Gesammelte Schriften: Erster Band: Grundlagen des Rechts. Erster Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.] 9783428479124, 9783428479122, 9783428079124

Für das Gesamtwerk von Adolf Julius Merkl (1890-1970) gilt die besonders in der Rechtswissenschaft allgemein gültige Fes

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Gesammelte Schriften: Erster Band: Grundlagen des Rechts. Erster Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.]
 9783428479124, 9783428479122, 9783428079124

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ADOLF JULlUS MERKL· GESAMMELTE SCHRIFTEN

Adolf Julius Merkl

GESAMMELTE SCHRIFTEN Erster Band

Grundlagen des Rechts Erster Teilband Herausgegeben von

Dorothea Mayer-Maly . Herbert Schambeck Wolf -Dietrich Grussmann

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Merkl, Adolf Julius: Gesammelte Schriften / Adolf Julius Merk!. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly ... - Berlin: Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07753-9 NE: Mayer-Maly, Dorothea [Hrsg.); Merkl, Adolf Julius: [Sammlung) Bd. 1. Grundlagen des Rechts. Teilbd. 1 - (1993) ISBN 3-428-07912-4

Alle Rechte, auch die des auszugs weisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07753-9 (Gesamtausgabe) ISBN 3-428-07912-4 (Bd. 1)

Inhalt Einmhrung ............................. . ....... . ........... . ........................ . ........... VII Redaktionelle Anmerkungen ........... . ... . ... . ... . ....... . ............ . ... . ... . ........... XIX Adolf Julius Merki ............................................................................ XXI I. Rezension von: Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts .... . ........... 3 2. Rezension von: Paul Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte ............ 19 3. Rezension von: Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz......... .... ........................... ...... ....... ......................

. .. 27

4. Rezension von: Hofacker, Über die Grenzabscheidung zwischen Strafrechtsprechung und Verwaltung ..................................................... 33 5. Rezension von: Österreichische Zeitschrift flir Ön-entliches Recht ....... . ...... 39 6. Rezension von: RudolfStammler, Theorie der Rechtswissenschaft ............. 45 7. Zum Interpretations problem .............................................. . .......... 63 8. Das Recht im Lichte seiner Anwendung ............. '" ............................ 85 9. Rezension von: Hans Reichei, Gesetz und Richterspruch ................ . ...... 147 10. Die Unveränderlichkeit von Gesetzen - ein normlogisches Prinzip ............ 155 11. Die Rechtseinheit des österreichischen Staates. Eine staatsrechtliche Untersuchung auf Grund der Lehre von der lex posterior ....................... 169 12. Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechtes ............................................................................ 227 13. Rezension von: Heinrich Herrfahrdt, Lücken im Recht .............. . .......... 253 14. Freirecht und Richterfreiheit ........................................................ 259 15. Zum Problem der Rechtskraft in Justiz und Verwaltung .......... . .............. 267 16. Rezension von: Alfred Bozi, Lebendes Recht ................................ . ... 281 17. Hans Kelsens System einer reinen Rechtstheorie .... .. ................... . ...... 291 18. Gesetzesrecht und Richterrecht. .................................................... 317 19. Neue Wege der Rechtswissenschaft. Zu Hans Ke1sens Rechtstheorie ......... 329

VI

Inhalt 20. Ein Kampf gegen die normative Jurisprudenz. Zum Streit um Kelsens Rechtslehre ............................................................................ 339 21. Rezension von: AdolfMerkl. Die Lehre von der Rechtskraft ................... 365 22. Justizirrtum und Rechtswahrheit ................................................... 369 23. Das Problem der Rechtskontinuität und die Forderung des einheitlichen rechtlichen Weltbildes ................................................................ 385 24. Diskussionsbeitrag: Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung ........ 423 25. Rezension von: James Goldschmidt. Der Prozeß als Rechtslage. Eine Kritik des prozessualen Denkens ................................................... 425 26. Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues ........................ 437 27. Rezension von: Hans Peters. Zwischen gestern und morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage .............. , ........................................... 493 28. Rezension von: Ernst von Hippel. Einl1ihrung in die Recl'ltstheorie ........... 495 29. Rezension von: Helmut Coing. Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts .................................... 499 30. Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechtes ................................................................ 503 31. Einheit oder Vielheit des Naturrechts? ............................................. 513 32. Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ........ 583 33. Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ....... 607 34. Diskussionsbeitrag: Das Gesetz als Norm und Maßnahme ..................... 609 35. Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik ... 611 36. Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung .. 629

Die Herausgeber .... ................. . ............... . ... . ...................... . .............. 656

Einführung Die Darstellung des Gesamtwerkes eines Wissenschaftlers stellt den Rückblick auf sein Schaffen dar. Die Summe von jeweiligen Einzelleistungen bietet sich als Ganzes, soll aber nicht vergessen lassen, daß sie jeweils eigenständig, einmal unabhängig voneinander, ein anderes Mal mehr zusammenhängend zueinander, in mehr oder weniger inhaltlicher Verbundenheit erbracht wurden. Jede Leistung eines Wissenschaftlers ist ein von seinem Fachgebiet ausgehendes Bemühen, der Zeitverantwortung zu entsprechen. Diese allgemeine Feststellung gilt besonders auch für einen Rechtswissenschafter. Er hat sich mit dem Ordnungs-, Rechts- und Staats bewußtsein seiner Zeit auseinanderzusetzen. Der Ausdruck dieses Bemühens kann sowohl eine literarische wie eine normative Bedeutung erlangen und kann in der Art und Weise der Bewältigung der Zeitverantwortung konkret wegweisend und als Beitrag zum Grundsatzdenken von allgemeiner Bedeutung werden. Beides trifft besonders auf Adolf Julius Merkl (1890-1970) zu. Das Leben von Adolf Julius Merkl umspannt in seinen acht Jahrzehnten die zu Ende gehende Donaumonarchie und die folgende Entwicklung Österreichs als demokratische Republik. Es wird geprägt von den Folgen zweier Weltkriege und beinhaltet zunächst die Fortschreibung des Rechtspositivismus und später die Auseinandersetzung mit ihm. In diesem seinem Schaffen hat Adolf Julius Merkl in gleicher Weise die Rechtstheorie, die allgemeine Staats- und Verwaltungslehre, das österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrecht und die Rechtsphilosophie bereichert. Konsequent in der Gedankenführung, klar im Ausdruck und engagiert in all seinen Bemühungen leistete Adolf Julius Merkl seinen Beitrag zur Wissenschaft vom öffentlichen Recht, der mit zum Klassischen des Rechtsdenkens überhaupt geworden ist. Dabei ist es interessant, daß Adolf Julius Merkl von seiner ersten Publikation als Vierundzwanzigjähriger an - es war dies eine Besprechung des Buches von Erich Jung "Das Problem des natürlichen

VIII

Einflihrung

Rechts" I - als gereifte Juristenpersönlichkeit erlebbar war. In all seinen Publikationen und auch noch in den aus seinem Nachlaß veröffentlichten Schriften ist sein in Inhalt und Form in gleicher Weise qualifiziertes Niveau erlebbar. Adolf Julius Merkl ging in seinen rechtswissenschaftlichen Arbeiten stets von konkreten Rechtsfragen aus und suchte deren Beantwortung fast immer, wie Hans Kelsen, unter sparsamer Literaturzitation mit Ergebnissen zu verbinden, welche von allgemeiner Bedeutung waren. Adolf Julius Merkl anerkannte die eigenständige Bedeutung des positiven Rechts, das er in seinen verschiedenen Rechtssatzformen im Normzusammenhang zu erklären suchte und diesen in seiner berühmt gewordenen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung darstellte. 2 Er hat mit dieser seiner Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung die sogenannte "Reine Rechtslehre", wie sie von Hans Kelsen als eine Theorie des positiven Rechts begründet und geprägt wurde, 3 dynamisiert. Adolf Julius Merkl hat das positive Recht in seinen verschiedenen Rechtssatzformen erkannt, ihre in einem Delegationszusammenhang zueinander bestehende Bezogenheit dargestellt, in der sich der Rang im Stufenbau der Rechtsordnung nach der derogatorischen Kraft bestimmt. Er weiß zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung klar zu unterscheiden. Adolf Julius Merkl erklärte selbst: "Das Gesetz und selbst eine das Gesetz vollziehende Verordnung bedeutet nicht die Endgestalt des Rechtes, sondern diese ergibt sich erst aus der richterlichen und der verwaltungförmigen Rechtsanwendung. ,,4 In diesem

IÖsterreichische Zeitschrift ftir ölTentliches Recht 1914, I. Jg., S. 5701T. 2 Dazu Adolf Julius Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Sonderabdruck aus der Deutschen Richterzeitung, Hannover 1917; derselbe, Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechtes, Juristische Blätter 1918, S. 425 IT. und 463 IT., sowie derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Alfred Verdroß (Hg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Festschrift ftir Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 2521T. 3 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig und Wien 1934, 2. Aufl. mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Wien 1960. 4 Adolf Julius Merkl, in: Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen, geleitet von Nikolaus Grass, Inns bruck 1952, S. 141.

Einführung

IX

Zusammenhang behandelt Adolf Julius Merkl eine Reihe von Fragen, wie die zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung sich befindliche nach der Gesetzesinterpretation 5 und weiters das Problem der Rechtskraft. 6 Adolf Julius Merkl anerkennt als einziges notwendiges Interpretationsmittel die (objektive) grammatisch-logische Interpretation, weil das Gesetz selbst die Sprachform wählt. Adolf Julius Merkl geht es in seiner Interpretationslehre sowohl um die Interpretation der Rechts-erkenntnis als auch der Rechtspraxis und damit auch der Rechtserzeugung. Er nimmt dabei für die Entscheidung des einzelnen Rechtsfalls durch den Rechtsanwender auch als Entscheidungsgründe mit die Billigkeit, Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit wahr, wie Adolf Julius Merkl erklärte: "also Eigenschaften, welche dem Rechte zwar anhaften können, aber nicht begrifTswesentlich sind".7 Er erkannte: "Der Rechtspraktiker ist und sei Jurist und Mensch nicht bloß in einer Person, sondern auch in derselben Handlung! Sogar etwas unjuristisch zu werden zugunsten des ethischen Postulates, ganzer Mensch zu sein, wird man ihm verzeihen dürfen. Beim Rechtstheoretiker trifft aber eine solche Sachlage nicht zu; er kann sozusagen das MenschSein und Jurist-Sein reinlich scheiden, wo immer es unvereinbar erscheint. Aus irgendwelchen Menschlichkeitsrücksichten etwa seine Rechtserkenntnisse beschneiden, das ist Vergehen gegen die Postulate der reinen Erkenntnis. Der Rechtstheoretiker hat das Recht zu erkennen - es abzuändern, das tue, wenn schon, der Praktiker! Durch ethisch schlechte, um bei dem Beispiel zu bleiben, etwa extrem gesetzestreue und dadurch inhumane Erkenntnisse des Theoretikers wurde noch niemandem ein Leid getan - außer der mißhandelten Wissenschaft; was für Unheil aber schon mitunter unnötigerweise allzu gesetzestreue richterliche Erkenntnisse angerichtet haben, soll uns hier nicht weiter befassen. ,,8

5 Adolf Julius Merk!, Zum Interpretationsproblem, Grünhut'sche Zeitschrift, Band42(1916), S. 535f. 6 Adolf Julius Merk!, Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff. Eine rechtstheoretische Untersuchung, Leipzig - Wien 1923. 7

Adolf Julius Merk!, Zum Interpretationsproblem, a.a.O., S. 10.

8

Adolf Julius Merk!, Zum Interpretationsproblem, a.a.O., S. 9.

x

Einführung

Adolf Julius Merkl war zeit seines Lebens mit der ganzen Breite und Tiefe des öffentlichen Rechts beschäftigt. Schon als junger Beamter hatte er im Magistrat der Stadt Wien sowie anschließend in mannigfaltiger Ministerialverwendung Gelegenheit, die unterschiedlichen Aufgaben des Verwaltungsrechtes an Hand aktueller Fälle zu studieren. Diese Praxisbezogenheit lieferte ihm auch die Grundlage für sein 1927 veröffentlichtes, klassisch gewordenes Werk "Allgemeines Verwaltungs recht " , das prägend für die ganze Verwaltungswissenschaft im deutschen Sprachraum und auch aufgrund von Übersetzungen darüber hinaus wurde.

In seinem für seine ganze Lehre vom Verwaltungsrecht grundlegenden Werk "Allgemeines Verwaltungsrecht" ist es Adolf Julius Merkl, nach seinen eigenen Worten nicht darum gegangen, "irgendwe1che Forderungen an das positive Verwaltungsrecht zu richten oder ihm Rechtseinrichtungen etwa als wesensnotwendig anzudichten, die es selbst nicht aufweist", er "benützt für die Lehre vom allgemeinen Verwaltungsrecht die einzelnen positiven Rechtsordnungen nur als Material, um daraus das für jede positive Verwaltungs rechtsordnung oder wenigstens für eine Mehrzahl von Verwaltungsrechtsordnungen Allgemeingültige, wie gemeinsame Faktoren, herauszuheben". 9 Wie es Karl Korinek in seinem Vorwort zu dem von ihm in höchstverdienter Weise initiierten Neudruck des Werkes "Allgemeines Verwaltungsrecht" schon hervorhob, sind viele Gedanken dieses für das Rechtsdenken Adolf Julius Merkls grundlegenden Werkes "heute von Lehre und Verwaltungspraxis als selbstverständlich übernommen - man denke vor allem an die Lehre von den Rechtsquellen der Verwaltung, an die Theorie des rechtlichen Stufenbaues, die Lehre von den Verwaltungsorganen und die Lehre von der Rechtskraft; zu vielen Überlegungen gab er den Anstoß, so etwa auch zu einer methodenreinenjuristischen Betrachtung der Selbstverwaltung". 10 Ohne diese Darlegungen von Adolf Julius Merkl in seinem "Allgemeinen Verwaltungsrecht " wären die später erschienenen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Systeme vor allem in Österreich schwer vorstell bar.

9 Adolf Julius Merk!, Allgemeines Verwaltungsrecht, mit einem Vorwort zum Neudruck von Karl Korinek, Neudruck Darmstadt 1969, S. XI f. 10 Karl Korinek, Vorwort zum Neudruck, a.a.O., S. IX.

EinfUhrung

XI

über das allgemeine Verwaltungsrecht hinaus hat Adolf Julius Merkl in seinem Werk eine Vielzahl von Untersuchungen angestellt, welche über das Gebiet der Verwaltung für jede allgemeine Lehre vom Staat von Bedeutung ist, etwa über "Verwaltung und Staatsform" und "Verwaltung und Demokratie". II Darauf sei deshalb auch hingewiesen, weil zum umfassenden Verständnis des Gesamtwerkes von Adolf Julius Merkl neben der Kenntnis der in den gegenständlichen Sammelbänden veröffentlichten einzelnen Abhandlungen stets auch sein Buch "Allgemeines Verwaltungsrecht" erforderlich ist. Für Adolf Julius Merkl steht die Verwaltung als Staatsfunktion im Dienste der Verfassungskonkretisierung. Die Aufgaben der Verwaltung und die Entwicklung des Staatsrechtes hat Adolf Julius Merkl immer gleichzeitig gesehen. Das ergibt sich auch ganz deutlich aus seinem Schrifttum, in dem er sich mit der ganzen Entwicklung des österreichischen Staatsrechts von der zu Ende gehenden konstitutionellen Monarchie über die Entstehung Österreichs als demokratische Republik bis zu den Problemen der Parteienstaatlichkeit Österreichs auseinandersetzte. So kritisierte er schon 1915 vor seiner Habilitation als junger Konzeptsbeamter in ministerialer Verwendung die Handhabung des kaiserlichen Notverordnungsrechts 12 und habilitierte sich später mit seiner Schrift über "Die Verfassung der Republik Deutschösterreich . Ein kritisch-systematischer Grundriß ", 1919. Als Beamter im staatsrechtlichen Büro des Ministerratspräsidiums und nach Ausrufung der Republik - der Staatskanzlei erlebte er die Entstehung der Verfassung des Neustaates und später als Rechtswissenschafter alle Stadien der späteren Entwicklung, die er kritisch kommentierte. 13

II Adolf Julius Merk!, Allgemeines Verwaltungsrecht, a.a.O., S. 334 tT. 12 Siehe Adolf Julius Merk!, Die Verordnungsgewalt im Kriege, Juristische Blätter 44. Jg. (1915), S. 375f., 387 f. (von der Zensur gestrichen), 509 tT., 45. Jg. (1916), S. 397 tT., 409 tT., 493 tT., 505 tT., 517 tT., 48. Jg. (1919), S. 337 tT; sowie derselbe, Theoretisches zur Praxis der § 14-Verordnungen, Juristische Blätter 45. Jg. (1916), S. 157 tT. 13 Siehe Adolf Julius Merk!, Zur Verfassung unserer Republik, Juristische Blätter 48. Jg. (1919), S. 147 tT. und 181 tT.; Die Bundesverfassung vom I. Oktober 1920, hg. von Hans Kelsen, Georg Froehlich und Adolf Merk!, Wien - Leipzig 1922; Adolf Julius Merk!, Epilog zur Verfassungsreform, Der österreichische Volkswirt 1925, S. 1241 tT. und S. 1269 tT.; derselbe, Zur Verfassungsreform. Die Verfassungsnovelle im Lichte der Demokratie, Juristische Blätter 58. Jg. (1929), S. 469 tT.; derselbe, Die Verfassungs-

XII

Einf"lihrung

Adolf Julius Merkl war zeit seines Lebens um die Kontinuität der österreichischen Staatlichkeit besorgt, dies zeigt sich ebenso schon 1918 in seiner Studie "Die Rechtseinheit des österreichischen Staates. Eine staatsrechtliche Untersuchung auf Grund der Lehre von der lex posterior" 14 wie 1955 in seiner Arbeit "Der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich - eine Geschichtslegende" .15 Es ist auch bemerkens- und erwähnenswert, daß die drei Abhandlungen, die noch ein Jahr nach dem Ableben von Adolf Julius Merkl aus seinem Nachlaß von mir veröffentlicht werden konnten, Themen gewidmet sind, welchen er sich Zeit seines Lebens besonders verpflichtet fühlte: "Die Zukunft der Demokratie - Hoffnung oder Verhängnis?", 16 "Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung" 17 und" Idee und Gestalt des Rechtsstaates" . 18 Es wäre aber falsch, wollte man meinen, das gesamte Lebenswerk von Adolf Julius Merkl erschöpfe sich im bloßen positiven Recht. Er wußte in meisterhafter Weise das positive Recht zu analysieren und hat mit seiner klassisch gewordenen Lehre vom rechtlichen Stufen bau auch zur Anatomie des positiven Rechts beigetragen; er wußte aber auch das positive Recht in seinen mannigfachen Bedingtheiten darzu-

krise im Lichte der Verfassung, Der österreichische Volkswirt 1933, S. 584 f.; derselbe, Das neue Verfassungsrecht, Juristische Blätter 63. Jg. (1934), S. 201 ff., 225 ff., 265 ff., 290ff., 309 ff. und 357 ff.; derselbe, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1935; Der Staat und die politischen Parteien, Jahrbuch des österreichischen Gewerbevereins, Wien 1962, S. 62 ff. und derselbe, Das Unbehagen im Parteienstaat. Die Antwort der Verfassung, Forum 6. Jg. (1959), Nr. 62, S. 50ff. 14 Archiv des öffentlichen Rechts, Band 37 (1918), S. 56 ff. 15 Juristische Blätter 77. Jg. (1955), S. 439 f., beachte auch derselbe, War Österreich von 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches? Archiv rur öffentliches Recht, Band 82 (1957), S. 480 ff.; derselbe, 13. März 1938 - Schicksalstag als Rechtsproblem, Der Staatsbürger, 16. Jg. (1963) Nr. 5, S. I ff. und derselbe, Okkupation oder Annexion? Die Rechtsstellung Osterreichs in der Zeit der Beherrschung durch das Hitler-Reich, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift rur Kar! Kummer, Wien 1965, S. 425ff. 16 Internationale Festschrift rur Alfred Verdroß zum 80. Geburtstag, München Salzburg 1971, S. 271 ff. 17 Festschrift rur Ernst C. Hellbling zum 70. Geburtstag, München - Salzburg 1971, S. 571 ff. 18 Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 126 ff.

Eirulihrung

XIII

stellen und auch zu beurteilen, was im Laufe seines langen Lebens mit der Erfahrung unterschiedlicher politischer Systeme mit wachsender Deutlichkeit auch aus der Sicht der Ethik erfolgte. So sehr Adolf Julius Merkl die Bedeutung des positiven Rechts zu achten wußte, so sehr war er nie geneigt, dieses im Sinne eines extremen Rechtspositivismus absolut zu setzen. In diesem Sinne gelangte er schon in seiner ersten Abhandlung, der schon erwähnten Besprechung des Buches von Erich Jung "Das Problem des natürlichen Rechts ,,19 "zur grundsätzlichen Feststellung der Berechtigung und Notwendigkeit beider Erscheinungsformen des Rechts und schrieb dem natürlichen Recht die 'Mission' zu, ständiges 'regulatives Prinzip des positiven Rechtes' zu sein" .20 Auch in späteren Jahren hat Adolf Julius Merkl diesen seinen Standpunkt nicht geändert, sondern vielmehr in seinem selbstbiographischen Beitrag zu dem von Nikolaus Grass als 97. Band der SchIern-Schriften erschienenen Buch "Österreichs Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellung" deutlich festgestellt, daß diese Aussage, "obwohl bereits 35 Jahre zurückliegend, als noch heute für mich gültiges Bekenntnis zum Positivismus verstanden werden. Freilich nur in dem Sinne, daß die durch den 'Erfüllungsstab' gesicherten Forderungen des Staates in bezug auf menschliches Verhalten unbekümmert um die Wertvorstellungen des Betrachters als gesatztes Recht, d.h. als Wille des Staates, zu erkennen seien, daß jedoch diese Erkenntnis nicht genüge, die Forderung des Staates zur unbedingten Handlungsmaxime für den Bürger zu machen, dieser vielmehr einem von ihm erkannten höheren Werte um den Preis der Ungehorsamsfolgen des Staates Gehorsam leisten darf und soll. Das bedeutet, daß der staatliche Befehl seine verpflichtende Kraft nicht aus seinem Ursprung, sondern aus seiner übereinstimmung mit der Idee des Rechts empfängt. ,,21

19 Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Jg. (1914), S. 578. 20 Adolf Julius MerkI, in: Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellung, geleitet von Nikolaus Grass, Innsbruck 1952, S. 139. 21 Adolf Julius MerkI, a.a.O.

XIV

Einführung

Nicht unerwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die 1918 getroffene Feststellung in seiner geradezu sprichwörtlich und berühmt gewordenen Abhandlung "Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts": "Eine Art naturrechtliehe Wurzel fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert; der Vorwurf der 'Naturrechtlerei' ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen. ,,22 Je älter Adolf Julius Merkl wurde und je mannigfältiger seine Erfahrungen mit dem positiven Recht und den verschiedenen politischen Ordnungssystemen der Staaten wurden, desto kritischer wurde Adolf Julius Merkl, und neben seiner anfangs vorherrschenden Rechtsformenlehre trat immer mehr eine Rechtsinhaltsbetrachtung, was sich in der zunehmenden Behandlung rechtsethischer Themen durch Adolf Julius Merkl zeigt. In diesem Sinne schreibt Merkl selbst in seinem Brief vom 7. Mai 1956 an Hans Kelsen von seiner "methodisch und inhaltlich gewandelten wissenschaftlichen Haltung" .23 Adolf Julius Merkl betonte in diesem Zusammenhang gleichsam als Begründung für diese seine Haltung, daß ihm nun "durch die Erfahrung des christlich-ständischen Staates, des Dritten Reiches und auch der erneuerten demokratischen Republik die Entsprechung der Gesetzesrechtslage gegenüber einer idealen Gesellschaftsordnung ungleich wichtiger ... als die reine Realisierung des positiven Rechts auf

22 Sonderabdruck aus den Juristischen Blättern. Wien. Selbstverlag des Verfassers 1918. S. 29; beachte auch derselbe. Die Lehre von der Rechtskraft. entwickelt aus dem RechtsbegrUf. eine rechtstheoretische Untersuchung. Leipzig - Wien 1923. S. 210. 23 Brief AdoU' Julius Merk! an Hans Kelsen vom 7. Mai 1956. Universitätsarchiv Wien. Nachlaß Merk!. Mappe VIII. in diesem entdeckt von WoU'-Dietrich Grussmann; siehe auch Wolf-Dietrich Grussmann. Adolf Julius Merk!- Leben und Werk. Schriftenreihe des Hans Kelsen- Instituts. Band 13. Wien 1989. S. 44 f. sowie Kar! Korinek. Besprechung von Wolf-Dietrich Grussmann. Adolf Julius Merk!- Leben und Werk. Zeitschrift für Verwaltung 1990. S. 23: "Bei der Lektüre des Beitrages wird auch deutlich. wie sich Merk! im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit vom strikten Rechtspositivismus der Reinen Rechtslehre entfernt und nach Ansicht des Rezensenten die Grundlage für die heute in der österreichischen Staatsrechtslehre und Judikatur des Verfassungsgerichtshofes herrschende methodische Position als wertorientierten gemäßigten Positivismus gelegt hat ... "

Einführung

xv

dem Wege der Vollziehung,,24 sei. In einer seiner letzten in ihrer Veröffentlichung erlebten Abhandlungen "Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung,,25 hat Adolf Julius Merkl diesen seinen Standpunkt näher ausgeführt: "Recht und Moral haben möglicherweise und im größten Umfang dieselben Adressaten: Sie fordern aber nicht dasselbe, sondern im größten Umfang verschiedenes Verhalten derselben Person. Schematisch ausgedrückt, verhalten sich Recht und Moral wie einander schneidende Kreise; so ergeben sich Bereiche identischer und unterschiedlicher Forderungen der beiden normsetzenden Autoritäten an die Adresse desselben Menschen, von denen freilich nur jeweils eine als geltend anerkannt werden kann. Wie der Mensch trägt auch die menschliche Gemeinschaft Staat die beiden Möglichkeiten in sich, sittlich oder, was dasselbe ist, moralisch und amoralisch zu wollen und zu handeln. ,,26 Adolf Julius Merkl wußte daher, daß auch das Recht "als allzu menschliche Einrichtung zwischen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt", weshalb "die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik " bedarf. 27 In diesem Stadium seiner Lebensarbeit trat bei Adolf Julius Merkl nach einer langen Zeit des Bemühens um die Rechtsform auch das nach dem Rechtsinhalt auf. Auch in dieser Blickrichtung verfaßte er seine Arbeit über "Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung" - Baugesetz einer Rechtsordnung war für ihn "der Inbegriff der Rechtseinrichtungen, die sich als wesenhafter Ausdruck eines weltanschaulichen oder politischen Gedankenkreises darstellen ,,28 -, hielt er

24 Brief vom 7. Mai 1956, a.a.O.; beachte hiezu näher Herbert Schambeck, Ethik und Demokratie bei Adolf Merk!, in: Adolf J. Merk!- Werk und Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 14, Wien 1990, S. 267 ff. 25 Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 11 N .F. (1961), S. 293 ff. 26 A.a.O., S. 299. 27 A.a.O., S. 313.

28 Adolf Julius Merk!, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in: Die Republik Österreich - Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, Wien 1968, S. 79.

XVI

Einfuhrung

jahrelang Seminare über "Freiheit und Gerechtigkeit" ab 29 und beschäftigte sich mit dem Problem des Widerstandes gegen die Staatsgewalt,30 wozu er, oft vom Verfasser dieser Zeilen gehört, in seinem viele semesterlang gehaltenen Seminar über "Freiheit und Gerechtigkeit" feststellte: "Es gibt Zeiten, in welchen es ehrenvoller ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben." Auf diese Weise setzte sich auch Adolf Julius Merkl näher mit dem Naturrecht auseinander, wozu sicher auch seine bis 1950 dauernde Lehrtätigkeit als Professor an der Universität Tübingen, die er nach der in Wien 1938 aus politischen Gründen erfolgten AußerdienststeIlung ab 1941 zunächst vertretungsweise wahrnahm, beitrug. 31 Adolf Julius Merkl suchte in diesem Abschnitt seines Wirkens das Staatsrecht auch aus seinen politischen Ursprüngen und Bedingtheiten zu erklären 32 und dem Recht überhaupt den Maßstab der Moral anzulegen. Mehr oder weniger deutlich hat diese Rechtsauffassung Adolf Julius Merkl während aller Perioden seines Rechtsdenkens immer begleitet. Adolf Julius Merkl war die eigenständige normative Bedeutung des positiven Rechts bewußt, das positive Recht mit seinen verschiedenen Rechtssatzformen war ihm aber kein Selbstzweck, sondern hatte für ihn eine den Menschen dienende Funktion; dies zeigt sich für ihn lebenslang besonders auch in seinen Bemühungen um den Naturschutz,

29 Dazu Adolf Julius Merk}, Unvergängliches Freiheits·Erbgut, in: Festschrift für Heinrich Klang zum 50. Geburtstag, Wien 1950, S. 14 ff; derselbe, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festschrift für Zaccharia Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff.; derselbe, Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften N r. 21, 1955, S. 285 ff.; derselbe, Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der philosophischhistorischen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften Nr. 22, 1957, S. 353 ff.

30 Vgl. Adolf Julius Merk}, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck 1961, S. 467 ff. 31 Siehe Adolf Julius Merk}, Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechtes, Juristische Blätter 73. Jg. (1951), S. 60 und derselbe, Einheit oder Vielheit des Naturrechts?, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band V, 1953, S. 257 ff. 32 Siehe Wolf-Dietrich Grussmann, a.a.O., S. 45, Fußnote 248.

Einf"lihrung

XVII

dessen Wegbereiter er in Österreich schon zu einer Zeit war, als das Naturverständnis noch lange nicht ein wesentlicher Inhalt des allgemeinen Bewußtseins der Menschen und der Umweltschutz noch unbekannt war. Als Sohn eines Forstakademikers war er der Natur und ihrem Schutz von Jugend auf verbunden und erklärte selbst oft dem Verfasser dieser Zeilen, daß er Jurist vor allem deshalb geworden war, um die Natur vor dem Menschen zu schützen. In dieser seiner Einstellung zum Naturschutz, 33 aber auch zu anderen Fragen der Lebenseinstellung, wie zum Problemkreis Alkohol und Sexualität zeigte sich besonders das Verantwortungsdenken Adolf Julius Merkls, der von sich, seinen Mitmenschen und vom Staat ein hohes Maß an Achtung und Toleranz sowie Verständnis dem Nächsten gegenüber verlangte, weil er sich sowohl dem Recht als auch der Ethik verpflichtet sah. Mit dieser seiner persönlichen Grundhaltung, die sich auch aus seinem gesamten Schrifttum verdeutlicht, ist Adolf Julius Merkl als eine Gelehrtenpersönlichkeit erlebbar, die über seine Lebenszeit von allgemeiner wegweisender Bedeutung wurde. Es ist im höchsten Maße verdienstvoll, daß Frau Hofrat Dr. Dorothea Mayer-Maly schon in ihrer Zeit als Assistentin von Adolf Julius Merkl im Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien um die Erstellung eines ersten Verzeichnisses seines Schrifttums bemüht war,34 und später Ass.-Prof. Dr. Wolf-Dietrich Grussmann die erste umfassende Studie über Leben und Werk Adolf Julius Merkls verfaßte. 35 Auch das gegenständliche mehrbändig angelegte Sammelwerk wäre ohne das Engagement von Dr. Dorothea Mayer-Maly und Dr. Wolf-Dietrich Grussmann, der auch den gesamten wissenschaftlichen Nachlaß von Adolf Julius Merkl untersuchte und studierte, nie zustande gekommen; ihnen möchte ich für ihren Einsatz aufrichtig danken. In ihrem Namen möchte ich aber auch dem Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank für die finanzielle Förderung die-

33 Dazu näher Ralf Unkart, Merkl und die rechtliche Fundierung des Naturschutzes, in: Adolf J. Merkl- Werk und Wirksamkeit, a.a.O., S. 235 ffund Dorothea Mayer-Maly, Das Naturschutzanliegen Adolf Julius Merkls, Naturschutz-Nachrichten, 24. Jg., Nr. 65, Juni 1990, S. 3 ff. 34 Abgedruckt in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band X (1960), S.315ff. 35 A.a.O., Schriftenreihe des Hans Kelsen-Institutes, Band 13, Wien 1989. 2 A.], Merkl

XVIII

Einführung

ses literarischen Vorhabens ebenso danken wie dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Prof. N orbert Simon, für die Aufnahme dieses Werkes in das Programm seines Verlages, in dem Dieter H. Kuchta in seiner bewährten Umsicht um diese Publikation sehr bemüht war. Linz-Wien, im Dezember 1992

o. Univ.-ProjDr.Dr.h.c. Herbert Schambeck Präsident des Bundesrates der Republik Österreich

Redaktionelle Anmerkungen Die vorliegende Ausgabe der Werke von Adolf Julius Merkl enthält alle unselbständigen Veröffentlichungen des Autors, soweit diese noch zugänglich waren. Die Herausgeber waren hier um möglichste Vollständigkeit bemüht. Ferner wurden Buchbesprechungen, Diskussionsbeiträge u.ä. aufgenommen, sofern sie für das jeweilige Sachgebiet von besonderer Bedeutung sind. Grundsätzlich nicht enthalten sind die Monographien Merkls, Auszüge aus solchen und Schriften, die unter einem Pseudonym erschienen sind. Dies gilt ebenfalls für die Arbeiten, die in fremden Sprachen veröffentlicht wurden. Die thematische Zuordnung bereitete den Herausgebern vor allem deshalb einige Schwierigkeiten, da die Texte Merkls zumeist vielschichtig sind und Bezüge zu verschiedensten Materien aufweisen. So mußte eine schwerpunktmäßige Zuordnung erfolgen, die natürlich einer gewissen Subjektivität nicht entbehrt. Dafür wurde von den Herausgebern auf eine sachliche Feingliederung der einzelnen Teilbände verzichtet. I Die Abfolge innerhalb der einzelnen Sachgebiete erfolgte, soweit erkennbar, in der Reihenfolge ihres Erscheinens. 2 Maßgeblich für die Herausgabe war immer der Text der Originalveröffentlichung. Deren FundsteIle sowie die FundsteIlen allfälliger Wiederveröffentlichungen 3 und Übersetzungen 4 sind jeweils zu Beginn

I Vgl. diesbzgl. die Systematische Bibliographie der Werke Merkls in: Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl - Leben und Werk, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 13, Wien 1989, S. 9l. 2 Dies gilt, abweichend zur Chonologischen Bibliographie der Werke Merkls von Wolf-Dietrich Grussmann, zuletzt in: Adolf J. Merkl- Werk und Wirksamkeit, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 14, Wien 1990, S. 279, auch ftir Buchbesprechungen durch Adolf Julius Merkl. 3 Vgl. insbesondere in dem von Hans Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, AdolfMerkl, Alfred Verdroß, Europa-Veriag 1968. 2·

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Redaktionelle Anmerkungen

eines Beitrages ausgewiesen. Von mehreren inhaltlich gleichen Originalfassungen wurde immer die letzte von Merkl autorisierte Überarbeitung aufgenommen. Die entsprechenden Textpassagen sind durch [ ... ] ausgewiesen. *-Fußnoten kennzeichnen editorische Anmerkungen der Herausgeber. Titelserien werden geschlossen wiedergegeben. Änderungen gegenüber dem Original wurden dann vorgenommen, wenn es sich um offensichtliche Druckfehler oder um eine veraltete Schreibweise (z.B. Oesterreich) handelt. Falsche FundsteIlenangaben von Eigenzitaten Merkls wurden ohne besondere Hinweise verbessert. Hervorhebungen im Text und in den Fußnoten sind durchgehend kursiviert. Das Layout der Zwischentitel wurde einheitlich gestaltet. Ebenso wurde der Fußnotenapparat vereinheitlicht, wobei die Autoren der einzelnen zitierten Werke nicht hervorgehoben sind. Abkürzungen wurden zur besseren Verständlichkeit voll ausgeschrieben.

