiv jene Verfahren oder Akte genannt werden, die ein Novum in der Rechtswelt darstellen, deklaratorisch dagegen jene Akte, die eine bestehende Rechtslage oder Tatsachenlage authentisch feststellen.) Die Abhandlung „Rahmengesetze" mit dem Untertitel „Studie aus dem österreichischen Verfassungsrechte" ist als 3. Heft des XI. Bandes der von Edmund Bernatzik und Eugen von Philippovich herausgebenen Wiener Staats wissenschaftlichen Studien im Jahre 1913 im Verlag Franz Deuticke in Wien erschienen. Die theoretische Leistung dieser Schrift besteht in der Klärung des in der Theorie und Praxis in vielen Bedeutungen schillernden Begriffes des Rahmengesetzes.

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Die selbstverständliche, von Weyr nicht ausdrücklich ausgesprochene Voraussetzung einer solchen Untersuchung ist die Einsicht, daß die Rechtswissenschaft allgemeingültige Rechtsbegriffe nicht zu erkennen, sondern sie nach Zweckmäßigkeitsgründen zur Erfassung des rechtlichen Erfahrungsstoffes willkürlich zu setzen hat. Dagegen ist es eine rechtswissenschaftliche Erkenntnisaufgabe wie jede andere, mit den Mitteln der objektiven und subjektiven Auslegung den Sinn zu ergründen, den das gesatzte Recht, etwa eine Staatsverfassung, mit dem von ihr verwendeten Ausdruck „Rahmengesetz" verbindet. Ein Gesetz, welches die nähere Ausführung von Bestimmungen den „Verordnungen" überläßt, wird niemals ein Rahmengesetz genannt, obwohl dies die reine Wortbedeutung nicht ausschließen würde. Die beiden Hauptfälle der Rahmengesetze seien, daß entweder ein und dasselbe gesetzgebende Organ berufen ist, in zwei selbständigen (komplementären) Gesetzen den Gegenstand zu regeln oder daß die Erlassung des Durchfuhrungsgesetzes einem anderen gesetzgebenden Organ als dem Schöpfer des Rahmengesetzes überlassen sei. Ein Sonderfall dieses zweiten Typus ist durch ein „Junktim" zwischen beiden Gesetzen von der Art gekennzeichnet, „daß die Gültigkeit (Wirksamkeit) des Rahmengesetzes von dem Zustandekommen des bezüglichen Durchführungsgesetzes abhängig gemacht wird". Der rechtstheoretische und rechtsdogmatische Gedankengang der Arbeit mündet in das rechtspolitische Werturteil, wonach das Schlußresultat, zu dem die theoretische Beurteilung der österreichischen Rahmengesetze gelange, „ein durchaus unerfreuliches" sei. „Der eigentliche Zweck der Rahmengesetze ist nicht der in den Motivenberichten oft wiederkehrende Grund der Berücksichtigung wirtschaftlicher und sonstiger Verschiedenheiten der Länder, sondern im Gegenteil die Absicht, das österreichische Recht möglichst zu unifizieren ... Die rechtliche Bindung einer gesetzgebenden Körperschaft durch eine andere, ihr nach der Verfassung koordinierte, ist begrifflich undenkbar. [Gemeint ist eine Bindung der Landtage durch den Reichsrat.] Die österreichische Praxis hält trotzdem an der Möglichkeit einer solchen Bindung fest und bringt dieselbe auch zur tatsächlichen Geltung, und zwar mit Hilfe des dem Monarchen zustehenden Sanktionsrechts." (Vgl. auch die Besprechung dieser Schrift von Weyr durch Alfred Verdroß, Zeitschrift für öffentliches Recht, 2. Jahrgang, 1916, S. 384 ff.) Der Aufsatz „Politik als Kunst und Wissenschaft" (Bd. V der österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht) befaßt sich andeutend mit der

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vorwiegend im deutschen Schrifttum beliebten Deutung der Politik als Kunst und Wissenschaft (womit streng genommen zwei verschiedene Gegenstände mit einem irreführend identischen Namen bezeichnet werden). Weyr wendet sich gegen beide Sinngebungen der „Politik", wie sie namentlich in den Aufsätzen Pilotys, „Politik als Wissenschaft", und Onckens „Politik als Kunst", zum Ausdruck kommen, wobei Weyr auch ausdrücklich zu Masaryk in Gegensatz tritt, wie überhaupt die tschechisch-politische Literatur unter dem Einfluß des deutschen Schrifttums die „Politik ausdrücklich für eine Kunst und Wissenschaft erklärt". Dagegen befindet sich Weyr in wenigstens teilweiser Übereinstimmung mit Bismarck, der da sagt: „die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele Professoren sich einbilden". Immerhin anerkennt Weyr doch die Möglichkeit einer theoretischen Befassung mit der Politik, die gegenständlich und methodisch von einer Staatslehre verschieden ist. „Als praktische Wissenschaft oder Disziplin hätte also die Politik ein System von Normen (im Sinne von praktischen Anweisungen) für die politische Tätigkeit aufzustellen, ganz ebenso wie die einzelnen »Technologien' Anweisungen zur rationellen Erzeugung gewisser Gegenstände (Bier, Zucker usf.) erteilen. Sie wird dadurch natürlich nicht zu einer theoretischen Norm Wissenschaft (wie z.B. die Jurisprudenz), weil die normativen Wissenschaften eben nicht Normen aufzustellen, sondern lediglich ein gegebenes Normensystem zu erkennen haben." Fragt sich nur, ob eine Theorie der Politik nomothetisch sein muß oder ob sie nicht normativ in dem Sinne sein kann, daß sie von bestimmten politischen Persönlichkeiten oder sozialen Strömungen verfolgte Ziele (Programme) in ein System bringt. Die mit viel Ironie angeprangerte falsche Einschätzung der Politik erklärt Weyr im folgenden aus der Überschätzung des Staates. „Der Staat als Gemeinwesen, als der Inbegriff aller öffentlichen 4 (a contr. privaten) Angelegenheiten, ist der Fetisch aller Theoretiker, die eben darum in der Politik nicht nur die »höchste4 Wissenschaft, sondern auch die ,höchste4 Kunst erblicken. Nur aus dieser Anbetung jenes Gegenstandes als des schlechthin »höchsten4, wichtigsten und großartigsten, den es auf der Welt überhaupt gibt, läßt sich erklären, warum die politische Theorie in dem Manne, der sich erfolgreich auf dem Gebiete der öffentlichen Angelegenheiten betätigt, einen genialen, wenn nicht geradezu den genialsten Künstler erblickt ... Nichts als die den wahren Kulturmenschen so philiströs anmutende Über-

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Spannung der Wichtigkeit öffentlicher, d.h. uns alle gemeinsam angehender Angelegenheiten, konnte es zustande bringen, in dem bloßen politischen Talente, und wenn es auch das eminenteste wäre, etwas Größeres zu sehen als in dem wissenschaftlichen (philosophischen) oder künstlerischen Genie!" Der Aufsatz ist weniger wegen des Versuches einer Lösung des Problems, sondern wegen des weltanschaulichen Bekenntnisses bemerkenswert. „ M i t den verschiedenen Bemerkungen sollte ... lediglich ein Kredo zur individuellen Weltanschauung abgelegt und die eigentlichen Beweggründe für die auffallende Hochschätzung, deren sich die Politik als praktische und theoretische Tätigkeit erfreut, aufgezeigt werden." Der Aufsatz „Zum Begriff der Promulgation" (Bd. V I der Zeitschrift für öffentliches Recht) kommt nach einer Worterklärung dieses für den Weg der formellen Gesetzgebung charakteristischen Staatsaktes und einer teilweisen rechtsvergleichenden Untersuchung der staatsrechtlichen Verwendung dieser Einrichtung zu dem Ergebnis, „daß eine spezielle Institution der Gesetzespromulgation vom legislativpolitischen Standpunkt von sehr problematischem Wert ist. Sie neigt ihrem eigentlichen Wesen nach dazu, ein,bloßer Formalakt' oder eine rein dekorative Funktion des mit ihr betrauten Staatsorgans zu werden, d.h. mit anderen Worten: zu einer Beurkundung im weiteren Sinn herabzusinken, die sich aber, wie bereits erwähnt wurde, von selbst versteht." Die im Vergleiche mit dem literarischen Gesamtwerk Frantisek Weyrs höchst fragmentarische Würdigung des Verstorbenen läßt immerhin die Reichhaltigkeit seiner wissenschaftlichen Interessen, die Originalität seiner oft von Ironie gesättigten Formulierungen, ferner seine Überzeugung erkennen, daß nicht bloß der Rechtstheoretiker, sondern auch der Rechtswissenschafter immer zu den Wurzeln des Denkens herabsteigen müsse und daß auch die Wissenschaft vom Staat und Recht ein internationales Phänomen ist. Anhangsweise sei nur bemerkt, daß sich in der Persönlichkeit Weyrs ein ausgezeichneter Theoretiker und Praktiker zusammengefunden haben und daß er neben seinem mit fruchtbarster literarischer Tätigkeit verbundenen jahrzentelangen Lehramt an der Masaryk-Universität das Amt eines Präsi-

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denten des Statistischen Zentralamtes der tschechoslowakischen Republik bekleidet hat. Verzeichnis der selbständigen Werke Weyrs in tschechischer Sprache: Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände, 1908. Österreichisches Patentrecht, 1917. Der Kampf der Gegenwart um ein neues Völkerrecht, Brünn 1919. Kurze Auslegung der Verfassung der Tschechoslowakischen Republik, Brünn 1919. Die Wahlordnung in das Abgeordnetenhaus, Brünn 1920. Grundlagen der Rechtsphilosophie, Brünn 1920. System des tschechoslowakischen Staatsrechtes, Brünn 1920,2. Aufl. 1924. Tschechoslowakisches Verwaltungsrecht I, Brünn 1922. Über die soziologische Methode, Brünn 1927. Immanuel Kant, Prag 1924. Die Verwaltungsordnung, Brünn 1930. Die Ordnung der Rechtsstellung der politischen Parteien, Brünn 1924. Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht, Prag-Brünn 1935. Die Theorie des Rechts, Brünn 1936. Die Autonomie der Hochschulen und die Freiheit der Forschung, Prag 1937. Tschechoslowakisches Staatsrecht, Prag 1937. Einführung in das Studium der Rechte (Die normative Theorie), Brünn 1946.

Nekrolog für Ludwig Adamovich Am 23. September 1955 starb in Wien der ordentliche öffentliche Professor für Allgemeine Staatslehre, Österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht Dr. jur. Ludwig Adamovich. Am 30. April 1890 kam Ludwig Adamovich in Essegg in Kroatien, also im Herrschaftsbereich des damaligen Königreiches Ungarn, als Angehöriger einer Familie zur Welt, aus der hauptsächlich Offiziere und Juristen im öffentlichen Verwaltungsdienst hervorgegangen sind. Sie haben alle nach dem Bekenntnis des Verstorbenen dem deutschen Kulturkreis angehört. Im Alter von drei Jahren kam Adamovich mit seinen Eltern nach Wien, das er seither als seine eigentliche Heimatstadt betrachtet und geliebt hat. Adamovich besuchte mit vorzüglichem Erfolg das Klostergymnasium in Kalksburg bei Wien. Er dankte in seiner Art der Bildungsanstalt, die durch acht Jahre sein Wissen und seinen Charakter geprägt hat, dadurch, daß er später die Funktion des Obmannes im Vereine der Freunde des humanistischen Gymnasiums übernommen hat. Im Oktober 1908 bezog er nach der mit Auszeichnung abgelegten Reifeprüfung die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien und war durch vier Jahre einer ihrer fleißigsten und erfolgreichsten Hörer. Er selbst bekennt, am stärksten durch die beiden Professoren des öffentlichen Rechts Edmund Bernatzik und Adolf Menzel beeindruckt gewesen zu sein. Am 28. Februar 1913 wurde Adamovich zum Doktor der Rechte promoviert. Vor dem schon damals beabsichtigten Eintritt in den staatlichen Verwaltungsdienst erfüllte er seine Wehrpflicht als Einjährig-Freiwilliger. Von dieser friedensmäßigen Verwendung rückte er nach Ausbruch des ersten

In: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1955/56, Wien: Selbstverlag der Universität Wien 1956, S. 58-64.

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Weltkrieges unmittelbar zur k.u.k. Armee ein und stand bis zum Abschluß der Feindseligkeiten im November 1918 bei der schweren Artillerie ununterbrochen, zuletzt als Oberleutnant in der Reserve, im militärischen Einsatz. Nach der Entlassung aus dem Militärverband trat Adamovich noch im Jahre 1918 in den Verwaltungsdienst des Landes Niederösterreich, stand zunächst bei einer Bezirkshauptmannschaft, sodann beim Amt der Landesregierung in Wien in Verwendung und erwarb sich durch Ablegung der praktischen Prüfung für den höheren Verwaltungsdienst die gesetzliche Eignung für den juristischen Verwaltungsdienst. A m 1. Dezember 1920 wurde er vom damaligen Bundeskanzler Dr. Michael Mayr in das Bundeskanzleramt einberufen, dem er durch sieben Jahre als Beamter des sogenannten Verfassungsdienstes angehörte. Die Erfahrungen, die Adamovich als vielseitig erprobter Beamter in allen drei Stufen der staatlichen Verwaltung zu sammeln Gelegenheit hatte, hat er als unentbehrliche Voraussetzung für die wissenschaftliche Befassung mit der Verwaltung erachtet, weil erst durch eine solche praktische Bewährung die unübersehbare Fülle der Verwaltungsvorschriften als sinnvolle Ordnung erfaßt werden könne. Die amtliche Berührung mit Hans Kelsen machte diesen in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung auf den ungewöhnlich gesetzeskundigen und entwicklungsfähigen jungen Verwaltungsbeamten aufmerksam und trug ihm das Anerbieten Kelsens ein, ihn auf Grund einer Darstellung der so originellen österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu habilitieren. Im Jahre 1924 wurde Adamovich dank der verständnisvollen Verwirklichung dieses Vorschlages des damaligen österreichischen Staatsrechtslehrers zum Privatdozenten für Allgemeine Staatslehre und Österreichisches Staatsrecht an der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät bestellt. Im Oktober 1926 trat er als Nachfolger von Ludwig Spiegel die Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an der Deutschen Universität Prag an. Obgleich Adamovich seine Zugehörigkeit zu dieser altehrwürdigen ältesten Hochschule deutscher Sprache zu seinen schönsten akademischen Erinnerungen gerechnet hat, leistete er aus persönlichen Gründen bereits am 1. Oktober 1928 dem Ruf an die Universität Graz Folge. Am 1. Oktober 1934 vertauschte er dieses Lehramt mit dem gleichen Lehramt an der Universität Wien. Mittlerweile war Adamovich im Jahre 1930 zum Mitglied des Verfassungsgerichtshofes ernannt und vom Gerichtshof zum ständigen Referenten gewählt worden. Der Systemwechsel in der Republik Österreich, den die Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und

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als dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg durchgeführt haben, brachte für Adamovich auch eine politische Mission als Mitglied des durch die Maiverfassung 1934 geschaffenen Staatsrates und des Bundestages, wobei er sich freilich nicht als politischer Funktionär, sondern als juristischer Fachmann betrachtet und betätigt hat. Nach einem nicht ganz einmonatigen Zwischenspiel als Bundesminister für Justiz wurde Adamovich - unter den gegebenen Umständen völlig im Sinne seiner eigenen Absichten - unter der am 13. März 1938 begründeten nationalsozialistischen Herrschaft aus dem Universitätsleben und um so mehr aus jeder politischen Tätigkeit auf die Dauer dieses Regimes ausgeschaltet, wobei freilich seine bewährte allseitige Korrektheit und Gerechtigkeit durch eine gewissermaßen respektvolle Duldung seiner Persönlichkeit anerkannt worden ist. Nach der siebenjährigen unfreiwilligen Arbeitspause stellte sich Adamovich unmittelbar nach dem Sturz der nationalsozialistischen Herrschaft der Universität Wien und der Staatsregierung zur Verfügung. A m 1. Mai 1945 nach den wieder in Kraft gesetzten österreichischen akademischen Vorschriften zum Rektor der Universität Wien gewählt, hatte er die Genugtuung, daß diese seine Heimatuniversität als erste österreichische Unterrichtsanstalt bereits im Mai 1945 den Studienbetrieb eröffnet hat. Durch fünf Semester führte er unter den schwierigsten Verhältnissen, die jemals die Wiener Universität zu bestehen hatte, das Rektorat. In Würdigung des nicht hoch genug zu beurteilenden Verdienstes um die Wiedereröffnung der Universität wählte die österreichische Akademie der Wissenschaften im Oktober 1945 Adamovich zu ihrem wirklichen Mitglied. Schon im Mai 1945 war Adamovich der Einladung des damaligen Staatskanzlers Dr. Karl Renner gefolgt, die Funktion eines verfassungsrechtlichen Beraters der Provisorischen Staatsregierung zu übernehmen. Auch in dieser Eigenschaft hat Adamovich Hervorragendes geleistet; weitaus mehr jedenfalls, als jede sonst in Erwägung gezogene Persönlichkeit hätte leisten können. Er hatte insbesondere Gelegenheit, eine Reihe bedeutsamer Gesetzentwürfe im Dienste der Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich zu verfassen und in den Sitzungen des Kabinettsrates zu vertreten. Seit 1945 gehörte Adamovich wiederum dem neu ins Leben gerufenen Verfassungsgerichtshof an und wurde nach dem Freiwerden der Präsidentenstelle am 19. Juni 1946 zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes

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ernannt. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes trug seither die Signatur seiner in den Geist der österreichischen Verfassung unüberbietbar sich einfühlenden Persönlichkeit an sich. Er selbst bekennt in seiner Selbstbiographie, in dieser richterlichen Aufgabe den seiner Begabung am meisten entsprechenden Wirkungskreis gefunden zu haben. Das wissenschaftliche Lebenswerk von Adamovich ist in mehreren Büchern, die ihre Gegenstände dem österreichischen öffentlichen Recht entnehmen, in Gesetzesausgaben des österreichischen Rechtes und in zahlreichen Aufsätzen beschlossen, die sich ebenfalls fast ausschließlich auf dem Gebiete des österreichischen Rechtes bewegen oder sich mit Problemen der Universität befassen. Die Habilitationsschrift „Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof 4 (1924) behandelt um vieles gründlicher und umfassender als dasselbe Thema betreffende ältere Schriften anderer Autoren die Rolle des höchsten österreichischen Gerichtes als Garant der Verfassung. Das Werk hat erstmals die originellste kodifikatorische Schöpfung der österreichischen Bundesverfassung des Jahres 1920 der ausländischen Fachwelt zugänglich und bekannt gemacht. Unbewußt hat der Verfasser damals die theoretische Grundlegung für die wohl bedeutsamste Seite seines Lebenswerkes, nämlich für die Rolle als Richter und später Präsident des Verfassungsgerichtshofes, geschaffen. In der Sammlung der „Juristischen Taschenbücher für Technische und verwandte Hochschulen44 gab Adamovich Grundrisse des österreichischen Verfassungsrechts (1923), Verwaltungsrechts (1925) und des Verwaltungsverfahrens (1926) heraus. Ferner hat Adamovich in insgesamt acht Auflagen eine kommentierte Ausgabe der österreichischen Verfassungsgesetze veröffentlicht, von denen die erste 1925, die letzte im Jahre 1953 erschienen ist. 1952 erschien unter dem Titel „Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs 1919-195144 eine erschöpfende systematische Aufzählung sämtlicher Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs. Im Jahre 1927 wurde die erste Auflage des „Grundrisses des österreichischen Staatsrechts44 veröffentlicht, der in den ersten drei Auflagen das Verfassungs- und Verwaltungsrecht in einem System zusammenfaßte, während die 4. und 5. Auflage das Verfassungs- und Verwaltungsrecht getrennt behandeln. Die Ausgabe des Verwaltungsrechtes ist in je einem Band in das allgemeine (österreichische) und besondere Verwaltungsrecht gegliedert.

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Methodisch ist dieses Schrifttum ein Ausdruck des Rechtspositivismus von der Strenge der Lehre Hans Kelsens. Adamovich vermeidet als rechtswissenschaftlicher Schriftsteller jedwede rechtspolitische oder ethische Kritik der vom Gesetz getroffenen Lösungen und gibt insbesonder auch keinem kritischen oder reformatorischen Naturrecht Raum. Eine Frucht der kurzen Lehrtätigkeit an der Universität Prag war der erst nach der Übernahme der Professur in Graz erschienene „Grundriß des tschechoslowakischen Staatsrechts" (1929). Unbeschadet der strengsten Objektivität des Urteils gibt der Verfasser in diesem Werke doch einer rechtspolitischen Kritik Raum; besonders beanstandet der Verfasser, daß die tschechoslowakische Republik den ihr von den Alliierten durch völkerrechtlichen Vertrag auferlegten Schutz der nationalen Minderheiten einesteils durch eine ungenaue Transformation des Vertragsinhaltes in die Gesetzgebung und andererseits durch eine tendenziöse Rechtsanwendung wesentlich abgeschwächt hat (a.a.O., S. 91 f.). Die von Adamovich in Zeitschriften veröffentlichten Aufsätze befassen sich weitaus überwiegend in referierender Weise mit aktuellen Fragen des österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes und mit Fragen des österreichischen Universitätslebens. Durch die starke persönliche und kritische Note hebt sich von diesen Aufsätzen der Bericht über „Die Entwicklung des österreichischen Verfassungsrechts seit 27. April 1945" ab (Jahrbuch des öffentlichen Rechts, J. C. B. Mohr, Paul Siebeck, Tübingen 1953, S.F., Bd. 2, S. 179 ff.). Der Verfasser behandelt hier in kritischer, aber seiner Natur kongenialer versöhnlicher Weise die Liquidierung des Nationalsozialismus in Österreich und greift auch in bemerkenswerten kritischen Ausführungen auf die Begründung und die ersten Schritte der ständisch-autoritären Reform Österreichs zurück. Das Goethe-Gedenkjahr 1949 war für Adamovich ausnahmsweise der Anlaß, sich als Soziologe in dem Artikel: „Goethes Tätigkeit in der Verwaltung des Herzogtums Weimar-Eisenach" (Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. III, H. 1) mit dem Staatsmann Goethe zu befassen. Bis zur Stunde seines Hinscheidens war Adamovich in voller Regsamkeit mit Angelegenheiten seines Berufs, insbesondere mit Fragen des Universitätslebens und den Aufgaben des Verfassungsgerichtshofs befaßt und als

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Mann rastloser Arbeit und aufopferungsvoller Hingabe an seinen Beruf aufs stärkste dadurch beeindruckt, daß ihn sein Krankenlager vom Dienst an der Wissenschaft und am Staate ferngehalten hat. Sein vorzeitiger Tod hat der Universität und dem Staat einen unersetzlichen Verlust verursacht. Verzeichnis der Schriften A. Aufsätze Zur Frage der verfassungsmäßigen Organisation der Landesverwaltung in Österreich, Zeitschrift für Verwaltung, 2./3. Heft, 1923 Die Reform der österreichischen Bundesverfassung. Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. V, Heft 2, Wien und Berlin 1926 Die österreichische Verfassungs- und Verwaltungsreform, Juristische Wochenschrift, Heft 15, Leipzig 1926 Zur Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. VI, Heft 1, Wien und Berlin 1926 Der Kremsierer Entwurf und die österreichische Bundesverfassung. Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. VI, Heft 4, Wien und Berlin 1927 La legislazione amministrative delle Republica Austriaca. Annuario di Diritto Comparato e di Studi Legislativi, Vol. I, Roma 1927 Gutachten über die Frage der Einbeziehung der Notare unter den Begriff „Organe der Republik" im Sinne des § 2 Sprachengesetzes. Notariats-Zeitung, 9. Jahrgang, Pilsen 1929 Verfassung 1934 und öffentliche Sicherheit. Öffentliche Sicherheit, Nr. 1, Wien 1935 Zur Frage der Sicherung des Vollzuges der verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisse. Österreichische Anwaltszeitung, Nr. 11 und 12, Wien 1935 Die Stellung des öffentlichen Rechtes in der neuen juristischen Studienordnung. Österreichische Anwaltszeitung, Nr. 19, Wien 1935 Zur Frage der wechselseitigen Bindung der Gerichte und Verwaltungsbehörden an ihre rechtskräftigen Akte. Österreichische Anwaltszeitung, Nr. 9 und 10, Wien 1937 Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden und dessen Überprüfung. Verhandlungsschrift des VIII. Deutschen Juristentages in der Tschechoslowakei, Brünn 1937 Ständische Verwaltung und Staatsverwaltung. Monatsschrift für Kultur und Politik, Heft 1, Wien 1938

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Die Wiener Universität und der Osten. Die Brücke, Nr. 1, Wien 1945 Österreichische Wissenschaft. Der Turm, Heft 3, Wien 1945 Die Universität. Merk's Wien Die Wiener Universität im neuen Österreich. Jahrbuch der Hochschülerschaft Österreichs, Wien 1945/46 Die Erneuerung der österreichischen Rechtsordnung. Österreichische Juristenzeitung, Heft 1,1946 Ein Jahr Wiederaufbau an der Wiener Universität. Festschrift zur österreichischen Hochschulwoche in Wien, 26.V.-2.VI.1946 Festrede aus Anlaß der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an zwei amerikanische Offiziere am 19. Juli 1946. Wiener Klinische Wochenschrift, Nr. 28, Wien 1946 Zum Geleit. Strom, Wien 1946 950 Jahre Österreich, Rede gelegentlich der Österreich-Feier im Auditorium maximum der Wiener Universität am 31. Oktober 1946, Wiener Klinische Wochenschrift, 1947, Nr. 1 Adamovich zur Rundfrage: „Was verdanken sie dem französischen Geist?" Plan, 11. Heft, 1946 Das Parlament als Institution. Die Wiener Bühne, November 1945 De Weensche Universiteit sinds de Bevrijding van Oostenrijk. De Spectator Kern, 9. Feber 1947 Die Bedeutung des ärztlichen Fortbildungskurses im Rahmen des Universitätsstudiums. Wiener Klinische Wochenschrift, Nr. 6, Wien 1947 A közjogi biräskodäs kialakuläsa Ausztriäban, in: Jogtudomänyi Közlöny, 20. September 1947 Die Bedeutung des Jahres 1948 für die verfassungsrechtliche Entwicklung Österreichs. Juristische Blätter, Nr. 5, Wien 1948 Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtsanwaltschaft. 100 Jahre Österreichische Rechtsanwaltskammern 1850-1950 Über Theorie und Praxis im Recht und über Gesetzgebungskunst. Österreichische Notariats-Zeitung, Nr. 1, Wien 1950 Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit. Juristische Blätter, Nr. 4, Wien 1950 Dr. Karl Renner als Wissenschaftler. Vortrag, gehalten in der Trauersitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Ehrenmitglied der Gesamtakademie, Bundespräsident Karl Renner, am 11. Jänner 1951, Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1951

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Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Lichte der Judikatur des Reichsgerichts und des Verfassungsgerichtshofes. Vortrag, gehalten am 19. Jänner 1951 in der österreichischen Gesellschaft für Kirchenrecht, abgedruckt im Archiv für Kirchenrecht 1951 Vorwort zum Festvortrag anläßlich der Hundertjahrfeier der Reform des österreichischen humanistischen Gymnasiums, 1951 Goethes Tätigkeit in der Verwaltung des Herzogtums Weimar-Eisenach. Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. III, H. 1 Nachruf auf Karl Renner. Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1952 Gedenkrede für Dr. Heinrich Klang. Juristische Blätter, Nr. 6, Wien 1954 Universität in Wien, Bericht über den Studienbetrieb an der Universität Wien vom Sommersemester 1945 bis zum Sommersemester 1947 Selbstbiographie, in: „Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen". Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1952 B. Bücher und Gesetzesausgaben Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof. Wien 1924 Grundriß des österreichischen Verfassungsrechtes (1923) Grundriß des österreichischen Verwaltungsrechts (1925) Grundriß des österreichischen VerwaltungsVerfahrens (1926), in der Sammlung der „Juristischen Tachenbücher für Technische und verwandte Hochschulen" Kommentierte Ausgabe der Österreichischen Verfassungsgesetze, 1. Aufl. 1925, letzte Auflage 1953 (insgesamt acht Auflagen) Grundriß des österreichischen Staatsrechts, in erster Auflage 1927, in den weiteren Auflagen Verfassungs- und Vewaltungsrecht getrennt behandelt, 4. Auflage des Verfassungsrechts 1948, 5. Auflage des Verwaltungsrechts 1954, in zwei Bänden Grundriß des tschechoslowakischen Staatsrechts. Graz 1929 Landesverfassungsgesetze. Wien 1948 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs 1919-1951, Wien 1952.

Ludwig Adamovich f Mit Ludwig Adamovich , dem Inhaber einer Lehrkanzel für Verfassungsund Verwaltungsrecht an der Universität Wien und dem Präsidenten des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, ist am 23. September 1955 ein großer und unersetzbarer Meister des Rechtes in Theorie und Praxis, ein seinem österreichischen Vaterland hingebungsvoll dienender Patriot und eine Persönlichkeit von hohem inneren Adel dahingeschieden. Die vorliegende Zeitschrift betrauert in Adamovich auch ihren Mitherausgeber und Mitarbeiter, dem sie wertvolle Anregungen und Beiträge verdankt. Der Lebenslauf des Verewigten wurzelt nicht nur äußerlich, sondern auch geistig im österreichischen Kaiserstaat. Am 30. April 1890 kam Ludwig Adamovich in Essegg in Kroatien, also im Herrschaftsbereich des damaligen Königreiches Ungarn, als Angehöriger einer Familie zur Welt, aus der hauptsächlich Offiziere und Juristen im öffentlichen Verwaltungsdienst hervorgegangen sind. Sie haben alle nach dem Bekenntnis des Verstorbenen dem deutschen Kulturkreis angehört. Im Alter von drei Jahren kam Adamovich mit seinen Eltern nach Wien, das er seither als seine eigentliche Heimatstadt betrachtet und geliebt hat. Adamovich besuchte mit vorzüglichem Erfolg das Klostergymnasium in Kalksburg, einem im Wienerwald gelegenen damaligen Vorort Wiens. Seither gab er dem humanistischen Typus der Mittelschule vor allen anderen Formen der Mittelschulbildung den Vorzug. Er dankte in seiner Art der Bildungsanstalt, die durch acht Jahre sein Wissen und seinen Charakter geprägt hat, dadurch, daß er später die Funktion des Obmannes im Vereine der Freunde des humanistischen Gymnasiums übernommen hat. Im Oktober 1908 bezog er nach der mit Auszeichnung abgelegten Reifeprüfung die

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 7 NF (1956), S. 1-8.

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rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien und war durch vier Jahre einer ihrer fleißigsten und erfolgreichsten Hörer. Er selbst bekennt, am stärksten durch die beiden Professoren des öffentlichen Rechts, Edmund Bernatzik und Adolf Menzel, beeindruckt gewesen zu sein. Von diesen beiden Persönlichkeiten gab er indes dem in seiner Lehrmethode abgeklärten, mehr rechtsgeschichtlich und rechtsphilosophisch interessierten Professor Adolf Menzel bei weitem vor der kritischen und kämpferischen Persönlichkeit Edmund Bernatziks den Vorzug. A m 28. Februar 1913 wurde Adamovich zum Doktor der Rechte promoviert. Vor dem schon damals beabsichtigten Eintritt in den staatlichen Verwaltungsdienst erfüllte er seine Wehrpflicht als Einjährig-Freiwilliger. Von dieser friedensmäßigen Verwendung rückte er nach Ausbruch des ersten Weltkrieges unmittelbar zur k.u.k. Armee ein und stand bis zum Abschluß der Feindseligkeiten im November 1918 bei der schweren Artillerie ununterbrochen, zuletzt als Oberleutnant in der Reserve, im militärischen Einsatz. Nach der Entlassung aus dem Militärverband trat Adamovich noch im Jahre 1918 in den Verwaltungsdienst des Landes Niederösterreich, stand zunächst bei einer Bezirkshauptmannschaft, sodann beim Amt der Landesregierung in Wien in Verwendung und erwarb sich durch Ablegung der praktischen Prüfung für den höheren Verwaltunsdienst die gesetzliche Eignung für den juristischen Verwaltungsdienst. Am 1. Dezember 1920 wurde er vom damaligen Bundeskanzler Dr. Michael Mayr in das Bundeskanzleramt einberufen, dem er durch sieben Jahre als Beamter des sogenannten Verfassungsdienstes angehörte. Die Erfahrungen, die Adamovich als vielseitig erprobter Beamter in allen drei Stufen der staatlichen Verwaltung zu sammeln Gelegenheit hatte, hat er als unentbehrliche Voraussetzung für die wissenschaftliche Befassung mit der Verwaltung erachtet, weil erst durch eine solche praktische Bewährung die unübersehbare Fülle der Verwaltungsvorschriften als sinnvolle Ordnung erfaßt werden könne. Die amtliche Berührung mit Hans Kelsen machte diesen in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung auf den ungewöhnlich gesetzeskundigen und entwicklungsfähigen jungen Verwaltungsbeamten aufmerksam, und trug ihm das Anerbieten Kelsens ein, ihn auf Grund einer Darstellung der so originellen österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu habilitieren. Im Jahre 1924 wurde Adamovich dank der verständnisvollen Verwirklichung dieses Vorschlages des damaligen öster-

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reichischen Staatsrechtslehrers zum Privatdozenten für Allgemeine Staatslehre und Österreichisches Staatsrecht an der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät bestellt. Im Oktober 1926 trat er als Nachfolger von Ludwig Spiegel die Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an der Deutschen Universität Prag an. Obgleich Adamovich seine Zugehörigkeit zu dieser altehrwürdigen ältesten Hochschule deutscher Sprache zu seinen schönsten akademischen Erinnerungen gerechnet hat, leistete er aus persönlichen Gründen bereits am 1. Oktober 1928 dem Ruf an die Universität Graz Folge. Am 1. Oktober 1934 vertauschte er dieses Lehramt mit dem gleichen Lehramt an der Universität Wien. Mittlerweile war Adamovich im Jahre 1930 zum Mitglied des Verfassungsgerichshofes ernannt und vom Gerichtshof zum ständigen Referenten gewählt worden. Der Systemwechsel in der Republik Österreich, den die Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und als dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg durchgeführt haben, brachte für Adamovich auch eine politische Mission als Mitglied des durch die Maiverfassung 1934 geschaffenen Staatsrates und des Bundestages, wobei er sich freilich nicht als politischer Funktionär, sondern als juristischer Fachmann betrachtet und betätigt hat. Nach einem nicht ganz einmonatigen Zwischenspiel als Bundesminister für Justiz wurde Adamovich - unter den gegebenen Umständen völlig im Sinne seiner eigenen Absichten - unter der am 13. März 1938 begründeten nationalsozialistischen Herrschaft aus dem Universitätsleben und um so mehr aus jeder politischen Tätigkeit auf die Dauer dieses Regimes ausgeschaltet, wobei freilich seine bewährte allseitige Korrektheit und Gerechtigkeit durch eine gewissermaßen respektvolle Duldung seiner Persönlichkeit anerkannt worden ist. Nach der siebenjährigen unfreiwilligen Arbeitspause stellte sich Adamovich unmittelbar nach dem Sturz der nationalsozialistischen Herrschaft der Universität Wien und der Staatsregierung zur Verfügung. A m 1. Mai 1945 nach den wieder in Kraft gesetzten österreichischen akademischen Vorschriften zum Rektor der Univeristät Wien gewählt, hatte er die Genugtuung, daß diese seine Heimatuniversität als erste österreichische Unterrichtsanstalt bereits im Mai 1945 den Studienbetrieb eröffnet hat. Durch fünf Semester führte er unter den schwierigsten Verhältnissen, die jemals die Wiener Universität zu bestehen hatte, das Rektorat. In Würdigung des nicht hoch genug zu beurteilenden Verdienstes um die Wiedereröffnung der Universität wählte die österreichische Akademie der Wissenschaften im Oktober 1945 Adamovich zu ihrem wirklichen Mitglied.

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Schon im Mai 1945 war Adamovich der Einladung des damaligen Staatskanzlers Dr. Karl Renner gefolgt, die Funktion eines verfassungsrechtlichen Beraters der Provisorischen Staatsregierung zu übernehmen. Auch in dieser Eigenschaft hat Adamovich Hervorragendes geleistet; weitaus mehr jedenfalls, als jede sonst in Erwägung gezogene Persönlichkeit hätte leisten können. Er hatte insbesondere Gelegenheit, eine Reihe bedeutsamer Gesetzentwürfe im Dienste der Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich zu verfassen und in den Sitzungen des Kabinettsrates zu vertreten. Seit 1945 gehörte Adamovich wiederum dem neu ins Leben gerufenen Verfassungsgerichtshof an und wurde nach dem Freiwerden der Präsidentenstelle am 19. Juni 1946 zum Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes gewählt. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes trug seither die Signatur seiner in den Geist der österreichischen Verfassung unüberbietbar sich einfühlenden Persönlichkeit an sich. Er selbst bekennt in seiner Selbstbiographie, in dieser richterlichen Aufgabe den seiner Begabung am meisten entsprechenden Wirkungskreis gefunden zu haben. Das wissenschaftliche Lebenswerk von Adamovich ist in mehreren Büchern, die ihre Gegenstände dem österreichischen öffentlichen Recht entnehmen, in Gesetzesausgaben des österreichischen Rechtes von seltener Akribie und in zahlreichen Aufsätzen beschlossen, die sich ebenfalls fast ausnahmslos auf dem Gebiete des österreichischen Rechtes bewegen. Die Habilitationsschrift „Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof 4 (1924) behandelt um vieles gründlicher und umfassender als dasselbe Thema betreffende ältere Schriften anderer Autoren die Rolle des höchsten österreichischen Gerichtes als Garant der Verfassung. Das Werk hat erstmals die originellste kodifikatorische Schöpfung der österreichischen Bundesverfassung des Jahres 1920 der ausländischen Fachwelt zugänglich und bekannt gemacht. Unbewußt hat der Verfasser damals die theoretische Grundlegung für die wohl bedeutsamste Seite seines Lebenswerkes, nämlich für die Rolle als Richter und später Präsident des Verfassungsgerichtshofes, geschaffen. In der Sammlung der „Juristischen Taschenbücher für Technische und verwandte Hochschulen" gab Adamovich Grundrisse des österreichischen Verfassungsrechts (1923), Verwaltungsrechts (1925) und des Verwaltungsverfahrens (1926) heraus. Persönlich hat Adamovich besonderes Gewicht auf die kommentier-

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te Ausgabe der österreichischen Verfassungsgesetze gelegt, die er in erster Auflage 1925 im Verein mit dem Vorstand des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramtes, Dr. Georg Froehlich , späterhin, zuletzt in achter Auflage, allein herausgegeben und die auch in der Praxis die weiteste Verbreitung gewonnen hat. Auch eine Sammlung der Landesverfassungen und Landtagswahlordnungen stammt von ihm. In diesem Zusammenhang verdient auch die Herausgabe der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Erwähnung. Im Jahre 1927 erschien die erste Auflage des „Grundrisses des österreichischen Staatsrechts", der in den ersten drei Auflagen das Verfassungs- und Verwaltungsrecht in einem System zusammenfaßte, während die späteren Auflagen (4. bzw. 5. Aufl.) das Verfassungs- und Verwaltungsrecht getrennt behandeln. Die Ausgabe des Verwaltungsrechtes ist in je einem Band in das allgemeine (österreichische) und besondere Verwaltungsrecht gegliedert. Der Verfasser kommt in der Regel zu eindeutigen Lösungen der Rechtslage, die vom Gesetzgeber auch außerhalb der Fälle beabsichtigter Ermessensfreiheit der Rechtsanwendungsorgane nicht immer erreicht werden, jedoch für die Rechtsanwendung unvermeidlich sind; es sind eben jene Lösungen, die sich der Verfasser in seiner Rolle als Verfassungs- oder Verwaltungsrichter zu eigen machen würde. Methodisch ist dieses Schrifttum ein Ausdruck des Rechtspositivismus , und zwar, wenn auch unausgesprochen, eines Positivismus von der Strenge Hans Kelsens . Der Verfasser ist indes von der sachlichen Richtigkeit der geltenden Rechtslage derart überzeugt und gegenüber Mißständen und Ungerechtigkeiten im Staatsleben, die mit seinen strengen Ehrbegriffen nicht vereinbar gewesen wären, viel zu ungläubig, als daß er einem grundsätzlich kritischen und reformatorischen Naturrecht Raum gegeben hätte. Anders gegenüber dem Staatsrecht und der Staatspraxis eines anderen Staates, dem er, wenngleich vorübergehend zu dessen Staatsbürger und Rechtslehrer geworden, nicht als einen Heimatstaat empfinden konnte. Bezeichnend in dieser Richtung ist sein „Grundriß des tschechoslowakischen Staatsrechts" (1929), der eine literarische Frucht des Wirkens von Adamovich in Prag gewesen ist. Diese Schrift ist ein Beweis für das außerordentliche Einfühlungsvermögen des Verfassers in eine ihm ferner liegende Gesetzgebungsmaterie, zu der er aber gefühlsmäßig eine deutliche Distanz bewahrt. Obgleich jedem Nationalismus charakterlich abhold, wird hier der Verfasser zu einem entschiedenen Kritiker des Gaststaates, der sich

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aus nationalistischen Gründen mit gesetzgeberischen und administrativen Mitteln von völkerrechtlichen und moralischen Bindungen gegenüber seinen nationalen Minderheiten lossagt. Die nachstehenden Ausführungen von Adamovich beleuchten die Staatspraxis der damaligen tschechoslowakischen Republik in denkwürdiger Weise und geben einen Erklärungsgrund, daß in der sogenannten Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa unleugbar gute Absichten der Alliierten zu einer relativen Befriedung der nationalen und zugleich staatspolitischen Gegensätze verschüttet worden sind: „Dieser völkerrechtlich übernommenen Verpflichtung hat nun die Tschechoslowakische Republik bisher in einer völlig ungenügenden Form entsprochen. Sie hat nämlich keineswegs die einschlägigen Bestimmungen des Vertrages von Saint-Germain in ihrem gesamten Komplex unverändert als ein durch Akte der innerstaatlichen Gesetzgebung nicht abänderbares Grundgesetz erklärt, sondern vielmehr die materiellen Bestimmungen des Staatsvertrages in die Verfassungsurkunde eingearbeitet, sie aber hiebei zum Teil dadurch beträchtlich modifiziert, daß einzelne Vorschriften des Minderheitenvertrages ausgelassen, andere wieder durch Einschaltung einschränkender Worte wesentlich abgeändert wurden. Da nun aber die Gerichte der Tschechoslowakischen Republik andauernd den Standpunkt vertreten, daß jeder Staatsvertrag, um innerstaatlich verbindlich zu sein, erst einer Transformierung in innerstaatliches Recht durch Erlassung eines Gesetzes bedürfe, der Staatsvertrag von Saint-Germain aber nicht einmal in der Form eines einfachen Gesetzes genehmigt wurde, sind die den Minderheiten durch den Staatsvertrag von Saint-Germain zugesprochenen Rechte heute nicht voll verwirklicht, und ergibt sich daraus eine tiefempfundene Lücke, die um so bedauerlicher ist, als die Gewährung eines genügenden Minderheitenschutzes, wie aus den Verhandlungen der Pariser Verträge hervorgeht, eine Bedingung für die völkerrechtliche Anerkennung der Tschechoslowakischen Republik bildete." (A.a.O., S. 91 f.) Aus Raumgründen kann auf die zahlreichen, zum Teil wissenschaftlich sehr wertvollen Aufsätze in Zeitschriften nicht eingegangen werden. Eine Ausnahme möge nur der Beitrag von Adamovich über „Die Entwicklung des österreichischen Verfassungsrechts seit 27. April 1945", Jahrbuch des öffentlichen Rechts (J. C. B. Mohr, Paul Siebeck, Tübingen, 1953, N.F., Bd. 2, S. 179 ff.) machen. Der Verfasser bescheidet sich nicht damit, die einzelnen verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch wichtigen Tatsachen zu registrieren, sondern fällt, abweichend von seiner Haltung in seinen

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systematischen und kommentatorischen Werken, entschiedene politische Werturteile über diese Jahre, in denen die österreichische Staatspolitik darauf ausgerichtet war, die durch das nationalsozialistische Abenteuer verwirkte Freiheit wieder zu gewinnen. Die Feststellung, daß die zu neuem staatlichen Leben wiedererwachte Republik nicht auf die der nationalsozialistischen Machtergreifung unmittelbar vorangegangene Maiverfassung 1934, sondern auf die letzte vorvergangene Gestalt der demokratischen Verfassung von 1929 zurückgegriffen hat, gibt dem Verfasser Gelegenheit zu höchst beachtlichen Urteilen über das ständisch-autoritäre Zwischenspiel von 1933 bis 1938. Am 4. März 1933 „endete bekanntlich in Österreich das parlamentarische Leben aus einem Anlaß, der, an sich betrachtet, geringfügig erscheint und leicht zu ordnen gewesen wäre, der aber in dem wirklichen Geschehen zur Ausschaltung des Parlamentes und zur Einrichtung der autoritären Regierungsform, später zur Erlassung der ständisch-autoritären Verfassung vom 1. Mai 1934, endgültig zur Besetzung Österreichs durch das Dritte Reich führte: Nach den letzten Neuwahlen zum Nationalrat im November 1930 waren die Parteien Verhältnisse derart labil gestaltet, daß die Regierung im Nationalrat zuletzt nur über eine Mehrheit von einer Stimme verfügte. Als nun am 4. März 1933 infolge von Meinungsverschiedenheiten über das Ergebnis einer Abstimmung alle drei Präsidenten des Nationalrates ihr Amt niederlegten - ein Fall, für den die Geschäftsordnung des Nationalrates keine Regelung vorgesehen hatte ließ die Bundesregierung erklären, daß der Nationalrat sich selbst ausgeschaltet habe und daß sie daher zu eigenem Handeln gezwungen sei. Die Bundesgesetzgebung wurde fortan bis Ende April 1934 durch Verordnung der Bundesregierung vertreten, die unter Berufung auf das sogenannte ,Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz' vom 24. Juli 1917 (RGBl. Nr. 307) erlassen wurden. Die ständische Verfassung vom 1. Mai 1934, die von der Bundesregierung zunächst einseitig unter Berufung auf dieses Ermächtigungsgesetz erlassen worden war, anschließend daran auch vom wieder einberufenen Nationalrat,unter Bekräftigung ihres rechtlichen Bestandes als Bundesverfassungsgesetz auch im Sinne der gegenwärtig geltenden Bundesverfassung' erklärt wurde, bedeutete zweifellos einen Bruch der Rechtskontinuität, da der Nationalrat unter Ausschaltung der Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei, deren Mandate durch Verordnung der Bundesregierung als erloschen erklärt worden waren, zusammengetreten war, und da insbesondere Art. 44, Abs. 2 des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 nicht beachtet wurde, demzufolge die neue Verfassung als Totaländerung des Bundes-Ver-

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fassungsgesetzes einer Volksabstimmung hätte unterzogen werden müssen." (S. 183 f.) Als Schrift von literarischer Bedeutung ist schließlich die Selbstbiographie des Verewigten zu nennen, die an der Spitze der unter dem Titel „Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen" (Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 1952) erschienen ist. Auf wenigen Seiten, die von Objektivität und ungewöhnlicher Bescheidenheit diktiert sind, entsteht hier ein packendes Selbstporträt des Verfassers, das als zuverlässigste Quelle in diesem Nachruf nicht zu geringem Teil verwertet ist. Um das Bild des Verstorbenen abzurunden, scheinen mir bei einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens noch einige Worte über den politischen und menschlichen Charakter am Platze zu sein. Ein Rechts- und Staatswissenschafter dürfte nur dann richtig zu lesen und zu verstehen sein, wenn der weltanschauliche und politische Standpunkt des Verfassers mit in den Kalkül gezogen wird. Trotz höchster Bemühung um Objektivität und politische Neutralität gibt es wohl keinen sozusagen voraussetzungslosen Betrieb der Rechts- und Staatswissenschaften. Die Persönlichkeit von Adamovich wurzelt in der christlichen Weltanschauung und einem überaus stark empfundenen Konservativismus, der situationsbedingt auf das österreichische Kaiserreich bezogen ist und in diesem das Maß für die Beurteilung aller anderen staatsgeschichtlichen Gegebenheiten sieht. Das eindrucksamste Bekenntnis zu diesem Wertmaßstab ist in der Selbstbiographie mit den Worten ausgesprochen: „ M i t dem Zusammenbruch des alten Donaureiches im November 1918 ist mir buchstäblich eine Welt in Trümmer gegangen. Von Kindheit an im Glauben an dieses wundervolle große Reich aufgewachsen, dessen hohe Mission heute wohl auch manchem damals Ungläubigen klar geworden ist, brauchte ich lange Zeit, um mich in das unentrinnbare Geschehen zu fügen und meine innere Ruhe wieder zu gewinnen". (S. 12) Die weitgehende Toleranz gegen fremde Meinungsäußerungen hatte eine unerbittliche Schranke in dem von jedermann geforderten persönlichen Respekt für die grundlegenden Staatseinrichtungen und besonders die Staatsführung des österreichischen Kaiserreiches.

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Dieser Konservatismus war aber völlig aufgeschlossen gegenüber dem liberalen Gedankengut , das die konstitutionelle Monarchie des 19. und 20. Jahrhunderts in Österreich mehr sogar als im Deutschen Reich und selbst in demokratischen Staaten rezipiert hatte und das auch die nachfolgende demokratische Republik fast unverändert sich zu eigen gemacht hat. In seinen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Werken und in seiner Praxis als Verfassungsrichter war Adamovich ein unbeirrbarer Bekenner des Rechtsstaates mit all seinen aus der Staatsskepsis erwachsenen Attributen, namentlich der Freiheitsrechte und der Rechtseinrichtungen zur Kontrolle der Verwaltung wie Verwaltungsgerichtsbarkeit und Amtshaftung. Am sinnfälligsten äußert sich sein Bekenntnis zu einem liberalen Konservativismus in seiner Rolle als Verfassungsrichter. Entsprechend der christlichen Staatsauffassung, die bei einem endgültigen politischen Szenenwechsel auch der neuen staatlichen Autorität gegenüber Gehorsam gestattet und geradezu fordert, ist aber Adamovich auch der loyalste Bürger und Beamte, Rechtslehrer und Richter im Dienste der Republik geworden. Diese Haltung war ihm dadurch erleichtert worden, daß er besser als die meisten Zeitgenossen des Umbruchs von der Monarchie zur Republik gewußt hat, daß die tatsächlichen Voraussetzungen für die Beibehaltung der Rechtskontinuität gefehlt hatten, daß insbesondere die Voraussetzungen des verfassungsmäßigen Quorums und der verfassungsmäßigen Mehrheit im Parlament nicht erfüllt werden konnten, die nötig gewesen wären, um auf verfassungsmäßigem Wege das neue kleine Österreich zu schaffen und zu gestalten. Die wissenschaftlichen Werke von Adamovich boten ein getreues Abbild der neuen republikanisch-demokratischen Staatseinrichtungen. Auch nach dem neuerlichen staatspolitischen Umbruch des Jahres 1933 stellte sich Adamovich auf den Boden der vollzogenen Tatsachen und leistete unter der neuen Staatsführung loyale wissenschaftliche und politische Dienste. Indes legte er in seiner Selbstbiographie auf die Feststellung Gewicht, daß er an dem Zustandekommen der Verfassung 1934 „nicht beteiligt war" (a.a.O., S. 16). Er bedauert in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß die Verfassung den Verfassungsgerichtshof „zu endgültiger Auflösung" gebracht habe, sodaß die ihm „so lieb gewordene Tätigkeit im Verfassungsgerichtshof vorläufig ihr Ende gefunden hatte". Unüberbrückbar war der Gegensatz von Adamovich zum nationalsozialistischen Dritten Reich. „Daß für meine weitere Tätigkeit kein Raum war,

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konnte und durfte mich nicht wundern, hatte ich doch kein Hehl aus meiner vorbehaltlos österreichischen Gesinnung gemacht... Ich darf mich heute nur glücklich schätzen, daß alle von der Fakultät wirklich ehrlich gemeinten Bemühungen" (um seinen Verbleib im Lehramt) „vergeblich waren und daß ich vor einem unlösbaren Gewissenskonflikt bewahrt blieb." Mit einem wahren Pathos und Ethos stellte sich jedoch Adamovich im April 1945 „in den Dienst des wiedererstandenen Vaterlandes". Ohne jeden inneren wie äußeren Vorbehalt arbeitete Adamovich an der Aufgabe mit, ein unabhängiges Österreich als demokratische Republik im Sinne der republikanisch-demokratischen Verfassung von 1920 und 1929 wieder herzustellen. Mit Worten aufrichtiger Hochschätzung gedenkt er der Zusammenarbeit mit dem Baumeister des wiedererstandenen Österreich und schätzt sich glücklich, daß er „die einzigartigen Leistungen unseres verehrten, seither verstorbenen Bundespräsidenten Dr. Renner so richtig kennen und würdigen" gelernt habe. Mit der glücklicherweise erlebten Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs war das politische Ziel des Verewigten erreicht. Wenngleich unser verehrter Kollege und Freund als Mensch für die, die ihm nahestehen durften, viel zu früh ins Grab gesunken ist, so darf man sich doch mit der Tatsache trösten, daß das Lebenswerk des großen und verehrungswürdigen Menschen, Gelehrten, Richters und Staatsmannes in sich vollendet war und ist.

Prof. Dr. Leonidas Pitamic zum 70. Geburtstag Die österreichischen Akademiker, die sich noch der letzten Zeit des Bestandes der österreichischen Monarchie erinnern, haben eine besonders vornehme Persönlichkeit des rechtswissenschaftlichen Nachwuchses aus jener Zeit in herzlichem Gedächtnis behalten: Dr. Leonidas Pitamic. Sie freuen sich und sind ihm aufrichtig dankbar, daß diese Erinnerung von seiner Seite in kollegialer Anhänglichkeit an die Berufsgenossen, Fachgenossen und Freunde im heutigen Österreich erwidert wird. Leonidas Pitamic wurde am 15. Dezember 1885 in Postojna (Adelsberg) geboren, besuchte die Volksschule in Gorica (Görz), dortselbst auch drei Klassen des Gymnasiums und setzte sodann seine Gymnasialstudien in Wien als Zögling des Theresianums fort. Nach der Reifeprüfung legte er von 1903 bis 1907 die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien an der Universität Wien zurück und wurde hier im Jahre 1908 zum Doktor der Rechte promoviert. Sein Lehrer an der Universität Wien war namentlich Edmund Bernatzik, der die akademischen Absichten des Jubilars gewürdigt und gefördert hat. Bei seiner Aufgeschlossenheit kam Pitamic nach der Habilitation Hans Kelsens an der Wiener Universität in den Kreis der sogenannten Reinen Rechtslehre und brachte ihr, ohne sich mit ihr zu identifizieren, doch weitgehendes Verständnis entgegen, das in einer Reihe von teils zustimmenden, teils kritischen Abhandlungen zum Ausdruck gekommen ist. Nach Abschluß seiner juristischen Studien trat er in den politischen Verwaltungsdienst des österreichischen Kaiserstaates und stand bei der k.k. Landesregierung in Ljubljana (Laibach) und bei den k.k. Bezirkshauptmannschaften in Krsko (Gurkfeld), Litija (Littai) und Postojna (Adelsberg) in Verwendung. Von 1913 bis Anfang 1918 war er dem staats-

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 7 NF (1955), S. 145-147.

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rechtlichen Büro des Ministerratspräsidiums zugeteilt. Die Schuldbildung und Ausbildung im Verwaltungsdienst genoß Pitamic sonach an Schulen und Dienststellen des Kaiserstaates, die heute teils in Jugoslawien, teils in Italien und teils in der Republik Österreich gelegen sind. Während der Jahre des Verwaltungsdienstes betrieb Pitamic staatswissenschaftliche Studien auch an den Universitäten Heidelberg, München und Wien. An der Universität Wien habilitierte er sich im Jahre 1915 für allgemeine Staatslehre und österreichisches Staatsrecht, im Jahre 1917 auch für Rechtsphilosophie. Mit Beginn des Sommersemesters 1918 wurde er zum außerordentlichen Professor für allgemeine Staatslehre, österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht an der Universität Czernowitz ernannt. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserstaates Österreich berief ihn die Nationalregierung in Ljubljana im November 1918 in die Verwaltungskommission in Ljubljana. Im Jahre 1919 war er Mitglied der jugoslawischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris. Nach 1919 wurde er zum ordentlichen Professor an der juridischen Fakultät in Ljubljana erannt und wurde ihr erster Dekan. Im Jahre 1920 wurde er Mitglied der internationalen Abgrenzungskommission zwischen Österreich und Jugoslawien. Ende August übernahm er die Leitung der inneren Angelegenheiten bei der Landesregierung in Ljubljana, im Dezember 1920 noch die Leitung des Präsidiums, beides bis Februar 1921. In den Jahren 1924,1927 und 1928 war er Stellvertreter des jugoslawischen Delegierten bei der Jahresversammlung des Völkerbundes in Genf. Auch wurde er zum Mitglied des ständigen Schiedsgerichtshofes in den Haag ernannt. In den Jahren 1925 bis 1926 war er Rektor der Universität Ljubljana. In den Jahren 1929 bis 1934 war er außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister des Königreiches Jugoslawien bei der Regierung der USA in Washington. Nach der Rückkehr von diesem diplomatischen Posten wurde er Honorarprofessor des öffentlichen Rechts an der Rechtsfakultät in Ljubljana. Die fachwissenschaftlichen Publikationen des Jubilars sind, wie etwa seine Habilitationsschrift, teils in deutscher, teils in englischer, slowenischer und kroatischer Sprache erschienen. Die Veröffentlichungen in Buchform sind folgende: Das Recht der Abgeordneten auf Diäten, Wien und Leipzig 1913. - Die parlamentarische Mitwirkung bei Staatsverträgen in Österreich, Wien und Leipzig 1915. - Recht und Revolution, slov. Laibach 1920. - Der Staat, slov.

Prof. Dr. Leonidas Pitamic zum 70. Geburtstag

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Celje (Cilli), M D 1927. - Some Notions of the State and its international Phases, Washington 1931. - ATreatise on the State, Baltimore 1933. Aus den Abhandlungen seien genannt: Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft, Zeitschrift für öffentliches Recht 1917. - Nationalität als Rechtsbegriff, Slov. Pravnik 1917. - Neue Richtungen in der Rechtsphilosophie, Zbornik znanstvenih razprav 1921. - Plato, Aristoteles und die reine Rechtslehre, Zeitschrift für öffentliches Recht, 1921. - Verfassung und Gesetz, Slov. Pravnik 1922. Kritische Bemerkungen zum Gesellschafts-, Staats- und Gottesbegriff bei Kelsen, Zeitschrift für öffentliches Recht 1923. - Staats- und internationales Recht unter dem Gesichtspunkt eines Einheitssystems, Zbornik znanstvenih razprav II, 1923. - Kritische Hinblicke auf die juristische Person, Zbornik znanstvenih razprav IV, 1925. - Some Aspects of the Problem of Interpretation, American Bar Association Journal, Oct. 1933. - Interpretation und Wortbedeutungswandel, Zeitschrift für öffentliches Recht 1938. - Die reine Rechtstheorie und das Naturrecht, Razpr. prav. razg. AJU in Laibach 1941. — Von der Rechtsidee, ZZR 1943. - Die hl. Therese vom Kinde Jesu und die Auslegung der Hl. Schrift, BV 1944. - Das Organ, die Organisation und der Organismus, AJU 1945. - Das slowenische Problem, Nova Evropa I. 1921. - Zur neuesten Rechtskraftlehre, Zeitschrift für öffentliches Recht 1924. - Die Rechtsgrundlagen des Minoritätenschutzes, Cas 1928. Die österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht hat sonach dem Jubilar für die oftmalige wertvolle Mitarbeit zu danken. Pitamic ist Ehrendoktor der katholischen Universität Washington, Ehrenmitglied der philosophischen Akademie der Universität Georgetown, „American Bar Association" und Mitglied des internationalen Institutes für öffentliches Recht in Paris usw. Die Kollegen und Freunde des Jubilars im heutigen Österreich, die das Glück hatten, ihm während seines Studienganges und beruflichen Wirkens im alten Österreich nahezustehen, danken Professor Pitamic für die Objektivität, mit der er die durch die liberal-konstitutionelle Verfassung erreichte und gewährleistete Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Volksstämme des österreichischen Kaiserstaates gewürdigt und für sie Zeugnis abgelegt hat.

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Die österreichischen Freunde des Jubilars wünschen ihm Gesundheit, ungeschmälerte Arbeitskraft und die alte treue Anhänglichkeit an den geistigen Raum seiner Entwicklung zum europäischen Gelehrten und Staatsmann - ad multos annos!

Der Vater der Verfassung 80 Jahre Eine Würdigung Hans Kelsens zu dessen Geburtstag am 11. Oktober

Vor bald 50 Jahren, am 20. Oktober 1912, hat die „Neue Freie Presse" der Habilitationsschrift Hans Kelsens, „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", eine ungewöhnlich umfangreiche Besprechung aus der Feder seines damaligen Fachgenossen, des Dozenten Dr. Leo Wittmayer gewidmet. Der Kritiker beurteilte das Werk wegen der „unzulänglichen", rein juristischen Konstruktion des Staates als „verhängnisvolle Verirrung", bewundert aber die Energie des abstrakten Denkens, die leidenschaftliche Glaubensstärke und die rückhaltlose Wahrheitsliebe des Verfassers. „Ein so bedeutendes geistiges Kapital, eine so hervorragende Denk- und Darstellungsarbeit" sei an eine uferlose Aufgabe verwendet worden. Doch dank seiner eigenen Persönlichkeit, ohne einen der üblichen Helfer, tritt Kelsen bereits 1919 als ordentlicher Professor die Nachfolge nach dem Staatsrechtler Edmund Bernatzik an und erhält als staatsrechtlicher Berater der Staatskanzlei von Karl Renner die Aufgabe, Entwürfe einer Bundesverfassung der Republik Österreich auszuarbeiten, die sodann als Rahmenordnungen der Verfassungsentwürfe der Christlichsozialen und Sozialdemokratischen Partei dienen. Der angeblich so lebensfremde, literarisch und didaktisch jedoch vergleichslos fruchtbare Wissenschaftler hatte mittlerweile trotz der Ungunst des Weltkrieges eine Schülergemeinde in den Bann seiner Persönlichkeit gezogen. Die zweite Auflage seiner „Hauptprobleme" registriert bereits eine organische Entwicklung der „Reinen Rechtslehre", die unter anderem der von Schulhaupt großzügig freigestellten Kritik zu danken ist. Sie ist der Schülergemeinde gewidmet, aus der in der Widmungsformel repräsentativ Alfred Verdroß und Adolf Merkl hervorgehoben sind. Die Presse vom 10. Oktober 1961, S. 4.

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Als Sprachrohr der Schule dient hauptsächlich die von Kelsen gegründete und zunächst allein herausgegebene „Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht", die jedoch in vorbildlicher Toleranz jeder beachtlichen, rechtswissenschaftlichen Meinungsäußerung offensteht. Ihre Erfolge, die namentlich im Echo der Fachliteratur bestehen, verdankt die rechtswissenschaftliche Lehre Kelsens der Aufgeschlossenheit für Kritik - der Grundbedingung wissenschaftlichen Fortschritts - , ihre Mißerfolge, daß sie keine Anweisung auf Vorteile, auf Ämter und Sinekuren ist, bei grundsätzlicher Nachfolge keine Anwartschaft auf ein bequemes Leben bedeutet. Wie viele andere Wissenschaftler würden gleich Kelsen einem Mann wie dem Doktor der Theologie und katholischen Priester Johannes Sauter, der in seinem Buch über die Rechtslehre des Romantikers Baader die reine Rechtslehre schonungslos zerpflückt hatte, wegen der hinter allen Irrtümern erkennbaren wissenschaftlichen Befähigung und Gesinnung, die Habilitation gegen dessen eigene Gesinnungsfreunde erkämpfen? Sich selbst hat Kelsen seinen Lebensweg und besonders seine wissenschaftliche Entwicklung nicht leicht gemacht. Mit einer wahren Besessenheit von der Aufgabe kompromißloser wissenschaftlicher Erkenntnis hat er nach seinem ersten großen einführenden Werk der „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" seine Lehre in einer von keinem lebenden wissenschaftlichen Schriftsteller des deutschen Sprachbereiches erreichten Fülle von Monographien entwickelt und fast mit jeder seiner Schriften den Anlaß zur Kritik von Seiten der „herrschenden Lehre" gegeben. Der Anspruch, eine „Reine Rechtslehre" zu schaffen, will es dem Rechtswissenschaftler verwehren, das im Lichte außerordentlicher Wertsysteme unvollkommene Recht mit rechtsfremden Werturteilen zu durchsetzen, also das reale Recht gewissermaßen durch ein ideales Recht aufzuwerten, neben der Rechtswissenschaft auch Politik und Ethik zu bieten. Nach einer Reihe anderer Schriften, die sich um die einfühlende Auslegung der Reinen Rechtslehre bemühen, versuche ich in meinem einleitenden Beitrag zu der von Alfred Verdroß im Rahmen der „Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht" herausgegebenen Festgabe für Hans Kelsen, den Sinn und die wissenschaftstheoretische Selbstverständlichkeit eines solchen Wissenschaftsbetriebes begreiflich zu machen. Die Rechtswissenschaft hat das von den weltlichen Mächten, Staats- und Völkerrechtsordnung, getragene Recht unverfälscht zu erkennen. Dieser verlästerte theore-

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tische Rechtspositivismus fordert aber nicht bedingungslose Selbstunterwerfung des Adressaten unter die ethisch nur zu oft unzulänglichen und unhaltbaren Anforderungen der Rechtsautorität, sondern stellt es der Beurteilung und Entscheidung des Gewissens anheim, ob dem Rechtsbefehl um den Preis der Unrechtsfolgen oder der als höher erkannten Wertordnung Gehorsam geleistet wird. Die im Verlag Franz Deuticke in Wien erschienene Neuauflage der „Reinen Rechtslehre" Hans Kelsens (1960) enthält auf 31 Seiten ein 483 Nummern zählendes wissenschaftliches Verzeichnis der Veröffentlichungen Kelsens. Die Hauptwerke sind ausnahmslos in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt. Insgesamt in 23 Sprachen sprechen uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse Kelsens an. So wird Kelsen der lebendige Prediger seiner Überzeugung, daß das gedruckte Wort, vor allem das Buch, das Sprachrohr des Geistes ist, das auszuschalten Hochverrat an der Kultur bedeutet. Der tiefste Grund der Vorurteile gegen Kelsen ist Bequemlichkeit oder Unverständnis, sich in den Schatz seines Lebenswerkes hineinzuwagen und hineinzulesen. Schweres Unrecht an dem Geist des Riesen Kelsen, der Österreich unter anderem auch seine Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit gegeben hat, aus der er bedauerlicherweise verdrängt worden ist, kann dadurch kompensiert werden, daß sein literarisches Lebenswerk von den Berufenen, vor allem von den Rechtslehrern Österreichs gelesen und gepflegt wird.