Dorothea Mayer-Maly

Wolf Dietrich Grussmann

4 Vgl. insbesondere den von Carmelo Geraci in Zusammenarbeit mit Mario Patrono und Wolf-Dietrich Grussmann herausgegebenen Sammelband: Adolf Merkl, Il duplice volto dei diritto. Il sistema kelseniano e altri saggi, Milano 1987.

Adolf Julius Merkl Lebenslauf Am 23. März 1890 in Wien als Sohn eines Forstakademikers geboren, verbrachte ich die Kindheit am damaligen Dienstort meines Vaters, Naßwald an der Raxalpe in Niederösterreich. Daselbst besuchte ich auch die Volksschule. Das Gymnasium legte ich in Wien-Josefstadt und, nach Versetzung meines Vaters in einen erweiterten Wirkungskreis an der Militärakademie in Wr. Neustadt, in dieser Stadt zurück. Diese Stadt hat mir, namentlich in der Person meines damaligen Lateinlehrers Dr. Mauriz Schuster, des nachmaligen Universitätsprofessors der klassischen Philologie, wertvolle wissenschaftliche und musische Anregungen gegeben und durch ihren Arbeitsfleiß und das rege politische Leben Voraussetzungen für meine spätere berufliche Laufbahn und für meine soziale Einstellung geschaffen. Mein politisches Interesse war übrigens schon vordem in Wien wachgeworden und besonders die Volkstumsfragen hatten mich bereits an der Grenze der Mündigkeit als Zuhörer ins Parlament gelockt, wo in mir schon damals die Einsicht in den guten Sinn und in den schlechten Gebrauch dieser Staatseinrichtung herangereift ist. N ach meiner Reifeprüfung im Jahre 1908 fiel mir die Wahl der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien nicht schwer, freilich mit dem Vorbehalt, nebstdem auch philosophische Studien zu betreiben und mich geistig möglichst für den Dienst an der unberührten Natur zu rüsten.

Als akademische Lehrer haben mich in den Staatswissenschaften namentlich Edmund Bernatzik und Hans Kelsen, in der Philosophie Friedrich Jodl, Laurenz Müllner und AdolfStöhr, späterhin Friedrich Wilhelm Förster beeindruckt; Hans Kelsen so sehr, daß ich mich nach Abschluß meiner Universitätsstudien in seinen engsten Schülerkreis Aus: Nikolaus Grass (Hg.), Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Innsbruck 1952, S. 137-159.

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einreihte und seinem, wie übrigens auch dem Rate Edmund Bernatziks folgend, das Ziel einer Habilitation für die Staatswissenschaften ins Auge faßte. 1912 brachte ich meine rechts- und staatswissenschaftlichen Studien fonnell zum Abschluß. Anfang 1913 trat ich als Rechtsanwaltsanwärter in den Dienst beim Landesgericht in Wien. Im Mai 1913 wurde ich zum Doktor der Rechte promoviert, und zwar ausschließlich auf Grund eines fast übennäßigen Vorlesungsbesuches und des Selbststudiums. N ach einer Gerichtspraxis und dem richterlichen Vorbereitungsdienst von zwei Jahren, die mir durch elfmaligen Wechsel der Verwendungsweise annäherenden Einblick in alle Zweige der Gerichtsbarkeit boten, trat ich in den Verwaltungsdienst der Stadt Wien ein und legte ich im Jahr 1916 bei der Statthalterei für Niederösterreich die praktische Prüfung für den politischen Verwaltungsdienst ab. Im März 1917 wurde ich auf Grund meiner mittlerweile erschienenen fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen in das k.k. Handelsministerium berufen, nach Gründung des k.k. Ministeriums für soziale Fürsorge als Ministerialkonzipist noch in demselben Jahre in dieses Ministerium übernommen und im März 1918 auf Grund weiterer, namentlich staatsrechtlicher Veröffentlichungen in das Staatsrechtliche Bureau des k.k. Ministerratspräsidiums versetzt. Der Vorstand dieser Abteilung, Min.-R. Dr. Josef v. Löwenthai, befaßte mich namentlich mit staatsrechtlichen Fragen der Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn und der staatsrechtlichen Vorbereitung und Durchführung der Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest. Als Österreich in Auswirkung des verlorenen Krieges in seine nationalen Bestandteile zerfiel, war ich der erste Beamte des Ministerratspräsidiums, der - ein einzigartiger staatsrechtlicher Tatbestand durch Dienstbefehl meiner eigenen Dienstbehörde ermächtigt und verpflichtet wurde, mich am, 2. November 1918 dem designierten Kanzler der neuen Deutsch-Österreichischen Regierung Dr. Karl Renner zur Dienstleistung zur Verfügung zu stellen. 1915 hatte ich auf Einladung des Professors Dr. Ludo Hartmann meine volksbildnerische Tätigkeit an der Volkshochschule "Ottakringer Volksheim " aufgenommen, um sie regelmäßig bis 1938 auszuüben.

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In der neugegründeten Staatskanzlei der österreichischen Republik wurde ich dem Verfassungsdienste zugeteilt, und im Jahre 1919 zum Ministerial-Vizesekretär ernannt. Gleichzeitig habilitierte ich mich auf Grund meines dank den dienstlichen Erfahrungen raschest fertiggestelIten Buches über "Die Verfassung der Republik Deutschösterreich " und zahlreicher kleinerer Veröffentlichungen an der Universität Wien für die Fächer Allgemeine Staatslehre, Österreichisches Verfassungsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht . 1920 wurde ich auf die rechtswissenschaftliche Professur der deutschen Technischen Hochschule in Brünn berufen, am l. Januar 1921 jedoch bereits als Nachfolger des nach Hamburg berufenen Professors Dr. Rudolf Laun zum a.ö. Professor für meine Habilitationsfächer an der Universität Wien ernannt. N ach dem Abgange des Professors Hans Kelsen an die Universität Köln wurde ich, nachdem ich mittlerweile die an mich ergangenen Berufungen als o. Professor an die deutsche Universität in Prag und an die Universität in Marburg in Preußen abgelehnt hatte, Anfang 1932 zum o.Ö. Professor für meine Habilitationsfächer an der Universität Wien ernannt. N ach der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich wurde ich im April 1938 von meinem Lehramt an der Universität Wien beurlaubt und nach Abschluß einer Untersuchung der Dienstbehörde und der Geheimen Staatspolizei im Dezember 1939 in den dauernden Ruhestand versetzt. Wegen der Unmöglichkeit einer publizistischen Betätigung eines politisch Gemaßregelten erstrebte und erlangte ich zunächst die Zulassung als Helfer in Steuersachen. Im Oktober 1941 wurde ich durch den Dienstbefehl des Reichswissenschaftsministeriums, den mir nahestehende reichsdeutsche Professoren erwirkt hatten, überrascht, eine erledigte öffentlichrechtliche Professur an der Universität Tübingen vertretungsweise wahrzunehmen. Die Universität schlug mich in der Folge trotz der ausdrücklichen Weigerung, der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beizutreten, für das freie Lehramt vor, das ich im Jahre 1943 antrat. N ach Besetzung der Stadt Tübingen durch französische Truppen im April 1945 wurde ich von der Kultverwaltung des Landes Württemberg-Hohenzollern mit Genehmigung der französischen Militärregierung als "unbelastet" in den Dienst der neu organisierten Universität

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Tübingen übernommen. Meine Lehrverpflichtung erstreckte sich jetzt tatsächlich auch auf Völkerrecht, führte mir namentlich durch die Seminarübungen aus öffentlichem Recht, die sich mit Vorliebe um den Problemkreis Freiheit und Friede bewegten, hochbegabten und kenntnisreichen akademischen Nachwuchs zu und machten mir die kulturgesättigte schwäbische Universitätsstadt geradezu zur zweiten Heimat und nach meinem Amtsverzicht zur dauernden Erinnerung. Die Tatsache, daß rund 2 1/2 Millionen ehemalige Bewohner der beiden Donau-Monarchien oder deren Kinder als Flüchtlinge oder Heimatvertriebene im heutigen Deutschland Zuflucht gesucht haben, wovon im letzten Semester meiner Wirksamkeit in Tübingen über 170 als Hörer dieser Universität angehört haben, brachte überreiche Betätigung im Dienste der Beratung und Betreuung der entwurzelten Landsleute mit sich. Nichtsdestoweniger leistete ich im März 1950 dem Rufe meiner Heimatuniversität Wien Folge, an der ich heute wieder tätig bin. Schriftstellerische Wirksamkeit

Meine erste Veröffentlichung war eine Besprechung des Buches von Erich Jung, "Das Problem des natürlichen Rechts", 1912, in der Zeitschrift für öffentliches Recht, 1914, S. 570-578. Ich gelange hier zur grundsätzlichen Feststellung der Berechtigung und Notwendigkeit beider Erscheinungsweisen des Rechtes und schreibe dem natürlichen Recht die Mission zu, ständiges "regulatives Prinzip des positiven Rechtes" zu sein. Die Veröffentlichung kann, obwohl bereits 35 Jahre zurückliegend, als noch heute für mich gültiges Bekenntnis zum Positivismus verstanden werden. Freilich nur in dem Sinne, daß die durch den "Erfüllungsstab" gesicherten Forderungen des Staates in bezug auf menschliches Verhalten unbekümmert um die Wertvorstellungen des Betrachters als gesatztes Recht, d. h. als Wille des Staates, zu erkennen seien, daß jedoch diese Erkenntnis nicht genüge, die Forderung des Staates zur unbedingten Handlungsmaxime für den Bürger zu machen, dieser vielmehr einem von ihm erkannten höheren Wert um den Preis der Ungehorsamsfolgen des Staates Gehorsam leisten darf und soll. Das bedeutet, daß der staatliche Befehl seine verpflichtende Kraft nicht aus seinem Ursprung, sondern aus seiner Übereinstimmung mit der Idee des Rechtes empfängt.

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Die Abhandlung "Das kaiserliche Patent vom 26. Juli 1913 betreffend die Fortführung der Landesverwaltung des Königreiches Böhmen und das richterliche überprüfungsrecht ", Zeitschrift für öffentliches Recht, 1915, ist ein Beitrag zur Praxis des scheinkonstitutionellen, tatsächlich halb absolutistischen Staates. Während die Verfassung für das Kaisertum Österreich eine Vertretung der förmlichen Reichsgesetze durch kaiserliche Verordnungen bei Zutreffen gewisser, im § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung ausdrücklich vorgesehener Bedingungen vorgesehen hatte, fehlte eine gleichartige Handhabe für den Fall der Lahmlegung der Landtage. Das fragliche kaiserliche Patent, das sich als sog. selbständige Verordnung darstellt, hat kraft Machtvollkommenheit des Landesfürsten eine Maßnahme getroffen, für die von Verfassungs wegen die Form eines Landesgesetzes erforderlich gewesen wäre. Während eine Erläuterung der Regierung ausführt, daß sich die getroffenen Maßnahmen auf einer Linie bewegen, die nicht innerhalb, sondern neben der Landesverfassung verlaufe, versucht der Aufsatz den Nachweis, daß das kaiserliche Patent im Widerspruch zur Verfassung stehe, und daß es der richterlichen überprüfung unterliege. Die rechtspolitische Zielsetzung dieser rechtswissenschaftlichen Beweisführung war die Mahnung zum Konstitutionalismus und damit mittelbar zu einem nationalen Ausgleich, der die verfassungsmäßigen Freiheiten der einzelnen Staatsbürger und der Volksstämme erst lebendig machen konnte und sollte. Eine Aufsatzreihe in den Wiener "Juristischen Blättern", 1915-1919, über "Die Verordnungsgewalt im Kriege" sollte Maßnahmen der Regierung, die auf Grund des § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung getroffen worden waren, auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersuchen und dieserart zur Einhaltung der Schranken der Verfassung und zur Wiederherstellung des der konstitutionellen Idee entsprechenden Maßes der politischen Freiheit beitragen. Der erste Aufsatz dieser Reihe über "Die Suspension der Geschworenengerichte" erschien am 8. August 1915. Das Erscheinen der nachfolgenden Aufsätze wurde von der Staatsanwaltschaft verwehrt. Die Nummer der Juristischen Blätter vom 15. August 1915 bringt nach dem Titel der Artikelreihe "Die Verordnungsgewalt im Kriege" und dem Verfassernamen an Stelle des beschlagnahmten Aufsatzes zum Zeichen der Kritik an der Schmälerung der politischen Freiheit leere Spalten.

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Verschiedene Aufsätze, die während der Kriegszeit erschienen sind, versuchen eine Klärung von Rechtsfragen, die durch den Kriegszustand entstanden waren, so der Aufsatz "Kriegsdienst und Reichsratswahlrecht ", Zeitschrift für öffentliches Recht, 1916.

"Zum Interpretationsproblem", Grünhut'sche Zeitschrift 1916, versuche ich die (heute nicht mehr aufrecht erhaltenen) Thesen zu begründen: Die Auslegung selbst ist nichts als Sache der Rechtswissenschaft und umgekehrt ist diese wieder nichts als Rechtsauslegung; ferner die von mir nach wie vor festgehaltene These: "Die Lückenfeststellung, nicht aber die Lückenauslegung ist Sache der Rechtswissenschaft." In diesem Zusammenhang vertrete ich bereits den seither immer wieder für Theorie und Praxis festgehaltenen Standpunkt, daß das Recht unendlich häufiger als man wahrhaben will, mehrdeutig ist, und daß sich zahllose Streitigkeiten in Theorie und Praxis des Rechtes in der Weise schlichten lassen, daß beide Standpunkte vertretbar sind, der Irrtum also bloß in der Annahme der Ausschließlichkeit der einen oder anderen Meinung gelegen ist. Mehrere Aufsätze in der Deutschen Richterzeitung, die 1917 unter dem zusammenfassenden Titel "Das Recht im Lichte seiner Anwendung" als Sonderdruck erschienen sind, stellen den ersten Beitrag des Verfassers zur sogenannten Lehre vom rechtlichen Stufenbau dar. Das Gesetz und selbst eine das Gesetz vollziehende Verordnung bedeute nicht die Endgestalt des Rechtes, sondern diese ergebe sich erst aus der richterlichen und der verwaltungsförmigen Rechtsanwendung. Das Verfahren der Rechtserzeugung sei nicht mit der Gesetzgebung als der Anwendung der Staatsverfassung abgeschlossen, sondern setze sich in der Weise von Katarakten eines Wasserlaufes in mehreren Stufen fort; namentlich in Ausführungsverordnungen, die wiederum gestuft sein können, indem die allgemeinere Norm der höheren Behörde durch mehr in Einzelheiten eingehende Durchführungsverordnungen von den ihr unterstellten 'Behörden verengt wird. Doch auch die Anwendung der allgemeinen Rechtsregel auf einen Einzelfall in Gerichtsurteil und Verwaltungsakt bedeute Rechtssetzung in individueller und konkreter Gestalt, eine Rechtssetzung, die im Rechtsmittelverfahren eine wesensgleiche Fortsetzung und erst im Vollstreckungsverfahren in einem Akte bloßer Rechtsanwendung, also ohne rechtssetzenden Charakter, ihren sinngemäßen Abschluß erfahre.

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Im Aufsatz" Theoretisches zur Praxis der § 14- Verordnungen", Juristische Blätter 1916, versuche ich gegenüber dem seinerzeitigen Schrifttum und der ihm entsprechenden Rechtsprechung den N achweis, daß den Gerichten ein unbeschränktes Prufungsrecht in der Richtung zukomme, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen einer kaiserlichen Verordnung nach § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung erfüllt sind. Gegenüber dem Versuche, diese Voraussetzungen in solche rechtlicher und politischer Natur zu gliedern und wenigstens diese von der Prüfung der Gerichte auszunehmen, stelle ich mich auf den Standpunkt, daß alle in der Verfassung aufgezählten Voraussetzungen rechtlicher Natur seien, nur reine Ermessensfragen müßten sinngemäß einem richterlichen Verfassungsgaranten vorenthalten sein. - Durch die Annahme eines so weit gespannten Prüfungsrechtes wäre freilich die Praxis der § 14-Verordnungen unhaltbar geworden, denn die Erkenntnis, daß sich die N otwendigkeit zahlreicher Verordnungen nicht erst zu einer Zeit herausgestellt hatte, wo der Reichsrat nicht versammelt war, sondern daß die parlamentslose Zeit durch die Vertagung oder Auflösung des Reichsrates herbeigeführt worden war, um den Weg für die Notverordnung freizumachen, hätte zur Nichtanwendung dieser Verordnungen durch die Gerichte führen müssen. Die Abhandlung "Die Rechtseinheit des österreichischen Staates", Archiv des öffentlichen Rechts, 1918, ist in der Hauptsache eine Untersuchung zur allgemeinen Staatslehre mit einer knappen Nutzanwendung auf die österreichische Verfassungsgeschichte. Je nach den Erkenntnismitteln müsse man den Staat im historisch-politischen und im rechtlichen Sinn unterscheiden. Die Grenzen des Staates imjuristischen Sinn ergäben sich aus der Einheit der Verfassung, die durch eine verfassungsmäßige Auswechslung ihres Inhaltes, anders ausgedrückt, durch die Beibehaltung der Kontinuität unberührt bleibe. Die Staatsperson im historisch-politischen Sinn werde dagegen durch die annähernde Identität des Staatsvolkes und des Staatsgebietes hergestellt und aufrechterhalten. Unter diesen Umständen entspricht der historischen, soziologischen Gegebenheit "Staat" unter Umständen eine Mehrzahl von Staaten im juristischen Sinn, die durch die Bruchstellen von Revolutionen oder Staatsstreichen von einander getrennt sind.

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Diese Erkenntnis halte ich in der Abhandlung "Das Problem der Rechtskontinuität und die Forderung des einheitlichen rechtlichen Weltbildes", Zeitschrift für öffentliches Recht, 1926, fest. Den scheinbar widersprechenden Völkerrechtssatz, wonach Verbindlichkeiten und Berechtigungen eines Staates durch einen völligen revolutionären Systemwechsel (wie den Übergang vom kaiserlichen zum republikanischen Deutschen Reich, vom zaristischen zum kommunistischen Russischen Reich), unberührt bleiben, könne man auch im Sinne einer Staatensukzession deuten. In der Abhandlung "Das doppelte Rechtsantlitz" , Juristische Blätter, 1918, setze ich mich mit der Erfahrungstatsache auseinander, daß "geradezu zwei verschiedene Rechtssysteme - das der Rechtserkenntnis und die Rechtsanwendung - miteinander in Konflikt treten", woraus sich die Frage erhebe: Wer hat Recht oder haben vielleicht beide Recht? Ich konfrontiere nun den Standpunkt des Primats der Rechtsanwendung und des Primats der Rechtserkenntnis, deute den vorgeführten Zweikampf von Rechtsauffassungen als den Streit widersprechender Weltanschauungen und komme zu dem Ergebnis, "daß es typisch kollektivistische Denkweise ist, welche sich dem Willen und Denken des Rechtsanwenders (des Staatsorganes) restlos unterwirft. Um den Primat der autonomen Vernunft kämpft typischer Individualismus. Und wenn sich dieser auch der Realität rechtswidriger Rechtsanwendung beugen muß, so hält er doch die Idealität des logisch richtigen Rechtes hoch" . Das Buch "Die Verfassung der Republik Deutschösterreich. Ein kritisch-systematischer Grundriß" , Wien 1919, stellt für Zwecke des Studiums und der Praxis in rein rechtswissenschaftlicher Untersuchung die provisorische Verfassung der Republik Deutschösterreich nach dem Stande vom Mai 1919, knapp ein halbes Jahr nach der Entstehung des Staates, dar. Die Verfassung, die zum größten Teile aus persönlichen Konzepten des damaligen Staatskanzlers Dr. Karl Renner hervorgegangen war, bedeutet einen "Mittelweg zwischen der Reaktion von rechts und links" und bereitet organisch die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 vor, die in bezug auf das republikanischdemokratische Element die Einrichtungen der provisorischen Verfassung übernommen hat. Insoferne dient die juristische Durchleuchtung

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der verfassungsrechtlichen Ursprünge der österreichischen Republik, die ich mit besonderem Nachdruck als originelle Neuschöpfung eines Staates gleich den anderen Nachfolgestaaten der österreichischen Monarchie nachzuweisen versuche, auch als mittelbare Erkenntnisquelle für den heute geltenden Rechtszustand. Der Aufsatz "Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre" , Schweizerische Juristen-Zeitung, 1920, bedient sich der methodischen Anweisung der "Reinen Rechtslehre", nämlich der Scheidung von rechtswissenschaftlicher Erkenntnis und rechtspolitischem oder ethischem Werturteil. In der vorliegenden Abhandlung wird die häufige Vermengung von Erkennen und Werten an dem Beispiel der Darstellung des Herrscheramtes in der deutschsprachigen Staatsrechtslehre aufgezeigt. "Um in einem astronomischen Bilde zu sprechen, erscheint der Monarch etwa als der Fixstern, um den sich der ganze juristische Sternenhimmel dreht." Das Selbstbildnis der von ihrem Gottesgnadentum durchdrungenen Herrscher, ihre Vorstellung als Mittelpunkt oder Brennpunkt des Staates unbekümmert um die Veränderungen, welche die Staatsverfassungen durch Umstürze oder freiwillige Selbstbeschränkungen herbeigeführt hatten, wird bei gewissen deutschschreibenden Staatsrechtslehrern mit bewußten oder unbewußten Scheingründen zum Ergebnis der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis gemacht. "Die Staatsrechtslehre des konstitutionellen Staates war (im deutschen Sprach bereich viel mehr als in anderen beschränkten Monarchien) mit absolutistischen Rudimenten durchsetzt." Gewiß bei vielen Rechtslehrern nicht aus Byzantinismus, sondern aus mangelnder wissenschaftlicher Selbstkritik. Diese politische Beugung der Staatsrechtslehre tritt besonders in den Behauptungen der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit des Monarchen und seines selbständigen Verordnungsrechtes zutage. Mit der ersten Behauptung wird der verfassungsmäßig verbürgte und verwirklichte Anteil der Volksvertretung als gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung vernachlässigt oder verzerrt. Die Verlautbarungsformel gewisser konstitutioneller Monarchien für Gesetze "Wir verordnen ... " ist nur ein Scheingrund für diese Behauptung, weil sie dem Verfassungsinhalt, der den freien Beschluß der Volksvertretung zur Bedingung eines Gesetzes macht, nicht entspricht.

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Die Lehre vom selbständigen Verordnungsrecht bedeutet die Rechtsvermutung, daß der Herrscher im Verfassungsstaat die ganze Gesetzgebungszuständigkeit beibehalten habe, soweit nicht die Verfassung ausdrücklich für ein gewisses Bereich der Rechtssetzung eine Mitwirkung der Volksvertretung vorbehalten habe. Die Rechtserkenntnis, wonach man unter Umständen "mit einer Verordnung, zu der man den schwerfälligen parlamentarischen Apparat nicht in Gang setzen mußte, dasselbe erreichen könne, wie mit einem Gesetz", hat offenbar, wie namentlich die Gepflogenheit der kaiserlichen Verordnungen im Kaisertum Österreich gezeigt hat, nicht nur einen unter konstitutioneller Maske fortlebenden Absolutismus sanktioniert, sondern auch eine verfassungswidrige, halb absolutistische Praxis gerechtfertigt und die lebensgefährliche Unbekümmertheit um latente Staatskrisen ermöglicht. Ich stelle zwar einerseits fest: "Auch diese Entgleisung der Rechtswissenschaft in das Gebiet der Politik hat aus dem Kreise der deutschen Juristen ihre Kritik und Widerlegung gefunden - hier sind namentlich die österreichischen Staatsrechtslehrer Lukas und Bernatzik als politisch unbeirrte Bekenner des Rechtes zu nennen." Doch wird hiedurch der Gesamteindruck nicht aufgehoben, den ich in die Worte kleide: "Die deutsche Staatsrechtslehre war in manchen ihrer klangvollsten Vertreter reaktionärer als das deutsche Staatsvolk. " Zugleich wende ich mich freilich gegen denkbare Einseitigkeiten politischer Abirrung der Rechtserkenntnis: "Es können diese Erfahrungen auch der Staatsrechtslehre der Republik zur Lehre dienen. Kaum ein Wissenschaftszweig unterliegt derart der Versuchung politischer Entgleisungen wie die Staatsrechtswissenschaft . " Mein Buch "Die Lehre von der Rechtskraft", Wien 1923, ist dem Andenken meines ersten Lehrers für meine akademischen Lehrfächer, Prof. Edmund Bernatzik gewidmet, der auf dem Gebiete der Rechtskraft mit seinem Buche "Rechtsprechung und materielle Rechtskraft" bahnbrechende Forschungen angestellt hatte. Mein Anliegen war, "den Begriff der Rechtskraft aus seiner Verengung im Sinne einer bloßen Bedeutung für einzelne Rechtserscheinungen in die Weite einer Bedeutung für den Rechtsbegriff, für das Rechtsganze in allen seinen Teilerscheinungen herauszuführen" . (VI) Ich versuche, in der relativen Unveränderlichkeit, die für vereinzelte Rechtserscheinungen behauptet, weil aus unbewußten Zweckmäßigkeitserwägungen gefordert

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wird, die Beharrungstendenz zu erkennen, die dem Recht in allen seinen Erscheinungsstufen innewohne. Die Statik der so verstandenen Rechtskraft stelle das Gegengewicht dar gegen die Dynamik des von der Ursprungsrechtsnorm etappenweise bis zur Erfüllung des Rechtsgeschäftes oder bis zur Zwangsvollstreckung fortschreitenden Verfahrens der Rechtserzeugung . Die Rechtskraft offenbart sich sonach als das integrierende Prinzip des fluktuierenden Rechtssystems . Im besonderen bestehe für Verwaltungsakte wie für Gerichtsurteile die Vermutung der formellen Rechtskraft, so daß es eine Aufgabe des Gesetzgebers sei, die Voraussetzungen einer allfälligen Aufbebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes festzusetzen. Mein "Allgemeines Verwaltungsrecht" , Wien und Berlin 1927, ist meinem späteren Lehrer Hans Kelsen zugeeignet und unternimmt es, seine Methode der "Reinen Rechtslehre" auf den Gegenstand Verwaltungsrecht anzuwenden. Das Buch bewährt diese Methode, indem es das wesenhaft rechtliche Sollen in voller Reinheit, das ist namentlich ungebrochen durch politische und ethische Forderungen, zu erkennen bestrebt ist. Es war ein anfängliches Mißverständnis der allgemeinen Rechtslehre, dem auch ich zunächst verfallen war, diese Erkenntnismethode als bloße Formenlehre und als Verzicht auf die Erkenntnis von Rechtsinhalten zu verstehen. Form und Inhalt zusammen machen aber den einzelnen Rechtssatz so wie das Rechtsganze aus. Nur die Wirkungen der idealen Forderungen, aus denen sich eine Rechtsordnung aufbaut, liegen jenseits der rechtlichen Erkenntnis, sind also gewissermaßen als "metarechtlicher Inhalt" im Gegensatz zum (immanenten) Rechtsinhalt zu verstehen. Die Erkenntnis der typischen Inhalte des Verwaltungsrechtes füllt in der Hauptsache auch das vorliegende Buch, so daß meiner Überzeugung nach der Vorwurf der "Inhaltsleere" weniger als irgendein anderer angebracht wäre. Selbstverständlich macht das Attribut "Allgemeines" Verwaltungsrecht die Beschränkung auf die typischen Verwaltungs in halte, also gewissermaßen die international wiederkehrenden Verwaltungsinhalte, notwendig. Im einzelnen behandelt das Buch in seinem allgemeinen Teil folgende Probleme: Begriff der Verwaltung, Verwaltung und Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, Verwaltung und metarechtli-

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cher Staat, die geschichtlichen Haupttypen der Verwaltung, das Verwaltungsrecht, die Verwaltungsrechtslehre, die Rechtsquellen des Verwaltungsrechtes, das subjektive öffentliche Recht, das Verwaltungsermessen, die Stellung der Verwaltung im Stufenbau der Rechtsordnung. Der besondere Teil, der sich in die Tätigkeitsformen der Verwaltung, die Tätigkeitsinhalte der Verwaltung, die Verwaltungsorganisation und die Verwaltungskontrolle gliedert, befaßt sich mit den Verwaltungsakten im allgemeinen, dem fehlerhaften Verwaltungsakt im besonderen, der Rechtskraft der Verwaltungsakte, dem Verwaltungsverfahren, den Verwaltungszweigen, der Polizei, dem Verwaltungsstrafwesen, der Verwaltungsvollstreckung, den Verwaltungsorganen, den Systemen der Verwaltungsorganisation, der Beziehung von Verwaltung und Staatsform, der Selbstverwaltung, den Wegen der Verwaltungskontrolle im allgemeinen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit im besonderen. - Das Buch ist in die spanische, griechische und tschechische Sprache übersetzt worden. Meine Veröffentlichungen zu Verfassungsfragen von 1929-1935 behandeln nicht nur referierend die Umbildungen der Verfassungsrechtslage, sondern beurteilen diese Umbildungen auch rechtspolitisch vom Standpunkte des Ideals der politischen Freiheit und untersuchen die behauptete Verfassungsmäßigkeit der Neuerungen. Der Aufsatz" VerJassungsreJorm und VerJassungslegende" im Österreichischen Volkswirt, 1929, zeigt aus den verfassungsgeschichtlichen Quellen auf, daß in bezug auf den, angeblich auf einer politischen N ötigung beruhenden formal-demokratischen Gehalt des ursprünglichen Verfassungstextes, die von den bürgerlichen Parteien und der sozialdemokratischen Partei eingebrachten Verfassungsentwürfe wesensgleich gewesen sind, daß insbesondere auch der Entwurf der christlich-sozialen Partei die Erhebung der Stadt Wien zu einem Lande vorgesehen hatte. Die Aufsätze über den "rechtlichen Gehalt der österreichischen VerJassungsreJorm vom 7. Dezember 1929" in der Zeitschrift für öffentliches Recht, 1931, und über "Österreichs neue VerJassung" in der Deutschen Juristen-Zeitung, Berlin 1930, arbeiten die sich ankündigende Wendung vom demokratischen zum fälschlich sogenannten autoritären, richtiger autokratischen Verfassungscharakter heraus; eine Wen-

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dung, die in der Schwergewichtsverlagerung vom Nationalrat zum Bundespräsidenten und namentlich in der Einführung des N otverordnungsrechtes des Bundespräsidenten zum Ausdruck kommt. Im Beitrag zur Festschrift für Hans Kelsen "Gesellschaft, Staat und Recht", 1931, entwickle ich Richtlinien für eine Strukturanalyse des Rechtssystems unter dem Titel "Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues" . Die andeutend behandelten Themen sind Rechtsinhalt und Rechtsform, die Strukturunterschiede des Rechtes, die Gliederung der Rechtssatzformen, die Rechtssatzeigenschaft überund untergesetzlicher Akte, der Stufen bau der Rechtssatzformen und schließlich einige Folgerungen aus der Erkenntnis des rechtlichen Stufenbaues. Die Aufsätze "Ist in Österreich ein Ausnahmezustand zulässig?", Juristische Blätter, 1930, und "Die Finanzdiktatur der Nationalbank" , Juristische Blätter, 1932, ferner "Die Frage der Geltung des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes", Juristische Blätter 1933, treten mit Entschiedenheit der fortschreitenden politisch-reaktionären Umbildung der Verfassungslage entgegen. - Der Aufsatz "Der Verfassungskampj', Österreichischer Volkswirt, 1933, versucht den N achweis, daß die angebliche Selbstausschaltung des Nationalrates, in Wirklichkeit seine Ausschaltung durch die Bundesregierung, dem Geist und Gehalt der von sämtlichen Mitgliedern der Regierung beschworenen Verfassung widerspreche und zeigt die rechtlichen Möglichkeiten der Entwirrung der Verfassungslage auf. - Der Aufsatz "Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich", Verwaltungsarchiv, 1933, weist nach, daß die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs durch Regierungsverordnung ein Verfassungsbruch ist, der offenbar dem Zwecke diene, die ansonsten unabwendbare Aufhebung der auf Grund des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassenen Regierungsverordnungen, die in Österreich eine parlamentslose Minderheitsherrschaft begründet hätten, zu vereiteln. Der Aufsatz "Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika Quadragesimo Anno", Zeitschrift für öffentliches Recht, 1934, unterscheidet den Gedanken einer ständischen Gesellschaftsordnung und einer ständischen Staatsverfassung und sucht nachzuweisen, daß dieses hoch bedeutsame päpstliche Rundschreiben lediglich den Plan einer ständi3 A. 1. Merk!