Hans Kelsen wieder Gast in seiner Heimat Zum drittenmal seit dem für ihn und seine Freunde und wissenschaftlichen Anhänger beklemmend traurigen Abschied im Oktober 1939 weilt Hans Kelsen, der Begründer der nach ihm benannten österreichischen Rechtsschule, wiederum in Österreich: Jetzt als Begründer und Vertreter eines wissenschaftlichen Systems von erdumspannender Bedeutung und Verbreitung, das dank einer im Bereich der Rechtswissenschaften unerreichten Zahl von Übersetzungen in 23 Sprachen zu den Gelehrten und Jüngern der Rechtswissenschaft spricht, und, soweit neben der unübersehbaren Schar von Anhängern noch Gegner zu Worte kommen, mit wissenschaftlichen Argumenten nur mit Respekt zitiert wird. Der wichtigste Erklärungsgrund der Verbreitung seiner Lehre ist außer ihrer inneren Überzeugungskraft eine Aufgeschlossenheit für sachliche Kritik, die sich selten findet; denn wissenschaftliche Wahrheit wächst nur aus der Auseinandersetzung mit der Meinung anderer, zu der nicht der Anspruch des Besserwissens, sondern der beiderseitige Anspruch, die Wahrheit zu gewinnen, führt. Wie viele namhafte Gelehrte sind der Selbstentäußerung eines Kelsen fähig, die er im Fall des katholischen Theologen Dr. Johannes Sauter, eines Schülers Othmar Spanns, an den Tag gelegt hat, der in seiner Habilitationsschrift über Johannes Baader die „Reine Rechtslehre Hans Kelsens" scharf befehdet hatte. Mit dem ganzen Einsatz seiner Persönlichkeit verhalf Kelsen seinem literarischen Widersacher zu der von den fachlichen Anhängern Sauters in Frage gestellten Habilitation an der Universität Wien mit dem Argument, daß sein Kritiker zwar nicht recht habe, sich aber als eine scharfsinnige, wahrheitssuchende Forscherpersönlichkeit erwiesen habe: Eine Haltung, die selbstverständlich nicht darauf abzielte, seinen Widersacher für den schon damals weitgespannten Anhängerkreis der Reinen Rechtslehre zu gewinnen, aber eine ungewöhnliche Lehre von wissenschaftlicher Toleranz

Der Staatsbürger, 15. Jg. (1962), Nr. 12, S. 1-2.

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gegeben hat, die womöglich noch seltener als religiöse oder politische Toleranz anzutreffen ist. Kelsens Berufs- und Lebensschicksal hat ihn aus seiner Heimatstadt Wien im Alter von 48 Jahren aus dem Verfassungsgerichtshof, der seine originelle geistige Schöpfung im Rahmen seiner Entwürfe einer österreichischen Bundesverfassung gewesen war, aus dem ihm ehrlich eröffneten Grund zu scheiden genötigt, daß die von ihm als Richter und ständigem Referenten eingenommene Haltung in einer Zuständigkeitsfrage nicht den Erwartungen einer einflußreichen politischen Persönlichkeit entsprochen habe: Ein erster Eingriff in die Unabhängigkeit dieses höchsten Gerichtes und Freiheitsgaranten unserer Republik, dem am 23. Mai 1934 die Ausschaltung des ganzen Gerichtshofs gefolgt ist. Kelsen räumte stillschweigend das Feld seiner gesetzgeberischen und richterlichen, zugleich aber auch seiner literarischen und akademischen Verdienste, obwohl in dieser nicht für ihn unrühmlichen Situation unter anderen die Erinnerung an die Kennzeichnung des Verfassungsgerichtes durch Ignaz Seipel nahegelegen wäre, der in seinem schriftlichen Bericht über den Entwurf des Bundes-Verfassungsgesetzes an die Konstituierende Nationalversammlung die Einrichtung und den Bestand des Verfassungsgerichtshofs als wesensnotwendige Stütze des Bundesstaates kennzeichnet. Es wäre selbstverständlich ein volles Mißverständnis, wenn man die Annahme des Rufes Kelsens an die Universität Köln als Zeichen des Undankes gegen die Heimatuniversität angesichts der Verlockung durch eine günstigere Auslandsstellung deutete. In rascher Folge verlegte Kelsen die Stätte seiner Lehr- und Forschungstätigkeit von Köln nach Prag, sodann nach Genf und im Jahre 1940 nach Berkeley in Kalifornien. Dort ließ er seinen von Wien aus in die Welt gehenden wissenschaftlichen Publikationen seine „General Theory of Law and State" folgen, die der Auftakt für eine in der Jurisprudenz einzig dastehende Serie von nicht deutschsprachigen Werken und Übersetzungen dieser sowie älterer deutschsprachiger Werke geworden ist. Die zweite vollständig neu bearbeitete Auflage der „Reinen Rechtslehre" ist 1960 wieder im Verlag Franz Deuticke in Wien erschienen, und bringt aus der Feder von Doktor Rudolf Aladar Métall ein 483 Nummern zählendes chronologisches Verzeichnis der Veröffentlichungen Kelsens bis 1960. Hienach hat Kelsen bisher außer in deutscher in folgenden Sprachen zu seiner über sämtliche Staaten der Erde verbreiteten Lesergemeinschaft gespro-

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chen: Arabisch, Bulgarisch, Chinesisch, Dänisch, Englisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Holländisch, Indonesisch, Italienisch, Japanisch, Koreanisch, Kroatisch, Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Serbisch, Spanisch, Tschechisch, Türkisch und Ungarisch. Damit ist die Voraussetzung für die Pflege der Reinen Rechtslehre und deren Fortbildung in einer Vielzahl nationaler Kulturherde geschaffen oder gefördert worden. Damit ist aber zugleich auch die Pflicht der Heimat zu einer Ehrenpflicht geworden, im Rahmen der allgemeinen Staats- und Rechtslehre die „Reine Rechtslehre" zu pflegen und an die künftige Generation von Juristen fortzuerben. Die Zeit des autoritären Staates war begreiflicherweise kulturellen Aufgaben und im besonderen dem Betrieb einer philosophische Mindestkenntnisse voraussetzenden Rechtstheorie nicht günstig. Einerseits hat der autoritäre Staat, besonders in der nationalsozialistischen Spielart, die reine Rechtslehre als staatsfeindlich abgelehnt; andererseits wurde die Lehre verdächtigt, durch ihre Sinngebung des Rechtssatzes jedem staatlichen Befehl Gehorsam zu arrogieren. Ungezählte Male habe ich klarzumachen versucht, daß es Kelsen der Entscheidung des Gewissens des einzelnen Normadressaten anheimstellt, ob er sich der Zumutung des mit Zwangsfolgen bewehrten Staatswillens beugt oder auf die Gefahr der Duldung der staatlichen Sanktionen der als höher erkannten Wertordnung Folge leistet. Die Kriegsfolgen mit ihrer weitgehenden Entwöhnung der Jugend von rein geistiger Arbeit, die Unbeliebtheit des Buches, das aber das unentbehrliche Thesaurierungsmittel vor allem der Wissenschaft ist und bleibt, erschwert des weiteren die Überlieferung des monumentalen literarischen Werkes Kelsens an eine künftige Juristengeneration. Die Beurteilung des Gesamtwerkes Kelsens auf Grund einer willkürlich aufgegriffenen kleinen Kostprobe führt in der Tat zu Vorurteilen und Fehlurteilen, als wenn man etwa, wenn dieser Vergleich gestattet ist, Martin Luthers literarisches Werk nach seinem zeitbedingten Vorurteil über Kopernikus beurteilte, den er einen Narren schilt, weil er das Weltall verkehrt sehe und die Erde sich um die Sonne drehen lasse. Der 80. Geburtstag unseres Gelehrten gab der Universität von Wien, der ersten Stätte seines ruhmvollen akademischen Wirkens die Gelegenheit, nachdem sechs andere Hochschulen, darunter die Universitäten Utrecht und

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Berlin, mit der gleichen Auszeichnung vorangegangen waren, das Ehrendoktorat (der Staatswissenschaften) zu verleihen. Eine von Professor Verdross herausgegebene literarische Festgabe hat in Abhandlungen, die überwiegend Professoren und Dozenten der Universität Wien verfaßt haben, Probleme beleuchetet, die von Kelsen zur Diskussion gestellt sind und einer ergänzenden Erörterung bedürftig erscheinen. Namens der Fachgenossen der deutschen Bundesrepublik hat der aus Österreich stammende Münchner Rechtslehrer Spanner im Archiv des öffentlichen Rechts Kelsen in einem würdigen Geburtstagsartikel gefeiert. Ich konnte selbst Zeuge der Sitzung der hundertgliedrigen Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer sein, in der auf Antrag des damaligen Vorsitzenden Professor Scheuner aus Bonn ein von dem Basler Professor Imboden, dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden, verfaßtes besonders ehrendes Glückwunschtelegramm an das ehemalige Mitglied dieser Vereinigung per acclamationem zum Beschluß erhoben wurde. Die zahllosen Ehrungen des weiteren Auslandes können ihrer Fülle wegen hier nicht registriert werden. Die Wiener Verehrer und Schüler Kelsens erwarten in den nächsten Tagen Vorträge ihres großen geistigen Führers und entbieten ihm im voraus den Ausdruck ihrer Verehrung und unwandelbaren Gefolgschaft.

Journalistisches Gewissen der Freiheit Erinnerungen an Hans Mauthe Lebensumstände, die mich durch die beiderseitigen Berufe mit Hans Mauthe auf dem Höhepunkt seines journalistischen Wirkens zusammengeführt haben, verpflichten mich, des Toten zu gedenken, der mir noch vor zwei Wochen ein herzliches Schreiben zukommen ließ. Mauthe als Redakteur für Innenpolitik an der Tageszeitung „Wiener Neueste Nachrichten" und ich als damaliger außerordentlicher Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien, der sich in Semestervorlesungen mit der Stellung der nationalen Minderheiten in Europa befaßt hat, wurden durch einen gleichinteressierten beiderseitigen Freund zusammengeführt. Mauthe hat seiner Abstammung als Galiziendeutscher gemäß mit Hingebung und Treue, aber ohne jeden nationalen Chauvinismus den Existenzinteressen seiner deutschsprachigen Landsleute, die durch den Zusammenbruch des österreichischen Kaiserstaates in nationale Fremdherrschaft geraten waren, gedient. Teils mit redaktionellen Aufsätzen, teils mit Beiträgen, die ich aus im heutigen Österreich fast verschollenen Quellen liefern konnte, haben die „Wiener Neuesten Nachrichten" die gegen das konstitutionelle Österreich auch nach dessen Zusammenbruch und zur Rechtfertigung seiner Auflösung verbreitete Legende vom „Völkerkerker Österreich" bekämpft und nachgewiesen, daß die Volksstämme Österreichs - nicht auch Ungarns, das eine eigene Verfassung mit Vorherrschaft der magyarischen Nation hatte - sich einer freilich nicht immer gewürdigten Selbstbestimmung und gerichtsförmigen Sicherung ihrer nationalen Existenz erfreut haben, um die sie später von den nationalen Minderheiten der Nachfolgestaaten Österreichs beneidet worden sind.

Die Presse vom 5. April 1962, S. 4.

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Ein weiteres Zeugnis für die wahrhaft objektive patriotische Einstellung Mauthes als österreichischer Journalist war die Tatsache, daß seine Bemühungen um die Erlaubnis einer maßvollen Sachverhaltsdarstellung der seinerzeitigen bösartigen Verunglimpfung Österreichs in einer Exposition des „Museo del risorgimento" in Trient am Einspruch aller maßgebenden österreichischen Stellen gescheitert sind. Mauthe war mit mir darüber einer Meinung, daß die stillschweigende Hinnahme dieser Verunglimpfung Österreichs die tatsächliche Geringschätzung unseres Vaterlandes von Seiten des Faschismus von der Art des höhnischen Wortes Mussolinis: „Österreich ist, was es ist" nur steigern und uns den schließlichen Fußtritt oder Verrat nicht ersparen würde. Mauthe hatte aber auch den Mut, das österreichische Autoritätsregime angesichts der auch von maßvollen Landsleuten wie Kunschak als unerträglich befundenen Überspitzungen in die Schranken zu weisen. Dr. Ernst Molden als der geschäftsführende Chefredakteur der „Neuen Freien Presse" und Walter Federn als der Herausgeber des „Österreichischen Volkswirtes" waren mit einem „Bis hierher und nicht weiter!" vorangegangen. Aber auch Mauthe hatte den gleichen Mut aufgebracht. Unter den sechs Vertretern der österreichischen Presse, die am 24. Mai 1933 von mir zu der an diesem Tag erschienenen kriegswirtschaftlichen Verordnung zur Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes eine fachliche Äußerung erbaten, war Hans Mauthe namens der „Wiener Neuesten Nachrichten". Gemäß meiner Zusage veröffentlichte das Blatt am 25. Mai 1933 meinen Leitartikel unter dem Titel „Sein oder Nichtsein des Verfassungsgerichtshofs". In diesem wurde die Regierung an den Wahrspruch der Monarchie „Iustitia est fundamentum regnorum" und an die von Ignaz Seipel in seinem Bericht an die Konstituierende Nationalversammlung gemachte Kennzeichnung des Verfassungsgerichtshofes als des „Pfeilers des österreichischen Verfassungsgebäudes" leider vergeblich erinnert. Es war dieser Fall nicht der erste und nicht der letzte, in dem Mauthe unbeschadet seines Staatsbewußtseins der Idee der politischen Freiheit den Vorzug gab und für sein Organ im Dienst der Meinungsäußerung der Presse ein Risiko einging, das für einen akademischen Lehrer dank der trotz allem respektierten Freiheit der wissenschaftlichen Meinungsäußerung nicht bestand. Das größte Wagnis Mauthes gegenüber der Regierung, aber auch gegenüber den zum Nationalsozialismus tendierenden Wählern der Großdeut-

Journalistisches Gewissen der Freiheit: Hans Mauthe

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sehen Partei, war wohl der am 1. Mai 1934, dem Tag der Inkraftsetzung der „ständisch-autoritären" Verfassung, in den „Wiener Neuesten Nachrichten" unter dem Titel „Die Wende des Verfassungslebens" veröffentlichte Leitartikel, der mit der Warnung des größten katholischen Staatsphilosophen, Thomas von Aquin, schließt: „Nichts hat Bestand, was dem Willen der Volksmehrheit widerspricht." Die Bauernschaft hatte sich durchaus nicht gegenüber den Lockungen des Nationalsozialismus immun erwiesen, wobei die Fehllenkung des sachlich begründeten „landwirtschaftlichen Notopfers" im Sinne des Bundesgesetzes vom 16. Juli 1930 betreffend „außerordentliche Hilfsmaßnahmen zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes", und zwar die Verteilung des Subventionsbetrages von 96 Millionen Schilling (Wert 1930) in Form von unkontrolliert verwendbaren, zwischen 500.000 Schilling und 10 Schilling abgestuften Anbauprämien einen mächtigen Impuls zu regierungsfeindlicher Propaganda gab. Die öffentlich Angestellten waren durch Gehaltskürzungen bei gleichzeitigen unverstandenen Staatsausgaben ihrer Berufsaufgabe des Dienstes für die Allgemeinheit, in unheimlichem Maße entfremdet. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft stand, obwohl sie für sinnlose Gewalttaten wie die Zerstörung des Justizpalastes nur zum geringsten Teil verantwortlich zu machen war, dem herrschenden Kurs seit dem Erlöschen der Mandate in den allgemeinen Vertretungskörpern geschlossen ablehnend gegenüber. Die frömmsten Parteigänger der Regierung wurden durch die einander widersprechenden Erklärungen von Dollfuß und Starhemberg vor die Frage gestellt, ob ein Ständestaat nach vermeintlich kirchlichem Rezept oder der Korporativstaat Mussolinis das Ziel des Regierungskurses sei. In die Intelligenzkreise sickerte aus dem Ausland die Feststellung durch, daß die Forderung einer ständischen Staatsverfassung mit der kirchlichen Neutralitätserklärung in bezug auf die Staats- und Regierungsform unvereinbar sei, sondern daß bloß eine ständische Selbstverwaltung in Frage stehe. Verantwortungsbewußte Wegweiser der öffentlichen Meinung wie Mauthe, haben in dieser verworrenen Lage zu einer Konzentration der staatsbejahenden Kräfte im Sinne einer maßvollen Demokratie gemahnt. Mauthe hat seinen Beruf als politischer Journalist geradezu als Amt im Dienste des Volkes aufgefaßt, das die dem Rechtsstaat eigentümlichen Sicherungen der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit durch das die

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Möglichkeiten der Pressefreiheit ausschöpfende offene und nötigerweise getarnte Wort zu ersetzen berufen sei. Für einen idealen Pressemann wie Mauthe kam schweigen, wo reden oder schreiben möglich war, um keinen Preis in Frage.

Entwickelt sich Österreichs Rechtswissenschaft? Die negative Rolle des Krieges für die Pflege der historischen und dogmatischen Wissenschaft von Staat und Recht ist in Österreich in erschütternder Weise in Erscheinung getreten. Wenn die Wissenschafter, die in diesem Rahmen ungenannt bleiben sollen, politische, im besonderen kulturpolitische Erwartungen auf einen Krieg als Mittel für eine positive Entscheidung des Staatsproblems gesetzt, insbesondere für die Sicherung einer friedlichen Koexistenz der österreichischen Volksstämme ausgesprochen haben, so war dies naiver Selbstbetrug oder unehrlicher Anschluß an die künstlich gemachte öffentliche Meinung. Es ist das geschichtliches Verdienst Karl Renners , daß er im Jahre 1899 in seinem berühmt gewordenen Buch „Nation und Staat" als Mittel der Befriedung des innerösterreichischen Nationalitätenhaders als erster den Plan eines österreichischen Nationalitäten-Bundesstaates entwickelt und in einer langen Reihe von Veröffentlichungen die verschiedenen Durchführungsmöglichkeiten dieses Planes im Rahmen und Geist einer konstitutionellen Monarchie Österreich zur Diskussion gestellt hat. Auch Nichtsozialisten haben diesen Plan als vielleicht einziges Mittel der Konsolidierung Mitteleuropas durch Initiative Österreichs gewürdigt. Eine unbedingte Voraussetzung des Umbaues Österreichs in diese bloß vom tschechischen Volk abgelehnte Form des Bundesstaates war die Demokratisierung des Wahlrechtes im Sinne eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes zumindest aller großjährigen männlichen Staatsbürger. Die angrenzenden Staaten, besonders Rußland, mußten nach diesen politischen Erwägungen für die Volksstämme Österreichs, soweit ihre Angehörigen politisch mündig und kulturell reif geworden waren, ihre Anziehungskraft verlieren, sobald die politische Freiheit und der von ihr erhoffte wirtschaftliche und kulturelle

In: Österreich - Geistige Provinz? Wien: Forum-Verlag 1965, S. 280-312.

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Aufstieg sinnfällig gemacht worden war. Nach Überwindung nachhaltiger reaktionärer Widerstände war durch die Gesetze vom 26. Jänner 1907 - das Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung und über die Reichsratswahlordnung - im Sinne des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes aller österreichischen Staatsbürger männlichen Geschlechts, die das 24. Lebensjahr zurückgelegt hatten, reformiert worden. Es war dies das gemeinsame Verdienst einer maßvollen „demokratischen" Mehrheit des damaligen Privilegienparlaments, um das sich unter anderen Persönlichkeiten wie Dr. Karl Lueger, Dr. Victor Adler und der damalige Ministerpräsident Dr. Max Wladimir Beck jahrelang bemüht hatten. Wenngleich sich die Erwartung, daß die Mehrheit der neuen Volksvertreter einen neuen Geist in das Parlament bringen werde, nicht erfüllt hat, verdient doch diese Ruhmestat der politischen Geschichte Österreichs im Bewußtsein der in gehobenen Berufen tätigen Österreicher wacherhalten zu werden. Die unter Jungakademikern verbreitete Vorstellung, daß die Rolle von Volksstämmen des Kaiserstaates Österreich die Österreicher, Ungarn, Serben und Slawen (!) gespielt hätten und daß ihre Staatssprache, im besonderen die Amtssprache und Unterrichtssprache an den österreichischen Schulen aller Grade, die deutsche Sprache gewesen sei, verrät eine peinliche Lücke der politischen Bildung. Dasselbe gilt unter anderem auch von dem selbst bei ausgebildeten Juristen anzutreffenden Unverständnis für die Tatsache, daß der Zerfall des österreichischen Kaiserstaates durch die - zur Ehre der damaligen Österreicher - unblutige Revolution des Oktober 1918 irgendwelche Institutionen des Kaiserstaates Österreich am Leben gelassen hätte. Der Untergang eines Staates beseitigt so wie der Tod eines Menschen alle Organe. Abgeordnetenhaus und Herrenhaus des Reichsrates, die Landtage der österreichischen Kronländer, der gesamte Vollzugsapparat der Gerichtsbarkeit und Verwaltung hatten ihren Charakter und ihre Kompetenz verloren. Desgleichen aber auch der Kaiser und die Dynastie. Nur die gewissermaßen als Geburtshelfer des Neustaates mit Zustimmung des Volkes handelnden Personen, im einzelnen die Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs, die Landtage der neuen Länder und die von ihnen bevollmächtigten Ausführungsorgane waren berechtigt, für den Neustaat zu handeln. Diese aus der Diskontinuität der erloschenen und der neuentstandenen Herrschaftsordnung resultierende Auffassung ermöglicht die richtige Deutung der im Jahre 1918 in unserer Heimat entstandenen Rechtslage. Die daraus sich ergebende Folge ist, daß Österreich mit dem Wirksamwerden der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918

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Republik geworden war. Das Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. Nr. 5 hat mit seinem Art. 1: „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik" einen rein deklaratorischen Akt gesetzt: Eine geschichtliche Tatsache wird authentisch festgestellt. Bei dieser Rechtslage war für die Erklärung, die der vormalige Kaiser Karl aus dem Hause Habsburg-Lothringen am 11. November 1918, also jedenfalls nach der Verlautbarung des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, abgegeben hat, des Inhalts, daß er sich in Zukunft der Ausübung von Regierungsakten enthalten werde, überhaupt keine rechtliche Möglichkeit gegeben, da der Kaiser, so wie jedes andere Organ des Kaiserstaates, durch den Zerfall dieses Staates seine Organstellung verloren hatte. Zur Würdigung des Widerhalls und der Stimmungen, die der politische Umbruch des Jahres 1918 in österreichischen Druckwerken hervorgerufen hat, ist die vorstehende wissenschaftliche Klärung des geschichtlichen Sachverhalts geboten. Man kann den mehr oder weniger andeutenden Stimmen persönlich achtbarer, aber in bezug auf das Erlebnis des Jahres 1918 verworrener Schriftsteller die These entnehmen: Tatsächlich habe die Geschichte durch den Entscheid der Waffen den Monarchen entthront und das monarchistische Prinzip entwurzelt, doch als Idee und Institution, als Forderung des Naturrechtes bestehe es noch fort. Unbekümmert um die etwaige Verdächtigung, solche Annahmen, Illusionen oder Wünsche, die noch Jahrzehnte nach dem Untergang der Monarchie laut geworden sind, ernst zu nehmen, war und ist die ausdrückliche Feststellung der Rechts- und Tatsachenlage auch im Rahmen dieses Berichtes am Platze. Zur richtigen Würdigung der Gegenwartslage müssen beide Zeitabschnitte des rechtswissenschaftlichen Schrifttums der Geschichte unserer Republik berücksichtigt werden: Die Zeit der sogenannten Ersten Republik von 1918 bis 1938 und die der sogenannten Zweiten Republik von 1945 bis 1965. Der Zerfall des Kaiserstaates Österreich und die Entstehung der Republik Österreich hatte für die Staatsverfassung als die oberste Stufe der positiven Rechtsordnung eine weitertragende Rechtsfolge als für den von ihr abhängigen, mengenmäßig und in seiner praktischen Tragweite unverhältnismäßig größeren Teil der Rechtsordnung, vor allem der formellen Gesetze, Rechts- und in richtiger Schau auch der Verwaltungsverordnungen und für

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die Fülle der individuellen Staatshandlungen, im besonderen Justiz- und Verwaltungsakte. Die Neuschöpfung eines Staates bedingt und bedeutet die Inkraftsetzung einer formell und inhaltlich neuen Ordnung der höchsten Staatsorgane und Staatsfunktionen. Die Geburt eines Staates besteht geradezu in der Schöpfung einer neuen Staatsverfassung. Die Erneuerung der Rechtsordnung wirkt sich auch in der Rechtslehre durch einen mehr oder minder weitgehenden Wandel der Staatsauffassung aus. Während die Stabilität einer staatlichen Rechtsordnung auf die Erkenntnisse der Rechtswissenschaft ausgleichend wirkt, haben Umbrüche der Rechtsordnung - national allerdings in verschiedenem Maße - einen Wandel der rechtstheoretischen Auffassung zur Folge. Maß und Gegenstand dieser Umwandlung hängt freilich von der Aktivität des rechtswissenschaftlichen Denkens und von der Differenzierung der rechtspolitischen Werte der Staatsnation ab. Unter diesen Umständen sind starke Unterschiede in der rechtswissenschaftlichen Deutung des Rechtes des Neustaates und die Subsumtion der Neubildung unter verschiedene rechtswissenschaftliche Typen nicht überraschend. Der einzelne Wissenschafter darf sich unter diesen Umständen nicht als die ausschließliche rechtswissenschaftliche Autorität inthronisieren und von der seinigen abweichende rechtswissenschaftliche Thesen als rechtswissenschaftlich unmaßgeblich beurteilen. Dieses Gebot des wissenschaftlichen Verfahrens wird durch die Erfahrung der Wissenschaftsgeschichte gerechtfertigt. Man denke nur, wie Größen der Wissenschaftsgeschichte und namentlich der Staats- und Rechtswissenschaft sich gewissermaßen selbst verneint haben. Die „Diktatoren" wissenschaftlicher Theorien und wissenschaftlicher Systeme für den Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften sollten Präzedenzfälle eines Standpunktwechsels kennen und auch bei minder Großen anerkennen, wofern nicht der Verdacht eines opportunistischen, nicht der persönlichen Überzeugung, sondern dem persönlichen Nutzen folgenden Standpunktwechsels naheliegt und nachweisbar ist. Piaton, als Schüler von Sokrates erste wissenschaftliche Größe der Antike, hat in seinem Leben (424 bis 347 v.Chr.) zunächst das Ideal des Richterstaates aufgestellt, das bedeutet eine Staatskonstruktion, in der ein durch Erziehung zur Führung berufener Einzelmensch das staatliche Recht jeweils für den Einzelfall statuiert. Durch Erfahrung hat Piaton dank seiner Altersweisheit in seinem Werke Nomoi (Die Gesetze) die Forderung aufgestellt, daß ein Gesetzgeber wiederum wie vielfach schon vordem allgemeine, das heißt auf eine unbestimmte Vielzahl von Fällen anwendbare Rechtsregeln setze, die dann andere Staatsorgane auf den Einzelfall anzuwenden

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haben: Gedankliche Entwicklung vom einstufigen zum zweistufigen Recht. Als zweiter Fall eines solchen Sinneswandels sei nur der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel genannt. Der „ehemalige Schwärmer für die französische Revolution", der in Tübingen als der wildeste Jakobiner und als Schüler Rousseaus galt, war als Professor an der Universität in Heidelberg und dann in Berlin „echt konservativ und vor allem durch und durch antirevolutionär" geworden (aus: Wilhelm Windelband , „Die Geschichte der neueren Philosophie", 2. Bd., S. 347). Bei Friedrich Schiller ist die innere Wandlung nicht so weit ausgreifend, aber doch höchst eindrucksvoll, wenn man etwa die „Räuber" und die „Aesthetischen Briefe, die Erziehung der Menschheit betreffend" miteinander konfrontiert. Vergleiche meine Abhandlung: „Friedrich Schiller und der Staat", Zeitschrift für öffentliches Recht. Diese ideengeschichtliche Erinnerung ist durch das Urteil nahegelegt, das ein verdienstvoller Autor der heutigen Rechtswissenschaft über einen anderen gleichfalls verdienstvollen abgibt. Der Stand der Fachwissenschaften der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten Die Fachwissenschaften der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultäten sind die Allgemeine Staatslehre, die Allgemeine Verwaltungslehre, die Völkerrechtslehre und die besonderen Disziplinen des österreichischen Rechts, und zwar das österreichische Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und Justizrecht. Das letztere gliedert sich wiederum in das Privatrecht und das Recht des zivilgerichtlichen Verfahrens, das materielle Strafrecht und das Strafprozeßrecht. Das Schrifttum der genannen Gegenstände ist in einer Weise spezialisiert, daß sich kein Fachprofessor anmaßen kann, einen wertenden Gesamtüberblick über das derzeit noch geltende Recht eines Kleinstaates von unbestrittener Rechtskultur und das rechtswissenschaftliche Schrifttum dieser Gegenstände abzugeben. Unter diesen Umständen ist Unvollständigkeit eher als Ungenauigkeit des Berichtes zu verantworten und ist es sachlich vertretbar, daß ein Fachmann jenes Gebietes, das am stärksten im Fluß ist, sich der Aufgabe unterzieht, einen Überblick über dieses mengenmäßig größte und politisch am meisten umstrittene Teilgebiet zu geben. Für diese Zuteilung der Rolle spricht auch der Erfahrungssatz, daß das Justizrecht viel dauerhafter als das Verfassungs- und Verwaltungsrecht ist und daher die Literatur älterer Zeitabschnitte in ihren grundsätzlichen Erkenntnissen heute noch, also für den Kaiserstaat Österreich und die

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Republik Österreich - freilich nur auf Grund einer sorgfältigen Untersuchung etwaiger Rechtsänderungen - Gültigkeit beanspruchen kann. Es gilt mit Ausnahmen der Erfahrungssatz „Verfassungs- und Verwaltungsrecht vergeht, Gerichtsrecht besteht". Die Lebensdauer und Lebenskraft der großen Gesetzbücher des Justizrechtes und die Wirkungskraft der Werke seiner großen Wissenschafter erklärt sich aus dem fast allen Kulturnationen eigentümlichen Bedürfnis nach Beständigkeit der rechtlichen Ordnung des Privatlebens, wobei die rechtbildende Kraft von Gerichtsurteilen den zeitbedingten Notwendigkeiten Rechnung trägt. Dagegen halten von der Mehrheit oder von stoßkräftigen Gruppen des Staatsvolkes getragene Forderungen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik, Sozialpolitik und sogar der die Volksgesamtheit berührenden Verfassungspolitik das Wirtschaftsrecht, Kulturrecht, Sozialrecht und sogar das Verfassungsrecht in Fluß. Kritik repräsentativer Autoren Ein Überblick über die rechtswissenschaftlichen Publikationen, der ein Werturteil über ihre Leistungsfähigkeit im Vergleich mit dem Stand der Rechtswissenschaft der ausländischen Kulturwelt von heute erlaubt, kann durch die Untersuchung der Publikationen auf dem Gebiete der einzelnen juristischen Disziplinen oder durch die Verweisung auf bestimmte Autoren der Rechtswissenschaft gewonnen werden. Der zweite Weg scheint der gestellten Aufgabe eher zu entsprechen, denn die Publikationen sind nicht streng auf den nämlichen Gegenstand bezogen, und müßten daher zum Teil mehrmals besprochen werden. Der unstreitig „weltbekannte", darum auch am öftesten verkannte rechtswissenschaftliche Schriftsteller dieses Jahrhunderts, Hans Kelsen, ist einerseits geistiger Vater der am weitesten verbreiteten Rechtstheorie des Jahrhunderts, andererseits rechtswissenschaftlicher Spezialist engster Problemkreise. Ich will, um zu verhüten, daß die Reihung der Autoren als Wertung mißverstanden wird, nach dem Alphabet vorgehen und muß vorausschicken, daß die Entscheidung für die Nennung eines Autors nur bedeutet, daß der Genannte nach meinem besten Wissen und Gewissen eine ihn irgendwie kennzeichnende beachtliche Leistung aufzuweisen hat, oder daß er im Kreise der Fachgenossen, sei es nun dank einer Publikation oder dank seinem Amte, eine führende Rolle spielt. In die Vergangenheit greift unser

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Überblick nicht über die Jahrhundertwende zurück und ist damit wesentlich auf die Publizistik der Republik Österreich beschränkt. Ludwig Adamovich, o. Professor der Universität Wien und Präsident des Verfassungsgerichtshofs, bekennt sich in seiner Selbstdarstellung („Österreichische Rechtswissenschafter", hsg. von Prof. Nikolaus Grass , Innsbruck, Universitätsverlag Wagner) als Schüler von Adolf Menzel , und distanziert sich zugleich von dem anderen Fachvertreter seiner Studienzeit, Edmund Bernatzik. Adamovich hat sich auf Ratschlag der Professoren Menzel und Kelsen für die Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Staatsrecht (im Sinne von Verfassungsrecht), Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht habilitiert und alsbald eine überaus reichhaltige literarische Tätigkeit auf dem Gebiete des Verfassungs- und Verwaltungsrechts entfaltet, dagegen auf dem Gebiet der Allgemeinen Staatslehre durchaus fremde Thesen rezipiert. An Stelle ursprünglicher kleiner Studienbehelfe verfaßt Adamovich später „Handbücher" des österreichischen Verfassungsrechtes und des österreichischen Verwaltungsrechtes, die er als Lehrbücher gedacht und vorausgesetzt hat, außerdem Kommentare des österreichischen Verfassungsrechtes. Nach dem Tode des rastlos tätigen Gelehrten wurde 1957 eine 5. Auflage des „Österreichischen Verfassungsrechtes" von Prof. Hans Spanner , München, „bearbeitet und ergänzt" herausgegeben. Diese Neuauflage hat das Werk des Verstorbenen durch theoretisch bedingte Neufassungen behutsam, nur für den Fachmann merklich, verändert. Die verwendeten Rechtsbegriffe hat Adamovich der Fachliteratur der allgemeinen Staatslehre seiner Zeit, namentlich Georg Jellineks „Allgemeiner Staatslehre", entnommen, so daß er als Kenner, aber nicht als Schöpfer einer Allgemeinen Staatslehre beurteilt werden kann. Die Urteile seiner positiv-rechtlichen Schriften erstreben Eindeutigkeit selbst in Fällen, wo logisch infolge der abstrakt-generellen Natur der gesetzlichen Formulierung vielleicht eine mehrfache Auslegungsmöglichkeit des gesatzten Rechtes bestünde. Der Verfasser betreibt somit Rechtswissenschaft „de iudicio ferendo" und kommt so zu rechtswissenschaftlichen Ergebnissen, denen er gewissermaßen in der Rolle des platonischen Richterkönigs den Vorzug gibt. Das rechtswissenschaftliche Urteil wird also ausnahmslos zu dem subjektiv geforderten Ergebnis verengt. Die von Zeitgenossen unseres Autors wie namentlich Alfred Verdross bejahte Existenz eines präpositiven Rechtes, liegt Adamovich völlig fern. Rechtspolitische Kritik des geltenden, weil wirksamen Rechtes, hat indes Adamovich nicht ausgeschlossen. Als

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Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der deutschsprachigen Universität in Prag hat Adamovich an einzelnen Lösungen des positiven Rechtes seiner Lehrfächer herbe Kritik geübt; besonders an der formell-gesetzlichen Transformation des Staatsvertrages zum Schutz der nationalen Minderheiten der Tschechoslowakischen Republik, von St. Germain, 1920, dessen Abschluß die alliierten Hauptmächte als Bedingung der Anerkennung des tschechoslowakischen Staates aufgestellt hatten. Adamovich stellt in diesem Werke, das er nach seiner Ernennung zum Professor der Universität Wien im Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei erscheinen ließ, fest, der Schutz der nationalen Minderheiten sei durch Auslassungen der Vertragsbestimmungen im Transformationsgesetz und durch rechtswidrige Anwendung des derart deteriorierten Gesetzes wesentlich verschlechtert worden. Dieses Urteil darf in der Publikation eines politisch konservativen Sohnes einer kroatischen Offiziersfamilie nicht als nationalistische und dem tschechoslowakischen Neustaat feindlich gesinnte Propaganda mißdeutet werden und erhält in einer geradezu offiziösen, von der österreichischen Staatsdruckerei herausgegebenen Publikation gesteigertes Gewicht, ähnlich wie ein sachlich verwandtes Urteil des über jeden nationalistischen Verdacht erhabenen großen Vertreters der Paneuropa-Idee Coudenhove-Kalergi. In seiner Selbstbiographie im vorgenannten Sammelwerk bekennt sich Adamovich zur Geschichte des österreichischen Kaiserstaates, dessen Untergang er tief bedauert und, ohne damit einem opportunistischen Kompromiß zu unterliegen, zur Wirklichkeit der Republik Österreich, deren Recht er als oberster richterlicher Verfassungsgarant unverbrüchlich hütet, und dessen Bundeskanzler Karl Renner er nach dessen Tod (wiederum in seiner Selbstbiographie) aus der Zeit einer beruflichen Zusammenarbeit warme Worte der Anerkennung seines Dienstes und seiner Verdienste um Österreich widmet. Ludwig Adamovich war beruflich als theoretischer und praktischer Jurist ein Positivist, dem aus vollzogenen, wenn auch bedauerten Tatsachen ein neuer Staat und neues Recht von verpflichtender Autorität entstanden ist. Walter Antonioiii, nach seiner Habilitation in Wien Professor der Universität Innsbruck, seit 1955 in Wien, kurz nach der Ernennung zum Professor als ordentliches Mitglied in den Verfassungsgerichtshof berufen, und in rascher Folge zum Vizepräsidenten und Präsidenten dieses Gerichtshofs ernannt. Die umfangreichste und wichtigste literarische Leistung Antonioiiis ist sein „Allgemeines Verwaltungsrecht", Wien, Manz'scher Verlag 1954; im

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Vorwort bekennt sich der Verfasser ausdrücklich zu vier Gewährsmännern: „Mehr als alle Zitate dies tun können, bin ich den Arbeiten von Adamovich, Forsthoff, W. Jellinek und Merkl verpflichtet, um nur jene zu nennen, die auf mich den größten Einfluß ausübten." Die Aufzählung dieser rechts wissenschaftlichen Schriftsteller würde wohl mißverstanden werden, wenn sie als Bekenntnis und Übernahme mehrerer wissenschaftlicher, besonders methodischer Richtungen aufgefaßt würde, denn diese Namen bedeuten eine Mehrzahl miteinander unvereinbarlicher Richtungen. Dem Autor würde Unrecht widerfahren, wenn man ihm eine Vermengung von Denkmethoden zumutete, doch hat die Aussage Antonioiiis insoweit einen guten Sinn, als er ohne Exemplifikation bloß ausdrücken wollte, daß er aus den Schriften der Genannten die meisten sachlichen Anregungen empfangen hat. Der Titel des Werkes „Allgemeines Verwaltungsrecht" wird aus dessen Inhalt dahin aufgeklärt, daß es sich als eine Monographie aus dem Stoffgebiete des österreichischen Verwaltungsrechtes darstelle, und zwar als eine Untersuchung des gemeiniglich sogenannten „allgemeinen Teils" eines positiven Verwaltungsrechtes; also als eine gedankliche Abstraktion der dem positiven Verwaltungsrecht gemeinsamen Bestimmungen. Es ist nur eine Folge oberflächlicher Befassung mit der Fachliteratur, wenn der Buchtitel „Allgemeines Verwaltungsrecht" in der Praxis als Bezeichnung eines einzigen Werkes mißverstanden wird, über dessen Autor sich Studenten darum nicht klar geworden sind, weil sie die identisch benannten, aber inhaltsverschiedenen Publikationen mehrerer Autoren nicht zu Rate gezogen haben. Als Verfasser eines anderen als des von Prof. Antonioiii verfaßten und herausgegebenen „Allgemeinen Verwaltungsrechtes", das gewissermaßen gemeinsame Faktoren aus Verwaltungsrechtsordnungen eines ganzen Kreises institutionell verwandter Verwaltungsrechte heraushebt, schätze ich den Lehrgehalt, die Gründlichkeit und Ausgewogenheit des in Rede stehenden Werkes Antonioiiis sehr hoch ein und habe meinen Hörern die gründliche Befassung mit dem Werke empfohlen. Die von einer Theorie des positiven Rechtes benötigten Begriffe der allgemeinen Staatslehre hat Antonioiii aus der Literatur der allgemeinen Staatslehre von verschiedenen, in der Regel nicht genannten Autoren sinnvoll übernommen. Mit Fragen des positiven Verfassungsrechtes hat sich Antonioiii in knappen, aber überzeugenden Gelegenheitsschriften, besonders in einem der österreichischen Rechtspraxis entnommenen Beitrag zur Festschrift zu Ehren des Berner Professors Max Huber befaßt. Die Fachgenossen Antonioiiis erhoffen, daß er die ungewöhnlichen Erfahrungen als langjähriges Mitglied und Präsident eines

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Verfassungsgerichtshofes zu einer für die österreichische Rechtswissenschaft repräsentativen Publikation und auch als Kritiker der Staatspraxis in bezug auf ihre Verfassungsmäßigkeit und damit auch ihre ethische Unanfechtbarkeit verwerten werde. Edmund BernatziK der große Meister des Verfassungsrechts der Monarchie, starb 1918 an der Schwelle der Republik und war somit auch gewissermaßen kalendarisch, überdies aber gesinnungsmäßig Republikaner. Die beträchtlichsten literarischen Leistungen dieser großen, stark profilierten Persönlichkeit waren sein verwaltungstheoretisches Buch „Rechtsprechung und materielle Rechtskraft" und seine in 2. Auflage fast 1000 Druckseiten zählende Ausgabe der österreichischen Verfassungsgesetze, insbesondere auch dank der kommentatorischen Beigaben zu dem Gesetzestext. Im erstgenannten Werke vertritt der Verfasser den rechtspolitischen Gedanken der Bindung der Verwaltung an ihre Akte von rechtsprechendem Charakter. Damit wurde er Wegbereiter der gesetzgeberischen Verankerung der Rechtskraft, wie sie traditionell das Zivilprozeßrecht darbietet, für den Zivilprozeß vergleichbare Verfahrenswege der Verwaltung. Eine bewußte, wenn auch durch literarische Mittelsmänner vorbereitete Nutzanwendung der Erkenntnis und Ermahnung Bernatziks ist die Kodifikation des allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1925, besonders des § 68. Wie nur wenige Fachgelehrte der Monarchie ist Bernatzik mit dem Staatsproblem des österreichischen Kaiserstaates vertraut und um seine Lösung teils mit beißender Ironie, teils mit Keulenschlägen bemüht. Bernatziks rechtspolitische Vorschläge und Forderungen sind in gründlicher Kenntnis der Theorie der Politik fundiert. Davon legen schon seine enzyklopädischen Einführungsvorlesungen und seine nicht bloß von Studierenden, sondern auch von zahlreichen Persönlichkeiten der Bürokratie und der freien Gesellschaft besuchten Seminarübungen Zeugnis ab, die er im Dienst der Sache durch kritische Bezugnahmen auf Tagesereignisse im öffentlichen Leben anziehend und amüsant gestaltet. In welcher Monarchie seiner Zeit hätte ein Professor der Staatslehre und des Staatsrechtes als Thema seines Einführungsvortrages „Was ist Anarchismus?" gewählt, und so unverhohlen seine Sympathie mit dem „Liberalismus als nicht zu Ende gedachtem Anarchismus" bekundet? Freilich mit einem Liberalismus, der sich über den von Wilhelm v. Humboldt idealisierten und von Ferdinand Lasalle ironisierten „Nachtwächterstaat" zu einem dem Kulturzweck dienenden Wohlfahrtsstaat entwickelt hat. Von Bernatziks zu seiner Zeit seltenem Einblick in das

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Existenzproblem des österreichischen Vielvölkerreiches legt sein akademischer Festvortrag als neugewählter Rektor der Universität Wien über „Nationale Matriken" Rechenschaft ab. Der Redner verrät bei diesem Anlaß seine Auffassung, daß die Nationszugehörigkeit gleich dem Bekenntnis zu einer religiösen Gemeinschaft dem Bekenntnisprinzip zu folgen habe, das nur bei offenkundigem Widerspruch gegen objektive Kriterien der Nationalität einer Korrektur der staatlichen Behörde unterliegen dürfe. Die Nötigung des Bekenntnisses zu einer von der Staatsautorität favorisierten nationalen Gemeinschaft aus Opportunitätsgründen, etwa um die rechtlich und tatsächlich herrschende Nation aufzuwerten und durch den aufgezwungenen Besuch von Schulen mit bestimmter Unterrichtssprache sicherzustellen, wäre einem freien Geist von der Wesensart Bernatziks unzumutbar erschienen. Die unverhältnismäßig große Zahl von Schülern, die er im Verein mit seinem Fachgenossen Adolf Menzel entdeckt und durch seine brillante Lehrmethode für seine wissenschaftlichen Fächer gewonnen hat, legt für die Macht der Persönlichkeit im wissenschaftlichen Beruf Zeugnis ab. Hans Kelsen ist das glänzendste Zeugnis für Bernatziks Fähigkeit und Bereitschaft, wissenschaftliche Potenzen nicht bloß zu entdecken, sondern auch sie in ihrer geistigen Entwicklung ohne Nötigung in eine persönliche Schablone freizustellen. Rudolf v. Laun, Leo Wittmayer, Hans Nawiasky, Fritz Hawelka , und nicht zuletzt der Slowene Leonidas Pitamic sind Entdeckungen Bernatziks , die nicht einer bestimmten Schablone zugehören, sondern jeder in seinem Bereich eine von Bernatzik und Menzel geförderte persönliche Leistung aufweisen. Karl Renner hat durch seine hauptsächlich nationalpolitischen Schriften die größte Aufmerksamkeit Bernatziks gewonnen, war aber selbst durch die Anwartschaft einer baldigen Dozentur und einer eigenen Professur etwa mit dem Lehrauftrag für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik für die Einschlagung der akademischen Laufbahn nicht zu gewinnen. Wenn dieser in akademischen Kreisen ausgedachte Umweg zu einer Ministerschaft Renners mit dem besonderen Auftrag der Vorbereitung einer Staatsreform im Sinne eines Nationalitätenbundesstaates geführt hätte, wäre das klägliche Scheitern dieser Idee in der Schlußphase des Krieges und vielleicht auch der Selbstmord des Staates durch den Krieg als Konsequenz des Mordes von Sarajewo vermieden worden. Der Gedanke an diese möglicherweise rettende Idee, für die der christlich-konservative Gelehrte Prof. Heinrich Lammasch gewiß ebenso aufgeschlossen war, wie sein betont links stehender bürgerlicher Fakultätskollege Edmund Bernatzik , soll in diesem Rahmen zum Beweis dafür ausgesprochen werden, daß auch, vor dem Jahr

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1918, das Hochschullehramt gewissen Persönlichkeiten völlig unangefochten offenstand, die nicht bloß „Stubengelehrte" gewesen sind. Carl Braunias, a.o. Univ.-Prof., Botschafter a.D., ist der Verfasser des zweibändigen Werkes über „Das Parlamentarische Wahlrecht" (1937); diese Arbeit, die aus einem ungeheuren Material der beruflichen Freizeit abgerungen ist, spielt heute noch die Rolle des Standardwerkes über den Gegenstand. Wenn auch das Material überwiegend der Geschichte angehört, hat doch seine Bearbeitung in der Demokratie womöglich an Interesse und Bedeutung gewonnen. Die Abstammung des Verfassers aus dem Banat hat ihn auch zu wertvollen Untersuchungen über das Nationalitätenrecht angeregt, wobei die Beherrschung von zwölf Sprachen ihm sehr zugute gekommen ist. Der Überblick über - aus der Feder von Braunias - „Die Fortentwicklung des (mitteleuropäischen) Nationalitätenrechtes nach dem Kriege" (1936) harrt einer Fortsetzung bis zur Gegenwart. Der Kärntner Felix Ermacora hat eine wechsevolle akademische Laufbahn zwischen Wien und Innsbruck zurückgelegt, und ist trotz starker Anfechtungen einzelner literarischer Stellungnahmen mit 40 Jahren der bekannteste und angesehenste der aktiven Vertreter seiner Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht in den Fachkreisen des Auslands geworden. Ausländische Fachgenossen versichern mir, daß er bei Berufungen an ausländische Hochschulen schon wiederholt in ernster Kombination gestanden sei und zweifellos in aussichtsreichen Vorschlag gekommen wäre, wenn seine quantitativ und auch qualitativ bedeutende wissenschaftliche Leistung sich auf das an ausländischen Fakultäten am höchsten gewertete Fach der allgemeinen Staaslehre konzentriert hätte. Ermacoras „Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte" (Wien 1963, Manz'scher Verlag) wird indes nur dank dem Untertitel „Ein Kommentar zu den österreichischen Grundrechtsbestimmungen" in den engeren Rahmen einer positivrechtlichen Darstellung eines Ausschnittes eines sozusagen kleinstaatlichen Rechtes transponiert und damit gewissermaßen wissenschaftlich deklassiert. Der geschulte Leser dieses mit ungewöhnlicher Intelligenz und Akribie geschriebenen Werkes erkennt in dem überwiegenden Teil der 655 Druckseiten theoretische Untersuchungen des Wesens der international eingebürgerten Grundrechte, die der übernationalen allgemeinen Staatslehre zuzurechnen sind. Auf der Basis dieser Erkenntnisse ermittelt der Verfas-

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ser jeweils den besonderen Gehalt des zum Thema gestellten Grundrechtes innerhalb der österreichischen Rechtsordnung. Dank diesem Forschungsweg bietet das Werk geradezu überwiegend Erkenntnisse einer allgemeinen Staatslehre und auf dieser Grundlage erst die Gestaltung des einzelnen Grundrechtes im Sinne des österreichischen Verfassungsrechtes. Die mit besonderem juristischen Fingerspitzengefühl gebotene Darstellung des Gleichheitssatzes, sodann des Problems der persönlichen Freiheit, die nach dem Erlebnis eines totalitären Systems als der Kern der Freiheitsproblematik bewußt geworden ist, des Problems der Freiheit der Meinungsäußerung und im besonderen der Pressefreiheit und nicht zuletzt das Problem der religiösen Freiheit des Individuums und der Religionsgemeinschaften, schließlich das Problem der Freiheit der Wissenschaft seien auch jeden Fachmann fesselnden, wenn auch nicht in allen Einzelheiten überzeugenden Ausführungen besonders hervorgehoben. Alles in allem: ein Werk, würdig der Krönung eines Gelehrtenlebens, in Wirklichkeit aber nur eine bedeutsame Station eines wissenschaftlichen Aufstieges, dessen Kulminationspunkt noch nicht abzusehen ist. Die literarischen Vorläufer des trotz allem nur ganz kursorisch gewürdigten letzten Werkes Ermacoras treten im Vergleich mit diesem monumentalen Werk an Bedeutung zurück, wenngleich auch sie nach den herkömmlichen Maßstäben durch eine ordentliche Professur gewürdigt worden wären; namentlich seien bloß zitiert „Das österreichische Hochschulrecht", eine kommentierte Gesetzesausgabe, Wien 1956. Dank seinem ausführlichen Anmerkungsapparat ist diese Publikation der geradezu ausschließliche Behelf für die Praxis der akademischen Behörden und den persönlichen Gebrauch der Hochschullehrer geworden. „Der Verfassungsgerichtshof', eine kommentierte Gesetzesausgabe, Graz, Verlag Styria, 1956. Ermacora ist Mitglied der Europäischen Kommission für Menschenrechte und österreichischer Vertreter in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Ernst Hellbling , o. Universitätsprofessor der Universität Wien, Obersenatsrat in Ruhe der Stadt Wien. Die Hauptwerke Hellblings sind: „Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen", 2 Bände, Manz'scher Verlag, Wien 1953 und 1954; „Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte", Springer-Verlag, Wien 1956. Der zweibändige Kommentar zu

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den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Jahres 1925 ist aus den Berufserfahrungen des Verfassers in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Berufungsbehörde des Landes Wien entstanden. Das Werk ist der gebräuchlichste Behelf für Theorie und Praxis zur Orientierung über das moderne Verwaltungsverfahrensrecht Österreichs geworden und verwertet in einer für den Benützer zuverlässigen Weise die einschlägige Judikatur des Verwaltungsgerichshofs. - Die österreichische Verfassungs- und Verwaltunsgeschichte stellt den Gegenstand unter Benützung der neuesten rechtsgeschichtlichen und auch allgemeingeschichtlichen Literatur in einer dem wissenschaftlichen Bedürfnis entsprechenden und natürlich auch für das Studium empfehlenswerten Weise nach den Ergebnissen der neuesten Forschung dar. Das Buch ersetzt das vor seinem Erscheinen gebräuchlich gewesene, dem nämlichen Gegenstand gewidmete Werk von Luschin-Ebengreuth. Aus insgesamt 106 Zeitschrift-Auf Sätzen seien als theoretisch bemerkenswert oder rechtspolitisch bedeutsam folgende hervorgehoben: „Die Rückwirkung von Gesetzen", ÖJZ 1946; Zusammenfassung aller einschlägigen Verfahren zu einer Sozialgerichtsbarkeit als Problem und Fernziel. Gutachten für den Zweiten österreichischen Juristentag, 1964; Hellbling hat auch beachtliche Berichte über Generalsynoden der evangelischen Kirchen und die sich daraus ergebenden Rechtsfragen erstattet. G. E. Kafka hat nach langjähriger Ausübung einer Professur für die juristischen Lehrfächer an der Hochschule für Welthandel im Jahre 1954 durch die Ernennung zum o. Professor an der Universität Graz die Möglichkeit erhalten, um die fachwissenschaftliche Ausbildung juristischen Nachwuchses und um den Appell zum Studium der Literatur, der leider allzuoft ungehört bleibt, bemüht zu sein, von der sich ein Kenner seiner Art besonderen Erfolg erhofft. Während Kafka durch seine schriftstellerische und Vortragstätigkeit dazu berufen erscheint, in die in Österreich vernachlässigte Theorie der Politik einzuführen, findet er in Professor Robert Walter, der aus der richterlichen Laufbahn hervorgegangen ist, die wünschenswerte Ergänzung für die nicht minder wichtige Lehraufgabe der Theorie des Rechtes. Kafkas Vortrag im Rahmen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer über „Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat" (Heft 17 der Publikationen dieser Vereinigung, Berlin 1959) hält die Mitte zwischen der parteioffiziösen Legitimierung der politischen Parteien und der zersetzenden Kritik der politischen Parteien, die in der Maske der Parteien die Demokratie ablehnt, obwohl oder weil die

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politischen Parteien das notwendige Instrument der modernen repräsentativen Demokratie sind. Ein gleichartiges Bekenntnis des grundsätzlichen Pro und des bedingten Kontra ist Kaßas Abhandlung, die in der Zeitschrift „Wort und Wahrheit" (1962) erschienen ist. Vielleicht weist Kafka damit den Weg zu einer intensiveren Pflege der Theorie der politischen Partei, an der es bisher in Österreich noch zu fehlen scheint. Hans Kelsen hat sich 1911 an der Universität Wien für allgemeine Staatslehre, österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht habilitiert. Er wurde im Jahre 1917 zum a.o. Professor, 1919 als Nachfolger Bernatziks zum o.ö. Professor ernannt und hat 1930 einem Ruf an die Universität Köln Folge geleistet. 1961 wurde ihm als siebentes Ehrendoktorat das der Universität Wien verliehen, darnach noch das der Universität Paris. Die Habilitationsgrundlagen Kelsens waren sein Buch über „Die Staatslehre des Dante Alighieri", eine frühreife Schrift des 25jährigen und seine „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", Tübingen, Verlag J. C. B. Mohr, 1911; außerdem eine Reihe von Abhandlungen aus seinen Habilitationsfächern. 1919 publiziert Kelsen den ersten Teil eines Kommentars der Verfassungsgesetze der Republik Österreich. (Die Erläuterungen zu dem „Gesetz über die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern" hat auf Veranlassung Kelsens der damalige Beamte der Staatskanzlei Adolf Merkl verfaßt.) Im Zuge des Ausbaus der Povisorischen Verfassung der Republik Österreich erscheinen zwei weitere Teile des Kommentars. 1921 veröffentlicht Kelsen ebenfalls im Verlag Deuticke, Wien, den Kommentar zum Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 und führt als Mitarbeiter Min.Rat. Dr. Georg Froehlich und den damaligen Priv.-Doz. Dr. Adolf Merkl an, obwohl den überragenden Anteil an der Redaktion des Kommentars Kelsen persönlich hatte. 1923 veröffentlicht Kelsen im Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen, die im In- und Ausland weit verbreitete systematische Bearbeitung des Verfassungsrechts der Republik Österreich mit einer auf die Verfassung des Kaisertums Österreich von 1867 zurückgreifenden historischen Grundlegung, womit er die damalige Legende der Geschichtsfeindlichkeit der Reinen Rechtslehre widerlegt. In rascher Folge veröffentlicht Kelsen seine rechtstheoretischen Werke, namentlich „Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts", „Der soziologische und der juristische Staatsbegriff 4, die „Allgemeine Staatslehre", und zwischendrein eine lange

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Reihe von Zeitschriftbeiträgen, ferner Arbeiten zur Theorie der Politik, als der Lehre, wie der Staat sein soll. Unbeirrt durch die wachsende Opposition gegen die vermeintliche oder wenigstens behauptete Irrlehre, bestärkt andererseits durch die Zustimmung sachverständiger Persönlichkeiten in zahlreichen Staaten dreier Kontinente, wächst in einem in der Jurisprudenz ungewohnten Maß die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen Kelsens und das Interesse für seine Lehren, als ob es sich nicht um anspruchsvolle Theorien, sondern um ansprechende Poesie oder spannende Romane handelte. Ein dem Meister besonders anhänglicher Schüler, Sektionschef Dr. Aladar Metall in Genf, registriert im Anhang der 1960 im Verlag Franz Deuticke in Wien erschienenen Neuauflage der „Reinen Rechtslehre" Kelsens auf 31 Seiten 483 Publikationen Kelsens, die in 23 Sprachen zu den Lesern von fünf Kontinenten sprechen. Für das Schrifttum der Rechtswissenschaft ein bisher vermutlich unüberbotener Rekord, und eine, was die kulturschaffenden Österreicher und die für die Betreuung der Kultur in unserer Heimat verantwortlichen Persönlichkeiten nie vergessen sollten, Auszeichnung für Österreich in der Sprache von 23 Nationen. Der tiefste Grund der Vorurteile gegen Kelsen ist Unverständnis oder Bequemlichkeit, sich in den Schatz seines Lebenswerkes hineinzuwagen und hineinzulesen: Schweres Unrecht an dem Geistesriesen Kelsen, der Österreich außer seinem wissenschaftlichen Lebenswerk auch die wertvollsten Gedanken seiner im wesentlichen bis heute erhaltenen Staatsverfassung vom 1. Oktober 1920 gegeben hat; zugleich eine Mahnung, daß Kelsens literarisches Lebenswerk vor allem von den Rechtslehrern Österreichs gelesen und gepflegt werden. Ein hochstehender Jurist gestand mir, er habe Kelsens Rechtspositivismus dahin verstanden, daß man dem staatlichen Befehl in den mannigfachen Gestalten des gesatzten Rechtes einschließlich der rechtskräftigen Einzelakte unbedingt Gehorsam schuldig sei. In Wirklichkeit will die Reine Rechtslehre nur klarstellen, welches Verhalten die öffentliche Gewalt unter Androhung von Unrechtsfolgen fordert; sie stellt es jedoch der Entscheidung des Gewissens des Befehlsempfängers anheim, ob er dem Befehl gehorcht oder um den Preis der Duldung der Unrechtsfolgen der Stimme seines Gewissens und damit einer als höher erkannten Wertordnung Gehorsam leiste. Im deutschen Sprachbereich bin ich der letzte Überlebende jenes Kreises, der von Kelsen persönlich durch Wort und Schrift für die „Reine Rechtslehre" gewonnen worden ist: das heißt für die Auffassung, daß sich die Aufgabe der normativen Rechtswissenschaft darin erschöpfe, durch die Mittel der grammatikalischen und logischen Auslegung den Willen des Gesetzgebers

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festzustellen, nicht aber den derart ermittelten Inhalt des Staatswillens durch ein Wunschrecht zu verfälschen. Kelsens theoretisches Lehrgebäude ist darum für jeden positiven Christen vom religiösen Standpunkt unanfechtbar. Von den heutigen Lehrkanzelinhabern haben sich die Professoren Robert Walter (Graz) schon als mein Doktorand und René Marcic (Salzburg) ausdrücklich zur Lehre Kelsens bekannt und wertvolle Beiträge zu deren Interpretation und Entwicklung geliefert. - Ich selbst habe aus verschiedenen Anlässen, unter anderem in meinem Aufsatz „Hans Kelsens System einer reinen Rechtstheorie", Archiv des öffentlichen Rechts, 1921, ferner in meinem Beitrag zur Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, in meinen Widmungsworten zum 80. Geburtstag Kelsens „Reine Rechtslehre und Moralordnung", Zeitschrift für öffentliches Recht, Wien 1961, S. 301 ff., Kelsens Größe in einzelnen seiner Grundgedanken dem Leser nahezubringen versucht. Die rechtswissenschaftliche Befassung mit dem Recht bedarf freilich der Ergänzung durch eine wertende Betrachtung, durch eine Rechtswertlehre. Diese empfängt ihren Inhalt aus dem Naturrecht religiösen und profanen Ursprungs, sei es nun, daß für dessen Verhaltensregeln unmittelbare Wirksamkeit und somit gegenüber dem positiven Recht derogatorische Kraft in Anspruch genommen, oder daß dessen Anwendbarkeit von einer Verweisung oder Rezeption durch das positive Recht, im besonderen durch das formelle Gesetz abhängig gemacht wird. Als geistiger Interpret eines Teilgebietes des wissenschaftlichen Lehrgebietes Kelsens ist unter vielen anderen auch Norbert Leser hervorgetreten, ein fachwissenschaftlich, insbesondere auch philosophisch vorgebildeter Assistent am Institut für Höhere Studien der Ford Foundation, mit dem besonderen Wirkungskreis der Betreuung der politischen Wissenschaft. Unter den zahlreichen Interpretatoren Kelsens hebe ich den genannten jungen Schrifsteller hauptsächlich deswegen hervor, weil Kelsen persönlich in einer mehr als einstündigen Aussprache, die mir während des letzten Heimataufenthaltes Kelsens in meiner Wohnung gegönnt war, die bisherige wissenschaftliche Betätigung Lesers als verdienstvoll und zu schönen Hoffnungen berechtigend gekennzeichnet hat. Diese Feststellung Kelsens gewinnt dadurch Gewicht, daß dieser Meister seines Faches nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen gegenüber Anerkennungen aus dem Kreise des Nachwuchses völlig unbestechlich, dagegen für aufbauende Kritik ungewöhnlich aufgeschlossen und dankbar gewesen und bis heute geblieben

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ist. Die abgewogene Würdigung einer einzelnen Nachwuchskraft unter Dutzenden Persönlichkeiten aus verschiedenen Nationen, die das Lebenswerk Kelsens so oder so ausgedeutet haben, stützt sich auf den Beitrag Lesers, der in der internationalen, Kelsen gewidmeten Festschrift „Law, State and International Legal Order" (University of Tennessee, 1964), unter dem Titel „Reine Rechtslehre und Sozialismus" erschienen ist, sowie auf die Besorgung und Einleitung der 3. Auflage von Hans Kelsens „Sozialismus und Staat", Wien 1965. Hans Klecatsky ist nach jahrzehntelanger Berufstätigkeit als Verwaltungsbeamter und Verwaltungsrichter im Jahre 1964 o.ö. Professor der Universität Innsbruck für die Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht geworden. Die Berufserfahrung als Praktiker des Rechtes hat in einer bisher nicht genug gewürdigten Weise einen feinsinnigen Theoretiker geweckt und verspricht, diese Rolle noch reichlich fruchtbar zu machen. Auch wer sich nicht mit allen subjektiv ehrlich erarbeiteten Erkenntnissen Klecatskys befreunden kann, erhofft sich von dem Rechtsforscher Klecatsky noch reiche theoretische Erkenntnisse. - In der literarischen Produktion ist Klecatsky zunächst als Mitarbeiter an dem Sammelwerk „Das österreichische Recht" mit der Bearbeitung des Eisenbahnwesens (1957) und des Schiffahrtswesens hervorgetreten. Die wichtigste und in der Theorie wie in der Praxis am ausgiebigsten verwertete kommentierte Ausgabe des österreichischen Bundesverfassungsrechtes wurde von Klecatsky gemeinsam mit Senatspräsident Professor Leopold Werner 1961 im Manz'schen Verlag, Wien, veröffentlicht. Eine Liste von 42 fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die in inund ausländischen Zeitschriften verstreut sind, offenbart nur annähernd, wie für unseren Autor die Praxis Lehrmeisterin der Theorie geworden ist. Der Schweizer Rechtslehrer Martin Usteri würdigt u.a. Klecatskys literarische Leistung in einem engen Teilbereiche des Interessenskreises des heutigen Staats- und Verwaltungsrechtslehrers der Universität Innsbruck in der Abhandlung, die Usteri unter dem Titel „Theorie der Verwaltung in Formen des Privatrechts" in der italienischen Rechtszeitschrift „Annuario di Diritto Comparato e di Studi Legislativi", Vol. XXXVIII, Fase. 3 (1964), veröffentlicht hat. Der Schweizer Usteri stellt es als ein originelles Verdienst des damaligen österreichischen Verwaltungsrichters Klecatsky hin, daß er die

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Verwaltungsrechtslehre auf ein Gebiet der Verwaltung hingelenkt habe, das bisher literarisch beispiellos vernachlässigt worden sei, und daß er damit der Idee des „Freiheitsstaates" einen originellen Dienst geleistet habe. Klecatsky hat für diesen Problemkreis die Aufmerksamkeit weiterer Fachkreise durch einen Aufsatz hervorgerufen, den er unter dem originellen Titel „Die Köpenickiade der Privatwirtschaftsverwaltung" in den Wiener „Juristischen Blättern" (1957, S. 333 ff.) veröffentlicht hat. Das wertvollste literarische Verdienst Klecatskys ist meines Erachtens sein im Ergebnis erfolgreicher Kampf um eine Auslegung der Bundesverfassung im Sinne des Erfordernisses einer inhaltlichen Bestimmtheit der Gesetze, und zwar nicht bloß im Bereiche der Verordnungsermächtigungen, sondern auch der Delegation zur Erlassung individuell-konkreter Verwaltungsakte. In den „Juristischen Blättern", Wien 1954, S. 473 ff. und S. 504 ff. ist, so weit ersichtlich, Klecatsky erstmals für diese Sinngebung des Legalitätsprinzips eingetreten. Ernst Kolb: Nach einer unangefochtenen Laufbahn in der Verwaltung des Landes Vorarlberg und des Bundes, zuletzt als Bundesminister für Unterricht, wurde Dr. Kolb auf Grund eines einhelligen Vorschlages der Bundesregierung vom Bundespräsidenten zum o.ö. Professor der Universität Innsbruck für die Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht ernannt. Nach einer Reihe kleinerer Publikationen ist Professor Kolb auf dem zweiten österreichischen Jursitentag mit einem Rechtsgutachten über „Das Förderungswesen unter dem Blickwinkel des Legalitätsprinzips" hervorgetreten (abgedruckt in Bd. 1,3. Teil der Verhandlungen des zweiten österreichischen Juristentages, Wien 1964, Manz'scher Verlag, Wien). Der Verfasser dieses Gutachtens strebt den doppelten Zweck an, für die immer stärker in Anspruch genommene Subventionspraxis der öffentlichen Körperschaften eine rechtlich unanfechtbare Rechtsgrundlage zu schaffen, und damit eine rationellere Verteilung der im öffentlichen Interesse privaten Zwecken zufließenden finanziellen Hilfe sicherzustellen. Er beachtet dabei die sachliche Kritik, die aus verschiedenen Lagern an der mittelbar in die Taschen der Steuerpflichtigen greifenden Subventionspraxis geübt worden ist, unter anderen Hans Klecatsky „Köpenickiade" und Alfred Migsch: Die Zukunft, Heft 6, 1963. Die Ausführungen Kolbs münden in den Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend Bundesförderungen. Dieser Entwurf stellt sich als eine sinngemäße Gesetzesinterpretation des Art. 18 des Bundes-Verfassungsgesetzes dar, wonach die gesamte staatliche Verwaltung, also auch die

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nichthoheitlche, gemeiniglich privatwirtschaftlich benannte Verwaltung dem Legalitätsprinzip unterliegt. In diesem Falle dient das Legalitätsprinzip dem doppelten Zweck des Schutzes vor Willkür (willkürliche Begünstigung gewisser Bevölkerungsschichten) und der Sicherung zweckmäßiger öffentlichen Interessen dienender Verwendung von Staatsgeldern. Bei Beachtung der rechtspolitischen Forderungen Ernst Kolbs wäre unter anderem die von mir wiederholt vom verfassungsrechtlichen und sozialpolitischen Standpunkt beanstandete Verwendung des Subventionsbetrages von damals 96 Millionen Schilling für die Zwecke des „landwirtschaftlichen Notopfers" unmöglich gewesen. Nach der Größe des Grundeigentums abgestufte Subventionsbeträge von 10 bis 500 000 Schilling können nicht gleicherweise vom Gesetz eindeutig festgesetztem Zweck der „Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes" gedient haben. Bei einer sachlichen Ausschüttung dieses Subventionsbetrages hätten Sparmaßnahmen auf dem Gebiete des Schulwesens vermieden werden können, über die sich der wissende und verantwortungsbewußte Fachmann Professor Felix Ermacora in seinem Leitaufsatz der „Österreichischen Hochschulzeitung" vom 15. November 1964 „Der Stand der Wissenschaft vom öffentlichen Recht in Österreich" folgendermaßen äußert: „Wenn die Volksvertreter wüßten, wie veraltet das technische Instrumentarium ist, dessen sich auch der Vertreter der Politischen Wissenschaft in Österreich bedienen muß, wie weitab der wissenschaftliche Fortschritt von dem anderer Länder ist, ... wie wenig österreichische Wissenschaft wegen des Mangels an technischem Rüstzeug mit der Umwelt Schritt halten kann, sie würden ihrer Aufgabe, die Kultur bei den finanziellen Dotationen nicht unterzubewerten, gerechter werden." Der Aufwand „auf Grund" aber gegen den Sinn des zitierten Subventionsgesetzes hatte einschneidende Einschränkungen auch auf dem Gebiete des Hochschulwesens, z.B. Einsparungen von Hochschulprofessuren und Assistentenposten zur Folge, die bei der Unmöglichkeit von Berufungen aus dem Ausland ein Reservoir für die Besetzung von Lehrämtern an den Universitäten Österreichs gewesen waren. René Marcic, habilitiert an der Universität Wien für allgemeine Staatslehre, in Innsbruck für Österreichisches Verfassungsrecht, seit 1965 o.ö. Professor für Rechts- und Staatsphilosophie an der philosophischen Fakultät der Unviersität Salzburg. Marcic hat in den sieben Jahren von seiner ersten Habilitation bis zur Erlangung der ordentlichen Professur eine einmalige wissenschaftliche Entwicklung genommen. Seine heutige literarische Stel-

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lung macht ihn zu dem neben Ermacora im Ausland bekanntesten und bedeutendsten Vertreter einer Staatslehre und eines Staatesrechtes, die den Namen Österreichs tragen. Wenn auch nicht programmatisch, so demonstriert Marcic doch durch sein Werk die Tatsache, daß die allgemeine Staatslehre die Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft ist. Von ihm ist eine Renaissance der Staatslehre zu erwarten, in der Österreich zur Zeit des Wirkens Kelsens in Wien eine führende Rolle gespielt hat. Das Verständnis für und die Vertrautheit mit der allgemeinen Staatslehre ist bedingt durch die annähernde Kenntnis der abendländischen Rechtsphilosophie. Diese ist wiederum nur in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte der Philosophie überhaupt zu verstehen, so daß sinnvoller Weise für einen Doktor der Rechte nicht bloß eine Belegung von Vorlesungen aus Philosophie, sondern ein ernstes Kolloquium aus diesem Fach zu fordern wäre. Die Literatur und die Themen eines solchen Vorstudiums der Rechtswissenschaft findet man incidenter in den bisherigen Publikationen von Marcic. Schon die Habilitatonsschrift von Marcic ist ein großer Wurf, der eine gereifte und ungewöhnlich belesene Persönlichkeit verrät. Der Titel „Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat" ist vermutlich durch die Befassung mit Piatons Staatsauffassung angeregt, würde aber als Kopie des Gedankengebäudes des großen hellenischen Staatsdenkers mißverstanden werden. Die Untertitel des Erstlingswerkes von Marcic, „Recht als Maß der Macht, Gedanken über den demokratischen Rechts- und Sozialstaat" deuten ergänzende politische Forderungen an, und machen in der Gesamtschau das Werk mehrschichtig. Meiner Überzeugung nach wird Marcic mißverstanden, wenn man ihm eine reaktionäre Tendenz unterschiebt. Die drei überlieferten Staatsgewalten bleiben auch nach dem politischen Ideal des Verfassers erhalten, nur ihre Gewichte werden etwas verschoben. Die Gefahrenquelle für die politische Freiheit war in der Staatengeschichte doch in der Regel der Regierungsapparat, der sich von der Bindung durch das mündig gewordene Volk oder seine Volksvertretung emanzipiert und die richterlichen Kontrollinstanzen beseitigt oder zu Bütteln seiner Macht degradiert hat. Das gedankenreiche, bald zur Bejahung, bald zur Verneinung anregende Buch muß gelesen werden, und der objektive, literaturkundige Leser wird zugeben, wie weit es über das übliche Format einer Habilitationsschrift hinausgewachsen ist. „Verfassung und Verfassungsgericht", Springer-Verlag, Wien 1963, ist das zweite Hauptwerk von Marcic. Die Tatsache, daß es Hans Kelsen, Alfred

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Verdross und Adolf Julius Merkl gewidmet ist, verpflichtet mich zu einer gewissen Zurückhaltung auch in der positiven Kritik, die in diesem Falle nach meinem Urteil fast ausschließlich am Platze ist. In technischer Hinsicht ist, zum Unterschied von der an Exkursen reichen Habilitationsschrift, eine starke Konzentration des Stoffes und ein straffes System festzustellen. Die Gliederung des Buches ist durch seinen Gegenstand vorgegeben. Den Eingang bildet die Klärung der Begriffe der Verfassung im ontologischen und im juristisch-politischen Sinn. Der zweite Teil des Werkes klärt das Verhältnis von Recht und Gericht. Auf das Ergebnis der Feststellung der Wesenseinheit von Recht und Gericht konnte ich nur im Zuge einer fachwissenschaftlichen Besprechung eingehen. Der dritte, umfangreichste Teil behandelt den Wirkungskreis, das Verfahren, die Institutionen- und Ideengeschichte und die Deutung der Natur des Verfassungsgerichts. Die Ideengeschichte zeigt den Verfasser als den Meister der allgemeinen Staatslehre, der ohne politische Tendenz die Freiheitsideologie der Zeitabschnitte vor Aufklärung und Revolution zum Bewußtsein bringt. Der Weisheit letzter Schluß ist, daß das Verfassungsgericht durch seine Präventivfunktion seine richterliche Tätigkeit möglichst entbehrlich zu machen habe. Zahlreiche kleinere und kleine Publikationen des Verfassers stehen seinem Hauptwerk nicht an Qualität, sondern nur an Quantität nach. Adolf Menzel, o.ö. Professor für Staatslehre, österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht an der Universität Wien bis 1928, war durch mehr als drei Jahrzehnte der Fachgenosse Edmund Bernatziks und hat diese Persönlichkeit durch die Abgeklärtheit seines Wesens und durch seinen wissenschaftlichen Interessenkreis in idealer Weise ergänzt. Sein wissenschaftliches Lebenswerk war, von der Pflege des Privatrechts ausgehend, dem sozialen Verwaltungsrecht und mit zunehmendem Alter fast ausschließlich der Geschichte der Staatslehre zugewendet. 1889 veröffentlichte er eine umfangreiche Arbeit über die kurz vorher Gesetz gewordene Unfall- und Krankenversicherung Österreichs und in der Folge auch kleinere Arbeiten aus dem Gebiete des sozialen Verwaltungsrechts. Die wichtigsten biographisch-literarischen Studien Menzels über einzelne Repräsentanten der Geschichte und Staatslehre hat die österreichische Akademie der Wissenschaften in der Sammlung „Beiträge zur Geschichte der Staatslehre" publiziert. Der größere Teil der Abhandlungen ist nach seinem durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus bewirkten Tode in Gestalt monographischer Publikationen verstreut geblieben. Die

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Monographien Menzels über den Sokrates-Prozeß, über Protagoras als den ältesten Theoretiker der Demokratie, seine Studien über Macchiavelli und Spinoza, über Mirabeau und die Menschenrechte und viele andere hier ungenannte Staatsdenker und Staatsmänner sind eine Fundgrube des Wissens von bleibendem Wert. Menzels Lebensnähe äußert sich aber auch in Schriften über die Psychologie des Staates, über soziale Wertmaßstäbe und über Systeme des Wahlrechtes. Die österreichische Fachwissenschaft der Staatslehre erfüllt eine Ehrenpflicht, wenn sie den Beitrag dieses unsterblichen echten Gelehrten zu der als Grundlagenwissenschaft des Rechtsstudiums nicht aus dem Universitätsbetrieb wegzudenkenden allgemeinen Staatslehre wach erhält und weiterpflegt. Erwin Melichar , bis 1963 Professor der Universität Graz und seither an der Universität Wien, ist ein bewährter Fachmann des Verwaltungsrechtes und des Finanzrechtes, für das er durch eine langjährige Tätigkeit im Finanzministerium praktisch geschult ist. Die Qualifikation Melichars als Fachmann des Finanzverfassungsrechtes und des öffentlichen Haushaltsrechtes kommt u.a. darin zum Ausdruck, daß ihm die Aufgabe zuteil wurde, im Handbuch für Finanzwissenschaft von Wilhelm Gerloff und Fritz Neumark (Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen 1956) den umfangreichen Beitrag über den „Öffentlichenm Haushalt und das Finanzsystem Österreichs" zu bearbeiten. Kaum ein österreichischer Fachmann ist in seinen zahlreichen Publikationen entschiedener für die Rechtsstaatlichkeit, im besonderen auf dem Gebiete der Finanzverwaltung, eingetreten. Adolf Julius Merkl , nach mehrjähriger Justiz- und Verwaltungspraxis zuletzt im staatsrechtlichen Büro des k.k. Ministerratspräsidiums und aus diesem am 2. November 1918 in den Verfassungsdienst der Staatskanzlei der Republik übernommen. Habiliert als Schüler Bernatziks, Menzels und Kelsens 1919 für allgemeine Staatslehre, österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, 1921 a.o. Professor an der Universität Wien und nach mehreren Berufungen an ausländische Hochschulen 1932 o.ö. Professor in Wien. Unmittelbar nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1938 außer Dienst gestellt, nach mehljähriger Tätigkeit als Helfer in Steuersachen 1941 als Lehrbeauftragter an die Universität Tübingen berufen, 1950 Rückkehr an die Universität Wien, 1961 emeritiert. Aus der von der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht, Jahrgang 1960, im Rahmen einer Gabe zum 70. Geburtag Merkls veröffent-

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lichten Liste von 195 Publikationen seien nur folgende genannt: Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, 1919; Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff, 1923; Demokratie und Verwaltung, 1923 ; Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927 (mit Übersetzungen in die tschechische und spanische Sprache); Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 1935; Die Verordnungsgewalt im Kriege, 1916-1919; Das doppelte Rechtsantlitz, JB1. 1917; Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 37, 1918; Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richter-Zeitung 1918; Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre, Schweizer Juristenzeitung 1920; Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, Beitrag zur Festschrift zu Hans Kelsens 50. Geburtstag; Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, Verwaltungs-Archiv 1933; Individualismus und Universalismus als staatliche Baugesetze, Revue internationale de la théorie du droit, 1934; Friedrich Schiller und der Staat, ZöR 1938; Europäische Völkstumsprobleme ZöR 1944; Baustile des modernen Staates, Universitas, Stuttgart 1946; Kriegsdienstverweigerung und Friedensbewegung, Genf 1948; Das Problem der internationalen Organisation, Universitas, Stuttgart 1948; Unvergängliches Freiheitserbgut, Festschrift für Heinrich Klang, Springer-Verlag Wien 1950; Idee und Gestalt der politischen Freiheit, Festschrift für Zaccaria Giacometti, Zürich 1953; Österreichs Recht auf Freiheit, Die österreichische Nation, Salzburg 1954; Das deutsche Eigentum und vermögensrechtliche Ansprüche Österreichs, JB1. 1955; Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1955; Die Legende vom österreichischen Volkerkerker, Der Donauraum, Wien 1956; War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches? Archiv des öffentlichen Rechts, Tübingen 1957; Grundzüge des österreichischen Hochschulrechts, ZöR 1962; Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt, Festschrift für Johannes Messner, hrsg. von Höffner, Verdross und Fr. Vito, Innsbruck 1960. Peter Pernthaler, Universitätsdozent an der Universität Innsbruck: Die Habilitationsschrift: Der Rechtsstaat und sein Heer, Wien, Springer-Verlag 1964, füllt eine seit Jahrzehnten bestehende Lücke in der österreichischen Publizistik in sachkundiger Weise aus. Das Buch behandelt Verfassungsund Verwaltungsrechtsfragen und beweist zugleich Verständnis für die grundlegenden Fragen der allgemeinen Staatslehre. Vordem hat er in Abhandlungen aktuelle Themen des Völkstumsrechtes behandelt, zu denen ihn

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seine Abstammung aus Südtirol prädestiniert. Man darf erwarten, daß er neben dem um dieselbe Problematik ehrlich und fruchtbar bemühten Dr. Theodor Veiter die allmählich versickernde Publizistik auf dem Gebiete des Volkstumswesens und Volkstumsrechtes wacherhalten und fortsetzen wird. Helfried Pfeifer , o. Professor der Universität Wien, hat sich auf Grund des übereinstimmenden Gutachtens der Professoren Adamovich und Merkl für österreichisches Verwaltungsrecht habilitiert. Bald nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus wurde Pfeifer auf eine der durch die Säuberung nicht nationalsozialistischer Professoren freigewordenen Lehrkanzeln für öffentliches Recht ernannt. Vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus hat Pfeifer eine rechtsvergleichende Untersuchung über die Staatsführung in Österreich, im Deutschen Reich und in Italien veröffentlicht. Nach der Zulassung der freiheitlichen Partei wurde Pfeifer als Mandatar dieser Partei in den Nationalrat gewählt und entfaltete eine auch außerhalb dieser Partei gewürdigte Arbeit. Außerdem war er besonders in Fragen, die mit seinem parlamentarischen Wirkungskreis in Zusammenhang standen, literarisch tätig, wovon rund 50 dieser Zeit entstammende Publikationen Zeugnis ablegen. Als Beispiele seien nur hervorgehoben: sein ausführlicher Bericht über „Österreichs Parteien und Parlament seit 1945", der in dem überparteilichen und höchst seriösen Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Tübingen, J. C. B. Mohr) erschienen ist, ferner sein Aufsatz „Das Recht der nationalen Minderheiten in Österreich" (1961), sowie seine inhaltlich über eine bloße Rezension weit hinausgehende Besprechung des „Handbuchs der Grundfreiheiten und der Menschenrechte" von Felix Ermacora, die im „Deutschen Verwaltungsblatt" (Karl Heymanns-Verlag, Köln-Berlin) 1965 erschienen ist. In diesem Rahmen legt Pfeifer ein entschiedenes Bekenntnis zu den dem christlichen Gedankengut entsprungenen, vom Liberalismus geformten Grundfreiheiten und Menschenrechten ab. Karl Renner hat seine politische und staatsmännische Tätigkeit durch eine schriftstellerische Leistung einbegleitet und untermauert, die ihn auch als Fachgelehrten von hohem Rang ausweist. Die Publikationen sind ihrem Gegenstande nach unter die Rechtsgeschichte, die Rechts- und Staatslehre, die Theorie der Politik und die Soziologie zu subsumieren. In sachbedingter Reihenfolge seien namentlich genannt: Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik, 1953; Denkschrift über die Geschichte der Unabhängigkeitserklärung Österreichs und Bericht über drei Monate Aufbauarbeit, 1946; Die

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Rechtsinstitute des Privatrechtes und ihre soziale Funktion, 1929; Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, 1918; Marxismus, Krieg und Internationale, 1918; Österreichs Erneuerung, 1916/17, drei Bände; Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie, 1904; Der Kampf der Nationen um den Staat, 1902; Staat und Nation (unter dem Pseudonym „Synopticus"), 1899. (Zugleich sei auf mein Stichwort „Bernatzik" verwiesen.) Herbert Schambeck hat sich nach mehrjähriger Funktion als Assistent des Instituts für Staats- und Verwaltungsrecht mit dem Buch „Die Natur der Sache, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung", Verlag Springer, Wien 1964 für Rechtsphilosophie habilitiert. Dieser Publikation, deren Übersetzung ins Griechische in Druck begriffen ist, waren beachtliche Publikationen aus dem Bereich der allgemeinen Staats- und Rechtslehre und des positiven Staats- und Verwaltungsrechtes vorausgegangen und gefolgt. Bereits im Jahre 1961 war seine Unersuchung über „Ordnung und Geltung" der Aufnahme in die von Verdross redigierten KelsenFestnummer der ÖZöR gewürdigt worden. Die rechtsphilosophischen Untersuchungen Schambecks zeichnen sich durch Lebensnähe und Vertrautheit mit dem gesatzten Recht aus, das in den Wirkungskreis eines Universitätsinstitutes für Verfassungs- und Verwaltungsrecht fällt, und illustrieren damit die Notwendigkeit, auch als Theoretiker der Rechtsphilosophie lebensnah zu bleiben. Namentlich sein Beitrag in der „Revue internationale des sciences administratives" (Vol. XXVIII, 1962) „Die Entwicklung des österreichischen Verwaltungsrechts" und der Beitrag zur Festschrift für Karl Kummer unter dem Titel „Kammerorganisation und Ständeordnung" sind für den ausländischen wie für den inländischen Fachmann ergiebige Quellen der Information für Ausschnitte aus österreichischem Recht und dessen politische Wurzeln. Die Veröffentlichungen Schambecks und seine zahlreichen im In- und Ausland gehaltenen Vorträge legen von einer für einen Dreißigjährigen ungewöhnlichen Belesenheit Zeugnis ab. Mir ist in meiner mehr als fünfzigjährigen beruflichen Tätigkeit keine zweite Persönlichkeit begegnet, die mit gleicher Unermüdlichkeit, ja geradezu Besessenheit vom wissenschaftlichen Buch fasziniert gewesen ist. Ignaz Seipel, Universitätsprofessor für Theologie in Salzburg und ab 1917 in Wien, Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung Deutschösterreichs, Referent des Verfassungsausschusses der Konstituierenden Na-

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tionalVersammlung und der Nationalversammlung, 22/24 und von 1926 bis 1929 Bundeskanzler: „Der Kampf um die österreichische Verfassung", Wien 1930; wichtigstes konservatives Quellen werk über die sogenannte Erste Republik (1918-1938). Bekenntnis zur Demokratie auf föderalistischer Grundlage. Robert Walter , seit 1962 a.o. Professor, seit 1965 an der Universität Graz für die Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht. Professor Walter hat den ungewöhnlichen und schwierigen Übergang von der Justiz zu den Disziplinen vollzogen, für die herkömmlich die Verwaltung die praktsiche Grundlage und Vorbereitung bedeutet. Er bringt damit für seinen akademischen Beruf eine seltene aber wünschenswerte Qualifkation in bezug auf Theorie und Praxis mit, hat sich jedoch mit der schwierigen Aufgabe belastet, neben seinem bisherigen Berufsrecht, Privatrecht und Strafrecht, nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das mengenmäßig die Gesamtheit der übrigen Rechtsgebiete bei weitem übersteigende Verwaltungsrecht zu meistern. Seine neben dem richterlichen Beruf geleistete Betätigung in Seminaren und sein glänzendes Habilitationskolloquium sowie die Wirkung seiner außerberuflichen wissenschaftlichen Vorträge sind eine Promesse für die wissenschaftliche Zukunft dieser Forscherpersönlichkeit. Leopold Werner , o. Universitätsprofessor, gehört als Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofs und ständiger Referent des Verfassungsgerichtshofs zu den Stützen dieser Gerichtshöfe. In der Gestalt seiner kommentierten Gesezesausgaben ist er in der Fachwelt Österreichs wie nur wenige Persönlichkeiten bekannt und geschätzt. Genannt seien der erste Band der Manz'schen Großen Gesetzesausgabe Werner-Klecatsky: Das Österreichische Bundes-Verfassungsgesetz, der außer erläuternden Bemerkungen eine Übersicht der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs von 1919 bis 1962, sowie der einschlägigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, zu Rechtssätzen verarbeitet, enthält; die Sonderausgabe der österreichischen Bundesverfassungsgesetze, von Werner allein herausgegeben und mit Anmerkungen versehen; Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947; Das Wiedererstehen Österreichs als Rechtsproblem, 1946; Die Eisenbahnhoheit, 1947. Günther Winkler , hat sich als Schüler und Assistent von Professor Antoniolli an der Universität Innsbruck habilitiert. Nach der Berufung des

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Professor Antonioiii nach Wien wurde die Lehrbefugnis Winklers auf Wien übertragen. In rascher Folge wurde Dozent Winkler zum a.o. Professor für die Fächer allgemeine Staatslehre, österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht und aus Anlaß seiner Berufung an die Universität Würzburg im Alter von 32 Jahren zum o.ö. Professor für die genannten Fächer an der Universität Wien ernannt. Die Habilitationsschrift Winklers (Verlag Manz, 1956, „Der Bescheid") hat den Bescheid im Sinne der österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetzgebung zum Gegenstand und betrifft die wichtigste Einrichtung des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechtes, behandelt aber dieses Problem in selbständigem und dankenswert kritischem Denken, so daß diese Publikation die Anwartschaft auf weitere ergiebige wissenschaftliche Leistungen eröffnet. Die Abhandlung „Die absolute Nichtigkeit von Verwaltungsakten", 1960, Verlag Mohr in Tübingen, hat einen Vortrag zur Grundlage, den der Verfasser an der Universität Würzburg gehalten hat. Das Thema berührt sich in durchaus sachlicher Weise mit meinem Buch „Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff 4 (15. Bd. der Wiener staatswissenschaftlichen Studien, 1923), und enthält dankenswerterweise neue Formulierungen dieses theoretisch und praktisch wichtigen Problems. Im Rahmen der Beiträge zum „Österreichischen Wirtschaftsverwaltungsrecht" hat Winkler 1962 eine verdienstliche Studie über das Elektrizitätsrecht publiziert. Resümee Geistige Bewegungen verlaufen in der Geschichte meist in der Weise der Aufeinanderfolge von Wellenberg und Wellental. Dieser Erfahrungssatz gilt für Wissenschaften um so mehr, als deren Probleme von politischen Situationen oder von geschichtlichen Schicksalen eines Volkes abhängig sind. Mehr als alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen reagiert die Staatsund Rechtswissenschaft auf geschichtliche Umbrüche der Staaten, in denen sie beheimatet ist. Die Dismembration des österreichischen Vielvölkerreiches in acht Sukzessionsstaaten hat der Rechts- und Staatswissenschaft eine Fülle neuer Aufgaben gestellt, namentlich die rechtstechnische Bewältigung der Kriegsfolgen und Vorschläge für die innere Ordnung der Neustaaten. Dagegen hat für theoretische Untersuchungen die Konzentrationskraft der Wissenschafter gefehlt. Wertvolle, unersetzliche Arbeitskräfte sind in politisch und wirtschaftlich glücklichere Staaten abgewandert. Der in Wien

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ausgebildete Meister der Theorie der Politik, Prof. Hayek, hat als Heimkehrer Freiburg i.Br. vor Wien bevorzugt. Während die großen Nationalökonomen Österreichs noch nicht Schüler herangebildet hatten, die sie sofort hätten ersetzen können, hatte Österreich das Glück, die schulbildende Kraft Hans Kelsens immerhin bis 1930 im Lande zu behalten. Auch die Rechtshistoriker, die Vertreter des Justizrechtes und des Völkerrechtes sind zum Teil durch ebenbürtige, in einzelnen Fällen auch durch überragende heute tätige Nachfolger wie Verdross ersetzt worden. Kelsen hatte die für den Gründer einer wissenschaftlichen Schule notwendige Einsicht, einerseits verschiedene Anwärter juristischer Berufe mit seinen theoretischen Grundlagen vertraut zu machen und sie zu veranlassen, diese Grundlagen für ihre Spezialstudien nutzbar zu machen, andererseits Vertreter verschiedener juristischer Berufe, wie Richter und Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Funktionäre der Wirtschaft für seine Rechtstheorie zu interessieren und sie dem Kreis seiner Schule zu assoziieren. Die Aufgabe der Reinen Rechtslehre besteht zum Unterschied von den herkömmlichen, gewiß nicht ausschließlichen Methoden des deutschsprachigen und den im besondern in Österreich üblichen Methoden des juristischen Betriebes darin, das Pseudorecht oder Wunschrecht auszuschließen, durch das die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung getrübt werden und mit dem das zu erkennende und erkennbare Recht vermengt wird. Fast unmerklich hat sich im juristischen Schrifttum österreichischer Schriftsteller die Selbstkritik im Sinne der Forderungen der Reinen Rechtslehre bewußt oder unbewußt durchgesetzt. Die Forschungsergebnisse der bedeutenden Schriftsteller, besonders auf dem Gebiete des sogenannten öffentlichen Rechts, vermeiden mehr oder weniger bewußt ihr politisches Ideal oder sonstige politische Forderungen als von Rechts wegen erfüllt hinzustellen, sondern begnügen sich, im Anschluß an die von ihnen formulierten Rechtserkenntnisse, Vorschläge de lege ferenda zu machen und derart einzubekennen, daß es sich um noch nicht geltendes Recht handle. Die Meisterwerke von Ermacora, Marcic, Walter, Werner, um nur einige juristische Schriftsteller zu nennen, sind also gewissermaßen anonyme Repräsentanten der Reinen Rechtslehre. Die immer wiederkehrenden Appelle, die Staatswissenschaft aus der Verengung auf die Erkenntnis des Rechtes herauszuführen, scheitern an der Uferlosigkeit der Erkenntnisaufgaben, die ihr nach Überschreitung dieses

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Rahmens der Erkenntnis zugemutet werden. Sie würde nicht nur die Wissenschaft von anderem als rechtlichem Sollen, sondern auch die Wissenschaft von mannigfachem Sein ersetzen, und an dem Versuch einer solchen teilweisen Verdrängung anderer Wissenschaften sich selbst untreu werden und scheitern. Bloß die Erweiterung der Erkenntnis des positiven durch die Erkenntnis von präpositivem Recht kommt in Frage. Indes ist die Abgrenzung dieses präpositiven Rechtes problematisch. Was gilt unmittelbar auf Grund der verpflichtenden Kraft eines solchen ursprünglichen Naturrechtes und was erst kraft der Derogation positivrechtlicher Einrichtungen im Sinne der Anforderungen des Naturrechts? Die Staatspraxis setzt immer wieder ohne Rücksicht auf die motivierende Weltanschauung den Spruch des weltlichen Gesetzgebers voraus, der dem präpositiven Recht zur Wirksamkeit verhelfen soll; besonders deutlich wird diese Abhängigkeit des präpositiven Rechtes von der „Positivierung", also der Anerkennung durch den Staat, im Falle von Leistungsansprüchen gegenüber dem Staat. Man denke nur an die Zähigkeit, mit der auch grundsätzliche Naturrechtsbejaher die rechtliche Zulässigkeit der Sklaverei und bis weit in das 19. Jht. auch die unbeschränkte Kinderarbeit verteidigt haben. Es galt und gilt erst als Verdienst des Gesetzgebers und nicht als unmittelbare Rechtswirkung des Naturrechtes, daß, gemäß der Deutschen Schulordnung für die österreichischen Länder aus 1805, Kinderarbeit in Fabrikbetrieben grundsätzlich erst nach Vollendung des achten Lebensjahres (!) und mit der Auflage gestattet war, daß der Arbeitgeber auf eigene Kosten für einen dürftigen Ersatzunterricht der im Arbeitsverhältnis stehenden Kinder in den Abendstunden und an Sonntagen Vorsorge zu treffen hatte. Der tiefste Stand in der wissenschaftlichen Betreuung des Rechts und im besonderen der Staatslehre und des Staatsrechtes war zur Zeit des Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Reiches eingetreten. Die Wiedereinsetzung der außer Dienst gestellten Hochschullehrer und die Wiederherstellung der Lehrfreiheit waren die Ansätze zu neuem, ernst zu nehmendem Wissenschaftsbetrieb, so weit nicht unter Tarnungen und dank stillem Einverständnis zwischen den akademischen Lehrern mit ihren Mitarbeitern und Hörern sogar in den politisch beargwöhnten und korrumpierten Fächern wissenschaftlicher Geist hatte fortbestehen können. Freilich waren unersetzbare Forscher und Lehrer verlorengegangen und andere hatten den Fortschritt der Wissenschaft nicht nachholen können. Auch die finanzielle

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Dotierung des wissenschaftlichen Personal- und Sachaufwandes hatte nur allmählich den Vorkriegsstand oder gar den Stand saturierter Staaten erreichen können. Subjektiv war das Problem der finanziellen Dotierung der Wissenschaft das aktuellste, objektiv jedoch die Ausbildung der Träger der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, im besonderen die Überwindung der Verbildung, die Folge der politischen Reaktion gewesen war; die „politische Säuberung" der Lehrkörper nach wissenschaftlichen und sozialen Kriterien war die ernsteste, aber heikelste und, wie die Erfahrung zeigt, nicht voll bewältigte Aufgabe. Unter diesem Gesichtspunkt war es ein hochschulpolitischer Fortschritt, daß die „Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer", die in der Weimarer Republik gegründet worden war und unter reger Mitarbeit von Gelehrten wie Richard Thoma, Hans Jacobi, Walter Jellinek, Hans Kelsen um eine innere Demokratisierung des deutschen Sprachraums bemüht gewesen war, nach der Machtergreifung Hitlers jedoch unverzüglich behördlich aufgelöst worden war, neu begründet worden ist. Bei dieser Gelegenheit wurden in den Verein, der alljährlich als Arbeitsgemeinschaft tagt, auch die schweizerischen Fachgenossen einbezogen. Diese sind ohne Unterschied ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit zuverlässige Garanten gegen eine neonazistische Ergänzung der Mitglieder und Beeinflussung des Arbeitsprogrammes. Symptomatisch für diese Sperre ist die Tatsache, daß ein an die Universität Saarbrücken abgeordneter französischer Rechtslehrer ebenfalls diese Mitgliedschaft angestrebt und erhalten hat. Dank der Eigenschaft der überstaatlichen Organisation der deutschsprachigen Staatsrechtslehrer als aktuelle Arbeitsgemeinschaft von Fachgenossen wirkt sie geradezu als freiwillige Selbsthilfemaßnahme der Mitglieder gegen die Provinzialisierung des Wissenschaftsbetriebes. Die Möglichkeit, ja geradezu die Gefahr einer solchen Provinzialisierung besteht in der Deutschen Bundesrepublik infolge der rechtlichen Eigenschaft der Hochschulen als Anstalten der Bundesländer (in keinem einzigen Falle des Gesamtstaates), und infolge der zum Teil stark bewußten Stammesunterschiede zwischen dem Norden und dem Süden, und wird auch dienstrechtlich durch Freizügigkeit der Lehrkräfte zwischen den einzelnen Hochschulen bekämpft. Die Mitgliedschaft wird in der Bundesrepublik auch den Fachgenossen der Ostzone (der Deutschen Demokratischen Republik) freigestellt, von deren Regierung aber durch Ausreiseverbote zu den fachlichen

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Tagungen (z.B. auch nach Wien) praktisch unmöglich gemacht. Die Schweizer Kantone, denen allein die Unterrichtshoheit über die Universitäten zusteht, stellen ihren Lehrkräften selbstverständlich die Mitgliedschaft und Mitarbeit in dem überstaatlichen Gesamtverband völlig frei. Für Österreich ist die Mitgliedschaft und sind die Erfahrungsmöglichkeiten, die nicht bloß die Tagungen, sondern auch die Lehr- und Forschungseinrichtungen der alljährlich wechselnden Tagungsorte bieten, besonders aufschlußreich, vor allem in der Richtung, daß die Bindung des Großteils der Studentenschaft an die möglichst anziehend gemachten Seminare und Zweigbibliotheken demonstriert wird. Diese Einrichtungen sind die Pflegestätten für die kulturell nötige Würdigung des Buches, wie sie in Österreich nach meinen Erfahrungen von 12 Unterrichtsjahren die Volkshochschule „Volksheim" dargeboten hatte. Ein anderes Mittel gegen die Provinzialisierung, das die internationale freiwillige Organisation bewußt verwendet, ist die Einrichtung, daß die bloße Eigenschaft als Universitätslehrer für die Verbandszugehörigkeit nicht genügt, sondern daß die rigorosen Aufnahmevorschriften den Antrag dreier Vereinsmitglieder voraussetzen, über den im Falle von Einsprüchen aus dem Kreise der Mitglieder die vertrauliche Vollversammlung der Mitglieder entscheidet. Bedingung für die Aufnahme eines Mitglieds ist weiters die Habilitation für die Fächer Allgemeine Staatslehre und ein positives Staatsrecht, und zwar je nach dem Herkunftsland des Bewerbers des deutschen, österreichischen oder schweizerischen Staatsrechtes. Von diesem Erfordernis kann nur durch Beschluß der Mitgliederversammlung auf Grund besonderer Umstände (besondere wissenschaftliche Qualifikation) abgegangen werden. Der kursorische Überblick über die literarischen Leistungen auf dem in Frage stehenden Fachgebiet dürfte gezeigt haben, daß der „tote Punkt" in der fachwissenschaftlichen Arbeit - die Zäsur zwischen der sogenannten Ersten und Zweiten Republik - überwunden ist, und daß die Entwicklung der Fachliteratur der Republik Österreich seit 1945 mit jener vor diesem Schicksalsjahr durchaus einen Vergleich zuläßt. Der nicht bloß hypothetische Einwand „multa non multum" wäre ungerecht, obwohl das Passivum der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Staates durch den Arbeitselan Kelsens und der von ihm angefeuerten Schule durch verwandte Leistungen aufgeholt worden ist. Der schulmäßige und ideologische Zusammenhang fehlt der seitherigen wissenschaftlichen Arbeit auf

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unserem Arbeitsgebiet. Die geistigen Träger der laufenden wissenschaftlichen Arbeit haben sich aber durch originelle Leistungen sogar über das Inland hinaus legitimiert und stellen die Promesse dar, daß Österreich durch sie und ihre Schüler eine originelle Wissenschaft des öffentlichen Rechts auch außerhalb der in besonderem Maße repräsentativen Völkerrechtslehre ausweisen und fortpflanzen wird.

Hans Kelsen aus Anlaß seines 86. Geburtstags Kelsen, ein in der Fachwelt aller Kulturnationen gewürdigter Meister des Rechtes, im besonderen der Rechtsschöpfung und der Rechtswissenschaft, wird, wie bereits in anderen Jahren des laufenden Jahrzehntes, auch im laufenden Jahr von Kennern und Bewunderern seines Lebenswerkes, das trotz aller Kritik ein übernationaler geistiger Besitz geworden ist, in vielen Staaten gewürdigt. Der Geist dieses gebürtigen Pragers mit deutscher Muttersprache und des 23jährigen Doktors der Rechte der Universität zu Wien, der dank der Entdeckergabe seiner akademischen Lehrer, Edmund Bernatzik, Adolf Menzel und Friedrich Tezner als wirklicher Doktor, das heißt Gelehrter, ins Leben entlassen worden ist, gelingt dank dem zündenden Funken der Philosophie die von Kelsen „Reine Rechtslehre'4 benannte Rechtstheorie aufzubauen. Die Quellen dieses Gedankengutes hatte der in Genf tätige, seither zu einem verdienten Rechtswissenschafter herangereifte Schüler Kelsens, Rudolf Aladar Metall, gesammelt und Kelsen zur Veröffentlichung im Rahmen der völlig neubearbeiteten zweiten Auflage der „Reinen Rechtslehre" (Verlag Franz Deuticke, Wien) zur Verfügung gestellt. Das chronologische Verzeichnis der Veröffentlichungen Hans Kelsens enthält 483 Titel von Publikationen Kelsens - teils in den Sprachen des Originals, teils in Übersetzungen -insgesamt in 483 Nummern. Die Persönlichkeit des einen Verfassers Kelsen spricht in dieser dank solchem Inhalt unschätzbaren Publikation in 22 Sprachen zum Leser: Arabisch, bulgarisch, chinesisch, dänisch, englisch, finnisch, französisch, neugriechisch, holländisch, indonesisch, italienisch, japanisch, schwedisch, serbisch, spanisch, tschechisch, türkisch und ungarisch: Ein Welterfolg eines wissenschaftlichen und nicht etwa eines Romanschriftstellers, der sich keinesfalls auf Reklame der wissenschaftlichen Schule, sondern bloß auf den Wunsch von

Der Staatsbürger, 20. Jg. (1967), Nr. 23, S. 3.

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Hörern des Meisters aus allen Erdteilen und vielen Nationen zurückführen läßt, ihrem eigenen oder einem verwandten Volk wenigstens eine oder einige Proben seines Schaffens in der Muttersprache oder doch einer vertrauten Sprache zugänglich zu machen. In dieser Bemühung um die Publizität des aus fernen Ländern und von fremden Rassen aufgesuchten Lehrers liegt der Welterfolg des Meisters, der ihm wie nur wenigen auserwählten Menschen schon bei Lebzeiten zuteilgeworden ist. Die Liste der Übersetzungen hat sich seit dem Erscheinen dieser sieben Jahre zurückliegenden Liste in einem mir nicht feststellbaren Maße vergrößert, kann aber die Gewißheit bieten, daß die Lesergemeinde eines Kelsen nicht weniger anwächst wie die des Wiener Psychiaters Sigmund Freud. Das rechtstheoretische Gebäude Kelsens entfaltet sich auf der Grundlage der „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (mit „Vorrede" 745 Druckseiten). Dieses Buch war auf Rat und wohl auf Empfehlung der wissenschaftlichen Berater des 31jährigen Verfassers, nämlich der Professoren der Allgemeinen Staatslehre und des Österreichischen Staatsrechtes, der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechtes Edmund Bernatzik und Adolf Menzel von dem Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen, dem Rechtsnachfolger des durch die Erstpublikationen Lessings, Goethes und Schillers berühmt gewordenen Cottaschen Verlages in Stuttgart, berühmt geworden. Nach der Erstlingsschrift des damals erst 24jährigen Kelsen über die Staatsauffassung des Dante Alighieri, die in Anbetracht der Größe des im Grunde zeitlosen Themas achtungsvolle Aufnahme gefunden hatte, waren „Die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" als mutige Probe einer sachlichen und kenntnisreichen Kritik der deutschen Staatsrechtslehre eines Jahrhunderts im wesentlichen positiv bewertet worden. Die hunderte Publikationen über zentrale und peripherische Probleme der Staatslehre, fast möchte man sagen: leider auch der Politik, die Kelsen bis zu seinem Scheiden von der Universität Wien und sodann Köln veröffentlicht hat, harren großteils noch der Sichtung und Siebung auf ihren rechtswissenschaftlichen Gehalt, der überwiegend unbestreitbar ist. Angesichts des am 11. Oktober gefeierten 86. Geburtstages des Verfassers darf an diese Aufgabe und die Abstattung einer Dankesschuld an den großen Meister und Wegweiser für eine Generation von Rechtswissenschaftern nachdrücklich erinnert werden.

C. Variae

Einige Gegenbemerkungen über die §§ 1154 b und 1155 ABGB Mit Rechtsfragen sich zu befassen, mag in Zeitläuften unzeitgemäß erscheinen, wo die Träger des Rechtes, die Staaten, wanken.1 Doch was vom Staatsrecht zutrifft, das im Augenblicke der Umwälzung aus seiner sonst überragenden Bedeutung sozusagen ins Nichts stürzt, gilt nicht vom Privatrecht, das in gewissem Sinne staatsfremd und zeitlos ist. Die Kontinuität des privaten Rechtslebens bleibt trotz staatlicher Diskontinuität gewahrt. Nicht so bald paßt auf eine Rechtseinrichtung wie die der §§ 1154 b und 1155 ABGB der Dichterspruch: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Man mag zweifeln, ob solche Worte angesichts unserer bescheidenen Gesetzesstellen am Platze sind, und, falls sie in Anbetracht des schier erbitterten Kampfes der Meinungen um diese Gesetzesstellen tatsächlich am Platze sind, ob dieser Kampf der Meinungen um einen Gegenstand geführt wird, der dieses Aufwandes an Argumenten würdig ist. Die folgenden Ausführungen sollen an der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung unserer Rechtseinrichtungen keinen Zweifel lassen. Nichtsdestoweniger haben Art und Grad des Meinungsstreites manches Unbegreifliche an sich. Von manchen Stellen auf der Unternehmerseite wurden im Kampfe gegen unsere Rechtseinrichtungen mitunter Töne angeschlagen, als ob sie eine schwere Gefährdung, tiefe Erschütterung der industriellen Produktion im Gefolge haben würden, Töne, die den Gesetzgeber zu sofortiger Einkehr hätten veranlassen müssen, wenn nicht die erwähnte Prophezeiung durch leider zu oftmaligen verantwortungslosen Gebrauch um ihren Kredit gekommen wäre. Aus den Kreisen der

Juristische Blätter, 47. Jg. (1918), S. 473-475,489-491. 1

Der Artikel wurde von mir allerdings bereits vor der Staatsumwälzung verfaßt und ist durch diese in manchem überholt, nichtsdestoweniger ist er aber nicht inaktuell geworden.

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III.C. Variae

Arbeiterschaft hingegen wurden hie und da Stimmen der uneingeschränkten Bejahung und Anerkennung laut, welche umsomehr auffallen mußten, als die juristische Technik unserer Rechtseinrichtungen den Gesetzgebungsidealen dieser Kreise völlig zu widersprechen scheint. In diesem Meinungsstreite hat nun unter anderem in den Nummern 41/42 des laufenden Jahrganges dieser Blätter ein Dr. Johann Fiedler mit einem interessanten Artikel das Wort ergriffen, welcher nur leider verschiedene anfechtbare Einzelheiten der fraglichen Bestimmungen hervorkehrt und damit der Rechtseinrichtung in ihrer Gesamtbedeutung für das Rechts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsleben zu wenig gerecht werden. Es sei mir im folgenden gestattet, auf Grund einer ziemlich reichlichen, auf dem fraglichen Rechtsgebiet gewonnenen Erfahrung diese Bemerkungen, wo nötig, zu berichtigen und insbesondere in der angedeuteten Richtung zu ergänzen. Der Verfasser stellt mit bestem Rechte fest, „daß die bisherigen 2 Bestimmungen insofern verfehlt sind, als sie nicht zwingenden Charakter haben". Das tiefere Problem, an das hier gerührt wird, gelangt aber doch nicht zum Ausdrucke. Es fragt sich im Grunde darum, ob das ius dispositivum eine geeignete, ja überhaupt eine mögliche Form staatlicher Sozialpolitik sei, ob diese nicht, um ihren Zweck zu erreichen, in die Form des ius cogens gekleidet sein müsse. Sozialpolitik ist gedanklich der Schutz des wirtschaftlich Schwächeren und tritt in den Fällen vertragsmäßiger Verhältnisse dann ein, wenn keine oder nur schwache Aussicht besteht, daß sich die eine Vertragspartei gegen die andere durchsetzt. Das Mittel ist in diesen Fällen bekanntlich die Bindung der Vertragsfreiheit. Die Bestimmungen der §§ 1154 b und 1155 ABGB, welche dem Arbeitnehmer ein Entgelt bei unverschuldeter Arbeits Verhinderung zusichern, also eine besondere und beschränkte Art der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit auf Kosten des Arbeitgebers darstellen, sind offenbar als sozialpolitische Einrichtung gedacht! Was aber hier die eine Hand gibt y nimmt die andere, indem das Gesetz die Vertragsparteien ermächtigt, die Geltung

2 Die Ausführungen Dr. Fiedlers erwecken den Schein, als ob es sich um geradezu befristete, bald zum Erlöschen bestimmte Einrichtungen handelte. Mir scheint denn doch, daß die Einrichtungen der §§ 1154 b und 1155 ABGB nicht ganz so vorübergehend sind, wie sie dort dargestellt werden.

Einige Gegenbemerkungen über die §§ 1154 b und 1155 ABGB

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dieser gesetzlichen Bestimmung auszuschließen. Ius dispositivum hat nur inter pares Sinn, das heißt hier: zwischen wirtschaftlich gleich Starken; es soll deren Vertragsvereinbarungen vereinfachen, indem das Gesetz bereits einen ausgearbeiteten Vertragsentwurf bereit hält; die Wirkung des ius dispositivum in diesen Fällen ist tatsächlich, daß der Vertragsinhalt uniformiert wird. Andererseits besteht kein öffentliches Interesse an dieser Uniformierung, wie überhaupt daran, daß sich das nicht zwingende Recht durchsetze. Es wird seinem Wesen nach „sine ira et studio", es wird ganz einfach „interesselos" zur Wahl gestellt.3 Was die vorerwähnte Voraussetzung der Parität betrifft, behauptet Dr. Fiedler allerdings, daß die Stellung der Arbeiterschaft „gegenwärtig zweifelsohne stärker als die der Unternehmer ist". Es soll nicht bestritten werden, daß sich die Stellung der Arbeiterschaft, nämlich jener der Kriegsindustrie, beträchtlich gebessert hat. Ebensowenig darf es aber verkannt werden, daß sich auch die Stellung der Unternehmerschaft, und zwar gleichfalls namentlich jener der Kriegsindustrie, mindestens in demselben Ausmaße gestärkt hat. Es ist wahr: die wirtschaftliche und damit auch die gesellschaftliche Lage der in der Kriegsindustrie beschäftigten Arbeiterschaft hat sich bedeutend gehoben: aber doch nur im Verhältnis zu den sonstigen Volksschichten, nicht im Verhältnis zu der ihr zugeordneten Unternehmerschaft, der sie als Vertragsgegner entgegentritt. Und gerade darauf kommt es an. In diesen Beziehungen hat sich nun offenbar wieder ein ähnlicher Gleichgewichtszustand der Kräfte entwickelt, wie er vordem bestand. Und da es sich um einen Kampfgegenstand handelt, ist auch die übliche Wirkung des ius dispositivum ausgeblieben - die Wirkung nämlich, daß es tatsächlich die Vertragsbeziehungen aus dem Grunde beherrschen würde, weil die Parteien mangels eines besonderen Interesses auf eine anderweitige Regelung verzichten. Wir müssen aber nochmals daran erinnern, daß der Gesetzgeber in unserem Falle von der - sei es nun zutreffenden oder unzutreffenden Voraussetzung ausging, daß der Arbeitnehmer im Vergleich zum Arbeitge-

3 Ich spreche hier nur vom öffentlichen Interesse, vom Interesse im soziologischen Sinne: Interesse einer Vielheit, Interesse der Gesellschaft: zum staatlichen Interesse wird das ius dispositivum dadurch, daß es durch stillschweigende Anerkennung der Parteien rechtsverbindlich wird.

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ber der schwächere Teil sei, und daß es gelte, ihm durch gesetzliche Anordnung gewisse Vorteile zu sichern, die er bei unbeeinflußtem Vertragskampf nicht erzielen würde. Unter dieser Voraussetzung nun ist unsere Rechtseinrichtung in der Gestalt, wie sie uns entgegentritt, ein untaugliches Mittel zum gedachten Zwecke. Denn die Möglichkeit, die Rechtswohltaten der §§ 1154 b und 1155 im Vertragswege auszuschließen, macht die Unterstützung des Schwächeren zunichte, da er sich unzweifelhaft den Vorteil abdingen lassen muß. Erfahrungstatsache ist, daß gerade die schwächeren und vereinzelten Arbeitnehmer am häufigsten der Vorteile aus den oft bezeichneten Gesetzesstellen verlustig gehen, während sich stärkere Gruppen der Arbeiterschaft, namentlich organisierte, die ihnen gesetzlich zugedachten Vorteile wohl zu wahren wissen. Es ist nun offenbar sozusagen die verkehrte Ordnung, wenn eine Schutzbestimmung häufiger den Stärkeren, den minder Schutzbedürftigen als den Schwächeren zugute kommt. Sozialpolitik in der Form des ius dispositivum führt also unter Umständen statt zu einem Ausgleich zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze. Und der in unserem Falle begangene Fehler besteht nicht darin, daß gerade die Bestimmungen der §§ 1154 b und 1155 nicht zwingend gestaltet wurden, sondern daß man überhaupt Sozialpolitik nicht als zwingendes, sondern als nicht zwingendes Recht und daß man sie, in der üblichen Ausdrucksweise gesprochen, nicht als öffentliches, sondern als privates Recht gestaltet. Die individualistische Rechtsgestalt des ius dispositivum, welches das Gesetz nur mit dem Willen des Individuums maßgeblich sein läßt, kann schwerlich jemals Träger einer sozialpolitischen Maßnahme sein. ***

Es sei zugegeben: Was die §§ 1154 b und 1155 dem Arbeitnehmer gewähren, ist fürwahr nicht wenig, wenn man es mit der rechtlichen Lage vergleicht, in der sich der Arbeitnehmer bis zur Einführung der dritten Teilnovelle zum bürgerlichen Gesetzbuch befand. Der Wert der Einrichtung scheint sich vor allem darin auszudrücken, wie empfindlich die Interessenten gegen die Anfechtungen reagieren, denen die Einrichtung ausgesetzt ist, wie entschieden sie an ihr festhalten. Ideell bedeuten unsere beiden Paragraphen den Grundsatz, daß der Schade aus einer Arbeitsverhinderung bis zu einem gewissen Grade den Arbeitgeber und nicht den in erster Linie betroffenen, den tatsächlich behinderten

Einige Gegenbemerkungen über die §§ 1154 b und 1155 ABGB

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Arbeitnehmer trifft. Materiell bedeutet das mehr als man auf den ersten Blick annehmen möchte, mehr als womit z.B. Dr. Fiedler rechnet. Denn es handelt sich ja nicht um eine subsidiäre Entschädigung, die etwa nur dann einzutreten hätte, wenn der Arbeitnehmer nicht in anderer Weise für den Arbeitsund damit Verdienstentgang schadlos gehalten wird, sondern um ein Entgelt, das auf jeden Fall , auch neben einer allfälligen sonstigen Schadloshaltung des Arbeitnehmers zu leisten ist. Im Hauptfall einer Arbeitsverhinderung es ist der einer Krankheit - hat also der Arbeitnehmer den Anspruch auf das Entgelt gemäß § 1154 b ungeachtet der Tatsache, daß er Krankengeld bezieht. Das Entgelt wird nur um jenen Teilbetrag des Krankengeldes gekürzt, „der dem Verhältnisse der tatsächlichen Beitragsleistung des Dienstgebers zu dem Gesamtversicherungsbetrag des Dienstnehmers entspricht" (§ 1154 b, letzter Abs.). Der Arbeitnehmer steht sich also in den ersten sieben Krankheitstagen bedeutend besser als bei normaler Arbeitsleistung, indem er außer dem - allerdings etwas gekürzten - Lohn auch noch das Krankengeld erhält, und erst in der zweiten Krankheitswoche wendet sich seine materielle Lage zum Schlechteren, indem der erkrankte Arbeitnehmer auf das Krankengeld allein angewiesen ist. Es trifft also nicht zu, daß, wie Dr. Fiedler behauptet, „keine Spannung zwischen dem Verdienst während der Arbeit und dem Entgelt während der Arbeitsverhinderung besteht". Eine solche Spannung besteht tatsächlich, aber doch eine Spannung anderer Art, als man erwartet, eine Spannung zugunsten der Arbeitsverhinderung, zugunsten des Erkrankten. Es mag dies sehr billig sein, aber andererseits ist es doch, wie zugegeben sei, ein beachtlicher Anreiz zum Kranksein, der doch wohl in nicht wenig Fällen (mögen die einschlägigen Angaben auch vielfach übertrieben sein) zur Simulation der Krankheit bestimmen mag. Diese bloße Möglichkeit wird aber andererseits wieder zum Anreiz, eine Bestimmung, die derartige Auswirkungen zuläßt, theoretisch abzulehnen und praktisch auszuschließen. Ich möchte noch an einem anderen Beispiele zeigen, wie weitgehend der aus dem § 1154 b ABGB sich ergebende Vorteil unter Umständen ist. Einer der anderen „wichtigen Gründe", aus denen, von Krankheit abgesehen, dem Arbeitnehmer Entgelt für den Verdienstentgang gebührt, ist die Vorladung als Zeuge zu Gericht. Der Bezug einer Zeugengebühr schließt nun keineswegs den Anspruch gemäß § 1154 b aus. Mag dies auch beabsichtigt gewesen sein, so kommt es doch im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck. Das Gesetz selbst hat - was man nicht entschieden genug betonen kann, weil

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es dem Gesetzgeber selbst verborgen geblieben zu sein scheint - den Entgeltsanspruch auf die bloße Tatsache der Arbeitsverhinderung und nicht auf den Umstand abgestellt, daß der Arbeitnehmer durch die Arbeitsverhinderung zu Schaden kommt, um seinen Lohn, um seine Verdienstmöglichkeit gebracht wird. Die Bestimmung wächst dadurch über den nächstliegenden Zweck einer Lohnassekuranz für den Arbeitnehmer hinaus und wird zu einer von der materiellen Lage des Arbeitnehmers unabhängigen Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers. Nun ist es wohl unter anderem gerade diese Freigebigkeit, welche den Wert der Rechtswohltat stark beschränkt. Denn gerade sie ist die Einladung und zum Teil Rechtfertigung dafür, von der gleichzeitig offen gelassenen Möglichkeit, die Leistungen im Vertragswege zu beschränken, weitesten Gebrauch zu machen. Etwas weniger wäre unter diesen Umständen um vieles mehr gewesen. Eine rechtliche Einrichtung, die nur von denen gesichert und benützt werden kann, die sie sich, wenn nötig, auch im Vertragswege ausbedingen könnten, verliert ihren eigentümlichen Wert. ***

Es ist nach den vorstehenden Andeutungen nicht unerklärlich, daß sich alsbald die Tendenz geltend machte, die Anwendung unserer beiden Gesetzesstellen im Vereinbarungswege auszuschließen. Der Staat, der mit der Statuierung der beiden Bestimmungen zwar keinen Befehl, wohl aber eine Anempfehlung ausdrücken wollte, mußte naturgemäß darauf bedacht sein, an Stelle des vielen, das das Gesetz bietet, ohne seine Zusage irgendwie zu sichern, zwar etwas weniger, dieses wenige aber möglichst sicher zu gewähren. Dieses Ziel strebte und strebt, und zwar wie ich gleich hinzusetzen möchte, mit unverkennbarem Erfolg, jenes von Dr. Fiedler erwähnte Kompromiß an, das zwischen den führenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen am 13. Jänner 1917 im Handelsministerium abgeschlossen wurde. Dieses von unserem Verfasser als „sonderbar" und „überflüssig" bezeichnete Kompromiß war wohl der einzige Weg, der Bestimmung des § 1154 b in einer den Bedürfnissen der Praxis angepaßten Gestalt zur Durchsetzung zu verhelfen, ohne den aus diesem Anlaß kaum gangbaren Weg der Gesetzgebung betreten zu müssen. Wenn Dr. Fiedler als Argument gegen diese Vereinbarung anführt, daß sie niemanden binde, so muß demgegenüber festgestellt werden, daß eine unmittelbare Bindung der Vertrags-

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Parteien an die Bestimmung des § 1154 b weder beabsichtigt, noch auch der Sachlage nach möglich war. Wohl aber haben sich die Kompromißteilhaber, als welche die führenden österreichischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auftraten, gegenseitig und der Regierung gegenüber verpflichtet, auf ihre Angehörigen einzuwirken, daß sie sich dem Kompromisse anschließen. Bei dem heutigen Grade der Organisierung, nicht bloß der Arbeiterschaft, sondern auch der Unternehmerschaft, will das nicht wenig bedeuten. Die Modifikation des Gesetzeswortlautes gegenüber dem Kompromisse besteht namentlich darin, daß das Entgelt im Erkrankungsfalle nicht bereits vom Zeitpunkt der Erkrankung an, sondern erst vom dritten Krankheitstage ab gewährt wird. Man sollte meinen, daß diese Einschränkung den wichtigsten Bedenken wegen Gefahr der Simulation von Krankheiten, unbegründeter Absenzen wegen geringfügigen und kurzfristigen Unwohlseins und dergleichen mehr die Spitze abbricht. Andererseits ist es vom Standpunkte des Arbeitnehmers aus ein nicht zu unterschätzender Gewinn, wenn der fakultative gesetzliche Anspruch relativ (nämlich für die Teilhaber des Kompromisses, wenn auch nicht in seiner Geltung, so doch in seiner Wirkung) obligatorisch wird. Eine andere Funktion erfüllt das Kompromiß dadurch, daß es den vom Gesetz Undefiniert verwendeten, offenbar sehr vagen Begriff des „Entgeltes" eingehend umschreibt und damit für weite Kreise außer Streit stellt. Die Hauptbedeutung des Kompromisses scheint mir aber darin zu liegen, daß es für andere ähnliche branchenweise Vereinbarungen, (welche vom Kompromisse zugelassen wurden, soweit sie dem Arbeitnehmer im allgemeinen nicht ungünstiger sind), vorbildlich wurde. Insoweit erfüllte das Kompromiß die Funktion einer Art Musterstatut. Es wurde damit eine Entwicklung angebahnt und in den durch die Kriegsverhältnisse bedingten raschen Fluß versetzt, wie sie sich im Deutschen Reiche seit Einführung des neuen bürgerlichen Gesetzbuches im Laufe der Jahre allmählich herausgebildet hat. Der § 1154 b ABGB ist bekanntlich dem §616 des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches nachgebildet. Insbesondere teilt er mit ihm seinen nicht zwingenden Charakter. Es mußte also im Deutschen Reiche die Anerkennung der Bestimmung durch die Unternehmerschaft von der Arbeiterschaft im allgemeinen mit Abstrichen an den gesetzlich zugedachten Vorteilen erkauft werden. Mangels eines Einflusses der Regierung auf den Gang der Dinge haben sich die Verhältnisse im Deutschen Reich naturgemäß auf die Weise entwickelt, daß gerade die

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stärksten und am wenigsten schutzbedürftigen Gruppen der Arbeiterschaft die gesetzlichen Vorteile am weitestgehenden behaupet haben, während schwächere Gruppen schon in wesentliche Abstriche einwilligen und große aber schwache Massen von Arbeitsnehmern auf die Rechtswohltat ganz verzichten mußten. Dieser naturgemäßen Entwicklung der Dinge wurde nun in Österreich durch das Eingreifen der Regierung vorgebeugt und die Wirkung erzielt, daß die Bestimmungen der privaten Abmachungen um jene des behördlich vermittelten Kompromisses oszillieren. Das Kompromiß wurde dieser Art gewissermaßen zu einer minimalen Formulierung des gesetzlichen Anspruchs, die von den organisierten Vertragsparteien nur selten unter-, häufig überboten wird. So haben sich die sozialpolitischen Bestimmungen der §§ 1154 b und 1155 trotz ihres vorweg nicht zwingenden Charakters in der Kriegswirtschaft viel entschiedener durchgesetzt als so manche andere Maßnahmen, die oft auf einen anscheinend mächtigen staatsrechtlichen und strafrechtlichen Apparat gestützt, in Wirklichkeit aber auf Ohnmacht gebaut waren. Der Kriegszustand hat nicht nur die Arbeitsverhältnisse, sondern auch das Arbeitsrecht in starkem Maße influenziert. Diesen interessanten Zusammenhängen haben bisher Theorie und Praxis viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt, als sie es verdient haben würden, und auch Dr. Fiedler widmet dieser Frage nur abschließend eine kurze Betrachtung. Gerade der Inhalt der §§ 1154 b und 1155 hat aber durch die Kriegsverhältnisse einschneidende Veränderungen erfahren. Es wird nämlich wahrscheinlich erst durch die Mitteilung des Dr. Fiedler weiteren Kreisen bekannt geworden sein, daß die Praxis diese Bestimmungen (auf Grund des Kriegsleistungsgesetzes und der hiezu ergangenen Durchführungsverordnung des Ministeriums für Landesverteidigung) für Betriebe, die gemäß § 18 dieses Gesetzes in Anspruch genommen wurden, zwingend gestaltet hat; und zwar zwingend ganz unabhängig vom Kompromisse, dessen es also für Kriegsleistungsbetriebe gar nicht bedurft hätte. Die übereinstimmende Praxis der Gewerbebehörden ging dahin, Arbeitsordnungen von Kriegsleistungsbetrieben (aber auch nur von solchen), wenn sie die Geltung unserer Bestimmungen auszuschließen beabsichtigten, nicht zu vidieren. Das war wohl eine unvermeidliche Konsequenz der Beschränkung der Freizügigkeit. Unter normalen Verhältnissen kann der Arbeitnehmer, dem der Arbeitgeber die Rechtswohltaten der §§ 1154 b und 1155 versagt, einfach kündigen. Dadurch, daß er angesichts einer Änderung der Arbeitsordnung die Kündigungsfrist ungenützt verstrei-

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chen läßt, willigt er in eine Änderung des Arbeitsvertrages ein. Ist aber dem Arbeitnehmer durch die Unterstellung uner das Kriegsleistungsgesetz das Kündigungsrecht genommen, dann kann billigerweise auch dem Arbeitgeber nicht gestattet werden, einseitig den Arbeitsvertrag zu ändern. Und die §§ 1154 b und 1155 waren ja mit dem Inkrafttreten der Teilnovelle ohne Zutun der Parteien zum Bestandteile aller Arbeitsverträge geworden. Die Beschwerdekommissionen nehmen wohl ausnahmslos den im vorigen vorgelegten Standpunkt ein; meines Wissens judifizieren aber auch die Gewerbegerichte, soweit sie in derlei Rechtsstreitigkeiten derzeit noch angerufen werden, vorwiegend in diesem Sinne, während Dr. Fiedler A von ihnen das Gegenteil behauptet. Was die Frage der Zuständigkeit der Beschwerdekommissionen zur Entscheidung derartiger Rechtsfälle betrifft, widerlegt sich die Aufstellung Dr. Fiedlers , „daß die Beschwerdekommission ihren Wirkungskreis überschreitet, indem sie sich nicht bloß um Lohnangelegenheiten , sondern auch um rechtliche Fragen des Arbeitsverhältnisses kümmert", einfach aus dem Gesetzestexte. Die Judikatur in Rechtsstreitigkeiten über die §§ 1154 b und 1155 stützt sich nämlich nicht auf den § 1 der die Beschwerdekommissionen konstituierenden kaiserlichen Verordnung vom 28. März 1918, RGBl. Nr. 122, der sie zur Lohnnormierung ermächtigt, sondern auf den - von dem Verfasser nicht beachteten - § 3 derselben kaiserlichen Verordnung, der die Beschwerdekommissionen wahlweise mit den in diesen Angelegenheiten nach wie vor zuständigen Gerichten - unter anderem auch zur Rechtsprechung über die „bestehenden Arbeitsverhältnisse " beruft. Und die Frage, ob einem Arbeitnehmer ein Entgelt für versäumte Arbeitszeit gebühre, ist doch wohl eine Frage aus dem bestehenden Arbeitsverhältnisse. Also ist es ganz in der Ordnung, wenn sich die Beschwerdekommissionen, die in solchen Fällen viel häufiger angerufen werden als die Gerichte, ohneweiters für zuständig erklären. Aus dieser Zuständigkeit der Beschwerdekommissionen fließt nun eine weitere bemerkenswerte Erscheinung. Die Beschwerdekommissionen haben es nämlich in der Hand, kraft ihrer doppelten Kompetenz zur Lohnfestsetzung einerseits und zur Rechtsprechung in Lohnfragen andererseits, im einzelnen Falle die lohnrechtliche Basis zu verlassen und das Entgelt bei

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Die sonst sehr aufschlußreichen und dankenswerten Ausführungen Dr. Fiedlers verraten in diesem Absatz leider eine gewisse Unorientiertheit.

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Arbeits Verhinderung abweichend vom Inhalt der §§ 1154 b und 1155 in einer (im Sinne des § 1 der vorzitierten kaiserlichen Verordnung) angemessen erscheinenden Höhe festzusetzen. Selbst wenn man also die §§ 1154 b und 1155 auch für Kriegsleistungsbetriebe nicht als zwingend ansieht, kommt man zur Einsicht, daß diese Gesetzesstellen - sei es nun in Form des Gesetzes oder in modifizierter Gestalt - im Wege der Judikatur der Beschwerdekommissionen in Kriegsleistungsbetrieben von Rechtswegen wie zwingendes Recht zur Geltung gebracht werden können.5 Auch in anderer Hinsicht hat das Kriegsrecht, namentlich die mehrfach erwähnte kaiserliche Verordnung über die Beschwerdekommissionen, das Friedensrecht der §§ 1154 b und 1155 stark influenziert. Das Kündigungsrecht des Arbeitgebers ist unter normalen Verhältnissen das Mittel, die Ansprüche des Arbeitnehmers, namentlich aus dem § 1155, zeitlich zu begrenzen. Das Gesetz spricht nämlich für „Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind", dem Dienstnehmer uneingeschränkt das Entgelt zu, „wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen, daran verhindert worden ist". Ist ein Unternehmer durch Mangel an Beschäftigung oder eine sonstwie ohne Zutun des Arbeiters verursachte Betriebseinschränkung oder Betriebseinstellung genötigt, Arbeiter außer Dienst zu stellen, so hat er zwar dem Arbeiter das Entgelt zu zahlen, kann aber gleichzeitig kündigen, wodurch er die Lohnzahlungen an die nicht benötigten Arbeiter mit dem Ablauf der Kündigungsfrist begrenzt. Diese Rechnung wird aber durch die Inanspruchnahme eines Betriebes nach dem Kriegsleistungsgesetz durchkreuzt. In ähnlicher Weise wie der Arbeitnehmer an den Betrieb gefesselt ist, sehen wir nämlich den Arbeitgeber an seine Arbeitnehmer gebunden. Ein Austritt aus einem Kriegsleistungsbetrieb ist nämlich nur bei Übereinstimmung beider Vertragsteile und mit Zustimmung des militärischen Leiters möglich; die einseitige Kündigung auf der einen Seite, die Entlassung auf der anderen Seite bedarf der Genehmigung durch die zuständige Beschwerdekommission (§ 5 leg. cit.). Nun leuchtet ein, daß der Arbeiter zu einer durch die Betriebsverhältnisse bedingten Entlassung nicht seine Einwilligung erteilt, wenn für ihn zwar keine Arbeit da ist, der Lohn aber auf unbestimmte Dauer fortgezahlt werden

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Vgl. zum Vorstehenden auch meine Abhandlung: „Die Stellung der Beschwerdekommissionen in der Behördenorganisation", ÖZöR, Jg. 1917.