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schen Gesellschaftsordnung als Mittel der Befriedigung des Gegensatzes zwischen den Arbeitsmarktparteien weiter entwickele, der in der Enzyklika "Rerum novarum" des Jahres 1891 bereits in den Grundlagen vorgezeichnet worden ist. Die sogenannte berufsständische Verfassung in Österreich, die übrigens erst durch die Wahl der Vertreter der Wirtschafts- und Kulturstände (statt der vorläufigen Ernennung) die Bezeichnung als Ständeverfassung verdienen müßte, stütze sich daher zu Unrecht auf Forderungen der Kirche. Daher käme höchstens eine analoge Anwendung der empfohlenen oder geforderten Baugesetze der Gesellschaft als Baugesetz des Staates in Frage, doch sei eine Bindung oder Verpflichtung in dieser Rfchtung mit der ständigen folgerichtigen Haltung der Kirche im Sinne der Neutralität in bezug auf die Staatsform nicht zu vereinbaren. Der Aufsatz "Individualismus und Universalismus als staatliche Baugesetze" , Revue internationale de la Theorie du Droit, 1934, deutet die politischen Ideologien von der Art des Konservativismus, Liberalismus, Demokratismus, Sozialismus, Kommunismus, Faschismus als Nutzanwendungen der Weltanschauungen des Individualismus und des Universalismus. Die Recht und Staat gestaltende Rolle des Individualismus wirkt sich, abgesehen von der Rechtsordnung selbst, die als unbewußter Ausdruck individualistischer Biegung und Beugung des politischen Kollektivums zu verstehen ist, da das Recht gewissermaßen die Rolle eines Gegenspielers des Staates spielt, in folgenden Rechtsinhalten aus: Rechtsstaat, stufenförmige Gliederung der Rechtserzeugung, Mitwirkung des Untertanen an der Rechtserzeugung, Selbstverwaltung, richterliche Unabhängigkeit und Laiengerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Bestand einer Verfahrensordnung als Mittel des Rechtsschutzes und Teilnahme des Untertanen an der konkreten Rechtserzeugung, Parteirechte des Parteiantrages, des rechtlichen Gehörs, des Anspruchs auf Erledigung und der Begründung der Entscheidung, der Rechtsmittelbelehrung, des Rechtsmittelzuges und der Rechtskraft, das subjektive Recht im allgemeinen, das Widerstandsrecht im besonderen, der limitierende Staatszweck. Universalistisches Gedankengut einer Rechtsordnung ergibt sich aus den Verneinungen dieser Rechtseinrichtungen und aus der Stärkung der politischen Gemeinschaft auf Kosten des Einzelnen.

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Der Aufsatz 11 Ein tschechisches Zeugnis fiir 6sterreich und das Deutschtum 11 , Sudetendeutschland, Februar 1935, weist an der Hand des Sammelwerkes "Das böhmische Volk", herausgegeben 1916 von der Handelskammer des Landes Böhmen, nach, daß das im Ausland viel verwendete Schlagwort vom "Völkerkerker Österreich ", zumindest für den konstitutionellen Abschnitt der österreich ischen Geschichte, nicht zutrifft, daß sich vielmehr das tschechische Volk der vollen rechtlichen und tatsächlichen Gleichberechtigung mit den anderen Volksstämmen erfreut und, gestützt auf die Verfassungslage, eine hohe Wirtschafts- und Kulturstufe durch eigene Kraft und Tüchtigkeit erworben habe. Beweis für die wahre politische Freiheit sei die nationale Toleranz gegenüber der deutschen Minderheit in den Sudetenländern, deren sich die Vertreter der tschechischen Mehrheit rühmen. Das Buch "Die ständisch-autoritäre Verfassung 6sterreichs", Wien 1935, ist ein erweiterter Abdruck von Abhandlungen über die Maiverfassung 1934, die sich zu einer knappen geschlossenen Darstellung der Verfassung zusammenschließen. Im Sinne einer Vereinbarung mit dem Verlage enthält sich der ausdrücklich im Untertitel sogenannte "kritisch-systematische Grundriß" einer transzendenten Verfassungskritik, etwa vom Wertstandpunkt einer reinen Demokratie aus, sondern beschränkt sich, soweit er über juristische Beurteilungen hinausgeht, auf eine immanente Kritik. Die Eignung als Lehrbehelf des Verfassungsrechtes wollen tabellenartige Übersichten erhöhen, die folgende Gegenstände betreffen: Die österreichischen Verfassungen seit 1848; Quellen des Bundes-Verfassungsrechtes; Baugesetze der Verfassung; als welche im besonderen das christliche, nationale, föderalistische, unitaristische, ständische, demokratische, liberale, autoritäre und das Führerprinzip, nicht das Totalitätsprinzip erkannt werden; die Bestimmgründe der Staatsform; die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern; der verfassungsmäßige Stufen bau der Rechtsordnung; das System der Grundrechte; die Verfassungsgarantien. - Wenn ich im Vorwort vom l. März 1935 die Schweiz als das naturgemäße und zeitbedingte politische Vorbild für das damalige Österreich hinstelle, so war damit eine Distanzierung von dem offiziös deklarierten Musterstaat des Faschismus und dem Idealstaat der na-

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tionalistischen Opposition, aber auch von jedem anderen totalitären Staat ausgesprochen. Die Abhandlung "Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer StaatsauJJassung", Zeitschrift für öffentliches Recht, 1937, untersucht in knappen Umrissen die Staats idee des Katholizismus, den staatsbürgerlichen Gehorsam, die Grenzen der Gehorsamspflicht und des pflichtmäßigen Ungehorsams, die Problematik der Gehorsamsnonn und die Beziehungen zwischen Staatsgehorsam und Staatswissenschaft; das zuletzt genannte Problem beantworte ich im Sinne der Ablehnung eines Positivismus, welcher Staatsgehorsam in Widerspruch zu den als Gewissensforderungen auftretenden Naturrechtspostulaten voraussetzt und rechtfertigt, jedoch im Sinne des Bekenntnisses zu einer Erkenntnismethode des Rechtes, die an der Eigengesetzlichkeit des vom Staat getragenen Forderungssystems ausgerichtet ist und die Vermischung dieses Erkenntnisgegenstandes mit systemfremden Normen und subjektiven Wünschen ausschließt. Der Aufsatz" Friedrich Schiller und der Staat", Zeitschrift für öffentliches Recht, Wien 1938, erinnert angesichts der politischen Entwicklung im deutschen Raum an die Rolle Schillers als Bekenners der politischen Freiheit, verwertet namentlich dessen bemerkenswertesten einschlägigen Bekenntnisse in Drama, Lyrik und Prosaschriften und spielt gegen den herrschenden Zeitgeist des Totalitarismus mit den Worten des Dichters, der freilich für keine bestimmte politische Ideologie in Anspruch genommen werden dürfe, das Recht der selbstverantwortlichen Persönlichkeit aus. Die Aufsatzreihe "Probleme der ständischen Neuordnung Österreichs", Osterreichischer Volkswirt, November 1937 bis Jänner 1938, befaßt sich mit den Plänen und Entwürfen der Regierung, die seit 1934 aus ernannten Mitgliedern zusammengesetzten quasiständischen Kollegien in echt ständische Vertretungskörper umzugestalten. Im einzelnen behandle ich das Problem des Ständeparlamentes, die Fragen des ständischen Wahlrechtes, die Promesse der Regierung, durch die berufsständische Vertretung das Klassenprinzip zu überwinden, die ständische Staatsverfassung und ständische Selbstverwaltung, endlich die staatspolitische Bedeutung der Ständeordnung. Gegenüber den immer wiederkehrenden Vorwürfen der Regierungspresse

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gegen die "gottlose Revolutionsverfassung" des Jahres 1920 verweise ich darauf, daß der verantwortungs bewußte österreichische Staatsmann Ignaz Seipel als Berichterstatter des Verfassungsausschusses des österreichischen Nationalrates über den Entwurf der Bundesverfassung diesen zur Annahme empfohlen und am 29. September 1920 erklärt hat: "Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß." Daß er ferner in einem Aufsatz "Die Demokratische Verfassung" im selben Jahr versichert hat: "Daher fällt es uns nicht ein, jemals wieder das politische Wahlrecht einengen zu wollen." Der Tenor der gegenständlichen Aufsätze ist der, daß der an sich gesunde ständische Gedanke in den bevorstehenden Ausführungsgesetzen nicht dazu mißbraucht werden dürfe, das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den sozialen Gruppen des Staatsvolkes im Dienste der Privilegierung bestimmter politischer Richtungen zu verschieben und dadurch grundsätzlich staatsbejahende Schichten der Bevölkerung zu majorisieren. Im Aufsatz "Zur Typenlehre des Volkstumsrechtes" , Zeitschrift für öffentliches Recht, 1939, beleuchte ich die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten des gemischt-nationalen Staates: Das Volkstumsrecht dient entweder der Erhaltung der verschiedenen Volkstümer oder der allmählichen Aufsaugung des schwächeren durch das stärkere und bevorzugte Volkstum, was einzelne Stimmen im Völkerbund, so namentlich der Brasilianer Mello Franco als den eigentlichen Sinn oder das letzte Ziel des nationalen Minderheitenrechtes hingestellt haben. Der gemischt-nationale Staat werde nur durch ein Volkstumsrecht gerechtfertigt, das den "nationalen Unterschied als eine Quelle kultureller Mannigfaltigkeit innerhalb des Staatsvolkes erhalten", "die kämpferische Einstellung zwischen den einzelnen nationalen Gruppen" jedoch beseitigen soll. Ich beleuchte sodann den nationalen Egoismus, "der eine Nation nur als Ausbeutungsobjekt für eine andere benützt, und die Begünstigung der einen Volksgruppe, die Benachteiligung der anderen Volksgruppen auf Umwegen, weniger durch differenzierendes N ationalitätenrecht als durch dessen unterschiedliche Anwendung, und weniger auf rechtlichen, als auf wirtschaftlichen und anderen Wegen zu erreichen" sucht; eine Erscheinung, die mittlerweile Graf Coudenhove-Calergi als Gegebenheit des Bene~-Staates festgestellt hat. (Aus meinem Leben, S. 103).

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Im Hinblick auf die damals gerade angekündigte Umsiedlung der Südtiroler in das Deutsche Reich stelle ich fest: "Die Auswanderung der Minderheitsangehörigen aus dem Wohnstaat, deren bedeutsamstes Beispiel der Neuzeit die Wohnsitzverlegung der türkischen Untertanen griechischer Nationalität in das griechische Staatsgebiet gewesen ist, bringt zwar eine konsequente Lösung des Problems der Trennung verschiedennationaler und der Zusammenlegung gleichnationaler Bevölkerungen, ist aber eine brutal-mechanische Lösung, weil sie die Bevölkerung aus dem Zusammenhang mit der Scholle reißt, obzwar gerade erst die seelische Bindung an die Scholle die seßhafte Bevölkerung zur Kulturnation macht; in diesem Falle wird also der Anschluß der nationalen Minderheit an ihren eigenen N ationalstaat ... um den Preis der Heimat erkauft." (Band XIX, Heft I, S. 120). N ach einer durch meine Zwangspensionierung und Betätigung als Helfer in Steuersachen bedingten mehrjährigen Pause komme ich auf das nationalpolitische Thema mit dem Aufsatz Europäische Volkstumsprobleme, Zeitschrift für öffentliches Recht, 1944, zurück. In diesem Aufsatz, dessen Manuskript von der Schriftleitung im Interesse des Verfassers und der Fortführung der Zeitschrift wesentlichen Änderungen unterzogen werden mußte, stelle ich die Rechtsformen des individuellen Minderheitenschutzes und des kollektiven Volksgruppenschutzes einander gegenüber; es hänge von der praktischen Nutzanwendung ab, welchem der beiden rechtlichen Wege der Vorzug zu geben sei. Die Erfahrungen in der Schweiz und des Kaisertums und der Republik Österreich zeigen übrigens, daß auch der rein persönliche Volkstumsschutz eine befriedigende Lösung der volkstumspolitischen Fragen ermöglicht. Im übrigen habe das Deutsche Reich bisher von der für die deutschen Minderheiten im Ausland erwirkten Volksgruppenverfassung keinen Gebrauch gemacht. Sodann zeigte ich schon damals (Anfang 1943) die Gefährdung der deutschen Volksgruppen durch die nationalsozialistische Politik auf. Die schutzbedürftige Volksgruppe vernachlässige im Schatten ihres mächtigen Protektorstaates die Ausbildung der Volksgruppenverfassung und erhoffe alles von ihrem Protektor: "Eine abwegige und gefährliche Spekulation; abwegig darum, weil hiebei das Maß des Schutzes nicht durch die moralische Kraft einer Rechtsidee, sondern durch den Grad der Macht

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des Protektors bestimmt wird. Damit wird aber eine moralische Idee von der primitiveren Erscheinung des Rechtes des Stärkeren überschattet ... Die einmal errungene, aber nur außenpolitisch gesicherte Stellung kann plötzlich durch eine unglückselige Politik des Protektorstaates eingebüßt werden (S. 317). Schon in Aufsätzen in der "Menschheit", namentlich in 11 Völkerbund und Weltstaat" , Genf 1921, und in dem Gutachten im Rahmen der Enquete der österreichischen Völkerbundliga über den Völkerbund hatte ich mich für ein organisatorisches Kompromiß von Kosmopolitismus und Nationalismus, organisationspolitisch gesehen für eine demokratisch organisierte Staatengemeinschaft bei Aufrechterhaltung der Eigenstaatlichkeit und mithin der Autonomie der Staatsnationen in allen den internationalen Frieden und die internationale Gemeinschaft nicht gefährdenden nationalen Ange-legenheiten bekannt. Im Aufsatz "Das Problem der internationalen Organisation", Universitas, Stuttgart 1948, versuche ich, meine Auf-fassung über diese zweipolige Menschheitsorganisation für einen breiteren Leserkreis zu klären und theoretisch und praktisch durchzubilden. Der Gedankengang ist in die Abschnitte Geltung und Wirksamkeit des Völkerrechtes, Idee und Technik der internationalen Organisation, Der Völkerbund in der Geistesgeschichte und Die rechtliche und moralische Sicherung des Weltfriedens gegliedert. Die Fassung des Aufsatzes ist freilich in zahlreichen Punkten im Vergleich mit meinem damaligen und heutigen persönlichen Bekenntnis gemildert, weil die Gegenüberstellung der älteren nationalistischen Planungen einer Weltorganisation mit der kompromißlosen kosmo-politischen Völkerbundidee Immanuel Kants und der Vorrang des Weltfriedens vor jeder auch demokratischen Staatensouveränität die Bedenken der damals bestehenden Militärzensur hervorgerufen hatte. Das Ergebnis zweier Weltkriege zeigt uns, wie ich eingangs feststelle, das Mißverhältnis zwischen der technischen und der sozialen Entwicklung des Menschengeschlechtes. Der Grund, daß soziale Traumbilder der Menschheit um vieles utopischer als Traumbilder technischer Art sind, liegt darin, daß die leblose Natur für den Menschen leichter beherrschbar und lenkbar ist als seinesgleichen, zumal in der Gestalt des Kollektivwesens Staat, dieser Geschichte machen-

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den Zusammenballung menschlichen Willens und menschlicher Kraft, neben der kaum eine überlegene menschliche Gemeinschaft als eigenständiger Willensträger aufzukommen vermag. Die Schwierigkeit der organisationspolitischen Aufgabe von jeder Art Überstaat besteht in der Notwendigkeit der Selbstentthronung oder gar Selbstenthauptung des Staates durch den Staat. Die schier unlösbare technische Schwierigkeit der Aufgabe liegt in der richtigen Dosierung unitarischer und föderalistischer Elemente, die die Lebensfähigkeit der überstaatlichen Gemeinschaft und den Fortbestand lebensfähiger eigenständiger, wenngleich nicht mehr souveräner Einzelstaaten ermöglicht. Ziel sei die Entwicklung der Völkerrechtsordnung in der Richtung der Staatsähnlichkeit: die Ausbildung einer aktionsfähigen, d.h. vom guten Willen der Mitgliedstaaten unabhängigen internationalen Organisation, die in ähnlicher Weise (mit dem Worte Max Webers gesprochen), den Erfüllungsstab des Völkerrechtes abgeben würde, wie der Staat der Erfüllungsstab des nationalen Rechtes ist. Trennung des Rechtsadressaten vom Rechtsrealisator im internationalen Leben ist die Aufgabe der Völkerrechtspolitik mit dem Ziele, das Völkerrecht zu einer organisierten, von dem guten Willen der einzelnen Staaten unabhängigen Ordnung zu machen, und dabei doch eine civitas maxima zu vermeiden von der Art einer gleichschaltenden Großraumordnung oder gar eines politisch-monopolistischen Einheitsstaates. "Diktaturen werden bloß einerseits durch ihre zeitliche Konkurrenz, andererseits durch ihren Wechsel innerhalb desselben Raumes erträglich. Eine überkontinentale, mehr oder weniger erdbeherrschende konkurrenzlose Diktatur wäre das Grab der Geistesfreiheit und damit der menschlichen Kultur, zugleich durch die Uniformierung der Erziehung das Grab allen Trostes aus der Geschichte und aller Hoffnung auf die Zukunft. Der Krieg wäre zwar ausgemerzt, aber durch die Revolution der vergewaltigten Völker ersetzt, oder sogar die Revolution in ihrer von keinem Pazifisten in Frage gestellten Rolle als Tor zur Freiheit aus unerträglichem Zwang verschlossen und versiegelt. Der eine Weltstaat an Stelle der vielen Einzelstaaten würde das Völkerrecht zum Staatsrecht und das staatliche Recht zum Provinzialrecht transformieren. Der Weltstaat würde die relative Anarchie durch eine weltanschaulich einförmige Fremdherrschaft für die heutige bunte Staatenwelt ersetzen." (S. 1302) " ... Das

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organisationstechnische Problem einer solchen Gemeinschaft ist, zwischen der durch das sanktionslose Völkerrecht kaum verhüllten Anarchie der Staaten und der Despotie eines die Staaten mediatisierenden und denaturierenden Oberstaates zu vermitteln ... , der Völkerrechtsordnung eine aktionsfähige, überstaatliche, aber nicht staatliche Organisation zur Seite zu stellen ... Eine Organisation, die die Rolle der Staaten als der im Zweifel primär berufenen Gemeinschaftsorgane und die Rolle der organisierten Gewalt des Krieges als letztes aleatorisches Mittel der Verwirklichung der Gemeinschaftszwecke aufhebt." (S. 1302 f.) N ach Vorführung der Typen einer mehr oder minder universellen internationalen Organisation einschließlich des Völkerbundes und der Vereinten Nationen stelle ich fest: "Keine Zwangsordnung hat Bestand, die nicht zugleich im Willen der maßgebenden Menschengruppen verankert ist ... Das bedeutet, daß die Weltorganisation nur durch die Erziehung der Menschheit zur Friedensgesinnung ihr Ziel einer Befriedung der Welt erreichen kann. Der auch im Staatsleben wirksame Mechanismus von Freiwilligkeit für die Regel der Fälle, Zwang für die Ausnahmefälle macht einen Weltbund der Staaten zum Friedensbund. " (S. 1426) "Die Pseudomoral von Blut und Eisen, die als Lebensmaxime des einzelnen Staates diesen nach dem Ausdruck des Kirchenvaters Augustinus zu einem magnum latrocinium ausarten läßt, verurteilt als Handlungsmaxime maßgebender Mitglieder einer Weltorganisation diese zur Untätigkeit und zum Scheitern. Vielleicht läßt die Lehre zweier Weltkriege die Menschen, die bisher aus der Geschichte nicht gelernt haben, nicht aus Sittlichkeit, sondern aus Einsicht in die Sinnlosigkeit der Machtgier und ihres folgenschwersten Werkzeuges, des Krieges, auf die Freiheit zum Kriege verzichten ... Nur im Verein bringen Friedensmoral und friedenssicherndes Recht vielleicht noch in letzter Stunde die selbstmörderische Philosophie, die den Krieg als Lebensnotwendigkeit oder als unvermeidbares Schicksal versteht, zum Scheitern. " In meiner Bekenntnisschrift "Kriegsdienstverweigerung und Friedensbewegung", Friedens-Warte, Genf 1948, führe ich im wesentlichen aus:

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Die Dogmatiker des Pazifismus haben neben ihren Hochzielen des Ausbaues einer internationalen Organisation, internationaler Gerichtsbarkeit und Abrüstung die innerstaatlichen Voraussetzungen und Hilfen der Friedensbewahrung vernachlässigt. Erprobt in dieser Richtung ist namentlich die Bindung der Kriegseröffnung an ein förmliches Gesetz oder an eine sonstige Mitwirkung einer Volksvertretung, wenngleich natürlich die prophylaktische Wirkung einer derartigen Verfassungseinrichtung statistisch nicht feststellbar ist. "Der nationalsozialistische Staat mußte die ganze Weimarer Verfassung (mitsamt ihrem die Kriegseröffnung regelnden Art. 45) aus den Angeln heben, um die Verfügungsfreiheit über Krieg und Frieden für einen kleinen Klüngel zurückzugewinnen . Die verfassungsmäßige Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensbedenken wird zwar die Haltung feinfühliger Bürger erleichtern, aber schwerlich den Krieg erschweren. Der 'Tatbestand des militärischen Ungehorsams' mit seinen Steigerungen bis zum Übergang zum Feind hat dagegen in der Geschichte wiederholt das Kriegsgeschehen wesentlich beeinflußt. Freilich um den furchtbaren persönlichen Preis der Verächtlichmachung und Vernichtung des Täters als Vaterlandsverräter, der durch dessen Verherrlichung als Held oder Märtyrer eines nationalen, religiösen oder sonst weltanschaulichen Bekenntnisses nur teilweise wettgemacht wird. Am wenigsten kann der grundsätzliche Verzicht auf die Abwehr eines Angriffes befriedend wirken." - Die Geschichte des Nationalsozialismus ist nicht der erste, sondern bisher der letzte Beweis dafür, daß Widerstand auch von Seite grundsätzlicher Pazifisten, beispielsweise der Widerstand Norwegens, auf weitere Sicht das einzige Mittel ist, einen kriegstollen Angreifer niederzuzwingen. Eine in ihrer Wirksamkeit bisher freilich unerprobte Hilfe gegen den Angreifer und auf weitere Sicht vielleicht auch gegen das Wirksamwerden des Angriffsgeistes ist jedoch der persönliche Widerstand der Bürger des Erobererstaates gegen ihr entartetes "Vaterland". Ich folgere aus der christlichen Lehre vom bellum iniustum das moralische Recht wenn schon nicht die Pflicht des zu besserer Einsicht gelangten Bürgers, sich persönlich mit allen geeigneten Mitteln dem als unsittlich erkannten Kriege entgegenzustemmen. Die Billigung, ja Verehrung, die unter anderem die Haltung des Jesuitenpaters Delp, eines der Opfer des 20. Juli 1944, und vieler anderer "christlicher Mär-

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tyrer" des Dritten Reiches ausgelöst hat, beweist, daß ihr in manchen Fällen sogar aktiver Widerstand gegen die Staatsführung und damit gegen den Krieg für den Bereich der religiösen Moral als gerechtfertigt gilt. Angesichts der apokalyptischen Vergangenheit der Zukunft und der Existenzkrise menschlicher Kultur, in die uns das Gewährenlassen zweier Weltkriege geführt hat, müsse dem äußersten Mittel gegen den Krieg ins Auge gesehen werden: dem Aufruf zum individuellen Ungehorsam gegen den Friedensbrecher. Der Aufsatz "Das (Bonner) Grundgesetz im Lichte der VerJassungsgeschichte", Universitas, 1949, befaßt sich mit den verfassungspolitischen Folgerungen aus dem zweiten Weltkrieg. "Ein Irrweg sondergleichen hat nach Bonn geführt." Die religiöse Spaltung des deutschen Volkes hat nicht nur die Einigung in einem festgefügten N ationalstaat von der Art Spaniens, Frankreichs und Großbritanniens im Westfälischen Frieden 1648 verhindert, sondern die Vielstaaterei von mehr als 300 Gebietsherrschaften herbeigeführt. Nach dem Zerfall des Ersten Reiches (1806) hat die nationale Kraftprobe der Befreiungskriege gegen Napoleon nicht zur Einigung in einem neuen Reich, sondern zu dem als "Deutscher Bund" bezeichneten Fürstenbund geführt, der infolge des latenten Gegensatzes von Habsburg und Hohenzollern und der zentrifugalen Bestrebungen mancher anderer Teilhaber die Keime des Zerfalles in sich trug. Das Ziel des neuen nationalen Krieges (1866) war im Grunde nicht die politische Einigung, sondern Spaltung der Deutschen und in weiterer Folgerung die Preisgabe der deutschen Ost-Kolonien in Europa an ein ungewisses Schicksal, das sich unter dem Schlagwort der "Begründung deutscher Vorherrschaft" 1945 in der Austreibung dieser Auslandsdeutschen aus ihrer Jahrhunderte alten Heimat vollendet hat. Der erste Weltkrieg hat die den Deutschösterreichern gesetzte Sendung, gewissermaßen den biologischen Kitt für ein Vielvölkerreich abzugeben, durch die Dismembration dieses Vielvölkerreiches und die Abtrennung fast der Hälfte der deutschsprachigen Bürger dieses Reiches vom österreichischen Reststaat unmöglich gemacht. Der zweite Weltkrieg hat sodann die Träume einer nationalen Einigung und die Idee eines kontinentaleuropäischen Großreiches unter deutscher Führung vernichtet, doch auch selbst das kleindeutsche Reich nach Abtrennung uralten deutschen Siedlungsraumes in einen West- und Oststaat gespalten. Das

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Grundgesetz von Bonn vom 23. Mai 1949 stellt sich gewissermaßen als erneuerte, gesetzestechnisch sogar verbesserte und politisch ausgewogenere Verfassung für das eine Deutschland von der Art der Weimarer Verfassung dar, das 250.000 km2 der 544.000 km 2 des Bismarck-Reiches in sich vereinigt. - "Tragödie des Gehorsams" nenne ich dieses rechtliche und politische Ergebnis deutscher Politik in einem Aufsatz der Stuttgarter Zeitung vom 20. Januar 1950, einem Zeitungs aufsatz, der mir mehr als tausende Druckseiten meiner sonstigen Veröffentlichungen bedeutet; an einer Reihe von Beispielen aus der deutschen Geschichte, unter anderem aus dem BefreiungskampfTirols im Jahre 1809, beweise ich, daß militärischer Gehorsam nicht immer Rechtsund Ehrenpflicht sein kann, wofern ein Volk berechtigt und verpflichtet ist, mehr als jedem anderen Ziele seinem Bestand und seiner Freiheit zu leben, für das der staatsbürgerliche Gehorsam nur Mittel sein könne. Rechtspolitischen Inhaltes sind schließlich auch die meisten meiner naturschützerischen Veröffentlichungen, namentlich jene, die im anliegenden Verzeichnis * enthalten sind. Den Werbefeldzug Gleichgesinnter, um den furchtbaren Aderlaß, den der erste Weltkrieg an der deutschbesiedelten Landschaft verursacht hat, nach Möglichkeit gutzumachen, habe ich in den Blättern für Naturkunde und N aturschutz im Oktober 1923 mit dem Leitaufsatz "Aufgaben und Möglichkeiten eines gesetzlichen Schutzes der Naturdenkmäler" eröffnet. Das Programm geht unerhört weiter als der aus taktischen Gründen zurückhaltend gewählte Titel dieses Aufsatzes. Ist die Natur ein Kulturgut und das Naturerlebnis ein besonders geartetes, ein verfeinertes Kulturerlebnis, dann ist Aufgabe eines gesetzlichen Naturschutzes nicht nur die, die Spitzenerscheinungen in der Landschaft, die N aturdenkmale, unversehrt zu erhalten, - "auch die große, durch keine Besonderheit ausgezeichnete Masse der Naturerscheinungen verdient Schonung und als Ausdruck dieser Schonung Schutz vor menschlichem Mißbrauch". Als Nutzanwendungen eines so verstandenen totalen Naturschutzes fordert der Aufsatz den Schutz des Landschaftsbildes, des Tierreiches, des Pflanzenreiches, und den gesteigerten Schutz von Naturschutzgebieten und Naturdenkmalen. Die Pro* Vom Abdruck dieses Verzeichnisses wurde abgesehen.

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grammschrift gab den Motivenbericht für den Entwurf eines LandesNaturschutzgesetzes ab, den ich der Fachstelle für Naturschutz bei der Landesregierung von Niederösterreich noch im Jahre 1923 überreicht habe. Die Fachstelle unter Vorsitz von Hofrat Dr. Günther Schlesinger machte sich den Entwurf zu eigen und gab ihm in etwa zehn Beratungen des Fachbeirates für Naturschutz, dem ich als staats- und verwaltungsrechtlicher Fachmann angehört habe, die endgültige Fassung. Der Landtag von Niederösterreich erhob den Gesetzentwurf nach geringfügigen Änderungen, die der Wahrung gewisser Wirtschaftsinteressen dienen, zum Beschluß. Mit diesen Einschränkungen entspricht der redaktionelle Bericht der Blätter für Naturkunde und Naturschutz vom April 1925, S. 9, über die Urheberschaft dieses und des fast wörtlich übereinstimmenden Tiroler N aturschutzgesetzes den Tatsachen. Das Reichsnaturschutzgesetz vom 26. Juni 1935 hat die untereinander verwandten Vorbilder der österreichischen Länder (nur Steiermark hatte auf ein umfassendes Naturschutzgesetz verzichtet) mit einigen Neuerungen übernommen, jedoch seine Vorbilder verleugnet und überdies Eingriffen in die geschützten Naturerscheinungen aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen unbeschränkt Raum gegeben. Der zweite Weltkrieg hat dem Naturschutz in deutschen Landen einschließlich Österreichs durch den Raubbau unersetzliche naturhafte Substanz entzogen und so nicht bloß gegenüber dem Menschen, sondern auch gegenüber seiner naturhaften Umwelt eine schlechthin zerstörerische Rolle gespielt. Mehrere Flugschriften und Aufsätze in Zeitschriften, deren wichtigste im Schriftenverzeichnis angeführt sind, dienen der deutschen und internationalen Enthaltsamkeitsbewegung. Mein Grundgedanke ist, daß weit mehr noch als hygienische und wirtschaftliche Erwägungen die ethische Aufgabe, die demoralisierenden Wirkungen der Kriege zu überwinden, es fordere, sich von entbehrlichen Genußgütern, besonders Rauschgiften wie Alkohol und Tabak freizumachen. Befreiung vom schlechteren Ich ist nicht weniger eine ethische Aufgabe wie die von unsittlichen und sinnlosen Zumutungen der Gemeinschaften.

A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

Rezension von:

Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Leipzig 1912 Die Verwandtschaft des "freien Rechts" oder "Freirechts" mit dem Naturrecht war wohl niemals zu verkennen, wenn auch schwerlich bei diesem oder jenem Wortführer der Freirechtsbewegung ein bestimmtes Vorbild des klassischen Naturrechts festzustellen ist. Mindestens die Gegnerschaft gegen das positive Recht bildet einen gemeinsamen Grundzug beider Strömungen, der sich allerdings deutlich wahrnehmbar in verschiedenen Stromrichtungen äußert. Der Anprall des Naturrechts ging, sofern es polemischer Natur war, gegen das geltende positive Recht, suchte es - als künstliches und darum unnatürliches Produkt - mit seinem natürlichen, naturgewordenen Inhalt zu durchdringen, die Grundrichtung der Naturrechtsbewegung war, soweit sie polemisierend auftrat, die der Politik, die Freirechtsbewegung richtet sich jedoch in unverkennbarer Weise bei weitem nicht so gegen das geltende positive Recht, als vielm~hr gegen dessen von seiner Theorie behaupteten Geltungsgrund, gegen die Theorie des positiven Rechts, den juristischen Positivismus. Bezeichnend genug ist es, daß gerade in der Zeit der Hochflut des freirechtlichen Anti-Positivismus die Theorie des juristischen Positivismus ihre extremste und - die Extreme sind ja nur die Gipfelpunkte der Konsequenz - konsequenteste Durchbildung erfahren hat, indem in die Zeit der Publikationen eines Ehrlich. Kantorowicz. Fuchs und Jung u.a. zunächst das positivistische Bekenntnis Bergbohms und sodann die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" Kelsens l fallen, wo unter anderem das Rechtsquellenproblem in einer wohl noch nicht dagewesenen Zuspitzung der positivistischen Theorie gelöst wird. - Wenn Weyr in einem Aufsatz "Zur

Österreichische Zeitschrift flir öffentliches Recht, 1. Jg. (1914), S. 570-578. 1 Tübingen, VerlagvonJ.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1911. 4 A.1. Merkl

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I.A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

Theorie des natürlichen Rechts,,2 die Theorie von den Fluktuationen der Geistesströmungen auf die Jurisprudenz dahin anwendet, daß er die "neuzeitliche dogmatische Richtung" abgelöst sieht vom "Aufleben des ius naturale" , so ignoriert er wohl doch zu sehr die von ihm selbst vertretene neueste positivistische Richtung, die ihm ein Beweis dafür sein könnte, daß die intellektuellen Extreme nicht epochenweise aufeinanderfolgen, sondern in derselben Epoche zusammentreffen. Gerade diese theoretisierende Richtung der Freirechtler hat wohl darin ihre Ursache, daß die Vertreter der Freirechtsbewegung fast durchwegs Juristen, juristische Theoretiker sind, womit die praktische Tendenz und Wirkung dieses Juristen-Naturrechts nicht in Abrede gestellt sein soll. Mit dem Titel des zu besprechenden Werkes vollzieht Jung den Anschluß der neuen Bewegung an das alte Naturrecht, indem er geradezu programmatisch ihr Schlagwort "frei" durch das ältere, archaisierende, jedenfalls unmoderner als das auch nicht mehr ganz moderne "frei" anmutende "natürlich" ersetzt. Ob und inwieweit Jung einem etwaigen mit dem Schlagwort "natürliches Recht" gegebenen Programm treu geblieben ist, soll in der folgenden Besprechung seines Werkes besonders im Auge behalten werden. Vorausgeschickt soll in diesem Zusammenhang nur werden, daß Jung selbst nicht an das Dogma des alten Naturrechts, an "ewig wahre Sätze" eines "ewig gültigen Rechtes" glaubt, daß er vielmehr nur ein "Naturrecht mit wechselndem Inhalt" im Sinne Stammlers im Auge hat. Jungs Ausgangspunkt ist "der ungelöste Widerspruch, daß logische Folgerungen aus einem überlieferten Rechtssatz und praktische Zweckerwägungen aus der Natur der Sache usw. bei derselben Fragebeantwortung nebeneinander auftreten". (S. 4) Unter "Fragebeantwortung" ist hier der Richterspruch verstanden, der "überlieferte Rechtssatz" ist die Rechtsquelle der herrschenden Rechtsquellenlehre, wofür später die Bezeichnung "regelhaftes Recht" eingeführt wird, die Anrufung der "Natur der Sache", der "waltenden Rechtsvernunft ", der "berechtigten Verkehrsanschauungen ", der "berechtigten Verkehrs bedürfnisse", des "allgemeinen Verkehrsinteresses, der Bil2 Archiv für Rechts- und Wirtschafts philosophie , 1913.