Einige Gegenbemerkungen über die §§ 1154 b und 1155 ABGB

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müßte. Der Arbeitgeber wird sich also in diesen Fällen fast ausnahmslos um die Zustimmung der Beschwerdekommission zur Entlassung seines Arbeitnehmers zu bewerben haben. Solche Situationen haben sich schon während des Krieges nur zu häufig ergeben. Eine Betriebseinstellung infolge Kohlenmangels macht z.B. eine große Arbeiterzahl überflüssig. Der Dienstnehmer ist zur Arbeitsleistung bereit, das Hindernis der Arbeitsleistung liegt auf Seite des Dienstgebers. Es handelt sich um einen Zufall, der ihn getroffen und den er zu tragen hat; es ist selbstverständlich Aufgabe des Unternehmers, die Produktionsmittel beizustellen, und es fehlt jede rechtliche Handhabe, in diesem Falle den Schaden auf den Arbeitnehmer abzuwälzen: Ein typischer Fall der Anwendbarkeit des § 1155. Das Kündigungsrecht ist ausgeschlossen. Also bleibt nur die Möglichkeit, bei der zuständigen Beschwerdekommission die Zustimmung zur Entlassung der überschüssigen Arbeiterzahl zu erwirken. Hiemit eröffnet sich für die Bescherdekommission das Betätigungsfeld für eine großzügige Arbeitspolitik. Mit der Entlassung des Arbeiters ist nämlich eigentlich niemandem gedient; dem Arbeiter nicht, wofern ihm nicht eine günstigere Arbeitsgelegenheit winkt; dem Unternehmer womöglich noch weniger, weil er um den Preis, daß er von der gegenwärtigen materiellen Belastung durch seine beschäftigungslose Arbeiterschaft befreit wird, den Grundstock der im Zeitpunkte der Behebung des Betriebshindernisses erforderlichen Arbeiterschaft angreift; und daß endlich auch das öffentliche Interesse durch derartige Arbeiterverschiebungen vielleicht am empfindlichsten geschädigt wird, liegt so klar auf der Hand, daß jedes Wort der Begründung entfallen darf. Andererseits kann dem Unternehmer schwerlich zugemutet werden, auf Dauer der Betriebseinstellung, die ja viele Wochen, wenn nicht Monate währen kann, seine beschäftigungslosen Arbeiter in vollem Lohn zu behalten. Eine solche Lösung verbietet sich, obwohl sie rechtlich durchaus möglich und einwandfrei wäre - die Beschwerdekommission kann nämlich in unserem Falle die Einwilligung zur Entlassung nach freiem Ermessen erteilen und versagen aus Billigkeits- und noch mehr aus wirtschaftlichen Gründen. Die Beschwerdekommission hat es aber durch ihre Fähigkeit, die Entlassung zu bewilligen, unter Umständen aber auch zu verweigern, wohl meist in der Hand, im Vergleichswege die Entgeltsansprüche zu modifizieren, insbesondere einen Ausgleich zwischen Zeit und Höhe der Leistung herbeizuführen. Bekanntlich hat die Regierung schon vor geraumer Zeit Unterstützungsaktionen für die beschäftigungslos gewordenen Arbeiter verschiedener In-

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III.C. Variae

dustrien eingeleitet; für die Kriegsindustrie ist die Aktion am wichtigsten, welche bei Betriebseinstellungen und Einschränkungen wegen Kohlenmangels platzgreift. Alle diese Unterstützungsaktionen sind auf dem Grundsatze aufgebaut, daß die beschäftigungslos gewordenen Arbeiter mit einer oft sehr bedeutenden Staatsbeihilfe im Lohnverhältnisse belassen werden. Auch dies ist als eine besondere Methode der Leistung nach § 1155 ABGB anzusehen. Die Zahlung erfolgt unmittelbar durch den Arbeitgeber, dem nur ein Regreßanspruch gegen den Unerstützungsfonds zusteht. Auch die im Sinne dieser Unterstützungsaktionen sich ergebenden Modifikationen des gesetzlichen Anspruches sind durch die Judikatur der Beschwerdekommission garantiert. Für den Arbeitnehmer wird es immer vorteilhafter sein, sich mit den dauernden Genüssen, die ihm die verschiedentlichen Unterstützungsaktionen versprechen, zufrieden zu geben, als auf seinem vollen gesetzlichen Scheine des § 1155 zu bestehen und dabei Gefahr zu laufen, daß die Beschwerdekommission in seine vom Arbeitgeber gewünschte Entlassung einwilligt. Und letzten Endes hat die Beschwerdekommission auch die Möglichkeit, demjenigen, der sich der Unterstüzungsaktion nicht anschließt, kraft ihres souveränen Lohnnormierungsrechtes nach § 1 der kaiserlichen Verordnung das angesprochene Entgelt in der Höhe des Unterstützungsanspruches zuzumessen. Schließlich sei nur noch angedeutet, daß der Anspruch auf Grund des § 1155 in der Übergangswirtschaft eine noch erhöhte Rolle zu spielen berufen scheint. Die Stornierung von Heereslieferungsaufträgen wird zahllose Arbeiter freimachen. In dieser Lage kann sich das Kriegsleistungsgesetz, das bisher - vielleicht nicht in jeder Hinsicht mit Grund - als Last und Nachteil der Arbeiterschaft empfunden wurde, gerade für sie als Vorteil erweisen. Der Unternehmer ist bei vermehrten Aufträgen begreiflicherweise an der Unterstellung seines Betriebes unter das Kriegsleistungsgesetz interessiert, um die nötige Arbeiterzahl an sich zu fesseln, bei verminderen oder eingeschränkten Aufträgen jedoch in demselben Maße an der Aufhebung der Kriegsleistungspflicht, um die unnötigen Arbeitskräfte ungehindert abzustoßen. Es fragt sich sehr, ob die Aufhebung der Kriegsleistungspflicht immer Zug um Zug mit der Stornierung militärischer Lieferungsaufträge erfolgen wird und kann. Ich möchte die Arbeits-, im besonderen die Lohnpolitik als eines der wichtigsten, wo nicht als wichtigstes Problem der Übergangswirtschaft ansehen. Handelt es sich hier doch nicht um Sachen, sondern um Menschen - und die sind heutigentags in mehr als einer Bedeutung Imponderabilien ... Gesetzliche Handhabe bei dieser Arbeitspolitik kann unter andern

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unser § 1155 sein, und das Organ, das zur Handhabung dieses Instrumentes berufen sein wird und das dieses Instrument vermöge seiner Verfügungsgewalt in der Frage der Entlassung wirklich sozusagen meistern kann, ist die Beschwerdekommission. ***

Man soll über die so stark angefochtenen und, wie meine eigenen Betrachtungen gezeigt haben, tatsächlich anfechtbaren Rechtseinrichtungen der §§ 1154 b und 1155 nicht ungerecht urteilen, nicht vorschnell absprechen. Und man vermeidet ein ungerechtes Urteil, wenn man sie von einem höheren, von einem wirklich unparteiischen Standpunkt aus beurteilt. Das Urteil ist wohl erlaubt, daß sich unsere industrielle Kriegsrüstung ungleich besser bewährt hat als manche andere, und daß sie auch noch länger „durchhalten" würde. Zu dieser industriellen Kriegsrüstung gehört aber als wesentlicher Bestandteil auch das industrielle Arbeitsrecht mit den angeblich so verderblichen Bestimmungen, denen wir im Laufe dieser Ausführungen manche unbeachtete Seite abgewonnen haben. Wenn aber diese unsere Rechtseinrichtungen auch noch so viel Schaden angerichtet hätten viel mehr als tatsächlich zutrifft und nachweisbar ist - und wenn ihr Nutzen nur der gewesen wäre, durch ihren bloßen Bestand ein wenig mitgeholfen zu haben, die Stimmung der Arbeiterschaft, die Arbeitsfreude zu erhöhen, dann müssen wir sie vom Standpunkte des öffentlichen Interesses aus bejahen und uns freuen, daß sie gerade zur rechten Zeit geschaffen wurden. Und der richtige, der wahrhaft ethische Grundsatz, der in den Einrichtungen lebt, wird wohl auch in irgend einer Form für die Friedenswirtschaft erhalten bleiben. Die künftige Form nun scheint mir durch den allgemeinen Entwicklungsgang der Kriegswirtschaft vorgezeichnet zu sein. Ebensowenig, wie es einen Rückschritt zum völlig freien Handel, zur ungebundenen Wirtschaft wie überhaupt zu rein individualistischen Rechtserscheinungen geben kann, darf es in Hinkunft ein Gegenstand freier privater Parteivereinbarung sein, ob dem Arbeitnehmer die Sorge um unverschuldete Arbeitsverhinderung aufzulassen sei oder nicht. Es soll damit noch keineswegs gesagt sein, daß just der jeweilige Arbeitsgeber das Risiko zu tragen habe. Doch würde mich jedes weitere Wort in der eingeschlagenen Richtung zu weit führen aus dem Bereich der Rechtsbetrachtung in das Gebiet der Gesetzgebungspolitik, das ich von vornherein nicht betreten wollte.

Zur sozialen Seite der Preis- und Lohnbewegung Soweit man mit rationellem Handeln der Not der Zeit zu begegnen trachtet, geschieht dies kaum noch mit den Mitteln der Preispolitik, sondern - wenn diese Gegenüberstellung gestattet ist - fast ausschließlich auf dem Wege der Lohnpolitik. Die wirtschaftspolitische Aufgabe angesichts der wirtschaftlichen Tatsache des außerordentlichen Gütermangels besteht darin, die Verteilung dieser ungenügenden Gütermengen auf eine solche Weise zu organisieren, daß dem einzelnen wenigstens ein die bloße Existenz garantierendes Gütereinkommen gesichert sei. Als Mittel zu diesem Ziel bot sich zunächst die altüberkommene Einrichtung von Höchstpreisen und die Verfolgung der Preistreiberei an; wir haben hierin zwar primitive und schablonenhafte, aber in einem individualistisch-kapitalistischen Wirtschaftssystem gewiß naheliegende, wenn nicht die einzig systemgemäßen Mittel einer rechtlich-staatlichen Beeinflussung des Marktes zu erblicken. 1 Die mit diesen Mitteln im Laufe der Kriegsjahre verfolgte und vorübergehend auch noch nach dem Kriegsende festgehaltene Tendenz war die, die Preise der notwendigsten Bedarfsartikel so niedrig zu halten, daß sie womöglich jedermann erschwingbar wären. Hiebei abstrahierte man völlig von der Frage nach dem Einkommen, was insolange möglich war, als die Preise der lebensnotwendigen Bedarfsartikel noch so niedrig gehalten wurden, daß sie selbst für die niedrigsten Einkommenstufen normalerweise erschwingbar waren. Das Bild änderte sich freilich mit der in immer schnellerem Tempo und steigendem Maße vor sich gehenden Steigerung der staatlich festgesetzten

Der österreichische Volkswirt, 12. Jg. (1920), S. 577-583 (unter dem Pseudonym: Dr.-o-r-). 1 Die Beschlagnahme von Gütern und ihre unmittelbar staatliche Verteilung gehört wohl schon einem anderen Wirtschaftssysteme an.

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Höchstpreise. Ein unausgesetzt erhöhter Höchstpreis erscheint mir wenigstens als ein Widerspruch in sich; die fortgesetzten Erhöhungen des Höchstpreises diskreditieren die Einrichtung dermaßen, daß es nicht Wunder nehmen kann, wenn der Wirtschaftsprozeß immer schon die unvermeidlich folgende Erhöhung der Preisnorm vorwegnimmt und wenn endlich der tatsächlich dem normierten Preis immer schon um einige Stufen voraus ist, so daß nicht der wirkliche vom normierten Preise, sondern der normierte vom tatsächlichen Preise diktiert und gemeistert wird. Völlig unhaltbar und unwirksam wurde das Netz der Höchstpreise, sobald der Sturz der Valuta die Inlands- von den Auslandspreisen überholen und in der Folge in immer höherem Maße überbieten ließ. Vollends wurde die bisherige Preispolitik durch das von der Valutakatastrophe und ihren Folgen nahegelegte Programm der Angleichung des Inlands- an den Weltmarktpreis entwurzelt. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dieses Programm im Grunde die Aufhebung der bisherigen Preispolitik, doch scheute man sich - offenbar aus einem uneingestandenen Mißtrauen, das an sich in den Erfahrungen mit der automatischen Angleichung des Inlands- an den Weltmarktpreis nur zu begründet war - aus diesem Programme die letzten Konsequenzen zu ziehen. So befinden wir uns gegenwärtig in dem Zwitterzustand, daß wir uns einerseits halb widerwillig, halb freiwillig dem Weltmarktpreise nähern und ihn in vielen Punkten schon erreicht haben, anderseits aber doch noch nominell die Preisnormen aufrechterhalten, die ja doch im Lichte jenes Programmes als unökonomisch und sinnwidrig erscheinen müssen. Aber auch die Konsequenz wurde nicht gezogen, die Inlandspreise, soweit man sie in der Hand hat, den Auslandspreisen tatsächlich anzugleichen. Man begnügte sich mit einer Annäherung, die auf jeden Fall eine gefährliche Halbheit ist. Einerseits stehen selbst diese Preise zu den Einkommensverhältnissen in Widerspruch und schädigen den Inlandskonsum; anderseits bleiben sie ja doch hinter den Auslandspreisen zurück, so daß uns diese Politik doch wieder den einzigen Vorteil, den sie versprechen kann, schuldig bleibt, nämlich den „Ausverk a u f des Inlandes an das Ausland nicht verhindert. Ist nun aber auf der einen Seite der Versuch einer staatlichen Preisgestaltung, der Niedrighaltung der Preise der wichtigsten Güter als gescheitert oder aufgegeben zu betrachten, so setzte auf der anderen Seite der Versuch ein, durch Einkommensregelung die Preissteigerungen mehr oder weniger

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wettzumachen und dem wirtschaftlich Schwachen die Konkurrenz um die im Preise gesteigerten oder gestiegenen lebensnotwendigen Güter zu ermöglichen. Wir stehen heute noch inmitten eines Prozesses, der das Lohneinkommen, das früher (namentlich in Österreich) zu der wirtschaftlichen Funktion der Lohnempfänger in offenbarem Mißverhältnis gestanden war, neben den anderen Einkommensarten und auf deren Kosten in den Vordergrund rückt. Dieser Prozeß, in dem grundsätzlich eine durchaus erfreuliche Erscheinung zu erblicken ist, wird staatlicherseits offenbar begünstigt. Wir sehen, daß Lohnforderungen auf verschiedene Weise gefördert werden und ihre Überwälzung auf die Verbraucher gestattet, wenn nicht nahegelegt wird. Dieser Weg, die Steigerung der Warenpreise durch Erhöhung des Lohneinkommens wettzumachen, hat aber seine bestimmten sozialpolitischen Schranken, deren man sich bisher noch nicht bewußt geworden ist. Man beruhigte bisher noch immer das Gewissen mit der Tatsache, daß die staatlicherseits geduldeten oder herbeigeführten Steigerungen der Warenpreise entsprechende Erhöhungen des Lohneinkommens zur Folge gehabt hätten, und man freute sich, in den gleitenden Lohnskalen ein Mittel entdeckt zu haben, um die Lohnempfänger gegen die Erhöhungen der Warenpreise mehr oder weniger zu immunisieren. Also bestehe, so mochte man denken, kein ökonomisches und soziales Hindernis, ruckweise den Weltmarktpreis zu erreichen, eine Erwägung, die noch durch die Tatsache bekräftigt wird, daß sogar, ja gerade aus den Kreisen der Lohnempfänger das Verlangen nach weiteren Preiserhöhungen kommt, welche weitere Lohnerhöhungen rechtfertigen und ermöglichen. Diese Rechnung übersieht jedoch, daß die Bevölkerung nicht zur Gänze, ja vielleicht nicht einmal überwiegend aus Lohnempfängern zusammengesetzt ist und selbst bei allgemeiner Arbeitspflicht nicht zusammengesetzt sein könnte. Pensionisten, Rentner, ausgediente Arbeiter und Arbeitslose, die in unserer produktionsarmen Volkswirtschaft zahlenmäßig besonders ins Gewicht fallen, aber auch bei keiner anderen wirtschaftspolitischen Situation fehlen würden, sind das Opfer einer Politik, die die Preisbewegung freigibt, weil sie und während sie sich der Lohnbewegung annimmt. Ja selbst Lohnempfänger und sogar Unternehmer, die für einen größeren Haushalt zu sorgen haben, sind durch diese Bewegung in Mitleidenschaft gezogen, da sie sich mehr als Konsumenten denn als Produzenten fühlen, mithin mehr an der Niedrighaltung der Warenpreise im allgemeinen als an der Erhöhung der Löhne oder gerade ihrer Waren interessiert sind. So richtet sich diese

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gewiß gut gemeinte Sozialpolitik, die statt am Preisprobleme am Lohnprobleme den Hebel ansetzt, letzten Endes auch gegen die nicht erwerbenden Frauen und Kinder, wodurch sie freilich alles eher denn Sozialpolitik wird. Der Erfolg, den eine wirksame, konsequent auf Niedrighaltung der wichtigsten Preise gerichtete Preispolitik erzielen kann, jedermann die Beschaffung des Existenznotwendigen zu ermöglichen, wäre auf dem Wege der Einkommenspolitik, die sich übrigens nicht mehr auf Lohnpolitik beschränken dürfte, nur dann erreichbar, wenn jedermann ein Einkommen gesichert wäre, das die Deckung des maßlos verteuerten Bedarfes an den lebensnotwendigen Gütern 2 ermöglicht. Die Sicherung eines solchen Einkommens wäre eine durchaus billige Forderung an einen sich sozial nennenden Staat, der Preise und Löhne fördert, die direkt und indirekt immer mehr Konsumenten von der Deckung ihres unumgänglichen Bedarfs ausschließen müssen. Bisher hat der Staat - wenn man von der gegenwärtig in ihrem Umfang und Ausmaß durchaus unzulänglichen, die rücksichtswürdigsten Fälle der Not vielleicht gar nicht treffenden Arbeitslosen - sowie von der als noch ungünstiger zu charakterisierenden Armenunterstützung absieht - Anstalten in dieser Richtung nicht getroffen, sondern seine Tendenz der Angleichung der Inlands- an die Weltmarktpreise und seine Einkommenspolitik, welche jene Tendenz zugunsten gewisser Gruppen der Bevölkerung paralysiert, unbekümmert um jene Bevölkerungskreise verfolgt, denen eine Überwälzung unmöglich ist, auf deren Kosten somit letzten Endes die heutige Gestaltung der Preise und Löhne geht. Wie soll aber ein Staat seine sozialen Pflichten gegen alle durch die Preisbewegung schwer betroffenen Bevölkerungsgruppen erfüllen, der schon die größten Schwierigkeiten hat, seine eigenen Angestellten vor den ruinösen Folgen dieser Preisbewegung durch Lohnmaßnahmen zu schützen und mit diesen an sich gebotenen, ja unvermeidlichen Lohnmaßnahmen zugunsten seiner Angestellten mittelbar die materielle Lage der am meisten bedrängten Bevölkerungskreise (indem sie auf dem Markte durch weit kaufkräftigere Schichten konkurrenziert werden) noch weiter verschärft?! Der Staatshaushalt selbst ist übrigens ein schwer geschädigter Leidträger dieser Lohn- und Preispolitik, da er die

2

M i t der Deckung des Gesamtbedarfes der Bevölkerung an lebensnotwendigen Gütern ist eben in unserer Lage die Aufgabe des Staates nicht zur Gänze gelöst; es ist noch für die Deckung des individuellen Bedarfes aus dieser Gütermenge Sorge zu tragen.

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infolge dieser Politik ungeheuerlich gesteigerten Ausgaben nicht im entferntesten mehr durch eine Steigerung der Einnahmen zu decken vermag. Der Staatshaushalt befindet sich offensichtlich in der Lage eines solchen produktiv tätigen Konsumenten, für den eine Minderung der Ausgabenpost „Gehalte und Löhne" mehr als die mögliche Steigerung auf der Einnahmenseite ins Gewicht fällt. Zieht man nun das groteske Mißverhältnis in Betracht, das zwischen den Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte besteht und das kaum je von der Einnahmenseite her, durch Erhöhung der Tarife der öffentlichen Unternehmungen3 oder durch gesteigerte Besteuerung überbrückt werden kann, so sollte man meinen, daß ganz besonders auch die öffentlichen Haushalte an einem Abbau oder doch wenigstens an einem Stationärbleiben der Warenpreise interessiert sein müßten, da selbstverständlich nur unter diesen Voraussetzungen eine weitere Steigerung der für den öffentlichen Haushalt fast ausschließlich ausschlaggebenden Ausgabenpost „Gehalte und Löhne" vermieden werden kann. Das vielgenannte Programm der Angleichung der Warenpreise an den Weltmarktpreis mag wirtschaftlich vortrefflich gedacht sein (was ich übrigens auch bezweifle), ist aber sicherlich nicht sozial gedacht, da es die komplementäre Forderung einer Angleichung aller individuellen Einkommen an diese Warenpreise - Angleichung wenigstens nur bis zu dem Grade, daß das rigorosest bemessene Existenzminimum an Gütern für jedermann erschwingbar ist - , vermissen läßt. Während ihrer Idee nach die ursprünglich verfolgte Preispolitik, die gewiß nicht in ihrer Anlage, sondern nur in ihrer Durchführung verfehlt war, in mehr als einer Bedeutung als Bevölkerungspolitik - insbesondere auch in dem Sinne, daß sie der Gesamtbevölkerung zugute kam - gewertet werden muß, stellt sich die nachmalige Einkommenspolitik, die zugleich auch eine fortgesetzte Steigerung der Preise forderte und bis zu einem gewissen Grade förderte, wenn auch nicht in ihren sicherlich gut gemeinten Absichten, so doch in ihren bedenklichen Wirkungen als typische Klassenpolitik heraus. ***

3

Es ist auch nicht recht einzusehen, warum gerade die Waren und Leistungen, die gerade Gegenstand öffentlicher Unternehmungen und Monopole sind, einer besonderen Belastung unterliegen sollen, die sie vielen einfach unzugänglich macht: Bei manchen Tarifen wäre jetzt schon statt eines Aufbaues ein Abbau sozialpolitisch geboten.

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Kommt aber die Preis- und Lohnbewegung, die wir heute erleben, tatsächlich unterschiedslos einer ganzen Klasse zugute? Der hocherfreulichen Tatsache, daß das gesamte Lohneinkommen innerhalb des gesamten Volkseinkommens eine viel höhere Quote als noch vor kurzem ausmacht, steht die unerfreuliche Tatsache gegenüber, daß die einzelnen Lohneinkommen zueinander in einem auffälligen Mißverhältnis stehen, so daß eine Oberschicht von Lohnempfängern fast den ganzen Zuwachs dieser Einkommenskategorie absorbiert. Das, was früher nur von Unternehmereinkommen zutraf, gilt jetzt nicht etwa bloß von einem verschwindenden Ausschnitt, sondern von einem breiten Sektor des Kreises der Lohnempfänger, daß sie die minder begünstigten Gruppen ihrer Klasse an wirtschaftlicher Kraft ungeheuer überragen. Es handelt sich nicht bloß um solche Unterschiede der Lohnhöhe, die in dem verschiedenen Maß der Arbeitsleistung, in der Verantwortlichkeit, Schwierigkeit, Unannehmlichkeit oder im Seltenheitswert gewisser Arbeitsleistungen (im Vergleiche mit anderen) begründet wären, und die die Homogenität der Klasse der Lohnempfänger kaum in Frage stellen würden. Bekanntlich sucht man die bestehenden Unterschiede der Lohnhöhe in den vorerwähnten Umständen zu rechtfertigen, doch kann man nicht leugnen, daß bei der Festsetzung der Lohnhöhe solche Erwägungen nicht maßgebend sind, daß für die Festsetzung der Löhne nur die soziale Macht der betreffenden Gruppe der Arbeitnehmer und die wirtschaftliche Kraft der ihnen gegenüberstehenden Arbeitgeber ausschlaggebend ist, und daß der Hinweis auf die Unterschiede der Arbeitsleistung nur ein nachträglicher Versuch der Rationalisierung und Rechtfertigung der durch andere Faktoren bestimmten Lohnhöhe ist, der in vielen Fällen gelingt, in vielen nicht. Der Prozeß der Lohnbewegung vollzieht sich mindestens ebenso chaotisch wie die Revolution der Preise und er scheint von keiner ordnenden Norm geleitet, sondern läßt nur etwa das eine Naturgesetz erkennen: die Wellenbewegung der Lohnerhöhung nimmt von den stärksten, am wenigsten bedürftigen, bestentlohnten, weil von den wirtschaftlich stärksten Arbeitgebern abhängigen Gruppen der Lohnempfänger ihren Ausgang, teilt sich allmählich, in viel schwächerem Umfang, den schwächeren Gruppen der Arbeitnehmer, die von ungleich schwächeren Arbeitgebern (namentlich von den öffentlichen Körperschaften) versorgt werden, mit, verebbt bei den schwächsten Schichten der Lohnempfänger, zu denen meist vereinzelte, oft nicht organisierte Arbeitnehmer kleinster Arbeitgeber gehören. Auch wenn öffentliche Faktoren in die Lohnbewegung eingreifen, geben wohl oder übel nicht vorgefaßte Prinzipien der Lohngerechtigkeit, sondern die soziale

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Macht und die politische Bedeutung der Fordernden den Ausschlag. Während in den stärksten Oberschichten nicht selten eine Verdoppelung des Lohnes eintritt, werden die Schwächsten, immer erst am Ende einer umfassenden Lohnbewegung, höchstens geringfügiger perzentueller Zuschläge zu ihren an sich minimalen Löhnen teilhaftig, bleiben also nicht bloß absolut, sondern auch relativ bei jeder einzelnen Lohnaktion hinter ihren bevorzugten Klassengenossen immer weiter zurück. Es ist eine viel zu wenig beachtete Tatsache, daß die Spannung zwischen den üblichen höchsten und niedrigsten Löhnen immer größer wird. Hie und da verschafft ja allerdings ein Junktim, das stärkere Arbeitnehmer zwischen ihren Lohnforderungen und denen schwächerer Klassengenossen herstellen, den letzteren eine Lohnerhöhung, die sie aus eigener Kraft nicht durchsetzen könnten; solche Junktims sind aber selbstverständlich nicht geeignet, volle Lohngerechtigkeit herzustellen, zumal da sie von dem Zufall abhängen, daß sich eine Gruppe von Arbeitnehmern findet, deren Gesichtskreis bei Lohnforderungen über das engste Gruppeninteresse hinausreicht. 4 So ist die Einheit der Arbeitnehmerklasse und auch jede ihrer beiden großen Gruppen, die der Arbeiter und Angestellten, schon deutlich gespalten und die Kluft inmitten der Klasse erweitert sich zusehends. Die Lohnpolitik hat innerhalb der Arbeitnehmer Besitzende und Besitzlose, ja in einem gewissen Sinne sogar Ausbeuter - ihrer eigenen Klassengenossen - und Ausgebeutete geschaffen. Die absolut und relativ ungleiche Steigerung der Gehälter und Löhne bedeutet nämlich eine Schmälerung des reellen Einkommens der geringer Entlohnten; und zwar stellt sich die Verschlechterung der materiellen Lage dieser gering Entlohnten einerseits auf dem Wege heraus, daß sie in den Warenpreisen die erhöhten Löhne der besser entlohnten Schichten wie jedermann mitzahlen müssen, und daß sie anderseits durch die erhöhte Kaufkraft der besser Entlohnten im Wettbewerbe um alle 4

Bekannt und bezeichnend sind die Junktims zwischen den Forderungen der aktiven öffentlichen Angestellten und den Pensionisten. Würden jene mit diesen nicht gemeinsame Sache machen, so müßten deren bescheidene Forderungen noch länger auf Erfüllung warten - nicht weil dringendere, sondern weil drängendere Anforderungen an die öffentlichen Haushalte gerichtet werden. Lohnpolitische Maßnahmen stehen eben trotz des besten Willens in der Regel unter dem Gesetze einer gewissen - notwendig irrationellen und ungerechten - Opportunität und kommen nicht dem größten Bedürfnisse, sondern dem stärksten Begehren entgegen. Die Preispolitik hat es, wie sich hier zeigt, leichter, gerecht zu sein, als die Lohnpolitik. Sie bezieht sich zunächst auf Güter und äußert nur mittelbar ihre Wirkung auf die Konsumenten dieser Güter. Die Lohnpolitik kann viel weniger von den Lohnempfängern abstrahieren, um sich bloß auf die Arbeitsleistung einzustellen.

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Güter immer mehr in die Hinterhand geraten. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl erlischt mit der gehäuften Erfahrung der gering Entlohnten, daß sie in den Preisen der Gegenstände des täglichen Bedarfes höhere Löhne anderer bestreiten müssen, daß sie selbst vom Bezüge dieser lebensnotwendigen Güter, in deren Produktionskosten die auf Arbeitslöhne entfallende Quote oft viel höher ist als bei den Luxuswaren, wegen Erhöhung dieses Produktionskostenbestandteils immer mehr ausgeschlossen werden, kurz, daß sich ihre Lebenshaltung trotz Erhöhung des nominellen Einkommens die eben bei nur geringen perzentuellen Steigerungen mit einer Minderung ihres reellen Einkommens einhergeht - zusehends verschlechtert, während es andere Lohneinkommen gibt, die eine unvergleichlich bessere Lebenshaltung, ja sogar deren unverkennbare Verbesserung ermöglichen. Die einzelnen Stufen der reich gegliederten Hierarchie der Lohneinkommen sollen hier nicht im einzelnen in Betracht gezogen werden; insbesondere sehe ich von den viel und gern angeführten höchsten Lohnkategorien ab und wende mich lieber in Kürze jenen tiefsten Löhnen zu, die leider fast ganz im verborgenen bleiben. Es ist an der Zeit, endlich über diese Menschen zu reden, über die immer geschwiegen wird, weil sie sich selbst nicht vernehmlich zu machen verstehen. Es ist wohl nur mit der Unkenntnis dieser Tatsachen zu erklären - wenn auch niemals zu rechtfertigen - , daß auch heute noch Monatsgehalte von K 600, 500, 400 und darunter keineswegs vereinzelt vorkommen. Wäre die Tatsache einer solchen Entlohnung arbeitender Menschen allgemein bekannt, so wäre es ja tatsächlich unbegreiflich und unverantwortlich, daß die Politik in einem sozialen Staate überhaupt noch andere und nähere Ziele hat, als die Schmach solcher Arbeitslöhne zu beseitigen. Hie und da entrüstet man sich ja ein wenig über solche und ähnliche Löhne - und erhöht die andern, die zur Entrüstung sicherlich weniger Anlaß geben. Breite kräftigere Schichten der Arbeitnehmer sind erfreulicherweise der Gegenstand einer fürsorglichen Sozialpolitik geworden, während sie früher dem „freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte" ausgeliefert waren; nur bei jenen geringst Entlohnten macht die Sozialpolitik halt, so daß sie schutzlos der Wirksamkeit des Gesetzes von Angebot und Nachfrage ausgeliefert sind.5 Und bei breiten kräftigeren Schichten der Arbeitnehmer erstrebt man wiederum sehr mit Recht eine erhöhte Lohnge5

Nur nebenbei sei erwähnt, daß in ebenso unkonsequenter Weise auf dieses Gesetz dem geistigen Arbeiter gerade von jener Seite verwiesen wird, die die Ausschaltung der Wirksamkeit dieses Gesetzes bei Festsetzung des Arbeitslohnes mit Recht als soziale Pflicht hinstellt.

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rechtigkeit, indem man (durch das System des gleitenden Lohnes) den ganzen Haushalt des Arbeitnehmers einschließlich seiner alimentationsberechtigten Angehörigen von den Preisschwankungen der staatlich bewirtschafteten Artikel unabhängig stellt; nur erstreckt sich die Lohngerechtigkeit wiederum nicht auf jene schlechtest entlohnten Kategorien von Arbeitnehmern, denen im Gegenteil diese Artikel, die so ziemlich ihren gesamten Lebensbedarf befriedigen müssen, ohne Rücksicht auf die Höhe - richtiger auf die Niedrigkeit - des Lohneinkommens dermaßen verteuert werden, daß ihnen selbst ihr notdürftiger Lebensbedarf (namentlich wenn sie etwa erwerbslose Angehörige alimentieren müssen) einfach unerschwinglich wird. Es kann wohl auch nur mit Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse erklärt werden, wenn zur Deckung des Aufwandes, der durch Erfüllung an sich gerechtfertigter Lohnansprüche erforderlich ist, zu Mitteln gegriffen wird, die das Existenzminimum dieser gering Entlohnten berühren. Mag man auch die Erhöhung von Tarifen nicht als Maßnahmen einer indirekten Besteuerung ansehen, solange hiedurch nur die Betriebskosten gedeckt werden sollen, kann man doch nicht bestreiten, daß solche tarifarische Maßregeln wie die unsozialsten indirekten Steuern wirken und daß sie um so ungerechter wirken, je schwerer sich selbst der Schwächste diesen Leistungen entziehen kann oder ein je schwereres Opfer für den einzelnen der Verzicht auf die Inanspruchnahme dieser öffentlichen Einrichtungen ist. Wenn eingewendet wird, daß eine solche Tarifpolitik nicht auf Erzielung eines Gewinnes, sondern nur auf Deckung eines (durch die Lohnpolitik herbeigeführten) Abganges abziele, so bessert dies wohl die Moral, aber nicht die Wirkung derartiger Maßnahmen. Aus solchen Erwägungen müßte sich doch der Grundsatz durchringen, daß keine an sich auch noch so gerechtfertigten Lohnerhöhungen auf Kosten von Arbeitnehmern vorgenommen werden dürfen, die ungleich niedriger entlohnt sind; daß dem Schwächeren nicht zugemutet werden kann, zur Verbesserung der Lage der wirtschaftlich an sich schon Stärkeren, unter Umständen sogar auf Kosten seines Existenzminimums auch nur das Geringste beizusteuern. Eine statistische Erhebung würde mit Schauern erkennen lassen, wie oft noch derartige „notleidende" Löhne vorkommen. Man würde auch erkennen, daß dieser Unterschichte der Lohnempfänger mit dem Rezepte, sich „entsprechend" zu organisieren, mit der Anweisung, die Preiserhöhungen zu überwälzen, also mit Mitteln der Selbsthilfe nicht geholfen werden kann. Die wirtschaftliche Lage der Arbeitgeber dieser gering entlohnten Arbeit-

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nehmer gestattet eben in der Mehrzahl der Fälle keine Überwälzung, und an dieser Tatsache würde auch jede noch so kräftige Organisation dieser Gruppe der Arbeitnehmer ihre Schranke finden. Es handelt sich um die Angestellten der schwächsten Arbeitgeber, um die Angestellten verschiedener Organisationen, Korporationen, privater Schulen, Vereine, namentlich der humanitären Vereine, die ja fast allesamt selbst um ihre Existenz ringen, - was auch erklärlich macht, daß bei ihnen nicht Personalfülle, sondern Personalmangel herrscht, und daß - im Gegensatz zu der häufigen Erscheinung in Industrie und Handel - nicht vermehrtes und minder beschäftigtes Personal zu erhöhten Löhnen, sondern eher vermindertes und voll beschäftigtes Personal zu stationären Löhnen in Arbeit steht. Bekannt ist auch, daß der letzte Kollektivvertrag der Advokaturs- und Notariatsangestellten nur Mindestmonatslöhne von K 250 bis K 600 sichert. Zahlreiche Arbeitnehmer vereinzelter (nicht organisierter) Arbeitgeber sind in ähnlicher Lage. Soweit die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers eine entsprechende Erhöhung derart unwürdiger Löhne zuließe, wäre die Anprangerung derer, die durch Handeln oder Unerlassen an solch unverantwortlichem Mißbrauch menschlicher Arbeitskraft schuldtragend sind, nicht nur eine billige Strafe, sondern auch ein wirksames Mittel, diese Angestellten vor dem ökonomischen, physischen und moralischen Zusammenbruch zu bewahren.6 Wo es aber den Arbeitgebern nicht am guten Willen, sondern an der wirtschaftlichen Kraft gebricht, die Lage ihrer Arbeitnehmer zu verbessern, - und das sind die zahlreicheren Fälle dieser Art - , da erscheint die Lage dieser Arbeitnehmer einfach hoffnungslos. Wo wir so oft auf den „psychischen Zustand" der Bevölkerung verwiesen werden, wenn dieses oder jenes Vorkommnis entschuldigt werden soll, ist wohl die Frage nach dem psychischen Zustand dieser Bevölkerungskreise angebracht, deren Lage Äußerungen der Verzweiflung am ehesten begreiflich machen würde, die aber - ein Zeichen, daß es sich hier gerade oft um kulturell wertvollere Schichten handelt - ihre Lage mit stiller Würde tragen.7

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Restlose Nachzahlung des unsozial vorenthaltenen Lohnes zur Restaurierung der Arbeitskraft ist in solchen Fällen selbstverständliche Pflicht. 7

Bei dem psychischen Zustand solcher Arbeitsmenschen dürfte man sich über das Unglaubliche nicht wundern, daß sie z.B. eine durchaus kapitalistische Wendung nehmen oder daß sie in das entgegengesetzte Extrem, in kommunistische Gedankengänge verfallen, wie grotesk an sich auch der Einfall ist, als Bedrückter sich von Volksbeglückern erlösen lassen zu wollen, die z.B. als Volkskommissäre einen Monatsbezug von K 300.000 für sich als gerade angemessen erachtet haben.

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Die vorstehenden Ausführungen hoffen die geläufige Vorstellung und die häufige Rede von den „hohen Löhnen" als nur halbe Wahrheit dargetan zu haben, die vielen Arbeitnehmern schweres Unrecht tut, indem unter Vernachlässigung der ungeheuren tatsächlichen Unterschiede des Lohneinkommens die höchsten Lohnstufen zum Maßstabe genommen werden.8 Ebenso ist aber die noch immer wiederkehrende Behauptung von der „Unzulänglichkeit" der Löhne, die Rechtfertigung ausnahmslos aller Lohnforderungen mit der wirtschaftlichen Not offenbar unbegründet. Die Redensarten von den übermäßigen und von den unzulänglichen Löhnen nivellieren in durchaus tatsachenwidriger Weise die wirklich übermäßige Differenzierung der Lohnhöhe und Lebenshaltung innerhalb der Gruppe der Arbeitnehmer und fingieren eine Schicksals- und Interessengemeinschaft, die in Wirklichkeit nicht besteht.9

Bewegen wir uns nun schon auf dem Gebiete der Einkommenspolitik, so ist da als unvermeidliches Korrektiv der heutigen chaotischen Zustände zunächst eine gewisse Verhältnismäßigkeit der Einkommen anzustreben.10 Kein billig Denkender würde einem volkswirtschaftlich nützlich Tätigen ein noch so hohes Einkommen verargen, wenn es zu den durchschnittlichen Einkommensverhältnissen der Bevölkerung nur halbwegs in Einklang zu bringen ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist heute absolut wohl nur das

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Bekanntlich bestehen nicht bloß zwischen den Gehalten der Angestellten verschiedener Kategorien, sondern selbst zwischen den Löhnen der Industriearbeiterschaft in den verschiedenen Branchen so krasse Unterschiede, daß man sie vergeblich zu verschleiern versucht und die Behauptung, daß die Arbeiterschaft eine einzige homogene, gleich „ausgebeutete" und „notleidende" Masse sei, eine tendenziöse Entstellung der Tatsache wäre. 9 Eine noch so objektive Darstellung dieser Tatsachen ist allerdings gewiß auf beiden maßgebenden Seiten ungern gesehen und leider leicht dem Vorwurfe der Verhetzung ausgesetzt. In Wirklichkeit ist es aber die Tatsache an sich und nicht ihre Beschreibung, die verhetzend wirkt. Oder glaubt man, daß es geeignet ist, etwa bei einer Angestellten Solidaritätsgefühle wachzurufen, wenn sie z.B. ihren notleidenden Lohn mit dem von ihr angewiesenen, verbuchten, ausbezahlten sechs-, acht- oder zehnfachen Lohn eines Arbeiters ihrer Unternehmung zusammenhält? 10 Folgen nun auch mit Recht die mittleren und niedrigeren Lohnstufen in einem gewissen Abstand den höchsten, so betrachte ich dies als eine bedauerliche, aber unvermeidliche Folge der bisherigen Lohnbewegung. Das Niedrighalten der Preise hätte den schwächeren Arbeitnehmern mehr genützt und der übrigen Bevölkerung weniger geschadet.

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Einkommen jener Oberschicht der Arbeiterschaft zu beanständen, deren „wirtschaftliche" Funktion ausschließlich darin besteht, das Leben der parasitären Existenzen angenehm und vergnügt zu machen: in diesen unproduktiven Arbeitszweigen ist bekanntlich der Arbeitsverdienst der größte. Die Löhne der Oberschicht der Industriearbeiterschaft, die hinter dem durchschnittlichen Lohnniveau des Auslandes zweifellos zurückbleiben, geben in der Regel nur unter dem Gesichtspunkt zu Bedenken Anlaß, daß sie das durchschnittliche Einkommensniveau des Inlandes, das allein ein geeignetes Vergleichsobjekt darstellt, beträchtlich übersteigen. Das Prinzip der Lohngerechtigkeit erheischt dringend eine Angleichung der Löhne und Gehalte, die, da eine Angleichung nach unten praktisch ausgeschlossen ist, wohl nur eine Angleichung nach oben sein kann - ein Weg, der ja nunmehr bei den öffentlichen Angestellten entschieden betreten wurde. Diese Forderung, die krassen Lohndifferenzen zu beseitigen, bedeutet aber nicht den Wunsch nach einer so weitgehenden Nivellierung der Bezüge, wie sie z.B. die Regelung der Bezüge der öffentlichen Angestellten mit sich bringt, die den beträchtlichen Unterschieden in Bezug auf Quantität und Qualität der Arbeitsleistung kaum merklich Rechnung trägt und das Moment der Arbeitszeit, das in den Augen der Arbeiterschaft für die Lohnbemessung geradezu ausschlaggebend ist, fast völlig vernachlässigt. 11 Diese Aktion der Annäherung der Löhne darf aber nicht auf einer bestimmten, verhältnismäßig hohen Stufe abbrechen. Die Frage der oben erwähnten notleidenden Löhne und das Existenzminimum nicht erreichenden Einkommen duldet keinen Aufschub und insbesondere geht es nicht an, diese Bevölkerungskreise, die die Lohn- und Preisrevolution in ihre heutige Situation gebracht hat, auf jene Zeit zu verweisen, wo die Wendung der Konjunktur die gegenwärtigen Lohnunterschiede nivelliert haben werde. Wo sich ein anderer Ausweg nicht eröffnet, muß das Lohneinkommen dieser gering Entlohnten auf ein gewisses in Anbetracht der wichtigsten Preise erstelltes, sei es auch gleitendes Lohnminimum und das Einkommen der durch die Gestal-

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So kommt es, daß z.B. Angestellte mit ganztägiger oder auch nur halbtägiger Arbeitszeit, überbeschäftigte Angestellte und solche, bei denen der Gehalt nur eine verschleierte Arbeitslosenunterstützung ist, ceteris paribus ganz gleich entlohnt werden. Als eine Art lebenslänglich garantierter Arbeitslosenunterstützung. Mindestqualifizierter ist ein Mindestbezug von rund K 16.000, doch unverhältnismäßig hoch, wenn gleichzeitig in derselben Volkswirtschaft mit staatlicher Duldung Gehalte hochqualifizierter vollbeschäftigter Angestellter von bei weitem nicht der halben Höhe vorkommen.

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tung der Lebensmittelpreise in ihrer Existenz Bedrohten auf ein Existenzminimum nötigenfalls aus öffentlichen Mitteln ergänzt werden. Vorbilder einer nur eben wieder nicht planmäßigen und nicht von bloß sozialpolitischen Erwägungen geleiteten Subventionierung privater Arbeitnehmer aus öffentlichen Mitteln sind ja schon gegeben.12 Wenn arbeitende Menschen, die um solche Löhne, wie sie tatsächlich vorkommen, Arbeit leisten und damit ihren Arbeitswillen schlagend beweisen, gegen die Folgen einer bisher vom Staat geduldeten oder geleiteten Preisbewegung geschützt werden, so kann darin am wenigsten eine Verschwendung öffentlicher Mittel erblickt werden. Diese Einkommensregelung müßte die Aufgabe möglichst unabhängig gestellter Einkommensprüfungskommissionen sein, die bei der Lohnbemessung das Walten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte im Sinne der Forderungen der Sozialpolitik zu korrigieren hätten. Ist auf diesem Wege einmal der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Löhne verwirklicht oder wenigstens die Fülle der krassesten Lohnungerechtigkeiten beseitigt für einen sozialen Staat doch offenbar eine unabweisliche Forderung! - , dann müßte die Tendenz sein, die so gewonnenen Einkommensverhältnisse endlich zu stabilisieren. Erhöhte Lohnforderungen müßten also grundsätzlich von der Zustimmung einer Lohnprüfungskommission abhängig sein (wie ja auch erhöhte Preisforderungen der Überprüfung von Preisprüfungskommissionen unterliegen). In allen Fällen, wo solche Lohnforderungen den Inlandskosum belasten würden, müßten sie wohl, da sie die mühsam erreichte Stabilität der Einkommensverhältnisse berühren würden, versagt werden. Den Arbeitnehmern der Exportindustrie könnte freilich eine solche Entsagung, die in erster Linie der Unternehmerschaft ihrer Betriebe zugute käme, nicht zugemutet werden. Man fordert nicht mit Unrecht, daß am Konjunkturgewinn der Arbeitgeber auch die Arbeitnehmer einen entsprechenden Anteil haben sollen. Nur möchte man bezweifeln, ob es gerecht ist, daß dieser Anteil am Konjunkturgewinn zur Gänze den in der betreffenden Industrie beschäftigten Arbeitnehmern und ob es zweckmäßig ist, daß er ihnen zur Gänze gegenwärtig zufließt. Der Lohngerechtigkeit würde es wohl entsprechen, wenn progressiv steigende Lohnprozente dieser übernormalen Löhne einem Lohnfonds zuflössen, der zur Aufbesserung der notlei-

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Man denke unter anderem an den teil weisen Verzicht der Gemeinde Wien auf die Erträgnisse der Besteuerung der Theater zugunsten der Bühnenarbeiter.

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denden Löhne bestimmt wäre; dies wäre auch ein sichtbares Zeichen der vielgenannten Klassensolidarität. Ebenso wäre es zweckmäßig, wenn Lohnprozente dieser übermäßigen Löhne für die Zeit des Umschlagens der Konjunktur in einem Rücklagefond angesammelt würden. Es wäre wohl kaum zu rechtfertigen, wenn dieselben Arbeitnehmer, denen ihr Einkommen heute (zum Nachteil der übrigen Bevölkerung und zahlreicher schlechter gestellter Klassengenossen) eine weit den Durchschnitt überragende Lebenshaltung ermöglicht, über kurz oder lang aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden müßten. Sollte man diese wenigen, oberflächlich angedeuteten Anregungen, die vom Standpunkt der Sozialpolitik gewiß unanfechtbar sind, aus politischen Gründen als indiskutabel erachten, so wäre dies ein Eingeständnis, daß das sozialpolitisch Gebotene in der allgemeinen Politik seine unübersteigliche Schranke findet. 13 Die Anregungen zum Lohnproblem gehen allerdings alle von der Voraussetzung einer geänderten Haltung zum Preisprobleme aus. Man möchte allerdings meinen, daß auf diesem Gebiete eine Umkehr nicht ausgeschlossen sein kann. War ja doch die bisherige Haltung zum Preisproblem gewiß nicht einheitlich und konsequent, sondern zögernd und von einer unverkennbaren Gegenströmung durchkreuzt, was allerdings die Sache eher schlechter machte, da sich die sozialen Schäden der Preisgestaltung stark geltend machten, ohne daß sich ihr erwarteter wirtschaftlicher Nutzen eingestellt haben würde. Nimmt die stürmische Preisbewegung ihren Fortgang, so ist das heute erreichte Lohnniveau nicht zu halten und jeder Versuch, in das Lohnchaos Lohngerechtigkeit zu bringen, vergeblich. Eine weitere Differenzierung der Einkommensstufen, mit noch größerer Spannung zwischen den größten und geringsten Löhnen, eine noch tiefere Revolutionierung der Gesellschaft 14, der sehr wertvolle Gesellschaftskreise zum Opfer fallen

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Nur Böswilligkeit oder Einfalt kann freilich solche Erscheinungen mit der Staatsform in Zusammenhang bringen! 14 Die individuellen Tragödien, die in ihrer Gesamtheit die gegenwärtige Umschichtung der sozialen Schichten ergeben, sind ein wenig beachtetes Thema für sich. Hier sei nur noch auf den Zusammenhang hingewiesen, der offenbar zwischen der Preisgestaltung und den Absperrtendenzen der Länder gegenüber der Stadt Wien besteht. Sie erklären sich nämlich bis zu einem gewissen Grade aus der Scheu vor der sozialen Umwälzung als Folge einer Angleichung ihrer lokalen Preise an das Wiener Preisniveau und rechtfertigen sich somit zum Teil als Äußerung eines gesunden Selbsterhaltungstriebes. Die verschiedentlichen Nutzanwendungen dieser Erscheinung liegen so nahe, daß sie kaum eigens angeführt zu werden brauchen.

Zur sozialen Seite der Preis- und Lohnbewegung

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müßten, kann letzten Endes nur durch eine Umkehr in der Preispolitik vermieden werden. Konsequente Festhaltung der - leider ohnehin schon überhoch gesteigerten - Preise der notwendigen Bedarfsartikel erscheint mir als wirksamste Sozialpolitik, die Tendenz hingegen, die Annäherung an den Weltmarktpreis zu beschleunigen, wenn nicht gar zu überbieten, samt der gegenwärtigen Lohnpolitik als ihrem mangelhaften, nämlich nur nach der einen Seite nützlichen, nach der anderen Seite jedoch schädlichen Korrektiv - als asoziale Katastrophenpolitik.

Das neue Proletariat Die Umwälzung der gesellschaftlichen Schichtung, die der Krieg und noch mehr die dem Kriege folgende wirtschaftliche Entwicklung in den besiegten Ländern und allen voran in Deutschösterreich hervorgerufen hat, ist zwar in aller Munde, hat aber in der herrschenden Rede- und Denkweise noch nicht entsprechenden Ausdruck gefunden. Die übliche bürgerliche Ausdrucksweise pflegt namentlich noch Bevölkerungskreise als Mittelstand zu bezeichnen, die längst nicht mehr die Mitte in der Reihe der Einkommensstufen einnehmen. Desgleichen spricht man z.B. noch von „Fixbesoldeten", wo nichts so fix ist, wie die monatliche Gehaltserhöhung; und die sozialistische Terminologie, die nach wie vor von der durch die Entwicklung der Einkommensverhältnisse mehr als problematisch gewordenen Zweiklassentheorie beherrscht ist, rechnet unentwegt - zumindest in offiziösen Kundgebungen - zur besitzenden Klasse jeden, der ehedem vermögend war oder auch nur ein sogenanntes bürgerliches Einkommen bezog, und zur besitzlosen, wer vordem ein kärgliches Lohneinkommen bezog. Die Beharrungstendenz der Ausdrucksweise geht bekanntlich so weit, daß man auch heute noch, ja gerade heute, den Proletariertitel jedem Lohnempfänger zuspricht, auch wenn er ein Jahres- oder selbst Monatseinkommen in der Höhe eines „bürgerlichen" Vermögens hat, während der Besitzer dieses Vermögens bei seinen verzweifelten Anstrengungen, von der Rente des Vermögens aufs bescheidenste seine Existenz zu fristen, zum Schaden der Vemögensentwertung meist noch den Spott hat, als Kapitalist tituliert zu werden. Und im kommunistischen Rußland trieb bekanntlich dieselbe Beharrungstendenz der sozialen Titulatur die seltsame Blüte, daß der ehemalige, restlos enteignete Bürger Zeit seines Lebens - oder sagen wir lieber vorsichtiger: auf Dauer des kommunistischen Regimes - offiziell als „.Bourgeois" abgestempelt ist, als welcher er die Rolle eines Prügelknaben für die Fehlschläge der „proletarischen Diktatur" zu spielen hat, während sich der

Der österreichische Volkswirt, 14. Jg. (1922), S. 465-467,489-491, 537-541.

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neue Bourgeois - ein gewesener Proletarier - der Annehmlichkeit des Proletariertitels erfreuen darf. Es wäre nun ungerecht, diese Terminologie trotz ihres gewiß mehr oder weniger tendenziösen Charakters einfach als Falschmeldung und Entstellung zu beurteilen. Die Begriffe der für die sozialen Kategorien gebräuchlichen Ausdrücke haben sich nämlich in dem Prozesse der sozialen Umschichtung gewandelt und man denkt bei Ausdrücken, wie Mittelstand und Fixbesoldeten, Kapitalist und Proletarier und dergleichen tatsächlich nicht mehr so sehr an eine bestimmte wirtschaftliche Situation, als vielmehr an einen typischen sozialen Habitus und an ein bestimmtes politisches Bekenntnis; zumal dieses ist in einem wenig beachteten, aber sehr bemerkenswerten Bedeutungswandel nachgerade zum bestimmenden, wenn nicht ausschließlichen Merkmal des Bourgeois- und Proletarierbegriffs geworden. Dabei ist aber die Tendenz unausrottbar, den neuen mit dem alten Begriffe des Bourgeois und Proletariers gleichzusetzen, den „Bourgeois", als der in erster Linie der Angehörige einer bürgerlichen Partei erscheint, unbekümmert um seine wirtschaftliche Lage, insbesondere um seine Einkommensverhältnisse, als Angehörigen der „besitzenden Klasse", den Angehörigen des „Proletariats" jedoch - und zwar als Ausdruck einer politischen Organisation - zugleich, wiederum unbekümmert um seine Einkommensverhältnisse, als „Besitzlosen" hinzustellen. Dieses Schwanken der Begriffe und die gleichzeitige Starrheit der sozialen Terminologie trägt aber leider dazu bei, die wirkliche wirtschaftliche Schichtung, namentlich die Einkommensschichtung, die mit der politischen Gruppierung der Bevölkerung durchaus nicht parallel läuft, noch mehr zu verschleiern, als sie es bei dem Mangel einer Statistik über diesen Gegenstand und bei der persönlichen Zurückhaltung vieler Menschen in diesem Punkt ohnehin schon ist. Es ist aus begreiflichen Gründen noch nicht allgemein anerkannt, daß viele Angehörige des Proletariats im ursprünglichen Sinne des Wortes dieser sozialen Schichte entwachsen sind, wenn sie auch noch immer den Proletariertitel für sich in Anspruch nehmen, und daß zugleich viele Angehörige des Bürgertums in eben diese ehedem als Proletariat bezeichnete soziale Schichte hineingewachsen sind, wiewohl man ihnen - mangels des von einem „Proletarier" erwarteten politischen Bekenntnisses - den Proletariertitel noch versagt. Es fehlt noch innerhalb und außerhalb des Proletariats die Einsicht dafür, daß die einzelnen sozialen

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Gruppen im allgemeinen und das Proletariat insbesondere nichts anderes als eine soziale Form mit wechselndem Inhalt, mitfluktuierenden Angehörigen bedeuten. Ein aus der Wirtschaftskatastrophe der Kriegszeit und Nachkriegszeit hervorgewachsenes neues Proletariat, das sich zum Teile aus dem alten Proletariate, zum Teile aber aus der vormaligen Bourgeoisie rekrutiert und dessen Interessen sich durchaus nicht mit jenen des alten Proletariats decken, ringt noch vergeblich um die Anerkennung seines Daseins und seiner Forderungen, ja ist sich selbst seiner besonderen Klassenlage noch kaum bewußt. Seiner sozialen Herkunft nach heterogen, seinem politischen Bekenntnis nach auf die verschiedenen Parteien verstreut und der sogenannten Partei des Proletariats um so mehr entfremdet, als es durchsichtig wird, daß diese, um die Oberschichten ihrer Wählerschaft festzuhalten, vielleicht unbewußt und unbeabsichtigt eine Politik machen muß, die die Unterschichten mehr oder weniger vernachlässigt, ist dieses neue Proletariat noch sozusagen eine unbekannte und unbeachtete Größe, die ihres Entdeckers und Erweckers harrt. Die Sozialdemokratie, die noch immer eine Monopolstellung für den Schutz der wirtschaftlich Schwachen in Anspruch nimmt, kann dieser Mission zugunsten der wirtschaftlich Schwächsten um so weniger gerecht werden, als sie sich infolge der Verschiebung der sozialen Struktur der Partei aus parteitaktischen Gründen zum Schutz oder richtiger zur Interessenvertretung wirtschaftlich viel stärkerer Parteigänger bemüßigt sieht. Es sind eben auf die Dauer unvereinbare Rollen, einerseits die höchsten Löhne und weitestgehenden Lohnforderungen unbesehen zu rechtfertigen, obwohl man sehr gut weiß, daß eine Verallgemeinerung solcher Löhne und Forderungen mit dem Stande der Völkswirtschaft unvereinbar wäre, ja mehr noch, die aleatorische, typisch kapitalistische Ausnützung der Monopolstellung gewisser Arbeitnehmer gutheißen, obwohl man wissen muß, daß auch schwächere Lohnempfänger und Parteigänger die Opfer solcher Lohndiktate ihrer sogenannten Klassengenossen sind, und anderseits als Anwalt der schwächeren und schwächsten Lohnempfänger auftreten, ohne gerade für diese der politischen Aktion Bedürftigsten etwas Entscheidendes zu unternehmen. Die unverkennbare Unstetigkeit der jüngsten sozialdemokratischen Politik ist offenbar nur ein Symptom der unbesiegbaren Schwierigkeit, so ungleiche Parteigänger wie z.B. einerseits den Empfänger eines Taglohnes von der

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Höhe des Monatseinkommens eines anderen Arbeitnehmers und anderseits diesen zweiten Proletarier, dem sein „Klassengenosse" als Kapitalist erscheinen muß, unter dem Hute einer politischen Ideologie und eines Parteiprogrammes zu vereinigen. Und die auf den ersten Blick auffällige Erscheinung, daß die alten sozialistischen Forderungen nach einem Minimallohn und nach dem vollen Arbeitsertrag zugunsten der neuen, im Grunde unsozialistischen Forderung der Sicherung des jeweiligen Reallohnes, der sich doch als ein zufälliges Ergebnis der anarchischen kapitalistischen Wirtschaftsweise darstellt und keinesfalls Ausdruck des Prinzipes der Lohngerechtigkeit sein kann, zurückgestellt wurde, erklärt sich ebenfalls zwanglos aus der Verschiebung der sozialen Struktur der Partei: der Mehrheit der Parteigänger wäre eben weder mit der Forderung eines Minimallohnes noch auch mit der des vollen Arbeitsertrages gedient, da der hienach sich ergebende Arbeitslohn in unserer produktionsarmen Wirtschaft in Anbetracht der vielen versorgungsbedürftigen Arbeitslosen aller Art wohl noch geringer sein müßte als der heutige, absolut ja gewiß nicht übermäßige Durchschnittslohn; ebendieselbe Forderung nach Sicherung des bestehenden Reallohnes schädigt aber zugleich die schwächeren, unter dem Existenzminimum stehenden Lohnempfänger, da sie nicht nur ausdrücklich deren unternormale Löhne petrifiziert, sondern auch dadurch den Spielraum für eine Erhöhung der Lohneinkommen beengt, daß sie den höher Entlohnten vorweg einen bestimmten größeren Anteil an der vorhandenen knappen Gütermenge sichert. Und als letztes Symptom der Verschiebung der sozialen Struktur des parteioffiziös sogenannten Proletariats darf wohl angemerkt werden, daß die sozialdemokratische Parteipolitik immer entschiedener von der Einkommenshöhe als Gradmesser der Schutzbedürftigkeit abrückt beim Plane einer neuen Wohnbausteuer dürfte dies besonders deutlich werden - während bei dem hier sogenannten neuen Proletariate gerade die Einkommenshöhe, dieser anerkannte alte Maßstab der wirtschaftlichen Stärke oder Schwäche, für die Hilfsbedürftigkeit so beredtes Zeugnis ablegt, daß die neuen Proletarier es fürwahr nicht nötig haben, sich um andere Beweise für ihre Hilfsbedürftigkeit umzusehen. Diese Feststellungen würden mißdeutet werden, falls sie als Bekenntnis einer Gehässigkeit gegen die Arbeiterschaft oder selbst nur gegen deren politische Vertretung gedeutet würden, wo sie doch nur der - notwendig nach jeder Richtung rücksichtslosen - Erkenntnis der Wahrheit dienen wollen, mußten aber selbst auf die Gefahr jener Mißdeutung hin gemacht

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werden. Und wenn nun die folgenden Betrachtungen dem neuen Proletariate gewidmet sind, so wollen sie nicht etwa als Ausdruck einer Einsicht von wissenschaftlichem Werte, sondern nur als Ausdruck eines menschlichen Interesses an dieser zwischen die Mühlsteine des wirtschaftlichen Mechanismus geratenen sozialen Gruppe verstanden werden. Die Absicht dieser Ausführungen ist lediglich die, die soziale Lage dieser Menschengruppe, deren einzelne Erscheinungen zwar nicht wenig besprochen, aber nicht im Zusammenhang gewürdigt werden, ins rechte Licht zu rücken - eingedenk dessen, daß Wissen zwar nicht die einzige, aber doch eine unabweisliche Voraussetzung eines Wandels der Dinge ist.

Der Gegensatz von Reich und Arm, Besitzenden und Besitzlosen ist bekanntlich relativ: nur die immer wiederkehrende Entstellung der in diesem Gemeinplatz zum Ausdruck kommenden Tatsache nötigt dazu, ihn auch an die Spitze der nachfolgenden Ausführungen zu stellen. Allen Versuchen gegenüber, die innerstaatlich beobachtete Besitz- oder Einkommensscheidung zu verabsolutieren, setzt sich ja nun doch die Einsicht durch, daß der sogenannte „Kapitalist" des einen Landes, an den Maßstäben eines anderen Landes gemessen, als „Proletarier", und umgekehrt der sogenannte Proletarier des einen Landes, mit dem „Kapitalisten" eines anderen Landes verglichen, als „Kapitalist" erscheinen kann. Auch ist man sich dessen bewußt geworden, daß Kapitalisten und Proletarier des einen Landes in ihrer Gesamtheit ein ausgesprochenes Kapitalistenvolk und die eines anderen Landes ein ausgesprochenes Proletariervolk darstellen können. Wenn nun auch festzustellen und festzuhalten ist, daß der Krieg und womöglich noch mehr der ihn und seinen Wahnwitz krönende sogenannte „.Friede" unser deutschösterreichisches Volk in einer Weise proletarisiert hat, daß die in einem absoluteren Sinne Reichen wirklich nur eine verschwindende Oberschichte bilden, so ist doch selbst unter diesen einen gewissen sozialen Ausgleich bewirkenden heimischen Verhältnissen die Variationsmöglichkeit innerhalb der durch die Pole von Reich und Arm bezeichneten Besitzskala so unendlich und die tatsächliche Differenzierung des Einkommens so ungeheuer, daß auch hierzulande noch sozusagen schreiende soziale Gegensätze bestehen, die mangels der andernorts heimischen Erscheinungen der Überkapitalisierung hauptsächlich durch gewisse vor dem Kriege fast unbekannt gewesene Erscheinungen der Unterproletarisierung

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hervorgerufen sind. Nur scheint mir die Mannigfaltigkeit der tatsächlich vertretenen Einkommensstufen der Zusammenfassung in der von der sozialistischen Ideologie geprägten Zweiklassenschablone und in der dem bürgerlichen Denken mehr entsprechenden Dreiteilung der Gesellschaft (die sich durch die Einschiebung des sagenhaften Mittelstandes ergibt), gleicherweise zu spotten. Selbst mit dem neuen Proletariat soll hier nicht eine Klasse von einheitlicher sozialer Struktur und völlig gleicher Einkommenslage, sondern nur die Summe jener Wirtschaftssubjekte verstanden werden, deren Einkommen sogar hinter dem tiefen, unserer verarmten Wirtschaft angepaßten Existenzminimum zurückbleibt. Die niedrigsten selbst nicht mehr das tiefstgeschraubte Existenzminimum erreichenden Einkommensstufen finden wir sowohl in bürgerlichen als auch in proletarischen Kreisen vertreten, so daß der Klassengegensatz, wenn man von ihm schon reden will, nicht eigentlich die herkömmlicherweise unterschiedenen Klassen voneinander scheidet, sondern innerhalb der einzelnen herkömmlicherweise unterschiedenen Klassen zu suchen wäre. Es ist charakteristisch, daß gerade der typischeste Bourgeois und Kapitalist, der Nichts-als-Rentner, und zwar nicht nur der sogenannte Kleinrentner, dem heute die Gesetzgebung und öffentliche Meinung die wirtschaftliche Schwäche und Hilfsbedürftigkeit nicht mehr bestreitet, sondern selbstverständlich auch der nominelle Millionär, aber ebenso auch z.B. der bloße Hausbesitzer, die bei der Arbeiterschaft trotz aller Aufklärung noch immer im traditionellen Scheine einer gewissen Wohlhabenheit stehen, in ihren durchschnittlichen Lebensverhältnissen weit hinter denen ihrer Neider zurückstehen. Bekanntlich fristen diese Kreise, die bei unserer produktionsarmen Wirtschaft viel größer sind, als man sich gerne gesteht, ihr Dasein zum einen Teil durch Verkauf ihrer Habe, zum andern Teil wohl auch durch Teilnahme an der Spekulation, wobei ihnen bei diesem strafwürdigen Gebaren im Gegensatz zu den anderen durchaus nicht immer der sogenannten Bourgeoisie angehörigen Teilnehmern der Spekulation nicht selten der Strafausschließungsgrund des unwiderstehlichen Zwanges zugebilligt werden müßte. Auf diesen problematischen Wegen ist vielleicht - oft erschreckend notdürftig - die Gegenwart dieser Menschen gesichert, gewiß aber nicht ihre Zukunft; und doch vermißt man Anhaltspunkte, daß die Existenz dieser Menschen, denen ihr Rentnerdasein doch insolange nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, als Ersparnisse der gesetzmäßige Versorgungstitel für die Angehörigen der erwerbenden Berufe sind, ernstlich

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zur Sorge für ihre wirklich besitzenden Klassengenossen oder zum Problem für Parlament und Regierung geworden wäre. Noch stiefmütterlicher werden aber zum Teile jene wirklichen Proletarier behandelt, die sich auch unter den Lohnempfängern finden. Es rührt dies wohl daher, daß man in manchen bürgerlichen Kreisen an notleidende Löhne überhaupt nicht recht glauben will, eine Auffassung, in der diese Kreise durch die immer wiederholte, aber wenig beweiskräftige, bezüglich der Oberschichten doch zu sehr als unrichtig evidente Behauptung von der allgemeinen „Not der arbeitenden Menschen" bestärkt sind. Es ist gewiß im ganzen eine hocherfreuliche Erscheinung, daß sich das früher ziemlich zurückgesetzte Lohneinkommen im Verhältnis zu den übrigen Einkommensarten bedeutend gehoben hat, die Genugtuung über diese Tatsache muß aber dadurch stark getrübt werden, daß die einzelnen Gruppen der Arbeiter und Angestellten in außerordentlich ungleichem Maße an diesem Fortschritte der „Klasse" partizipieren, so zwar, daß die Unterschichten den Fortschritt ihrer kräftigeren Klassengenossen mit einem beträchtlichen Rückschritt bezahlen mußten. Während bei den öffentlichen Angestellten zeitweilig eine wohl schon zu weitgehende Nivellierung der Gehalte eingetreten war, bewirkt bei den privaten Angestellten jede weitere Lohnbewegung eine weitere Distanzierung des Einkommensmaximums und Einkommensminimums, von deren Abstand man sich nicht einmal in den beteiligten Kreisen immer eine richtige Vorstellung macht. Es ist eben nicht oder heute nicht mehr richtig, daß die Einkommensquelle als solche einen Schluß auf die wirtschaftliche Kraft des Empfängers zulasse, daß im besonderen das Lohneinkommen als solches ein „notleidendes" Einkommen darstelle. In der Tat ist nicht die Einkommensquelle, sondern die Einkommenshöhe und die Sicherheit des Einkommens für die wirtschaftliche Kraft des einzelnen bestimmend. Man könnte, ohne ungerecht generalisieren zu wollen, auf nicht wenige Angestellte finanzkräftiger Unternehmungen verweisen, die - nicht einmal in besonders hervorragender Verwendung - einen sicheren Gehalt beziehen, welcher das oft schwer erkämpfte und gefährdete Einkommen eines mittleren Unternehmers nicht selten übersteigt, die überdies dieses leicht erworbene Lohneinkommen bei der leicht sich darbietenden Gelegenheit durch Erträgnisse aus rein kapitalistischen Quellen ergänzen, trotzdem aber mit Erfolg den Angehörigen der „besitzlosen", um nicht gar zu sagen „unter-

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drückten" Volksklassen mimen und sich von den Angestelltenorganisationen bei jeder Gelegenheit Vorteile durchdrücken lassen, welche die Zugeständnisse an ihre minder begünstigten Kollegen übersteigen. Und was die Arbeiterschaft im engeren Sinne betrifft, so darf zwar die Kritik jener Unberufenen zurückgewiesen werden, die oft bei einem unvergleichlich höheren wirklich arbeitslosen Einkommen in blinder Verallgemeinerung an den „hohen Löhnen" Anstoß nehmen; auch ist es erklärlich, daß die Arbeiterschaft von dem allerdings nicht nachahmenswerten Beispiel anderer Bevölkerungsschichten, welche ohne Rücksicht auf die Allgemeinheit ihren einstigen Lebensfuß erreicht oder überschritten haben, namentlich des Großteils der Bauernschaft, verlockt wird, auch für sich dieses Ziel anzustreben und mit den Mitteln des Lohnkampfes durchzusetzen. Diese Einsicht und dieses Verständnis darf aber doch nicht dafür blind machen, daß jenes Ziel in unserer entgüterten, den durchschnittlichen vormaligen Lebensfuß ausschließenden Volkswirtschaft nur um den Preis einer weiteren Einschränkung der Lebenshaltung der zahlreichen noch schwächeren Bevölkerungskreise erreichbar ist. Und so müssen gewisse Arbeitslöhne, auch wenn sie hinter ausländischen Arbeitslöhnen, die so gern als Vergleichsmaßstab herangezogen werden, zurückbleiben, im Vergleich mit dem allein maßgebenden Durchschnittseinkommen der heimischen Bevölkerung als zu hoch, ja geradezu als unsozial hoch bezeichnet werden. Daß manche Löhne eine Unmöglichkeit für die Volkswirtschaft bedeuten, wurde ja schon vielfältig gesagt; hier ist die Feststellung geboten, daß sie auch eine Ungerechtigkeit gegenüber dem gering Entlohnten, gegenüber dem neuen Proletariate bedeuten. Noch mehr aber als die Lohnhöhe gewisser Arbeiterschichten ist aber die oft unrationelle, ja sogar gewissenlose Verwendung des Lohnes zu beanständen, welche es mit sich bringt, daß mancher leistungsfähigere Arbeiterhaushalt den Gesamteindruck der Ärmlichkeit und mancher schwächere bürgerliche Haushalt den einen trotz allem aufrechterhaltenen gewissen Wohlhabenheit erweckt. Von den öffentlichen Angestellten, die man bei den stark einander angenäherten niederen und höheren Gehaltsstufen als eine wirtschaftlich annähernd homogene Gruppe betrachten kann, ist es nur zu bekannt, daß ihr Einkommen im Durchschnitt hinter den üblichen Gehalten und Löhnen des überwiegenden Teiles der Privatbeamtenschaft und Arbeiterschaft beträchtlich zurückbleibt; doch wäre es eine Übertreibung, sie schlechthin als die eigentlichen oder gar einzigen „Opfer der Verhältnisse" hinzustellen. Es ist

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im Gegenteil eher zu beanständen, daß infolge einer ungerechten Arbeitsverteilung und mangelhaften Berücksichtigung von Arbeitsqualität und -quantität im öffentlichen Dienste gewissen minder und minimal beschäftigten Angestellten ein Existenzminimum gesichert ist, das zwar an sich gering, mit unseren wirtschaftlichen Verhältnissen und mit der wirtschaftlichen Lage anderer, voll und nützlich beschäftigter Arbeitnehmer jedoch nicht ganz zu vereinbaren ist. Nach ihrer wirtschaftlichen Lage schließen sich weiters die Pensionisten und jene sonstigen Rentner an, deren Rente Ersatz für ein ehemaliges Lohneinkommen ist. Diese - in der Öffentlichkeit vielleicht am meisten bemitleideten - Bevölkerungsgruppen, namentlich auch die öffentlichen Pensionisten, haben immerhin zum weitaus größeren Teil ihr Einkommen in eine erträglichere Höhe gehoben und es gibt nicht wenige private Pensionisten, deren Ruhebezüge für gleichwertige berufstätige Privatangestellte als Aktivitätsbezüge unerreichbar sind; aber es gibt auch wiederum Fälle, wo die Rente nicht die kümmerlichste Versorgung gewährleistet.1 Was nun endlich die schlecktest gestellten Lohnempfänger betrifft, deren soziale Lage nur im Zusammenhalt mit ihren besser bis glänzend gestellten „Klassengenossen" ermessen werden kann, so sind sie zum großen Teil dadurch charakterisiert, daß sie im Dienste von Arbeitgebern stehen, deren Überwälzungsmöglichkeit aufs engste begrenzt und deren finanzielle Lage noch schlechter als die der öffentlichen Körperschaften ist. Es sind die Angestellten privater gemeinnütziger Institutionen, karitativer Vereine, privater Schulen, das Personal der Mehrzahl der Advokaturs- und Notariatskanzleien und andere mehr - eine Menge zerstreuter kleiner Gruppen, aber in ihrer Gesamtheit eine nicht unbeträchtliche Zahl vorwiegend wertvoll tätiger Menschen.