E. Jung: Das Problem des natürlichen Rechts

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ligkeit" bedeutet für Jung "immer ein Zurückgreifen auf die allerletzten und allgemeinsten Grundlagen des richterlichen Urteils, nämlich auf die Empfindung, ob dieses Ergebnis der Gerechtigkeit entspreche oder nicht entspreche". Es sind das alles für Jung unbefriedigende 3 Ausdrücke einer dunkel geahnten aber unaufgeschlossenen Rechtsquelle, die klarzulegen Zweck seines Werkes ist. Es ist dem Verfasser rückhaltslos beizupflichten, wenn er "auf das entschiedenste bestreitet, daß Begriffe wie Gerechtigkeit oder Billigkeit uns soweit zerlegbar und bekannt seien, daß man mit ihnen zu allgemein gültigen, d.h. auch für Andere zwingenden Schlüssen gelangen könnte; zu objektiven, d.h. nach dem principium rationis sufficientis cognoscendi notwendigen und daher auch für andere Intellekte als das aussagende Subjekt vorhandenen Erkenntnissen". Es wird sich nur fragen, ob die hier vermißte Eigenschaft der von Jung aufgedeckten Rechtsquelle zuzusprechen ist. Als die Stellen, wo die neue Rechtsquelle in das alte Rechtssystem einströmt, sind die Lücken im gesetzten Recht4 gedacht, die freilich in der Vorstellung der Freirechtler unerhörte Dimensionen annehmen, wodurch man sich der konsequenten Auseinandersetzung mit dem gesetzten Recht, der unerquicklichen Durchsetzung der neuen Rechtsquellen contra legern entheben zu können und ihnen einen erfreulich breiten Platz praeter legern zu sichern meint. Jungs Ansicht ist davon sicherlich nicht weitab. "Die Meinung, daß alle Urteile durch logische Anwendung der überlieferten Rechtsregeln auf den vorliegenden Tatbestand zustande kommen, das Dogma von der logischen Geschlossenheit des Rechts, ist als irrig erkannt." (S. 11) Als wären sie identisch, so sind in diesem Satz zwei Gedanken vereinigt, die sich keineswegs beisammen finden müssen. Man kann mit Recht bezweifeln, daß der Richter sozusagen Subsumtions- und Deduktionsmaschine ist, man kann sogar behaupten, daß der Richter in keinem Fall der Rechtanwendung bloß subsumiert und deduziert, also logisch ope-

3 "Das Maß der gegenseitigen Rücksichtnahme, das man im Verkehr von einander verlangen kann", - eine Phrase in einer Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes ist eine Formel, die Jung sehr befriedigt und ihm geradezu zum Stichwort wird. 4 Das Recht als ganzes wird ja im Sinne dieser Theoretiker durch die Ergänzung aus den neuen Rechtsquellen lückenlos. 4"

I.A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

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riert, sondern daneben immer und notwendig auch beispielsweise subjektive Willenselemente einstreut - und trotzdem von der Überzeugung der logischen Geschlossenheit des Rechts, die mit all dem nichts zu tun hat, durchdrungen sein. Wenn hier auch freilich nicht der Platz ist, das Problem der Rechtslücken ex professo zu behandeln, so ist es doch nicht zu vermeiden, zur Frage der Rechtslücken, die entscheidend ist für die Frage nach der Möglichkeit eines Freirechts praeter legern, im Vorbeigehen Stellung zu nehmen. In einer Kritik unseres Werkes 5 unterzieht von Laun die Rechtslücke, diese Basis der Jungschen wie der meisten Freirechtstheorien, einer eingehenderen Betrachtung und führt zu diesem Zweck die methodologisch sehr fruchtbare Zweiteilung in formelle und materielle Lücken ein. Das, was von Laun unter materieller Lücke versteht, "daß möglicherweise das Gesetz (oder Gewohnheitsrecht) nicht immer einen Maßstab gewähre, welcher objektiv und eindeutig ein bestimmtes Verhalten als das allein normgemäße erkennen lasse,,6, trifft zweifelsohne zu. Die Tatsache, daß es eben Normen, abstrakte und generelle Normen sind, die dem Rechtsanwender an die Hand gegeben werden, bringt es mit sich, daß oft mehr- bis vielfache Konkretisierungsmöglichkeiten vorliegen. Von einer Lücke kann man in diesem Fall lediglich unter der Voraussetzung eines an die Rechtsordnung von außenher gerichteten Postulates sprechen, des - etwa einer Sozialethik angehörigen - Postulates nämlich, daß immer nur eine einzige Lösung möglich sein sollte. Eine Rechtsordnung aber, die z.B. weite Strafspielräume statuiert, führt ausdrücklich eine Unzahl von Lösungsmöglichkeiten ein, wodurch freilich eine klaffende "materielle Lücke" - aber offenbar nicht eine Lücke im Sinne der betreffenden Rechtsordnung - entsteht. Nicht wo mehrere Lösungsmöglichkeiten gegeben sind, sondern dort, wo keine Lösungsmöglichkeit vorliegt, wäre von einer Rechtslücke zu reden. Man übersieht in dieser Hinsicht aber meistens, daß die Klageabweisung oder der Freispruch 5 "Eine Theorie vom natürlichen Recht", Archiv des öffentlichen Rechts, XXX. Bd., Heft 3. 6

A.a.O., S. 381.

E. Jung: Das Problem des natürlichen Rechts

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ebenso eine rechtliche - wenn auch von einem ethischen, ökonomischen, politischen Standpunkt aus möglicherweise unerwünschte Lösung darstellt wie die Verurteilung. Eine Entscheidung in dem einen oder anderen Sinn ist immer möglich; nichts anderes liegt aber in dem von Jung totgesagten Dogma von der logischen Geschlossenheit des Rechtes. Diese ist nicht die Frage einer gelungenen oder auch mißlungenen Rechtstechnik, die logische Geschlossenheit ist vielmehr gleich der Souveränität BegrifJsmerkmal einer jeden Rechtsordnung. Um zusammenzufassen: die "materiellen Lücken" sind nicht Lücken des Rechtes, die "formellen Lücken" erweisen sich als Denkunmöglichkeit. Die Möglichkeit, daß der Richter, der Rechtsanwender, durch das positive Recht nicht zur Gänze determiniert ist, wird durch das Voranstehende nicht bestritten, vielmehr geradezu die U nvermeidlichkeit solcher recht/reier Räume, wie sie im folgenden genannt werden mögen, behauptet, und nur dagegen Verwahrung eingelegt, daß man sie als Lücken des Gesetzes bezeichnet. Typische Fälle von besonders weiten derartigen rechtsfreien Räumen sind die gerade im judiziellen Rechtsgebiete häufigen Verweisungen auf "Treu und Glauben", auf die "guten Sitten", auf die "Natur der Sache" und wie man sich sonst auszudrücken pflegt, Verweisungen, die natürlich ein reines logisches Operieren (mit Subsumtion und Deduktion) ausschließen und nach allerdings nicht unbestrittener Meinung die gesetzliche Ermächtigung des Richters zu "freiem Ermessen" bedeuten. 7 Diese rechts- oder - im Sinne Jungs - eigentlich gesetzesJreien Räume, welche die Freirechtsbewegung und auch Jung, Lücken des Gesetzes in ihnen erblickend, nur weiter absteckte als die positivistische Theorie zugeben kann, stellen nun das Anwendungsgebiet des Jreien Rechtes dar, erlauben den von Jung immer wieder zitierten Rückgriff auf "die letzten Wurzeln", "allgemeinsten Unterlagen des Rechtsempfindens". (S. 42 u.a.)

7 Auf dem entgegengesetzten Standpunkt steht von Laun in seinem Werke: Das freie Ermessen und seine Grenzen. Der hier vertretene Standpunkt ergibt sich aus den Prämissen Kelsens, a.a.O.

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Auffällig genug ist es, daß sich Jung bei seinen Betrachtungen ganz und gar auf die Justiz beschränkt und von der Verwaltung völlig absieht, ein Mangel, den schon von Laun in der zitierten Besprechung in treffender Weise kritisiert hat. Man sollte meinen, diese gesetzesfreien Räume, die zwar, wie gesagt, der Justiz nicht fehlen, aber doch gegenüber dem gesetzlich determinierten Gebiet so weit zurücktreten, daß sie lange ganz übersehen werden konnten, in der Verwaltung aber so im Vordergrunde stehen, daß man vielfach wieder ganz die gesetzliche Bindung übersah - diese Ermessensspielräume der Verwaltung, sollte man meinen, wären das rechte Tummelfeld für das freie Recht"! Aber nichts davon! Ist das Freirecht vielleicht doch so inhaltsleer, muß man sich da fragen, daß es die weiten gesetzesfreien Räume in der Verwaltung nicht zu füllen vermöchte, was es gegenüber demjudiziellen Rechtsgebiete sich zur Aufgabe macht? Immerhin läßt es sich leichter behaupten, für den Fall z.B., daß das Gesetz sagt, ein Vertrag sei nach Treu und Glauben auszulegen, so sei "richtiger- oder natürlicherweise" nach diesen und jenen Grundsätzen vorzugehen, als daß man mit dem Anspruch auf Beachtung derartige Sätze eines "richtigen" oder "natürlichen Rechts" für den Fall einer ins freie Ermessen gestellten Konzessionserteilung oder Beamtenernennung aufstellt.

Jung behauptet nun, wie schon angedeutet wurde, daß der Richter (den allein er als Rechtsanwender in Betracht zieht), auch in den gesetzesfreien Räumen "gebunden" sei. Diese Annahme ist charakteristisch genug für die Freirechtsbewegung, die ihrem Namen nach eine Opposition gegen die angeblich zu weitgehende Bindung des Richters durch die alte Rechtsquellentheorie besagt. Jung verwirft denn auch die Bezeichnung "Freirecht" , da sie "die Gebundenheit nicht zum Ausdruck bringt, die jeder Rechtsfindung, auch der neuen, anhaftet und die dem Begriffvon geltendem Recht ... absolut notwendig ist" (S. 44). Sogar der bekannten Verweisung des Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches auf "die Regel, die (der Richter) als Gesetzgeber aufstellen würde" supponiert Jung die Bindung an die gefühlsmäßige "Schranke, daß ein ... gewisses Maß von Rücksichtnahme von den andern gefordert werden müsse" (S. 45).

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"Woher stammen nun", so stellt Jung sein Problem, "diese nicht aus den überlieferten Rechtssätzen entnommenen Entscheidungen?" (S. 31). Und auf der Stelle beantwortet Jung diese Frage mit einer petitio principii, indem er die weitere Frage anreiht: "Was ist die Rechtsquelle dieser Entscheidungen, die doch Aussprüche Rechtens sind?" Für den Positivisten ergibt sich eben angesichts solcher nicht unmittelbar aus dem Gesetz geholter Entscheidungen erst die Frage, ob sie Entscheidungen Rechtens sind, und ist diese Frage nur dann bejahend zu beantworten, wenn sich die Entscheidungen auf eine gesetzliche Verweisung stützen können. Für Jung sind sie fraglos apriori rechtliche Entscheidungen. Dann gibt es aber eben eine zweite Rechtsquelle nicht nur neben sondern auch unabhängig vom Gesetz und ist ein unlösbarer logischer und praktischer Konflikt gegeben, an dem die Freirechtstheorie stets krankt - die Undurchführbarkeit des Kompromisses mehrerer koordinierter Rechtsquellen. Wir haben vorhin gehört, daß Jung in jenen Fällen, wo das Gesetz dem Richter Freiheit gibt, eine Schranke des Richters durch die neue Rechtsquelle gegeben sieht. Die vom Recht gegebene Freiheit soll in einem Atem von dem Rechte wieder genommen sein! In dieser Vorstellung steckt dieselbe contradictio in adiecto wie in dem Begriffe des "gebundenen Ermessens", wofern man Bindung und Ermessen demselben Normsysteme angehörig annimmt. Wäre dies der Fall, so würden Bindung und Ermessen wie +a und -a einander aufheben. Soll Bindung und Ermessen, Pflicht und Freiheit in derselben Sache einen Sinn ergeben, so muß, wenn die Freiheit vom Rechte gegeben ist, die Pflicht aus einer anderen Quelle entspringen. Diese Quelle, die Entscheidungsnorm, die er im voraus schon als Rechtsnorm bezeichnet hat, nimmt sich Jung unbewußt im folgenden eigentlich wieder, wenn er "vom Konkreten, von der Einzelerscheinung ausgehend" auf induktivem Wege, durch "induktive Rechtsfindung" (S. 47) zu ihr zu gelangen vermeint. "Richten" setzt die Rechtsnorm voraus, nach der gerichtet wird, richten ist logisch immer eine Deduktion; die Rechtsanwendung ist logisches Posterius gegenüber der anzuwendenden Norm als ihrem Prius; was im Einzelfall, gewissermaßen aus ihm heraus und sozusagen "für ihn geschaffen", "induktiv ermittelt" wird, ist nicht Recht, weil keine (generelle)

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Norm. Der Name "induktive Rechtsfindung", den Jung statt des üblichen "Freirecht" vorschlägt, stellt sich somit auch wieder als eine contradictio in adiecto heraus, weist also den gleichen logischen Fehler auf, der auch im Worte Freirecht liegt, nur daß er gewiß der Schlagkraft dieses Namens entbehrt, so daß die vorgeschlagene N amensänderung in keiner Hinsicht eine glückliche zu nennen wäre. Die Frage nach dem Wesen dieses induktiv ermittelten Rechtes, von dem wir bisher eigentlich nur wissen, daß es "aus den Unterlagen des Rechtsempfindens" geholt ist, führt Jung zur tieferen Frage nach dem Wesen des Rechtes überhaupt, die in einer längeren, durchwegs sehr geistreichen, aber doch keineswegs überzeugenden Abhandlung aufgerollt wird. Die Voraussetzung ist eine solche, daß an ihr das Problem scheitern muß, in der Problemstellung steckt der entscheidende Fehler. "Wie grenzt sich nun der Begriff der rechtlichen Normen von dem umfassenderen der ethischen überhaupt ab?" (S. 63) Zwar faßt Jung den Begriff des Ethischen so weit - er identifiziert nämlich das Ethische 8 mit allem Normativen - daß die obige Fragestellung noch keinen falschen Sinn ergeben müßte. Aber es zeigt sich bald, daß der Rechtsbegriff auch einem engeren, nämlich dem hergebrachten Begriff der Ethik eingeordnet wird, indem sich Jung die Formulierung Jellineks: "Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum,,9 kritiklos zu eigen macht. Es ist hier nicht der Platz, die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral abzuhandeln, zumal, da es sich Jung erspart, seine keineswegs selbstverständliche Aufstellung irgendwie zu begründen, doch soll mindestens darauf verwiesen werden, daß die Betrachtung auch nur weniger zufällig herangezogener Rechtsnormen darein Einsicht geben muß, welch großer Teil des Rechtes moralisch indifferent ist außer dem, den man vielleicht als geradezu unmoralisch erkennen mag. Große Partien des Privatrechts und insbesondere das Prozeßrecht, vom Verwaltungsrecht ganz abgesehen, haben einen solchen 8 Dabei die Logik, Grammatik, Ästhetik ignorierend. 9

Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 45.

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Inhalt, daß das feinstgestimmte moralische Empfinden darauf nicht zu reagieren vermöchte. Bei solcher Sachlage gibt es für den, der im voraus das Recht als species des Gattungsbegriffes Moral hingestellt hat, nur zwei Auswege: er rettet seinen Positivismus mit einer Inkonsequenz, indem er dem positiven Rechte, wie es liegt und steht, den moralischen Charakter fingiert oder er bleibt konsequent und spricht dem Stück des positiven Rechtes, das er als amoralisch oder gar unmoralich erkennt, den Rechtscharakter ab, ist aber damit bereits dem Naturrecht verfallen. Jung tut, wie wir sehen werden, als Vertreter der neuen Rechtsquellentheorie unerwarteterweise das erste. 10

Doch bevor wir Jung auf diesen seinen interessantesten Gedankengängen folgen, muß die Abgrenzung des Rechtes von der Ethik in Betracht gezogen werden. Es wird dabei ein weiterer grundlegender Fehler zu Tage treten. "Wesentlich ist der Rechtspflicht gegenüber der moralischen Pflicht, daß ein Gegenüber ihre Erfüllung verlangt, und bei ihrer Nichterfüllung gegenüber dem Verletzer Gewalt anwenden kann, ohne daß die Gemeinschaft der Anderen diese Gewaltanwendung innerhalb der Gemeinschaft mißbilligt. Aus dem umfassenderen Kreis der ethischen Pflichten schlechthin hebt sich ein engerer Kreis solcher Pflichten sehr deutlich heraus, bei deren Nichtachtung man äußere wahrnehmbare Folgen zu gewärtigen hat." (S. 64) Tatsachen der Seinswelt wie die Intensität der Verletzungsempfindung oder die Stärke der Reaktion auf die Verletzung entscheiden also darüber, ob eine Rechtspflicht vorliegt oder nicht! Der normative Standpunkt war vorhin erfreulich klar in der Formulierung zum Ausdruck gekommen, "daß bei den Entscheidungen, die nicht aus dem überlieferten Recht

10 Von seiner Voraussetzung, daß das Recht ein Stück Moral ist, mithin logischerweise alle Rechtspflichten zugleich Moralpflichten sind, weicht Jung unbemerkt dadurch ab, daß er - in einer Fußnote, S. 85 - bloß "weitaus die meisten rechtlichen Pflichten inhaltlich zugleich auch moralische Pflichten" sein läßt. Doch sehen wir Jung auch diese Einschränkung späterhin wieder ignorieren, indem (nach mehrfachen Weiterungen) in den Augen Jungs das Recht (was er nämlich darunter sieht) mit der Moral, die auch ein ungewohntes Aussehen bekommen hat, wieder ganz zusammenf'ällt.

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geschöpft sind, 11 das im letzten Grunde Bestimmende und Ausschlaggebende die Erwägung ist, daß das vorliegende Ergebnis in einem bestimmten Sinne ausfallen soll". (S. 48) Ausdrücklich war auch schon von "rechtlichen Normen" die Rede. Nunmehr bewegt sich Jung in eine Wirklichkeitsbetrachtung, für die charakeristisch ist, daß das "Recht" etwas Gesolltes, als ein Seiendes, daß das Wort Recht für den BegriffRechtsleben erscheint. 12 Hervorzuheben aus diesen Betrachtungen wäre, daß Jung die Ansicht Schopenhauers aufnimmt, wonach der Begriff des Unrechts der ursprüngliche und positive, der des Rechts der abgeleitete und negative sei. "Unrecht ist, was in einer bestimmten historischen Gemeinschaft als ein derartiger Mangel an Rücksichtnahme auf die Andern empfunden wird, daß dieser Andere regelmäßig sich ihn nicht gefallen läßt und mit Gewalt abwehrt ... Es kommt nicht darauf an, was etwa objektiv ein überlegener Geist l3 ... als für die Gesellschaft notwendig erkennt, sondern entscheidend ist nur, was diese historische Gemeinschaft regelmäßig von ihren Gliedern wirklich fordert, was diese tatsächlich als eine Verletzung solcher Art allgemein empfinden." (S. 67) Diese "allgemeine Verletzungsempfindung" - übrigens ebenso fiktiv wie das später zitierte "durch die Sozialpsyche gewünschte Verhalten" (S. 223), würde sehr vage und darum praktisch schlecht brauchbare Umrisse des Rechtes abgeben, wenn sie als Bestimmgründe des Rechtes und Unrechtes logisch überhaupt möglich wären. Die Seinstatsache einer Verletzung oder Verletzungsempfindung ist an sich juristisch ganz irrelevant; zur Rechtsverletzung, zum Unrecht, wird sie erst dadurch, daß sie zu einer Rechtsnorm in Relation tritt, der gegenüber sie als Rechtswidrigkeit erscheint. Wenn Jung behauptet: "Verletzung l4 als Normenverletzung ist natürlich nur ein abgeleiteter und Hilfsbegriff. Verletzung ... ist gleich Interessenver-

11 Nicht anders wie bei den Entscheidungen unmittelbar aus dem positiven Recht. 12 Es findet sich noch an mehreren Stellen ein solcher Standpunktwechsel, dessen Beleuchtung jedoch der Raummangel verhindert.

13 D am1t ..1st d er G esetzge b er gememt. . 14 D am1t ..1st d'1e Rec h tsverIetzung gememt. .

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letzung" (S. 91), so hat er einen norm losen Rechtsbegriffim Auge, über den sich, da er für viele Naturrechtier dogmatische Basis ist wie der Begriff der Rechtsnorm für die Normentheorien, nicht mit Aussicht auf eine Verständigung streiten läßt. 15 Es muß hier die Feststellung genügen, daß die Vorstellung einer Verletzung, die an sich schon, kraft ihrer eigenen Eigenschaften (z. B. kraft ihrer Intensität oder der durch sie hervorgerufenen Reaktion) Unrecht sei, wie überhaupt die freirechtliche Manier, von Seins tatsachen ihr gewissermaßen aus und mit ihnen gewordenes, naturwüchsiges Recht abzulesen, für den Normentheoretiker unvollziehbar ist. Man darf wohl glauben, daß die Freirechtler aus den Tatsachen auch nur die vom Subjekt in das Objekt - allerdings unbewußt - erst hineinprojizierten rechtlichen Urteile herauslesen, während die Normentheoretiker an die Tatsachenwelt den ihr fremden Wertmaßstab des Rechtes bewußt anlegen. Jung schwebt wohl auch uneingestanden die Vorstellung vor, daß ein "gewisses Maß von Rücksichtnahme", das er von den Rechtsgenossen erwartet werden läßt, gesollt sei, daß ein diese Erwartung störendes Verhalten eines Rechtsgenossen verboten sei: eine normative Vorstellung, welche logische Voraussetzung für die Beurteilung einer Verletzung als Pflichtverletzung, als Rechtspflichtverletzung ist. Und doch verstrickt sich Jung noch tiefer in eine kausale Rechtsauffassung, indem er sagt: "Der einzelne Genosse einer Rechtsgemeinschaft ist zu gewissen Handlungen oder Unterlassungen gezwungen, weil sein Gegeninteressent sich ein gegenteiliges Verhalten nicht gefallen lassen würde", und weiter: "Die Regeln l6 über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Verletzung sind das abgeleitete und sekundäre; die Verpflichtung zum rechtlichen Handeln besteht nicht etwa deshalb, weil jene Regeln bestehen, sondern jene Regeln bilden sich, weil jene besteht; als Modi und Anhaltspunkte für die Beurteilung der Verletzung" (S. 101). Der kausale Begriff des Zwanges und der normative der Verpflichtung werden hier promiscue verwendet, wodurch der gesuchte Rechtsbegriff natürlich noch mehr verschwommen wird.

15 Noch schärfer drückt Jung diesen Gedanken an anderer Stelle aus, wo er sagt: "Nicht die bloße Regelverletzung, sondern allemal nur materielle Interessenverletzung kann Unrecht sein." (S. 169)

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An diesem Punkte führt nun Jung neben der neuen RechtsqueUe das "rege/hafte" (Gesetzes- und Gewohnheitsrecht) oder, wie er es auch irreführend (im Gegensatz zu dem gegenwärtig am Einzelkonflikt ermittelten Recht) nennt: das historische Recht, die rechtliche Tradition, ein; 17 wie sich bereits aus dem letzten Zitat ergeben hat: in der eigentümlichen untergeordneten Rolle eines Modus und Anhaltspunktes für die seiner dankbarerweise entbehrende rechtliche Beurteilung einer Verletzung. Nun stehen wir vor der dem inkonsequenten Freirecht, das aus seiner neuen Rechtsquelle nicht die Konsequenz zieht, alles Recht, was sich aus ihr nicht ergibt, zu eliminieren, charakteristischen Doppelung (mitunter auch Vervielfachung) der Rechtsquellen. In der Formulierung: "Ob die Aussage, daß hier eine bestimmte rechtliche Reaktion gegeben sei, nur mit Zuhilfenahme der Tradition zustande kommt oder ob eine bestimmte Aussage über Recht oder Unrecht schon aus der isolierten Betrachtung des Falles entspringt, ist die oberste Grundlage jener Zweiheit im geltenden Recht, deren Vorhandensein man von je gefühlt und mit sehr verschiedenen N amen bezeichnet hat" (S. 104) erscheint diese Zweiheit der Rechtsquellen noch als Koordination. Praktisch ist und bleibt es im Sinne Jungs immer eine Koordination. "Die Notwendigkeit solcher Entscheidungen, bei denen die Frage nach dem konkreten Recht oder Unrecht ohne die Stütze der historischen Überlieferung, also aus dem einzelnen Fall heraus beantwortet werden muß, bildet eine stets offene EinfaUspforte für das ursprüngliche, unabgeleitete, unmittelbar aus der Verletzungsempfindung geschöpfte Recht; für das natürliche Recht (S. 170). Theoretisch wandelt sich aber das Verhältnis der Koordination zwischen den bei den Rechtsquellen unvermeidlich in das der Subordination. Das Prinzip jedweder Norm, das in einer Besprechung im ersten Hefte dieser Zeitschrift 18 mit dem Satz des Dekalogs: "Du sollst keinen Gott haben außer mir" treffend wiedergegeben wurde, das Prinzip der Ausschließlichkeit, ist eben auch dem Jungschen Rechtsbegriffe eigen.

16 Gemeint sind die positiven Rechtsnormen. 17 Nebenbei sei hier erwähnt, daß Jung den juristischen Positivismus und Historismus, zwei grundverschiedene Dinge, in einen Topf zu werfen scheint. 18 "Wa1ter Jellinek: Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung" , besprochen von Dr. A.v. Yerdroß, S. 233.

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Wenn ihm das Rechtsempfinden maßgebendes Kriterium des Rechtes ist, so kann es nicht gleichzeitig die gesetzliche Norm sein, die ja möglicherweise mit den "Unterlagen des Rechtsempfindens" in Widerspruch steht. "Verpflichtungsgrund des Rechts" kann ihm "nicht die eine gewisse Regel sanktionierende Autorität" sein (S. 100). "Die Rechtssetzungsfähigkeit des Gesetzgebers (d.i. die Voraussetzung, mit der die positivistische Theorie steht und fällt) verwirft Jung. Daß ein Gesetz Pflichten statuiert, ist ihm (als Ausfluß einer "individuellen ratio") an sich nicht maßgebend, läßt sie ihm dadurch nicht schon als Rechtspflichten erscheinen (obzwar, wie nebenbei bemerkt sei, das Rechtsempfinden um nichts weniger individuell ist als die Gesetzesnorm). "Der Grund der Geltung des positiven Rechts" liegt für ihn nicht in der "Autorität der Recht setzenden Stelle" (S. 144), er sucht vielmehr nach einem andern Geltungsgrund des regelhaften Rechts, der mit dem des "natürlichen Rechts" gemeinsam ist. Er sucht das regelhafte Recht aus den "Unterlagen des Rechtsempfindens" abzuleiten; wenn es sich aus diesen ergibt, mit ihnen im Einklang steht, hat es erst den Anspruch erworben, Recht genannt zu werden. "Juristisch erklärt ist der einzelne Rechtsbefehl sowohl wie der Rechtssatz erst dann, wenn er sich unserem Oberbegriff von Recht einfUgt." (S. 244) Juristisch erklärt ist ihm der Rechtssatz des positiven Rechtes erst, wenn er durch das höhere Recht gerechtfertigt wird. Und diese Rechtfertigung, mit der erst die juristische Erklärung des positiven Rechtes gegeben sein soll, unternimmt nun Jung, damit das ganze positive Recht auf das höhere Recht zurückführend. Sein von der positivistischen Theorie behaupteter Geltungsgrund wird fallen gelassen, sein Inhalt aber bleibt als Recht erhalten. "Der besondere Geltungsgrund des regelhaften Rechts" ist nach Jungs Ansicht folgender: "Ein wiederholtes Verhalten der Genossen in einer bestimmten Weise begründet die Erwartung der anderen Glieder derselben Genossenschaft, daß dieses Verhalten auch in künftigen Fällen beobachtet werde." (S. 107) Diese Erwartung der Rechtsgenossen tritt nach der später entwickelten Ansicht Jungs bereits mit dem ersten Präjudiz ein, durch welches das Gesetz, bisher "nur ein Plan,

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ein Entwurf einer zukünftigen erwünschten Rechtsordnung ,,19 zu geltendem Rechte werde. "Der gewissenhafte Privatmann" (ist Jungs Fiktion) wird die im Präjudiz zutage tretende "authentische Schrankenziehung seinem Verhalten zugrunde legen" (S. 163). Wenn Jung behauptet: "die Annahme, daß die neue Entscheidung den Interessenten gleich zur Kenntnis kommen müsse, sei nicht künstlicher als die, daß jeder Rechtsgenosse die Gesetze kenne, ohne welche Annahme wir ja doch nicht auskommen" (S. 163), so legen diese Worte Zeugnis ab vom fiktiven Charakter der Vermutung des dem Präjudiz gemäßen Verhaltens "des gewissenhaften Privatmannes", das in erster Linie von der Präjudizienkenntnis abhängt. Wenn schon etwas, dann ist doch immer noch eher die allgemeine Gesetzeskenntnis als die Präjudizienkenntnis zu erwarten, die wohl die weitestgehende Zumutung ist, welche je an den vielgeplagten bonus pater familias gestellt wurde. Für die positivistische Theorie ist aber 20 die Fiktion der Gesetzeskenntnis gar nicht wesentlich; kein Gesetz spricht sie aus,21 sondern nur moralisierende Juristen stellen sie auf, die dem Gesetz nicht die U ngerechtigkeit zumuten wollen, daß es Unrechtsfolgen ohne Kenntnis der Rechtspflichten androhe und ihm daher an Stelle dieses moralischen Defektes lieber den logischen Defekt einer Fiktion der Gesetzeskenntnis andichten. Für Jungs Theorie des positiven Rechts, die in der bloßen Satzung noch kein Recht erblickt, die eine im Präjudiz begründete Erwartung als Symptom der Rechtswerdung betrachtet, ist die Tatsächlichkeit dieser Erwartung und vor ihr noch die Tatsächlichkeit der Präjudizieilkenntnis notwendige Voraussetzung, um von Recht sprechen zu können. Es sei aber nun angenommen, daß jedes Präjudiz die allgemeine Erwartung auf ein ihm gemäßes Verhalten hervorrufe, wobei es allerdings unbegreiflich bleibt, daß Jung, wenn es auf diese Erwartung ankommt, sie nicht doch eher durch die Gesetzespublikation entstehen, 19 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, S. 3. 20 Wie Kelsen a.a.O., S. 367 fT. dargetan hat. 21 Klarem Zusehen kann es nicht verborgen bleiben, daß der in den Gesetzgebungen regelmäßig wiederkehrende Satz" error iuris nocet" nichts weniger als die Fiktion der Gesetzeskenntnis sondern ihr gerades Gegenteil, die offene Annahme der Gesetzesunkenntnis zum Ausdruck bringt.

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sondern seine Rechtsgenossen gewissennaßen ungläubig auf den ersten Anwendungsfall des positiven Rechtes warten läßt, der (als unerwarteter Ausfluß aus dem Gesetzrecht) für ihn juristisch noch nicht konstruierbar ist. Das größte Rätsel aber ist dadurch gegeben, daß mit der Erwartung des (einem Präjudiz gemäßen) Verhaltens eines Rechtsgenossen die Rechtswerdung des Gesetzesinhaltes eingetreten sein soll. "Die Nichtübereinstimmung eines bestimmten Verhaltens mit einer überlieferten Nonn des Verhaltens, das fonnelle Unrecht, wird zur materiellen Verletzung, weil und insoweit die Gegeninteressenten das der Norm entsprechende Verhalten erwarten durften und sich durch diese Abweichung vom N onnalen in ihren Interessen beschwert finden." (S. 107) Soll die Tatsache, daß man etwas zu erwarten hat, auch ein Kriterium des Rechtes sein, das aus den "Unterlagen des Rechts"Mindestens empfindens" geholt ist? Jung schein't dies zu glauben: I diesen logischen Gewinn" erhofft er von der "hier verteidigten Auffassung von dem Geltungsgrund des Rechts ... daß man jene verzweifelte Unterscheidung zwischen recht und gerecht nicht mehr zu machen braucht" (S. 125). Die durch ein Präjudiz begründete Erwartung des einer Gesetzesnorm gemäßen Verhaltens füge diese dem Oberbegriff des Rechtes ein, mache sie zum gerechten natürlichen Rechte. Es ist ein Weg, auf dem sich jedes positive Recht in Jungs "Oberbegriff des Rechtes" einfügen kann, wenn es nur versteht, die sichere Erwartung auf seine Anwendung zu begründen. Es ist ein Weg, auf dem die größte Ungerechtigkeit des positiven Rechts, da sie etwas zu Erwartendes ist, den Schein des gerechten Rechtes annimmt. Es ist ein Mittel, jede Rechtsreform aus dem Prinzip des Gerechten, Natürlichen heraus gedanklich unmöglich zu machen. Je älter ein Satz des positiven Rechts geworden ist, je größer die Reihe seiner Anwendungsfälle, desto begründeter die Erwartung auf seine weitere Anwendung, desto größer bei einer Neuerung die Verletzung dessen, der sich auf seine weitere Anwendung verläßt. Die Erwartbarkeit als Kriterium eines gerechten, natürlichen Rechts läßt als solches jedes positive Recht erscheinen. Jung schwächt in der Folge die Konsequenzen dieses Gedankens ab; er faßt auch bald wieder die Möglichkeit eines inhaltlichen Auseinandertretens von gesetztem und natürlichem Recht ins Auge. In rückläufiger Bewegung rollt er, unter mannigfachen neuen Gesichtspunkten und allerdings auch nicht unter Venneidung aller Widersprüche, die Weyr

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zum herben Urteil von einem chaotischen Durcheinander veranlassen, die aber bei dieser Fülle vielfach neuer Gedanken begreiflich sind, die meisten der bereits besprochenen Fragen nochmals auf. Gedanklicher Endpunkt seines Werkes bleibt aber die zuletzt ins Auge gefaßte Reduktion des positiven Rechtes auf das gerechte natürliche, dessen Ausjüllung mit positivistischem Inhalt, die, fernliegend jeder positivistischen Theorie, erst einer solchen des freien Rechtes vorbehalten blieb. Für den Positivisten gilt das positive Recht unbekümmert um seine Gerechtigkeit, der Naturrechtler muß ihm, um es gelten zu lassen, die Gerechtigkeit fingieren. Und ist das positive Recht in die Form des natürlichen Rechts eingedrungen, dann läuft des natürlichen Rechtes große Mission, die ihm kein Positivist bestreitet, Gefahr, unterdrückt zu werden: Die Mission des Naturrechts, außerrechtliches regulatives Prinzip des positiven Rechts zu sein.