1 Der Verfasser darf vielleicht zwei besonders bezeichnende Dlustrationsfälle anführen, die ihm infolge eigener oftmaliger Intervention zugunsten der Betroffenen genauest bekannt sind. Die kranke Witwe eines Staatsbeamten der 4. Rangsklasse bezog Anfang Jänner l.J. noch eine Gnadenpension von 1400 K monatlich und ein 86jähriger armer gewesener militärärarischer Vorarbeiter mit ununterbrochener 47j ähriger belobter Dienstzeit eine Gnadenpension von 1500 K monatlich. Bestimmten Amtsstellen, bei denen ich im Gegenteil in diesen Fällen freundlichstes Entgegenkommen gefunden habe, kann ich keinen Vorwurf machen. Es will schon einmal so die soziale Ordnung: Die Wünsche ellenbogenstarker Organisationen gehen voran und die einzelnen „hilflosen Hascher" müssen sich „etwas gedulden".

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Als kürzlich durch die Tagesblätter die Nachricht ging, daß die Lehrkräfte an den privaten Mittelschulen Monatsgehalte von 8000 bis 13.000 K beziehen, mochte wohl mancher bürgerliche oder proletarische Durchschnittsleser den Kopf schütteln und sich fragen, ob es denn billig sei, daß beispielsweise eine an einer privaten Mittelschule beschäftigte Doktorin von einem kleinen Bruchteil des Einkommens „leben" müsse, das - gewiß nicht unangemessenerweise - etwa eine Handarbeitslehrerin oder ein Schuldiener an einer öffentlichen Volksschule bezieht, oder das einen noch viel mehr verschwindenden Bruchteil des Gehaltes manches in jeder Hinsicht minder beschäftigten Angestellten von zahlungskräftigen privaten Arbeitgebern beträgt. Wem ist es aber zum Bewußtsein gekommen, daß mit einer solchen Zeitungsnotiz ein soziales Problem angedeutet sei, das objektiv ungleich dringender ist, als die subjektiv oft viel drängenderen Lohnforderungen von um vieles besser gestellten Arbeiter- und Angestelltenschichten? Nun beweist aber gerade unser Beispiel, daß sich die außerordentlichen Unterschiede in der Lohnhöhe der privaten Angestellten und Arbeiter im Gegensatz zur Gehaltsdifferenzierung der öffentlichen Beamten nicht so sehr aus der Beachtung des Leistungsprinzips, der Unterschiede in Bezug auf Arbeitsquantität und -qualität, sondern nur zu häufig (um vom Leistungswillen ganz abzusehen) auch aus den Unterschieden in der finanziellen Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers erklären: gleichartige Leistungen werden von den verschiedenen Dienstgebern sehr verschieden entlohnt. Die eng begrenzte Leistungsfähigkeit gewisser Dienstgeber wirkt zugleich als unübersteigliche Schranke für eine Selbsthilfeaktion ihrer Dienstnehmer. Das Zaubermittel der Organisation, auf das man diese Angestellten in voller Verständnislosigkeit für ihre besondere Lage zu verweisen pflegt, kann bei ihnen nicht wie bei den übrigen Angestellten wirken, denn wenn sie es gegen ihre oft beim besten Willen leistungsunfähigen Dienstgeber, deren eigene Schwäche der letzte Grund der Hilflosigkeit ihrer Angestellten ist, rücksichtslos anwenden wollten, würden sie diese gemeinnützigen Anstalten, Schulen und dergleichen zur Auflösung bringen und sich selbst erwerbslos machen. Auf ein anderes Blatt gehören jene Fälle notleidender Löhne, die nicht in der mangelnden Leistungsfähigkeit, sondern im mangelnden Leistungswillen des Arbeitgebers ihren Grund haben. Was z.B. vereinzelt noch der Großgrundbesitz an Angestelltenlöhnen zu leisten wagt, würde es begreiflich machen, wenn es als Herausforderung der gesamten Arbeitnehmerschaft betrachtet und behandelt würde. Daß hier aber ein Schuldiger mit

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Händen zu greifen ist, berechtigt zu einer optimistischeren Beurteilung dieser Fälle als der vorher beleuchteten. Von einer planmäßigen moralischen oder gar materiellen Unterstützung dieser Schichten von Seite ihrer wirtschaftlich stärkeren Klassengenossen, die sehr wohl in der Lage wären, durch Aufgebot moralischer oder materieller Mittel - man denke nur an das kleine Opfer des Verzichtes auf den Alkoholgenuß - diesen Schwächsten in ihrer Mitte ein den höheren und höchsten Lohnstufen entsprechendes Existenzminimum zu gewährleisten, ist aber - trotz rühmlicher Einzelerscheinungen einer Klassensolidarität, die sich hier nicht einmal zur höheren Stufe einer rein menschlichen Solidarität auszuweiten brauchte, leider nichts wahrzunehmen. Und auch der Staat erfüllt in dieser Beziehung wiederum nicht seine primitivste sozialpolitische Pflicht. Während sich im übrigen der staatliche Inerventionismus mehr als nötig breit macht, war die offizielle Politik über gute Worte zugunsten der Bevölkerungsgruppen, die das neue Proletariat ausmachen, bis vor kurzem noch nicht hinausgekommen, wiewohl gerade auf diese Bevölkerungsgruppe abgestellte Taten am dringendsten geboten wären. Das Problem des Abbaues der Lebensmittelzuschüsse war eine charakteristische Probe auf die Art, wie Sozialpolitik auf die schwächsten sozialen Schichten, namentlich auf das hier sogenannte neue Proletariat angewendet wird. Man erinnert sich noch des Aufhebens, das mit den „sozialpolitischen Sicherungen" des Gesetzes gemacht wurde. Diese Sicherungen sind nun gewiß zum guten Teile des Rühmens wert - namentlich die Einführung der Kinderversicherung darf wohl als eine bedeutende sozialpolitische Tat angesprochen werden - ebenso gewiß ist aber, daß sie zum Teile die Sphäre wirklicher, nämlich soziale Unterschiede ausgleichender Sozialpolitik überschreiten und auf das Gebiet bloßer Parteipolitik geraten, indem sie z.B. in fiktiver Gleichsetzung des Lohneinkommens mit notleidendem Einkommen unterschiedlos allen Lohnempfängern, auch denen der höchsten Einkommensstufen, unversehrten Reallohn garantieren, während schwächere Bevölkerungsgruppen nur unzulänglich gesichert sind. Zwar hat man sich, während ursprünglich die Abbauaktion so dargestellt wurde, als ob es sich nur um eine Angelegenheit der Unternehmerschaft und Arbeiterschaft handle, noch rechtzeitig erinnert, daß die gesamte Bevölkerung nicht ausschließlich aus Unternehmern und Arbeitern bestehe; so sieht denn das Gesetz tatsächlich unter den sozialpolitischen Sicherungen auch solche unter dem

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besonderen Titel für „bedürftige Personen" zugunsten der Rentner, Angehörigen freier Berufe u.a. vor, unter denen nach der sehr zutreffenden Auslegung eines hohen Funktionärs der sozialen Verwaltung gerade die bedürftigsten Bevölkerungsschichten zu suchen sind. Wo und wie finden aber diese schutzbedürftigsten Personen Schutz gegen die allgemeine Verteuerung der Lebenshaltung, welche die Folge des Abbaues der Lebensmittelzuschüsse wie anderer Maßnahmen der staatlichen und städtischen Finanzpolitik ist? Aber auch die sogenannte „Sicherung" der kleinsten Lohnempfänger gibt zu einer nicht minder skeptischen Beurteilung Anlaß. Die hochgemute Versicherung, daß die Gewerkschaften sehr wohl imstande sein werden, die Arbeiterschaft - und darunter sind doch wohl alle Gruppen von Arbeitnehmern zu verstehen - gegen die Wirkungen der vom Abbau der Lebensmittelzuschüsse ausgelösten Preisbewegung zu schützen, wird vorläufig hinsichtlich der stärkeren Arbeitnehmer gewiß wahrgemacht, hinsichtlich der stärksten Arbeitnehmer sogar überboten werden; für die schwächsten, geringst entlohnten Arbeitnehmergruppen ist aber die Erfahrung der bisherigen Lohnbewegungen - die alle nur immer den Abstand von den höchstentlohnten Arbeitnehmergruppen vergrößert haben - nichts weniger als ermutigend und geradezu ein unwiderleglicher Beweis, daß diesen Angestellten zum großen Teile auf dem üblichen Wege von Lohnerhöhungen schlechterdings nicht geholfen werden kann. Eine einfache Rechnung zeigt, daß die Überwälzung der Lebensmittelzuschüsse auf den Dienstgeber in dessen Haushalt je nach der Lohnhöhe des Dienstnehmers sehr verschieden ins Gewicht fällt. Bei einem Lohneinkommen von durchschnittlich 100.000 bis 200.000 Kronen monatlich ist der heutige Lebensmittelzuschuß eine perzentuell geradezu verschwindende, für den Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Regel bedeutungslose Post, deren gesonderte Aufrechterhaltung sich meist nur als rechnerische Erschwerung bemerkbar machen wird. Im Haushalte solcher Dienstgeber jedoch, die heute noch mit Monatslöhnen und -Gehalten von 10.000 bis 20.000 Kronen rechnen, z.B. einer privaten Schule oder sonstigen Anstalt, bedeutet die Übernahme der in diesem Falle perzentuell ziemlich ausschlaggebenden Lebensmittelkosten eine derart empfindliche Störung des bisher noch mühsam aufrechterhaltenen Gleichgewichtes zwischen Einnahmen und Ausgaben, daß von den gewiß dringenden und nunmehr noch dringlicheren Lohnerhöhungen aus dem Titel der allgemeinen Verteuerung keine Rede wird sein können - wenn nicht im Gegenteil infolge der Überwälzung der Lebensmittelzuschüsse der hiedurch betroffene Betrieb wird eingestellt werden müssen, was ja tatsächlich schon

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das Schicksal mancher solcher Betriebe geworden ist. Leider ist den Verfassern des Gesetzes nicht der Gedanke gekommen, daß es in diesen Fällen nicht bloß sozialpolitisch sondern auch finanzpolitisch besser gewesen wäre, die Angestellten dieser gefährdeten Betriebe gleich den dürftigen Personen zu behandeln, die in keinem Anstellungsverhältnisse stehen, und damit ihren Dienstgebern eine drückende Last abzunehmen, statt es auf die Auflösung solcher Betriebe ankommen zu lassen, womit deren Angestellte in nicht wenigen Fällen ganz dem Staate zur Last fallen werden. Wer da der Meinung ist, solche Einwirkungen seien nicht zu verhindern und der Untergang so schwach fundierter Betriebe sei eigentlich nicht zu bedauern, der verkennt durchaus die soziale Funktion dieser Betriebe. Nur einige wenige sind in der glücklichen Lage, die Aufmerksamkeit und Unterstützung der Öffentlichkeit in dem Maße auf sich zu lenken, wie es z.B. der Wiener Rettungsgesellschaft gelungen ist, aber viele wetteifern mit ihr an Gemeinnützigkeit. Es seien nur die Volksbildungsinstitute erwähnt, wahre Perlen am Wege zur Hebung des geistigen Volkswohles, an denen zwar die Teile des Proletariates, welche zum Verständnis höherer geistiger Genüsse - durchaus nicht immer aus Mangel an Mitteln und Möglichkeiten - nicht durchgedrungen sind, achtlos vorübergehen, die von der Aristokratie des arbeitenden Volkes aber nach Gebühr geschätzt werden. Kann den Nutznießern solcher Institute deren Zukunft gleichgültig sein und können sie sich bei der Einsicht in die wirklichen Verhältnisse, die freilich durch die Phrase von der gleichen „Not der arbeitenden Klasse" sehr erschwert wird, damit abfinden, daß die Angestellten solcher Institute, denen sie Arbeit an der Beseitigung des Bildungsprivilegs zu danken haben, um vieles schlechter gestellt sein sollen, als sie selbst, denen ihre Arbeit zugute kommt? Wenn als Beispiele für die private Karitas nur noch Kinder- und Greisenasyle, Suppenanstalten, in einem gewissen Abstand auch Volks- und Gemeinschaftsküchen und dergleichen mehr erwähnt werden - die Liste ließe sich endlos verlängern - so gewinnt man einen ungefähren Einblick in die soziale Bedeutung dieser zum großen Teile in einer schleichenden Krise befindlichen Einrichtungen, deren meist hochverdienstliche und uneigennützige Träger sich mehr oder weniger alle in dem seltsamen Widerspruch bewegen, daß sie einerseits nach außen als die nützlichsten Helfer und anderseits in ihrer inneren Organisation als die unsozialsten Dienstgeber erscheinen; denn sie alle müssen, wenn sie ihre sozialen Leistungen möglichst hochschrauben wollen, ihre Arbeitslöhne möglichst niedrig halten.

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Damit sind die Kreise abgesteckt, wo ungefähr die letzten und am schwersten betroffenen Opfer der Valutakatastrophe, der fortgesetzten Lohn- und Preissteigerungen, aber insbesondere auch der von einem gewissen Standpunkt aus unvermeidlich erscheinenden finanzpolitischen Maßnahmen zu suchen sind. Durch fortgesetzte Überwälzung gehen diese Ereignisse und Maßnahmen unfehlbar an den schwächsten Schichten der Bevölkerung aus, am wirklichen Proletariate, teils bürgerlicher, teils im vormaligen Sinne proletarischer Herkunft und an privaten, gemeinnützigen Einrichtungen, die - im Gegensatz zu verschiedenen Aktionen offizieller Sozialpolitik - in erster Linie diesem wirklichen Proletariate dienen. Was bedeutet z.B. die Aufrechterhaltung des Reallohnes für höher entlohnte Angestellten- und Arbeitergruppen bei Einstellung der staatlichen Lebensmittelzuschüsse, wenn nicht gleichzeitig die Produktion und damit der Gütervorrat erhöht wird, anderes, als daß anderen Bevölkerungskreisen ihr Realeinkommen gemindert wird? Und wo sonst wird sich dieser Wegfall des staatlichen Zuschußeinkommens, der ja irgendwo in der Volkswirtschaft zum Vorschein kommen muß, bemerkbar machen, wenn stärkere Schichten der Bevölkerung den auf sie entfallenden Anteil zu tragen ablehnen und eine Schmälerung ihres Realeinkommens gesetzlich oder tatsächlich ausschließen, als an der Stelle des geringsten sozialen Widerstandes? Es ist eben wieder das wirkliche Proletariat, dem die ihm zugemessene knappe Güterdecke noch weiter verkürzt wird. Die Warner vor einem unbedachten und unvorbereiteten Abbau der Lebensmittelzuschüsse scheinen durch die Tatsachen ins Unrecht gesetzt worden zu sein. Das sogenannte Argument oder vielmehr Gegenargument der Straße ist aus dem Anlasse des Abbaues der Lebensmittelzuschüsse erfreulicherweise nicht zum Wort gekommen. Freilich hätte das Inkrafttreten des Abbaugesetzes nur als Anstoß und nicht als Grund für die Anrufung dieses Argumentes dienen können; es ist ja gerichtsordnungsmäßig erwiesen, daß die Lohnhöhe keineswegs für die Anrufung dieses Argumentes bestimmend ist. Aber nichtsdestoweniger wäre die Genugtuung darüber, daß sozusagen nichts geschehen sei, verfrüht. Es wurde zwar nicht die Not als Vorwand für Gewaltanwendung ausgespielt, es sind aber gewiß durch diese Maßnahme solche Bevölkerungskreise, denen der Appell an die Gewalt fernliegt, noch um einen Grad tiefer proletarisiert, in ihrer Lebenshaltung weiter eingeschränkt worden, als durch die bisherige wirtschaftliche Entwicklung. Wer nur vor dem Argument der Straße Respekt hat, dem mag

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freilich dieses weniger aufdringliche, dafür aber beweiskräftigere Argument nichts bedeuten. Das soll allerdings kein Argument gegen den Abbau der Lebensmittelzuschüsse sein, deren Notwendigkeit wohl keines Beweises mehr bedarf, sondern gegen die Tatsache, daß er vorgenommen wurde, ohne seinen einzig ernst zu nehmenden sozialen Konsequenzen wirksam vorzubeugen. Ohne gleichzeitigen Aufbau der untersten Einkommensstufen war der Abbau der Lebensmittelzuschüsse unsozial. Auch bei anderen legislativen und administrativen Maßnahmen kann man dieselbe Erfahrung machen: die verschiedensten Bedenken werden erhoben und berücksichtigt, über die der Berücksichtigung Bedürftigsten geht aber die vermeintlich soziale Staats- und Stadtverwaltung nur zu leicht zur Tagesordnung über. Das beliebte Argument des staatlichen und städtischen Finanzministers bei den auf der Tagesordnung stehenden Tariferhöhungen, daß sich die Tarife, in Goldkronen umgerechnet, verbilligt hätten, oder daß die Tarife den erhöhten Löhnen angemessen seien, stimmt jedenfalls nicht für Einkommensstufen von zehn oder zwanzig Goldkronen monatlich und muß von der Bevölkerung aus diesen Kreisen als Ironie erachtet werden. Solange nicht die Inlandsproduktion gehoben wird, muß freilich der Inlandskonsum gedrosselt werden; aber dieses Ziel auf dem Wege erreichen zu wollen, daß einzelnen Bevölkerungsschichten, darunter auch arbeitende Menschen, deren Arbeitsleistung oft unvergleichlich wertvoller ist als die anderer Menschen, denen ihr Einkommen einen unvergleich größeren Anteil am Konsum gewährt, einfach vom Konsum lebenswichtiger Güter ausgeschlossen werden, statt daß man lieber lebensunwichtige Güter - Luxuswaren, vor allem Alkohol! - vom Konsum ausschaltet, ist wohl die verkehrteste Volkswirtschaftspolitik und bedeutet geradezu eine Paralysierung des ganzen weitwendigen Systemes der heutigen Sozialpolitik. Wer eingesehen hat, daß die Ersparung an Luxuswaren mit Leichtigkeit hinreichen würde, um jene Löhne, die nicht einmal das unserer Volkswirtschaft angepaßte geringe Existenzminimum erreichen, auf dieses zu ergänzen, dem ist nicht leicht verständlich, warum politische Parteien, deren Parteienbezeichnung schon das soziale Programm verkündet, nicht dieselbe Rücksichtslosigkeit, mit der, wenn auch ungewollt, oft durch positive Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung, gerade den bedürftigsten Bevölkerungsschichten der Konsum lebenswichtiger Güter entzogen wird, dazu aufbringen, um viel weniger bedürftigen Bevölkerungsschichten den in jeder Hinsicht unerwünschten

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Konsum von gänzlich überflüssigen Gütern einzuschränken und abzugewöhnen. Und vor allem drängt sich die Frage auf, warum die sich so nennende Partei des Proletariats dem wirklichen Proletariate nicht den Dienst tut, den Luxuskonsum mehr mit Taten als mit Worten zu bekämpfen, ihre, bei viel weniger passenden Gelegenheiten angedrohten und angwendeten Kampfmittel mit gewohnter und hier höchst verdienstlicher Energie in den Dienst dieser, als notwendig erkannten Sache zu stellen?2 Kein Kapitalismus und Klassenstaat könnte den Erfolg dieser Aktion verhindern - das Hindernis liegt vielmehr im eigenen Lager, in der Rücksicht auf die richtunggebenden Wähler, die am Konsum von Luxuswaren interessiert sind; die Wählerpolitik, die manche Maßnahme doktrinärer Sozialpolitik erklärt, ist zugleich die gefährliche Feindin wirksamer Sozialpolitik. Wenn sich neuestens3 eine Wendung in dieser Haltung vorzubereiten und ein ernster Kampf gegen den Luxuskonsum anzukündigen scheint, so würde ich diesen Schritten, um so mehr, weil sie dem Parteiinteresse widersprechen, Bewunderung nicht versagen. Den Kulturfreund freut der Kulturfortschritt, woher immer er kommt. Unnötig zu sagen, daß mir nicht bloß der Luxus des Proletariats ein Stein des Anstoßes ist! Ich möchte nur noch wünschen: Nicht locker lassen! - selbst wenn wir das beschämende Schauspiel erleben müßten, daß eine gesetzliche Alkoholbeschränkung der bürgerlichen Politik von der Sozialdemokratie oktroiert werden muß. ***

Trotz dieser Worte der Kritik soll nicht verkannt werden, daß die offizielle Politik in letzter Zeit endlich neue Wege einer in erster Linie dem neuen Proletariate zugute kommenden Sozialpolitik eingeschlagen hat, wie sie

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Einen zwar wenig radikalen, dafür aber (bei der Verstrickung unserer Bevölkerung in den Alkoholismus) am ehesten praktikablen Weg der Alkoholbekämpfung hat die um die Antialkoholbewegung sehr verdiente Frau Dr. Julie Schall-Kassowitz in einem Artikel gewiesen, der im 5./6. Heft des Jahrgangs 1921 der von mir herausgegebenen Zeitschrift für Verwaltung (Verlag Moritz Perles) unter dem Titel „Gesetzgebung und Verwaltung im Dienste der Alkoholbekämpfung" erschienen ist; die Autorin schlägt dort nach ausländischen Mustern das sogenannte „Gemeindeverbotsrecht" vor. Ein ähnliches Ziel verfolgte auch ein vor einiger Zeit von der sozialdemokratischen Fraktion im Nationalrat eingebrachter, von der Mehrheit leider abgelehnter Antrag, von dem man nur bedauern muß, daß er nicht mit mehr Nachdruck wiederholt wurde und wird. 3

Der Artikel ist im Laufe des Dezember 1921 verfaßt.

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unseres Wissens erstmals und vor geraumer Zeit schon dieses Blatt gewiesen hat.4 Symptomatisch ist namentlich das Bundesgesetz vom 16. Dezember 1921, betreffend die Förderung privater Fürsorgeeinrichtungen aus Bundesmitteln, ein Gesetz, das den Angestellten „privater Einrichtungen und Anstalten sozialer Fürsorge" auf Staatskosten eine Ergänzung ihrer Bezüge auf die analogen Bezüge öffentlicher Angestellter gewährt, wie es vordem schon auf faktischem Wege für das Personal gewisser Privatschulen geschehen ist. Man mag sich einen Begriff von den Einkommensverhältnissen dieser Angestellten machen, wenn man erfährt, daß die Anwendung des gewiß kärglichen Gehaltsschemas der öffentlichen Angestellten, welches, wie jüngst ein Streik lehrte, von gewissen Angestellten wiederum wegen seines großen Abstandes von gewissen Löhnen der Privatindustrie, verschmäht wird, den Fürsorgeangestellten fast ausnahmslos eine Vervielfachung ihrer Bezüge, in nicht wenigen Fällen eine Verfünffachung und sogar Verzehnfachung bringt. Mit der offenen Aufdeckung dieser grotesken Lohnverhältnisse, unter der zahlreiche, hauptsächlich sogenannten bürgerlichen Kreisen angehörige Angestellte bisher gelebt haben, hat der Bericht des Ausschusses zu dem erwähnten Gesetz mancherlei erreicht: unausgesprochen wurde dem Arbeiter die Marxsche Maske des „Unrechtleidens" schlechthin abgenommen, das Bestehen ungeheurer, in der Arbeitsqualität und -quantität nicht begründeter Unterschiede der Lohnhöhe innerhalb der Arbeiterschaft und Angestelltenschaft parteioffiziös eingestanden, damit auch zugegeben, daß der Grad der Hilfsbedürftigkeit außerordentlich variiert und eine différentielle Sozialpolitik je nach der Einkommenshöhe geboten ist. Das wenn auch sehr verspätete, so doch darum nicht minder verdienstliche Gesetz, das bezeichnenderweise auf einem Initiativantrage dreier weiblicher Abgeordneter aus der Mitte der drei großen Parteien beruht, hat weit über seine konkrete Zweckbestimmung hinaus vorbildliche Bedeutung. Zunächst werden die Autorinnen darüber wachen müssen, daß die Finanzverwaltung nicht die guten Absichten des Gesetzes durch eine fiskalische Handhabung, etwa durch eine kleinliche Abgrenzung des Kreises der mit dem Zuschuß bedachten Einrichtungen, vereitle. Das Gesetz erlaubt schon bei seiner gegenwärtigen, vielleicht mit Absicht ziemlich unbestimmten Fassung die Anwendung auf sämtliche Einrichtungen der

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Vgl. meinen Artikel im Österreichischen Volkswirt vom 24. April 1920 unter dem Titel ,Zur sozialen Seite der Preis- und Lohnbewegung".

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privaten Karitas, wobei nur die eine Schranke sehr wohl angebracht ist, daß diese Einrichtungen ihre karitative Tätigkeit nur solchen Kreisen zugute kommen lassen, die diese Fürsorgedienste nötig haben und zu ihnen nach Maßgabe ihrer Einkommensverhältnisse beitragen; die Umschichtung der Einkommensverhältnisse hat nämlich dazu geführt, daß heute hie und da wirtschaftlich Stärkere von wirtschaftlich Schwächeren unterstützt werden, was bei dem weitverbreiteten Bettlersinn der Bevölkerung nach wie vor widerspruchslos, ja einfach als Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Es unterliegt wohl auch für die maßgebenden politischen Parteien keinem Zweifel, daß das Gesetz, welches mit dem 31. März l.J. befristet ist, mit bedeutend erweitertem Geltungsgebiete erneuert werden muß. Mit dem unwürdigen Subventionsbettelwesen, mit dem man bisher die gesamte weitverzweigte Tätigkeit der verschiedentlichen, im öffentlichen Interesse wirksamen Einrichtungen abzuspeisen beliebte, ist diese Tätigkeit nicht aufrechtzuerhalten. Die manchmal recht aufgebauschten Subventionsbeträge bleiben nicht nur immer, in Goldkronen umgerechnet, hinter den dürftigen Friedensansätzen, sondern in der Regel sogar hinter der sonstigen perzentuellen Aufwandssteigerung der subventionierenden Körperschaften zurück, wiewohl sie an Zweckmäßigkeit mit diesem Aufwand sehr wohl konkurrieren können. Gerade heute könnte man das Wirken dieser Einrichtungen schwerer denn je vermissen, ohne daß aber Staat und Stadt in der Lage wären, sie einfach in ihren Betrieb zu übernehmen. Man beachte den ungeheuren Gegensatz: Einerseits hat der ärmste Staat jahrelang unterschiedslos die gesamte Bevölkerung in Form der Lebensmittelzuschüsse mit Milliardenbeträgen alimentiert, wo es sich nur darum gehandelt hat, die schwächste Unterschichte über Wasser zu halten; und anderseits könnte man einen kaum weniger bedeutenden Effekt mit dem Aufwand eines Bruchteiles dieser Geldmittel erzielen, wenn man private gemeinnützige Institutionen hinreichend alimentierte, die erfahrungsgemäß mit den geringsten Mitteln die größten Erfolge erzielen und verbürgen. Die Richtlinien künftiger, aber heute schon überfälliger Sozialpolitik scheinen mir in den zwei Worten beschlossen zu sein: Existenzminimum und Minimallohn. Wen der scheinbar revolutionäre Charakter dieser Forderung erschreckt, der bringe sich zum Bewußtsein, daß die heutige Entwicklung auf sozialpolitischem Gebiete diese Forderungen vielfach überholt und in den Schatten gestellt hat. Während diese Forderungen einer gewissermaßen

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lebensnotwendigen Sozialpolitik zugunsten der wirtschaftlich Schwächsten noch nicht erfüllt sind, haben wir uns, wie mancherlei Einrichtungen bezeugen, eine gewissermaßen luxuriöse Sozialpolitik zugunsten wirtschaftlich stärkerer Bevölkerungsschichten erlaubt. Genannt seien nur wiederum die Lebensmittelzuschußaktion und die Art ihres Abbaues. Über die Form der Erfüllung dieser Forderungen mögen und müssen einige Andeutungen genügen: Der - für die verschiedenen Dienstkategorien abgestuft bestimmte, selbstverständlich durch eine entsprechende Arbeitsleistung bedingte - Minimallohn ist grundsätzlich vom Dienstgeber zu tragen, sofern dieser aber hiezu nachweisbar außerstande, die Aufrechterhaltung des Betriebes jedoch im öffentlichen Interesse geboten und von der Dienstleistung der fraglichen Angestellten abhängig ist, wenigstens ergänzungsweise vom Bund oder Land zu leisten. Diese Zuschußleistungen zum Minimallohn kommen namentlich für die gemeinnützigen Einrichtungen durchaus nicht für alle dieser Art - in Frage, deren Zweckbestimmung die Überwälzung oder wenigstens restlose Überwälzung des Aufwandes auf ihre Nutznießer ausschließt. Dieser Minimallohn wäre selbstverständlich nicht nur klagbar, sondern seine Verweigerung auch unter Strafe zu stellen, wenn die heute noch immer vorkommende und von der Gesetzgebung unbegreiflicherweise geduldete Ausbeutung gewisser Angestellter eine entsprechende rechtliche Qualifikation erfahren soll. Was das Ausmaß des Lohnminimums betrifft, so werden trotz der prekären Lage unserer Wirtschaft bei einer der Sache würdigen Anspannung der Kräfte die heute noch vielfach vorkommenden untersten Lohnsätze beträchtlich überschritten werden können. Der Minimallohn voll beschäftigter Angestellter müßte doch mindestens an die höchste Arbeitslosenunterstützung von Einzelpersonen heranreichen. Wenn infolge größeren Anwachsens der Arbeitslosigkeit zahlreiche Arbeiter der höchsten Lohnstufen auf die gewiß unzulängliche Arbeitslosenunterstützung angewiesen sein sollten, kann sich leicht der Fall ergeben, daß die durchschnittliche Arbeitslosenunterstützung in einer Weise erhöht wird, daß sie die Unterstufen des heute noch üblichen Arbeitslohnes weitaus überflügelt. Die primitivste Forderung der Lohngerechtigkeit gebietet es aber, diesem durchaus nicht unwahrscheinlichen Falle durch gesetzliche Einführung eines Minimallohnes zuvorzukommen. Ein sozialpolitisch gebotenes Gegenstück des Minimallohnes wäre allerdings bei gewissen Arbeitsleistungen der Maximallohn. Die Arbeiterschaft kann sich auf die Dauer der Einsicht nicht verschließen, daß auch Lohnforderungen

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eine Ausbeutung der Bevölkerung bedeuten können. Wenn Unternehmergewinn und Unternehmerlohn beim Kauf- und Werkvertrag der strafgesetzlichen Schranke der Preistreibereibestimmung unterliegt, dann ist nicht einzusehen, warum der im Lohnvertrage für die Herstellung von Bedarfsgegenständen vereinbarte Arbeitslohn, der eine unentbehrliche Komponente des Preises des Produktes darstellt, nicht der gleichen Schranke unterliegen soll. Finanziell viel einschneidender als die Einführung des Minimallohnes wäre wohl die Einführung eines Existenzminimums für alle unversorgten Personen, denen eine den Lebensunterhalt sicherstellende Arbeit entweder nicht beschafft oder nicht zugemutet werden kann. Man darf aber nicht übersehen, daß es sich hiebei nur um eine Erweiterung des Kreises der Nutznießer und um die Änderung der Form schon bestehender und in Entstehung begriffener Einrichtungen handelt. Ein sozialer Staat muß einfach die Mittel aufbringen, um den ohne eigenes Verschulden unversorgten, ja zum Teil gerade durch staatliche Handlungen um ihrer Versorgung gebrachten Personen eine wenn auch kärgliche, so doch würdige Form der Existenzgarantie zu leisten. Freilich ist es eine unvollziehbare Vorstellung, den Aufwand für solche soziale Aufgaben den „Besitzenden" allein aufbürden zu wollen; müssen diese wohl auch in erster Linie und gewiß noch viel stärker als bisher herangezogen werden, so ist es bei der bestehenden sozialen Schichtung doch unvermeidlich, daß die Mittelschichten des Volkes bis ziemlich tief herab in der sozialen Hierarchie die notwendigen sozialen Lasten mittragen helfen, das heißt, so lange die Produktion noch nicht entsprechend erhöht ist, im Interesse des wirklichen Proletariats in eine verhältnismäßige Kürzung ihres Reallohnes einwilligen. So lange die angedeuteten Aufgaben noch nicht - und zwar ohne Rücksicht auf die „Klassenzugehörigkeit" der Gebenden und Nehmenden - erfüllt sind, verdient die demokratische Republik, deren wir uns rühmen dürfen, noch nicht den Ehrentitel einer sozialen Republik.

Alkoholfrage und Parteipolitik Die Antialkoholbewegung ist international und unpolitisch. Ihr internationaler Charakter ist im Wesen unserer Kulturbewegung begründet. Nicht nur, daß der Gegenstand ihres Kampfes, die Alkoholseuche und die Trinksitten, eine internationale Erscheinung sind, wobei ja freilich in Bezug auf Quantität und Qualität dieser menschlichen Entartungen nationale Unterschiede oder sehr unrühmliche nationale „Eigentümlichkeiten" bestehen, ist auch ihr Kampf, so aussichtslos er oft bei staatlicher Isolierung ist, ebenso erfolgversprechend dank der Werbekraft des hier und da gegebenen ausländischen Vorbildes. Zu welcher Hoffnungslosigkeit wäre die Antialkoholbewegung in vielen alkoholdurchseuchten Ländern verurteilt, wenn sie nicht der moralischen, teilweise auch materiellen Unterstützung aus vorgeschritteneren, durch sichtbare Erfolge der Bekämpfung des Alkoholismus beispielgebenden Ländern teilhaftig wäre; es braucht nur erwähnt zu werden, welch wirksames Werbemittel für die Antialkoholbewegung aller Länder das Schweizer Alkoholzehntel, die dänische Einrichtung der Gemeindeabstimmung oder gar das nordamerikanische Alkoholverbot geworden sind. Minder verständlich ist hingegen der apolitische Charakter der Antialkoholbewegung, und in der Tat ist diese ihre Eigenschaft nicht in ihrem Wesen begründet, sondern historisch bedingt. Die Antialkoholbewegung mußte sich bisher rationellerweise in der Regel parteipolitisch neutral verhalten, weil sich die Parteipolitik oder anders ausgedrückt die politischen Parteien bisher in fast allen Staaten zum Alkoholproblem mehr oder weniger neutral verhalten oder wenigstens eine eindeutige Parteinahme pro oder contra vermieden haben. Wo und insoweit die politischen Parteien zum Alkoholproblem Stellung genommen haben, sind sie doch meist nur widerwillig, durch besondere Umstände gezwungen, aus ihrer Reserve in der Alkohol-

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frage herausgetreten und ist diese Stellungnahme meist entweder so zaghaft oder so widerspruchsvoll erfolgt, daß die parteipolitische Haltung im Gesamtkalkül doch wiederum den Eindruck der beabsichtigten, wenn auch nicht immer rein gewahrten Neutralität erwecken mußte. Eine Bestätigung dieser Erfahrungstatsache kann man auch darin finden, daß wohl die wenigsten, oft so überaus wortreichen Parteiprogramme zur Alkoholfrage, die wie auch die ernstzunehmenden Gegner der Antialkoholbewegung zugeben werden - eine wichtige, wenn nicht heute geradezu weltbewegende Kulturfrage geworden ist, auch nur mit einem Worte Stellung nehmen. Die politische Raison gebietet eben nur zu häufig, diese für die meisten Parteien heikle Frage zu umgehen. Die Parteigruppierung erfolgt bekanntlich bisher fast ausnahmslos nach anderen Gesichtspunkten als nach solchen der Alkoholfrage, und auch ernst zu nehmende Leute würden es heutigentags meist noch lächerlich finden, wenn die Worte: „Hie Alkohol - hie Abstinenz!" zu regelmäßigen Schlagworten im Kampf der politischen Parteien würden. Und doch ist die Sache so ernst und wird von mir so ernst gemeint, daß ich aus dieser Feststellung noch wichtige Folgerungen für eine zweckmäßige Taktik der Antialkoholbewegung ableiten, daß ich - um das Ergebnis dieser Betrachtung vorwegzunehmen, die Forderung einer - nicht unter allen Umständen, um jeden Preis, wohl aber unter gewissen Voraussetzungen zu vollziehenden Politisierung derAntialkoholbewegung aufstellen werde. Worum dreht sich in der Regel Parteipolitik? Ganz allgemein kann man sagen: um Fragen des buntesten Inhaltes und des verschiedensten Gewichtes; so bunten Inhaltes, daß gerade die Alkoholfrage unter den anderen Fragen gewiß nicht hervorstechen und eine Sonderstellung einnehmen würde; so verschiedenen Gewichtes, daß - wie schwer auch ein Abwiegen von politischen Werten ist - die Alkoholfrage im Verhältnis zur Mehrzahl der parteipolitischen Tagesfragen doch nicht als untergewichtig erscheinen kann. Die parteigeschichtliche Rolle der Losungen: „Hie Freihandel, hie Schutzzoll!" ist allbekannt, und niemand wird bestreiten, daß diese Losungen Fragen von außerordentlicher wirtschaftlicher Bedeutung aufrollen, neben denen sich die Fülle an Fragen der Tagespolitik schwerlich sehen lassen kann. Warum in aller Welt sollte aber die Alkoholfrage nicht dieselbe politische Rolle wie die Handelsfrage spielen und warum gar sollte sie sich neben der Fülle oft nichtiger parteipolitischer Tagesfragen nicht auch politische Bedeutung erringen können?!

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Die Gründe, warum die Alkoholfrage im Gegensatz zu anderen, oft viel minder bedeutungsvollen Fragen bisher eine so verhältnismäßig geringe parteipolitische Rolle gespielt hat, warum sie so spärlich in den Programmen politischer Parteien auftaucht, warum sie gar nur in den seltensten Fällen ein richtunggebendes, für eine politische Partei geradezu charakteristisches politisches Prinzip geworden ist, müssen hier ununtersucht bleiben. Hingegen sollen die Konsequenzen dieser Tatsache für die Haltung der politischen Parteien zur Alkoholfrage und für die Haltung der Alkoholgegner zu den politischen Parteien noch näher beleuchtet werden. Die Ausgestaltung oder Wandlung der historisch überlieferten Parteiprogramme mit ihrem gegebenen, mehr oder weniger dogmenmäßig erstarrten Inhalt erfolgt in der Regel in der Richtung des geringsten Widerstandes, bei zahlenmäßig starken Volksparteien in der Richtung von Forderungen, die bei der Masse Anklang finden können. Die Aufklärung der Massen ist aber bisher nur in wenigen demokratischen Ländern - die wenigen rühmlichen Ausnahmen sind allbekannt - soweit gediehen, daß auch so sich nennende fortschrittliche Parteien vom parteitaktischen Standpunkt es wagen könnten, die Forderung der Alkoholbekämpfung offen in ihr Parteiprogramm aufzunehmen und aus ihr ebenso Ernst zu machen, wie es aus parteitaktischen Gründen mit kulturpolitisch viel weniger wertvollen oder auch völlig wertlosen Forderungen geschieht. Die bessere Einsicht der Führer beugt sich in der Alkoholfrage nur zu leicht der mangelnden Einsicht der Geführten. Nun sind ja auch viele andere Parteiforderungen der Volksmasse von vornherein fremd und müssen erst von den Führern den Geführten vermittelt und mundgerecht gemacht werden. Begreiflicherweise überwiegen aber die den Parteigängern sympathischen Forderungen bei weitem die unsympathischen. Kaum eine Forderung ist aber leider selbst in „aufgeklärten" Ländern bei der Masse oder wenigstens der Mehrheit der Bevölkerung so unpopulär, wie die einer radikalen Bekämpfung des Alkohols. Infolge der bisherigen Neutralität der politischen Parteien in der Alkoholfrage sind nun in der überwiegenden Mehrheit der Länder die politischen Parteien in der gleichen Lage, daß die überwiegende Mehrheit ihrer Parteigänger einem radikalen Programme der Alkoholbekämpfung abgeneigt wäre. In dieser Situation sehen sich die politischen Parteien im Hinblick auf das mögliche oder wahrscheinliche Verhalten der Gegenparteien gezwungen, ihre bessere Einsicht dem Parteiinteresse zu opfern. Denn die eine Partei, die gesonnen wäre, durch gesetzliche Maßnahmen ihren Parteigän-

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gern rücksichtslos den Alkohol zu nehmen oder wenigstens einschneidend zu kürzen, könnte nur allzu leicht das Opfer der Demagogie einer anderen Partei werden, die in dieser Sachlage - mit der Pose, als gälte es die heiligsten Güter der Erde zu verteidigen, - den Standpunkt einnimmt, daß der Bevölkerung das „wohlerworbene Recht" auf das landesübliche Maß Alkohol „erhalten" bleiben müsse. Es gibt gewiß noch manches - vielleicht sogar auf seine Kultur nicht wenig eingebildetes - Völkchen, das, vor die Wahl gestellt, in seiner Mehrheit allen seinen politischen Grundsätzen die Annehmlichkeit" des Alkohols und demgemäß der alkoholgegnerischen die alkoholfreundliche Partei vorziehen würde. Nun ist es ja allerdings richtig und ein beredtes Zeugnis für die Werbekraft der alkoholgegnerischen Propaganda, daß jede - zum mindesten ihrem Programm nach - fortschrittliche Partei in einem fortgeschrittenen Land, die sozusagen „auf sich hält", auch der Antialkoholbewegung sozusagen Komplimente, wenn nicht gar darüber hinaus Konzessionen machen muß. Man ist selbstverständlich behutsam darauf bedacht, bei allem „verständnisvollen" Entgegenkommen gegenüber der rühmlich anerkannten „Kulturforderung" der Antialkoholbewegung den Bevölkerungsschichten, aus denen sich die eigenen Wähler rekrutieren, kein allzuschweres Opfer - gemeint ist das Opfer des Alkohols - zuzumuten. Auch kann man es z.B. hie und da erleben, daß, sagen wir, eine Bauernpartei das vorwiegend von der Arbeiterschaft eines Landes konsumierte Bier, hingegen die Arbeiterpartei desselben Landes den vorwiegend von der Bauernschaft desselben Landes konsumierten Wein dem „Kulturfortschritt" zu „opfern" bereit wäre, ohne daß sich aber diese beiderseitige teilweise, nur problematische Opferbereitschaft zu einer solchen aller sozialen Schichten und politischen Gruppen des Landes hinsichtlich des Alkohols in allen seinen Gestalten ergänzen würde. Das Fazit des Verhaltens der politischen Parteien in der Alkoholfrage ist dann meist: Viel Worte der Anerkennung und wenig wirkungsvolle Taten. Das Maximum an Versprechungen in Bezug auf den Kampf gegen den Alkoholismus, das der Alkoholgegner den gelegentlichen Äußerungen dieses oder jenes Parteiführers entnehmen mag, sieht man meist mit einem Minimum an Maßnahmen, die der Alkoholbekämpfung dienen, eingelöst. Die gesetzlichen Maßnahmen, mitunter wohl auch Scheinmaßnahmen, zu denen es bei dieser geistigen Haltung der politischen Parteien zu kommen pflegt, sind dann meist derart, daß zwar ein Alibi für die allfällige Anschul-

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digung geschaffen ist, daß die politische Partei die Kulturforderungen der Antialkoholbewegung verraten habe, daß aber die Alkoholkonsumenten und auch die Alkoholinteressenten im engeren Sinne keinen Grund zu dem Vorwurf haben, daß ihnen die in Frage kommende politische Partei durch ihre Haltung zum Alkoholproblem ernstlich unangenehm geworden sei.1 ***

Diese Feststellungen werden übrigens hier nur zu dem Zwecke gemacht, damit sich die Alkoholgegner, die sich in der angedeuteten Hinsicht nur zu leicht Illusionen hingeben, dessen besinnen, wessen sie sich nur allzu leicht - durchaus nicht notwendig - von Seite der politischen Parteien zu versehen haben, und danach ihre eigene Haltung gegenüber den politischen Parteien zweckmäßig zu bestimmen vermögen. Es liegt mir fern, an das Parteiwesen, diese bekanntlich nur allzu menschliche Einrichtung, in diesem Zusammenhang einen moralischen Maßstab anzulegen. Übrigens darf nicht übersehen werden, daß gewisse politische Parteien diese ihre Haltung in der Alkoholfrage bis zu einem gewissen Grade, sei es aus ihrem politi-

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Als bezeichnendes Beispiel für das schwankende Verhalten der politischen Parteien in der Alkoholfrage sei die Vorgeschichte des jüngsten österreichischen Gesetzes angeführt, das die Verabreichung von alkoholischen Getränken an Jugendliche bei Strafe verbietet und hoffen läßt, daß der Alkoholseuche hierzulande in einer ihrer verheerendsten Erscheinungsformen entgegengetreten wird. Die christlichsoziale Partei hatte im Nationalrat den Gesetzesantrag gestellt, den Alkoholausschank an Jugendliche unter 18 Jahren zu verbieten. Unmittelbar darauf stellte die sozialdemokratische Partei, die ihrer Tradition gemäß hinter ihrer konservativen Konkurrentin nicht zurückbleiben konnte, einen analogen Gesetzesantrag - unter Beschränkung des Verbotes auf das vollendete 16. Lebensjahr. Man muß anerkennen, daß die Gesetzesvorlage von beiden Parteien, richtiger von den Vertretern des Abstinenzgedankens in beiden Parteilagern, energisch betrieben wurde und daß die Antragsteller alles, was unter den gegebenen Verhältnissen den uninteressierten Parteigenossen und den auf das höhere Parteiinteresse bedachten, von „dringlicheren" Aufgaben erfüllten Führern abzuringen war, durchgesetzt haben. Das Fazit war, daß das Gesetz in der Form angenommen wurde, daß das Schutzalter nur bis zum 16. Lebensjahre dauert. Bei der Endabstimmung hatten sich die Sozialdemokraten die Forderung ihrer Gegner nach einem höheren Schutzalter zu eigen gemacht, und mußten - vermutlich nicht zu ihrer peinlichen Überraschung - die Erfahrung machen, daß diese weitergehende Forderung von derselben bürgerlichen Mehrheit niedergestimmt wurde, aus deren Mitte ursprünglich der weitergehende Antrag gekommen war. An solchen Kuriositäten des Parteibetriebes, die sicherlich nicht bloß in Österreich allein anzutreffen sind, kann der prinzipielle Abstinenzler immer wieder die Erfahrung machen, daß seine Kulturforderungen bei den politischen Parteien, selbst bei deren bestem Willen, nicht immer am besten aufgehoben sind.

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sehen Grundcharaker, sei es aus einzelnen ihrer parteipolitischen Forderungen zu rechtfertigen vermögen. Der Konservative könnte gegenüber der Zumutung, radikal gegen die Trinksitten aufzutreten, darauf verweisen, daß es gegen die Grundtendenz seines politischen Bekenntnisses verstoße, einen eingealterten Volksbrauch auszumerzen, wogegen ihm ja freilich eingewendet werden könnte, daß zwischen der Sanktionierung eines Volksbrauches und der Tolerierung eines volksschädlichen Mißbrauches unterschieden werden muß. Der Liberale wiederum - (nicht so aber auch, wie es neuerdings vorzukommen pflegt, ein grundsätzlicher Freund des staatlichen Interventionismus, namentlich ein Sozialist) - könnte der gleichen Zumutung entgegenhalten, daß die Methode des staatlichen Eingreifens in das Privatleben, zumal das Eingreifen mit solchen Verboten, wie sie die Antialkoholpropaganda im Sinne habe, seiner politischen Grundanschauung widerspreche, die sich viel mehr, wenn nicht einzig und allein von der durch Aufklärung geförderten Freiwilligkeit etwas verspreche; was unter manchen anderen zu dem Einwände Anlaß gibt, daß die Alkoholfreunde ja nicht isoliert leben und wirtschaften, sondern daß die gesamte Gesellschaft die üblen Folgen aus den „Annehmlichkeiten" für einen Teil der Gesellschaft tragen müsse, so daß ihr billigerweise nicht zugemutet werden könne, tatenlos zuzuwarten, bis sich dank einer leider oft nur wenig bemerkbaren, oft nur allzu schwächlichen Aufklärung jene erwartete Freiwilligkeit einstelle - oder auch nicht. Die Sozialdemokratie endlich, die manchem Alkoholgegner zu großen Erwartungen Anlaß gegeben hat und gegebenenfalls - bei Änderung der Mentalität eines Großteils ihrer Parteigänger - diese Erwartungen manchenorts voraussichtlich auch noch erfüllen wird, hat es vorläufig in nicht wenigen Ländern zuwege gebracht, die Wirkungen ihrer der Antialkoholbewegung vorwiegend freundlichen Haltung durch ein Mittel aus ihrem Prinzipienschatze zu paralysieren. Dieses Mittel ist bekanntlich die doktrinäre Ablehnung und Bekämpfung von Verbrauchsabgaben, wobei es manchmal gerade mit besonderer Schärfe angewendet wird, wenn die bürgerlichen Parteien - gewiß fast immer aus finanzpolitischen Rücksichten und kaum jemals mit Rücksicht auf eine erwünschte Einschränkung des Alkoholkonsums - eine radikale Besteuerung des Alkoholkonsums im Schilde führen. Nun ist ja gewiß die Alkoholkonsumsteuer kein ideales Mittel der Alkohol-

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bekämpfung, doch wird sie - wie jedwedes moralische Kampfmittel gegen den Alkoholismus - vom prinzipiellen Alkoholgegner doch immerhin, zumal wenn sie dank ihrer Höhe oder dank anderer Umstände unverkennbar prohibitiv wirkt, der völligen Unbeschränktheit des Alkoholkonsums vorgezogen. Der angebliche oder auch wirkliche Alkoholgegner jedoch, der in Ermangelung anderer Mittel der Alkoholbekämpfung auch dieses einzige Mittel mit dem doktrinären Argumente, daß,,Massenkonsum durch Besteuerung nicht verteuert" werden dürfe, um jeden Preis bekämpft, stellt sein eigenes alkoholgegnerisches Bekenntnis in Frage, denn damit wird ja das unter den gegebenen Verhältnissen nächstliegende, wenn nicht einzige Mittel, diesen unerwünschten, geradezu als schädlich anerkannten Massenkonsum einzuschränken, ausgeschlossen und wohl oder übel der vielleicht unbegründete Eindruck hervorgerufen, als sei die ganze widerspruchsvolle Haltung zum Alkoholproblem von vornherein darauf angelegt gewesen, eine Erschwerung des Alkoholverbrauches möglichst zu verhindern. Besonders auffällig wird der angedeutete Widerspruch, wenn zwischen den Verbrauchsabgaben in der Weise ein Unterschied gemacht wird, daß man dem Luxuskonsum, dessen Besteuerung erwünscht sei, als vermeintlichen Gegensatz den Massenverbrauch gegenüberstellt, dessen Besteuerung verpönt wird. Was wäre in höherem Grade Luxuskonsum - dabei allerdings zugleich auch Massenkonsum - als der Alkoholverbrauch, der nicht nur wie der andere Luxuskonsum - überflüssig, sondern anerkanntermaßen auch schädlich ist; warum weicht man aber dann der zwingenden Konsequenz einer Luxussteuer aus, deren Objekt der aufreizende Luxusartikel „Alkohol" wäre? Der einzige, mitunter wohl sogar unbewußte „Grund" dieses Verhaltens ist uneingestanden der, daß es im eigenen Lager eine Menge Interessenten gibt, denen man die Freude am Alkohol nicht verderben möchte. Und aus demselben „Grunde" gelangte man gelegentlich sogar zu der paradoxen Aufstellung, daß das Ansinnen von Opfern von Seite der anderen Parteien an der Opferunfähigkeit der Schichten, aus denen sich die eigene Partei rekrutiert, notwendig scheitern müsse, denn der Alkoholverbrauch, der unbestreitbarer- und unbestrittenerweise im eigenen Parteikreise besonders stark ist, ist doch selbstverständlich - eben, weil Massenverbrauch - kein Luxusverbrauch, der entbehrt und darum geopfert werden könnte, sondern doch offenbar eine Lebensnotwendigkeit, die man vor allen Anfechtungen von Parteigegnern oder Alkoholgegnern sicherstellen muß?! Wenn es sich um die Schädlichkeit, UnWirtschaftlichkeit oder eine sonstige

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üble Eigenschaft des Alkohlverbrauches handelt, pflegt der Alkoholgegner auch von dieser Seite andere Urteile zu hören, als wenn es sich um die naheliegende Konsequenz aus solchen Urteilen, nämlich um Maßnahmen zur Einschränkung des Alkoholverbrauches handelt. Nicht selten kann man auch diese inkonsequente Haltung namentlich der politischen Vertretung der Arbeiterschaft mit der Rücksicht entschuldigen hören, welche die politische Vertretung den im Alkoholgewerbe beschäftigten Arbeitnehmern schuldig sei. Es ist geradezu ein Lebensinteresse der Antialkoholbewegung, daß mit diesem Argumente, welches sie geradezu als sozialpolitisch rücksichtslos zu charakterisieren geeignet ist, die Sachlage nicht verdunkelt werde. Der Antialkoholbewegung liegt nichts ferner, als ihr Ziel um den Preis wirtschaftlicher Existenzen erreichen zu wollen - viel eher könnte sie es ihren Kritikern zum Vorwurf machen, daß sie die völlige Unveränderlichkeit wirtschaftlicher Existenzen um den doch zu teuren Preis eines Verzichtes auf die Alkoholbekämpfung sichern wollen. In der Tat steht nur eine der Umstellung der Alkoholindustrie auf andere Berufszweige analoge Berufsänderung der in der Alkoholindustrie beschäftigten Menschen in Frage, eine Berufsänderung, die ja für viele Menschen eine harte Zumutung sein mag, aber für diese Menschen doch darum keineswegs mit einer Verschlechterung ihrer Lebenslage verbunden sein muß. Und so weit wirklich durch eine radikale Alkoholbekämpfung einzelne Existenzen in Frage gestellt werden, ist es für den Alkoholgegner fraglos, daß sie gegen die Folgen dieser Maßnahmen sichergestellt werden müßten. Derlei sozialpolitische Aufwendungen würden durch die materiellen Vorteile einer radikalen Alkoholbekämpfung reichlich aufgewogen werden. Wenn nichtsdestoweniger nicht selten die Rücksicht auf die Existenz gewisser Arbeitnehmergruppen als Grund für eine parteipolitische Zurückhaltung in der Alkoholbekämpfung angeführt wird, so ist diese Behauptung dahin zu berichtigen, daß höchstens eine gewisse Beeinträchtigung gewisser Arbeitnehmerkreise zu besorgen wäre. Die Angestellten solcher Betriebe, welche die ärgsten Auswüchse des Alkoholismus fruktifizieren - man denke z.B. an Nachtlokale und dergleichen Schlemmerstätten, - würden freilich bis zu einem gewissen Grade sozusagen „Opfer" jeder halbwegs ernstlichen Alkoholbekämpfung sein müssen, da derartige Lokale gründlich auszurotten, eine der ersten Aufgaben einer ernstlichen Alkoholbekämpfung sein müßte, und es dem Staate doch schwerlich zugemutet werden könnte, dem Personal

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solcher Lokale nach dem erzwungenen Berufswechsel das bisherige, der Höhe nach in der Regel nichts weniger als „proletarische" Einkommen zu garantieren. Sich durch solche Erwägungen im Kampf gegen den Alkoholismus bestimmen zu lassen, wäre etwa damit gleichbedeutend, daß man die Prostitution sanktonierte, weil sie gute Verdienstmöglichkeiten schaffe. Es soll hier die Feststellung nicht unterdrückt werden, daß es geradezu eine unverzeihliche Schwäche ist, wenn sie die politische Vertretung der Arbeiterschaft durch das Begehren dieser Kreise, in ihren Verdienstmöglichkeiten nicht beeinträchtigt zu werden, vom Angriff auf diese besonders hervorstechenden Bastionen des Alkoholismus, - womit zugleich auch gewisse Auswüchse des Kapitalismus getroffen wären, - abhalten läßt. Sie verdienen einfach diese weitgehende Rücksicht nicht. Wenn man sie neuestens hie und da als „Opfer" des mit dem Alkoholismus verbrüderten Kapitalismus hinzustellen sucht, so ist diese Opfertheorie viel zu gesucht, als daß sie überzeugen könnte. Es darf nicht übersehen werden, daß diese „Opfer" fast ausnahmslos nicht gezwungen waren oder sind, sich in dieser Weise zum Opfer zu bringen, sondern - wenigstens individuell - die Möglichkeit gehabt hätten, wie die ungeheure Mehrheit ihrer Klassengenossen minder anstößige, wenn auch minder einträgliche Arbeitsverhältnisse einzugehen. Man sieht, auch diese Rücksicht erklärt höchstens, aber rechtfertigt nicht das von den Alkoholgegnern so oft wahrgenommene Versagen selbst solcher politischer Parteien, von denen sich die Antialkoholbewegung Hoffnungen gemacht hat.

Nun kam aber im Gefolge des Weltkrieges in gewissen Ländern der Antialkoholbewegung ein unerwarteter Bundesgenosse, der die Stellung dieser Bewegung gegenüber verantwortungsbewußten politischen Parteien sehr stärken muß und die politischen Parteien selbst allmählich zwingt, zur Alkoholfrage entschiedener Stellung zu nehmen: Wir meinen die Wirtschaftsentwicklung, namentlich die Valutakatastrophe der im Kriege unterlegenen, im „Frieden" zerstückelten Länder. Die wirtschaftliche Lage, die mehr oder weniger weite, ehedem an eine bessere Lebenshaltung gewöhnte Bevölkerungskreise selbst von der Befriedigung von Existenzbedürfnissen ausschließt, läßt jedem Einsichtigen, der auch die sonstigen Erwägungen der Antialkoholpropaganda nicht teilt, den möglichst allgemeinen Verzicht

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auf das Luxusbedürfnis des Alkohols als dringend wünschenswert erscheinen. Die Einsicht, daß zum mindesten die Einfuhr von ausländischen, in hochwertiger Valuta zahlbaren alkoholischen Getränken, wenn schon nicht der Konsum des im Inland erzeugten Alkohols verhindert werden müsse, setzt sich in immer weiteren Kreisen durch - und auch die politischen Parteien können sich dieser Einsicht nicht mehr verschließen. Daß ein dieser Einsicht gemäßes Handeln mitunter seine großen Schwierigkeiten hat - um so größere, je schwächer der Staat ist, der so einsichtsvoll handeln will - , daß zum Beispiel politisch und wirtschaftlich stärkere Staaten einen schwächeren, auf die Einfuhr von lebensnotwendigen Gütern angewiesenen Staat zwingen, gelegentlich der Einfuhr dieser Güter auch den Alkoholüberschuß des anderen Landes in möglichst großen Mengen zu übernehmen, wie gegenwärtig z.B. Ungarn die Republik Österreich, ist eine Erfahrung, die die Antialkoholbewegung leider nicht zum erstenmale macht. In dem durch eine solche Erfahrung betroffenen Lande wird hiedurch die Antialkoholbewegung übrigens moralisch nur gestärkt. Wo die Wirtschaftslage dazu zwingt, den Konsum, oder, wie man sich bescheidener, wenn auch nicht zutreffender auszudrücken pflegt, den „Überkonsum" an alkoholischen Getränken einzustellen oder wenigstens einzuschränken, wird die Alkoholfrage, die bis dahin in der öffentlichen Meinung eines Landes mehr oder weniger als „Privatsache" erschienen sein mochte, unversehens zum „Politikum". Die politischen Parteien eines Landes mögen die von der Antialkoholpropaganda noch so überzeugend vorgeführten hygienischen, bevölkerungspolitischen oder sonstigen zahlreichen Gründe, die gegen den Alkohol sprechen, in den Wind schlagen, an zwingenden wirtschaftlichen Notwendigkeiten, von deren Erfüllung geradezu die Existenz von Volksmassen abhängt, kann aber eine Volkspartei nicht achtlos vorübergehen, ohne selbst ihre Existenzberechtigung zu verlieren. Unter solchen Umständen ist eine verantwortungsbewußte Partei zum Handeln gezwungen - oder sie kann moralisch zum Handeln gezwungen werden, selbst wenn die Mehrheit ihrer Wähler noch nicht zu der Einsicht gereift ist, daß der Alkohol als der gefährlichste innere Feind mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Damit eröffnen sich nun neue Aspekte für die Antialkoholpropaganda.

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Es mag an sich schon unter Umständen, die für jeden Fall, für jedes Land gesondert zu beurteilen sind, im Interesse größerer, sozusagen greifbarer Erfolge der Bewegung wünschenswert sein, die Propaganda nicht bloß gewissermaßen an die unorganisierten Menschen, sondern auch an die politischen Organisationen zu richten, kurz also die Bewegung in gewissem Sinne zu politisieren. Darunter verstehen wir aber selbstverständlich nicht etwa, daß sich die Alkoholgegner selbst als politische Partei etablieren sollten, ja nicht einmal, daß sie zweckmäßigerweise in jedem Falle für eine der bestehenden politischen Parteien Partei ergreifen, sondern daß sie gut täten, ein offenes Bekenntnis und eine unzweideutige Haltung der politischen Parteien zur Alkoholfrage zu provozieren und zu ihren Forderungen an die Gesetzgebung, die, so lange sie nicht von einer politischen Partei aufgegriffen sind, ja doch bloße fromme Wünsche zu bleiben pflegen, sich der Unterstützung der politischen Parteien zu versichern. Von einer solchen „Politisierung" ist nämlich die Antialkoholpropaganda in nicht wenigen Ländern noch weit entfernt. Hiebei könnten jene alkoholgegnerischen Organisationen, die zugleich parteipolitisch orientiert sind, gute Mittlerdienste zwischen der Gesamtheit der Antialkoholgegner und den politischen Parteien leisten. Die Parteien hätten alle Grund, ihren zugleich dem Lager der Alkoholgegner angehörenden Parteigängern mehr als bisher Rechnung zu tragen, und diese Parteigänger wiederum hätten mitunter Grund, entschiedener, insbesondere durch Beeinflussung ihrer Parteifreunde, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die Vereinbarung der beiden heterogenen Bekenntnisse darf nicht so erfolgen, daß die alkoholgegnerische Stimme aus Parteidisziplin verstummt. Es kann nicht entschieden genug betont werden, daß die Frage der Politisierung der Alkoholbewegung, richtiger: die Frage ihrer Mediatisierung durch die Politik keine prinzipielle Forderung, sondern eine opportunistische Erwägung ist. Der Antialkoholbewegung kann unter bestimmten Voraussetzungen durch Beschreitung dieses in der Mehrzahl der Fälle von ihr noch nicht betretenen, ja geradezu gescheuten Weges viel gedient sein und nur unter dieser Bedingung soll dieser Weg empfohlen sein, wobei rückhaltlos zugegeben sei, daß dieser Weg unter Umständen ein gefährlicher Abweg sein kann. Insbesondere liegt die angedeutete Politisierung der Bewegung unter der Voraussetzung nahe, daß der Einfluß der politischen Parteien den der Volksmassen überwiegt und zugleich die Aufklärung der

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Parteien weiter fortgeschritten ist als die der großen Massen. Während in Staaten mit alter demokratischer Tradition die Antialkoholbewegung der vermittelnden Rolle der politischen Parteien entraten und sich damit begnügen kann, im Volke durch unmittelbare Fühlungnahme an Boden zu gewinnen, zumal wenn die gesetzliche Entscheidung über die Alkoholfrage beim Volke gelegen ist, hat in jungen Demokratien mit ausgeprägter Parteiherrschaft, wo zugleich die politischen, parlamentarischen Parteien es sind, die letztlich über die legislativen Wünsche der Antialkoholbewegung zu verfügen haben, diese unsere Bewegung - wie wichtig trotzdem auch die Aufklärungs- und Werbearbeit im Volke bleibt - raschere Erfolge zu erwarten, wenn sie die politischen Parteien zu einem entschiedenen Bekenntnis und offenen Kampfe wenigstens gegen die ärgsten Auswüchse des Alkoholismus gewinnt; gewinnt - wenn auch auf dem Wege eines moralischen Zwanges, der die politischen Parteien nötigt, offenen oder versteckten Rücksichten für die verschiedenen Alkoholinteressenten (sei es gegenüber dem Alkoholkapital, sei es gegenüber den Alkoholkonsumenten im eigenen Lager) zu entsagen. Besonders günstig liegen die Chancen für eine solche politische Aktion, wenn die Alkoholgegner eines Landes, obzwar sie ziffernmäßig vielleicht nicht sehr ausschlaggebend sind, doch einen beachtenswerten sozialen Faktor darstellen, dem die politischen Parteien nicht selten durch die grundsätzliche Anerkennung ihrer legislativpolitischen Forderungen verbunden sind. In dieser Situation haben es zum guten Teil die Träger der Antialkoholbewegung in der Hand, durch ständige Beobachtung und Beeinflussung der politischen Parteien die endliche Honorierung ihrer legislativpolitischen Forderungen zu erreichen. Zumal unter den gegenwärtig in großen Teilen Europas herrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen, die die Förderung oder auch nur Duldung des Alkoholismus als einen an Landesverrat grenzenden Leichtsinn erscheinen lassen, kann unter den Augen wachsamer alkoholgegnerischer Organisationen eine Partei, die sich nicht die schwersten Blößen geben w i l l , alkoholgegnerische Forderungen schwerlich in den Wind schlagen. Möglicherweise wird sogar manche Partei, die für die Antialkoholbewegung Verständnis hat, eine lebhafte Offensive von dieser Seite deswegen begrüßen, weil sie ihr gegenüber eigenen minder verständnisvollen Parteiangehörigen einen gewissen Rückhalt geben kann. Wenn aber eine Partei nach wie vor die bessere Einsicht der Rücksicht auf die Stimmung der Wählerschaft opfert, dann verdient sie

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von Seite der Alkoholgegner keine Schonung, dann soll sie gewärtig sein, daß die Widersprüche in ihrer Haltung eine so entschiedene, rücksichtslose Kritik finden, daß sie letzten Endes vielleicht unter dem Zwange dieser Kritik ihre inkonsequente Haltung revidieren und positive Taten zur Bekämpfung der Alkoholseuche prästieren muß. Wo die Alkoholfrage geradezu zur Existenzfrage von Staat und Volk geworden ist, indem der Alkoholkonsum die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen in Frage stellt, muß ein entschiedenes Eingreifen der Alkoholgegner zu vollem Erfolge führen, da keine wirkliche Volkspartei riskieren kann, mit Grund des Volksverrats geziehen zu werden. Kein Zweifel, der prinzipielle Alkoholgegner zöge andere Wege der Realisierung seines Ideales vor: Freiwilligkeit wäre ein wünschenswerteres Mittel als der - wenn auch indirekte - Zwang. Dieses Mittel versagt aber notwendig gegenüber Menschen, die unverbesserlich dem Alkoholteufel verfallen sind; versagt auch gegenüber Menschen, die nicht so viel Gemeingefühl aufbringen, um dem Vergnügen und Luxus, den der Alkohol bedeutet, den schon durch die Wirtschaftslage gebotenen Abbruch zu tun. Da muß die Aufklärungsarbeit der Alkoholgegner notwendig von Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen begleitet und unterstützt sein.2 Diese Notwendigkeit drängt die Alkoholbewegung da und dort zwangsläufig auf den Boden der Politik und bedeutet zugleich die Rechtfertigung dafür, daß sie - im eminenten Sinne eine Kulturbewegung - im Interesse ihrer höheren Zwecke sich des politischen Mittels bedient. Verliert somit die Antialkoholbewegung durch diese Art von Politisierung nichts an innerem Gehalt, so kann die Alkoholfrage für die politischen Parteien, die zu ihr Stellung nehmen, nur eine Bereicherung ihres Parteiprogrammes und damit einen Gewinn an kulturellem Wert bedeuten.

2 Vgl. den Artikel der Frau Dr. Julie Schall-Kassowitz „Die Gesetzgebung und Verwaltung im Dienste der Alkoholbekämpfung" in der von mir herausgegebenen „Zeitschrift für Verwaltung", Wien, Verlag Perles, Jg. 1921, 5. und 6. Heft.

Sozialpolitik Als bemerkenswerteste gesetzgeberische Leistung auf dem Gebiete der Sozialpolitik in der ganzen, sozialpolitischen Maßnahmen im allgemeinen nicht günstigen Ära seit dem Abschluß des Genfer Übereinkommens verdient das Bundesgesetz vom 26. September 1923, BGBl. Nr. 543, über die Erhöhung gewisser Geldforderungen zwischen nahen Angehörigen (Fami liengläubigergesetz ) hervorgehoben zu werden. Das Gesetz sieht bekanntlich vor, daß gewisse Geldforderungen gegenüber nahen Angehörigen (Ehegatten und Verwandten sowie Verschwägerten bis zum vierten Grade, endlich Wahlkindern) erhöht werden können, wenn der Betrag der Geldleistung vor dem 1. September 1922 festgesetzt worden ist, dieser Betrag infolge der späteren Geldentwertung zu dem Werte dessen, was der Schuldner erhalten hat, in auffallendem Mißverhältnisse steht und die wirtschaftliche Lage des Schuldners nicht ungünstiger ist, als die des Gläubigers; die praktisch wichtigsten Fälle solcher erhöhungsfähiger Geldforderungen sind wohl Geldvermächtnisse, ferner die bei der Erbteilung und bei Zuteilung des Pflichtteiles vom Übernehmer der Verlassenschaft gemäß dem damaligen Wert einem nahen Verwandten versprochenen Geldleistungen. Damit ist eine wertvolle, wenn auch auf ein Jahr befristete Handhabe geboten, mittels deren die große Gruppe pauperisierter Familiengläubiger von ihren wirtschaftlich stärkeren, faktisch fast entschuldeten Familienschuldnern eine wenigstens teilweise Valorisierung ihrer Ansprüche erzielen kann. Die Praxis der Bezirksgerichte (die im außerstreitigen Verfahren über die gemäß dem Gesetze erhobenen Ansprüche zu entscheiden haben) wird freilich, so viel man sieht, dem Zwecke des Gesetzes nicht voll gerecht. Nicht nur, daß es dem Schuldner in seiner bequemen Lage des beatus possidens allzuleicht gelingt, die gerichtliche Entscheidung zu verschleppen, wird auch in den einer Entscheidung zugeführten Fällen fast niemals das ursprüngliche Weitverhältnis hergestellt, sondern dem Schuldner meist Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 57. Jg. (1924), S. 22-23.

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ein beträchtlicher Profit aus der Geldentwertung zugebilligt. In den zahlreichen Fällen, wo z.B. der männliche Erbe ein übervalorisiertes Grundstück besitzt, die weiblichen Geschwister aber mit Geldforderungen abgefunden wurden, die oft ihren einzigen Lebensunterhalt darstellen, kann eine solche zarte Berücksichtigung des Schuldners vor dem Gläubiger nicht befriedigen. Über der aktuellen soll die prinzipielle Bedeutung des Gesetzes nicht übersehen werden. Es hat in die frivole Rechtsgleichung „Krone = Krone" eine Bresche geschlagen, die nach diesem Vorbild erweitert werden kann und soll. Durch das Vorbild unseres Gesetzes ist dem Valorisierungproblem zugleich die Richtlinie vorgezeichnet, die Valorisierung, die aus wirtschaftsund finanzpolitischen Rücksichten hinter einer generellen Vollvalorisierung gewiß weit zurückbleiben muß, an sozialpolitischen Rücksichten, an der Bedürfnisfrage zu orientieren und demgemäß den wirtschaftlich Schwächsten zu gute kommen zu lassen. Zu begrüßen ist jedenfalls auch die im Gesetz zutage tretende prinzipielle Einsicht, daß die Sozialpolitik auch vor dem Kreise ehemaliger Besitzender, die, wenn auch nicht nach ihrer materiellen Lage, so doch nach ihrer Ideologie, vorwiegend noch dem „Bürgertum" zugehören, nicht Halt machen darf. Die weitere Einsicht steht allerdings noch aus, daß man ebenso wie privaten Schuldnern auch öffentlichen Korporationen, solange sie ihre Steuerquellen noch nicht gänzlich ausgeschöpft haben, unter Umständen Valorisierungen ihrer Schulden zumuten müßte; zumal in solchen Fällen, wo leichtgläubige kleine Sparer durch täuschende Anpreisungen verleitet wurden, unter die Gläubiger eines schon in schleichendem Bankerott befindlichen Staates zu gehen ...

Enthaltsamkeit und Volkstum1 Der Rückblick in eine entfernte Vergangenheit, wo geschichtlich vertraut gewordene Ereignisse und Gestalten, Vergangenes und Vergangene uns Lebende gewissermaßen zum Verweilen einladen, mag im allgemeinen gewiß verlockender sein als der Vorblick in eine entfernte Zukunft, der wir Lebende längst Verstorbene sein werden, der die Gegenwart alte Vergangenheit sein wird. Das Ausdenken des Rückblickes künftiger Geschlechter auf die Jetztzeit eröffnet aber mitunter vom Gegenwartsstandpunkt ungeahnte Kriterien für die Beureilung der Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, des Wertes und Unwertes von Gegenwartsfragen und Gegenwartsforderungen, deren Betrachtung aus der Gegenwartsperspektive wegen des Mangels eines entsprechenden Abstandes gewissermaßen mit optischen Täuschungen verbunden ist. Die Perspektive des Jahres 19250, um nur eine entfernte Jahreszahl zu nennen, ist in Anbetracht des dazwischenliegenden, für die Naturais die eigentliche Weltgeschichte zwar winzigen, für die Menschheitsgeschichte aber ungeheuren Zeitraumes so schwierig vorzustellen, daß sie hier auch nicht andeutungsweise gezeichnet werden soll; ein Blickpunkt, von dem aus unsere Geschichtsepochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit zu einer grauen Vergangenheit zusammenschrumpfen läßt, da von ihm aus ganze Völkerfolgen zu übersehen sind, das geistige Auge nicht einmal an dem für eine ganze Nation Bedeutsamen haften, sondern nur das die ganze Menschheit, ihr Werden und Vergehen Berührende hervortreten. Viel leichter vorstellbar wird uns schon etwa die Perspektive des Jahres 3850, von dem uns immerhin „nur", sagen wir, das Lebensalter einer Nation trennt, die vom Völkerschicksal durch Lebenskraft begünstigt ist. Auch von diesem Standpunkt schrumpfen zahlreiche ernst gemeinte Gegenwartsprobleme zu

Deutscher Alkoholgegner, 24. Jg. (1925), S. 169-177. 1 Vgl. auch meinen Artikel „Alkoholfrage, Nationalismus und Internationalismus", Internationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus 1925, Heft 3/4.

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verschwindenden Problemchen zusammen, wenn sie nicht überhaupt ins Bereich des Aproblematischen versinken, und was die Historie mit liebevoller aber undankbarer Sorgfalt ans Tageslicht hebt, mag bis dahin vom Laufe der Geschiche, die rastlos Geschehnis auf Geschehnis häuft und somit gewissermaßen Totengräber der Gegenstände ihrer Wissenschaft ist, in Vergessenheit versenkt sein. Aber aus diesem Meere von Geschehnissen, aus dem Wogen von Forderungen und Erfüllungen tauchen für die Blicke einer alternden Nation mit psychologischer Notwendigkeit gerade jene Momente als besonders beachtenswert und bedeutsam hervor, denen die Nation ihre Langlebigkeit, ihre Generationen umspannende Vergangenheit verdankt. In dieser innernationalen wie übrigens auch in jener übernationalen Perspektive kommen nun gewiß vor allem die Ideale des Friedens als der Voraussetzung für alle soziale und nationale Kultur, der Naturverbundenheit als einer Reaktionserscheinung gegen die Überspannungen zivilisatorischen Fortschrittes und nicht zuletzt auch der Enthaltsamkeit in ihren verschiedenen Verzweigungen erst zur gebührenden Geltung, zu einer Einschätzung, für die eine junge Nation nicht reif ist. In dieser Beleuchtung zeigen sie sich auch allem Hohn auf „sinnlose, lebensverneinende Askese" zum Trotz als lebensbejahende, lebenserhaltende, physisch und psychisch das Leben erhöhende Prinzipien. Bekanntlich war schon oft Genußsucht, aber noch niemals freiwillige Entsagung entbehrlicher Genüsse Todesursache von Völkern. Und so gilt wohl auch für einen freilich nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt in der Geschichte eines jeden Volkes: Entweder der Alkoholismus wird überwunden oder das Volk wird nicht mehr sein. Es mag zweifelhaft und hier dahingestellt sein, ob der Alkohol für das Einzelleben eine lebensverkürzende Rolle spielt, in der Geschichte eines ganzen Volkes ist er aber gewiß ein lebensverkürzender Faktor. Und so müßte denn, wer immer Zukunftshoffnungen eines Volkes schmiedet, wer ein nationales Programm von weiter Sicht errichtet, es auf die Nüchternheit als eine der Voraussetzungen fundieren und vor allem dieses Ziel erstreben. Solche Erwägungen eröffnen der kulturpolitischen Bewegung der Alkoholgegner ermutigende Aussichten. Wie mancher bedeutende Mensch, dessen Teil bei Lebzeiten nichts als Unverständnis seiner Mitlebenden ist, trotzdem unverdrossen an seiner selbst gesteckten Lebensaufgabe schafft, und zwar in der Gewißheit schafft, daß sich, wenn schon nicht er selbst in seiner Mitwelt, dann doch wenigstens sein Lebenswerk in einer verständigeren Nachwelt durchsetzen wird, so kann auch die Nüchternheitsbewe-

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gung, unbeirrt durch alle Enttäuschungen der Vergangenheit, Bezweiflungen und Anfechtungen der Gegenwart, ihren Weg zum Ziele alkoholfreier Kultur voll bester Hoffnungen auf die Zukunft verfolgen. Hat doch unsere Bewegung, die noch vor wenigen Jahrzehnten von der öffentlichen Meinung aller Völker als Utopie belächelt und verspottet wurde, heute in zahlreichen Staaten namhafte, staatenweise freilich sehr ungleiche praktische Ergebnisse und die große Wandlung der öffentlichen Meinung aufzuweisen, daß sie überall ernst genommen wird - sei es als „Gefahr" für die Freiheit des Lebensgenusses, sei es als Fortschritt in der Lebenskultur. Viele Mäßigkeitsfreunde , die sich noch nicht zu voller Enthaltsamkeit durchzuringen vermochten - diese Voraussetzung trifft für den Großteil der deutschen Intellektuellen zu - , ahnen oder geben offen zu, daß mit dem Programm der unbedingten Alkoholgegner eine Aufgabe gestellt ist, die der höchsten Achtung und Beachtung wert sei, für die sie aber entweder überhaupt die menschliche Natur oder nur die Gegenwart nicht stark genug erachten, weil sie persönlich nicht stark genug sind, die als gut erkannte Forderung in eigener Person zu verwirklichen. Diese praktischen und moralischen Erfolge haben die Annahme des bloß utopischen Charakters eines Programmes, den Alkohol als menschliches Genußmittel auszuschalten, schwer erschüttert. Die aus der Erfahrung geschöpfte Überzeugung, daß eine mehr oder minder ferne Zukunft die Enthaltsamkeitsbewegung als eine jener Kräfte würdigen wird, die zusammengewirkt haben werden, um die Lebenskraft nicht nur der Menschheit, sondern auch der eigenen Nation in eine ferne Zukunft ungebrochen fortzupflanzen, ist geeignet, unsere gegenwärtige moralische Stellung zu stärken. Wir dürfen für die Enthaltsamkeitsbewegung in Anspruch nehmen, daß sie dem nationalen Ideale mindestens ebenso treu und wohl mit mehr Erfolg dient, als irgendein sonstiger „Anti"oder ,,-ismus", der den Dienst um die Nation für sich gepachtet zu haben vermeint; wir dürfen sie in eine Linie mit sonstigen Strömungen stellen, die zusammen die nationale Kultur erstreben und sie durch dieses Streben zum Teile selbst darstellen.

Im Leben des deutschen Volkes hat seit jeher der Alkohol eine besondere Rolle gespielt. Man tut freilich dem Deutschen Unrecht, wenn man ihn etwa als den stärksten Trinker oder als den wärmsten Freund des Alkohols unter den Europäern kennzeichnet, und er tut sich selbst Unrecht, wenn er sich

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hie und da prahlerisch für einen solchen ausgibt oder hält. Auch andere europäische Völker sind keine Alkoholverächter und haben manche Aussichten, in diesem „edlen Wettkampf 4 das deutsche Volk zu übertrumpfen eine Ehre, die wir Deutsche ihnen vom nationalen Standpunkt ruhig gönnen dürfen. Auch daß der Deutsche seine nationalen und Familienfeste, Hochzeiten wie alle hohen Zeiten mit geistigen Getränken zu feiern pflegt, daß ihm Alkohol Voraussetzung schier aller Geselligkeit ist, hat er mit anderen gemeinsam. Selbst der Mißbrauch der Kunst, vor allem der Lyrik, zur Verherrlichung des Alkohols, ist bekanntlich durchaus nicht eine Eigentümlichkeit der Deutschen. Die bei sonst tiefen und durchgeistigten Dichtern anzutreffende Geschmacklosigkeit, in den verschiedensten Varianten den „deutschen Wein" zu besingen - ein Ungeist, der dann voll bewußt wird, wenn man sich die poetische Verklärung anderer, mindestens gleichwertiger Genußmittel und den Weingesang als bloße Teilerscheinung einer allgemeinen Lebensmittellyrik vorstellt - hat in den alkoholischen Musen anderer Völker „geistige" Vorbilder. 2 Für den Deutschen oder wenigstens für den, der als typisch deutsch gilt, scheint mir aber eine gewisse gefühlsmäßige Beziehung zum Alkohol charakteristisch zu sein; neben der Freude am Genuß geradezu eine Freundschaft über den Genuß hinaus; die Annahme, als sei der Alkohol ein charakteristisches Ausdrucksmittel des Deutschtums. Symptomatisch dafür ist, daß der Alkoholgnuß durchaus nicht dem Geschmack und Belieben anheimgestellt, sondern in sinnlose Formen beschämender Trinksitten gezwängt ist, von denen sich selbst der bewußte Alkoholgegner nur schwer zu emanzipieren vermag. Wenn der Deutsche das Bekenntnis zum Deutschtum ablegt oder es bekräftigt, bedient er sich mit Vorliebe des Alkohols. Die deutsche Jugend, das deutsche Studententum glaubte bis vor kurzem fast ausnahmslos, dem nationalen Ideale Festigkeit im Alkoholgenusse - selbst über jene Grenze hinaus, wo für irgendeinen Alkoholfreund von „Genuß" die Rede sein kann, - schuldig zu sein und den nicht „Trinkfesten" als national minderwertig abtun zu dürfen. Erst in neuester Zeit sind neue Ideale, im Gegensatz zu Idealen des Genusses auch Ideale freiwilliger

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Auch die beliebte lyrische Verklärung des Alkohols als „Sorgenbrecher" - wie man mit poetischer Lizenz den wahren Sorgenmacher nennt - macht diese Art Pseudokunst gewiß nicht echter.

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Enthaltsamkeit in der Studentenschaft in Erscheinung getreten, aber bezeichnenderweise werden die Träger dieser Ideale von der Gegenseite mitunter als national minder verläßlich verdächtigt. Am bezeichnendsten für die - man kann nicht anders sagen als - alkoholisierte Mentalität, welcher Nationalität und Alkoholbejahung als irgendwie zusammengehörig erscheinen, ist die Tatsache, daß bei uns auch viele überzeugte Alkoholgegner man weiß nicht recht wem - das Opfer gelegentlichen Alkoholgenusses schuldig zu sein vermeinen, Zwangslagen vorgeben, in denen sie - sehr gegen Geschmack und Überzeugung - zu gewissermaßen nur andeutendem Alkoholgenuß gezwungen seien (wogegen der radikale Alkoholgegner bewußten Alkoholgenuß in jeder Lage ablehnt). Auch die Erscheinung findet sich und zeugt für die Alkoholbefangenheit der öffentlichen Meinung, daß prinzipientreue Alkoholgegner nicht selten ihr Verhalten irgendwie anders als mit ihrem bloßen Prinzipe begründen zu müssen vermeinen, z.B. gesundheitliche Gründe für die Verweigerung des Alkohols vorschützen, also aus der Tugend eine Not machen, statt sich zur „Tugend", zu ihrem Prinzipe, rückhaltslos zu bekennen. Selbst dem bewußten und prinzipientreuen Alkoholgegner gilt sein Verhalten mitunter als der nationalen Tradition widersprechend oder bestenfalls als vom nationalen Standpunkte indifferent, und er überläßt dem Alkoholfreund wie selbstverständlich die nationale Geste, die dem Alkoholgegner viel besser zustände. Wann kann man die Enthaltsamkeit mit nationaler Pflichterfüllung begründet hören? Und doch hätte man als Deutscher allen Grund, den Alkohol zu bekämpfen und zu meiden nicht obwohl, sondern gerade weil man Deutscher ist! Es ist eine unbegreifliche Einseitigkeit und Schwäche der alkoholgegnerischen Propaganda, daß sie noch immer vorzugsweise die materiellen und weniger die ideellen Schäden des Alkohols, und mehr die Nachteile, die der Alkohol dem einzelnen , als die er der Gesamtheit , vor allem der Nation bringt, ins Licht zu rücken pflegt. Die Gefährdung der Volksgesamtheit gibt der alkoholgegnerischen Propaganda die stärkeren Argumente. Der Gefährdung des einzelnen kann gewiß durch Mäßigkeit vorgebeugt werden, aus der Gefährdung der Gesamtheit gibt es nur ein Entrinnen durch völligen Verzicht, weil von den dem Alkohol Verfallenen der Appell zur Mäßigkeit wirkungslos abprallt. Insbesondere die Forderung nach dem staatlichen Alkoholverbot kann schlüssig nur damit begründet werden, daß man den Alkohol als sozialen und nationalen Schädling entlarvt. In den folgenden Betrachtungen wird die Alkoholfrage überhaupt nicht unter einem indivi-

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dualistischen, sondern ausschließlich unter dem kollektivistischen Gesichtspunkt eines im weitesten Sinn ethischen Problems beleuchtet.3 Es ist eine gewiß nicht unwichtige, aber leider noch völlig ungelöste Aufgabe, die Einflüsse im einzelnen festzustellen, die der Alkoholismus auf den Verlauf der deutschen Geschichte genommen hat.4 Es ist aber doch nicht eine haltlose Vermutung, wenn man viel Schatten auf unserem nationalen Ehrenschild dem Alkohol zurechnet und ihn verantwortlich macht, wenn eine die kulturell relevanten Vorgänge allseits erfassende Geschichte unseres Volkes (wie übrigens auch anderer „Kulturvölker") zu nicht geringem Teil als Unkulturgeschichte erscheinen muß. Es dürfte feststehen, daß ohne die „Segnung" des Alkohols weniger negativ und mehr positiv zu bewertende Vorkommnisse aufzuführen wären. An dieser Stelle können keine Nachweise erbracht, sondern nur einige Beispiele, die auch ohne Belege überzeugend wirken, angedeutet werden. Vor allem wäre die Geschichte an Äußerungen der Gewalt ärmer, schon zufolge dieser negativen Tatsache aber kulturell wertvoller. Die unterschiedliche Einstellung zur Gewalt ist einer der auffälligsten Charakterunterschiede zwischen dem grundsätzlichen Alkoholgegner und dem Alkoholfreunde. Dieser braucht zwar noch kein Freund der Gewalt zu sein, jener ist aber immer ein grundsätzlicher Gegner der Gewalt und wird vielleicht gerade vermittels dieser Einstellung zur Gewalt zugleich auch Gegner des Alkohols, der erfahrungsgemäß im sanftesten und friedfertigsten Menschen als Motor der Gewalt wirkt. Das Evangelium der Gewalt predigen nur alkoholfromme Gemüter, und nur Alkoholbegeisterung gibt bei den Hemmungen der modernen Erziehung die Kraft diesem Evangelium nachzuleben. Macht in der Gegenwart die technische Wissenschaft die Kriegführung besonders barbarisch, wobei freilich auch sie in dieser Funktion vom Alkohol mehr oder weniger unterstützt wird, so hat in früherer Zeit vornehmlich der Alkoholismus der Kriegsmannschaft

3 Das noch immer häufigste Argument der Alkoholgegner, die gesundheitlichen Gefahren des Alkoholgenusses, vermöchte wenigstens auf mich nur den geringsten Eindruck zu machen. Subjektiv mag ein Argument, das mit der Hypochondrie der Hörer und Leser rechnet, verhältnismäßig stark sein, objektiv haben wir aber m.E. stärkere Argumente als Sterblichkeitstabellen. 4 Die historische Schuld des Alkohols zu schildern, wäre überhaupt ein dankenswertes Problem; für den Alkohol würde die Weltgeschichte gewiß zu einem Weltgerichte werden.

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die ärgsten Barbareien bewirkt. Die Landplage des Landsknechttums ist wohl zum größten Teil auf Rechnung des Alkohols zu stellen. Um ein anderes Gebiet zu berühren, so sind vermutlich die zahllosen Erscheinungen der Justizbarbarei im Mittelalter und noch mehr in der Neuzeit nicht alle und nicht zur Gänze auf angeborene Instinkte der Grausamkeit, sondern zum Teile auf die durch Alkoholismus erworbene oder verstärkte Rohheit der Justizpersonen zurückzuführen. Auf ein anderes Blatt gehört die Frage, wie weit die moralische und intellektuelle Unzulänglichkeit geschichtemachender Personen durch den Alkohol verursacht ist. Gewiß hat auch immer eine durch den Alkohol erzeugte Stumpfheit und Rührseligkeit solche Knechtseligkeit gegenüber Herren gezeitigt, deren Herrschaft ein durch den Alkoholismus nicht geschwächter Charakter nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen vermöchte. Die oberflächlichste Unersuchung über die Beziehungen von Alkohol und Volkstum kann an den verderblichen Einflüssen des Alkoholismus auf die sexuelle Sphäre nicht vorübergehen. Gerade in dieser Hinsicht offenbart sich besonders deutlich, wie unzulänglich von einem kollektiven Standpunkt das individuell gewiß oft hinlängliche Mäßigkeitsprinzip ist. Der einzelne kann sich gewiß durch Mäßigkeit vor den Gefahren des Alkohols einigermaßen immunisieren, der Volkskörper bleibt aber dabei den verheerenden Einflüssen des Alkoholismus ausgesetzt, denn nur ein Teil der Volksgenossen bringt die moralische Kraft zur Mäßigkeit auf, der andere Teil muß zu seinem Wohl gezwungen werden und soll es, sofern davon das Wohl von Unbeteiligten abhängt. Vor allem würde wiederum eine wirksame Unterdrückung des Alkohols fast alle Gewalt auch in sexueller Beziehung ausschließen und somit die Menschheit von den grauenhaftesten Verbrechen so gut wie befreien. Gewisse besonders abstoßende Erscheinungsformen der Sexualität sind typisches Erzeugnis des Alkoholismus oder der Alkoholindustrie und würden voraussichtlich mit ihren Ursachen verschwinden. Viel umfassender wäre die Erscheinung, daß in gleichem Verhältnis wie der Alkoholismus auch die heute nicht zum wenigsten durch alkoholische Einflüsse überspannte Sexualität eine Einschränkung erführe. Gelänge es, den Alkohol als Genußmittel gänzlich auszuschalten, so dürften wir mit Unterstützung aller anderen kulturförderlichen Einflüsse, die nur eben derzeit durch die Gegenwirkung des Alkohols weitgehend paralysiert werden,

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eine wesentliche Sublimierung der Geschlechtsbeziehungen nicht grundlos zu erwarten haben. Gewiß wäre es verfehlt, mit einer selbsttätigen Wandlung der Menschennatur zu rechnen, aber die Ausschaltung eines so einflußreichen Faktors der Charakterbildung wie der Alkohol muß seine charakterologischen Wirkungen haben. Und zu all diesem kulturellen Gewinn aus der Überwindung des Alkoholismus gesellt sich noch die populationistische Aussicht, daß mit dem Alkohol auch seine degenerativen Wirkungen verschwinden werden. Die hier nur angedeutete sexuelle Schuld des Alkohols, die ihn geradezu als nationale Gefahr erscheinen läßt, müßte für sich allein genügen, daß ihm eine verantwortungsbewußte Nation den Ausrottungskrieg erklärte. Unter den Motiven, den Kampf gegen den Alkohol als nationale Aufgabe zu betrachten, vermöchten gegenwärtig mehr denn je auch solche wirtschaftlicher Natur maßgebend zu sein. In der wirtschaftlichen Lage, in der sich im und nach dem Kriege das deutsche Volk befunden hat und bis zu einem gewissen Grade noch heute befindet, mußte und muß sich der national Fühlende zehnmal bedenken, von der nationalen Gütermenge auch nur den geringsten Teil in Form von Alkoholien, also für ausgesprochene Luxusbedürfnisse, abzuschöpfen, wo nicht einmal alle Existenzbedürfnisse und bei weitem nicht die begründetsten kulturellen Bedürfnisse des Großteils der Nationsangehörigen befriedigt werden konnten. Um sich den Geschmack an der gewohnen Alkoholmenge nicht zu verderben, denkt man einfach an derlei peinliche Dinge nicht. Darum müssen wir Deutschen für die beschämende Lehre geradezu dankbar sein, die uns bezeichnenderweise ein Amerikaner gegeben hat. Die künftigen Reparationszahlungen des Deutschen Reiches an die Siegerstaaten sind ja bekanntlich unter anderem von der Höhe des Alkoholkonsums abhängig gemacht, der den Amerikanern begreiflicherweise als Maßstab des Volkswohlstandes und gesteigerter staatlichen Leistungsfähigkeit erscheint. Da muß es dem Blindesten klar sein, daß Alkoholkonsum dem eigenen Volke schadet, fremden, ehedem feindlichen Volkern nützt, denen unter solchen Umständen nicht einmal nachgesagt werden könnte, daß sie die deutsche Not, sondern nur, daß sie deutsche Charakterschwäche ausnützen. Gewiß werden sich auch dann zahllose Deutsche finden, die sich an der nationalen Phrase und an alkoholischer Flüssigkeit begeistern und berauschen, die mit Alkohol in einem Zuge Deutschland hochleben lassen und Frankreich Tribute zollen. Es ist ja eine schon von Goethe vermerkte Tatsache, daß der Deutsche den „Erbfeind"

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gern an dessen Alkohol verdienen läßt. Ob der deutsche Alkoholkonsum einem französischen Alkoholkapitalisten oder dem französischen Staat zugute kommt, das macht freilich keinen prinzipiellen Unterschied, wohl aber die Tatsache, daß sich seinen importierten Alkohol der Trinker grundsätzlich selbst zahlt, die nach dem Alkoholkonsum bemessenen Reparationen hingegen auch die Nichttrinker mit aufbringen helfen müssen. Von solchem volksschädlichen Lippendeutschtum wird sich aber dann wenigstens wirksamer als bisher die Alkoholenthaltsamkeit als wahre nationale Tat abheben. Es soll übrigens in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß sich Deutschösterreich durch den Staats vertrag von Genf im Jahre 1922 unter eine vom nationalen Standpunkt aus jedenfalls bedenkliche und bedauerliche Kontrolle des Völkerbundes gestellt hat, und zwar um den Preis eines Anleihebetrages, der den Wert des jährlichen Alkoholkonsums der österreichischen Bevölkerung nicht wesentlich übersteigt. Es wäre nun zwar unzutreffend, zu behaupten, daß der Bevölkerung Österreichs ihre Unabhängigkeit um ein Jahr ungestörten Alkoholkonsums feil gewesen sei, doch es bleibt die beklemmende Frage offen, ob nicht durch den Opfermut eines rechtzeitigen Verzichtes auf den Alkohol die Lage der Staatsfinanzen derart hätte gebessert werden können, daß der Bittgang nach Genf und damit die Stärkung des Einflusses der ehemals feindlichen Mächte, die Schwächung unserer Hoffnungen auf die staatliche Einigung Deutschösterreichs und des Deutschen Reiches vermeidbar geworden wären. Die Zusammenhänge zwischen Alkoholfrage einerseits, Staats- und Volksinteresse andererseits offenbart auch die Erwägung, daß die österreichischen Staatsfinanzen bei dem heutigen Stande der Sanierungsaktion glatt saniert sein würden, wenn der Aufwand der österreichischen Bevölkerung für importierten Alkohol statt in die Taschen ausländischer Alkoholkapitalisten in die Kassen der österreichischen Republik flössen. Dem Alkoholfreunde sind, wie diese wenigen Beispiele zeigen, reichlich Gelegenheiten eröffnet, seine nationale Gesinnung durch Verzicht auf seinen persönlichen Genuß zu bekunden. Damit ist ein weiteres wichtiges - in unserer beispielsweisen Reihe das letzte - Motiv berührt, das zur Enthaltsamkeit um des Volkstums willen bestimmen kann. Enthaltsamkeit - als Opfer dem Volkstum dargebracht hat kulturellen Eigenwert, selbst ohne Rücksicht auf alle die Vorteile, die dieses persönliche Opfer der nationalen Gemeinschaft verspricht. Die nationale Kraft und Größe eines Volkes beruht auf der Opferbereitschaft und

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Entsagungsfähigkeit des einzelnen Volksgenossen. Die Willensschulung durch Selbstbeherrschung ist das vornehmste Mittel der Erziehung und Ertüchtigung, in einem mißbrauchten Bild gesprochen, ein wirkliches Stahlbad des Charakters. Gibt es nun einen näherliegenden Gegenstand des persönlichen Verzichtes aus nationalen Motiven als den in jedem Betracht als volksschädlich erkannten Alkohol? Gerade der, dem seine Nation lieb ist, müßte sich's zur Ehre anrechnen, ihr dieses Opfer bringen zu können, sofern ihm die Entbehrung des Alkohols überhaupt ein - im Vergleich mit den unfreiwilligen Opfern gegenüber dem Staat - wohl leicht erträgliches Opfer kostet und nicht überwindungsloser Ausdruck des Charakters ist. Maßstab der Lebenskultur des einzelnen wie der Gesamtheit sind die Gegenstände des Genusses und der Entsagung. Der einzelne, der alle Kulturbedürfnisse zugunsten seines Alkoholbedürfnisses hintansetzt, wird mit Recht als der Typus des Kulturlosen gelten. Auch für den Kulturgrad eines ganzen Volkes ist das Verhältnis zwischen dem Aufwand für kulturelle und für physische Genüsse, z.B. zwischen dem Aufwand für Bücher einerseits, für geistige Getränke andererseits kennzeichnend. Die Rechnung würde für das deutsche Volk gewiß relativ günstig ausfallen, aber an der Hand dieses Kriteriums wären wohl einige kleine Völker noch immer im Vorsprung. Nun summieren sich selbstverständlich die Zahlen für die gesamte Volkswirtschaft aus den entsprechenden Ziffern der Einzelhaushalte. So ist es jedem einzelnen anheimgegeben, durch seine Lebensweise den kulturellen Rang des Volkes mitzubestimmen, und so erweist es sich als nationale Pflicht, die Lebensweise so einzurichten, wie es der Ehre der ganzen Nation entspricht. Die traurigste Erscheinung in dem Elendsgefolge des Alkoholismus - wir meinen den Berauschten - beleuchtet am grellsten die Beziehungen zwischen Alkohol und nationaler Ehre. Man muß selbst irgendwie vom Alkohol befangen und gefangen sein, um für dieses Zeugnis und Erzeugnis seiner Kräfte lächelndes oder auch nur entschuldigendes Verständnis zu haben. Wer in der Selbstbeherrschung das Kriterium des Charakters erkennt, der steht angesichts des Berauschten nur vor der Alternative: unzurechnungsfähig oder charakterlos. Und so ist jeder durch Mangel an Selbstbeherrschung Berauschte ein Fleck am Schilde der nationalen Ehre. Wer der Meinung ist, daß seine Ehre durch solche Erlebnisse unberührt bleibe und sich nach wie vor am Ende noch einem geistigen Adel zurechnet, betrügt sich selbst. Der

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kultivierte Fremde beurteilt Land und Leute nicht ganz mit Unrecht, wenngleich generalisierend, nach den Berauschten, deren er ansichtig wird. In der Tat gibt es keinen beschämenderen Zustand und niederdrückenderen Eindruck als den eines Berauschten. Nur der Paroxysmus der Gewalt und die sexuelle Orgie entwürdigen wohl den Menschen gleicherweise oder tiefer, doch gehen sie ja mit dem alkoholischen Exzeß oft Hand in Hand oder sind durch ihn wenigstens vorbereitet und vermittelt, so daß der Alkohol in solchen Fällen doppelte oder dreifache Schmach am Gewissen hat. Kein Tier erniedrigt sich so tief, daß man den in solchen Zustand verstrickten Menschen „tierisch" nennen dürfte. Im Gegenteil ist der Anblick eines Berauschten geeignet, in dem seiner Menschenwürde und Nationalität bewußten Menschen wegen solcher Gemeinschaft in bezug auf Art und Volk Scham vor den Geschöpfen der Natur und Zweifel an einer menschlichen Kultur, die sich mit solcher Unkultur wie selbstverständlich abfindet, Zweifel auch an einer Kulturnation, die solche Volksgenossen in ihrer Mitte aufweist und duldet, zu erwecken. Der Berauschte ist für den Verantwortungsbewußten das eindringlichste Memento, mit einem Genußmittel radikal aufzuräumen, das - wie kein zweites - den Menschen erniedrigt. Von der Erfüllung dieser Forderung hängt nicht weniger ab, als daß man mit mehr Berechtigung als bisher die Ehrentitel der Kulturmenschheit und Kulturnation gebrauchen darf. ***

Bedeutet die Enthaltsamkeit für das Volkstum den vielfältigen Gewinn, der im Vorstehenden andeutungsweise aufgezeigt wurde, dann offenbart sich die Enthaltsamkeitsbewegung , die manchem ihrer Gegner als geradezu antinational , weil gegen gewisse nationale Traditionen verstoßend, und selbst ihren Anhängern als national indifferent erscheinen mochte, als tätiger Nationalismus . Enthaltsamkeitsbewegung und Nationalbewegung sind demnach natürliche Bundesgenossen, wovon freilich die bisherige Praxis wenig merken läßt. Es müßte erstens von nationaler Seite anerkannt werden, daß die Enthaltsamkeitsbewegung, mindestens soweit sie von nationalen Motiven geleitet ist, um nichts weniger national gerichtet ist, als jene Richtungen, die unter ausgesprochen nationaler Flagge auftreten. Es müßte sogar anerkannt werden, daß solche nur mittelbar nationale, alkoholgegnerische Organisationen

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ein nationales Werk verrichten, das ungleich fruchtbarer ist als die Tätigkeit so mancher unmittelbar auf Nationalpolitik ausgehenden Organisationen. Es müßte sich zweitens die ausgesprochen nationale Politik das alkoholgegnerisches Programm zu eigen machen. Daß dies nicht schon längst allgemein geschehen ist, läßt sich nur damit erklären und rechtfertigen, daß der Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und Volkstum, die nationalpolitische Erforderlichkeit der Nüchternheit den national gesinnten Bevölkerungskreisen bisher nicht bewußt geworden sind. Gelingt es diesen einleitenden Mahnworten, auch nur in wenigen bisher ablehnenden oder gleichgültigen Volksgenossen dieses Bewußtsein und die entsprechende Haltung zu erwecken, dann haben sie ihren Zweck erfüllt. Hat die Aufklärungsarbeit der Alkoholgegner dieses Bewußtsein erst einmal verallgemeinert, dann werden die Alkoholgegner das Recht haben, die Echtheit der nationalen Gesinnung zu bezweifeln, die in gleichgültiger oder ablehnender Haltung gegenüber dem alkoholgegnerischen Programm verharrt. Dann wird man insbesondere jedes vermeintlich nationale Partei- oder Vereinsprogramm der Unvollständigkeit zeihen dürfen, in dem sich nicht neben den besonderen nationalpolitischen Forderungen auch unser Programmpunkt findet. Denn es gibt wenig erfüllbare - und bei gutem Willen wie leicht erfüllbare! Forderungen, die einen solchen kulturellen Fortschritt der eigenen Nation begründen und ihr einen solchen Vorsprung vor anderen nicht so fortgeschrittenen Nationen geben würden, wie unsere Forderung der Enthaltsamkeit. Die Träger der deutschen Nüchternheitsbewegung wünschen sich keine andere Anerkennung ihrer Überzeugung, daß sich echtes Volkstum am reinsten in einer kulturell wertvollen Lebensßhrung äußert, und ihrer Bemühungen um die Verbreitung einer solchen Auffassung, als daß immer mehr Volksgenossen, vor allem die, die ihr Volkstum bekunden wollen, jene Auffassung ihrer Lebensführung zugrunde legen.

Alkoholfrage, Nationalismus und Internationalismus1 Die Aussichten einer kulturellen Bewegung bestimmen sich zum großen Teil danach, welches Verhältnis sie zu den anderen, insbesondere zu stärkeren kulturellen Strömungen eines Landes und Volkes einnimmt; und ihre Erfolge hängen zum guten Teile davon ab, ob und in welchem Maße sie an andere ausschlaggebendere kulturelle Bewegungen Anschluß zu gewinnen vermag. Damit eröffnet sich auch für die Gegner des Alkoholismus eine wichtige und dankbare Aufgabe. Die Alkoholgegnerschaft ist in der großen Mehrzahl der heutigen Staaten und Völker leider noch nicht so weit verbreitet und tief verankert, daß sie sich, auf sich allein gestellt, aus einer geachteten zu einer wirksamen oder gar das öffentliche Leben beherrschenden kulturpolitischen Strömung entwickeln könnte. In ihrer glänzenden Isolierung hat sie meist auf lange hinaus keine Hoffnung, ihr Programm aus der Sphäre der Idealität in das der Realität gesetzt zu sehen. Zumal in demokratischen Staaten ist es für die Antialkoholbewegung, die ja meist noch die Angelegenheit mehr oder minder großer oder vielmehr kleiner Minderheiten ist, ein unabweisliches Mittel, um sich durchzusetzen, daß sie mit anderen von größeren Massen getragenen Bewegungen Berührung sucht und Bündnisse eingeht. Diese Anlehnung an andere Massenbewegungen macht der alkoholgegnerischen Bewegung den Apparat anderer, grundsätzlich anderen Zwecken dienender Bewegungen dienstbar und vervielfacht so ihre für sich allein ganz unzulänglichen Kräfte.

Revue internationale contre l'alcoolisme (Internationale Zeitschrift gegen den Alkoholismus), 1925, S.154-168. 1 Vgl. meinen im Jahrgang 1922 dieser Zeitschrift erschienenen Artikel „Alkoholfrage und Parteipolitik".

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Diese in unserem Kampf bekanntlich nicht neue Taktik verspricht allerdings nicht bloß Erfolge, sondern bringt auch Gefahren mit sich. Es besteht vor allem die Gefahr, daß die Antialkoholbewegung als der bei solchen Interessengemeinschaften und Kampfgenossenschaften schwächere Teil sich allzu sehr ihrem stärkeren Bundesgenossen anpassen muß, daher mit einem fremden kulturpolitischen Programme Kompromisse eingeht, in denen die alkoholgegnerische Komponente kaum noch zu erkennen ist, und sich so ihrem eigentliche Ziele mehr oder weniger entfremdet. Derartige Erfahrungen hat man insbesondere häufig - durchaus nicht immer - mit parteipolitisch orientierten alkoholgegnerischen Organisationen gemacht, indem diese aus Parteidisziplin nicht selten alkoholgegnerische Interessen dem Parteiinteresse geopfert haben. Parteipolitisch neutrale Organisationen sind allerdings zu derlei Opfern nicht gezwungen, entbehren aber den starken Rückhalt und die starke Erfolgsaussicht, die ein einigermaßen mächtiger Parteiapparat im modernen Staate gewährt. Nun wäre es aber eine unzutreffende Generalisierung, alle die Erfahrungen, die mit der parteimäßig orientierten Alkoholbekämpfung häufig gemacht werden mußten, auf alle denkbaren anderen Verbindungen, die die alkoholgegnerische Bewegung eingehen könnte, schlechthin zu übertragen. Es ist erstens wichtig, daß die organisatorische Selbständigkeit der Alkoholgegner erhalten bleibe und daß vornehmlich zu solchen Verbänden Brücken geschlagen werden, mit denen von vornherein gewisse programmatische Berührungspunkte bestehen. Gerade diese Voraussetzungen treffen bei politischen Parteien nicht leicht zu. Die Parteiprogramme sind oft so bunt aus den heterogensten Bestandteilen zusammengesetzt, daß ihnen die Aufnahme gewisser gemäßigter alkoholgegnerischer Programmpunkte gewiß nicht schwer fällt, daß aber diese weiteren Programmpunkte schwerlich mit dem übrigen Programme organisch verwachsen und für die Partei zu condiciones sine qua non werden können. Und dann fordert die politische Partei naturgemäß von jeder Gruppe, die sich ihr nähert, Ein- und Unterordnung, Preisgabe der Selbständigkeit, Parteidisziplin, der unter Umständen selbst die ganze Alkoholgegnerschaft geopfert werden muß. Eine natürliche Bundesgenossin der alkoholgegnerischen Bewegung ist z.B. die Frauenbewegung. Es wurde ja schon wiederholt angedeutet und soll hier nur angemerkt werden, daß die Alkoholgeißel heute noch das wirksamste Hemmnis der Befreiung der Frau ist, daß die wirkliche Emanzipation

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der Frau weitgehend mit der Emanzipation des Mannes vom Alkohol parallel läuft. Jedenfalls ist die häufigste Ursache des weitverbreiteten modernen Märtyrertums der Frau die Alkoholknechtschaft des Mannes. Die Zusammenhänge sind so offensichtlich, daß nicht viel Überredung von alkoholgegnerischer Seite nötig ist, um die Frauenbewegung aller Länder für die alkoholgegnerische Bewegung in der Weise zu gewinnen, daß sie sich als Mittel für ihre Ziele den alkoholgegnerischen Standpunkt zu eigen macht. Es fehlt nur noch oft an einer entsprechenden Initiative der alkoholgegnerischen Organisationen zu solcher naheliegender Zusammenarbeit. Mindestens die gleiche Interessengemeinschaft wie zwischen der Frauenbewegung und der Abstinenzbewegung besteht zwischen dieser und allen verschiedenartigen Strebungen und Strömungen, die auf eine Hebung oder Befreiung des Proletariates hinauslaufen. Diese Zusammenhänge sind allerdings, wie einleuchtend sie auch erscheinen mögen, noch nicht genügend erhellt und werden von gewisser Seite sogar mit Absicht verdunkelt, so daß der alkoholgegnerischen Propaganda in dieser Richtung in einer Reihe von Ländern noch reichlich Aufklärungsarbeit zu vollbringen bleibt. Es steht in diesem Zusammenhange nicht grundsätzlich die Interessengemeinschaft zwischen der Arbeiterbewegung und der Abstinenzbewegung in Frage, doch sei so viel angedeutet, daß für viele Länder die Befreiung des Proletariates von der Alkoholseuche die Hauptaufgabe der Erhebung der Arbeiterklasse aus ihrem unleugbar noch weit verbreiteten sozialen Tiefstand bedeutet. Die Rolle, die unter solchen Umständen der Alkoholbekämpfung für die Arbeiterbewegung zukommt, wird vielleicht von deren Anhängern unter anderm aus dem Grund nicht voll gewürdigt, weil man sich bewußt ist, daß die Knechtschaft gegenüber dem Alkoholismus in gewisser Beziehung drückender als die vom Kapitalismus auferlegte Knechtschaft ist, und weil man ahnt, daß die Überwindung des doch selbst verschuldeten oder wenigstens mitverschuldeten Alkoholismus manchenorts einen größeren sozialen Fortschritt des Proletariates bedeuten würde, als selbst die Überwindung des erklärten Hauptgegners, des Kapitalismus. Die Schuld des Kapitalismus am Alkoholismus soll nicht entschuldigt werden, es wäre aber doch ungerecht, ihm die ganze Schuld am Alkoholismus zuzurechnen. Er ist jedenfalls kein Hindernis, daß sich, ebenso wie der Einzelne, eine soziale Gruppe, selbst eine ganze Klasse, vom Alkohol lossagt und damit das Joch des Alkoholismus abschüttelt. Man würde dann

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sehen, wie ein solches Zeichen moralischer Kraft das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen sozialen Gruppen selbst bei ungebrochener Herrschaft des Kapitalismus zu Ungunsten der sogenannten „herrschenden", aber nach wie vor vom Alkohol beherrschten Klassen und zu Gunsten der „beherrschten", aber vom Alkohol emanzipierten Klasse verschieben würde - und hat einen ungefähren Vorgeschmack dieser voraussichtlichen Kräfteverschiebung, wenn man zum Vergleich das Kräfteverhältnis und die internationale Geltung einzelner in unserem Kampfe zurückgebliebener und vorgeschrittener Völker in Betracht zieht. Es gibt also gewiß kein so wirksames Mittel und zugleich keine so notwendige Voraussetzung für die Emanzipation des Proletariates als Klasse wie seine eigene Emanzipation vom Alkoholismus, soweit es in dessen Bande noch verstrickt ist. Diese Tatsachen eröffnen einer künftigen Zusammenarbeit der Abstinenzbewegung mit der sozialen Bewegung hoffnungsvolle Aussichten; gegenwärtig scheint aber in weiten Kreisen der Träger der Sozialreform das volle Verständnis für diese Interessengemeinschaft und der gute Wille für die dadurch nahegelegte Zusammenarbeit noch nicht geweckt zu sein, und es wird die Abstinenzbewegung noch manche harte Mühe kosten, diesen scheinbar so fruchtbaren Boden zu beackern. ***

Doch noch eine weitere kulturelle Bewegung, die der Abstinenzbewegung bisher völlig beziehungslos gegenüberzustehen oder vielmehr fernzustehen schien, bietet sich als möglicher, wenn nicht geradezu nahestehender Bundesgenosse dar: die nationale Bewegung. Man weiß, daß gerade in diesen Jahren eine starke nationale Welle Europa überflutet und ihre überschüssigen Kräfte in einer mitunter ungestümen, durchaus nicht immer kulturell wertvollen Weise entlädt. Der Nationalismus verfügt neben gewiß zahlreichen Mitläufern auch über zahlreiche Kräfte, die bereit sind, der Idee der Nation auch persönliche Opfer zu bringen. Er ist als soziale Kraft in vielen Staaten der alkoholgegnerischen Bewegung beiweitem überlegen, indem er über einen weitverzweigten organisatorischen Apparat und über eine starke parlamentarische Vertretung verfügt. Und doch weiß er diese Mittel trotz unleugbarem guten Willen, der Nation aufs beste zu dienen, mitunter nicht entsprechend auszuwerten. Diese Beobachtung legt die Frage nahe, ob und wie die Potenzen, die in der nationalen Ideologie gelegen sind, für unsere Zwecke aktualisiert, die

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nationale Bewegung auf unser Ziel hin orientiert werden könnte. Einer solchen Frage kommt die Erfahrungstatsache entgegen, daß neuestens hie und da nationale Kreise aus Eigenem den Abstinenzgedanken aufgegriffen haben und ihn mit bemerkenswertem Eifer verfechten. Diesen jungen Gedankenkeimen darf man wohl, wenn sie nur erst im Lager der Abstinenz moralischen und ideologischen Nährboden gefunden haben, eine günstige Entwicklung prophezeien. Die ganze Betätigung der Alkoholgegner wäre unfruchtbar, ja geradezu sinnlos, wofern sie sich darauf beschränkten, sozusagen unter sich dem Alkohol den Prozeß zu machen. Die Alkoholgegner brauchen sich selbst von nichts zu überzeugen und zu überreden. Ihre Zukunft hängt von der Aufmerksamkeit ab, mit der sie die Aufnahmefähigkeit bisher fernstehender Bevölkerungskreise für das alkoholgegnerische Programm zu beobachten, und von der Geschicklichkeit, mit der sie diese Kreise für ihr Programm zu gewinnen verstehen. Die Zeichen der Zeit deuten nun darauf hin, daß in manchen Ländern große Gruppen der national orientierten Kreise für unsere Sache unschwer zu gewinnen wären, wenn nur der Werbe versuch nachhaltig und klug unternommen würde. Die Aussichten dieser Aktion wären selbstverständlich länderweise sehr verschieden; sie hängen vor allem von der Stärke und Regsamkeit der alkoholgegnerischen Kräfte einerseits, der national orientierten Gruppen andererseits ab. Und auch die Taktik der Kooperation müßte den länderweise wechselnden Verhältnissen angepaßt werden; diese wechselnden Methoden wären aber nur die Anwendung einer durchaus gleichförmigen Ideologie. Es handelt sich darum, die einzelnen Forderungen des alkoholgegnerischen Programmes, die bisher doch vorzugsweise vom hygienischen oder von einem allgemein kulturellen Standpunkte aus erhoben zu werden pflegen, im besonderen als nationalpolitische Forderungen aufzuzeigen und begreiflich zu machen. Wir wissen leider nur zu gut, daß es keine haltlosen Suggestionen sind, wenn wir die materiellen und ideellen Schäden ausmalen, die der Alkoholismus nicht nur im einzelnen Opfer, das ihm verfallen ist, nicht nur in der Familie dieses Opfers, sondern auch in der ganzen Nation, in der er größere Verbreitung angenommen hat, zu bewirken pflegt. Und wir wissen nur zu gut, daß eine Überwindung des Alkoholismus die Gesundung, Wiedergeburt und kulturelle Erhöhung einer Nation bedeutet. Wir brauchen niemandem etwas Unglaubliches glaubhaft zu machen, sondern müssen die Träger des

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nationalen Gedankens und die Führer der nationalen Bewegung nur von einer leicht beweisbaren Wahrheit überzeugen und dann allerdings noch bewirken, daß sie nach dem ihnen vermittelten besseren Wissen handeln. Denn Wissen bedeutet allerdings noch nicht gemäß dieser Einsicht wirken. Für die alkoholgegnerische Propaganda handelt es sich jedoch gerade darum, durch das aufklärende Wort die alkoholgegnerische Tat zu erzielen. Und so muß die Aufklärung über die nationale Schädlichkeit des Alkohols mit einem Appell an das nationale Ehrgefühl unterstützt werden. Der Nationalismus hat überhaupt nur auf der Grundlage eines gewissen sozialethischen Existenzminimums und nicht als dessen Ersatz seine, unter dieser Voraussetzung allerdings wohlbegründete Berechtigung. Der nationale Stolz wird erst durch einen gewissen Grad von nationaler Kultur legitimiert, und Voraussetzung für deren Annahme ist, daß sich die Nation wie von anderen sozialethischen Defekten so auch wenigstens von den Auswüchsen des Alkoholismus frei halte. Die Überwindung des Alkoholismus muß als unbezweifelbare Forderung der nationalen Ehre erscheinen, dann wird man auch die ernsten Nationalisten zum Kampfe gegen den Alkoholismus gewonnen haben. Um ein mir naheliegendes Beispiel zu erwähnen, so ist das Mißverhältnis zwischen dem Anleihebetrage, um dessentwillen sich die Republik Österreich auf unbestimmte Zeit einer drückenden Auslandskontrolle unterwerfen mußte, und dem Werte der Alkoholien, die hierzulande alljährlich konsumiert werden, so krass, daß es jedem ernsten Nationalisten mit der nationalen Würde unvereinbar erscheinen muß, sich um solchen Preis den Luxus des Alkoholkonsums zu erlauben. Ein Jahr Enthaltsamkeit vom Alkohol hätte der Volkswirtschaft Österreichs den gleichen Betrag erspart, um den sich die Staatswirtschaft Österreichs durch die Völkerbundsanleihe auf eine Reihe von Jahren dem Auslande verschuldet hat. Es bleibe dahingestellt, ob nicht eine entsprechende Verbreitung dieser Daten, die propagandistische Ausnützung der Tatsache, daß sich ein Volk in ausländische Schuld zu begeben bereit sei, um den eigenen Luxus des (im Vergleich mit anderen europäischen Staaten gewiß nicht übermäßigen) Alkoholkonsums uneingeschränkt aufrechterhalten zu können, die nötige nationale Opferbereitschaft gezeitigt haben würde, auf die ausländische Kapitalsaushilfe um den Preis eines wenn auch nur teilweisen Verzichtes auf den inländischen Alkoholkonsum zu verzichten. Und wurde auch diese günstigste Gelegenheit, die Unverantwortlichkeit des Alkoholkonsums vom nationalen Stand-

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punkte darzutun, versäumt, ist auch die internationale Kontrolle ins Land gekommen, weil die nationale Kraft dazu gefehlt hat, freiwillig ein nationales Opfer zu bringen, das durch die erzwungenen „Sanierungsopfer" reichlich aufgewogen wird, so ist auch jetzt für die Alkoholgegner noch immer reichlich Gelegenheit, die nationale Pflicht ins Licht zu rücken, die es gebietet, das kulturpolitisch erwünschte Opfer des Alkohols anderen kulturpolitisch unerwünschten „Sanierungsopfern" vorzuziehen. Auch den alkoholgegnerischen Kreisen des Deutschen Reiches ist gewiß damit ein wirksames Agitationsmittel an die Hand gegeben, daß nach dem Dawes-Plan in Zukunft die Höhe des Alkoholkonsums die Höhe der Reparationszahlungen mitbestimmen wird. Denn bei dieser Sachlage drängt sich auch dem Gedankenlosesten die Einsicht auf, daß er durch den Alkoholgenuß seinem Lande und Volke materiellen Schaden zufügt. Es müssen nur Mittel und Wege gefunden werden, um den Durchschnittsmann, der zwar keinen Ehrgeiz darein legt, vollwertiger Kulturmensch zu sein, immerhin aber braver Volksgenosse sein will, auf Schritt und Tritt an seine völkische Pflicht zum Verzicht auf den Alkohol zu erinnern. Jedenfalls ist die Bedingheit der Reparationsleistungen durch die Höhe des Alkoholkonsums, die Einstellung dieses Faktors als Gradmesser der finanziellen Leistungsfähigkeit die kulturell wertvollste Bestimmung im Gesamtkomplexe der Verträge und Vereinbarungen, die dem Weltkriege gefolgt sind, eine Bestimmung, durch die sich ihr Erfinder den Dank aller Alkoholgegner verdient hat. Wir dürfen sie vielleicht als eine spezifisch amerikanische Erfindung werten, mit der ihr Erfinder in origineller Weise die Antialkoholpropaganda außer Landes, in den alten Kontinent verpflanzt hat. Den Sieg des alkoholgegnerischen Gedankens in der nordamerikanischen Union haben übrigens sicherlich auch nationalpolitische Momente mitbestimmt. Das Alkoholverbot ist wohl nicht bloß als rationelle Nutzanwendung einer richtigen Einsicht, ja nicht einmal als Ausfluß eines gewissen Puritanismus zu verstehen, sondern zum Teil doch eine bewußte Erprobung des Amerikanismus. Und wenn mit solcher Zähigkeit trotz allen Widerständen am Verbot festgehalten, wenn mit solcher Energie seine Einhaltung erzwungen wird, so ist dies psychologisch doch wohl nicht allein aus der alkoholgegnerischen Einstellung, sondern aus dem Bewußtsein zu erklären, daß mit dem Schicksal des Verbotes, das in den Augen der Umwelt den Charakter einer nationalen Tat erlangt hat, die nationale Ehre verstrickt ist. Auch das nordamerikanische Beispiel kann eine Lehre dafür sein, daß der Nationalismus ein geeignetes Medium unserer Kulturbewegung sein kann.

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Diese Rolle des Nationalismus wird für unsere Zwecke dadurch gewiß nicht entwertet, daß ihm die Alkoholgegnerschaft immer nur ein Mittel für seine nationalen Zwecke und nicht selbst letzter Zweck sein kann. Nicht darauf kommt es an, in welcher Rolle unser Programm in ein fremdes Wertsystem eingeht, sondern daß es überhaupt in fremde, und zwar von möglichst viel Anhängern getragene Wertsysteme Aufnahme findet. Ob nun als Zweck oder nur als Mittel, hat das alkoholgegnerische Programm für den Nationalismus solche Bedeutung, ist es so notwendige Voraussetzung für die Realisierung seines letzten Ideales, daß auch für die alkoholgegnerische Bewegung aus solcher Zusammenarbeit bei verständnisvoller Taktik reiche Erfolge winken. Zugleich könnte sich die alkoholgegnerische Bewegung durch die Initiative in dieser Richtung das kulturelle Verdienst erwerben, die dem Nationalismus hie und da anhaftende antikulturelle Spitze abzubrechen. Stellt sich der Nationalismus durch manche Tätigkeitsformen und Forderungen zu einer internationalen Gesinnung in unversöhnlichen Gegensatzz, so ist ein derart kulturpolitisch orientierter Nationalismus auch von einem übernationalen und überstaatlichen Standpunkt aus durchaus positiv zu bewerten. Der Internationalismus bedeutet ja durchaus nicht Aufhebung aller nationalen Gegensätze, sondern nur deren Befriedung, Verfeinerung und freundschaftliche Austragung. Einen Wettbewerb zwischen den Völkern, der sich im Ringen um den Vorrang in kulturellen Leistungen auswirkt, darf gewiß auch eine international gerichtete Kulturbewegung fördern. Die Antialkoholbewegung leistet übrigens nicht nur ihrer eigenen Sache den größten Dienst, wenn es ihr gelingt, die starken Kräfte der nationalen Strömung in ihren Dienst zu stellen, sie macht sich auch vom Standpunkt der Gesamtkultur aus verdient, wenn sie diese überschüssigen, nach Betätigung drängenden Kräfte in kulturell höchstwertiger Weise fruchtbar zu machen vermag. Es wäre dies zugleich eine vorbildliche Tat für andere kulturpolitische Richtungen, die ebenso, wie bisher meist die Abstinenzbewegung, am Nationalismus achtlos vorübergehen, statt sich die gewiß nicht immer leichte, aber ebenso gewiß nicht unnütze und undankbare Aufgabe zu setzen, die Formen und Formeln des nationalistischen Programmes mit dem Inhalt ihres spezifischen Kulturideals zu erfüllen. Den Vorsprung vor anderen Völkern, der sich in kulturellen Leistungen, wie z.B. die Emanzipation vom Alkohol, ausdrückt, und den Stolz über eine derartige Überflügelung anderer Nationen dürfen wir eine Nation, die ihrer Umwelt durch eine solche nationale Tat vorangegangen ist, beruhigt gönnen. Hier entsteht die Hauptsorge, daß nicht gegen dieses friedliche Mittel des nationalen

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Wettbewerbes minder einwandfreie Mittel fremdnationalen oder übernationalen Ursprunges in Bewegung gesetzt werden, um diese nationale Strömung zu durchkreuzen. Und eine gleichwertige Aufgabe wie die, die nationalen Kräfte für unsere kulturpolitische Aufgabe zu erwecken und dienstbar zu machen, ist die, fremd- und übernationale Gegenströmungen abzuwehren, damit sich die für unsere Sache gewonnenen nationalen Kräfte frei entfalten können. ***

Mindestens ebenso wichtig und auf den ersten Blick taktisch sogar noch einleuchtender als den Nationalismus der alkoholgegnerischen Sache nutzbar zu machen, ist die gleiche Forderung hinsichtlich des Internationalismus. Wie sich überhaupt Nationalismus und Internationalismus im Interesse einer harmonischen Entwicklung der Menschheitskultur vertragen und ergänzen müssen, so muß die nationale Tat auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung durch konformes internationales Handeln gesichert und verstärkt werden. Andernfalls wird die nationale Tat durch fremdnationale Einflüsse nur zu leicht geschwächt, wenn nicht gar in Frage gestellt. Die mangelnde Autonomie der Völker, die Bedingtheit nationalen Handelns durch fremdnationales Dulden ist bekanntlich auch auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung in nicht immer sehr erfreulicher Weise in Erscheinung getreten. Es soll nicht verkannt werden, daß fremdnationale Einflüsse die alkoholgegnerische Bewegung außerordentlich zu fördern vermögen und gefördert haben. Das Vorbild der in der Alkoholbekämpfung fortgeschrittenen Staaten, Errungenschaften wie das Gemeindebestimmungsrecht oder gar das Alkoholverbot waren und sind für die Alkoholbekämpfung in den anderen Staaten das wirksamste Agitationsmaterial und entwinden insbesondere den Alkoholanwälten das Argument, daß das Programm der Alkoholgegner aus wirklichkeitsfremden Phantastereien bestehe. Aber diese günstigen Wirkungen des guten ausländischen Vorbildes werden durch ungünstige Auslandseinflüsse mehr als kompensiert. Es fällt nicht einmal so sehr die Tatsache ins Gewicht, daß die Mehrzahl der ausländischen Staaten ein schlechtes Vorbild gibt, das den Alkoholfreunden bei einem Hinweis auf einzelne Musterstaaten die Möglichkeit bietet, auf eine viel größere Anzahl anderer Staaten hinzuweisen, die es nicht so weit gebracht haben, vielleicht nicht einmal so weit wie der in Frage stehende Staat selbst; immerhin schwächt

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auch diese Tatsache schon die Stellung der Alkoholgegner, daß ihren Beispielen immer eine Reihe anderer Staaten entgegengehalten werden kann, in denen der Alkoholismus blüht und das Alkoholkapital protegiert wird, obzwar auch diese Staaten auf den Titel von Kulturstaaten Anspruch erheben. Viel schwerer wiegen jedoch jene fremdnationalen Einflüsse, die direkt auf eine Steigerung des Alkoholkonsums in Auslandsstaaten abzielen. Gewisse alkoholproduzierende Länder betrachten es bekanntlich geradezu als die Pflicht der übrigen Welt, ihnen ihre Alkoholüberschüsse um teures Geld abzunehmen, und sind geneigt, die Versuche des betroffenen Staates, derart unerwünschten Import von sich fernzuhalten, als Unfreundlichkeit im zwischenstaatlichen Verkehr auszulegen. Nicht alle Staaten sind so stark wie etwa die nordamerikanische Union, um eine solche Zumutung abzuwehren und sich gegen den unerwünschten Importartikel mit allen Mitteln zu schützen. Schwächere als Importländer ausersehene Staaten müssen sich dem Oktroi mächtigerer Exportländer, von deren Gnade sie abhängig sind, wohl oder übel fügen. So mußte die Republik Österreich 2, um für ihre im Vergleich mit dem kleinen im Friedensvertrag zugemessenen Staatsgebiet viel zu große Industrie Absatzmöglichkeiten zu schaffen, in ihren Staatsverträgen der Alkoholeinfuhr aus dem Auslande in einer Weise die Grenzen öffnen, die für ein so verarmtes Land geradezu unverantwortlich ist. Ein großer Teil der Auslandsanleihe geht ins Ausland, um die Alkoholimporte zu bezahlen. Es wurde schon die Paradoxie angedeutet, daß die Völkerbundsanleihe geradezu dazu dient, um den Einwohnern Österreichs ihren einjährigen Alkoholkonsum zu ermöglichen. Man sollte glauben, daß dies

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Gerade in Österreich hat die Völkerbundkontrolle die Selbstbestimmung in allen politischen Fragen stark beengt, wo nicht aufgehoben. Die Mitbestimmung ausländischer Faktoren macht sich gewiß oft in erwünschter, hie und da aber auch in kulturell anfechtbarer Weise geltend. In diesem Zusammenhang verdient die Geschichte des jüngsten Planes einer Erhöhung der österreichischen Alkoholsteuern Erwähnung. Die österreichische Bundesregierung nahm in ihrem Reformentwurf über die finanzielle Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern eine Erhöhung der Getränkesteuern in Aussicht, deren Mehrertrag den Ländern als Entschädigung für die Übernahme von Verwaltungsaufgaben des Bundes überlassen werden sollte. Der Generalkommissär des Völkerbundes nahm nun in seinem 27. Monatsbericht an den Völkerbundsrat vom März 1925 auf jenen Plan mit der Bemerkung Bezug, es sei nicht ganz zu verstehen, warum die bloße Übertragung von administrativen Funktionen eine Vermehrung der Gesamtheit der auf der Bevölkerung ruhenden Lasten zur Folge haben solle. Man müsse hoffen, daß die Einigung auf anderer Grundlage erfolgen werde. Diese Hoffnung hat sich erfüllt: Die Alkoholsteuern sind auf diesen Wink hin unerhöht geblieben.