Rezension von:

Paul Oertmann, Rechtsordnung und Verkehrssitte insbesondere nach bürgerlichem Recht, Leipzig 1914 Wenn von den beiden Realisierungsmöglichkeiten der abstrakten Rechtsnorm bis vor kurzem die Rechtsbefolgung im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses stand, und jede wahre rechtswissenschaftliche Untersuchung - naturgemäß stets von der Rechtsnorm nicht nur ausgehend, sondern auch bei ihr verbleibend I - sie vorwiegend unter dem Gesichtspunkt ihrer Befolgung behandelte, ist injüngster Zeit durch gleich zu erwähnende Einflüsse die Rechtsanwendung in den Mittelpunkt der rechtswissenschaftlichen Diskussion gerückt und insbesondere zum Gegenstand von Einzeljorschungen gemacht worden, als welche sich unter anderm auch das vorliegende Werk Oertmanns in einer bei der Selbstbeschränkung der Aufgabe nur allzu leicht zu unterschätzenden Weise präsentiert. Im Grunde nimmt ja unser Werk zu dem mit jeder abstrakten Rechtsordnung'l gegebenen Problem Stellung, inwieweit Recht oder Gesetz in concreto den Rechtsanwender determinieren, und inwieweit sie ihm bei der Rechtsanwendung zum Hereinspielenlassen fremder, d.h. außergesetzlicher oder außerrechtlicher Elemente Raum lassen, und gibt auf dieses eine Hauptproblem der Jurisprudenz eine Teilantwort, indem es eines dieser Elemente, und zwar die praktisch recht bedeutsame Verkehrssitte herausgreift, untersucht und von der Rechtsordnung, der sie schon im

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Jg. (1914), S. 772·776. I Die Tatsachen der Rechtsbefolgung und Rechtsanwendung sind ja nicht mehr Gegenstand der (normativen) Jurisprudenz, sondern etwa der Soziologie; für die Ju· risprudenz kommt nur das Befolgt· und das Angewendetwerdensollen in Betracht, was aber eben den Inhalt der Rechtsnorm selbst ausmacht und erschöpft. Als besondere ju· ristische Rechtsanwendungswissenschaften wären die Prozeßdisziplinen zu bezeichnen. 2 Der Hauptfall und einzige praktische Fall ist die Gesetzesrechtsordnung. 5 A. J. Merkl

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Titel gegenüber gestellt wird, abzugrenzen unternimmt. Für unsere Betrachtung hat das über die Verkehrssitte Gesagte vor allem exemplijikative Bedeutung, insofern als - da, wie gesagt, die Verkehrssitte nur eine der möglichen Arten außergesetzlicher Elemente bei der Rechtsanwendung ist - ein Teil der von ihr gewonnenen Erkenntnisse von "grundsätzlicher Geltung" für dieses ganze gesetzes/reie Gebiet und von "vorbildlicher Wegweisung" für die Grenzziehung des Gegensatzes von Gesetz und sonstigen Elementen der Rechtsanwendung zu sein beanspruchen darf. Für Oertmann ist denn auch die Verkehrssitte nur Typus "einer Zeit, die dem Richter die Anwendung außerjuristischer Wertmaßstäbe in der Rechtsprechung ganz regelmäßig ... zur Pflicht macht" . Oertmanns Untersuchung über die Verkehrssitte stellt gleichzeitig einen Beitrag zu dem gleich dem Rechtsanwendungsproblem aktuellen und stets mit ihm zusammen gegebenen Rechtsquellenproblem dar. Es ist ja selbstverständllich, daß mit der Frage nach den Elementen der Rechtsanwendung gleichzeitig die Frage auftaucht, welche von ihnen rechtlicher Natur, d.h. nichts anderes denn: welche als Rechtsquellen zu erkennen sind. Die Freirechtsbewegung ist es nun, die bei der Rechtsanwendung einsetzt, um das Gesetz aus seiner souveränen Stelle als einzige Rechtsquelle zu entthronen, und sie ist es, die - zum mindesten in ihrer Abart als soziologische Jurisprudenz - den mehrfach erwähnten anderweitigen Elementen den Rechtscharakter arrogiert. Diese Auffassung, die auf unsern Spezialfall der Verkehrssitte angewendet, auch diese im Recht aufgehen läßt, die Auffassung, daß eine allgemeine gültige Verkehrssitte Gewohnheitsrecht, also Recht sei,3 verwirft Oertmann ausdrücklich (S. 33), er hält die Verkehrssitte vielmehr mit erfreulicher methodologischer Strenge vom Recht auseinander und scheidet in der Rechtsanwendung überhaupt Recht vom Nichtrecht, ursprüngliches, d.i. Gesetzesrecht, vom delegierten

3 Eugen Ehrlich, Zwingendes Recht, S. 63. - Derselbe, Grundlegung der Soziolo· gie des Rechts, passim, insbesondere S. 27, S. 44.

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Recht (wofern man dieses noch als Recht bezeichnen darf)4. Ob die Delegation auf eine andere Rechtsquelle ausdrücklich erfolgt oder sich nur aus der Weite des Gesetzesrechtssatzes, aus dem stillschweigend und meist unbewußt mit jedem Rechtssatz gegebenen BlankettS ergibt, bringt nur den Unterschied mit sich, daß in dem Falle des Stillschweigens des Gesetzes der Rechtsanwender die eine bestimmte außergesetzliche Erwägung oder Norm mitsprechen lassen darf, bei ausdrücklicher Verweisung des Gesetzes mitsprechen lassen soll. Gerade dieser Fall der ausdrücklichen Verweisung auf die Verkehrssitte ist, wie überhaupt derartige Blankettbegriffe (z.B. "Treu und Glauben", "gute Sitten" u.a.) in modernen Gesetzbüchern überaus häufig anzutreffen, und da Oertmann vor allem die positivrechtlichen deutschen Verhältnisse (und hievon in erster Linie wieder das bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich) im Auge hat, sieht man in seinem Buche eine außerordentlich reiche Kasuistik ausgebreitet, in der die allgemein gültigen Bemerkungen beinahe verschwinden. Das Thema Oertmanns macht jedoch eine prinzipielle Auseinandersetzung zwischen dem Recht und anderweitigen Normenkreisen unerläßlich, eine Auseinandersetzung, der denn auch der Verfasser die sechs einleitenden Paragraphen seines Werkes gewidmet hat. In diesem engen Rahmen kommt es ihm begreiflicherweise mehr auf eine bloße Verständigung über seine Nomenklatur als auf eine originelle Lösung der mit solchen allgemeinen Erörterungen unumgänglich angeschnittenen Streitfragen an. Die Abgrenzung der Rechtsordnung von den anderen Normenkreisen, deren die Verkehrssitte einer ist, setzt einen festen Rechtsbegriff voraus, mit dessen Gewinnung sich Oertmann denn auch eine Weile lang abgeben muß. "Die Rechtsnorm schafft die staatliche oder doch vom Staate anerkannte Zwangsgemeinschaft, die 4 Der Rechtsanwendungsfall als solcher ist "Recht", besser rechtmäßig; diese Rechtlichkeit leitet sich aber doch nur her aus dem einen der ihn bildenden Elemente, aus dem Rechtssatz, als dessen Konkretisierung er sich darstellt; wenn somit seine Rechtlichkeit bereits eine abgeleitete ist, geht es schwer an, von ihm analysierend auszugehen und die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt, selbst wieder allesamt als Recht zu bezeichnen. 5

Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 504-507.

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Sittenregel die freie Sozialgemeinschaft. " (S. 10) Die "die Regel setzende Gemeinschaft" ist es, welche eine bestimmte Norm als Rechtsnorm charakterisiert; Rechtsnorm ist die Norm der organisierten Gemeinschaft (was dem Rechtsgebiete allerdings sehr verschwommene Grenzen gibt, da man über die Bedeutung des Wortes "organisiert" verschiedener Ansicht sein kann), vornehmlich aber und insofern ist Oertmann vollauf Recht zu geben - die Norm des Staates. 6 Die alte Lehre, daß sich aus der Rechtsnorm durch Subsumtion des konkreten Tatbestandes die Rechtsfolge notwendig als eindeutiger Schluß ergebe, verwirft Oertmann gleich eingangs mit bestem Rechte. Eine derartige mißverständliche Auffassung der "logischen Geschlossenheit des Rechts,,7 würde jedes Element außer der abstrakten Rechtsnorm und dem konkreten Tatbestand aus der Rechtsprechungs-Operation ausschalten und daher auch die Relation zwischen Rechtsordnung und Verkehrssitte ausschließen. Aber das muß Oertmann gleich im voraus abgestritten werden, daß diese außerrechtlichen Elemente ausschließlich "objektive Wertmaßstäbe" (S. 3) zu sein hätten. Eine solche Aufstellung ist nicht mehr juristische Erkenntnis, sondern Ausfluß einer anderweitigen Norm, die ausdrücklich subjektive Wertungen des Richters innerhalb dieser rechtsfreien Räume ausschließt. Von rechtswegen bedingt die mit dem Schweigen des Gesetzes gegebene Ermessensfreiheit eine gleiche Zulässigkeit subjektiver Wertungen wie objektiver Wertmaßstäbe, 8 und man entfernt sich vom positiven Recht und betreibt Naturrecht, wenn man diese auf Kosten jener allein zuläßt - es wäre denn, daß das Gesetz taxativ auf bestimmte andere Normensysteme, so z.B. die guten Sitten oder die

6 Wenn sich dabei Oertmann auch den Staat als Schöpfer des Rechts und nicht lediglich als seinen Träger vorstellt (im Sinne der Kelsenschen Lehre, a.a.O., S. 406 und passim), so tut das hier nichts zur Sache. 7 Vgl. Kelsen, a.a.O., S. 50, und meine Besprechung des "Problems des natürli· chen Rechts" von Jung, S. 571 dieser Zeitschrift. 8 Ausdrücklich ist z.B. der Richter kraft Anordnung des positiven Rechts durch den bekannten Artikel I des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs auf sein subjektives Werturteil verwiesen. Ober die falsche Annahme einer Bindung des Richters an objektive Normen auch in diesem Falle vgl. meine Besprechung des Jungschen Buches S. 573 dieser Zeitschrift.

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Verkehrssitte verweist. 9 Durch Verweisung auf die Verkehrssitte ist das mit dem rechtsfreien Raum gegebene freie Ermessen selbstverständlich ausgeschlossen oder zum mindesten auf bestimmte Varianten der Verkehrssitte eingeschränkt. 10 Unter der Verkehrssitte, die nur eine Teilerscheinung der Sitte ist, versteht Oertmann - die normative Rolle, die ihr in der Rechtsanwendung zugedacht wird, konnte darüber keinen Zweifel lassen - nicht "das regelmäßig geübte tatsächliche Verhalten, sondern die Regeln, nach denen dies Verhalten sich abspielen soll" (S. 25). Im Gegensatz zum" Brauch", von dem man "bei lokal oder nach Lebenskreisen abgegrenzten, spezialisierten Gewohnheiten" spreche, entspringe die Sitte der Gewohnheit einer "allgemeinen, überall herrschenden sozialen Gemeinschaft" (S. 29). Was die Verkehrssitte vom allgemeineren Begriff der "Sitte" scheide - der Verkehr -, "ist der auf räumlichen oder geistigen Beziehungen beruhende Zustand der tatsächlichen, ein- oder zweiseitigen Einwirkung mehrerer Personen aufeinander" (S. 31). Ihm selbst fehlt also der normative Charakter, der der Sitte als solcher eigen ist und den in der Verkehrssitte der Bestandteil der Sitte abgibt. "Der Verkehr ist Objekt, nicht Subjekt der Verkehrssitte. " (S. 32) Verkehrssitte sei nicht die Sitte, die der Verkehr schaffe, sondern die für den Verkehr geschaffen sei. Schließlich sei zur Begriffsbestimmung der Verkehrssitte noch ihr Unterschied von der Verkehrsanschauung hervorgehoben, den Oert-

9 Insbesondere ist die rechtliche Schranke, daß das Organ "nur im öffentlichen Interesse handeln dürfe" (von Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen, S. 176), im Zweifel nicht anzunehmen. Die Willkür des Staatsorganes, die von Laun bei Nichtannahme einer derartigen Gebundenheit als unverneidlich ansieht, wird auf rechtlichem Wege nie und nimmer durch eine solche unausgesprochene Schranke, sondern höchstens durch den Disziplinarrechtssatz, der etwa das Handeln im allgemeinen Besten erheischt, hintangehalten. Auch die Schranke der "Gerechtigkeit" versteht sich bei Ermessensfreiheit des Richters nicht von selbst, sondern ist nur im Falle daß, wie Stammler annimmt, die Gerechtigkeit dem positiven Recht immanent wäre, sonst aber nur bei gesetzlicher Verweisung gegeben. 10 Hier von einem gebundenen Ermessen zu sprechen, wäre deswegen irreftihrend, weil bezüglich der Wahl des Normsystems keine Ermessensfreiheit, hingegen innerhalb des delegierten Normsystems wiederum keine Bindung vorliegt.

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I.A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

mann dahin zusammenfaßt, daß "die Verkehrs anschauung den zureichenden Grund darstellt, aus dem sich eine Verkehrssitte entwickeln kann", daß sie - als Teilerscheinung der" gesellschaftlichen Anschauung" - "eine (theoretische) Quelle der (praktischen) Verkehrssitte ist"

(S.40).

In ausführlicher Abhandlung wird nunmehr im 11. Kapitel des Werkes unter dem Titel der "rechtsgeschäftlichen Bedeutung der Verkehrssitte" ihre Rolle im konkreten Tatbestand, d.i. dem Untersatz des rechtlichen Schlusses, insbesondere ihre Rolle als Auslegungsmittel für den Parteiwillen usw. untersucht. Von der Bedeutung der Verkehrssitte für die Tatbestandsermittlung, die von Oertmann fast ausschließlich, und zwar überaus reichhaltig aus dem Zivilrecht belegt wird, muß im Rahmen dieser Besprechung gänzlich abgesehen werden. Hingegen soll im folgenden die im dritten und letzten Kapitel des Werkes aufgerollte "objektivrechtliche Bedeutung der Verkehrssitte" , d.h. ihre Rolle als Rechtsquelle, ihre Rolle im Obersatz des richterlichen Urteiles, d.i. als abstrakter Rechtssatz in Betracht gezogen werden.

In dieser Rolle kann die Verkehrssitte einen doppelten Charakter haben: eine bloße Auslegungsbedeutung, insofern nämlich, als sie den bereits gegebenen Worten des Gesetzes einen bestimmten Inhalt gibt; oder als in einen gesetzesfreien Raum eintretender delegierter Rechtssatz. Das mit dieser Rolle der Verkehrssitte aufgeworfene Problem, allgemein gefaßt, "ob die in einem Gesetz in Bezug genommene Ausfüllungsnorm, wenn übrigens ohne gesetzliche Kraft, durch die Bezugnahme solche gewinne", verneint Oertmann; "denn es gehört zum Wesen einer wahren Rechtsquelle, daß sie selbständig einen Rechtsinhalt herstellen, nicht nur den in einem anderen Gesetz leer gelassenen Raum ausfüllen kann ... Wohl aber wird das, was die Verkehrssitte anbefiehlt, Stück des Gesetzesinhalts" (S. 364). Die Verkehrssitte erlangt, wie sich auch Oertmann im Anschluß an die Terminologie Walter Jellineks ausdrückt,l1 "abgeleitete Rechtssatzwirkung in allen den Fällen, wo auf sie verwiesen wird, rückt aber, da es, um sie rechtsverII Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, S. 18,40,41 ff., 67.

P. Oertmann: Rechtsordnung und Verkehrssitte

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bindlich zu machen, einer ausdrücklichen Verweisung von Seite des Gesetzrechts bedarf" niemals in die Rolle einer ursprünglichen Rechtsquelle hinauf, wie es allerdings für Oertmann die Rechtsgewohnheit ist. Außer dieser gesetzesergänzenden, ein gesetzliches Blankett rechtssatzähnlich ausfüllenden Funktion der Verkehrssitte kommt ihr analog ihrer vertragsauslegenden Bedeutung - auch die Funktion der Gesetzesauslegung zu. Ihr Herrschaftsgebiet in dieser Rolle ist extensiv noch ein weiteres, da sie sich insoweit nicht nur der rechtsfreien Räume, sondern auch der ausgesprochenen Rechtssätze bemächtigt. Intensiv ist ihre Bedeutung in dieser Rolle allerdings geringer, "weil sie nur ein Hilfsmittel für die Feststellung eines anderweitigen Begriffes darstellt, und zwar keineswegs das einzige oder auch nur durchwegs bedeutsamste." (S. 372) Es muß hier - und zwar nicht ganz in übereinstimmung mit Oertmann - festgestellt werden, daß die Verkehrssitte nur bei ausdrücklicher Aufstellung als gesetzliche Auslegungsregel obligates Auslegungsmittel zu sein hat, sonst aber nur eines der möglichen im Belieben des Rechtsanwenders stehenden Auslegungsmittel ist, ebenso, wie sie nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Verweisung pflichtgemäßes, außer diesem Fall aber immer nur mögliches, nicht obligates Blankett(Lücken- )AusjiUlungsmittel ist. Mit einer Untersuchung der Rolle der Verkehrssitte im Prozeß, die aber hier - weil von fast ausschließlich prozeßrechtlichem Interesse außer Betracht bleiben muß, bringt Oertmann seine überaus tiefgründige Monographie zu einem erschöpfenden Abschluß.

Rezension von:

Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914 Es ist nichts anderes als der tief eingewurzelte, auf die Dauer nicht einzudämmende philosophische Trieb, der dem durch längere Zeit etwas verschmähten Auslegungsproblem in den letzten Jahren so viel eifrige Forscher und aufmerksame Leser verschafft hat. Daß man sich dessen nur einmal bewußt werde: Die Problemstellung der Interpretation ist eine metajuristische, eine philosophische: "Was ist Recht?" Mit einer Einschränkung allerdings: daß nämlich bereits ein Rechtsbegriff gegeben ist; es handelt sich nur um eine Ausführung dieses RechtsbegrifTs, um Folgerungen aus ihm. Sie hat - als eine Art sekundärer Rechtsphilosophie - mit der primären, der die Auffindung des RechtsbegrifTes zufällt, das gemeinsam, daß sie metajuristisch, daß sie durch Gebote des zu erkennenden Objektes nicht determiniert ist. Sie hat z.B. Gebote, Normen - wofern ihr Objekt ein Normsystem ist - zu erkennen, richtet sich dabei aber nicht nach Normen des zu erforschenden Normenkreises (man würde sich da in einem unentrinnbaren Zirkel bewegen), sondern nach immanenten Normen der Rechtswissenschaftslehre, die wie alle Erkenntnisnormen in den breiteren Rahmen der Logik fallen. Wenn wir dieses Prinzip anwenden auf die gesetzlichen Auslegungsregeln, so ergeben sich diese nicht als Vorschriften des Rechtes an die Rechtswissenschaft oder die von ihr geleitete Rechtsanwendung - das würde die Macht der souveränsten Rechtsordnung übersteigen - sondern als gewissermaßen herausgehobene gemeinsame Faktoren aller Rechtsnormen, diese ergänzend, als Influenzierungen des Rechtes durch sich selbst. Über ihnen wie überhaupt dem ganzen Rechte stehen die N armen der Rechtserkenntnis ihnen gegenüber gewissermaßen als Auslegungsregeln von Auslegungsregeln. Der Sachverhalt der Relation zwischen Recht und Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 2. Jg. (1915), S. 392-395.

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I.A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

Rechtswissenschaft ist nicht der, daß dem einen unverrückbaren Rechte verschiedene Erkenntnismethoden desselben gegenüberstünden, sondern verschiedene Erkenntnismethoden der einen Rechtswissenschaft führen zu einer schillernden, verschwommenen Rechtsvorstellung. Durch den Spiegel der Rechtserkenntnis gebrochen, erscheinen mehrere Rechtsbilder; deren Berichtigung aus der Rechtssphäre heraus und damit die Einengung der Erkenntnismethoden zu einer Einheit, zu einem einzigen Strahl, der einlinear den Punkt des Rechtes mit dem seiner Wissenschaft verbinden würde, ist aber ausgeschlossen, da das Recht das logisch Sekundäre, das Erkenntnisobjekt ist. Um die Probe auf die gangbarsten widersprechenden Rechtserkenntismethoden, die man als objektive und subjektive Auslegung einander gegenüberstellt, zu machen, so führen eben diese Vorstellungsgänge zu grundverschiedenen, stark divergierenden Vorstellungsbildern, die, übereinandergebreitet, das Rechtssystem sowie die einzelnen Rechtsnormen als verschwommen erscheinen lassen. Wenn nun, wie so häufig, für das Auslegungsergebnis die Probe aus dem Recht gemacht wird, so führt sie - wie jede mathematische Probe - zum Ausgangspunkt zurück, ist aber gerade darum noch kein (logisch-juristischer) Beweis für die Richtigkeit der betreffenden rechtswissenschaftlichen Methode. Denn diese Richtigkeit wird darin steckt der arge Denkfehler - an einem Maßstab gemessen, der mit dem zu Messenden zusammenfällt. Das Gemessene ist Maß zugleich. Jedes Recht ist (durch die es erkennende Wissenschaft) schon irgendwie "ausgelegt", ist entweder ein Recht der historischen oder der objektiven Auslegung und wird als solches die Auslegungsmethode, die zu ihm geführt hat, notwendig bestätigen. Jedes Auslegungsergebnis der Rechtswissenschaft ist rechtlich einwandfrei, da das Recht das Antlitz seiner Wissenschaft zur Schau trägt. Wie die Rechtsauslegung so das Recht. Mit diesen Leitgedanken wollen wir an Hecks umfassende Monographie über die Auslegung herantreten. Voll des Glaubens an die eine alleinseligmachende Auslegungsmethode, die wir alsbald kennenlernen werden, tritt er an das in seiner Tiefe selten erschaute Interpretationsproblem heran und glaubt es auf seine Art zu lösen, indem erwie alle, die sich aus vermeintlich juristischen Gründen für eine bestimmte Auslegungsmethode entscheiden - in die Problemstellung die

Ph. Heck: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz

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fertige Antwort aufnimmt. Unter dem Gesichtswinkel der von Heck vertretenen "Interessenjurisprudenz" werden alle gangbaren Interpretationsmittel aufgeführt und erfahren eine eigentümliche, dabei aber höchst lehrreiche Beleuchtung. Heck betrachtet sie nicht kritisch, um sie schließlich von ihrem Standpunkt aus gelten zu lassen, er betrachtet sie dogmatisch, um sie darauf von seinem Standpunkte aus zu verwerfen. Seines - wie jedes solchen Interpretationstheoretikers - metajuristischen Standpunktes ist sich Heck sicher bewußt; nur bricht dieses Bewußtsein bloß vereinzelt hervor, geht in der Masse der Ausführungen unter und wäre an vielen Stellen vergeblich zu suchen. "Wir müssen uns immer gegenwärtig halten, daß unser Gebiet nicht durch Gesetzesgebote geregelt ist. Unsere eigene Aufgabe gehört daher nicht in das Gebiet der historischen Forschung, sondern in das Gebiet der Rechtsfortbildung. Die Endprobleme, die wir zu lösen haben, sind Probleme der Normierung. Solche normativen Aufgaben sind einmal zu scheiden von Erkenntnisproblemen. Die Endfrage ist bei ihnen eine 'Sollfrage' und nicht eine 'Istfrage' ." (S. 105) Mit einer nicht gerade empfehlenswerten Terminologie trifft dies doch den Kern der Sache. Die Auslegung, soll damit gesagt sein, schafft das Recht gewissermaßen gedanklich neu; wie es auszulegen sei, darüber entscheidet nicht ein dem Rechte immanentes Sollen, darüber muß ein fremdes (das der Rechterkenntnislehre, wie wir es etwa nennen dürfen) bindend entscheiden. Logisch stehen da wohl immer mehrere Auslegungsmittel offen, und fast durchaus wird es Willkür sein, wenn einzelne oder nur ein einziges herausgegriffen wird. I Eine logische Schranke für die Auslegungstätigkeit liegt nur im vorausgesetzten Begriffsumfang des Auslegungsobjektes, z.B. im Begriffe des Gesetzes, und in den gesetzlichen Auslegungsregeln, mit denen das auszulegende Gesetz seine Grenzen selbst deutlicher umschreibt. Wenn man mit der regelmäßigen Voraussetzung der heutigen Jurisprudenz, mit der Annahme des Gesetzes als oberster Rechtsquelle die Auslegungstätigkeit eröffnet, so steht eine ganze Skala von Interpretationsmöglichkeiten von der extremsten Wortlautjurisprudenz bis I Die oft nicht zu umgehende Wahl zwischen mehreren (logisch gleich zulässigen) Auslegungsmitteln läßt sich logisch nicht mehr begrunden. das tatsächlich gewählte Auslegungsmittel bedarf anderweitiger Rechtfertigung. so der durch die Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit u. dgl.

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I.A. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

weit hinein ins Gebiet der subjektiv-historischen Auslegung offen und jedes der in dieser Skala stehenden Auslegungsmittel - außer es wäre eines ausdrücklich vom Gesetze ausgeschlossen oder ausdrücklich nur eines vom Gesetze zugelassen - sozusagen "im Gesetz begründet". "Für die Gesetzesforschung" , so sagt Heck mit bestem Recht, "gilt das Prinzip der freien Forschung, die Alleinherrschaft der Erkenntniskritik" (S. 92). Gerade diese Alleinherrschaft bedeutet aber wohl eine Mehrheit von Interpretationsmethoden, wobei allerdings die grammatisch-logische Interpretation als die Berücksichtigung der dem Gesetz selbst eigenen Ausdrucksmittel- jedes Gesetz erscheint in der Sprachund Denkform - die primäre Rolle zu spielen berufen ist, während, wo diese zu der für die Rechtsbefolgung und Rechtsanwendung unentbehrlichen Einzigkeit der Lösung (wie in der Regel der Fälle) nicht zu führen vermag, die bunte Menge der Interpretationsmittel, wie der Gerechtigkeit und Billigkeit, der Zweckmäßigkeit, der soziologischen Deutung, der Materialiendeutung oder auch der Interessenjurisprudenz eingreifen mögen. Warum gerade die letzte vor den anderen den Vorzug verdienen soll, ist logisch und juristisch unerfindlich. Es wären eben andere Gründe, die für sich sprechen müßten. Heck geht vom Gebotsbegriffe aus; die Gesetzesnorm ist ihm eine einzelne Erscheinungsform desselben. Wie der Diener dem Gebot des Herrn, so habe der Rechsanwender der Rechtsnorm zu gehorchen. Man kann nicht verkennen, daß dieser Rechtsbegriff von vornherein im Sinne der historischen Auslegung gefärbt ist. Der Blick ist im voraus auf den dem Gesetzestext zu Grunde liegenden subjektiv-psychischen Faktor eingestellt, eben den Faktor, von dem der Vertreter der objektiven Auslegung apriori abstrahiert. Besteht wirklich diese Differenz zwischen dem Gesetze als dem Ausdruck des Gesetzgeberwillens und dem Gesetzestexte, dem nur die wahrhaft sehr bescheidene Aufgabe zukomme, jenen "in authentischer Form festzustellen und mitzuteilen" (S. 76) - dann ist der Rückgriff auf den subjektiven Faktor logisch-juristisch geboten. 2 Läßt man aber den Gesetzesbegriffmit dem Gesetzestext zusammenfallen - und das ist bei der alleinigen Vor-

2 Dann erschöpft sich nämlich das "Gesetz" nicht nur nicht in seinem Texte, sondern ist dieser vielmehr nur eine sehr unvollkommene und möglicherweise auch fehlerhafte Wiedergabe des Gesetzeswillens .

Ph. Heck: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz

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aussetzung, daß "das Gesetz" Rechtsquelle sei, nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern hat vieles für sich -, dann sind die Rückgriffe auf obigen subjektiven Faktor (als ein dem Rechtsbegriffe fremdes Element) unnötig. Man gelangt zu entgegengesetzten Auslegungsergebnissen, da man aber von verschiedenen dogmatischen Ausgangspunkten ausgegangen ist, da man die Resultate schon von seiner eigenen Methode her beeinflußt hat, wird man schwerlich in die Lage kommen, sich gegenseitig mit Grund logische Fehler vorzuwerfen.

Heck berichtigt seine Stellungnahme für die subjektive Interpretation, er engt sie ein im Sinne der von ihm so benannten "Interessenjurisprudenz" . Nicht der im Gesetzestext zum Ausdruck gebrachte Wille, sondern die wahren, dem Gesetzgebungsakt zugrunde liegenden, ihm "ursächlich" gewesenen Interessen seien in letzter Linie entscheidend. Groß ist der Unterschied nicht und die Vertreter der historischen Interpretation werden meist Willen und Interessen der Gesetzgeber für beachtlich angesehen haben. Doch sind Differenzen denkbar. Um ein Beispiel Hecks zu bringen: Der Artillerieoffizier, der den Befehl erhalten hat, eine vermeintlich vom Feinde besetzte Bergkuppe unter Feuer zu nehmen, dem Befehl aber nicht gehorcht, weil er weiß, daß eigene Truppen dort oben stehen, der gehorcht zwar nicht dem zum Ausdruck gebrachten Willen des Befehlshabers - die Beschießung war zweifelsohne faktisch gewollt -, der gehorcht aber dem wahren Interesse, von dem jener Wille nur irrtümlich diktiert war. Als eine bewußt-psychologische Theorie - das Interesse ist nicht weniger eine psychische Erscheinung wie der Wille - gelangt Hecks Theorie zu denselben Schwierigkeiten wie die Willenstheorie, muß unfehlbar auch die unpsychologische Annahme von Durchschnittsinteressen 3 machen und sich in sonstige Widersprüche verwickeln. Für unsere Beweisführung gegen die angemaßte alleinseligmachende Rolle einer einzelnen bestimmten Interpretationsmethode, also sicher auch der Interessenjurisprudenz, ist der die notwendige petitio principii enthüllende Satz besonders von Belang: "Unverbrüchliche Norm ist es, daß der Diener die Interessen des Herrn zu

3 Ein Nachweis der gleichen logischen Zulässigkeit mehrerer Auslegungsergebnisse ist von Verdroß in der Abhandlung "Das Problem des freien Ennessens und die Freirechtsbewegung" im Heft 5/6 des 1. Jg. dieser Zeitschrift erbracht worden.

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wahren hat, nicht eigene." (S. 170) "Norm" - offenbar des Rechtes; daß aber dem Recht, welches nach der Wortlautmeinung, sagen wir Kohlers, völlig dieser Interessen entkleidet, völlig objektiviert ist, daß dem Rechte das Interesse seiner Schöpfer gelegentlich der Schöpfung, oder, wie Heck anzunehmen geneigt ist, gelegentlich der Anwendung4 noch immanent sei, das ist ja doch umstritten, das wäre erst zu beweisen. Daß alle folgenden Argumentationen gegen objektive Theorien von diesem Ausgangspunkte aus sich als Fehlhiebe darstellen und auf den Ausgangspunkt zurückfallen müssen, ist selbstverständlich. Die immanente Rechtfertigung der Interpretationsmethoden, wie sie bisher stets gepflogen wurde (nach der Schablone: sie sind rechtlich geboten, weil sie zum Recht führen), muß ersetzt werden durch Maßstäbe, die dem Auslegungsobjekte transzendent sind.

4 Vgl. Kelsen, Hauptproblerne der Staatsrechtslehre, S. 575.

Rezension von:

Hofacker, Über die Grenzabscheidung zwischen Strafrechtsprechung und Verwaltung, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1914 Die Straffunktion des Staates ist die Materie, wo sich die bei den der Gesetzgebung gegenüberstehenden "Staatsgewalten ", Justiz und Verwaltung, vielleicht am engsten berühren. Die Betrachtung dieses Gebietes, die Aufwerfung der Frage, welche Rolle darin jede der beiden genannten Staatsgewalten spielt, und gar die weitere Frage, ob und inwieweit eine solche Rollenverteilung gerechtfertigt ist, führt zu prinzipiellen Problemen der Rechtswissenschaft. Unser Autor geht aus von einer politischen Erwägung, von der ihm bedauernswerten Feststellung, daß (auf Grund des Entwurfs eines neuen deutschen Strafgesetzbuchs) "die Strafrechtsprechung künftig von der Verwaltung begriffiich und praktisch nicht mehr zu unterscheiden sein wird" und stößt alsbald auf die allgemeinere Frage der Grenze von Justiz und Verwaltung überhaupt. Zu Hofackers Terminologie wäre vorauszuschicken (und zu beanständen), daß er, wie schon im Titel zum Ausdruck kommt, Rechtsprechnung mit Justiz identifiziert, wiewohl nicht anders als in der Justiz auch in der Verwaltung Rechtsprechung (im materiellen Sinn) vorkommt 1 und insbesondere in dem von unserem Verfasser propagierten Verwaltungsstrafrecht zu erkennen ist. (Ein rein formaler RechtsprechungsbegrifT - Rechtsprechung identisch mit Justiz würde sich willkürlich weit vom Wortsinn entfernen und einerseits Justizfunktionen einschließen, die tatsächlich nichts weniger als

Österreichische Zeitschrift rur öffentliches Recht, 2. Jg. (1915), S. 390-392. 1 Dies hat schon mit schlagenden, kaum irgendwie zu entkräftenden Argumenten Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, S. 36 ff. und passim nachgewiesen.

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Rechtsprechung bedeuten, andrerseits wieder Verwaltungsfunktionen ausschließen, die zwanglos in den Wortsinn der Rechtsprechung Subsumtion von Tatbeständen unter Rechtsnormen - fallen würden.) Was vorhin Ho/acker als die voraussichtliche Wirkung der geplanten deutschen Strafrechtsreform erklärt hat, muß er auf Grund seiner prinzipiellen Untersuchungen als bereits für die gegenwärtige Rechtsordnung geltend hinstellen, daß sich nämlich "ein materieller Gegensatz zwischen den Geschäften der Verwaltung und Rechtsprechung 2 aus der Verschiedenheit der inneren Natur der Geschäfte nicht ableiten" lasse, daß ein solcher Gegensatz vielmehr "nur in einer gesetzlichen Regelung, die etwa die Besorgung der Geschäfte der Rechtsprechung begriffiich von der Besorgung der Geschäfte der Verwaltung unterschieden hat, gefunden werden könnte" (S. 6). Es ist dies eine erfreulich prägnante Absage an die Methode, die aus aprioristischen "rechtswissenschaftlichen " Einteilungen positivrechtliche Konsequenzen ableitet, die z.B. in unserem Fall (ganz nach Art der berüchtigten Inversionsmethode der alten Begriffsjurisprudenz) aus einer vorgefaßten Unterscheidung zwischen Justiz und Verwaltung positivrechtliche Unterschiede dieser so benannten Staatsfunktion konstruiert, während uns doch ausschließlich das positive Recht Erkenntnisgrund für eine solche Spaltung der Staatsfunktionen sein könnte. Das in der heutigen Literatur vielleicht gangbarste, aus dem dogmatischen Unterschied von Justiz und Verwaltung gefolgerte Unterscheidungsmerkmal, das/reie Ermessen, welches eben der Verwaltung eigen sei, der Justiz hingegen mangle, erfährt eine eingehende Betrachtung; Ho/acker schließt sich mit feinem juristischen Takt und teilweise mit treffenden Argumenten 3 der neu esten Auffassung an, "daß schon nach bestehendem Recht die ordentliche Gerichtsbarkeit

2 Im formellen Sinn = Justiz. 3 So der - augenscheinlich unabhängig von einem ähnlichen Ausspruch Kelsens (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 505) - also formulierte Gedanke: "Genau besehen, ist dieses Prinzip nur der Ausdruck der ewigen Wahrheit, daß der Mensch teils frei, teils gebunden handelt." (S. 27)

Hofacker: Über die Grenzabscheidung .,.