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keine rationelle Zweckbestimmung für eine Anleihe ist und daß die Auslandskontrolle mit allen ihren Konsequenzen ein zu teurer Preis für einen so flüchtigen und problematischen Genuß ist. Dabei gerät der Völkerbund in den Schein eines Schutzherrn des Alkohols und Alkoholkapitales. Ohne Zweifel wären die Alkoholsteuern noch einer Ausgestaltung fähig, zumal da sie noch nicht den Vorkriegsstand erreicht haben, doch steht einer ausgiebigen Erhöhung der Alkoholsteuern die Tatsache entgegen, daß dadurch die mit dem Völkerbund vereinbarte Ziffer der Staatseinnahmen, die merkwürdigerweise zugleich die Untergrenze und Obergrenze der Staatseinnahmen darstellt, eine wesentliche Erhöhung erfahren würde. Die Vertreter des Alkoholkapitals sind also formell nicht im Unrecht, wenn sie den Plänen einer ausgiebigen Erhöhung der Alkoholsteuer die Genfer Vereinbarungen entgegenhalten, deren Sinn gewiß nicht der war, der Republik Österreich die Freiheit des Entschlusses auf kulturellem Gebiete zu nehmen. Beispiele, wo durch zielbewußte Zusammenarbeit von in- und ausländischem Alkoholkapital, die bei allem Interessengegensatz doch das gemeinsame Interesse haben, daß der Alkoholabsatz nicht gedrosselt werde, die Bemühungen der Alkoholgegner durchkreuzt worden sind, - eine Bundesgenossenschaft, die an Vaterlandsverrat grenzt, - sind nicht vereinzelt und bekannt. Wenn im bürgerlichen Leben ein Alkoholfreund einen Alkoholgegner unter Ausnützung seiner überlegenen Stellung zum Alkoholgenusse nötigt, so würde jedem der erpresserische Charakter einer solchen Handlungsweise bewußt sein. Die internationalen Sitten sind noch nicht so weit gemildert und der Moral des bürgerlichen Lebens angepaßt, daß die gleiche Nötigung von Staat zu Staat, von Volk zu Volk die gleiche Wertung erfahren würde. So manche bloße Formwidrigkeit oder ein verhältnismäßiges geringes Übel, das einem einzelnen Repräsentanten eines Staates widerfährt, ist vom Völkerrecht als Angriff auf die Ehre des Staates stigmatisiert. Ein ganzes fremdes Land mit Alkoholgiften überschwemmen und ganze fremde Völker verseuchen oder, wenn dieses Land sich gegen die Alkoholseuche abgeschlossen hat, den Alkoholschmuggel in diesen Staat von Staats wegen dulden, wenn nicht gar unterstützen: dergleichen Angriffe auf wirklich vitale Interessen eines Volkes sind aber von demselben Völkerrechte, das auf viel harmlosere Angriffe empfindlich reagiert, vorläufig noch freigestellt. Im Gegenteil erscheint sogar der Staat, der sich gegen die Überschwemmung mit so unwillkommenem Einfuhrgut zur Wehre setzt, wenn er damit eine

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ihm aufgenötigte Vertragsfessel verletzt, als Rechtsbrecher. Und es ist auch rechtstechnisch nicht anders möglich, als daß in dem Normenkonflikt zwischen dem wohlerworbenen formellen Recht und dem entgegengesetzt gerichteten kulturpolitischen Postulate jenes obsiegt. Nicht eine andere Lösung dieses Konfliktes, sondern die Unmöglichkeit, daß im Widerspruch zu einer solchen kulturpolitischen Forderung rechtliche Ansprüche erworben werden, ist die rechtspolitische Aufgabe. Darum handelt es sich, daß die internationale Regelung des Alkoholverkehrs nicht ganz vom Prinzip jener Vertragsfreiheit beherrscht werde, die im Verhältnis zwischen Ungleichen, auch zwischen sehr verschieden starken Staaten nur zu leicht eine Freiheit nach dem Spruche „coactus tarnen voluit" ist, sondern daß die Willensfreiheit auch der schwächeren Staaten geschützt werde, die sich gegen ausländische Alkoholerzeugnisse abschließen wollen. Ein allerdings noch sehr unvollkommenes Vorbild internationaler Bekämpfung von Rauschgiften bietet bekanntlich das Opiumabkommen. Der Grundgedanke dieser Konvention müßte dahin erweitert werden, daß der Wunsch einer Regierung, ihr Land vor ausländischen Rauschgiften welcher Art immer abzuschließen, international respektiert und völkerrechtlich garantiert werde. Die Forderungen, die wir Alkoholgegner an die Staatengemeinschaft stellen, bleiben gewiß weit hinter den Forderungen zurück, die an den einzelnen Staat gerichtet werden müssen. Diese Abstufung der Forderungen ist darin wohl begründet, daß die einzelnen Völker für das alkoholgegnerische Programm in sehr ungleicher Weise reif sind. Eine gleichförmige ausschließliche internationale Regelung des Alkoholproblems müßte zahlreiche Möglichkeiten der Alkoholbekämpfung, für die einzelne Staaten schon reif geworden sind, ungenützt lassen. Auch hier verdient vor dem Generalisieren das Individualisieren den Vorzug. Positive alkoholgegnerische Maßnahmen lassen sich bei dem heutigen Stande der alkoholgegnerischen Bewegung bestenfalls staatenweise durchführen. Die Erfahrung hat ja denselben Gedanken bereits in der innerstaatlichen Antialkoholpolitik erprobt. Die alkoholgegnerischen Maßnahmen müssen, wie etwa das Gemeindebestimmungsrecht, unter Umständen vom engsten örtlichen Bereiche ihren Ausgang nehmen, um allmählich mit dem Reifen der Mentalität des Volkes immer weitere Kreise zu ziehen. Aus allen Volksschichten und Staatsteilen ist das für unsere Sache jeweils Erreichbare herauszuholen. Wir dürfen uns aber nicht verhehlen, daß alle positiven gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, die der Alkoholbekämpfung dienen, auf unabseh-

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bare Zeit an den Staatsgrenzen ihre Schranken finden müssen. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß in einer Reihe von Staaten unser Programm der letzten Ziele, das volle Alkoholverbot, durchaus nicht mehr utopischer Natur ist, in anderen Staaten aber viel bescheidenere Forderungen schon utopisch wären, um uns der notwendigen Differenz zwischen dem national und international zu Erstrebenden bewußt zu sein. Das Wenige dürfen wir aber von der übernationalen Gemeinschaft erwarten, daß sie Vorsorgen treffe, damit das einzelstaatlich Erreichte und Erreichbare nicht durch fremdstaatliche Einflüsse durchkreuzt und verschüttet werde. Damit wird der internationalen Gemeinschaft durchaus noch keine aufbauende Tat auf unserem Gebiete, sondern bloß die negative Leistung einer Abwehr solchen Tuns zugemutet, das die aufbauenden Taten der einzelnen Staaten gefährdet. Über die einzelnen Mittel und Maßnahmen solcher internationalen Antialkoholpolitik wird vielleicht noch an anderer Stelle zu sprechen sein. Hier sei nur so viel festgestellt, daß als Minimalprogramm einer internationalen Alkoholbekämpfung gelten muß: Keinem Lande, das ausländischen Alkohol ablehnt, darf er von einem anderen Staate unter irgend einem Titel aufgenötigt, oder mit Duldung dieses Staates von dessen Bürgern zugeführt werden. Der Staat, der die Zwangslage eines anderen Staates benützt, um ihm Alkohol aufzunötigen oder der den Schmuggel seiner Untertanen in ein Alkoholverbotsland duldet, muß vor einem internationalen Forum belangt werden können. Die Sanktion müßte mindestens in der Ungültigkeit aller gegen das Verbot verstoßenden Vereinbarungen und in der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens bestehen. Was diesem Minimalprogramme zwischenstaatlicher Alkoholbekämpfung gewisse Chancen der Verwirklichung verleiht oder es wenigstens rechtfertigt, daß es mit Ernst und Nachdruck verfolgt wird, das ist die Tatsache, daß wir im Völkerbunde ein aktionsfähiges überstaatliches Instrument zur Verfolgung kultureller Ziele haben. Man darf allerdings nicht übersehen, daß der Völkerbund keinen selbständigen Macht- und Willensapparat bedeutet, sondern sich in seinem Wirken und seinen Wirkensmöglichkeiten als die Resultante zahlreicher Macht- und Willenszentren, vornehmlich aber der in ihm die große Rolle spielenden Hauptmächte darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es besonders bedauerlich, daß die nordamerikanische Union dem Völkerbunde bisher nicht angehört, denn sie vermöchte den alkoholgegnerischen Interessen in der Politik des Völkerbundes den nötigen Nachdruck zu verleihen, sie wäre der natürliche Anwalt der

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alkoholgegnerisch orientierten Kleinstaaten gegenüber den an der Alkoholproduktion und am Alkoholhandel interessierten Großmächten. Die Nichtangehörigkeit der Nordamerikanischen Union ist aber selbstverständlich kein Grund, dem Völkerbunde die Auseinandersetzung mit der internationalen Seite des Alkoholproblems zu ersparen, sondern vermindert höchstens die Chancen eines Appelles an diese übernationale Instanz. Den Rechtstitel zu einer solchen Inanspruchnahme des Völkerbundes gibt vor allem der Artikel 11 des Völkerbundspaktes, wonach jedes Bundesmitglied das Recht hat, in freundschaftlicher Weise die Aufmerksamkeit der Bundesversammlung oder des Rates auf jeden Umstand zu lenken, der von Einfluß auf die internationalen Beziehungen sein kann und daher3 den Frieden oder das gute Einvernehmen zwischen den Nationen, von dem der Friede abhängt, zu stören droht. Daß die Durchkreuzung der alkoholgegnerischen Maßnahmen des einen Staates von Seiten eines anderen das „gute Einvernehmen zwischen den Nationen zu stören droht", bedarf wohl kaum eines Beweises. Unter dieser leicht erfüllten Voraussetzung ist aber schon jeder Mitgliedstaat legitimiert, den Völkerbund mit dem Alkoholproblem zu befassen. Es dürfte nicht unmöglich sein, bei sich darbietender Gelegenheit einen beliebigen Mitgliedstaat des Völkerbundes zu bewegen, die Angelegenheit beim Völkerbunde anhängig zu machen. Schon diese bloße Inanspruchnahme des Völkerbundes dürfte in vielen Fällen ihre Wirkung tun, ja sogar, sobald einmal ein Präzedenzfall vorliegt, die bloße Aussicht einer Inanspruchnahme eine Prohibitivwirkung herbeiführen, da es gewiß manchen Staaten unbequem sein dürfte, im Mittelpunkt eines Verfahrens zu stehen, durch das sie als Sachwalter der Interessen des Alkoholkapitals gegen kulturpolitische Interessen eines ganzen Landes deklariert werden. Es ist etwas anderes, den Schmuggel des heimischen Alkoholkapitals insgeheim zu dulden oder zu fördern, etwas anderes, ihn vor dem Forum des Volkerbundes zu decken und zu rechtfertigen. Es ist die Aussicht vorhanden, daß in dieser Situation das sonst protegierte Alkoholkapital von seinem Heimstaate fallen gelassen wird. Die Wirkungsmöglichkeiten des Volkerbundes gehen aber in unserer Sache weit über eine solche informative Befassung hinaus. Im Artikel 23 des Völker3 Dieses „Daher" fehlt im englischen Text des Völkerbundpaktes; hiernach sind somit die Möglichkeiten der Inanspruchnahme des Völkerbundes noch weiter gespannt.

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bundspaktes betrauen die Mitglieder des Völkerbundes den Bund mit der allgemeinen Überwachung der Abmachungen betreffend den Mädchen- und Kinderhandel sowie den Handel mit Opium und anderen schädlichen Mitteln. Es muß eine solche Interpretation des Begriffes der „schädlichen Mittel" erstrebt werden, daß die alkoholhaltigen Getränke oder wenigstens gewisse besonders schädliche Alkoholien darunter subsumiert werden. Durch eine solche Interpretation wäre erreicht, daß sich der Völkerbund mit der Alkoholfrage nicht nur aus Anlaß einer gelegentlichen Inanspruchnahme von Seiten eines Mitgliedstaates, sondern ex officio kontinuierlich zu befassen haben würde. Zu erhöhter praktischer Bedeutung vermöchte endlich diese Bestimmung der Völkerbundsverfassung dadurch zu gelangen, daß der Verkehr mit Alkoholien zwischen den einzelnen Völkerbundsmitgliedern vertragsmäßig in einer Weise geregelt würde, daß diese überstaatlichen Vereinbarungen das entsprechende Komplement der einschlägigen innerstaatlichen Maßnahmen bilden. Der Inhalt dieser Vereinbarungen müßte dem oben angedeuteten Minimalprogramm einer überstaatlichen Alkoholbekämpfung gerecht werden. Die Völkerbundsverfassung böte, wie gezeigt, die Handhabe, nicht nur solche Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten von Bundeswegen zu initiieren, sondern auch ihren Inhalt unter die Garantie des Volkerbundes zu stellen. Die Nachkriegserfahrungen dürften weit und breit den Boden für die Einsicht bereitet haben, daß bei der internationalen Verflochtenheit des Staatslebens die innerstaatlichen Methoden der Alkoholbekämpfung einer Ergänzung durch überstaatliche Methoden bedürfen. Da durchaus nicht utopische Möglichkeiten für eine Internationalisierung der Alkoholbekämpfung bestehen, und vor allem in der Völkerbundsverfassung in einer auf unsere Ziele wie zugeschnittenen Weise (wenn auch unbewußt) angelegt sind, gilt es, diese Möglichkeiten mit allen propagandistischen Kräften zu aktualisieren. Die großen innerstaatlichen Erfolge der Antialkoholbewegung - Erfolge, die man am Anfang des Jahrhunderts noch gar nicht zu erträumen wagte - sind eine überzeugende Lehre, was unermüdliche, von ihrer kulturpolitischen Mission überzeugte Propaganda vermag, und legen nahe, das Kulturwerk um eine Etappe weiter zu führen, das in verschiedenen Teilen der Erde bereits vollbrachte, andernorts noch zu vollbringende nationale Werk der Befreiung vom Alkohol international zu verankern. Nur in nachhaltigem und jede Gelegenheit nutzendem Kampfe kann der Menschheit der Alkohol, der außer dem Krieg ihre ärgste Geißel ist, allmählich entwunden werden.

Alkohol, Wirtschaft und Kultur Der glänzende und doch sachliche, knappe und doch überzeugende Artikel des Professors Wilbrandt 1 hat von Seiten des Syndikus Hermann

Volkswirtschaftliche Blätter, 27. Jg. (1928), S. 81-95. Diesem Artikel wurde folgende Vorbemerkung der Schriftleitung vorangestellt: Dieser Aufsatz ist mit folgender Bemerkung des Herrn Verfassers bei der Schriftleitung eingetroffen: „Ich habe Robert Wilbrandts Aufsatz über „Die Konsequenz der Lage" zwar mit entschiedener Zustimmung gelesen, glaubte aber trotz der redaktionellen Glosse „Die Diskussion kann beginnen" Ihrem Leserkreise keine ergänzenden Bemerkungen zu Wildbrandts Ausführungen zumuten zu sollen. Durch die Entgegnung des Herrn Schöler, der zu einem Generalangriff auf die Antialkoholbewegung ausholt und sie durch ihre Diskreditierung und Ironisierung zu erledigen vermeint, ist indes die Lage eine ganz andere geworden. Nunmehr muß und darf ich wohl auch dringend bitten, auch der organisierten Abstinenzbewegung das Wort zu erteilen. Es ist nunmehr wohl auch vom redaktionellen Standpunkte aus nicht mehr überflüssig, Ihrem Leserkreise in die ganze Problemlage, wie sie sich vom Abstinenzstandpunkte aus darstellt, Einblick zu gewähren. Dabei bleibt es Ihnen ja selbstverständlich unbenommen, die allenfalls abweichende Auffassung der Schriftleitung mit aller Entschiedenheit zu unterstreichen." Wir geben diese Bemerkung des Herrn Professor Merkl hier wieder, weil es uns typisch für alle Auseinandersetzungen auf dem Gebiete der Lebensreform und der Heilreform zu sein scheint, daß jede der beiden Parteien ohne den geringsten Grund bei einer Schriftleitung Neigung zur Gegenpartei voraussetzt. Herr Professor Merkl rechnet mit einer „abweichenden Auffassung" der Schriftleitung, obwohl diese Wilbrandts scharfen Angriff auf den Alkohol ohne eigene Stellungnahme wiedergegeben hat. Umgekehrt ignorieren die Gegner der Abstinenz in ihren Zuschriften an die Schriftleitung, daß diese den ebenso umfang- wie inhaltsreichen Vorstoß Schölers gegen die Abstinenz veröffentlicht hat. Es wird bestätigt, daß die Auseinandersetzungen über Lebens- und Heilreform anscheinend ohne einen fast religiösen Fanatismus nicht geführt werden können, und zwar auch nicht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Wir bedauern deshalb, das Thema zugelassen zu haben. Im nächsten Heft der VB1. wird Syndikus Hermann Schöler abschließend das Wort erhalten, und zwar nicht nur zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit Professor Merkl, sondern auch zu einer grundsätzlichen Stellungnahme zum Aufsatze des Professors Wilbrandt. Es werden somit beide Parteien je zweimal zu Worte kommen. Dies - in Verbindung mit der Bemerkung über die Neutralität der Schriftleitung am Ende eines jeden Heftes - wird uns hoffentlich vor weiteren Unterstellungen der Parteilichkeit bewahren. 1

Vgl. Nr. 1 des Jahrganges 1927 dieser Blätter.

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Schöler 2 eine ausführliche Erwiderung erfahren, die aber selbst von den kritisch denkenden Anhängern seines Standpunktes schwerlich als befriedigende Widerlegung Wilbrandts beurteilt werden dürfte. Die Bemerkungen, mit denen der Verfasser an den wirtschaftspolitischen Erwägungen Wilbrandts - im Grunde vorbeigeht, statt auf sie einzugehen, dürften von berufener Seite Antwort finden. Schöler benutzt indes seine Replik zu einer allgemeinen Abrechnung mit der Enthaltsamkeitsbewegung und zu einer Ehrenrettung des Alkohols in allen seinen Genußformen einschließlich des Branntweins - und diese Ausführungen dürfen schon darum, weil ihnen eine wissenschaftliche Fachzeitschrift vom Range dieser Blätter als Sprachrohr gedient hat, von Seiten eines grundsätzlichen Anhängers jener Bewegung, die geradezu als eine Bedrohung der Kultur gebrandmarkt wird, nicht unwidersprochen bleiben. Dabei darf ich wohl für mich denselben guten Glauben und dieselbe Absicht bloßer Wahrheitserforschung voraussetzen, die ich dem Verfasser des in Rede stehenden Artikels vorbehaltlos zubillige. Das Hauptargument liefert für den Verfasser eine statistische Aufstellung aus dem Motivenbericht zum Allgemeinen deutschen (und zugleich bekanntlich auch für Österreich bestimmten) Strafgesetzbuch, ein Motivenbericht, der erstmals zu dem leider auch kriminalistisch relevanten Alkoholproblem in modernem Sinne Stellung genommen hat. Aus dieser Aufstellung ergibt sich, daß in Bayern im Laufe von vier Jahren die Trunkenheit nur in 21,3 bis 25,1 Prozent der Körperverletzungen die Deliktursache gewesen ist - für den Verfasser eine überraschend niedrige Zahl, die in kühnem Gedankensprung zu einem erfreulichen Leumundszeugnis für den Alkohol wird, wobei selbst für diesen Prozentsatz von Delinquenten in Frage gestellt wird, ob wirklich der von seinen Gegnern so ungerecht verlästerte Alkohol Urheber der Straftat war. Denn die erwähnte Ziffer belehrt den Verfasser - ob auch seine Leser? - daß „die nüchterne Roheit 4-5mal so zahlreich ist als die betrunkene Roheit". Und aus dieser anfechtbaren Erkenntnis wird flugs - in einem logischen Saltomortale - gefolgert, daß „nicht der Rauschzustand, sondern der Nüchternheitszustand für die Verübung von Körperletzungen der gefährlichere" sei (S. 222). Dieser vermeintliche Erfahrungssatz wird allen Ernstes ohne Spur einer statistischen und somit erfahrungsmäßigen Unterlage sogar zu einem Axiom „für die Kriminalität im allgemeinen" generalisiert (S. 232). Difficile est satiram 2

Vgl. Nr. 4.

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non scribere. Die Argumentation ist von derselben Beweiskraft wie etwa folgende: „Es steht statistisch unanfechtbar fest, daß im häuslichen Bett unendlich viel mehr Menschen gestorben sind, als im Luftballon. Hütet auch also vor dem gefährlichen Bett und trachtet wenigstens kritische Stunden eures Lebens im Luftballon zu verbringen, in dem die Todesgefahr um so vieles geringer ist!" Oder: „Es steht statistisch unanfechtbar fest, daß innerhalb irgendwelcher Wendekreise unserer Erde ungleich mehr Menschen gestorben sind als innerhalb des nördlichen und südlichen Polarkreises zusammengenommen. Also fort aus diesen todesgefährlichen gemäßigten Zonen und ausgewandert in die um so vieles bekömmlicheren Polargebiete!" Diese Beispiele eröffnen die Fehlerquellen der statistischen Erkenntnisse des Verfassers, die er als unwiderlegliche Beweise den „wissenschaftlichen Spielereien" Wilbrandts entgegenzustellen beliebt. Man darf eben nicht einfach die Zahlen der von Schöler sogenannten „nüchternen" und der alkoholisierten Gewalttäter einander gegenüberstellen, sondern müßte die Zahl der „nüchternen" Gewalttäter zur Zahl der in diesem Zeitpunkt nüchternen Menschen, die Zahl der alkoholisierten Gewalttäter zur Zahl der in demselben Augenblick überhaupt alkoholisierten Leute in Verhältnis setzen. Wenn eine statistische Erfassung dieser Ziffern möglich wäre, würde sich woran von vornherein auch kein einsichtiger Alkoholfreund zweifelt herausstellen, daß der Prozentsatz der alkoholisierten Gewalttäter außerordentlich größer als der Prozentsatz der nichtalkoholisierten ist! Dabei ist ein solcher nichtalkoholisierter Gewalttäter, der schlechthin als „nüchtern" ausgegeben und der Nüchternheit zur Last gelegt wird, doch gewiß noch himmelweit vom Idealtypus eines Nüchternen im Sinne der Abstinenzbewegung entfernt! Wie viele habituelle Trinker und Abkömmlinge von Trinkern mögen in den Statistiken als „Nüchterne" figurieren! Die Behauptung, daß der Alkohol, gewiß nicht ausschließlich, sondern neben manchen anderen sozialen Faktoren, ein die Kriminalität steigernder Umstand ist - eine Behauptung, für die nicht bloß die in Rede stehende bayerische Statistik, sondern überaus zahlreiche amtlichen Statistiken, insbesondere aus nordischen Staaten Beweis sind wird erst durch den Nachweis widerlegt, welches Kontingent die absolut Nüchternen und auch erblich durch den Alkohol Unbeeinflußten zur Kriminalität stellen. Ich bin sogar überzeugt, und die Erfahrungen der insgesamt nun schon Millionen Mitglieder zählenden Abstinenzvereine sprechen dafür, daß wer sich aus eigener Kraft zur völligen Enthaltsamkeit durchgerungen hat und diesem

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Grundsatze während einer längeren charakterbildenden Lebensepoche unentwegt treu geblieben ist, zu einem gemeinen Verbrechen schlechterdings unfähig geworden ist. Nicht die Euphorie der Alkoholnarkose, sondern die vollbewußte und freiwillig durchgehaltene Totalabstinenz ist eine Charakterschule - gewiß nicht die einzige und eine ausnahmslos zuverlässige, aber doch eine sehr wirksame Lebensschule, die jedem offensteht und niemanden, der sie ernst erprobt, enttäuschen wird. Syndikus Schöler hat sich offenbar gedacht, ein Angriff mf die Abstinenz sei die beste Verteidigung des Alkohols. Eine statistische Berechnung aber, die auf einer Vertauschung allein beweiskräftiger relativer durch absolute Zahlen beruht, ist eine stumpfe Waffe, mit der man nicht einmal den angeblich so unwissenschaftlichen und zelotischen Angriff der mit dem wegwerfenden Deminutiv sogenannten „Abstinenzler" parieren kann. Es ist Herrn Syndikus Schöler nicht gelungen, die kriminalistischen Rollen zwischen Alkohol und Abstinenz zu vertauschen, den Ankläger zum Schuldigen zu machen. Der Verfasser scheint zu glauben, daß der Angeklagte, dessen Verteidigung er übernommen hat - der Alkohol - exkulpiert sei, wenn er durch einige kriminalistische Argumente von seiner kriminellen Schuld freigesprochen ist. Indes würde die alkoholgegnerische Bewegung nicht in Verlegenheit kommen, selbst wenn der kriminalistische Hieb nicht auf den Angreifer zurückfiele. Denn in dem ungeheuren Schuldkonto, das die Enthaltsamkeitsbewegung dem Alkohol anlastet, spielt die kriminelle Schuld des Alkohols bloß die Rolle einer einzelnen gewiß sehr wichtigen Sollpost, die ihr von der alkoholisch und antialkoholisch unbeeinflußten Wissenschaft - der Kriminalstatistik, der gerichtlichen Medizin und der Psychiatrie - zur Verfügung gestellt wurde, deren Tilgung aber uns Alkoholgegner nicht zu bestimmen vermöchte, unsere Forderungen nach Eindämmung, äußerstenfalls nach Ausschluß des Alkoholgenusses aufzugeben. Die Gründe der Alkoholbekämpfung sind bekanntlich dreifacher Natur: hygienische, ethische und wirtschafspolitische; mit anderen Worten: der Alkoholgenuß wird verworfen oder zumindest seine Einschränkung gefordert, weil er unter Umständen oder überhaupt hygienisch bedenklich, ethisch verwerflich oder wirtschaftspolitisch unerwünscht sei. Diese Gründe lassen sich selbstverständlich nicht rein sondern, denn manche Erschei-

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nung des Alkoholgenusses ist jedem dieser Schuldkonti zuzurechnen. Die Gründe, die gegen den Alkoholverbrauch sprechen, steigen offenbar mit dem Alkoholkonsum, wobei selbstverständlich das Ansteigen des Alkoholkonsums des einzelnen Individuums und der ganzen Volkswirtschaft von den verschiedenen Bewertungsstandpunkten aus verschieden zu beurteilen ist. Um diese letzte Feststellung etwas zu konkretisieren, sei erwähnt, daß ein hygienisch weniger bedenklicher Genuß hochwertiger Alkoholprodukte bei gleichmäßiger Verteilung auf die gesamte erwachsene Bevölkerung wirtschaftspolitisch, namentlich in einem auf Alkoholeinfuhr angewiesenen Lande, sehr bedenklich werden kann, wogegen im Falle des übergroßen Konsums billiger Alkoholsorten durch bestimmte soziale Schichten die gesundheitlichen und moralischen Schäden überwiegen. Es ist selbstverständlich hier nicht der Ort, sich über diese Gründe der Alkoholgegnerschaft , über die eine ganze Literatur besteht, auch nur annähernd mit solcher Ausführlichkeit zu verbreiten, wie sie Syndikus Schöler dem einen Scheingrundeßr den Alkohol gewidmet hat. Aber einige Tatsachen, die der Verfasser teils völlig im Dunkeln gelassen hat, teils gar nicht zu kennen scheint, sollen doch in Kürze erwähnt werden. Was zunächst die wirtschaftspolitische Seite der Alkoholfrage betrifft, auf die man überhaupt erst unter den Zuckungen der Nachkriegswirtschaft aufmerksam geworden ist, die aber erst von Wilbrandt voll ins Licht gerückt worden ist, sei mir als Österreicher gestattet, mit einigen Ziffern aus Österreich zu dienen, welche die bekannten Daten für das Deutsche Reich in illustrativer Weise zu ergänzen geeignet sein dürften. Die auf Grund der Alkoholsteuer ermittelte Jahresproduktion an alkoholischen Getränken beträgt in Österreich 672 000 0001, der Konsum an alkoholischen Getränken ist auf mehr als 700 000 000 Schilling zu veranschlagen. Dagegen sind im Bundesfinanzgesetz vom 29. Dezember 1926 die gesamten Ausgaben für die Hoheitsverwaltung im Jahre 1927 mit 1,068 Millionen Schilling beziffert. Mit diesem Betrage wird der gesamte Aufwand des Bundes für die Gesetzgebung, die Justiz und die Verwaltung mit Ausnahme der Bundesbetriebe (Monopole und Beitrag für das Defizit der Bundesbahnen), sowie der Staatsschuldendienst des Bundes bestritten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die österreichischen Gerichte ausschließlich Bundesgerichte sind und daß der Bund auch zum größeren Teil die Verwaltungsaufgaben zu besorgen hat, die im Deutschen Reiche den Ländern zufallen. Als bemerkenswerte

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Detailziffern aus demselben Bundesvoranschlag sei der Aufwand für das Heereswesen mit 79 Millionen Schilling und für die Hochschulen mit 20 458 000 Schillinge, sowie die Betriebseinnahmen des Tabakmonopols von 312 Millionen Schilling hervorgehoben. Die österreichische Bevölkerung hat demnach für ihr Trink- und Rauchbedürfnis fast genau so viel übrig wie für ihre gesamte Staatswirtschaft mit deren vielfältigen kulturellen Aufgaben; sie gibt für ihren lieben Alkohol 10 mal so viel aus als für ihre Wehrmacht und 35mal so viel als für ihre Hochschulen - drei Universitäten, zwei technische Hochschulen, eine Hochschule für Bodenkultur, eine montanistische Hochschule, eine tierärztliche Hochschule und die Akademie der bildenden Künste. Und während die Alkoholindustrie trotz der „drückenden", um nicht zu sagen „erdrückenden" Steuerlast seufzt (richtiger gesagt „raunzt"), dabei aber blühender saniert ist als das ganze übrige Österreich, verdorren buchstäblich die Hochschulen an Mangel an Dotation für ihre wissenschaftlichen Institute. O, für Kulturreklame zu festlichen Gelegenheiten und gegenüber dem Ausland sind diese Hochschulen gut genug, aber wenn es zum Zahlen kommt, da heißt es, daß die überaus prekäre Wirtschaftslage eine Erhöhung des Hochschulaufwandes - sei es auch nur um ein Prozent des Alkoholaufwandes, mit dem schon viel geholfen wäre! - beim besten Willen unmöglich mache. Wie wäre es denn auch der Regierungsmehrheit oder der Opposition eingefallen, das Alkoholbedürfnis wesentlich zu schmälern, um ein solches Luxusbedürfnis wie die sofortige Inkraftsetzung der Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter sofort zu erfüllen! Vielleicht ließe man mit sich eher reden, wenn der Alkoholkonsum - dieser Gradmesser einer „gesunden Wirtschaftslage" - bereits auf die Vorkriegshöhe gebracht wäre, von der er ja leider infolge der schlechten Wirtschaftslage und, unverantwortlicherweise, dank der immer vehementer und skrupelloser werdenden Agitation der „zelotischen" Alkoholgegner, noch immer weit absteht! Und nun kommt Syndikus Schöler und erklärt so apodiktisch, wie es sonst nur diese unwissenschaftlichen Alkoholgegner zustande bringen, daß über „die Regulierung des Trinkbedürfnisses des Volkes, mag man sie zu rechtfertigen suchen, wie immer man will" - also wohl auch eine staatliche Drosselung des Alkoholkonsums zugunsten des Hochschulaufwandes oder der Altersversicherung - „unter wissenschaftlich geschulten Männern jede Diskussion ausgeschlossen" ist. Vielleicht anerkennt Syndikus Schöler auch den Hochschulaufwand und die Arbeiterversicherung für ein Kulturbedürfnis. Daß für ihn aber das Trinkbedürfnis - dieses „in tausend- und abertau-

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sendjähriger Kulturentwicklung überlieferte Volksbedürfnis" (was der Hochschulbetrieb nicht von sich sagen kann!) - vor anderen Kulturbedürfnissen in einem ernstlichen Konfliktsfall den Vorrang hat, darüber läßt Tenor und Tendenz seines Panegyrikus für den Alkohol keinen Zweifel, und darin ist er ja, wie die geschilderte Praxis zeigt, tatsächlich mit der großen Mehrzahl meiner Landsleute eines Sinnes. Im Deutschen Reiche mag allerdings in Anbetracht der günstigeren (aber doch wohl außer für die Alkoholindustrie nicht schlechthin günstigen) Wirtschaftslage und des damit gegebenen größeren Spielraumes für andere - ich sage wirkliche - Kulturbedürfnisse der Alkoholaufwand minder unverantwortlich sein. Es sollte sich aber doch wohl jeder deutsche Patriot bedenken, mit seinem vertrauten Quantum Alkohol mehr oder minder zur Steigerung der Reparationslast beizutragen, die unter anderem von der Höhe des Alkoholkonsums abhängt! Über die hygienischen Gründe der Alkoholbeschränkung zu sprechen, sei den Hygienikern in unseren Reihe überlassen; ich bin in diesem Punkte zu wenig sachverständig - gleich meinem Gegner. Nur zu der Kritik, die der Verfasser an den Verfassern des deutschen Strafgesetzes übt, weil sie unfreundlich genug sind, den Alkohol zu den Rauschgiften zu zählen, sei ein kurzes Wort gestattet. Zur Ehrenrettung des Alkohols wird gesagt, daß alles , was in Übermaß genossen wird, „Gift" sei, selbst Wasser. Wer an dieser Terminologie Geschmack findet, mag sie verwenden - die der Chemie und der Ernährungslehre ist sie jedenfalls nicht. Und daß der Alkohol bei einem gewissen Maße des Konsums Rausch verursacht, ist doch wohl unbestreitbar und unbestritten. Und trotzdem will es der Verfasser nicht gelten lassen, daß der Alkohol ein „Rauschgift" sei, auf einer Linie etwa mit dem Opium und Morphium, qualitativ gewiß nicht so gefährlich wie diese, dafür aber quantitativ viel gefährlicher! Der Alkoholrausch kommt eben unendlich häufiger vor als etwa der Opium-, Morphium- oder Kokainrausch. Denn wer zugibt, daß der Alkohol ein Rauschgift ist, der könnte dann auch schwerlich bestreiten, daß der Alkohol gleich den vorgenannten Giften - sei es auch nur bildlich - in den Giftschrank gehöre, daß er von Rechts wegen irgendwie dosiert werden solle. Eine solche Konsequenz muß aber um alles in der Welt verhindert werden! Man darf zwar dem Trinker zureden, mäßig zu sein, um nur ja nicht etwa den zelotischen Alkoholgegnern ein argumentum ad hominem dafür zu liefern, daß der Alkohol denn doch ein Rauschgift sei. Aber ein System von rechtlichen Barrieren dagegen errichten, daß sich der Trinker betrinkt, etwa durch die Vorschrift einer Sperrstunde vor dem ersten

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Hahnenkrähen, durch das Verbot der Verabreichung von geistigen Getränken an den „angeheiterten" Gast - unser Sprachgebrauch ist leider so alkoholbefangen, daß er den traurigsten Zustand „heiter" findet! - durch eine auf Alkoholprohibition hinauslaufende Schankstättenpolitik: das sind Erfindungen und Forderungen der zelotischen „Abstinenzler", denen man im Namen der dreimal geheiligten Freiheit des altehrwürdigen Trinkbedürfnisses bis aufs äußerste widerstehen muß! Ich möchte nicht bezweifeln, daß Schöler gegen eine systematische Trinkerfürsorge grundsätzlich nichts einzuwenden hat. Wie stellt sich aber Schöler zu der in allen Trinkerheilanstalten erprobten Tatsache, daß Trunksucht, wenn überhaupt, nur durch unerbittliche Totalabstinenz heilbar ist? Läßt er in diesem Falle eine Ausnahme von seinem eifervoll verteidigten Prinzipe zu, daß dem Trinkbedürfnisse, das gerade beim Gewohnheitstrinker am elementarsten zutage tritt, keinesfalls mit staatlichen Zwangsmaßregeln gesteuert werden dürfe, so ist es nur noch die Zweckmäßigkeitsfrage, wie weit Zwang gegen den Alkoholgenuß überhaupt angemessen sei, die die Alkoholfreunde von den Alkoholgegnern scheidet. Dank der Aufklärungsarbeit der Alkoholgegner liegen gegenwärtig die Dinge schon so, daß selbst die treuesten Verfechter der Alkoholfreiheit nicht mehr den Mut zur letzten Konsequenz aus dem Prinzip der Alkoholfreiheit haben. Das liegt durchaus in der Entwicklungstendenz unserer Gesetzgebung und Verwaltung vom Individualismus zum Kollektivismus, von individuellen Rechten zu sozialen Pflichten, deren rechtliche Garantie ja durchaus mit Freiheit des Einzelnen vor staatlichem Zugriff in der kulturell irrelevanten Sphäre gepaart sein kann. Ebenso wie man heute im alkoholfreundlichen Lager staatliche Alkoholpolitik bekämpft, hat man in der Hochblüte des wirtschaftlichen Liberalismus staatliche Armenpolitik bekämpft. Es ist die Prognose vielleicht nicht zu gewagt, daß sich in ein paar Menschenaltern die grundsätzlichen Bekämpfer eines staatlichen Interventionismus in Alkoholfragen im europäischen Kulturkreis werden verstecken müssen, wie sich heute die prinzipiellen Gegner einer staatlichen Armenpolitik - falls es solche noch gibt - nicht mehr hervorwagen. Und es könnte den prinzipiellen Gegnern eines rechtlichen Verbotes des Alkoholismus, das in einer Regulierung oder einer Kontingentierung des Alkoholkonsums zum Ausdruck kommen würde, zu denken geben, daß noch nicht vor allzu langer Zeit ein Verbot des Analphabetismus belächelt und bekämpft worden ist, das

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mittlerweile in der Gestalt der allgemeinen Schulpflicht, der gesetzlichen Regulierung und Kontingentierung amtlich vermittelter Bildung, zur Selbstverständlichkeit aller Kulturnationen geworden ist. Die Gegner eines staatlichen Interventionismus in der Alkoholfrage stehen ebenso auf einer verlorenen Position wie die Gegner staatlicher Intervention in kulturellen oder sozialen Fragen. Doch weiter! Hält der Verfasser - im Gegensatz zu sämtlichen Vertretern der medizinischen Wissenschaft - den Genuß von Alkohol im kindlichen und jugendlichen Alter auch nicht für gesundheitsschädlich? Doch, falls er in diesem Punkte kein Gewicht auf eine „splendide isolation" seiner Meinung legt, versteht er sich dann zu der, gerade bei Kindern und Jugendlichen unvermeidbaren Konsequenz, daß der Alkoholgenuß in diesen Lebensaltern auch mit gesetzlichen Mitteln gehindert werden darf? Oder gilt das vernichtende Urteil, das der Verfasser grundsätzlich für jede staatliche Regulierung des Alkoholkonsums bereit hat, im Ernst auch für die großen parlamentarischen Mehrheiten des deutschen Reichstages und des österreichischen Nationalrates, die den gesetzlichen Verboten der öffentlichen Verabreichung von Alkohol an Jugendliche ihre Stimmen gegeben haben? Werden aber nur erst diese Gesetze, die selbst von einsichtsvollen Alkoholfreunden gebilligt werden, mit vollem Ernste durchgeführt, so hat die alkoholgegnerische Bewegung zur Hälfte gewonnen, denn die Jugendlichen, die heute kraft Gesetzes, selbst gegen den Willen unverständiger Eltern und Erzieher zur Enthaltsamkeit erzogen werden, werden herangereift größtenteils freiwillige Abstinenten sein. Mit der hygienischen hängt die populationistische Seite des Alkoholproblems zusammen. Will Schöler die degenerativen Wirkungen des Alkoholismus, d.h. des Alkoholübermaßes, auf die Nachkommenschaft bestreiten, und rechtfertigen nicht einmal sie in seinen Augen eine gewisse rechtliche Prophylaxe? Denn nichts so wie die Wirkungen des Alkoholismus über sein unmittelbares Opfer hinaus, insbesondere auf seine Nachkommenschaft, widerlegt die beliebte Behauptung der Alkoholfreunde, daß es jedermanns höchst persönliche Sache sei, ob und wie viel er trinkt, macht es jedem Einsichtigen klar, daß die Alkoholfrage keine individuelle Frage ist, die jedermann nach seinem Geschmack und nach seiner Einsicht lösen kann, sondern daß sie eine soziale Frage ist, die man mit sozialen Mitteln lösen darf und soll. Ebenso wie die Gegenwart rechtliche Vorbeugungsmaßregeln für selbstverständlich ansieht, um zu verhüten, daß ein Kranker seine

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Nachbarschaft infiziert, wird es eine etwas aufgeklärtere Zukunft zu verhüten notwendig finden, daß ein Alkoholiker seine Nachkommenschaft erblich belastet. Und eine solche Prophylaxe wird vernünftigerweise nicht erst gegenüber den Wirkungen, sondern gegenüber den Ursachen einsetzen und mit allen geeigneten Mitteln zu verhindern suchen, daß jemand Alkoholiker wird oder bleibt. Für die Beleuchtung der moralischen Seite des Alkoholproblems ist gewiß hier am wenigsten der Ort. Nur ist es gegenüber der Lobeshymne, die Schöler dem Alkohol widmet, doch nicht überflüssig anzudeuten, daß die Alkoholfrage auch eine solche, leider fast ganz unbeachtete (von mir gelegentlich einläßlich betrachtete) Seite hat. Gewiß wäre es übertrieben, mäßigen Alkoholgenuß an sich schon moralisch zu brandmarken, vorausgesetzt, daß der Trinker durch seinen Genuß nicht einem anderen, für den er zu sorgen verpflichtet ist, wichtigere Güter entzieht, oder daß er Volkseinkommen, das nicht einmal zur Deckung der Existenz geschweige denn der Kulturbedürfnisse hinreicht, für einen unschwer entbehrlichen Genuß absorbiert, oder daß er durch das Beispiel mäßigen Alkoholgenusses maßlosen Alkoholgenuß auslöst. Ich behaupte allerdings, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen Nüchternheit nationales Gebot ist! Und darf der millionenfach gehäufte Rauschzustand, der den Menschen entwürdigt wie wohl nur die sexuelle Orgie und der den Charakter der Nation als Kulturnation ernstlich in Frage stellt, als ein kleines Übel bagatellisiert werden, das sich leider in vielen Fällen nicht ausschalten lasse und im Gefolge der Annehmlichkeiten des Alkohols hingenommen werden müsse? Wird die Familie des Trinkers, die von den Alkoholfreuden ihres Familienoberhauptes nichts als Hunger und obendrein vielleicht auch Prügel zu erwarten hat, im Alkohol auch den „Sorgenbrecher" und „Freudenbringer" sehen, als den ihn Syndikus Schöler preist? Sind die zahllosen Frauen- und Kindertiänzn, die der Alkohol schon verursacht hat, wirklich durch die Heiterkeit kompensiert, die der Alkohol im Trinker gewiß schon unendlich oft, aber doch immer nur vorübergehend und nicht ungetrübt, ausgelöst hat, oder sind sie nicht vielmehr eine Mahnung, auf die individuelle Lust zu verzichten, die vom Alkohol kommt, falls dadurch das soziale Übel, das aus derselben trüben Quelle fließt, gebannt werden kann? In breiten sozialen Schichten ist die Emanzipation der Frau geradezu durch die Emanzipation des Mannes vom Alkohol bedingt. Muß, wer ernstlich die Emanzipation der Frau will, nicht auch ihre Vorbedingung in bezug auf den Alkohol erfüllen wollen?

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Unser Autor ist für die sozialen Schäden des Alkohols nicht blind, was ja schließlich bei den Dimensionen dieser Schäden nicht gut möglich wäre, und sucht sie - von den kriminellen Wirkungen des Alkohols abgesehen nicht zu bestreiten. Nur meint er eben, daß der überlieferte Alkoholgenuß trotz seiner unleugbaren Schäden um der Heiterkeit und Schönheit, Freude und Lust, kurz um der Kultur willen, die er ins Volk trage, gerechtfertigt sei, sofern er überhaupt einer Rechtfertigung bedürfe. Dagegen erscheint dem Verfasser die Totalabstinenz als „.Kulturexperiment von unerhörtestem Risiko ", zumal, wenn er daran denkt, „was die Menschheit unter der Herrschaft des Alkohols geleistet hat". Ich mute dem Verfasser ein solches von ihm offenbar als vivisektorisch empfundenes Experiment nicht zu, sondern gönne ihm persönlich gerne sein wiederholt zitiertes Gläschen. Es ist auch gar nicht notwendig, daß er ein solches Opfer für die Abstinenzbewegung bringt, für die er so wenig übrig hat. Es sind ihm andere schon zuvorgekommen; das Experiment, das der Verfasser in so abschreckenden Farben schildert, ist ja schon versucht worden - und gelungen.3 Die 2 500 000 Stimmen deutscher Frauen und Männer, die im Jahre 1926 für die Einführung des Gemeindebestimmungsrechtes abgegeben wurden, sind zum größten Teil auch latente Stimmen für ein staatliches Alkoholverbot. Und die Anschlußfreude der nicht nur um vieles absolut, sondern um einiges auch relativ schwächeren österreichischen Alkoholgegner verdoppelt sich durch die Aussicht, sich dank dem staatlichen Zusammenschluß mit der Armee der Alkoholgegner im Reiche vereinigen zu können. Was die heute noch bestehende ziffernmäßige Schwäche der Antialkoholbewegung einigermaßen ausgleicht, das ist die Zusammensetzung unserer Schar. Von den 2900 alkoholgegnerisch organisierten deutschen Erziehern entfallen mehr als 1000 auf Österreich, für unser kleines Land ein nicht unansehnlicher Prozentsatz. Ein Viertel der in Österreich wirkenden Pastoren sind alkoholgegnerisch organisiert. Das sind vom Standpunkte der deutschen Alkoholgegner hoffnungsvolle Erscheinungen, denn wenn es der unbezahlten, aber um so mehr begeisterten Werbearbeit

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Ich darf vielleicht erwähnen, daß ich selbst seit früher Kindheit durch mehr als ein Vierteljahrhundert das Experiment der Totalabstinenz an mir vollziehe, und trotzdem immer noch lebe, wie meine (gewiß nicht von Alkohol, sondern höchstens von Hochquellwasser befeuerten) Worte beweisen. Ja ich fürchte nach meinen bisherigen Erfahrungen nicht einmal an den Folgen lebenslänglichen Alkoholentzuges zu sterben.

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der alkoholgegnerischen Männer und Frauen unter einer entschlossenen Führung gelingt (da uns die nur zu oft bezahlter Alkoholpropaganda dienende Presse, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, verschlossen ist), von Schule und Kirche Besitz zu ergreifen, so gehört uns zwar noch nicht die Gegenwart, wohl aber die Zukunft. Und unsere beste Hoffnung ist die deutsche Jugendbewegung, die zum guten Teile in unseren Reihen marschiert und für unsere Sache eine alkoholfreie, aber um so nachhaltigere Begeisterung aufbringt, von der sich manche alkoholfrommen Gemüter nichts träumen lassen. Es gibt ja heute keine Gemeinde, ja kaum noch eine Gasse, vielleicht nicht einmal mehr eine beträchtliche Zahl von Häusern in deutschen Landen, in die nicht schon dieser gefährlich grassierende Infektionsbazillus des Antialkoholismus getragen worden wäre. Die Nervosität der Abwehr aus dem zahlenmäßig und finanziell so ungeheuer überlegenen alkoholfreundlichen Lager, das gerade mit seiner Abwehr von der Art der Polemik Schölers Wasser auf unsere Mühlen treibt, ist vielleicht schon ein Symptom der beginnenden Schwäche und der Ungewißheit, wessen man sich von einer so unheimlich um sich greifenden Bewegung noch zu versehen hat. Dabei spielt wohl auch die Rücksicht auf die nordamerikanische Union mit, wo ja das für Schöler unausdenkbare unerhörte Kulturexperiment bereits vollzogen ist, wo das staatliche Alkoholverbot - trotz redlicher gegenteiliger Bemühungen gewisser Alkoholinteressenten - durchaus nicht auf dem Papiere steht, sondern mit Eifer und Härte mit dem Ergebnis durchgeführt wird, daß dem Mann aus dem Volke die Alkoholflasche beträchtlich höher, ja fast unerreichbar hoch gehängt ist. Wenn die Mehrheit des nordamerikanischen Volkes am Alkoholverbote trotz des Ansturmes einer mächtigen Minderheit zähe festhält, dann gibt es auf amerikanischem Boden eine für deutsche Verhältnisse unvorstellbar große Zahl von ernsten Alkoholgegnern und wirklichen Abstinenten. Und trotzdem keine Spur von den Schreckgespentern, die dem deutschen Volke als Folgen der Totalabstinenz an die Wand gemalt werden! Keine Wirtschaftskrise, keine Kulturkrise, nicht einmal eine Verschiebung des wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus zwischen dem alkoholgegnerischen und alkoholfreundlichen Volksteil, nur die Erscheinung des Freiwerdens eines großen Einkommenprozentes zugunsten höherer Bedürfnisse. Die englischen und amerikanischen Versicherungsunternehmer, die den Abstinenten vor den Trinkern begünstigte Lebensversicherungsprämien gewähren, kalkulieren gewiß ebenso richtig wie die deutschen Alkoholun-

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ternehmer , die ihren Kunden die Gefahren der Alkoholabstinenz an die Wand malen - nur mit dem Unterschiede, daß jenen ihr Geschäftsinteresse empfiehlt, den Tatsachen gemäß durch ihre Geschäftspraxis die biologische Mehrwertigkeit der Alkoholabstinenz zu bezeugen, diesen aber ihr Geschäftsinteresse gebietet, tatsachenwidrig die kulturelle Bedeutung des Alkoholkonsums ins Licht zu rücken. Die durch tausendfältige Erfahrung erwiesene Wahrheit ist, daß die Alkoholabstinenz den Abstinenten gut anschlägt - nicht aber den Alkoholinteressenten und jenen Produzenten der öffentlichen Meinung, die von den Alkoholproduzenten abhängen. Begreiflich, daß die Alkoholproduzenten die Alkoholkonsumenten glauben machen wollen, daß auch für sie die Alkoholabstinenz, wenn schon nicht den materiellen, doch den ideellen, kulturellen Ruin bedeuten würde. Ein Urteil aber, das die vorurteilslose Wissenschaft überprüfen und berichtigen muß. Die Gegenwartserfahrungen mit der Abstinenz - soweit diese verwirklicht ist - , müssen gegen die geschichtliche Kulturfunktion , die Schöler dem Alkohol nachsagt, zumindest ebenso skeptisch stimmen, wie die vorhin beleuchteten Einwürfe, die sich gegen den Alkoholkonsum vom hygienischen, ethischen und ökonomischen Standpunkt erheben. Diese drei Komponenten ergeben zusammen ein beträchtliches Passivum an nationaler Kultur. Steht aber diesem Passivum ein ausschlaggebendes Aktivum gegenüber? Die bisherigen Abstinenzversuche haben nur erwiesen, daß man den Alkohol aus dem Leben des Volkes wie des Einzelnen streichen kann, ohne daß sich irgendein Manko als das unbefriedigte Alkoholbedürfnis der alkoholgewohnten Leute bemerkbar gemacht haben würde. Doch dieses Bedürfnis läßt sich umstellen - und wird sich im jungen Menschen gar nicht erst einstellen , wenn es nicht künstlich erweckt wird. Welche lebenswichtigen und kulturellen Bedürfnisse mußten z.B. im Kriege unbefriedigt bleiben oder durch minderwertige Surrogate befriedigt werden! Wollen die Alkoholfreunde bestreiten, daß es für den Alkohol Ersatz gibt, für den das etwas anrüchige Wort „Surrogat " ganz unangebracht wäre? Ein Intellektueller würde sich bedenken zu gestehen, daß ihm irgendeine Leibspeise „unentbehrlich" sei. Ist der von Schöler gepriesene Schoppen Bier oder Wein oder das Gläschen Schnaps um so viel edler, daß man sich nicht zu schämen brauchte, sie als die Hauptquellen von Freude und Lust, und darum unentbehrlich auszugeben? Will Schöler sich und seinen Gesinnungsgenossen das Armutszeugnis ausstellen, daß ihm und ihnen ein Buch nicht den fehlenden Alkohol, daß Natur-, Kunstgenuß, Sportbetrieb und was immer sonst nicht

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den Alkoholgenuß ersetzen könnten? Ich habe von der großen Mehrzahl der heutigen Alkoholfreunde eine bessere Meinung. Der kulturellen Passivpost des Alkohols steht mithin, da er ohne irgendwelche bedauerliche Folgen als Genußmittel ausgemerzt werden kann, keinerlei Aktivpost gegenüber; die Kulturbilanz des Alkohols schließt mit einem beträchtlichen Defizit. Die heutige Kulturlage hat sich nicht, wie Schöler annimmt, infolge, sondern trotz des Alkohols entwickelt. Mit welchem Rechte kann Schöler überhaupt annehmen, daß die kulturell relevanten sozialen Erscheinungen, darum auch schon kulturförderlich gewesen seien? Die ganze abendländische Kulturentwicklung ist nicht bloß unter der „.Herrschaft" des Alkohols, sondern unter anderem auch unter der „.Herrschaft" der Prügelstrafe gestanden. Wird man darum - ähnlich, wie es Schöler bezüglich des Alkohols tut - sagen können, die abendländische Kultur habe sich dank der freundlichen Mitwirkung der Prügelstrafe entfaltet? Sogar in den Zeiten des Hexenaberglaubens, in dem bekanntlich die Deutschen nicht weniger als im Alkoholverbrauche groß gewesen sind, ist die Entwicklung der Zivilisation und selbst der Kultur nicht stillgestanden. Welcher Vernünftige wird aber behaupten wollen, daß die Scheiterhaufen, die in deutschen Landen gebrannt haben, Zivilisation und Kultur angefeuert und gefördert haben? Es gibt eben nicht bloß akzelerierende, sondern auch retardierende Faktoren der Kulturentwicklung, und zu den letzten gehört nicht zuletzt der Alkohol. Wenn mein Gegner von den wohltätigen Wirkungen der„.Herrschaft" des Alkohols spricht, so erinnert dies ganz besonders an die Herrschaft der Sklaverei, die wirklich in gewissem Sinne ein Kulturfaktor, die wahrscheinlich eine condicio sine qua non der klassisch-antiken Kultur gewesen ist. Die Sklaverei hat historische Verdienste um die Kultur, die der Alkohol nicht aufzuweisen hat. Hätte man, als die Antisklavereibewegung der Sklaverei endlich ernstlich die Existenzfrage stellte, die Sklaverei um ihrer historischen Verdienste willen konservieren sollen? Die Alkoholrepräsentanz hat der Antialkoholbewegung im Grunde nur das allgemeine Argument aller Rückwärtserei „Es war immer so" entgegenzustellen. Daß etwas in der Vergangenheit gewesen ist, ist aber kein Beweis dafür, daß es auch in der Zukunft so bleiben soll und - wird. Die Abstinenzbewegung glaubt sich auf dem besten Wege, solche Zukunftskalkulationen aus der Vergangenheit zu entkräften. Wir wissen, daß

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wir gegen eingewurzelte Gewohnheiten, die nicht nur von den daran gewohnten Menschen, sondern mehr noch von den Interessenten dieser Gewohnheiten zäh verteidigt und mit dem Nimbus des altehrwürdig Traditionellen umgeben werden, nur schwer, nur schrittweise und nicht ohne Rückschläge ankämpfen und vorwärtskommen werden. Und wir wissen, daß wir die Eindämmung und letztlich die Ausschaltung des Alkohlgenusses nicht lediglich durch Zwang, sondern vor allem durch Belehrung und Erziehung herbeiführen können. Gerade die demokratisch-republikanische Verfassung, deren wir uns erfreuen, verweist uns auf die Methode der Propaganda, denn sie gibt uns nur dann Einfluß auf die Staatsmaschine, wenn wir unseren Gedanken und Forderungen durch Propaganda und Beispiel im Volke den Boden bereitet und die Mehrheit gewonnen haben. Ohne daß ich mich auf die Methodenfrage, die selbst innerhalb der Abstinenten ungeklärt ist, näher einlassen könnte, sei angedeutet, daß legislative und administrative Maßnahmen zur Ergänzung und zur Sicherung unserer Werbearbeit unerläßlich sind. An diesem Punkte scheiden sich die Wege der Abstinenten von den sogenannten Temperenzlern und von allen jenen, die die Schädlichkeit des Alkoholübermaßes zwar zugeben, uns aber alle Mittel versagen, um dem Alkoholismus beizukommen und so - mit einer modern anmutenden Geste, mit der Geste der Mäßigkeit und Freiheit der angestammten Herrschaftsstellung des Alkohols die Mauer machen. Jene Geste steht vielleicht weniger denen an, die, wie manche Alkoholinteressenten, ohne weiteres zum Zwang bereit sind, wenn es sich etwa darum handelt, die ausländische Alkoholkonkurrenz zu drosseln, dann aber über Zwang entrüstet sind, wenn er die Erzeugung und den Absatz von heimischem Alkohol zu beschränken droht, sondern eher denen, die die Menschheit vom gesellschaftlichen Zwang der Alkoholgewohnheiten, von der „Herrschaft" des Dämons Alkohol befreien wollen. Dieses Befreiungswerk kann nur unter Mithilfe von Mitteln des Zwanges vollbracht werden, als da beispielsweise sind das Gemeindebestimmungsrecht, das Verbot des Alkoholausschankes an Sonntagen und - um mich offen auch zum letzten Ziele der radikalen Alkoholgegner zu bekennen - das allgemeine Alkoholverbot. Die heutige Generation der Alkoholfreunde kann allerdings leider um unser Kampfobjekt unbesorgt sein. Wir geben uns darüber keiner Täuschung hin: Ehe das Endziel der Alkoholgegner erreicht sein wird, werden die braven Deutschen noch ganze Fluten Alkohol vertilgen, werden noch Mil-

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lionen Deutsche in der Alkoholnarkose lallen und torkeln, werden noch Tausende Deutsche im direkt oder indirekt durch Alkohol verursachten Wahnsinn zugrunde gehen, werden um des Alkohols willen noch zahllose Frauen- und Kindertränen vergossen werden. Wer aber „die Konsequenz der Lage" ziehen, wer diesen ganzen Jammer, den keine naturalistische Schilderung auszumalen vermag, an der Wurzel anpacken will, indem er seine Quelle - eben den Alkohol - zum Versiegen zu bringen sucht, der bedroht mit solchen Zelotismus Freude und Lebenslust? Wenn unser ungeheuer schöpferisches, - vom Alkohol befreit, vielleicht doppelt so leistungsfähiges - deutsches Volk trotz der Alkoholseuche so Großes leistet, so ist dies offenbar ein Verdienst des - Alkohols? Und wer allen sozialen Jammer, den der Alkohol verursacht, konservieren will, nur um für alle Fälle sein eigenes gewohntes Alkoholmaß oder den Geldgewinn aus dem Alkoholgenuß der anderen sicherzustellen, der ist doch der Hüter der heiligsten nationalen Güter, der wahre Bannerträger der Kulturl

Aus der Woche Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Beschluß vom 23. Juni 1933 in dem Rechtsstreit zwischen dem Bund und dem Land und der Gemeinde Wien seine durch die Verordnung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933 begonnene Ausschaltung vollendet. Denn wenn der Verfassungsgerichtshof auch in jenen Fällen seiner Zuständigkeit, für die seine gegenwärtige Mitgliederzahl noch hinreicht, das Verfahren zu unterbrechen beschließt, um in einem besonderen Verfahren, für das ihm jedenfalls die nötige Mitgliederzahl mangelt, die Gültigkeit jener Verordnung zu überprüfen, die ihn teilweise funktionsunfähig gemacht hat, dann ist er für alle Fälle seiner Zuständigkeit funktionsunfähig geworden. Es bleibe dahingestellt, ob es von vornherein auf diese letzte, im Sinne der Verfassung gewiß zwangsläufige Konsequenz abgesehen war. Eine Paradoxie des vielleicht überspitzten Garantiesystems unserer Verfassung hat es mit sich gebracht, daß die Verfassungstreue des Verfassungsgerichtshofes die letzten Wirkungsmöglichkeiten des von der Verfassung eingerichteten zentralen Verfassungsgaranten aufheben mußte. Nun fehlt jeder Faktor im Staatsleben, der eine Verordnung oder einen sonstigen Vollzugsakt auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen könnte; damit ist die Verfassungslage auf die Zeit vor der Dezemberverfassung des Jahres 1867, ja in gewisser Hinsicht sogar vor dem März 1848 zurückgeschraubt. Denn schon die konstitutionelle Monarchie hatte den Gerichten - wohlgemerkt jedem Gerichte - das Recht eingeräumt, Verordnungen auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen und im Falle der Überzeugung von ihrer Rechtswidrigkeit den Rechtsfall ohne Rücksicht auf die Verordnung zu entscheiden. Gegenwärtig darf sich kein Gericht über eine juristisch noch so bedenkliche Verordnung hinwegsetzen, sondern muß zuwarten, ob der Verfassungsgerichtshof sie außer Kraft zu setzen findet. Die vormalige und nunmehrige Rechtslage der Verordnungsprüfung ist

Der österreichische Volkswirt, 25. Jg. (1933), S. 949-950. Ausschließlich der mit der Randrubrik „Selbstausschaltung des Verfassungsgerichtshofes" versehene und hier wiedergegebene Teil des Wochenberichts weist Merkl als seinen Autor aus.

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vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem Dampfbetrieb und dem elektrischen Betrieb der Eisenbahnen. Ein Bombenabwurf auf die Elektrizitätszentrale kann den ganzen Eisenbahnverkehr mit einem Schlag zum Stillstand bringen, was selbstverständlich beim Dampfbetrieb nicht möglich ist. In ähnlicher Weise hat der Schlag gegen den Verfassungsgerichtshof als die zentrale Verordnungskontrollstelle - jede behördliche Verordnungskontrolle lahmgelegt. Damit wurde freilich eine drohende Gefahr von der Praxis der kriegswirtschaftlichen Verordnungen abgewendet. Denn darüber wurde wohl die Regierung von ihren juristischen Beratern nicht im Zweifel gelassen, daß ein Großteil der kriegswirtschaftlichen Verordnungen die Prüfung vor dem Verfassungsgerichtshof nicht bestehen würde. Nicht daß das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz überhaupt noch angewendet wird, sondern daß das von ihm eingeräumte Ermessen zu wenigstens mittelbar wirtschaftlichen Maßnahmen vielfach überschritten wurde, daß mehrere besonders wichtige Verordnungen in das durch die Verfassungsnovelle des Jahres 1929 dem Notverordnungsrecht überhaupt entzogene Gesetzgebungsbereich eingreifen, daß die Strafbestimmungen der Verordnungen entgegen dem eindeutigen gesetzlichen Vorbehalt der Strafkompetenz für die politischen Behörden, d.s. die Bezirkshauptmannschaften und Magistrate der Statutargemeinden, die Bundespolizeibehörden mit der Strafamtshandlung betrauen, endlich in einzelnen Fällen Eingriffe in die Verfassung - : das sind die Fehlerquellen der kriegswirtschaftlichen Verordnungen. Nimmt man noch hinzu, daß die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes zugleich auch den verfassungsgerichtlichen Schutz der Grund- und Freiheitsrechte ausschließt, um dessentwillen die Monarchie eigens im Jahre 1867 das Reichsgericht eingeführt hat, daß ferner die gerichtliche Unabhängigkeit de facto aufgehoben ist, weil ein Gericht gegenüber einer in Verordnungsform erteilten Weisung wehrlos geworden ist, daß ferner auch der Rechnungshof durch die Ausschaltung des ihm vorgesetzten Nationalrates um seinen Sinn gekommen ist, so sind bei der gegenwärtigen Verfassungslage alle Staatsgewalten in der Regierung vereinigt und damit im Sinne der Begriffsbestimmung Immanuel Kants alle Voraussetzungen der Despotie erfüllt. Daß dies der Allgemeinheit nicht voll bewußt ist, erklärt sich wohl lediglich aus dem im ganzen maßvollen und verantwortungsbewußten Gebrauch der despotischen Gewalt. Immerhin kann die ungeschminkte Einsicht in diese Verfassungslage eine erneute Mahnung sein, zum Rechtsstaat, der Österreich schon als Monarchie war, baldmöglichst zurückzukehren.

Die wirkliche Größe Am 14. Februar jährt sich zum 5. Mal der Tag, an dem die Geschwister Scholl zusammen mit dem Tiroler Laternser an der Münchener Universität ihre Flugblätter abgeworfen und sich damit für die Idee der Freiheit geopfert haben. Ein Paket Papier gegen ein Arsenal von Waffen, die zwar gegen die äußeren Gegner zu versagen begannen, aber umsomehr bereit und imstande waren, die Gegner im Innern zu zermalmen; das war die wirkliche Größe der wehrlosen Freiheitskämpfer von München. Was nach dem Paragraphen des Strafgesetzes stümperhaft unternommener Hochverrat gewesen ist, war nach den ungeschriebenen Gesetzen der politischen Ethik die sinnvollste, ehrenvollste nationale Tat gegen den zwiefachen verbrecherischen Irrsinn der Zeit: Gegen ein Regime der Unfreiheit und des Terrors, zugleich aber auch gegen den Krieg, der im Grunde nicht weniger gegen das eigene Volk wie gegen die Kriegsgegner gerichtet war, und der für den Fall der Erreichung seiner Ziele der Jugend die unwürdige Aufgabe stellte, als militärische Wächter der unterworfenen Völker zu dienen. Gewiß, unter den gegebenen Umständen fürs nächste ein vergeblicher Protest, denn wie die Dinge angesichts der skrupellosen Entschlossenheit des Regimes, Hekatomben von Feinden aus dem eigenen wie aus fremden Völkern der Fristung des Lebens seiner Führer zu opfern, damals lagen, konnte nur eine bewaffnete Auseinandersetzung innerhalb des Führungsapparates dieses von innen heraus zu Fall zu bringen. Und doch war die Selbstopferung der Münchener Studenten nicht vergeblich. Jungen und alten Akademikern gab die Tat der Geschwister Scholl das Vertrauen wieder, daß auch die heranwachsende deutsche Jugend sich zu anderen als den vom Nationalsozialismus gestellten Forderungen sich bekehren und bekennen würde. Die Scholl und Laternser sind und bleiben darum in der großen Reihe der namenlosen deutschen Opfer Ehrenzeugen des deutschen inneren Widerstandes.

Der Württemberger vom 14. Februar 1948.

Der Alkoholverbrauch und der Wiederaufbau Österreichs Die Erfahrungen der beiden Weltkriege, deren Hauptleidtragender unsere österreichische Heimat gewesen ist, zeigen, daß der furchtbare wirtschaftliche Aderlaß, den außer den Blutverlusten jeder Krieg von heute für den gewinnenden und umsomehr für den verlierenden Teil mit sich bringt, weit mehr den Verbrauch an den notwendigsten Bedarfsgegenständen und umsomehr von kulturell wertvollen Genüssen als von reinen Genußgütern wie alkoholhältigen Getränken und Tabak verringert. Das bedeutet, daß innerhalb des alten Kulturherdes Europa, ja selbst in unserem auf unsere kulturelle Überlieferung so stolzen Österreich, beträchtliche Teile der Bevölkerung eher ihr Wohnbedürfnis, ihr Reinlichkeitsbestreben, ja selbst ihren Nahrungs- und Bekleidungsaufwand aufs äußerste einzuschränken und eher auf jedes wertvolle Vergnügen, wie etwa den Kauf und die Lektüre eines guten Buches, auf den Naturgenuß, der ungleich mehr und billiger als jedes Rauschgift ein Gefühl der Entspannung und Befreiung auslöst, zu verzichten bereit sind als auf den „lieben" Alkohol. Der erste Weltkrieg hat an Stelle der Großmacht von mehr als 50 Millionen Einwohnern einen österreichischen Zwergstaat von 6.7 Millionen zurückgelassen, dem die Siegermächte die schlechtesten Fahrbetriebsmittel und den Bettel von rund 10 Millionen des großen Gold- und Devisenschatzes des Kaiserstaates überließen. Im Jahre 1921, zu einer Zeit, da die Kriegsfolgen noch drückend auf dem Lande lasteten, besonders der geistige Mittelstand noch das kümmerlichste Leben fristete, hatte aber der Alkoholver-

Die alkoholfreie Jugenderziehung, 1952, Nr. 1, S. 1-4. Diesem Artikel wurde folgende Anmerkung vorangestellt: Das langjährige Mitglied des Bundes für alkoholfreie Jugenderziehung, das seit seinem Eintritt in die Universität im Herbst 1908 alkoholgegnerisch organisiert ist, führte in seinem in der Hauptversammlung dieses Bundes gehaltenen Vortrag unter dem obigen Titel hauptsächlich Nachstehendes aus:

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brauch bereits die Vorkriegshöhe erreicht. Für das Jahr 1927, das ungefähr den wirtschaftlichen Höchststand Österreichs zwischen den Wellentälern der beiden Weltkriege bedeutet, sieht das Bundesfinanzgesetz für die gesamte „Hoheitsverwaltung", zu der u. a. das Unterrichtswesen des Bundes, die soziale Verwaltung, der Aufwand für das Sicherheitswesen und das damalige Heer von 30.000 Mann, die Gesetzgebung und der gesamte Gerichtsapparat gehört, einen Aufwand von 1.068 Mill. Schilling vor. Aus den Alkoholsteuern für dieses Jahr war ein Alkoholverbrauch der österreichischen Bevölkerung im Wert von mehr als 700 Mill. Goldschilling, aus der Gebarung des Tabakmonopols ein Verbrauch von Rauchwaren im Wert von rund 500 Mill. Goldschilling zu errechnen. Für dasselbe Jahr wurde der gesamte Aufwand für die 3 Universitäten, für 2 technische Hochschulen, die Hochschule für Bodenkultur, die montanistische, die tierärztliche Hochschule und die Akademie der bildenden Künste mit 20 Mill. Schilling beziffert. Das österreichische Volk war also in jenem verhältnismäßigen Blütejahr bloß bereit, für die Pflege der Wissenschaft und die fachliche Ausbildung seiner Ärzte, Ingenieure aller Ausbildungszweige, Mittelschullehrer, Theologen, Richter und sonstigen Juristen den 60. Teil des Volkseinkommens aufzuwenden, den es zu Genußzwecken in die Luft geblasen und in die Gurgel gegossen hat! Wie viele Österreicher mögen sich dessen bewußt gewesen sein, welche der beiden so verschieden hohen Aufwandsziffern die nützlichere gewesen ist? Für die Urteile des Auslandes kam besonders die Tatsache in Betracht, daß der Hochschulaufwand neben dem Stand der Museen, Theater und der allgemeinen Schulbildung als Maßstab der Kulturhöhe eines Landes gilt und Österreich dank der Tatsache, daß es in besseren Zeiten die unverhältnismäßig große Zahl von 9 Nobelpreisträgern hervorgebracht hat, eine kulturelle Überlieferung zu wahren hat. Der 2. Weltkrieg ist für Österreich in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht noch verheerender gewesen als der erste. Die „Blätter für Nationalökonomie und Statistik" in Berlin brachten im September 1938 eine Aufstellung, der zufolge das Hitler-Reich bis dahin aus der „Ostmark" Gold und Devisen im Werte von 2450 Mill. Goldschilling gezogen hatte, während die deutsche Reichsbank im Zeitpunkt des „Anschlusses" bloß den fast mikroskopischen Stand von 75 Mill. Reichsmark Gold und Devisen ausgewiesen hatte. Österreich hat auch von der Kriegsrüstung des Reiches im Betrag von 90 Milliarden Reichsmark und von den weiteren Kriegsausgaben von rund 400 Milliarden Reichsmark den seiner Bevölkerungszahl entspre-

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chenden Anteil getragen und überdies die mannigfachen, im Vergleich mit dem ersten Weltkrieg ungeheuren Kriegsschäden zu überwinden und die neuen Kosten der Besatzung und der Kriegsopfer laufend zu tragen. Daß bei einer solchen Schmälerung des Volksvermögens und des Volkseinkommens just der Aufwand für alkoholische Getränke und für Rauchwaren im Vergleich mit dem Vorkriegsstand z. T. in unverhältnismäßigem Hundertsatz gestiegen ist, hat uns nicht mit Stolz, sondern mit Scham zu erfüllen. Denn begreiflicherweise geht dieser Überkonsum auf Kosten des Aufwandes für lebenswichtige oder kulturell wertvolle Zwecke. Aus den zahlreichen mahnenden Ziffern des Bundesvoranschlages für 1952, deren kulturpolitische Bedeutung im einzelnen an anderer Stelle gewürdigt werden soll, beachte man nur die für das Jahr 1952 vorgesehenen Betriebseinnahmen aus dem Branntweinmonopol, also der anfechtbarsten Form des Alkohols, im Betrag von 193 Mill. Schilling und den Aufwand für Strafanstalten und Arbeitshäuser im Betrag von 88 Millionen Schilling, die zum beträchtlichen Teil wenigstens mittelbar dem Alkohol anzukreiden sind. Wenn die Alkoholgenießer ihr Gewissen nicht betäubten, müßten sie sich fragen, ob ihr „Genuß" zu verantworten ist, der ihnen und ihren Angehörigen mannigfachen Schaden bringt, der auch Fremde und die Allgemeinheit in unberechenbarem Maße gefährdet, sei es, daß er sie zu Opfern von Verkehrsunfällen macht, oder daß er durch den vom Alkohol entbundenen Leichtsinn Häuser, Fabriken, Wälder in Brand steckt. Und gerade der Alkoholgenießer denkt am wenigsten daran, daß sein so sinnloser Geldaufwand durch nützlichere Verwendung reichlichen Segen stiften, die Kindheit von kranken oder elternlosen oder sonst pflegebedürftigen Kindern sonniger und das Alter von Unheilbaren erträglicher gestalten, ja ihnen vielleicht dank den Fortschritten der Medizin Heilung bieten könnte! Und noch weniger denkt er daran, daß die Einfuhr der Rohstoffe für seine Genüsse, wie etwa Gerste, die Einfuhr von viel wünschenswerteren Gütern ausschließt oder u. a. die Ausfuhr von Holzmengen bedingt, die wir in natura oder in ihrem wirtschaftlichen Gegenwert sozial gerechter verwenden könnten. Welcher Trinker denkt denn daran, daß er infolge des Mechanismus der Wirtschaft den in seinen Wirkungen bereits heute katastrophalen Raubbau an unseren Wäldern steigert und damit seinen Mitmenschen Quellen der Gesundheit und der Freude, aber auch, im ursprünglichen Sinn, Quellen der Ernährung

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und des Lebens nimmt, wie die hauptsächlich durch die Abholzung der Quellgebiete des Po verursachte italienische Hochwasserkatastrophe mit ihrer unmittelbaren Vernichtung von hunderten Menschenleben, von vielen tausenden Haustieren und der Vermurung von tausenden Quadratkilometern fruchtbaren Kulturbodens gezeigt hat. Während eines fast achtjährigen Berufsaufenthaltes in Westdeutschland haben sich mir reichliche Vergleichsmöglichkeiten mit unserer Heimat geboten. Die trotz der größeren Kriegsschäden bisher erzielte Steigerung der Industrieerzeugung gegenüber der Vorkriegszeit um 41 % und der vorteilhafte Umstand, daß in ländlichen Gegenden und in Kleinstädten die Massenerzeugung von Obstwein in eigener Fechsung im kleinbürgerlichen, bäuerlichen und Arbeiterhaushalt gesundheitlich, sozial und wirtschaftlich bei weitem nicht so bedenklich ist wie der Massenkonsum hochgradigen Alkohols in der Gaststätte, scheint dort die Alkoholgefahren abzuschwächen. Trotzdem ist der Massenverbrauch von Bier, besonders in Großstädten wie München, nicht zu verantworten, wenn man z. B. bedenkt, daß um die Kosten des jedes entschuldbare Maß übersteigenden Genusses von Bier die Hunderttausende der 8 Millionen Flüchtlinge in Westdeutschland, die heute noch in Massenquartieren und Baracken hausen, menschenwürdig untergebracht werden könnten. In dieser Richtung hätte sich das Nationalbewußtsein zu regen! Wir Österreicher stehen aber von der Frage: Werden wir die notwendige Willenskraft aufbringen, um den unserer traditionellen Kultur entsprechenden geistigen und moralischen Wiederaufbau durchführen zu können? Eine verantwortungsbewußte Lenkung des Verbrauchs ist geradezu eine Bewährungsprobe der Demokratie.

Österreichische Menschenleben werden nicht berechnet Das „Deutsche Handelsblatt" stellt den österreichischen Forderungen, die im Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 von den Alliierten teilweise anerkannt worden sind, folgende Gegenrechnung gegenüber: „Alle diese Rechnungen mußten schon daran scheitern, daß nach 1938 infolge der radikalen Beseitigung der 30%igen Arbeitslosigkeit das österreichische Bruttonationalprodukt bedeutend zugenommen hat." Die Überheblichkeit dieser Pauschalrechnung übersteigt das Normalmaß jener Herrschaften, die den Dienst gezwungener Hilfsvölker in Anspruch nehmen und dadurch schmackhaft machen, daß sie ihn als Dienst zum eigenen Vorteil und als Erfüllung einer Ehrenpflicht darzustellen pflegen. Die gebührende Antwort auf diese angemaßte Rolle eines selbstlosen Schutzpatrons hat namens der „heimgeführten Hilfsvölker" unter anderen der protestantische Theologe Dr. Theodor Krimm in seinem Sammelwerk „Das Antlitz der Vertriebenen" (Verlag I. Steinkopf, Stuttgart 1949) mit den Worten gegeben: „Die Niedertracht der Partei bestand in der Infamie, mit der sie sich an die Stelle des Volkes gesetzt und das ungeheure Kapital an Vertrauen zu ihren eigenen Zwecken geschändet hatte... Als es hart auf hart ging, war jede Volksgruppe nichts als ein Rekrutendepot und ein immer dringender gebrauchtes Kanonenfutter" (a.a.O., S. 6 ff.). Das eingangs genannte „Deutsche Handelsblatt" bemüht sich nicht, die angeblich durch den „Anschluß" bewirkte Erhöhung des österreichischen Nationalproduktes zu beziffern, sondern setzt das ziffernmäßige Überwiegen dieses Gewinnes über die Gesamtheit der österreichischen Forderungen als selbstverständlich voraus, so über die vermeintlichen Bagatellen des mit unerhörter Geschäftigkeit schon in den ersten Wochen der Besetzung von Wien nach Berlin übertragenen Gold- und Devisenschatzes der National-

Die österreichische Nation, 7. Jg. (1955), S. 142.

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bank, ferner der aus österreichischem Privatbesitz unter Androhung äußerstenfalls der Todesstrafe für nicht pünktliche Anmeldung eingezogenen Devisen, der Kapitalien der österreichischen Sozialversicherungsinstitute und viele andere Österreich und den Österreichern abgezwungene Leistungen. Ein Eingehen auf diese einzelnen Leistungen erspart man sich in diesen anmaßenden Äußerungen mit der Geste: „Was kann denn das schon ausgemacht haben, was dieses arme Volks zu bieten hatte", was takt- und kenntnislos mir einmal ein deutscher Intellektueller ins Gesicht gesagt hat. Es gehört aber auch ein besonderer Takt dazu, daß sich das „Deutsche Handelsblatt", just der Beseitigung der österreichischen Arbeitslosigkeit durch das Nazi-Reich als jener Großtat rühmt, die alles aufwiege, was Nazi-Deutschland Österreich genommen habe. Denn erstens war diese große und würgende Arbeitslosigkeit, was man diskret verschweigt, die Folge eines gegen das angebliche Brudervolk geführten brutalen Wirtschaftskrieges, des Boykotts der seit jeher aus Österreich eingeführten Waren wie Holz, Erze, Molkereierzeugnisse, die man nach der gewaltsamen Niederlegung der politischen und Zollgrenze gegen entwertete „Mark" mit Begeisterung aus der „Ostmark" geholt hat, und der gegen keinen „rassenfremden" Staat gehandhabten Tausend-Mark-Sperre, durch die der Reiseverkehr nach Österreich bis zu jenem März 1938 aufgestaut wurde, der den deutschen Einreisenden die österreichische Güterfülle und die Entgüterung des Reichs durch die nazistische Politik offenbar gemacht hat. In Hassels „Anderes Deutschland" ist, besonders auf S. 19, nachzulesen, wie selbst ein Wirtschaftsfachmann wie der Reichsfinanzminister Hjalmar Schacht über die Schätze erstaunt war, die aus Österreich und anderen „befreiten" Ländern zu holen waren, wie sich aber dies Schätze in den Händen der nazistischen Machthaber verflüchtigt haben! Das „Deutsche Handelsblatt" und andere Entrüstete verschweigen aber auch, daß die zum größten Teil vom Nazi-Reich verschuldete österreichische Arbeitslosigkeit des Jahres 1938 auf dem unwirtschaftlichen Wege der Aufrüstung zum zweiten Weltkrieg und der Rekrutierung zur SA, SS und zur Wehrmacht nur scheinbar beseitigt worden ist. Und sie betrachteten dieses Scheinmanöver sogar als Kompensation für die Zumutung, daß sich hunderttausende Österreicher auf dem Felde der Unehre des vom Nazi-Reich völkerrechtswidrig provozierten Krieges opfern mußten und daß heute noch 116.000 gezwungene österreichische Kriegsteilnehmer vermißt werden. Was gelten österreichische Menschenleben neben dem Vermögen deutscher Rüstungsunternehmer!

Mörder Alkohol Am 29. Februar 1956 hat das Landesgericht Klagenfurt den Weichenwärter Johann Ehrlich aus Feldkirchen in Kärnten wegen des von ihm am 11. September 1955 verursachten Zugszusammenstoßes in St. Marein-Sittich zu der zulässigen Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil fordert zu Feststellungen und Folgerungen heraus, die in der Tagespresse am heutigen Tag der Berichterstattung unterlassen worden sind. Das Gericht ist seiner Aufgabe einer rechtmäßigen und gerechten Rechtsfindung innerhalb des Rahmens des Gesetzes gerecht geworden, auch indem die Urteilsgründe die besondere Gewissenlosigkeit des verurteilten Täters gebrandmarkt haben. Es sticht anerkennenswert von unverständlichen Urteilen jener Art ab, die von alkoholisierten Fahrern verschuldete tödliche Verkehrsunfälle mit bedingten Verurteilungen geahndet haben. Unausgesprochen angeklagt und moralisch verurteilt war im Falle des Prozesses gegen den Weichenwärter, der den Alkoholgenuß der pflichtgemäßen Obsorge für die Sicherheit des Bahnverkehres vorgezogen hat, der Gesetzesgeber , der bisher wirksamere Handhaben gegen den „Mörder Alkohol" versagt hat, der insbesondere die alte Forderung der Alkoholgegner, daß die Verabreichung von Alkohol an Alkoholisierte oder in einem verantwortungsvollen Außendienst stehende Personen gebührend bestraft werde, unbeachtet gelassen hat. Der Gastwirt, der dem im Dienst stehenden Weichenwärter durch seinen Sohn Bier geschickt hat, bleibt straf- und zivilrechtlich unangefochten, obwohl er neben dem alkoholhörigen Bahnangestellten, an dem Tod von zehn unschuldigen Fahrgästen und an der Verletzung von 74 weiteren Fahrgästen, sowie an einem Sachschaden von zehn Millionen Schilling mitschuldig ist. Nach österreichischem Recht werden die physischen Folgen von Eisenbahnunfällen ausschließlich den Verkehrsteilneh-

Die alkoholfreie Jugenderziehung, 1956, Nr. 1, S. 3-5.

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mern aufgebürdet, als ob es sich immer nur um Naturkatastrophen handelte, und haben die finanziellen Folgen die Bahnverwaltungen und damit letztlich die Steuerzahler einschließlich der allein voll verantwortungsbewußten Alkoholgegner zu tragen, die zugleich trotz aller ihrer Warnungen der Gefährdungen durch die Trinker ausgesetzt sind! Mitschuldig an den Blutopfern und Sachopfern, die der Dämon Alkohol fordert, ist außerdem eine mehr oder weniger alkoholhörige Verwaltung, die bei der Auswahl und Beaufsichtigung des Personals „durch die Finger schaut", weil die Verantwortlichen selbst kein reines Gewissen haben, sind Richter, die selbst für „ein Gläschen zu viel" nachsichtiges Verständnis haben, und die ganze öffentliche Meinung, die wie die Sprache für einen beschämenden Zustand sagt, den gelegentlich „angeheiterten Zustand" des ehrenwerten Bürgers, des Wählers und des wahren „Souveräns", ja sogar des „Ebenbildes Gottes" verzeihlich und vergnüglich findet. Die Belege dieser wohlwollenden Gesinnung für den Alkoholfreund kann man Gerichtsaalberichten entnehmen: Eine längere Freiheitsstrafe - sei es auch für ein von einem alkoholisierten Fahrzeuglenker am Randstein zerquetschtes Kind - führt unter dem Mitgefühl des Publikums zu den entrüsteten Aufschrei: „Ich bin doch kein Mörder!" „Es ist doch nicht gern geschehen!" Zur moralischen Beurteilung des Falles kämen die Verurteilten mit ihrem Anhang bloß, wenn etwa ihre eigenen Kinder als Opfer des so „wohltätigen" Alkohols auf der Straße lägen! Und die Gebildeten und das Alkoholkapital bemühen die vielmißbrauchte Freiheit, um den Alkoholliebhabern ihren Trunk und sich die Profite zu retten. Schon vor 27 Jahren haben Soldschreiber des Alkoholkapitals gegen uns „Udeoten", ausdrücklich auch gegen den Verfasser dieser Zeilen, die Diffamierung betrieben, daß wir die Freiheit des Feierabends bekämpfen, um durch Sammlungen unsere Taschen zu füllen. - Freier Mißbrauch des Alkohols? Warum nicht auch Freiheit des Diebstahls, des Todschlages, des Mordes? Und vor allem auch Freiheit, wie bisher, am Wahltag Alkohol auszuschenken - schandenhalber nach der Frage: „Apfelsaft - vergoren oder unvergoren?" Dürfen wirklich die Alkoholfreunde die Demokratie verhöhnen, indem sie sie zu einem Paradies der Zügellosigkeit und Zuchtlosigkeit verunstalten?

Sozialismus oder Menschlichkeit? Kranke Wiener Krankenhäuser

„Rom und London beneiden Wien": So der Titel eines Berichtes der „Arbeiter-Zeitung" vom 23. März 1958. Wer selbst nicht selten seine Heimatstadt, das neue wie das alte Wien, gerühmt hat, wird durch eine solche Meldung gerne angesprochen. Die nächste Zeile bringt indes schon schneidend zum Bewußtsein, daß der Neid des Auslands die vor der Eröffnung stehende Stadthalle - gewissermaßen ein von den Schattenseiten der Stadt ablenkendes Potemkinsches Dorf - zum Gegenstand hat, daß er jedoch in peinliches Befremden umschlagen würde, wenn die neiderfüllten Fremden die großen Krankensäle unserer Spitäler als Besucher oder gar als Patienten kennenlernten. Schon als jüngster rechtskundiger Beamter des k.k. Ministeriums für soziale Verwaltung und sodann als Extraordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht zogen mich die Fürsorgeeinrichtungen - als die wichtigsten praktischen Nutzanwendungen meiner Disziplinen - an, und auch im Ausland zog ich das Experimentierfeld der Sozialpolitik allen Stätten seichten Vergnügens vor. Ein als Fußgeher erlittener Unfall auf der Straße bot mir durch mehrwöchigen Spitalsaufenthalt einen Vergleichsmaßstab mit heimischen Einrichtungen. Da bei Behörden und Zeitungen gemachte Anregungen ergebnislos blieben, versuchte ich für besonders wichtige legislative und administrative Anliegen die großen Parlamentsfraktionen zu interessieren. Auf ein am 11. Mai 1956 an den Klub der sozialistischen Abgeordneten und Bundesräte gerichtetes Schreiben erhielt ich in bezug auf meine Feststellungen über die Rückständigkeit der Mehrzahl der Wiener Krankenanstalten von dem damaligen Klubobmann Herrn Abgeordneten Dr. Pitter-

Die Furche vom Mai 1958.

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mann folgende dankenswert freimütige Antwort: „ M i t Ihrer Bemerkung über die Spitäler haben Sie mir aus der Seele gesprochen. Wir bemühen uns seit einem Jahr, das Krankenanstaltengesetz durchzusetzen. Solange dieses Gesetz nicht da ist, wird das Spitälerbauen und -erhalten ein immer größeres Defizit, das ohne Beiträge des Bundes selbst finanzstarke Gemeinden nicht leicht tragen können." Die damals vom heutigen Herrn Vizekanzler aufgestellte Voraussetzung ist nun längst erfüllt, doch auch ohne Bundeshilfe konnte die Stadt Wien den bisherigen Aufwand für die Stadthalle von mehr als 200 Millionen Schilling tragen, obgleich die Errichtung eines Tanzsaales aus städtischen Mitteln oder von sechs nach der Schilderung der „A.-Z." in Europa konkurrenzlosen Kegelbahnen selbst bei großzügiger Deutung des Vergnügungsbedürfnisses gewisser Bewohner- und Wählerschichten doch nicht entfernt den Dringlichkeitsgrad der heutigen Spitalsnot von Wien hat. In einem überaus höflich gehaltenen Schreiben an Herrn Bürgermeister Jonas vom 30. August 1956 bat ich vom Standpunkt meines Lehrfaches Verwaltungswissenschaft, zu dem auch das Kommunalwesen gehört, um die Wahrung der Rangordnung der Dringlichkeit bei den städtischen Planungen, jedoch vermied ich, um der Sache nicht zu schaden, die Feststellung, daß die Ausführung der weitgespannten Baupläne vor der Abstellung der ärgsten Spitalsnot (wie übrigens auch des Barackendaseins von längst eingebürgerten tausenden Heimatvertriebenen), verwaltungsrechtlich gesehen, einen Ermessensmißbrauch bedeutet und dem Gehaben eines Primitiven gleichkommt, dem die Anschaffung eines Zylinderhutes den entscheidenden Schritt in die Zivilisation bedeutet. Finden es die zuständigen Amtsträger sozial und gerecht, daß just den Spitalsinsassen oft bis zum Tod drückende Raumnot unter Verzicht auf jede Schönheit, selbst auf das als Medizin wirkende Grün, auferlegt wird, während z.B. die gewiß nicht kapitalstarke deutsche Caritas ihre Krankensäle in Räume für zwei bis höchstens fünf Patienten umgewandelt hat? Durch ausländische Patienten und durch ausländische Besucher, besonders Ärzte, ist ja leider die Tatsache auch ins Ausland gedrungen, daß in den Massenquartieren der Wiener Spitäler aus Raumnot Sterbenskranke ihre Bettnachbarn verscheiden sehen und daß selbst das Begehren nach solcher Spitalspflege in Dutzenden Fällen von ärztlich bescheinigter Todesgefahr unerfüllt bleiben muß. Mir sagte kürzlich ein Ausländer, er habe die ihm zugemutete Unterbringung in der Krankenanstalt einer Universitätsstadt nicht für möglich gehalten, und selbst ein loyaler sozialistischer Akademiker

Sozialismus oder Menschlichkeit?

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gestand mir den konsternierenden Eindruck, den seine sterbenskranke Mutter bei der Aufnahme in einen Krankensaal der Allgemeinen Poliklinik empfand. Man möchte hoffen, daß die dem Hörensagen nach hergestellten Lichtbilder nur als persönliche Andenken und nicht als negative Propaganda Verwendung finden. Kürzlich meinte ein hochgestellter Verteidiger der heutigen Praxis des „Abwartens" (vielleicht der Wiedergeburt der Opfer des heutigen Notstands), die Kosten einer Sanierung der Wiener Spitäler seien nicht aufzubringen - und da sei es gescheiter, man mache Gesunden mit weniger Geld eine Freude. Bedeutet die Ablehnung der Adaptierung des Brigitta-Spitals, durch die vielleicht dem ärgsten Bettenmangel abgeholfen werden könnte, eine Bejahung dieses unwürdigen Rezeptes? Glaubt man der Bewerbung um die Ehre einer „Hauptstadt Europas" zu dienen, wenn Wien neben seinen positiven auch die negative Sehenswürdigkeit in der Kulturwelt konkurrenzloser Spitalsverhältnisse bietet? Soll das Gerücht weitere Nahrung erhalten, daß durch Einsparungen auf Kosten der Hilfsbedürftigsten wahltaktisch ergiebiger Aufwand für Schaustellungen der Stadthalle ermöglicht werden soll? Müssen uns die überlebenden Opfer des Hitler-Krieges, die durch dessen Folgeerscheinungen der Anstaltspflege bedürfen, nicht mindestens ebensoviel wert sein wie Gesunde, die bloß einen Beitrag für schönere Freizeitgestaltung erwarten? Gerade die Einstellung zu hilflosen Kranken ist Gradmesser der Zivilisation und Kultur.

Alkohol, Herrscher in Österreich! Als im Jahre 1927 ein kleiner Kreis sozial verantwortungsbewußter Österreicher die notwendigen Schritte für ein verfassungsmäßiges Volksbegehren gegen den Alkoholmißbrauch unternahm und die „Gefahr" bestand, daß der Nationalrat zu den Forderungen dieser wahrhaft patriotischen Staatsbürger Stellung nehmen müßte, ergab sich ein stilles Einverständnis zwischen angeblichen Anwälten der Masse des Volkes (Arbeiterschaft), die das Unternehmen als einen „unernsten Einfall weltfremder Professoren" und Wortführern des Alkoholkapitals, die es als eine Stimmen- und Geldsammlung für die eigene Tasche der Verfasser des Volksbegehrens herabsetzten. Wer waren diese von links und rechts verlachten oder verlästerten Initiatoren? Unter 25 österreichischen Hochschulprofessoren, die den Aufruf zum Volksbegehren unterzeichnet haben, finden sich außer dem geistigen Führer der Enthaltsamkeitsbewegung von damals und heute - Professor Ude - Ärzte vom Range eines Eiseisberg, des Hygienikers Reichel, dessen sozialhygienisches Urteil für die unabdingbaren Forderungen des Volksbegehrens maßgebend war, und habe ich als Professor des Staats- und Verwaltungsrechtes der Universität Wien die Verantwortung für die legislative Fassung und für die rechtstechnische Durchführung des Volksbegehrens übernommen. Die für eine erfolgreiche Sammlung von Unterschriften wahlberechtigter Bürger notwendige Aufklärungsarbeit hat in vorbildlicher kämpferischer Weise der Bund für Volksgesundheit unter Leitung des Dipl. Ing. Richard Soyka besorgt: Der richtige Mann war für die würdige aber von einer unwissenden Mehrheit verfehmte Sache eingetreten. Eine idealistisch gesinnte opferwillige Jugend hat die Sammlung der Unterschriften besorgt, wobei ihr von örtlichen Alkoholinteressenten häufig die ausgefüllten Abstimmungsbogen entrissen worden sind.

Gesundes Leben (ohne Jahrgang)

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Was waren aber die „umstürzlerischen" Forderungen des Volksbegehrens? Erhöhung des Alters des Jugendschutzes von 16 auf 18 Jahre, Unklagbarkeit der Trinkschulden, Einführung des in fortschrittlichen Staaten bestehenden „Alkoholzehntels", wodurch ein Teil des Ertrages der Alkoholsteuern der Bekämpfung der Trunksucht und ihrer Folgen gewidmet wird und schließlich Verbot des Ausschankes von Alkohol an Samstag-Nachmittagen und an Sonntagen, wodurch die zum Wochenende erhöhten Gefahren des Alkoholmißbrauches und die Beeinträchtigung der Arbeitsleistung an Montagen unterbunden werden sollten. Die parteipolitisch untragbar erscheinenden Forderungen hätte der Nationalrat immerhin noch in einer Weise „mildern" können, daß selbst der vom Standpunkt der „Wählerpolitik" „vertretbare" Rest von alkoholgegnerischen gesetzlichen Maßnahmen eine Spur von Einsicht und gutem Willen bekundet hätte. Die völlige Tatenlosigkeit der „Berufenen" gegenüber dem Volksfeind Alkohol, mochte sie nun dem Wunsche entspringen, gewisse Wähler nicht zu vergrämen und sie nicht einer anderen Partei zuzuführen, oder aus der Alkoholhörigkeit von „Volksvertretern" entspringen, die von dem Volkswohl als oberstem Leitsatz reden, es aber in ihrem Tun und Lassen verleugnen, hat in den drei Jahrzehnten seit dem gescheiterten Versuch der tatbereiten österreichischen Alkoholgegner eine furchtbar anklagende Verlustliste auf dem Schlachtfeld des Alkoholismus entstehen lassen. Die Alkoholgegner dürfen die Spitzenleistungen des Alkoholismus nicht vergessen lassen. So den Fall des Weichenwärters Ehrlich, der in St. Marein-Sittich (Kärnten) am Sonntag, den 11. September 1955 gegen Mittag im Dienst so besinnungslos betrunken war, daß er in Gegenwart des 12-jährigen Sohnes des Inhabers der Bahnhofsgastwirtschaft, der ihm bestellungsgemäß (!) mehrere Flaschen Bier ins Stellwerkhaus brachte, beim Klingeln des Telefons statt in die Hörmuschel in die Uniformkappe sprach. Von dem Buben ins Freie gezerrt, sackte dieser als Trinker bekannte „Wächter der Verkehrssicherheit" zusammen. Von dem Jungen alarmiert, konnte der Fahrdienstleiter nicht mehr verhindern, daß infolge falscher Weichenstellung ein einfahrender auf einen stehenden Zug mit der Wirkung auffuhr, daß auf der Stelle 10 Menschen tot, 74 verwundet und ein gering geschätzter Sachschaden von 10 Millionen Schilling entstanden waren. Der Fahrdienstleiter sagte in der Verhandlung des Landesgerichtes Klagenfurt als Zeuge aus, daß ihm vor dem Unfall bei der Kontrolle des Weichenwärters nichts Bedenkliches aufgefallen sei.

Alkohol, Herrscher in Österreich!

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Über die rechtliche und moralische Seite dieses für die Betroffenen, aber auch für die Steuerzahler einschließlich der vergeblich mahnenden Abstinenten, teuren Rausches, aber für den ehrlos pflichtvergessenen Bahnbediensteten trotz der gesetzlichen Höchststrafe von 3 Jahres Arrest in Anbetracht der lebenslänglichen Versorgung auf Bundeskosten unverdient billigen Rausches habe ich in der Zeitschrift „Die alkoholfreie Jugenderziehung" (Heft 1 aus 1956) unter dem Titel „Mörder Alkohol" - man könnte auch sagen „Mörderische dienstliche Kameraderie" - ernste Betrachtungen angestellt. Am 1. Jänner 1960 setzte sich in Linz ein Postchauffeur, der Monate zuvor alkoholisiert den Autobus lenkend eine des Weges kommende Nonne mit tödlichem Ergebnis überfahren hatte, nach einer durchzechten Nacht ans Lenkrad und lenkte den Wagen mit katastrophaler Wirkung in einen Abgrund. Von einer Kontrolle keine Rede! Die Todesfahrt des Motorführers Trumler der Wiener Straßenbahn hat im August 1960 20 Menschen das Leben gekostet. Eine alkoholhörige öffentliche Meinung hat mehr als den menschlichen Urheber des Unheils die Stadtverwaltung, und zwar nicht wegen Toleranz des für die Fahrgäste nicht weniger als für das Personal lebensgefährlichen Alkoholgenusses, sondern wegen Unterlassung von Investitionen, die den Alkoholgenuß im Dienst möglichst risikolos machen sollen, verantwortlich gemacht. Ein Irrweg von der gleichen Art, wie wenn man den Inhaber einer explosionsgefährlichen Betriebsstätte verpflichtete, durch alle technischen Errungenschaften das verbotswidrige Rauchen ungefährlich zu machen! Man vergesse auch nicht den alkoholisiert im Zickzack fahrenden Autofahrer, der vor den Augen der Mutter ihren Säugling im Kinderwagen an einer Hauswand zerquetscht hat. Man vergesse nicht den Zustand rückständiger Schulen und Krankenanstalten, die um den Preis eines Zehntels des Alkoholkonsums auf einen international vorbildlichen Stand gebracht werden könnten. Man vergesse nicht, daß die jugendlichen Rechtsbrecher überwiegend beim Strafvollzug der Schule von Berufsverbrechern ausgesetzt werden, weil das Geld , mit dem Jugenderziehungsanstalten geschaffen werden könnten, vertrunken , verraucht und verspielt wird!

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Man gestehe sich ein, daß ein Mensch, der eher auf alle Naturschönheiten und allen Kunstgenuß als auf die gewohnten Rauschgifte verzichtet, kein Kulturmensch ist! Das gilt auch für den Facharzt, der auf meine Feststellung, daß ich in meinem ganzen Leben bewußt keinen Tropfen Alkohol zu mir genommen habe, die Antwort gab „Da tun Sie mir leid." Darf endlich ein Staat den Ehrentitel eines Kulturstaates in Anspruch nehmen, dessen Wahlordnung - wie die österreichische Nationalratswahlordnung 1959 - in großzügiger Toleranz Personen das Wahlrecht zubilligt, die wegen Vergehens der selbstverschuldeten Berauschung verurteilt worden sind, auch wenn sie in diesem gerichtlich festgestellten Zustand den Tatbestand eines Mordes, eines Raubes, eines noch so gemeinen Sittlichkeitsverbrechens gesetzt haben? Danken mit einem solchen Gesetz, das ich in Wort und Schrift ungezähltemale auch im Universitätshörsaal angeprangert habe, nicht die zuständigen Organe als Herrscher ab, um den Mörder Alkohol als eigentlichen Herrscher einzusetzen?

Stimmen aus dem Reiche des Alkohols Der österreichische Rundfunk, Sender Wien, brachte am 24. Dezember 1960, 8 Uhr morgens frohe Lieder als Auftakt der Festtage, darunter die Aufforderung: „Bier her, Bier her, oder ich fall' um!" Die Erfüllung solchen Wunsches schafft offenbar die für die Feier des Weihnachtsfestes empfängliche Stimmung und fördert zugleich die notleidenden Brauereien; bringt also auch diesen eine „Christ-Bescherung". Was man an Festtagen übt, das kann man im Alltag nicht lassen... Meine Frau und ich haben die Plätze im Zug eingenommen, der uns in die ersehnte heimatliche Ferienstation bringen soll und vertiefen uns in die bereit gehaltene Reiselektüre, um während der Fahrt einen kleinen Bruchteil des für einen Kulturmenschen in einem langen Leben nicht auszuschöpfenden Lesestoffes zu genießen. Kaum daß sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, sorgt schon der Büfettkellner für alkoholische Genüsse. Drei Mitreisende jenseits des Mittelganges, modisch gekleidet, der Mundart und den Manieren nach nicht ganz auf diesem äußerlichen Niveau, kaufen fürs erste drei Flaschen Bier, weisen jedoch die vom Kellner gereichten Becher zurück, sondern schlürfen hörbar das (von mir zeitlebens nie verkostete) Naß aus hochgehaltenen Flaschen und wischen den Schaum mit der hohlen Hand vom Mund. Eine auf der Fahrt auf den Semmering begriffene junge Engländerin ist durch die Szene, die sie eher im inneren Afrika als in der soeben von der besten Seite bekanntgewordenen Weltstadt Wien erwartet hätte, teils schockiert, teils belustigt - man stelle sich die drei gleichzeitig wie Hühnerschnäbel aufwärts gerichteten Münder vor! - verrät ihren Eindruck (in englischer Sprache) meiner neben ihr sitzenden Gattin. Ich mache den weiblichen Teil der bierfreundlichen Gruppe darauf aufmerksam, daß sie beobachtet werde, doch erhalte ich die spitze Antwort „Was dö Fremden über uns reden tan, dös interessiert uns net. Kümmerns Ihne um Dinare

Gesundes Leben, 14. Jg. (1961), Nr. 131, S. 10-12.

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Sachen" und wie zum Trotz setzen sie, statt vom wieder vorbeigehenden Kellner Trinkbecher zu begehren, ihre Gewohnheit fort, Flaschenhälse zu melken. Der durch Kriege und die Enteignung der Geistarbeiter erzwungene „Abstieg" in die unterste Wagenklasse berichtigt durch mannigfache unfreiwillige Erlebnisse die in zwölfjähriger Lehrtätigkeit an der Wiener Volkshochschule „Volksheim" gewonnenen Vorstellungen vom „einfachen" Volk als einer durch Wissensdurst, Hunger nach dem belehrenden Buch und Dank für den geistigen Berater gekennzeichneten Auslese der Mitbürger, als unbeabsichtigte Schrittmacher der Demokratie, unter denen mich besonders die nicht vereinzelten Alkoholgegner und Naturfreunde angesprochen haben. Bahnerlebnisse wie das vorerwähnte haben mir den Schlüssel zu der programmatischen Erklärung eines vormaligen führenden Politikers und Gewerkschafters gegeben: „Über den Bierpreis muß verhandelt werden!" In der Tat scheinen Bier und Wein bei uns - trotz Victor Adler und anderer großer Entschleierer dieser Scheinwerte - der Masse des Volkes als begehrteste und unentbehrliche Güter zu gelten und als Wertmesser für alle Waren des täglichen Gebrauches und für Dienstleistungen zu dienen. Die große Frage der Wirtschaftsethik nach dem gerechten Lohn beantwortet die „Stimme des Volkes" nach dem Maße des Weins, das darum käuflich ist. Die herrlichsten Naturschönheiten und gar Schöpfungen der Kunst gibt die Stimme des Volkes eher preis als die Anwartschaft auf das gewohnte Maß von Alkoholien zu einem kalkulierten Preis. Wen erregen denn schon die Ausfuhr unserer Wälder auf Kosten unserer unersetzlichen Waldsubstanz selbst, wenn die Erlöse aus diesem Eingriff in die Lebensquelle der Forstwirtschaft, der Landwirtschaft, der Energieversorgung, der Volksgesundheit, der Schönheitsweite des Menschenlebens in Alkoholien, Tabak und in entbehrliche Kraftfahrzeuge umgesetzt werden? Wessen Gewissen wird belastet, wenn er hört, daß ein Kloster, das der ausländische Reiseführer wegen eines bestimmten Kunstbesitzes rühmt, diesen an das nicht nur kapitalskräftigere, sondern kunstsinnigere Ausland veräußern mußte, um eine altehrwürdige Lehranstalt oder auch nur seine alten Mauern erhalten zu können? Selbst wenn eine sonst so freigebig gewährte staatliche Subvention oder eine Einsparung beim Repräsentationsaufwand, etwa ein Empfang für nur 200 statt 2000 Gäste, den Kulturverlust hätte verhindern können? Ein anderes Reiseerlebnis aus anderen Volksschichten: Zwei Ehepaare, begütertes ländliches Bürgertum, das sich als solches durch Äußerlichkeiten wie teure Ringe, Ohrgehänge, Lederkoffer verrät, aber fälschlich meint,

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darum schon Besseres zu sein als die oben geschilderten Reisebegleiter, die trotz höflicher Erinnerung angesichts ausländischer Kritiker auf ihren Trinksitten beharren. Von Hand zu Hand wird eine große Flasche mit der Aufschrift „Slivovitz" gereicht. Die Frauen nippen zurückhaltend aus der Flasche, die Männer sprechen abwechselnd kräftig zu - von einer alten ausländischen Dame kopfschüttelnd beobachtet. Beim Aussteigen verraten die Männer in Ton und Haltung die starke Alkoholeinwirkung. Die begleitenden Frauen mahnen, von der Szene augenscheinlich etwas peinlich berührt, zu raschem schweigenden Umsteigen. Auf der Rückfahrt von einer dieser Heimfahrten: Der nach längerer Autobusfahrt erreichte Bahnhof liegt bei Schneetreiben im Dunkeln; der Warteraum wegen eines Umbaues gesperrt, der Saal der bahneigenen Gastwirtschaft bis auf wenige Plätze besetzt. Meine Frau und ich gedenken bei einer Schale Tee und guter Lektüre, mit der wir fürsorglich für jeden Fall versehen sind, den verspäteten Zug abzuwarten. An einem benachbarten Tisch sind viele Uniformierte um einen offenbar volltrunkenen Zivilisten gruppiert, dessen durch freundlichen Zuspruch entlocktes Gestammel sie mit wieherndem Gelächter aufnehmen. Nach längerem Zuwarten richte ich an die sich offenbar allein dünkende Tischrunde die Bitte: „Möchten sich die Herren nicht etwas ruhiger unterhalten?" Nach einer Weile wiederhole ich die unerhörte Bitte, indem ich zugleich das aufgeschlagene Buch emporhebe. Das nächstsitzende Mitglied der Tischrunde verdolmetscht seinen Zechgenossen mein Anliegen mit der ironischen Feststellung „Lesen wüll er." Der vermutliche Gedanke bleibt unausgesprochen: „Do gibt's so a Hetz mit dem Betrunkenen - und der einfältige Bücherwurm will weghören." Wir ziehen es vor, den Zug, der noch eine volle Stunde auf sich warten läßt, statt in der lärmerfüllten Alkoholatmosphäre im erfrischenden Schneetreiben abzuwarten. Wie vielen Zeitgenossen wird bei solchen Anlässen überhaupt bewußt, daß hier das soziale Problem sinnvoller Freizeitgestaltung vorliegt und daß es eine Aufgabe der Demokratie wäre, dahin zu wirken, daß der Souverän der Demokratie von seiner Freizeit im Durchschnitt einen sozial und kulturell nützlicheren Gebrauch mache als die Despoten, die durch Mißbrauch ihrer Macht in die Geschichte eingegangen sind. - Der Patriziersohn im Dorf, der eine bekannt lesehungrige Angestellte

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mit dem Zuruf zu verspotten meint: „Schon wieder hat's a Büchel in der Hand, und was für ein Trumm" hat den Sinn der Volksherrschaft noch weniger erfaßt, als der Arbeiter, der mir in einem aus Raummangel in der Wohnung mit Büchern überfüllten Gartenhäuschen den Vorhalt macht: „Für was braucht man denn so viel Bücher? Ich hab ein einzig's, und dös hab i not net glesen." Auch das Erlebnis ist eine Fernwirkung des jeden guten Instinkt ertötenden Alkoholismus von Eltern und Kindern, wenn wir namens einer von einer vielstündigen Urlaubsreise ausgerastet sitzenden Gruppe von Jungarbeitern ein Sprecher auf die Aufforderung, einer zarten Mutter, die ihr kräftiges zweijähriges Kind in ihren Armen hält, Platz zu machen, erwidert: „Sö Herr, dös is net so selbstverständlich, wir habn Platzkarten zahlt" und neben dem bald 70-jährigen Mann und der mit Kind bepackten Mutter sitzen bleibt. Das Gegenstück ist das Erlebnis einer hochbetagten Frau, die zu Allerseelen zum Grab ihrer drei Kinder fährt und sich aus Übermüdung auf den Boden des Wageninneren setzt: „Die Alte soll z'Haus bleiben, wann's net stehn kann", ist die Stimme der Sitzenden. Könnte man doch den Geist der Volkshochschule Volksheim lebendig machen, wo während meiner durch 12 Jahre ausgeübten freiwilligen Lehrtätigkeit eine Elite von Arbeiterkindern durch Fleiß, Pflichtgefühl und Dankbarkeit gegenüber ihren Lehrern gewetteifert haben! Wo liegt die Schuld eines erschütternden dem Wohlstand?

Kulturverfalles

bei wachsen-

Einen Hauptschuldigen dieser Entwicklung nennt die Wiener Tageszeitung „Die Presse" in ihrer Ausgabe vom 29. Jänner 1961 unter der Marke: „Stetige Entwicklung der Brauindustrie". Der „Bierausstoß" der österreichischen Brauereien stieg von 1952/1953 bis 1959/1960, also in 8 Jahren, um 45%! Die jährlichen Investitionen der österreichischen Brauereien werden mit durchschnittlich 800 Millionen Schilling beziffert. Sie dienen einerseits der Steigerung der Gewinne der Braukapitalisten, andererseits der gesundheitlichen und sittlichen Gefährdung der Bierverbraucher und ihrer

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Angehörigen, die durch den übermäßigen Aufwand des Haushaltungsvorstandes nur zu oft zum Unterkonsum an lebensnötigen Gütern und in einen moralischen Bankerott gezwungen werden. Der österreichische Staat muß im allgemeinen auf die allein erziehlich fruchtbare Fürsorgeerziehung jugendlicher Straffälliger verzichten, weil sein Riesenaufwand nicht dazu ausreicht, die nötigen Fürsorge-Erziehungsanstalten zu errichten und zu erhalten. Der Staat duldet andererseits die Fehllenkung eines bedeutenden Teiles des Volkseinkommens mit der Folge, daß die Ursachen der Jugendkriminalität gesteigert werden. Es ist für einen Menschen von Gewissen unfaßbar, wie politische Parteien mit betont moralischem Programm und mit der stolzen Überzeugung, der höherwertigen Hälfte der Erdkugel zuzugehören, die sittliche Verwahrlosung einer der materiellen Not entrückten, aber der moralischen Not ausgelieferten Jugend als ein unentrinnbares Schicksal hinnehmen. Man glaubt sich im Besitze des höheren Lebensstiles, überläßt aber den einzelnen Menschen selbst in der Großstadt dem Risiko von Mord, Raub und Sittlichkeitsattentaten, so als ob der menschliche Wille ebenso unlenkbar wäre wie die zerstörende Kraft eines Erdbebens. Mensch und Staat beugen sich nicht nur unentrinnbaren Naturkräften, sondern auch dem selbst gesetzten Herrn, dem schmeichlerischen aber grausamsten Despoten Alkohol.

Wohltäter Alkohol? Der Alkohol hat die Straßen zum Schlachtfeld, ungezählte Wohnungen zu Stätten von Familientragödien und Kinder-Martyrien gemacht. Für jemanden, der Gastlokale meidet, sind Straße und Straßenbahn ungewollte Treffpunkte mit Alkoholikern. Ich verlasse z.B. meine Berufsstätte; im Abenddunkel kommt eine schwankende Gestalt auf mich mit geöffneten Armen zu, als wollte sie mit Schiller sagen: „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!" Doch was er spricht, ist unverständliches Lallen - und sein Glück ist noch um vieles vergänglicher als das des Nüchternen, der die Mischung von Glück und Unglück gelassen, ja dankbar aus der Schale des Lebens trinkt. Doch alsbald werde ich auch in der Straßenbahn aus den Gedanken gerissen, mit denen mich der immer griffbereite Lesestoff erfüllt hat. A m Blickfang meines Buches wird mein Gegenüber gesprächig. „Lassens mich lesen!" erwidere ich. Doch er wird im Gegenteil lauter und nachdrücklicher und versucht, das Publikum für sich zu interessieren. Nur der Wechsel des Sitzplatzes und der baldige Wagenwechsel gibt mich der Zwiesprache mit meinem Buche wieder. Noch eine Straßenbahnszene: Unsicheren Schrittes findet ein Fahrgast, vom Schaffner am Arm geleitet, den Ausgang. Der Schaffner läutet erst ab, nachdem sein „Schützling" zum Wagen sichere Entfernung gewonnen hat. Man sieht noch, daß der „Beschwipste", wie ihn die Zeugen seines umständlichen Aussteigens nennen, nicht sein heimatlisches Haustor, sondern eine Gasthaustüre öffnet, wo er mangels eines Ausschankverbotes einen gehörigen Rausch erhoffen darf.

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Das Ergebnis solcher tausendfältiger Einkehrstationen beim „Wohltäter Alkohol?" Fahrten ins Spital oder in die Leichenkammer: Sei es der Fahrzeuglenker, ihrer Mitfahrer oder sonstiger Verkehrsteilnehmer. Die Unfallstatistik registriert die Opfer des technischen Fortschrittes, und die Zeitgenossen dieses gepriesenen Fortschrittes finden diesen Wandel ebenso selbstverständlich, wie vergangene Jahrhunderte den Feuertod der „Hexen" selbstverständlich gefunden haben. Wozu hat die ärztliche Wissenschaft die Volksseuchen Pest, Cholera, Pocken, Ruhr mit Hilfe der Epidemiegesetze so gut wie ausgerottet? Damit die Volksseuche Alkoholismus in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und Folgekrankheiten unter der Bevölkerung, die sich noch dazu im Vergleich mit ihren Vorvätern ungeheuer fortgeschritten dünkt, den gleichen Hundertsatz wie die glücklicherweise zum Erlöschen gebrachten Seuchen an Opfern fordert! Man huldigt dem Götzen „Lebensstandard", triumphiert über den sozialen Fortschritt des Zuwachses an Freizeit und schlägt die Freizeit, die einem das Leben reicher machen könnte, in einer Weise tot, daß sich die Menschen vor den „unvernünftigen" Tieren schämen sollten. Nach den Berichten österreichischer Tageszeitungen vom 26. und 27. April 1962 haben der vom Wohlfahrtsstaat ermöglichte Wohlstand und die durchschnittlich bedeutende Besserung der Lebensführung infolge Fehllenkung des erhöhten Einkommens den Gesundheitszustand und die Lebenserwartung unerwarteterweise eher verschlechtert. Diese moralische Kehrseite des materiellen Wohlstandes ist eine internationale Erscheinung der fälschlich sogenannten Kulturstaaten. Die kulturpolitisch verdienstvolle Monatsschrift „Universitas", Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur (Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft m.b.H., Stuttgart, Postfach 40) brachte in ihrem Heft 3, März 1962, S. 322/3 folgenden Auszug aus dem Jahresbericht der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen (WFLO): ,yAus der Übersicht der Verbreitung von Krankheiten in den Mitgliedstaaten der genannten Organisation geht hervor, daß sich die Leberzirrhose, die hauptsächlich durch starken Alkoholkonsum hervorgerufen wird, am meisten in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in Portugal verbreitet hat, und daß in diesen Ländern auch die Todesfälle an Leber-

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Zirrhose am meisten gestiegen sind" Nach den Feststellungen der Weltgesundheitsorganisation „bedeutet die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten, besonders der Syphilis, ebenfalls eine beunruhigende Gefahr. In den Jahren 1957-1960 hat sich die Zahl der Syphiliserkrankungen in Dänemark um 85 Prozent, in den USA um 45 Prozent und in Großbritannien um 30 Prozent erhöht. In Italien hat sich die Zahl der Syphilisfälle im Vergleich zu 1955 verdreifacht." Es sei mir gestattet, aus der Zeitschrift „Die alkoholfreie Jugenderziehung", Heft 2/3 des Jahrganges 1957, Seite 6, folgende Feststellung wiederzugeben: „Jeder Jugenderzieher und jeder Priester weiß, welche Gefahr die Trinkgewohnheiten für die Moral der Jugend sind, wie insbesondere die Erfüllung des Ideals der christlichen Geschlechtsmoral im Alkoholmilieu scheitert. Wer sagt denn schon aus diesem Motiv dem Alkohol kompromißlosen Kampf an?" (Herausgegeben vom Bund für alkoholfreie Jugenderziehung, Wien 16, Wilhelminenstraße 173). ***

Als im Jahre 1948 die deutsche Bundesrepublik die Reichsmark auf ein Zwanzigstel ihres Wertes auf die sogenannte D-Mark abwertete, wurde, zum Trost für den Inflationsverlust, ein Betrag von RM 100,- in ebensoviele D-Mark umgetauscht, sodaß sich jeder Haushalt mit der begehrtesten Mangelware eindecken konnte. Es war vom psychologischen und soziologischen Standpunkt wissenswert, wie die Einkaufsmöglichkeit genutzt worden ist. Erhebungsorgane stellten im ersten Erhebungsfall fest, daß eine Familie des gehobenen Mittelstandes, der es an guter Kleidung und dauerhaften Lebensmitteln fehlte, die seit Jahren kein gutes Buch gekauft hatte, um das erste Geld der guten Währung ein kostspieliges Likörservice gekauft hat, das die Familienmitglieder am stärksten angesprochen hatte. Der Rundfunk hat diese Unvernunft mit deutscher Offenheit angeprangert. Wir wissen nur zu gut, daß auch österreichische „Mittelständler" der gleichen Unvernunft fähig wären. Welche Opfer werden einer überhitzten Motorisierung gebracht! In einem Naturschutzverband wurde vor etwa 5 Jahren der Fall einer kleinen Landwirtschaftsfamilie mit mehreren Kindern

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besprochen, die ihre „Sparkasse", den ganzen kleinen Bauernwald, der Anschaffung eines Luxuswagens geopfert hat. Der Neid der Nachbarn war sehr voreilig: Heute ist der überforderte Wagen unbrauchbar, doch der sinnlos geopferte Waldboden wird erst, wenn er nicht mittlerweile einem anderen Verwendungszweck zugeführt wird, in 60-80 Jahren einen Ertrag abwerfen. Die Stadt Wien hat im Jahr 1961 den ganzen stimmungsvollen „Votivpark", abgesehen von 6 geschonten Ahornbäumen und einer Eibe, dem Rest eines eindrucksvollen Eibenhaines, abgeholzt. Der kleinste Teil des Schmuckstückes eines Parks, hinter dem sich die gotischen Türme der Votivkirche erhoben, wurde der Unterführung der Ringstraße am Schottentor geopfert, der weitaus größere Teil der Anlage einer unterirdischen Garage für 600 Wagen, für die in der Nähe seit Jahren unverwertbare Bauplätze verfügbar gewesen wären. Den unwillig nach dem Grund der Abholzung Fragenden wurde von den Bauarbeitern die Erklärung geboten, daß die lebenskräftigen Bäume vermorscht seien. Ohne menschlichen Zugriff hätten sie das Methusalemalter der „ältesten Wienerin", der etwa 600-jährigen Eibe im Garten der Heilmittelstelle erreichen können. Nur wurzellosen Genießermenschen ist die Unterbringungsmöglichkeit für 600 Personenwagen das Opfer dieser grünen Insel, des Wahrzeichens einer gesunden, lebensvollen Stadt, wert. Kaum daß die Bäume inmitten der Stadt umgesägt waren, wurden von fernher mächtige bewurzelte Bäume für Zwecke einer Gartenbauausteilung in die Gegend der Lobau gebracht; Bäume, die der Gemeinde in ihrem demolierten Stadtgarten kostenlos zur Verfügung gestanden wären. Eine gleich sinnlose Opferung von Lebensweiten war das sogenannte „Landwirtschaftliche Notopfer" des Jahres 1930, dessen Fehllenkung noch auf die Gegenwart ihre Schatten wirft, indem zu Gunsten von einigen Dutzend Großgrundbesitzern und Aktienmühlen für tausende Kleinbauern, besonders Gebirgsbauern, unzumutbare Lebensbedingungen bis heute aufrechterhalten worden sind. Die Verordnung der Bundesregierung vom 9. Oktober 1930, betreffend Richtlinien über die Art und den Umfang der „außerordentlichen Maßnahmen zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes" regelt im eindeu-

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tigen Widerspruch zum Gesetz vom 16. Juli 1930, betreffend außerordentliche Hilfsmaßnahmen zur Linderung des landwirtschaftlichen Notstandes, die Verteilung der staatlichen Subventionen in der Weise, daß 96 Millionen „Goldschillinge" (im zehnfachen Werte von heutigen Schillingen) als Anbauprämien grundsätzlich nach der Besitzgröße, und unter den Mühlenunternehmungen im Verhältnis des Einganges an Umsatzsteuer zu verteilen waren. Die einzelnen Subventionsbeträge schwankten zwischen S 500.000für die leistungsfähigsten Unternehmen und S 10 - für die Zwergbetriebe, so daß der leistungsfähigste Unternehmer vom „Gabenonkel" Staat ein freiverwendbares Geschenk, das ihm für die große Masse unvorstellbare Luxusausgaben ermöglicht hat, zur Linderung seines angeblichen Notstandes erhielt, während die mühsam schuftenden Zwergbauern S 10 - erhielten, um die sie sich nicht einmal bessere landwirtschaftliche Behelfe anschaffen konnten! Die Kargheit des staatlichen Kulturaufwandes, die beschämende Einrichtung der Schulen aller Typen, die Raumnot und sonstige Rückständigkeit der staatlichen Krankenanstalten und die phsysische und psychische Not der in Alkoholikerfamilien lebenden Kinder blieben bei dieser einmaligen Gelegenheit eines staatlichen Luxusaufwandes unbehoben, ja völlig unverändert - wie heute. Keiner dieser vom Staat beschenkten „Patrioten" hatte die Einsicht und das Verantwortungsbewußtsein, die bei seinen Lebensbedingungen ungebührlichen Zahlungen abzulehnen oder zurückzustellen, obwohl er sich doch sagen mußte, daß ein Privater, der auf diese Weise zum Nachteil der seiner Obhut anvertrauten Menschen sein Vermögen vergeudet, unter Verschwendungskuratel gestellt werden sollte. Es sei mir gestattet, als Beweis für die Erfüllung einer selbstverständlichen staatsbürgerlichen Pflicht und nicht etwa eines verdienstvollen persönlichen Opfers auszugsweise eine briefliche Äußerung des Herrn Bundesministers Dr. Drimmel vom 17. Juli 1956 wiederzugeben: „Ich benütze diesen Anlaß, Ihnen neuerlich für die Erarbeitung des staatspolitisch höchst bedeutsamen Gutachtens zu danken. Ebenso darf ich Ihnen meine Anerkennung dafür ausdrücken, daß Sie sich des Ihnen zustehenden wohlverdienten Honorares in so großzügiger Weise zugunsten karitativer Organisationen begeben haben." Die Widmung eines Betrages im Ausmaß meines damaligen Monatseinkommens von S 5000 - vor allem zu Gunsten von unschuldigen Opfern des Alkoholismus war begreiflicherweise nur ein Tropfen auf einen heißen

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Stein. Leider werden selbst solche bescheidene Opfer in der heutigen überwiegend scheinchristlichen und scheinsozialen Gesellschaft eher belächelt als nachgeahmt. Das „Notopfer" war indes wenigstens nur ein einmaliges Geschenk an Kapitalisten, denen es - unbekannt um welchen Preis - gelungen war, sich eine praktisch kontrollose Regierung tributpflichtig zu machen. Das Alkoholkapital namentlich die Brauherren und Spirituosenerzeuger f verstehen es aber, das alkoholhörige Volk zu ihren Gunsten von Jahr zu Jahr auszubeuten, und mit ihren Riesengewinnen ihre Betriebseinrichtungen und die Gewinne lawinenartig zu vergrößern. Wohltäter ist der Alkohol nur für die Taschen seiner Erzeuger - für die Verbraucher aber, je mehr er sie sich hörig macht, Quelle ihres physischen und noch mehr ihres moralischen Verderbens.

Ehre den Opfern des Widerstandes „Wie sehen Sie 25 Jahre danach die Ereignisse, die zu Österreichs Untergang geführt haben?" „Ich bin von der Zwangsläufigkeit geschichtlicher Ereignisse überzeugt und habe die vorübergehende Einverleibung Österreichs ins Hitler-Reich als unvermeidbar angesehen, seit die Sieger des ersten Weltkrieges den demokratischen Koalitionsregierungen des Nachkriegsdeutschland von Scheidemann bis Brüning Prügel in den Weg gelegt und damit der nationalsozialistischen und deutschnationalen Opposition Auftrieb gegeben, jedoch nach der so ermöglichten Machtergreifung eines wirklich gefährlichen Deutschland schwächliche Zugeständnisse gemacht und sich selbst in den zweiten Weltkrieg hineinmanövriert haben. Die Annexionsabsicht Hitlers ist infolge der Nichterfüllung der völkerrechtlichen Voraussetzungen des sogenannten Anschlusses' gescheitert. Unter den beiden völkerrechtlichen Möglichkeiten (eines zwichenstaatlichen Vertrages oder gleichlautender Anschlußgesetze beider Staaten) hatte Hitler den zweiten Weg gewählt und vom österreichischen Bundespräsidenten die Ernennung seines Vertrauensmannes Seyß-Inquart zum Bundeskanzler und die Inkraftsetzung eines Anschlußgesetzes in Österreich gefordert. Nur dadurch, daß der gemäß der völkerrechtswidrigen Forderung des Regierungswechsels in Österreich ernannte Vertrauensmann Hitlers, Seyß-Inquart, in unterwürfiger Übereilung davon Abstand nahm, den von Hitler übermittelten Entwurf dieses Gesetzes im Ministerrat zur Abstimmung zu bringen, sondern den Text auf eigene Verantwortung im Bundesgesetzblatt verlautbaren ließ, war infolge Nichtigkeit dieses verlautbarten Scheingesetzes der ,Anschluß' völkerrechtlich unwirksam. Der gegen den Minister

Tagebuch, 18. Jg. (1963), Nr. 3, S. 3. Nach einem handschriftlichen Vermerk Merkls hat er diesen Beitrag in seiner letzten Pflichtübung an der Universität Wien im Jänner 1965 vorgelesen.

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Reinthaller durchgeführte Hochverratsprozeß hat diesen Sachverhalt außer Zweifel gestellt und damit klargestellt, daß die von Hitler beabsichtigte Annexion Österreichs eine bloße, wenngleich trotzdem folgenschwere Okkupation geblieben ist, Österreich also nach dem Zusammenbruch von Hitler-Deutschland und nach der Räumung seines Staatsgebietes durch die Besatzungsmächte voll handlungsfähig geworden ist. In diesem Licht wird auch die Volksabstimmung vom 7. April 1938 bedeutungslos, da sie von einer in Österreich zu keinem Staatsakt legitimierten fremden Staatsgewalt durchgeführt worden ist." „Sind Sie der Meinung, daß es damals Möglichkeiten eines Widerstandes gegeben hätte?" „Die politische Aufsplitterung Österreichs in drei Lager (Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Deutschnationale) hat Österreich der Bedrohung gegenüber handlungsunfähig gemacht. Offenbar waren die Grenzen Österreichs für eine wirksame militärische Verteidigung ohne Unterstützung von Großmächten völlig ungeeignet. Die Erwartung ausländischer Hilfe ist aber durch die politische Blindheit der europäischen Großmächte enttäuscht worden, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Wurden doch nach Beginn des nationalsozialistischen Eroberungskrieges wahrhaft unverdächtige politische Emigranten, wie Stefan Zweig, in ihrem Zufluchtsstaat als feindliche Ausländer' interniert, während dasselbe England fast ein Jahrhundert vorher einem Karl Marx und gleichzeitig einem Klemens Metternich großzügig Asyl gewährt hatte. Es wäre also für Österreich im März 1938 nur eine hoffnungslose Selbstaufopferung in Frage gekommen, so wie 1939 tausende Norweger den Versuch einer Abwehr der nationalsozialistischen Invasoren mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Ehre Österreichs wurde jedoch durch den inneren Widerstand gerettet, der leider durch die politische Aufspaltung geschwächt war. Mengenmäßig war der Widerstand innerhalb der politisch links orientierten Bevölkerung Österreichs (Sozialisten und Kommunisten), wie des sogenannten Altreichs, vielleicht am stärksten verbreitet, doch hat die geschichtliche Forschung in Österreich wie in der »deutschen Bundesrepublik' auch eine große Zahl von Opfern des Widerstandswillens in bürgerlichen und insbesondere in religiös gesinnten Kreisen beider christlichen Konfessionen außer Zweifel gestellt, so daß man bei gegenseitiger Achtung endgültige Ziffern getrost abwarten kann.

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Meine akademischen Lehrfächer gaben mir Gelegenheit, Motive und moralische Rechtfertigung des Widerstandes gegen eine unmoralische Staatsgewalt, insbesondere auch gegen einen hemmungslosen Eroberungskrieg wie jenen Hitlers, in Vorträgen und akademischen Prüfungen immer wieder bis zum letzten Tag meiner Amtszeit zu behandeln. Ehrenpflicht besonders der Schulen bleibt es, Dank und Bewunderung für die Opfer des Widerstandes in der Jugend dauernd wachzuerhalten"