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der Aufnahme des Elements des freien Ermessens nicht widerstrebt 4 und hiernach zwischen Rechtsprechung und Verwaltung ein begrifflicher Unterschied in dem Sinn, daß freies Ermessen der ordentlichen Gerichtsbarkeit verschlossen ist, während es das Lebenselement der Verwaltung bildet, nicht besteht." (S. 27) Leider ist die aus dem bisher Angeführten so erfreulich deutlich hervorleuchtende positivistische RechtsaufTassung noch nicht so weit gefestigt, daß sie sich in jeder Lage bewähren würde. - Nach dem österreich ischen Vorbild, das Ho/acker in längerem Exkurs betrachtet, fordert er auch für das Deutsche Reich die Zuweisung des Strafverfahrens auf Grund der strafrechtlichen (in der Hauptsache meist verwaltungsrechtlichen) N ebengesetze (so z.B. der Gewerbeordnung, der Wassergesetze, der Straßenpolizeiordnungen usw.) an die Verwaltungsbehörden. Dies mag sachlich, politisch, ökonomisch höchst begründet sein, juristische Gründe hat eine solche Verwaltungsreform (wie überhaupt jede Reform des Rechtes) nie für sich. Wenn sich Ho/acker aus dieser Kompetenzverschiebung eine innere juristische Wandlung verspricht, so begegnet uns hier unvermutet wieder die alte Inversionsmethode . Durch die bloße Kompetenzverschiebung ändert sich ipso iure nichts als die zur Anwendung kompetente Behörde, sonst nichts juristisch Relevantes;5 es können sich bei einer solchen Kompetenzverschiebung alle übrigen Bestimmungen gleich bleiben, es mag volle "Justizförmigkeit,,6 bestehen bleiben und der positivistisch denkende Jurist wird 4 Vgl. Verdroß, Das Problem des freien Ermessens und die Freirechtsbewegung, 1. Jg., 5./6. Heft dieser Zeitschrift, wo diese Auffassung am entschiedensten zum Ausdruck kommt. 5 Faktische Unterschiede in der Rechtsanwendung mögen ja hervortreten, so z.B. eine Verschärfung der Strafen, eine strengere Verfolgung des wirtschaftlich Schädlichen an Stelle des von den Gerichten mehr beachteten moralisch zu Mißbilligenden. 6 Vom Standpunkt des Rechtspositivismus aus ist übrigens auch der jetzt so oft vernommene Ausdruck "Justizförmigkeit" verwerflich; wohnt ihm doch die durchaus apositivistische, naturrechtliche Vorstellung eines von positivrechtlicher Regelung unabhängigen, begriffsnotwendigen, selbstverständlich-natürlichen Aufgabenkreises und insbesondere Verfahrensmodus der Justiz inne, eine Vorstellung, die zum Vergleichsmaßstab der jeweiligen positivrechtlichen Gestaltung von Justiz und Verwaltung erhoben, diese - heute immer mehr - als justizförmig, jene aber möglicherweise - und hier wird die naturrechtliche Vorstellungsweise erst recht offenbar - die Justiz also denkbarerweise in mangelnder "Justizförmigkeit" erscheinen läßt. Gewonnen ist der Begriff der Justizförmigkeit allerdings nicht - wie das Naturrecht im engem Sinn - durch willkürliche Konstruktion (eines Justizbegriffes), sondern durch Abstraktion der durch die Erfahrung gegebenen Regelmäßigkeiten in den positivrechtlichen Gestaltungen der Ju6 A. J. Merk!

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doch in diesem Strafverfahren eine Verwaltungssache zu erkennen haben - aus dem einzigen juristischen Erkenntnisgrunde, daß diese Funktion dem als Verwaltungsbehörde bezeichneten Staatsorgan übertragen ist. Um einen für den Methodenwechsel bezeichnenden Gedankengang hervorzuheben: Das Legalitätsprinzip, welches nach Ho/ackers Ansicht und Wunsch die bewußten Partien des Strafrechts mit dem Übergang auf die Verwaltung abstreifen würde, ist der Justiz ebensowenig begrifTsnotwendig allein eigen wie der Verwaltung das freie Ennessen. Mit dieser theoretisch-juristischen Verwahrung ist Ho/ackers Forderung aus sachlichen Gründen durchaus recht zu geben. Das von Ho/acker so treffiich begründete Verlangen nach einem teilweisen Abbau der Aufgaben der Justiz durch Ausscheidung der Ahndung von Polizeiübertretungen wird man wohl nur begrüßen können; zumal für das Recht des deutschen Reiches, wo nach Ho/ackers beweglicher Klage die meisten Verwaltungsgesetze den Riß aufweisen, daß die Praktizierung des Anhangs der Strafbestimmungen den Gerichten überwiesen ist, wogegen sie in der Hauptsache dem Betätigungsfeld der Verwaltung angehören'? Durch diese Zäsur und die damit gegebene Isolierung wird die Strafe, die sich in den Händen des zur Durchführung des ganzen Gesetzes berufenen Verwaltungsbeamten meist nur als untergeordnetes Mittel zum Zwecke darstellen dürfte,

stiz, eine Abstraktion, die nun, nach der bekannten Inversionsmethode mit selbständigem Inhalt gefüllt, der neuen konkreten Erscheinung der Justiz vergleichsweise gegenübergestellt wird. De iure ist selbstverständlich die ganze Justiz, wie sie durch eine konkrete Rechtsordnung gegeben ist, aber auch nur sie "justizförmig". 7 Die Tendenz der österreichischen Gesetzgebungspolitik nähert sich übrigens dem von Hofacker als reforrnbedürftig hingestellten deutschen Rechtszustande, indem wir kaum irgendein Spezialgesetz (namentlich auf wirtschaftspolitischem) Gebiete erleben, das die Strafkompetenz nicht in einer sprunghaften und in ihrem legislativpolitischen Motiv nicht leicht einzusehenden Weise auf Justiz und Verwaltung verteilen würde. Man braucht übrigens - dies gilt auch gegen Hofacker - die legislativpolitische Bedeutung des Problems: Strafkompetenz des Richters oder des Verwaltungsbeamten? natürlich mit Rücksicht auf den Umstand nicht allzuhoch zu veranschlagen, als ja über die wichtigste Frage, gerade über die Frage, wo sich der große Vorzug der richterlichen Kompetenz, nämlich die richterliche Unabhängigkeit, am vorteilhaftesten geltend machen könnte wir meinen die Frage, ob überhaupt ein Strafverfahren stattzufinden habe -,auch in den Fällen richterlicher Strajkompetenz (von Privatanklagedelikten abgesehen) ein an Dienstbefehle gebundener Verwaltungsbeamter zu entscheiden hat.

Hofacker: Über die Grenzabscheidung ...

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nur allzu sehr überschätzt und allzu leicht zum Selbstzweck erhoben. Vorbeugen und schatTen sind edlere Aufgaben des Staates als strafen.

Rezension von:

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Jg., Heft 5-6, Wien 1914 Durch die kriegerischen Ereignisse in seinem Erscheinen etwas verspätet, jedoch inhaltlich unberührt, liegt das letzte Doppelheft des ersten Jahrganges dieser neugegründeten Zeitschrift vor uns. Klang und Bedeutung der Namen der Herausgeber und des Redakteurs hatten im voraus schon den Hochstand innerhalb der juristischen Zeitschriftenliteratur verbürgt, den diese Zeitschrift bereits im Gründungsjahre einzunehmen berufen sein sollte. Die unbestreitbare Ebenbürtigkeit und der brüderliche Wettbewerb mit ähnlichen Zeitschriften des Deutschen Reiches schließt eine spezifisch österreichische Färbung nicht nur nicht aus, sondern bedingt sie geradezu. Von den vier Abhandlungen unseres Heftes behandeln zwei rechtsphilosophische, zwei positivrechtliche Probleme (des österreichischen Verwaltungsrechts). Das erste Thema "Die Ausgestaltung des österreichischen Nationalitätenrechts durch den Ausgleich in Mähren und in der Bukowina" von Hofrat Prof. Dr. Rudolf v . Herrnritt schlägt eine rein österreichische Note an. Es durfte fürwahr nicht das erste Jahr des Bestandes einer dem öffentlichen Recht Österreichs gewidmeten Zeitschrift vorübergehen, ohne daß das für Österreich so aktuelle, durch die internationale Krise, die eine innerstaatliche Verständigung umso wünschenswerter macht, noch aktueller gewordene N ationalitätenrechtsproblem zur Sprache gebracht worden wäre.

Nationalitätenprobleme von größerer oder geringerer Bedeutung gibt es anderweit auch, aber nicht so bald ist es irgendwo zugleich so sehr ein Rechtsproblem, weil selten in dem Maße wie bei uns von der Verschiedenheit der Nationalität der Staatsangehörigen durch die

Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung, 66. Jg. (1915), S. 130-133.

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staatliche Rechtsordnung Notiz genommen ist. Während nämlich in anderen Ländern, und zwar in manchen stark gemischtsprachigen nicht weniger als in solchen mit annähernd einheitlicher Sprache, die Nationsunterschiede von ihrer politischen Bedeutung abgesehen eine lediglich ethnographisch oder soziologisch gewürdigte Tatsache geblieben sind und es somit z.B. für das Deutsche Reich (und sein Recht) nur ein deutsches Volk, für die ungarische Rechtsordnung nur eine ungarische Nation gibt, unterscheidet unsere Rechtsordnung unter dem Oberbegriff des einen Staatsangehörigen, des Österreichers, verschiedene Volks angehörige . Während anderweit nationaler und juristischer Begriff - sagen wir des Ungarn - auseinanderfallen, ist bei uns der nationale Begriff als solcher zu einem juristischen erhoben. Diese bloße Kenntnis- und theoretische Rücksichtnahme auf die Verschiedenheit der Nationalitäten durch die Rechtsordnung, wie sie in dem Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zum Ausdruck kommt, ist an sich schon ein versöhnliches, die nationalen Gegensätze überbrückendes Prinzip. Dies wird um so klarer, wenn man sich vorhält, daß der Mangel solcher Kenntnisnahme, das Fehlen eines N ationalitätenrechts in der Regel die alleinige Herrschaft einer einzigen Nation bedeutet. Nach dezennienlangen, mehr oder minder glücklichen Versuchen zur Fortbildung des zitierten nationalitätenrechtlichen Ansatzes unserer Verfassung im Gesetzgebungs- und Verordnungswege 1 stellen die von Herrnritt behandelten "Ausgleiche" in Mähren und der Bukowina auch nach dem Urteil unseres Verfassers so ziemlich das Bestmögliche an nationaler Gesetzgebung dar. Es ist z.B. eine beträchtliche Leistung, wenn durch die Garantie bestimmter nationaler Besitzstände an Landtagsmandaten aus dem Landtagswahlkampf der beiden Kronländer nationale Gegensätzlichkeiten notwendig ausgeschaltet sind. Dankenswert ausführlich befaßt sich unser Autor mit der konkreten Lösung der für jedes N ationalitätenrecht fundamentalen Frage, was als juristischer Erkenntnisgrund der Zugehörigkeit zu einer Nationalität zu gelten habe, insbesonder inwieweit unsere Ausgleichsgesetze der - von

xv.

Vgl. Die österreichischen Verfassungsgesetze von Edmund Bernatzik, 2. Aufl., S.

Österreichische Zeitschrift ftir öffentliches Recht

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Bernatzik? so entschieden vertretenen - Forderung, daß - analog dem religiösen Bekenntnis - das persönliche Bekenntnis zu einer Nationalität maßgebend sein solle, gerecht geworden ist. - Das Bedenken unseres Autors ist das allgemeine gegenüber dem Föderalismus: Je mehr die Volksstämme - wie auch die Kronländer - rechtliche Berücksichtigung finden, desto mehr wird dadurch, wenigstens der Idee nach, der Einheitsstaat dezentralisiert. Aber da nun einmal die nationalen Unterschiede bestehen, erscheint es - wohl auch im Sinne unseres Autors - besser, sie abgrenzend zu kodifizieren, als sie von gesetzeswegen zu ignorieren. Sogar die langsame und mühsame länderweise Kleinarbeit ist da einem resultatlosen Streben nach einer großzügigen gesamtstaatlichen Regelung der Nationalitätenfrage, die ja auch notwendig im föderalistischen Geiste stünde, vorzuziehen. Ein Gebiet, das dem Richter näherliegt, ja das teilweise völlig in sein Fach einschlägt, betritt Dr. Alfred v. Verdroß mit seiner Arbeit: "Das Problem des freien Ermessens und die Freirechtsbewegung" . Das letzte Wort genügt, um die Aktualität des Themas darzutun, denn man darf darüber nicht im Zweifel sein, daß die Freirechtsbewegung noch lange nicht im Abflauen, sondern immer noch im Anschwellen begriffen ist. Unsere Abhandlung ist eine Kampfschrift gegen sie, doch kämpft sie nicht mit den gegenüber dem Freirecht üblichen Waffen rechtspolitischer Natur, die ja auch ihre Berechtigung haben, sondern mit rein logisch-erkenntniskritischen Argumenten, wie sie der unserer Schrift zugrunde liegenden, ganz unpolitischen Theorie des juristischen Positivismus einzig zustehen. Die - wie man auf den ersten Blick sieht: vernichtende - Waffe liegt nämlich in dem Nachweis, daß, was das Freirecht für den Richter als bisher unerfülltes Novum fordert, er nach der heutigen Rechtslage - nicht allerdings nach der heute herrschenden Rechtslehre - bereits hat. Man ist gewöhnt, das freie Ermessen als eine Eigentümlichkeit des Verwaltungsrechtes anzusehen; unsere Abhandlung läuft aber gerade auf eine Erkenntnis im judiziellen Rechtsgebiet hinaus, nämlich die, daß schon nach dem geltenden, vom Freirecht wegen seiner Unfreiheit so sehr befehdeten positiven Recht dem Richter nicht anders als 2 Bernatzik, Nationale Matriken, 1910.

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dem Verwaltungsbeamten freies Ermessen zusteht, so daß sich die ganze Freirechtsbewegung als ein Hieb ins Leere darstellen muß. Denn was will die Freirechtsbewegung, wofern sie überhaupt Gesetzesrecht anerkennt, anderes, als daß das Gesetz dem Richter mehr oder minder freies Ermessen lasse? Daß die ganze Tendenz des Freirechts daraufhinausläuft, ergibt sich auch negativ daraus, daß sie die Verwaltung - als die angeblich alleinige Domäne des freien Ermessens - bei ihren Reformbestrebungen außeracht läßt und nur auf die Justiz abzielt, der eben etwas Ähnliches heute noch mangle. Wenn Verdroß seinen Ausgangspunkt von den beliebten Ausblicken aufs gelobte Land der richterlichen Freiheit, auf England, nimmt, auf das die FreirechtIer so gern verweisen, sobald sie an den" Ketten" des kontinentalen Richters gehörig gerüttelt haben, so erinnert sein Ziel an das Dichterwort: "Wozu denn in die Ferne schweifen? Sieh', das Gute liegt so nah'!": Ein tüchtiges Maß richterlicher Freiheit vom Gesetz auch auf dem Kontinente, auch bei uns. Allerdings spricht auch schon die herrschende Lehre dem Richter ein Ermessen zu; aber abgesehen davon, daß man es nur als Ausnahmserscheinung gelten läßt, so daß man es von seinem Anwendungsgebiet aus (Strafspielräume, Bemessung des Schadenersatzes) auf andere Fälle keineswegs analog übertragen dürfe, sieht man es in dieser Vereinzelung überdies noch für grundsätzlich "gebunden" an; gebunden durch die gesetzliche Anschauung über das "öffentliche Interesse" während der Verwaltungsbeamte bei freiem Ermessen seiner eigenen Ansicht über das im "öffentlichen Interesse" Gelegene zum Durchbruch verhelfen dürfe. 3 Doch nicht nur die Erfahrungstatsache, daß die Ansicht des Gesetzgebers über das "öffentliche Interesse" in jedem einzelnen Falle festzustellen geradezu eine psychologische Unmöglichkeit ist, sondern vor allem die Theorie des juristischen Positivismus, wie sie am extremsten und konsequentesten Kelsen in seinen "Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" niedergelegt und Verdroß sich zum dogmatischen Ausgangspunkt gemacht hat, verbietet es unserem Autor, eine "Bindung" anzunehmen, die nicht vom Gesetz ausginge. Eine gesetzliche Bindung an eine bestimmte Zweckmäßigkeits3 Vgl. Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen, 1910.

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erwägung wird man aber in den Fällen des richterlichen Ermessens vergebens suchen; de iure besteht also keine Schranke. übrigens steckt in der Vorstellung eines "gebundenen Ermessens" eine contradictio in adiecto. "Soll Bindung und Ermessen, Pflicht und Freiheit in derselben Sache einen Sinn ergeben, so muß, wenn die Freiheit vom Rechte gegeben ist, die Pflicht aus einer anderen Quelle entspringen" , 4 so ist sie nicht mehr Merkmal der juristischen Ermessensfrei heit. Andrerseits ist der Verwaltungsbeamte trotz aller Freiheit seines Ermessens nie so frei, daß er vom Gesetz völlig unabhängig wäre. Zum mindesten ist er nämlich formal durch das Gesetz gebunden, indem es ja doch das Gesetz sein muß, das ihm die Ermessensfreiheit verleiht. "Alle Staatshandlungen", so sagt Verdroß im Anschluß an einen Grundgedanken Kelsens, "müssen formal und können inhaltlichmateriell - wenn auch niemals ganz - durch das Gesetz determiniert sein." Doch ebenso wie der Rechtsanwender nie völlig frei sein kanndie Wurzel der Unfreiheit liegt eben in der Freiheitsverleihung durch das Gesetz - ebensowenig kann er völlig durch das Gesetz gebunden sein; die Richter wiederum geradeso wenig wie der Verwaltungsbeamte. "Freies Ermessen", so definiert Verdroß den Gegenstand seiner Untersuchung, "liegt ... dann vor, wenn und insoweit bei der Handlung eines Organes ... nur eine formale, aber keine inhaltliche Relation zur Rechtsordnung gegeben ist". Eine durchgängige inhaltliche Relation zwischen der Rechtsnorm und dem Rechtsanwendungsfall, eine erschöpfende Determinierung des Rechtsanwenders durch die Rechtsordnung stellt sich aber als unmöglich heraus. Auch in jedem richterlichen Urteil finden sich Elemente, die nicht durch logisches Schließen aus dem Rechtssatz als Obersatz geholt sind. Auch der Richter ist notwendig teilweise vom Gesetze frei - nicht anders als der Verwaltungsbeamte. Ob nicht minder - das gehört auf ein anderes Blatt. Denn das Maß des richterlichen Ermessens - nicht so, wie gezeigt, das Ob - ist, wofern man von einer bestimmten positiven Rechtsordnung absieht, nicht mehr Frage der Rechtserkenntnis, der Rechtslehre, sondern der Zweckmäßigkeitserwägung, der Politik.

4 Merkl, Rezension von: E. Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Österrei· chische Zeitschrift für öffentliches Recht, I. Jg., S. 573.

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Ein schwieriges Grenzgebiet zwischen Staat und Kirche betritt Professor Dr. Kamill Henner mit seiner kurzen, aber tiefgreifenden Arbeit: "Zur Frage des staatlichen Taufzwanges in Österreich". Die Lösung dieser Frage durch unseren Autor geht dahin, daß für das staatliche Bereich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, soweit darüber der Staat überhaupt verfügen kann, mit der Zuweisung durch den Staat gegeben ist. Ein Zwang zur Taufe, die eine rein kirchliche Einrichtung ist, über welche der Staat nicht frei verfügen kann, steht schon mit Rücksicht auf die Kirchen dem Staate nicht zu. An die letzten Grenzen seiner Disziplin rührt Ernst Radnitzky mit seinem Aufsatz: "Dispositives Völkerrecht". Es handelt sich um einen der jetzt so häufigen Versuche zu einer Neukonstruktion des Völkerrechts, an dessen Rechtsnatur bekanntlich sogar die stärksten Zweifel laut geworden sind. Radnitzky sucht das Völkerrecht zu einem Großteil, wenn nicht zur Gänze zu erklären als den Inhalt von Parteivereinbarung, als Willensprodukt vertragschließender Staaten. Die Rechtsverbindlichkeit solcher Vertragsbestimmungen ist aber doch abhängig von einem überstaatlichen, völkerrechtlichen Satz, etwa des Inhalts: Verträge zwischen Staaten sollen gehalten werden. Bloß dispositives Recht ist undenkbar. Auch in dem zum Vergleich herangezogenen Privatrecht gelten Vertragsbestimmungen in letzter Linie nicht kraft Parteiwillens, sondern kraft Gesetzes - das sie eben unter gewissen Voraussetzungen für rechtsverbindlich erklärt. Radnitzky steht von seinem Standpunkt aus nicht mehr fern dem letzten konsequenten Schritte von Verdroß, der überhaupt das ganze Völkerrecht auf staatliches Recht reduziert. 5 Möge diese doppelte Krise - die der Theorie des Völkerrechts gleichzeitig mit der Krise, die der Krieg in der Praxis des Völkerrechts hervorgerufen hat - nicht noch zu der letzten Krise führen: zu der der Völkerrechtsidee!

5 ZeitschriftfürVö1kerrecht, Jg. 1914, S. 329tT.

Rezension von:

Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle a.d.S. 1911 Rudolf Stammler, der Rechtsphilosoph, dem wir in seinem Werke: "Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung" eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Recht und Wirtschaft verdanken, der uns in seiner "Lehre vom richtigen Rechte" eine Auseinandersetzung zwischen dem Recht und anderen verwandten Normensystemen gegeben hat, stellt uns nach dieser doppelten actio finium regundorum in seinem letzten großangelegten und umfangreichsten Hauptwerk vor die Frage nach dem Wesen des derart abgegrenzten Rechtes. Ergibt sich im erstgenannten Werke das Recht als eine Form der sozialen Seinswelt, welche Stammler unter dem von ihm sehr weitgedehnten Worte "Wirtschaft" zusammenfaßt, und stellt sich das Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft als das zwischen Form und Inhalt dar; zeigt uns das zweite Werk das Recht im Verhältnis zu anderen Normsystemen, insbesondere zu dem der "Richtigkeit" oder Gerechtigkeit, so wird in unserem Werke von diesen Relationen zu den angrenzenden metajuristischen Gebieten abstrahiert und eine Erkenntnistheorie des Rechtes geboten. Die "Theorie der Rechtswissenschaft" - wie sich jetzt schon zeigt, mehr eine Theorie des Rechtes - würde nach Stammlers eigenem Zugeständnis entsprechender "reine Rechtslehre" heißen (S. 32), wird aber aus dem Grunde nicht so bezeichnet, um einer Verwechslung mit einer "allgemeinen Rechtslehre" vorzubeugen. Stammlers reine Rechtslehre erweist sich denn auch mit einem einzigen vorläufigen Worte als ungleich "allgemeiner" denn die sogenannten "allgemeinen Rechtsleh-

Österreichische Zeitschrift rur öffentliches Recht, 2. Jg. (1915), S. 113-123.

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ren". Diese bieten Abstraktionen aus positivem Recht, heben gewissermaßen die gemeinsamen Faktoren aus bestimmten Normenkreisen heraus: so den Vertrag aus dem Privatrecht und Schuld und Strafe aus dem Strafrecht; so die Rechtsquelle oder den Rechtsschutz aus einer ganzen Rechtsordnung; und auch wo die Grenzen eines bestimmten positiven Rechtes überschritten werden, um das verschiedenen Rechtsordnungen Gemeinsame zu sammeln und in ein System zu bringen, braucht noch nicht eine allgemeine Rechtslehre in Stammlers Sinn vorzuliegen, da und insoweit sich jenes "allgemeine Rechtssystem" immer noch aus positivrechtlichen Bausteinen zusammensetze. Der weiteste Begriff, mit dem die allgemeinen Rechtslehren operieren, ist Stammlers reiner Rechtslehre engster: Es ist der Rechtsbegriff. Er, der der "allgemeinen Rechtslehre" notwendige Voraussetzung und Anfangspunkt ihres Gedankenganges ist, darf für die "reine Rechtslehre" in Stammlers Sinn als Endpunkt und Forschungsresultat gelten, wenn auch Stammler über diesen Punkt ein wenig hinausgeht und noch Fragen in sein Betrachtungsfeld einbezieht, die regelmäßig auch die sogenannten "allgemeinen Lehren" behandeln. Den Rechtsbegriff muß man sich als den Punkt vorstellen, wo sich die beiden Lehrarten treffen - die reine Rechtslehre, indem sie ihn sucht und gewinnt, die allgemeine Rechtslehre, indem sie ihn voraussetzt und zur Basis nimmt. Das Bedenken, eine Wissenschaft, die im Rechtsbegriff gipfelt, in gleicher Weise als Rechtslehre zu bezeichnen, wie eine, die im Rechtsbegriffe wurzelt, und den Unterschied bloß durch die keineswegs charakteristischen Ausdrücke "rein" und "allgemein" zum Ausdruck kommen zu lassen, erweist sich nunmehr als sehr begründet. "Die reine Rechtslehre", sagt Stammler, "gibt das System der Denkformen, deren Beobachtung notwendig ist, um ein gewisses Wollen als rechtlich zu bestimmen und nach dem Grundgedanken des Rechtes zu richten ... Demgegenüber bietet eine allgemeine Rechtslehre eine verhältnismäßige Wiedergabe von bestimmtem rechtlichen Stoffe" (S. 27/28). Der bestimmte rechtliche Stoff oder, man darf wohl auch sagen: ein positivrechtlicher Gehalt ist der reinen Rechtslehre nicht eigen.

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Aber - und jetzt kommt die zweite, sehr begründete Verwahrung Stammlers - doch nicht bloß in dem Sinne nicht eigen, daß die Positivität nur für die Gegenwart nicht vorliege, jedoch für die Zukunft erwartet werde. Der Inhalt von Stammlers reiner Rechtslehre steht nicht etwa in einer noch nicht rechtlichen, aber nach der Rechtlichkeit oder Positivität tendierenden Gesolltheit, bewegt sich nicht in einem Bereich von Normen, sondern in einer lediglich dem Bereich des Seins angehörigen Begriffswelt. Sehr richtig bemerkt Stammler: "Man war eben seit langem an die Annahme gewöhnt, daß es nur zwei grundlegende Möglichkeiten gebe: entweder die Erkenntnis des der Geschichte bedingt erwachsenen Rechtes oder als Gegenstück das Ersinnen und Fordern von Rechtseinrichtungen, die man aus freier, von der Vergangenheit unabhängiger Zielsetzung aufstelle." (S. 32) Nachdem für die reine Rechtslehre vorhin ein positivrechtlicher Inhalt abgelehnt worden war, wird nunmehr auch ein naturrechtlicher von der Hand gewiesen: "Wir suchen nicht nach einem vollkommenen Rechtsinhalte und fragen nicht nach einem idealen Rechte." (S. 33) Nach Stammlers Programm "handelt es sich bei der reinen Rechtslehre ... überhaupt nicht um die Besonderheiten eines Rechtsinhaltes, gar nicht um stomich gefüllte Rechtsnonnen und Rechtsinstitute" also auch nicht um solche des Naturrechts - "sondern um die allgemein gültige Art und Weise des juristischen Denkens." (S. 33) "Das Merkmal der Allgemeingültigkeit kann ausschließlich dem ordnenden Verfahren der Rechtsgedanken in seiner fonnalen Bedeutung zukommen." (S. 5) Eine Allgemeingültigkeit der reinen Rechtslehre in diesem Sinne, wobei es nötig ist, "daß man jeden Gedanken an allgemein gültige Rechtssätze beiseite läßt", ist nicht nur ohneweiters zuzugeben, sondern auch von ihr, soll sie ihren wissenschaftlichen Zweck erfüllen, zu fordern. I I Damit zeigt sich ein zweiter Grund, dem Namen "reine Rechtslehre" auszuweichen. Denn gerade eine Summe "allgemein gültiger" (für sämtliche Rechtssysteme als deren normatives Minimum in naturrechtlicher Geltung stehender) "Rechtssätze" wird unter dem Namen der "reinen Rechtslehre" häufig verstanden. Unter vielen derartigen Beispielen sei nur auf den besonders charakteristischen Satz Schopenhauers (Die Welt als Wille und Vorstellung; Ausgabe von Köhler bei Weichert in Berlin, viertes Buch, S. 344) verwiesen: "Nur wenn die positive Gesetzgebung im wesentlichen durchgängig nach Anleitung der reinen Rechtslehre bestimmt ist und für jede ihrer Satzungen ein Grund in der reinen Rechtslehre sich nachweisen läßt, ist die entstandene Gesetzgebung eigentlich ein positives Recht und der Staat ein rechtlicher Verein, Staat im eigentlichen Sinne des Worts, eine moralisch zulässige, nicht unmoralische Anstalt."

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Die Aufgabe der reinen Rechtslehre sieht nun Stammler darin, daß "sie den Begriff des Rechtes untersucht und die Gedankengänge darlegt, die jeder einschlagen muß, um Ordnung und Einheit in seinen rechtlichen Erwägungen zu haben, Verwirrung seiner Vorstellungen zu vermeiden und nach den obersten Grundsätzen alles Rechts eine jeweils richtige Entscheidung begründet auswählen zu können" (S. 330). Als "die drei Fragen der reinen Rechtslehre" hat Stammler bereits in seiner "Lehre vom richtigen Rechte" und nunmehr auch hier (S. 35) die nach dem Begriff, der Geltung und der Richtigkeit des Rechtes hingestellt. Daß die Hauptaufgabe einer "reinen Rechtslehre" (was Stammler darunter versteht) mit der Entwicklung des Rechtsbegriffes gelöst ist, leuchtet ein, und daher soll dieser Begriffsentwicklung das Hauptaugenmerk geschenkt sein. Zunächst muß der Methode dieser Begriffsentwicklung ein Wort gewidmet werden. Vor allem sei festgestellt, daß, was Recht ist, niemals sich beweisen läßt. Es ist immer - wie jede ursprüngliche Verbindung von Wort und Begriff - die willkürliche Bezeichnung einer bestimmten sozialen Erscheinung, die auch anders heißen könnte. Unter diesen Umständen könnte dermaßen vorgegangen werden, daß zuvörderst eine bestimmte empirisch gegebene soziale Erscheinung mit dem für sie hergebrachten Namen "Recht" bezeichnet und nunmehr - induktiv-synthetisch - nach höheren Kategorien, auf die diese Erscheinung zurückführt, gefragt und sie ihnen gegenüber abgegrenzt und dadurch begriffiich fixiert wird. Stammler geht von einer apriori angenommenen übergeordneten höchsten Kategorie der Rechtserscheinung oder vielmehr des Rechtsbegriffes aus, um deduktiv-analytisch durch fortgesetzte Spezifikation zum Rechtsbegriffe zu gelangen, was natürlich nicht schwer fällt, da der Begriffsinhalt immer in einer Weise erweitert und der Begriffsumfang in einer Weise verengt wird, daß schließlich der unzweifelhaft schon von Anfang an vorschwebende Rechtsbegriff zu Tage tritt. Diese Operation wird um so leichter, als die auf dem Wege der Spezifikation eliminierten Begriffselemente derart unbestimmt sind, bzw. unter derart unbestimmter Bezeichnung auftreten, daß ihnen un-

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schwer gerade der Sinn unterlegt werden kann, der dem resultierenden Rechtsbegriffe nicht zukommen soll. Zur allgemeinen Verständigung erscheint es nicht unnötig zu erwähnen, daß Stammler nach philosophischen Mustern den jeweils engeren Begriff als den "Stoff" bezeichnet, dem gegenüber sein Oberbegriff als "bedingende Form" auftritt. "Beides" - Form und Stoff "vereint bildet den Inhalt eines bestimmten rechtlichen Bewußtseins" (S. 36). Den Oberbegriff des Rechtes muß Stammler, wenn er von ihm ausgeht, natürlich willkürlich ansetzen; es ist ihm der des Wollens. "Der Begriff des Rechtes ... fügt sich als eine eigene Weise des Denkens in noch allgemeinere Gedankengänge ein." (S. 43) Die psychischen Funktionen - oder halten wir uns vorsichtshalber an das Wort "Gedankengänge"! - teilt Stammler - insoweit mit der Mehrzahl der psychologischen Systeme im Einklang - in solche des Wahrnehmens und Wollens ein. Als eine der möglichen verschiedenen "Arten des Wo liens erscheint das Recht" (S. 43). Und zwar ist "der Gedanke des Rechtes ... eine notwendige Ausführung der unbedingt möglichen Arten des Wollens" (S. 44). "Wollte jemand ihn streichen, so würde er das folgerichtige Ausdenken der allgemein gültigen Möglichkeiten des Wollens abbrechen. Und umgekehrt gelangt jeder, der jenem Wege folgt, notwendig zu einer Art des Wollens, die den Gedanken des Rechtes wiedergibt. Das Recht ist somit ein unbedingt gültiger Begriff." (S. 44) Diese Sätze, die überhaupt für die Ausdrucksweise Stammlers charakteristisch sind, räumen zunächst im allgemeinen dem Recht einen Platz im Wollen ein. So fest scheint Stammler das Recht im Wollen eingebaut zu sein, daß ihm nicht nur ein Recht, das kein Wollen wäre, eine Utopie sein muß, sondern daß ihm auch ein System des Wollens, in dem sich das Recht nicht fände, ein Torso wäre. Vorerst muß das Recht als Gedanke festgeigt sein, ehe es als "Wollen", das für Stammler nur eine besondere Art des" Denkens" im weitesten Sinne ist, bezeichnet werden kann. Hier scheint sich eine tiefgreifende Fehlerquelle aufzutun.

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Der" Begriff des Rechtes" kann freilich "als eine eigene Weise des Denkens in noch allgemeinere Gedankengänge" (S. 43) eingeordnet werden. Wie jeder Begriff ist zwar auch der Begriff des Rechtes eine psychische Erscheinung (gleich etwa der Vorstellung des Rechtes) und fällt als solche in die Kategorie des "Wahrnehmens". Ist das aber auch mit dem Rechte selbst der Fall, mit dem Inhalte des Begriffes mit dem Vorgestellten einer Vorstellung?2 Stammler selbst ordnet das Recht nicht derselben Kategorie psychischer Erscheinungen ein, der - wohl unbestritten - der Begriff des Rechtes angehört: nicht dem Wahrnehmen, sondern dem Wollen. Wenn sich nun schon in Stammlers Vorstellung der Begriff des Rechtes und das Recht selbst dermaßen scheiden, daß dieses in eine andere Art des Denkens eingereiht wird, als welcher jener unbestritten angehört, dann rückt die Frage näher, ob wohl das Recht - so wie sein Begriff - überhaupt eine "Art" des Bewußtseins sein muß, das sich nach Stammler in den bei den Arten des "wahrnehmenden" und "wollenden Bewußtseins" (S. 55) offenbart. Mit bestem Grunde sagt Stammler wiederholt vom Rechte (insbesondere S. 48), daß es "ja doch nur ein Bewußtseinsinhalt" ist. Nur möchten wir die Konsequenz vermeiden, die Stammler aus diesem richtigen (vom Standpunkte des erkenntnistheoretischen Idealismus selbstverständlichen) Satz zu ziehen scheint. Wenn nämlich für Stammler hiemit bereits die Notwendigkeit des psychischen Charakters des Rechtes festzustehen scheint, so geben wir in diesem Stadium bloß eine solche Möglichkeit zu (die wir uns später ausdrücklich zurückzunehmen vorbehalten). Zwar ist dem Rechte jede Realität in der Außenwelt abzusprechen, zwar lebt es - auch wohl im Sinne eines extremen Realismus - nur in den menschlichen Gedanken, aber doch als etwas von den Gedanken, welche es fassen, Verschiedenes, als Inhalt ihrer Form, als Bewußtseinsinhalt, wie wir nochmals mit Stammler betonen, aber nur, indem

2 Beiläufig sei hier nur festgestellt, was Stammler zu wenig beachtet hat, daß man unter Wollen etwas Doppeltes verstehen kann: den Willensakt und Willensinhalt.

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wir den Ton auf den zweiten Bestandteil des zusammengesetzten Wortes legen. Dieser Bewußtseinsinhalt kann nun bekanntlich selbst wieder psychischer Natur sein - so kann eine Erscheinung des "wollenden Bewußtseins" in der Form des "wahrnehmenden" auftreten und umgekehrt auch die Wollensform einen Wahrnehmungsinhalt haben und sind z.B. das Denken (Überlegen) eines WiIlensentschlusses oder das Erstreben (Wollen) einer Erkenntnis häufige Erscheinungen, doch kann eben auch - und das ist gerade das Häufigere - im Bewußtsein ein außerpsychischer (wenn auch nur durch dessen "bedingende Form" existenter) Inhalt auftreten. Der Bewußtseinsinhalt ist nicht notwendig selbst wieder eine Bewußtseinsart - mit dem Inhaltscharakter bleibt diese Freiheit von der Form gewahrt 3 - das Recht ist nicht deswegen, weil es Bewußtseinsinhalt ist, an sich psychische Erscheinung, subjektiv-psychischer Natur. Doch bei Stammler tritt unbemerkt das Begriffene an Stelle des Begriffes und das Recht wird nicht nur unvermutet und unbegründet als psychische Erscheinung, sondern auch (was vom Rechtsbegriffe doch kaum je behauptet werden könnte) auf der Stelle mit unvermitteltem Dogmatismus als Wollen hingestellt. Der Frage nach dem Begriffe des W ollens gelten die folgenden Ausführungen Stammlers, durch die das Wesen des Rechtes (als einer WiIlenserscheinung) aufgehellt werden soll. Nach Stammler ist dies Aufgabe einer "Zweckwissenschaft" - Zweckwissenschaft im Gegensatz zur Naturwissenschaft, Zweckwissenschaft als "die unbedingt einheitliche Erfassung und Ordnung der Zweckinhalte" (S. 58). Zweck (in der Zwecktätigkeit) ist die im voraus bekannte Wirkung einer zum Mittel gemachten Ursache. Zwecktätigkeit bedeutet, die Ursachen als taugliche Mittel ihrer angestrebten Wirkungen wählen und setzen; die teleologische oder Zweckbetrachtung ist, wie Kelsen 4 dargetan hat, nur die Umkehrung der Kausalbetrachtung - statt der natürlichen

3 Dem strenggläubigen Monisten mag allerdings nicht einmal dieser Dualismus im eigenen Bewußtsein zum Bewußtsein kommen. 4

Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 57 ff.

7 A. J. Merkl

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Reihenfolge "Ursache-Wirkung" ist ihr die Reihenfolge "Wirkung-Ursache" eigen - und daher von ihr nicht wesensverschieden. Die Jurisprudenz als Wissenschaft von Willensinhalten wäre nicht mehr oder weniger Kausalwissenschaft denn als Wissenschaft von Wahrnehmungsinhalten. Doch dies nur nebenbei!5 Ob die Jurisprudenz als Wissenschaft von einem Wollen eine der Kausalbetrachtung gegensätzliche Zweckwissenschaft ist, hat nicht die springende Bedeutung wie die Frage, ob die Jurisprudenz überhaupt die Wissenschaft von einem Wollen ist, und so müssen wir dieser Frage vor allem nachgehen. Der Beweis für die Wollensnatur des Rechtes wird von Stammler zunächst negativ geführt. "Wenn ... das Recht weder eine einzelne Erscheinung der Körperwelt darstellt, noch zu den reinen Begriffen zählt, mit denen diese in der Erfahrungswissenschaft zu erfassen sind, und es auch nicht unter den regulativen Prinzipien der N aturwissenschaft zu finden ist, so kann es nur zu dem Bereiche der Gedankenwelt gehören, die wir als das Wollen, als das Bewußtsein von Zwecken kennen" (S. 69); so muß es, fügen wir hinzu, nur unter der Voraussetzung zum Wollen gehören, wenn alles früher Aufgezählte die gesamte denkbare Erscheinungswelt erschöpft: das ist aber eben erst die Frage. Und nun der positive Beweis, der ebensowenig vollkommen ist: "Wenn jemand einen rechtlichen Anspruch erhebt, so nimmt er nicht etwas wahr, sondern will etwas; wer einen Rechtssatz erläßt, der behauptet nicht einen Satz der Erfahrung, er verfolgt Zwecke; und falls wir den Inhalt einer Rechtsordnung betrachten, so sehen wir dort nicht körperliche Erscheinungen der Natur, sondern einen Inhalt von menschlichem Wollen." (S. 69) Es ist dies alles unbestreitbar - und doch erreicht es nicht den Zweck, die Wollensnatur des Rechtes darzutun; alle die Aussagen treffen nämlich nicht das Wesen des Rechtes. "Wenn jemand einen rechtlichen Anspruch erhebt" (was selbstverständlich eine Willensäußerung ist), so hängt dies freilich in der Regel irgendwie mit einem (subjektiven) Recht zusammen, ist dies meist die Inanspruchnahme eines subjektiven Rechts, ist es aber doch nicht eben dieses subjektive

5 Das Recht als solches stellt übrigens gar nicht einen Stoff ftir eine "Wissenschaft von den menschlichen Zwecken" (S. 60) dar, denn es ist im Grunde nur Mittel zu einem Zweck, mit dem Rechtssatz wird etwas anderes gewollt als er selbst.

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Recht selbst. Das subjektive Recht besteht, wie schon Kelsen 6 überzeugend gezeigt hat, mag es der Berechtigte wollen oder auch nur wissen oder nicht; das subjektive Recht ist unabhängig vom subjektiven Willen. Und daß mit der Rechtssetzung Zwecke verfolgt werden, der Satz, dem Ihering ein ganzes Werk gewidmet hat, "der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts", gilt unbestritten - so selbstverständlich ist er. Der Zweck ist ja Motor jedes Handeins; und mehr noch: der Mensch ist ja sogar geneigt, aus jedem Sein, insbesondere dem Naturgeschehen, den Zweckgedanken herauszulesen. 7 Ist der Zweck Schöpfer des Rechtes, so braucht dieses, das Geschöpf, nicht umgekehrt auch wieder Zweck zu sein. Und ist das Recht auch bezweckt, gewollt, so ist es insoweit zwar ein Inhalt, wieso aber zugleich auch eine Art des Wollens? Der Inhalt einer Rechtsordnung mag gewollt sein, wir geben zu, daß jeder Rechtssatz irgend wo und irgend wann von einem Willensakt erfaßt worden sein mag, wir geben zu, daß die ganze Rechtsordnung das Stadium eines menschlichen Gewolltseins passiert haben mag, ist es aber zur Stunde auch noch menschlicher Willensinhalt mit der Wirkung, daß mit dem Abgang des subjektiven Willens der objektive Rechtscharakter verloren ginge? Und ist weiter das Recht - darauf kommt es hier ganz besonders an - falls es in seiner Totalität gewollt wäre, auch Wille? Wieder klafft der Widerspruch von Inhalt und Form, der sich nicht etwa so auflösen läßt, daß man die Form - in unserem Falle das Wollen - zur Gattung erhebt, in der dann die verschiedenen möglichen Inhalte - hier das Recht - als Arten Platz finden würden. Form und Inhalt sind apriori disparat, die Tatsache, daß etwas gewollt ist, läßt für sich allein niemals den Schluß zu, daß eben dieses Gewollte selbst Wille, eine Art des Wo liens sei, eher sogar noch den Schluß auf das Gegenteil. Wenigstens kann der eigene Wille niemals Gegenstand des Wo liens sein. 8 Auch von anderen Schöpfungen des Geistes gilt das vom Recht Gesagte. Das Drama ist Ausfluß 6

A.a.O., S. 584ff.

7 Oder den Zweckgedanken in das Naturgeschehen hineinzudeuten und es damit zu personiflzieren. 8 7*

Vgl. Kelsen, a.a.O., S. 10.

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der Gedankenwelt des Dichters; auch andere psychische Vorgänge, nämlich Willensimpulse und Gefühlsaffekte, mögen mitspielen. Und doch wird niemandem beifallen, das Drama als solches einen Gedanken oder vielmehr ein Denken zu nennen. Ebensowenig darf man das Recht, selbst zugegeben, daß es ein Geschöpf menschlichen Willens ist, als "Wollen" bezeichnen. Nun darf man aber zweifeln, ob überhaupt alles Recht aus dem Willen geschöpft ist und haben sicherlich auch andere psychische Funktionen bei der Entstehung des einzelnen Rechtssatzes vielleicht sogar entscheidend mitgewirkt. In mancher Prozeßordnung wird man wohl eine große Gedankenarbeit, aber schwerlich eine sonderliche Willensmotion der Gesetzgeber erblicken können, außer man legt bei dem psychischen Funktionsprozeß gelegentlich der Gesetzeswerdung das Hauptgewicht auf den Parlamentsbeschluß und die Sanktion, was vielleicht öfter gerade für den Psychologen nicht besonders hervortritt. Man kann übrigens "ja" sagen, ohne das Bejahte zu wollen; oder mit anderen Worten: man kann etwas intellektuell und braucht es doch nicht emotionell zu bejahen. Das eine wird nun schon unbestreitbar sein: wenn irgend wie und irgend wann das Wollen beim Recht eine Rolle gespielt hat, dann ist doch gerade darum bei der Begriffsbestimmung des Rechtes diese pars pro toto unzulässig; logisch unhaltbar, weil im fertigen Recht das Wollen seine Rolle bereits ausgespielt hat, weil das, was wir streng genommen mit dem Worte Recht belegen dürfen, über jede psychische Funktion hinausgewachsen, weil in ihm jeder psychische Prozeß bereits erstarrt ist. "Einen rechtlichen Anspruch erheben" (das vorzitierte Beispiel Stammlers zum Erweise des psychischen, emotionellen Wesens des Rechtes) ist etwas anderes als der erhobene Anspruch; schier ausgeschlossen ist eine Verwechslung zwischen der "Erlassung eines Rechtssatzes " und dem erlassenen Rechtssatz und wunderlich geradezu wäre die Vermutung, daß die Psyche, die zu jener unzweifelhaft nötig war, in diesem irgend wie fortlebt, nachlebt. Und Stammler selbst scheint einer Identifizierung von Recht und Wollen anfänglich fernzustehen, indem er so vorsichtig wie richtig vorerst nur den Inhalt einer Rechtsordnung mit dem Inhalt eines Wo liens gleichsetzt. Wenn dann doch auch die Formen dieser Inhalte derart einander assimiliert werden, daß das Recht als Teilerscheinung des Wo liens auftritt, wenn der Umstand, daß das Recht Zwecke hat, was doch nur eine

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Abbreviatur dafür ist, daß die Menschen mit dem Recht (als Mittel) Zwecke verfolgen, dahin führt, verführt, daß man es selbst zum Zwecketräger, d.h. zum Willen macht, so ist das eine juristische Seelenwanderung, die wir mitzumachen nicht in der Lage sind. In Wirklichkeit ist das Recht zweckelos und leblos wie nur irgend eine tote Sache, ist es nur Objekt eines Subjekts, Produkt einer Produktion, Geschöpf einer Schöpfung, Ablagerung menschlichen Geistes und daher vom Geist distanziert, entfremdet, vom schaffenden Willen losgelöst und daher diesem, der in stetem Fluß ist, möglicherweise widersprechend, selbst aber willenlos wie auch empfindungslos, wie überhaupt leblos - unsubjektiv. Auf alle denkbaren Erscheinungsformen des Rechtsbegriffes findet das seine Anwendung: der Baustein des einzelnen Rechtssatzes ebenso wie das Gebäude der Rechtsordnung, das sich aus der Gesamtheit der Rechtssätze zusammensetzt, existiert in einer anderen, eigenartigen höheren Form ohne Rücksicht, ob er jemandes Seelen- oder genauer Willensinhalt ist, ist in seiner eigenartigen Existenz vom Vorhandensein eines auf ihn augenblicklich gerichteten menschlichen Willens unabhängig: doch was vom objektiven Rechte eher faßbar erscheint, gilt nicht minder vom subjektiven. Die Gegnerschaft zwischen der subjektiven Rechtspflicht und dem Willen des verpflichteten Rechtssubjektes lehrt hundertfältige Erfahrung, doch auch die subjektive Berechtigung steht ungewollt dem zur Seite, der von ihr nicht im entferntesten Gebrauch zu machen vorhat. Was ist das Wesen dieser durchgängig so objektiven Rechtserscheinung? Wenn einerseits diesem - Recht benannten - Bewußtseinsinhalt keine Realität in der Außenwelt entspricht, mit anderen Worten er nicht 11 zu den körperlichen Dingen 11 zählt, andrerseits wir das Recht in allen seinen Erscheinungsformen nicht als das engere Bewußtsein (im Sinne der psychischen Erscheinung des "Denkens") erkennen können, so ordnen wir nun nicht unbesehen das Recht dem anderen psychischen Erscheinungskomplex (des Wollens) zu, sondern fragen uns, ob es nicht, gleichwie Bewußtseinsvorgänge als Bewußtseinsinhalte vorkommen, andere unkörperliche Bewußtseinsinhalte gibt, die darum doch nicht selbst wieder Bewußtseinsvorgänge wären.

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An die Möglichkeit eines solchen objektiven Charakter des Rechtes, den wir noch kurz ins Licht zu rücken haben werden, denkt Stammler scheinbar gar nicht. Die Vorstellungsgänge, die ihn zur Willensnatur des Rechtes führen, werden an viel späterer Stelle unter dem Titel "Der Wille des Gesetzgebers" offenbar. Handelt es sich um ein wirkliches psychisches Wollen, so ist naturgemäß die erste Frage die nach seinem Subjekte. Die von ihm also formulierte Kardinalfrage des Auslegungsproblems: "Wessen rechtliches Wollen ist auszulegen? Ist es der Wille des Gesetzes oder des Gesetzgebers?" (S. 613) beantwortet Stammler in einer Weise, die keinen Zweifel darüber läßt, daß er ernstlich unter dem Recht ein faktisches psychisches Wollen versteht: "Wollen heißt: einen eigenartigen Bewußtseinsinhalt haben. Wie soll das dem rechtlichen Gesetze zukommen, das doch selbst nichts anderes als ein Bewußtseinsinhalt ist? Wie kann etwas Gewolltes selbst wieder wollen?" (S. 614) Der" Wille" des Gesetzes ist für Stammler nicht weniger eine "übertragene Ausdrucksweise" wie der "Gedanke eines Buches"; dies selbstverständlich nur unter der für uns hiemit implicite gegebenen Voraussetzung eines psychischen Willens; für diesen Fall stimmt der Vergleich, daß ebenso wie nur ein Mensch und nicht ein Buch denken, ebenso nur ein Mensch und nicht ein Gesetz wollen könne. Und so streng ist Stammler bei seiner Auffassung des "rechtlichenWollens" auf den psychologisch-empirischen Standpunkt eingestellt, daß er nicht den Willen einer "rechtlichen Gemeinschaft" , 9 sondern nur den Willen von Einzelmenschen unter dem Rechtswillen gelten läßt (S. 614) und schließlich vom Recht die für einen psychischen Willen selbstverständliche These aufstellt: es "müssen allezeit bestimmte Menschen da sein, in deren Wollen es sich findet" (S. 615). Dabei verrät uns allerdings Stammler nicht, wer diese Menschen sind, deren Willensinhalt als "rechtliches Wollen" anzusprechen ist; für die Zeit des Gesetzgebungsaktes ergibt sich immerhin noch leichter eine (darum noch keineswegs befriedigende) Antwort; etwa: es sei die Gesamtheit der am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten. Nun führt aber der von Willensimpulsen getragene Gesetzgebungsprozeß zum fertigen Gesetz und müßte dieses Gesetz, um Recht zu beinhalten, 9 "Die Gemeinschaft ist kein mit Bewußtsein begabtes Ding." (S. 84)

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fortab auch gewollt sein, wobei es nicht einmal gleichgültig sein kann, wer in dieser Periode der Willensträger ist. Während Stammler diese letzte Frage nicht aufwirft, stellt er selbst die "Schwierigkeit" fest, die mit dem "möglichen Wegfall des Gesetzgebers" (S. 616) unter der Voraussetzung gegeben ist, daß man das Recht "unter allen Umständen als einen Gedankeninhalt bestimmter Menschen aufzufassen" (S. 616) unternimmt. Diese erkenntniskritische Forderung zerreißt, wenn sie ernst genommen wird, jegliche Rechtskontinuität, macht das Recht vom Zufall irgend eines - welchen, das bleibt fraglich - menschlichen Willensaktes abhängig und macht somit die Existenz des Rechtes problematisch, zu einem in jedem Augenblick schwankenden, ungelösten und unlösbaren Problem. Stammler gibt denn auch selbst im letzten Augenblick eher die von ihm bisher so entschieden verteidigte Wollensnatur als die Existenz des Rechtes auf. Es berührt nach dem bisher so erfreulich konsequenten Festhalten des - hier, wie bemerkt, übrigens nicht vertretenen - empirisch-psychologischen Standpunktes jedenfalls auffällig und bedeutet uneingestanden ein Abgehen von ihm, wenn z.B. Stammler den Sinn (d.i. Wille) eines zweifelhaften Gesetzartikels nicht so verstanden wissen will, wie ihn "die Urheber ... vor hundert Jahren vielleicht gemeint hätten, sondern wie der gleiche Rechtssatz heute von ihnen gejaßt werden würde". Es dient mehr einer Selbstberuhigung als einer überzeugung anderer, wenn Stammler behauptet, das zuletzt Gesagte entspreche der "rechten methodischen Auffassung von dem Willen des Gesetzgebers" (S. 616). Ein hypothetischer ist kein echter Wille. Ebenso hypothetisch und darum unwahr ist der "Wille des Gesetzgebers", der bloß so aussieht, "wie ihn der Gesetzgeber heute folgerichtig gesetzt haben müßte" (S. 617). Dies mag unmaßgeblicher (oder auch maßgeblicher) Wille dessen sein, der dem Gesetze seinen eigenen Willen imputiert, daß das aber als "Wille des Gesetzgebers" lediglich fiktiv ist, darüber kann doch kein Zweifel bestehen. Das Operieren mit einem psychischen Willen macht, um die sich häufenden Schwierigkeiten zu überbrücken, die Fiktion seiner Konstanz unumgänglich, beschwert also die Rechtstheorie mit einer konstanten Fiktion. Die Erkenntnis, die diese Schwierigkeiten mit einem Male schwinden macht, die das Recht vor der auch bei Stammler vorhandenen Variabilität und Labilität bewahrt und ihm Stabilität ver-

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leiht, die es aus dem steten Fluß der subjektiven Sphäre in den festen Guß der objektiven versetzt, ist Stammler verschlossen geblieben: wir meinen die für Stammler schon greifbar nahe Erkenntnis der N onnentheoretiker wie insbesondere Kelsens, der das Recht in seiner Geltung endgültig von dem wollenden Subjekte losgelöst und zu einem objektiven Sollen emporgehoben hat. 10 Stammler hat sich aber bei seiner Bestimmung des Rechtsbegriffes auf das Bereich des psychischen und doch nicht psychischen Wo liens festgebannt und wir müssen mit obiger Wahrung des hier vertretenen Standpunktes auf Stammlers weiteren Wegen folgen. "Nun ist es an der Zeit, in Durchführung der hier eingeschlagenen und näher gekennzeichneten Methode kritischer Erwägung die bedingenden Richtungen innerhalb des Wollens herauszuschälen, durch die der Begriff des Rechtes fonnal bestimmt wird." (S. 74) Das nächste Begriffsmerkmal, das das Recht von anderem Wollen sondere, sei das "Verbinden". "Ein verbindendes Wollen ist ein solches, das ein mehreres Wollen als Mittel für einander bestimmt." (S. 75) Mit anderen Worten: "Das, was der eine will, nimmt zu seinem Mittel ein anderes Wollen und diesem wird wiederum jener erste Willensinhalt als Mittel gestellt." Etwas klarer wird diese jedenfalls nur schwer vollziehbare Vorstellung vom "verbindenden Wollen" durch die Anweisung, es "allemal als ein Wollen zu denken, das über den einzelnen steht, gleichviel, wem es gerade zu eigen ist" (S. 93). Es ist also ein sozial bedingtes Wollen, dessen Einzelerscheinung immer schon eine Mehrheit von Menschen voraussetzt, eine "äußere Regelung" (S. 79) - darum aber auch schon selbst Wille? - "verbindender Wille", dem anderer menschlicher Wille als Gegenstand der Regelung, als "verbundener Willensinhalt" (S. 79) gegenübertritt. "Für den Begriff des Rechtes als eine Art des verbindenden Wo liens ist es ganz gleichgültig, wer diese Art des Wollens etwa in einem besonders gegebenen Falle äußerlich einführt. Es können dies die beiden Verbundenen ... selbst sein, oder nur einer von ihnen oder ein dritter: Bloß das bedingende Kennzeichen des Verbindens ist es, das hier als fonnales Merkmal des Rechts10 Wie nahe wäre dies flir Stammler gelegen, als er die Worte sprach (S. 162): "Sein (des Wollens) Wesen gipfelt in dem, was sein soll" - und doch hat er die reife Frucht nicht gepflückt, weil er des Unterschiedes zwischen Wollen und Sollen nicht gewahr wurde!

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begriffes gebraucht wird - die Personen, die das vornehmen, können bald diese, bald jene Erscheinungen (?!) sein." (S. 94) Hiemit offenbart sich uns das "Verbinden" in Stammlers Bedeutung als das Merkmal des Rechtes, das, da ihm sein Träger gleichgültig und möglicherweise unpersönlich ist, das rechtliche Wollen vom Subjekte befreit und eshier wäre offen der Schritt zu machen - zum Sollen wandelt: Ein Wollen, das des menschlichen Subjektes entraten kann, ist kein Wollen im psychischen Sinne. Der" Verbinder", der immerhin psychisch wollen mag, entschwindet (für Stammlers insoweit sehr richtige Rechtsvorstellung) - die Verbindung bleibt übrig; und tritt sogar an eine Stelle unter der bezeichnenden Marke "Regelung" auf; "N ormierung" , "Norm" besagen dasselbe. 11 Auch "Wille"? Noch mehr tritt dieser normative Charakter des Stammlersehen Rechtsbegriffes zu Tage in der zweiten Eigenschaft dieses angeblichen Wollens, in der "Selbstherrlichkeit" des Rechtes. Man darf dieses Wort keineswegs, wozu man vielleicht im ersten Augenblick versucht ist, schlankweg durch den herkömmlichen Ausdruck Souveränität ersetzen. Ein noch wenig anschauliches Bild bietet folgende Begriffsbestimmung: "Es bedeutet also das selbstherrliche Wollen ein Verbinden verschiedener Willensinhalte mit dem diese Vorstellung bedingenden Gedanken, daß die genannte Verknüpfung eine so allgemein festgestellte nun sei, daß die als Mittel eingefügten Willensinhalte an jener Verbindung nichts zu ändern vermögen." (S. 96) Klarer tritt Stammlers Gedanke in den Sätzen hervor: "Die Selbstherrlichkeit besagt das allgemeine und bleibende Einfügen von Einzelwollen unter ein verbindendes Wollen. Die Verknüpfung der verschiedenen Willensinhalte als Mittel und Zweck wird derartig festgestellt, daß dem Einzelwollen eine notwendige Unterordnung auferlegt wird. Es steht ihm nicht mehr frei, den Gedanken des verbindenden Wollens für sich aufzunehmen oder nicht, sondern es enthält durch das letztere seine Bestimmung des Sinnes, daß es von dem ihm angewiesenen Platze von sich aus sich nicht entfernen soll. " (S. 97) Im Anschluß daran wird der normative Begriff des "Zwanges", des normativen Zwanges, der "in der genannten selbstherrlichen Bestimmung gewisser Willensinhalte 11 Auch in dem Satze: "Das Recht tritt überall als eine über dem Einzelnen stehende Ordnung auf' (S. 10 I) spürt man kaum noch etwas von psychischem Willen.

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als Mittel für einander" (S. 100) besteht - wir würden hier, um jeden Irrtum auszuschließen, lieber von Verpflichtung reden -, aufgerollt und eine strenge Scheidung vom naturwissenschaftlichen Begriff der Kraft vorgenommen. Als letztes, den Umfang des Rechtsbegriffes im Rahmen des Oberbegriffes "Wollen" verengendes Begriffsmerkmal wird die "Unverletzbarkeit" aufgeführt, so daß sich als vollständiger Inhalt des Rechtsbegriffes ein "unverletzbar selbstherrlich verbindendes Wollen" ergibt (S. 109). Die Neuheit und Eigentümlichkeit der Begriffsbestimmung nötigen auch hier, Stammler selbst sprechen zu lassen: Zunächst wird festgestellt, "daß der Gedanke der Unverletzbarkeit als Merkmal des rechtlichen Wo liens nicht mit unbedingter Unabänderlichkeit verwechselt werden darf. Er besagt vielmehr, daß das einordnende Verhältnis der Willensinhalte als Mittel für einander in dem Sinne bleibend sein soll, daß bei dem Wechsel des Inhaltes jener nur formal bestimmten Reihe immer wieder die gleiche bedingende Weise jener Ordnung, nämlich die bleibende Art des verbindenden Wollens zu wahren sei ... Andernfalls gelangt man aus ihr in das unstete Verfahren des Ordnens von Fall zu Fall und verliert den allgemeinen Halt, den der Gedanke des Rechtes zu geben vermag, an ein willkürlich setzendes Wollen" (S. 110). Durch diese etappenweise Füllung des Inhaltes des Rechtsbegriffes meint Stammler "die formale Unterscheidung des Rechtes von der sittlichen Lehre, sodann von Brauch und Konvention und schließlich von Willkür und bloßer Macht und Gewalt möglich gemacht" zu haben (S. 110). Jegliche konkrete Erscheinung nun, als deren Abstraktion sich jener Rechtsbegriff ergibt, nennt Stammler gesetztes oder positives Recht. "Darum umfaßt das gesetzte Recht alles Recht in seinem möglichen Auftreten. Es gibt außer ihm kein anderes Recht in dem Sinne eines nach dem formalen Rechtsbegriffe bestimmten Willlensinhaltes und es hat zum logischen Gegensatze nur die bedingende Weise des Rechtsbegriffes selbst." (S. 123) "Positives Recht ist das" (durch die Form des Rechtsbegriffes) "bedingte" (konkrete) "rechtliche Wollen" (S. 123). Nun ist es für Stammler "möglich, das gesetzte Recht nach allgemein gültigen Arten unseres Denkens und U rteilens in verschiedene Klassen zu zerlegen und in ihm

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ein geltendes und ein nicht geltendes, sowie ein richtiges und unrichtiges Recht zu unterscheiden". Geltendes ist "nur ein Teil des gesetzten Rechtes". "In dem Gedanken des Geltens eines Rechtes liegt die Möglichkeit seiner Durchsetzung." (S. 130) Nach der psychologischen Fundierung des Rechtsbegriffes kann es uns nicht Wunder nehmen, wenn unter dem Titel des geltenden Rechtes im wesentlichen die Anerkennungstheorie wiederkehrt und zur Geltung des Rechtes das "vertrauende Sichfügen " des durch das "verbindende Wollen" "Verbundenen" erfordert wird. Wir müssen es uns aus Raummangel versagen, im Rahmen dieser Besprechung, die nur einzelne Proben aus dem Lehrgebäude Stammlers bieten und nur die Fundamente einer Kritik unterziehen kann, auf die folgenden, minder wichtigen und aus dem Grundproblem des Rechtsbegriffes bloß abgeleiteten Abschnitte über die Kategorien des Rechtes, die Methodik und das System des Rechtes einzugehen. Hingegen ist es geboten, auf die Ausführungen Stammlers über die Idee des Rechtes, die er als das dritte Grundproblem der reinen Rechtslehre hinstellt, in Kürze zurückzukommen. Was Stammler zu dieser Frage in unserem Werke (S. 437 bis 558) ausführt, findet sich bereits der Hauptsache nach in seiner "Lehre vom richtigen Rechte" und hat bei dem höheren Alter dieses Werkes schon eine so eingehende Besprechung erfahren, daß für eine Kritik nicht mehr allzu viel zu sagen bleibt.

Stammler perhorresziert ein Naturrecht außerhalb des positiven Rechts, etabliert aber eine Art Naturrecht innerhalb desselben. Er unterscheidet gewissermaßen ein Recht doppelter Güte, wobei sich der Grad der Güte nicht von einem fremden Wertgesichtspunkt aus bemißt, sondern vom eigenen Wertmaßstab des Rechtes abzulesen sein soll. "In dem Begriffe des Rechtes" - so erklärt Stammler sehr richtig mit antinaturrechtlicher Spitze - "liegt noch nichts von dem Gedanken der Richtigkeit seines etwaigen Inhaltes" (S. 127). Was aber dem Begriffe des Rechtes fehlt, soll seiner "Idee" eigen sein, welche streng davon gesondert wird. Begriffiich kann etwas Recht sein, was der Rechtsidee nicht entspricht, aber nicht umgekehrt. Wir müssen es bei dem stark ethisierenden Gedankengängen Stammlers hoch anschlagen, daß er "unrichtiges Recht" (als Recht) gelten läßt, wenn es auch

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nur als Recht zweiter Güte bestehen bleibt, das bei der Annahme, daß die Idee der Richtigkeit dem Rechte immanent sei, nach der Richtigkeit tendiere und besseres, wir dürfen im Sinne Stammlers wohl sagen "eigentlicheres" Recht erst in dem Augenblick werde, wo es der Idee des Rechtes entspricht. Worin äußert sich nun die "Richtigkeit" des Rechts? Darin, daß das positive Recht nach dem "sozialen Ideal" "gerichtet" ist. Stammler will zwar eine rein formale Kategorie der Richtigkeit aufstellen, zerlegt jedoch notwendig das "soziale Ideal" in ganz bestimmte Grundsätze, deren Verwirklichung im Rechtsinhalt er postuliert - insoweit sich nur durch das Maßhalten in der Zahl dieser Sätze von den Naturrechtslehren unterscheidend. Er stellt je zwei Grundsätze des Achtens und des Teilnehmens (als Äußerungen des sozialen Ideals) auf, die vom positiven Recht verlange, daß es das einzelne Rechtssubjekt in bestimmter Weise behandle. Damit ist zwar materiell sehr wenig bewirkt, der Richtigkeit nur ein sehr weiter Rahmen gesteckt, denn die beiden Grundsatztypen stellen die äußersten Endpunkte der möglichen Stellungnahme einer Rechtsordnung gegenüber dem Individuum dar und sind einander so entgegengesetzt wie Individualismus und Kollektivismus, als deren typische Äußerungen ja die Forderungen einerseits des Achtens, andrerseits des Teilnehmens anzusehen sind; 12 aber doch ist mit dem Aufstellen solcher Forderungen der Boden "rein formaler Kategorien" und, wie wir meinen, auch der "reinen Rechtslehre" bereits verlassen. Wir wollen uns nicht anmaßen, mit diesen Feststellungen das tiefe Werk des großen Philosophen unter den Juristen ausgeschöpft zu haben, der der Erkenntnis des Wesens seiner Wissenschaft und ihres Gegenstandes so nahe kam, und der, soweit er anscheinend irrte, wie mannigfache Proben erweisen konnten, es mehr im Worte tat als in der Sache.

12 Daher kann man bei der Anwendung der Stammlersehen Wertmaßstäbe rur ein "richtiges Recht" je nach der verschiedenen Dosierung der beiden Prinzipien (des Achtens und Teilnehmens) zu ähnlich verschiedenen Resultaten gelangen, wie etwa bei einem "billigen Komprorniß" von Individualismus und Kollektivismus.

Zum Interpretationsproblem Es gibt gewisse Grundfragen in jeder Wissenschaft, die, mögen sie in der Fülle des behandelten Stoffes zeitweilig auch untertauchen, mögen sie im Gedränge der Einzelfragen ihr Interesse verlieren, vermöge ihres für die betreffende Wissenschaft fundamentalen Charakters doch immer wieder an die Oberfläche kommen und Beachtung heischen. Für die Rechtswissenschaft stellt eine solche Frage die Rechtsauslegung dar. I Mag diese Frage auch, wenn eine Fülle von Spezialproblemen das Interesse der Fachgenossen absorbiert, zeitweilig unbeachtet bleiben - inaktuell kann sie kraft ihrer Problemstellung für die Rechtswissenschaft niemals werden. Wirft sie doch das für alle Rechtswissenschaft fundamentale Problem auf: "Was ist Recht?" Allerdings nicht in der ganzen Tiefe, auf welche diese Worte hindeuten, nicht jenes Grundproblem, das in erster Linie unter diesen Worten zu verstehen ist. D.h., das Interpretationsproblem, besser die Interpretationsproblematik begibt sich nicht vorausGrünhut'sche Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 42 (1916), S. 535-556. Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. I, S. 1059-1077. Italienische Übersetzung unter dem Titel "Sul problema dell'interpretazione" in: Il duplice volto dei diritto, S. 255-279. I Wir glauben also nicht, daß eine Behandlung unseres Stoffes jener Rechtfertigung bedarf, die Prof. Felix Somlo der letzten diesem StofTkreise entnommenen, in dieser Zeitschrift veröffentlichten Abhandlung vorauszuschicken für nötig fand, wiewohl seit SomlOs Publikation erst wenige Jahre vergangen sind. Seine eigenen, im 38. Band, S. 55 ff. unter dem Titel "Die Anwendung des Rechts" gebrachten Ausführungen sind denn auch der sprechendste Beweis hiefür, wie ewig jung und stets aktuell, wie unerschöpflich geradezu jener Problemkreis ist, dem die naheverwandten (in dieser ihrer Verwandtschaft unter anderm auch von den folgenden Untersuchungen aufzudeckenden) Probleme der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung sind. Diesem Standpunkt hat denn auch gerade diese Zeitschrift aufs beredteste Rechnung getragen, indem sie stets von neuem einschlägige Themen zur Veröffentlichung brachte, von denen außer der bereits zitierten glänzenden Abhandlung Somlos noch - als für die folgenden Ausführungen beispielgebend und orientierend, wenn auch keineswegs durchaus akzeptiert - Ehrlich, Recht und Prätor, 32. Bd., S. 599 ff., Kraus, Die leitenden Grundsätze der Gesetzesinterpretation, Danz, Gesetzesauslegung und das Leben, hervorgehoben seien.

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setzungslos an die Lösung jener Frage, was Recht sei, sondern macht die Voraussetzung einer provisorischen und oberflächlichen Lösung, welche in der Aufstellung einer oder mehrerer bestimmter Rechtsquellen besteht; einer Lösung, welche z.B. als primäre Rechtsquelle das Gesetz, als sekundäre die Gewohnheit hingestellt hat. Diese Lösung muß im voraus gefunden sein, ehe für eine Auslegung, aber auch für eine positivrechtliche Auslegungslehre Platz ist; der Gegenstand dieser Lösung, z.B. das Gesetz, stellt ja eben erst das Auslegungsobjekt bereit, mit dem sich der Interpretator und Interpretationstheoretiker abgeben kann und muß. Ehe man sich fragen kann, wie auszulegen sei, muß man darüber im reinen sein, was auszulegen sei. Und wenn dies das Recht ist, 2 so fragt sich, was im allgemeinen als solches zu betrachten sei, ehe man sich fragen kann, wie es sich im besonderen darstelle. Und fällt die Problemstellung: "Was ist auszulegen?", d.h. mit anderen Worten "Was ist Recht schlechthin?" in das Bereich einer voraussetzungslosen, einer primären Rechtsphilosophie - genauer kann man vielleicht von einer Rechtserkenntnistheorie sprechen -, so gehört die zweite Problemstellung "Wie ist auszulegen?" - eine Problemstellung, welche nicht mehr so voraussetzungslos ist, da sie eben die Lösung des ersten Problems "Was ist Objekt der Auslegung?" bereits voraussetzt - zwar einer sekundären, aber doch noch immer einer (der Jurisprudenz transzendenten) Rechtsphilosophie an. Denn die Resultate der Jurisprudenz sind Ergebnisse der Auslegung, die Interpretation selbst (und nicht deren Methodenlehre) ist die Funktion der Jurisprudenz. Fragt sich nämlich eine primäre Rechtsphilosohie, was auszulegen sei, und eine sekundäre - das ist die Auslegungslehre - wie auszulegen sei, so handelt sichs für die Jurisprudenz darum, im Wege der Auslegung, deren Objekt und Methode bereits feststehen muß oder doch feststehen sollte, festzustellen, was im besonderen Recht sei.

2 Taugliche Objekte einer Auslegungstätigkeit gibt es ja bekanntlich auch auf zahllosen anderen Wissensgebieten. Vgl. insbesondere Kraus, a.a.O. Und daß die Auslegung nicht bloß eine Sache der Wissenschaft, sondern auch eine solche des täglichen Lebens ist, hat besonders deutlich Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914, S. 23 fT. und passim, dargestellt, welcher gerade von der Beobachtung der Urteilsfunktionen (worin die Auslegung besteht) im täglichen Leben ausgeht, um seine wissenschaftliche Auslegungslehre, vornehmlich die Theorie der Interesseninterpretation, daraus zu entwickeln.

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Was aber im allgemeinen Recht sei - Gesetz, Gewohnheit, Präjudiz u.dgl. mehr - und auf welchem Wege aus dieser allgemeinen Rechtsquelle der besondere Rechtssatz zu gewinnen sei, das kann die Rechtswissenschaft im Grunde niemals selbst ausmachen, das bleibt notwendig der Rechtsphilosophie, der Rechtserkenntnistheorie vorbehalten. Mag ein unter dem Titel des Rechtes auftretendes Wort- oder Gedankending noch so entschieden auf seine Rechtsnatur Anspruch erheben, es bedarf doch, um wirklich Recht zu sein, der Inthronisation durch den erkennenden Intellekt. Niemals ist etwas schon dadurch zum Recht geworden, daß es sich selbst als Recht bezeichnete, mag es sich auch mit dem anmaßenden Prädikate des ewigen Rechtes ausgestattet haben, mag es auch - wie so viele alte Gesetze - erklärt haben, für alle Zeiten unabänderlich Recht sein zu wollen. Noch immer gibt es naive Gemüter, die da glauben, es genüge, um eine Norm zum Recht zu stempeln, daß sie sich selbst als solches inthronisiere, die die Frage gegenüber dieser Erscheinung, ob es sich überhaupt um Recht handle, für indiskutabel halten, die auf der Stelle mit der Jurisprudenz ins Haus fallen. Dieses Benehmen beruht auf dem Verkennen jenes das bestimmte Rechtssystem einleitenden Satzes: "Alles folgende soll Recht sein" (oder wie er sonst formuliert sein mag), auf seiner falschen Auffassung als Rechtssatz - der, wenn er es wäre, allerdings bereits Objekt der Jurisprudenz sein müßte. So einfach ist die Rechtswerdung nun allerdings nicht - da hätten die Rechtsreformatoren und gar die Staatsutopisten ein leichtes, ein gewonnenes Spiel, wenn sich ihre Reformprojekte ihre Phantasieprodukte auf solche Weise dekretieren und damit realisieren ließen - gegenüber jedem solchen grundlegenden Rechtsdekret ist vielmehr immer noch die Frage erlaubt und geboten, ob es sich tatsächlich um eine Rechtsquelle handle. Die grundlegende Rechtsqualität kann nicht rechtssatzmäßig verordnet, 3 sondern bloß von einem fremden Standpunkt aus, von einem dieses Normsystem zum Erkenntnisobjekte wandelnden Subjekte erkannt werden. Und diese Erkenntnis gehört nicht der Rechtswissenschaft, sondern der - erst deren Boden schaffenden - Rechtsphilosophie an, einer Rechtsphilosophie, welche zwar, wie alle Philosophie und Wis-

3 Hingegen kann abgeleitete (delegierte) Rechtsqualität bekanntlich (und zwar mit bestem Sinn) verliehen werden: delegiertes Gesetzgebungsrecht, Verordnungsrecht, Gewohnheitsrecht usw.

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sensehaft, nie ganz von Dogmatik frei ist, aber bei der für den einzelnen Staat gegebenen Antwort auf die Frage, was Recht sei, das dogmatische Gepräge jedenfalls viel stärker und deutlicher zur Schau trägt als bei der allgemein-gültigen (alle denkbaren Staatsgebilde umfassenden) Problemlösung. Es ist z.B. juristisch nicht auszumachen, ob im heutigen österreichischen Staate das Oktoberdiplom oder Februarpatent, die bloße streng konstitutionelle Dezemberverfassung oder das halb-absolute renovierte ständische Prinzip gilt, wie es bei dem Bestreben, die ganze verfassungspolitische Wirklichkeit zu erfassen, Tezner4 vorschwebt. Von ihrem Standpunkt aus alle in unveränderter Geltung, repräsentieren diese Verfassungen vier voneinander mehr oder weniger abweichende Rechtsordnungen, zwischen denen es nach einem ihnen fremden - außerrechtlichen - Prinzipe die Wahl zu tretTen gilt. Es ist ein mehr als nötiger und darum unwissenschaftlicher Dogmatismus, wenn man diese apriorische Wahlmöglichkeit übersieht oder leugnet und von vornherein eines dieser Prinzipien kraft eigener Anordnung als de iure geltend annimmt. 5 Auf ähnliche Weise wie das Objekt der Auslegung ist nun auch wofür jenes nur Exempel sein sollte - ihre Methode dem Rechte transzendent und daher nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft. Nicht so einleuchtend wie jene Behauptung, daja tretTende Gegenbeweise vorzuliegen scheinen, wird diese einer längeren Beweisführung bedürfen. Und so sei es gleich im voraus bemerkt, daß auch die scheinbar erschöpfendsten gesetzlichen Auslegungsregeln, die doch otTenbar ins Bereich der Jurisprudenz gehören, der Jurisprudenz die eigentliche Interpretationskunde nicht einzuverleiben vermögen, daß die Rechtswissenschaft auch bei dieser Sachlage eine ihr gegenüber transzendente Auslegungslehre voraussetzt. Auch die gesetzlichen Auslegungsregeln verlangen nämlich ihre Auslegung, welche selbst nicht wieder gesetzlich geregelt sein kann. Und das ganze Rechtssystem bedarf 4 Das ständisch-monarchische Staatsrecht und die österreichische Gesamt- oder Länderstaatsidee, Wien, 42. Bd., 1./2. Heft dieser Zeitschrift. 5 Gerade der Skeptiker ist sich der - wo sie geboten ist, auch von ihm angewendeten - Dogmatik bewußt, der echte Dogmatiker (als welcher sich auf unserem Gebiete in der Regel der überzeugte Anhänger einer extremen politischen Richtung darstellt) glaubt korrektester Wissenschaftler, und zwar Jurist zu sein, sobald er reinste Dogmatik betreibt.

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auch wieder einer - sei es auch durch die gesetzlichen Auslegungsregeln vereinfachten - so doch letzten Endes nach einem außergesetzlichen Prinzipe vorgenommenen Auslegung. Es verhält sich mit den gesetzlichen Auslegungsregeln ganz gleich wie mit den Legaldefinitionen, welche, wie weit sie auch die Begriffe zurückverfolgen, doch bei bestimmten Begriffen haltmachen und haltmachen müssen, deren Definition, soweit die logische Möglichkeit hiezu überhaupt noch gegeben ist, einem außerrechtlichen Prinzipe überlassen bleibt; 6 ein Blankett für Logik und Grammatik ist auch bei der weitest getriebenen Legaldefinition unvermeidbar; und abgesehen davon kann ein Rechtssystem, welches sich prinzipiell in Legaldefinitionen ergeht, zur Verwirklichung dieses Prinzipes doch bloß bei den wenigsten von ihm angewendeten Wörtern auch nur einen Ansatz machen. Und so bleibt letzten Endes auch nicht etwa nur ein Rest, sondern sogar der Hauptteil, ja sogar, wie sich noch zeigen soll, streng genommen die Gesamtheit echter Auslegungsregeln einer außerrechtlichen Disziplin gewahrt. Die Auslegung selbst aber ist, wie schon angedeutet, nichts als Sache der Rechtswissenschaft - und umgekehrt ist diese wieder nichts als Rechtsauslegung. Jede positiv-rechtliche Darstellung, die das ist, was ihr Name sagt, erschöpft sich in Rechtsauslegung. Was bezweckt die rechtswissenschaftliche Arbeit anderes als Verdeutlichung, Verständlichmachung, insbesondere Zerlegung solcher Rechtssätze, die auf viele Tatbestände passen, in solche mit engerem Anwendungsfelde also kurz Auslegung, Interpretation? Soweit sie sich eben nicht auf derartige Zwecke beschränkt, trägt sie ihren N amen nicht mehr zurecht, ist sie eher Rechtspolitik, Rechtssoziologie, Rechtsstatistik oder sonst etwas derartiges - nur nicht Jurisprudenz. Es handelt sich der eigentlichen Rechtwissenschaft stets nur um eine Zerlegung, Zerdehnung des Gesetzestextes (wofern das Gesetz als Rechtsquelle angenommen wurde), und das umfangreichste Werk über positives Recht enthält um kein Jota mehr an Rechtsinhalt als sein Objekt, als der behandelte Ausschnitt des geschriebenen 6 Gerade diesen anscheinend wichtigsten Punkt unterläßt das mit den einschlägigen Fragen sich befassende Buch von Salomon. Das Problem der Rechtsbegriffe. hervorzuheben. 8 A. J. Merkl

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Rechtes. An Umfang kann und wird der juristische Kommentar die kommentierte Rechtserscheinung ganz gewaltig überragen - an Inhalt aber in einem gewissen Sinne wenigstens nicht. Die Erweiterung des Umfangs ist sicherlich vorwiegend einer stets, wenn auch - je nach dem Umfang - in sehr verschiedenem Maße gesteigerten Kasuistik zuzuschreiben, welche aber in nu ce bereits im Gesetzestenor enthalten war und, wenn die Kasuistik richtig sein will, enthalten sein mußte. Würde die rechtswissenschaftliche Behandlung über das behandelte Rechtsgebiet inhaltlich hinausragen, so hätte man es gar nicht mehr mit einer Darstellung, sondern mit einer Verfälschung positiven Rechts zu tun. Beruf der Rechtswissenschaft ist bloß, Dinge, die alle ausnahmslos irgendwie schon im Rechtstenor - bei der herrschenden Rechtsform ist dies eben der Gesetzestext - gesagt sind, mit anderen Worten zu wiederholen; es werden die Falten des konzisen Gesetzestextes gewissermaßen entfaltet, auseinandergelegt - kurz, es wird ausgelegt. Zwar nicht äußerlich in bezug auf die stoffiiche Anordnung, wohl aber innerlich in bezug auf Inhalt und Methode stellt sich auf diese Weise das stärkste Buch positiv-rechtlichen Charakters als bloßer Kommentar dar. Das soll nicht im entferntesten ein absprechendes Urteil sein; der Fehler einer positiv-rechtlich sein wollenden Darstellung liegt nach dem Gesagten nicht etwa darin, daß sie nur Gesetzeskommentar ist, nein, sondern darin, daß sie mehr als dieses ist. Wie paradox es vielleicht auch klingen mag: die Gefahr liegt näher und der Fehler ist größer, daß und wenn der Kommentar zu viel als wenn er zu wenig bringt. In der Beschränkung zeigt sich auch hier der Meister. Die Schranke liegt aber in den Möglichkeiten der Auslegung. Rechtswissenschaft ist im Grunde nur die Wiederholung eines unveränderten Inhalts in veränderter Form. Rechtstheoretiker heIßt Rechtsinterpretator sein. Aber auch die Rechtspraxis hat die Auslegung zu ihrer unumgänglichen Basis. Sie fragt sich ständig: Was ist unter der Voraussetzung dieser oder jener Rechtsquellen für diesen oder jenen Tatbestand Rechtens? Sie beruht auf einer Zerlegung des gesetzlichen Tatbestandes, auf der Untersuchung, ob und in welchem abstrakt-idealen gesetzlichen Tatbestande ein konkreter Sachverhalt des Lebens Platz

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hat: das ist die ausschließliche juristische Funktion des Rechtspraktikers. Im Grunde haben alle Staatsorgane mit dem Recht zu tun; aber nur soweit sie beruflich mit Rechtsauslegung befaßt sind, sind sie als "praktische Juristen" anzusprechen (und werden demgemäß dem Erfordernisse juristischer Vorbildung unterworfen). Was im Grunde z. B. den Staatstechniker, den Staatsarzt, den staatlichen Lehrer, den Soldaten, welche alle, richtig verstanden,7 im Dienste des Rechtes stehen, zur Rechtsanwendung berufen sind, Juristen zu nennen verwehrt, das ist (abgesehen von dem formalen Erkenntnisgrunde der mangelnden normalen Vorbildung) der materielle Grund der meist nahezu völligen Ausschaltung der Interpretationsfunktion. Freilich gibt es zwischen den Juristen und Nichtjuristen unter den Staatsorganen ebenso wenig eine feste Grenze wie zwischen den Organfunktionen in bezug auf ihren Gehalt an Ermessensfreiheit, bezüglich deren ja auch nur ein gradueller und kein prinzipieller Unterschied besteht. 8 Was mit diesen Ausführungen gezeigt werden sollte, ist die Tatsache, daß das Hervortreten der rechtauslegenden - im Gegensatz zur ermessenausfüllenden - Tätigkeit den Rechtspraktiker zum Juristen stempelt. Befaßt sich somit einerseits die juristische Theorie und Praxis, soweit sie überhaupt als juristisch anzusprechen ist, mit der Rechtsauslegung, so ist es andrerseits Sache einer besonderen Disziplin, der Auslegungslehre oder Interpretationstheorie, der Rechtswissenschaft die Auslegungsmittel an die Hand zu geben. In der Tat hat sich ihre Stellung in der jüngsten Zeit außerordentlich gehoben und verselbständigt, und nicht nur, daß sie in Rechtskompendien eine besondere und immer steigende Rolle spielt, hat sie auch eine Reihe eigener, zum Teile höchst verdienstlicher Monographien zutage gefördert. Juristische Theorie und Praxis haben aber aus dieser - allerdings selbst in der ganzen Interpretationstheorie nicht gehörig zum Ausdruck kom-

7 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 503 ff., wo die gesamte Staatstätigkeit auf eine Rechtsfunktion reduziert und die rechtliche Relevanz geradezu zum Kriterium der Staatsfunktion erhoben ist. 8 Vgl. insbesondere Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft, Wien 1886, S. 39 ff.; ferner Hofacker, Über die Grenzabscheidung zwischen Strafrechtsprechung und Verwaltung, Berlin 1914, S. 6 ff., von Verdroß, Das Problem des freien Ermessens und die Freirechtsbewegung, Österreichische Zeitschrift rur öffentliches Recht, I. Jg., 5./6. Heft.

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menden - Sonderstellung derselben die entsprechenden Konsequenzen noch nicht gezogen. Von einer prinzipiellen Wahl einer Interpretationsmethode, von einem festen Interpretationsplan kann nur bei zu vielen Rechtstheoretikern wie Praktikern nicht die Rede sein - fast scheint es, sie hätten es sich zum Prinzip gemacht, kritiklos jede denkbare Interpretationsmethode anzuwenden. Man hat sich von vornherein nur selten auf eine bestimmte Methode eingestellt; diese Methode wird - so denkt man wohl, wenn man dabei überhaupt etwas denkt - diese Methode wird die Arbeit mit sich bringen. Es wird jene Interpretationsmethode eingeschlagen, welche sozusagen "der einzelne Fall erfordert" und dieser läßt erst die gewünschte und schließlich gewählte Interpretationsmethode finden. Am einzelnen Rechtsfall wird Interpretationsproblematik betrieben. Der Theoretiker macht es oftmals nicht anders als der Praktiker, von dem - für die Mehrzahl der Fälle wohl zutreffend - gesagt wurde, daß er zuerst die Entscheidung bei der Hand habe und dann die Gründe dafür suche; ihm muß dann freilich jede Interpretationsmethode taugen, welche die logische Brücke zwischen dem Gesetz und der so gesetzesfrei zustande gekommenen Entscheidung herstellt. Was aber beim Rechtspraktiker unter Umständen eine Tugend ist, muß beim Rechtstheoretiker als schwerer Fehler angesehen werden. Der Rechtspraktiker ist und sei Jurist und Mensch nicht bloß in einer Person, sondern auch in derselben Handlung! Sogar etwas unjuristisch zu werden zugunsten des ethischen Postulates, ganzer Mensch zu sein, wird man ihm verzeihen dürfen. Beim Rechtstheoretiker trifft aber eine solche Sachlage nicht zu; er kann sozusagen das Mensch-Sein und Jurist-Sein reinlich scheiden, wo immer es unvereinbar erscheint. Aus irgendwelchen Menschlichkeitsrücksichten etwa seine Rechtserkenntnisse beschneiden, das ist Vergehen gegen die Postulate der reinen Erkenntnis. Der Rechtstheoretiker hat das Recht, zu erkennen es abändern, das tue, wenn schon, der Praktiker! Durch ethisch schlechte, um bei dem Beispiele zu bleiben, etwa extrem gesetzestreue und dadurch inhumane Erkenntnisse des Theoretikers wurde noch niemanden ein Leid getan - außer der mißhandelten Wissenschaft; was für Unheil aber schon mitunter unnötigerweise allzu gesetzestreue

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richterliche Erkenntnisse angerichtet haben, soll uns hier nicht weiter befassen. Bemerkungen wie: "Aus Billigkeitsrücksichten muß man annehmen" u.dgl. mehr, haben in einer Ausführung nicht Platz, welche erklärtermaßen auf Gesetzeserkenntnis ausgeht, und man wird mit Entschiedenheit solche Gesetzesirrungen verurteilen, wenn man auch andrerseits vor einem gerichtlichen Urteil, das mit einer ähnlichen Begründung kommt, ein Auge zudrückt oder sogar vielleicht freudig seinen Beifall kundgibt. Ja, es braucht ein Akt der Rechtsanwendung, welcher mit Billigkeit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit - also Eigenschaften, welche dem Rechte zwar anhaften können, aber nicht begrifTswesentlich sind 9 - keineswegs vom Gesetze abgewichen zu sein, während die Theorie, welche mit solchen Argumenten kommt, damit das Zeichen der Gesetzesuntreue an sich trägt. Die Praxis erschöpft sich ja bekanntlich nicht in der Rechtsauslegung; da die Praxis notwendig einer restlosen Individualisierung der generellen Norm bedarf, die Auslegung aber nicht immer zu diesem Ziele führt, sondern oft an einen Punkt gelangt, wo sich mehrere Lösungsmöglichkeiten als logisch gleich gut möglich darstellen,IO ergibt sich die Notwendigkeit einer subjektiven Willens- ll (an Stelle einer bloßen Erkennt9 Insoweit stellen wir uns in diametralen Gegensatz nicht nur zu jeder Naturrechtslehre, welcher bekanntlich die ethische Gesolltheit Erkenntnisgrund der juristischen Gebotenheit ist - vgl. in dieser Hinsicht insbesondere Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, vornehmlich S. 122 ff. -, sondern insbesondere auch zu Stammlers "Theorie vom richtigen Recht", welcher das Recht einen "Zwangsversuch zum Richtigen" nennt und damit die Richtigkeit (allerdings nicht schlechtweg mit moralischer Gebotenheit zu identiftzieren!) zum BegrifTsmerkmal des Rechtes erklärt. 10 Dies ist die Haupterkenntnis der zitierten Abhandlung von Verdroß. 11 Das Willensmoment in der richterlichen Funktion wird insbesondere von Rumpf, Gesetz und Richter, Berlin 1906, betont. Vgl. hierüber die gerade in diesem Belange in der Kritik Rumpfs - ausgezeichneten Ausführungen Soml6s, a.a.O.! Rumpf a.a.O., S. 100, schaltet Willkur als de iure mögliche Freiheit des Richters aus: "Der Richter muß, wenn das befragte Gesetz Zweifel über Zweifel bietet, sagen: Es soll meine nach bestem Ermessen und möglichst im Einklang mit den herrschenden rechtspolitischen und rechtsethischen Anschauungen getroffene Entscheidung Recht sein zwischen den Parteien." Dasselbe besagt Lanns "pflichtmäßig gebundenes Ermessen", das er eigentlich nicht bloß in der Justiz, sondern sogar auch in der Verwaltung annimmt (Lann, Das freie Ermessen, passim). Übrigens entspricht die Einstellung auf ein einziges, und zwar das gerechteste, zweckmäßigste, billigste Auslegungsergebnis, wo die Auslegung als rein logische Funktion auch ein diesen Eigenschaften weniger entsprechendes Ergebnis zulassen würde, der gesamten herrschenden Lehre.

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nis)funktion, welche wie von subjektiver Willkür so auch von anderen außerrechtlichen Motivationen, wie Zweckmäßigkeit, Billigkeit, Gerechtigkeit u.dgl. mehr gelenkt sein kann. Die in der Auslegung sich erschöpfende Theorie hat aber allenfalls auch beim mehrdeutigen Auslegungsergebnis halt zu machen und hat nicht durch Hereinbeziehung rechtsfremder Faktoren, wie Billigkeit, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit auf Kosten der Gesetzmäßigkeit eine Eindeutigkeit des Auslegungsergebnisses herbeizuführen, die ihm de lege lata nicht zukommt. Die Aufgabe der strafgerichtlichen Praxis besteht zum Beispiel darin, innerhalb des gesetzlichen Strafspielraums eine ganz bestimmte Strafe herauszugreifen, und kann und muß dabei, weil sich das Gesetz einer näheren Bestimmung enthält, die verschiedensten Motivationen sprechen lassen - die Theorie muß sich aber damit bescheiden, festzustellen, daß de iure diese oder jene Latitüde gegeben ist, und muß sich, wenn sie bei reiner Gesetzeserkenntnis bleiben will, dessen enthalten, in diesem gesetzlichen Rahmen engere Fixierungen aufzustellen; 12 diese wären ja nicht mehr vom Rechte, sondern allenfalls von anderen Normsystemen geboten oder vom subjektiven Willen eingegeben. Eine die Grenzen der Auslegung überschreitende Praxis braucht also noch keineswegs gesetzesuntreu zu werden. Und auch wo sie es wird, ist sie anders zu beurteilen als eine die Auslegungsmöglichkeiten überspannende Theorie. Die Tatsache, daß sie Theorie und Praxis in bezug auf die Auslegung nicht auseinanderhält, ist denn auch der Denkfehler der die Freirechtsbewegung, an welcher sicher viel Gutes, nur leider wenig juristisch Gutes ist, am stärksten kompromittiert. Als Forderung de lege ferenda steht die Richterfreiheit, dieses Hauptpostulat der Freirechtsbewegung, außerhalb jeder juristischen Diskussion; aber auch als tatsächliche Übung, deren weitere Verbreitung man überdies noch fordert, geht eine freiere, eine dem Gesetz derogierende Stellung des Richters dem Theoretiker des Rechtes nicht nahe; 12 Anders Lann, a.a.O., S. 42: "Wenn auf ein Verbrechen 1-5 Jahre Kerker gesetzt sind und der Richter verurteilt auf Grund der vorhandenen Erschwerungs- und Milde· rungsumstände zu zwei Jahren, so kann er nicht behaupten, daß eine Verurteilung zu einem, zu drei, vier, fünf Jahren ebenso gerecht und ebenso im Sinne des Gesetzes seien." Das "ebenso gerecht" behauptet niemand, aber die gleichzeitige Legalität wird insbesondere von Verdroß, a.a.O., S. 630, mit treffenden Gründen behauptet.

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als Jurist kann und muß er das als mit dem Gesetze nicht vereinbar hinstellen, was er etwa als sozial denkender Mensch gutheißt. Aber mit dieser Sachlage findet sich die Freirechtslehre in ihren entschiedensten Häuptern nicht ab; nicht Gesetzgebungspolitik, sondern Rechtstheorie will sie vorwiegend sein. Und so wird Richterfreiheit nicht als Gegebenheit de lege ferenda, sondern de lege lata, nicht als politisches Postulat, sondern als juristische Theorie aufgefaßt. Und als solche ist die Lehre von der Richterfreiheit, wofern diese das Judizieren praeter und contra legern besagen soll, falsch und wird selbst von dem als falsch anerkannt, der sich mitunter mit dem Faktum eines solchen Judizierens abfindet. Die Praxis kann man billigen - das ist eben keine juristische, sondern eine ethische Billigung - und dabei sich völlig ihrer Unvereinbarkeit mit dem strengen Rechte bewußt sein. 13 Die Billigung einer nicht ganz gesetzestreuen Praxis, welche noch dazu oft viel gesetzestreuer ist, als man annimmt, 14 wird man der Freirechtsschule nicht entfernt so verargen wie die abstruse theoretische Rechtfertigung, welche sie für eine solche gesetzabändernde Praxis ersonnen hat, jene Rechtfertigung, welche besagt: gerade da, wo der Praktiker vom Rechte (d.i. dem geschriebenen Rechte) etwas abgekommen ist, da beginne erst das eigentliche Recht, das Freirecht, wie man es im Gegensatze zum Gesetzesrecht wie überhaupt zu allem geschriebenen Rechte nennt. Es ist dies jenes sonderbare Beginnen, welches aus der Not der Praxis - in der Theorie eine Tugend macht. Wenn daraus wohl zur Genüge erhellt, daß die Wege von Theorie und Praxis divergieren können, und daß es beiden schadet, wenn man sie ohne jede Regungsfreiheit aneinanderkettet, so darf wohl an die Theorie das Postulat der strengsten Folgerichtigkeit in der Auslegung gerichtet und darf sie als aus der Rolle gefallen erachtet werden, wenn sie sich in ihrer Interpretationsfunktion von irgendwelchen Rücksichten auf die Praxis leiten läßt. Gerade diese Sachlage ermöglicht aber auch, daß die Theorie des Rechtes mit einem apriori feststehenden Interpretationssystem arbei13 Das Recht wird und kann nie völlig eine Realisierung des Gerechtigkeitsideals bedeuten, kann sich aber von diesem ungeheuer weit entfernen. 14 Vgl. insbesondere wieder Verdroß, a.a.O., S. 632.

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ten kann, welches, allgemein zur Richtschnur genommen, die Wahl der Interpretationsmethode aposteriori, im Einzelfalle - richtiger gesagt eine Methodenlosigkeit - ausschließt. Freilich würde von vielen Theoretikern auch die besterwogene und zum Prinzip erhobene Interpretationsmethode im konkreten Falle verleugnet werden, wo sie nicht die gewünschte Lösung zu bieten vermöchte, und würde so immer wieder von neuem durchbrochen werden, was im Effekt jener - man kann sagen: gegenwärtig herrschenden - Sachlage gleichkäme, daß von vornherein ein Interpretationsprinzip fehlt. Man hat für dieses häufige Verhalten des Juristen gegenüber der Interpretationsmethode ein Vorbild in seinem Verhalten gegenüber dem Interpretationsobjekte. Wenn auch nicht ein bestimmter Weg der Auslegung seiner Rechtsquelle, so schwebt doch jedem Juristen beim Antritt dieses Weges ein bestimmtes Bild der auszulegenden Rechtsquelle vor. Im Verfassungsstaate ist es das Gesetz; apriori zweifelt man also nicht daran, daß das Gesetz Gegenstand der Auslegung sei; und aposteriori - wie oft und wie bald verschwimmt das Bild des Auslegungsobjektes! 15 Wie bald gelangen so viele an einen Punkt, wo sie mit dem Gesetze nicht weiterkommen sich einreden und daher das Gesetz, das wie bisher in allen Fällen auch an diesem kritischen Punkte eine logisch jedenfalls feststell bare, wenn auch praktisch unerwünschte Lösung böte, einfach beiseite werfen. Da hat also die apriorische Einstellung auf das Gesetz auch nicht davor bewahrt, daß man nachher von ihm abging. Man kann also die Beobachtung machen: Ist sich auch die große Mehrzahl der Interpretatoren darüber im klaren, daß Gegenstand der Interpretation das Gesetz sei, ist für sie im voraus auch nur die Methode der Interpretation problematisch, so greifen sie doch oft in einem Stadium, wo die Sprache des Gesetzes noch lange nicht zu Ende ist, zu Hilfsmitteln, wie etwa die Gesetzesmaterialien, die mit dem Gesetze offenbar nicht mehr identisch sind, womit man also vom Ausgangspunkte bereits abgekommen ist, aber auch zu Argumenten, wie Gewohnheit oder Zweckmäßigkeit oder Gerechtigkeit und Billig-

15 Es ist denn auch die Meinung weit verbreitet, daß Gesetzesauslegung und Rechtsauslegung verschiedene Dinge seien.

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keit, womit man bereits - außer es wären diese Systeme ausdrücklich vom Gesetze delegiert - neuen fremden Rechtsquellen verfallen ist. Doch nicht nur der Interpretator, auch der Interpretationstheoretiker muß bereits mit der Voraussetzung des Interpretationsobjektes, der bestimmten Rechtsquelle operieren. Der Interpretationstheoretiker steht zum Rechtsproblem in demselben Verhältnis wie der Interpretator zum Interpretationsproblem. Die Lösung des letzteren, die bestimmte Interpretationsmethode kommt beim Juristen als weitere Voraussetzung hinzu. Geradeso wie dieser aus seiner wissenschaftlichen Rolle fällt, wenn er sich mit dem Interpretationsproblem zu befassen verleitet sieht, hört der Interpretationstheoretiker auf, seinem N amen getreu zu bleiben, wenn ihm während der Arbeit das Recht selbst problematisch wird und er etwa neue Rechtsquellen einbezieht. Geradeso wie der Interpretator mit einer festen Interpretationsmethode, so sollte der Interpretationstheoretiker mit der Erkenntnis der Rechtsquelle als einer gegebenen Größe operieren und an dieser Voraussetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit festzuhalten in der Lage sein. Doch trotz dieser Voraussetzung der obersten Rechtsquelle bewegt sich der Interpretationstheoretiker noch nicht auf dem Boden der Rechtserkenntnis, sondern der Erkenntnistheorie des Rechtes; trotz der Gegebenheit - sagen wir - des Gesetzes als oberster Rechtsquelle steht er noch nicht diesseits, sondern noch immer jenseits des Gesetzes. Sein Problem ist, um es noch mit anderen Worten zu formulieren, nicht: "Was ist, wenn das Gesetz oberste Rechtsquelle ist, Recht?", sondern: "Wie erkennt der Jurist unter dieser Voraussetzung, was Recht ist?" Das sind offensichtlich verschiedene Fragen. Die korrektesten Antworten auf die zweite Frage müssen variieren je nach den Lösungen, die der ersten Frage zuteil wurden. So entsteht so oft der Schein einer falschen Interpretation, da man, ohne dessen zu achten, von verschiedenen Voraussetzungen ausgegangen ist, da man sich verschiedener Auslegungsmethoden bedient hat. Die verschiedenen Auslegungsmittel führen zu voneinander abweichenden Auslegungsergebnissen, ohne daß sich die Vertreter dieser Richtungen mit Grund logische Fehler vorzuwerfen hätten. So klärt sich die Erscheinung auf, daß es auf dem Boden der Jurisprudenz Meinungsver-

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schiedenheiten in einer Menge gibt, welche einer jeden sonstigen Spezialdisziplin wohl unerhört ist. Die Unstimmigkeiten sind restlos auf Verschiedenheiten der Interpretation zurückzuführen, die sich bei näherer Untersuchung wiederum nicht so sehr aus Verschiedenheiten in der Durchführung der Interpretation denn aus der Verschiedenheit in bezug auf die angewendeten Interpretationsmethoden erklären lassen. Bei logisch korrekter Durchführung müssen nämlich die Ergebnisse einer und derselben Interpretationsmethode identisch sein, so daß der Ursprung der Divergenzen, korrekte Verfolgung des einmal eingeschlagenen Auslegungsweges vorausgesetzt, in der verschiedenen Wahl der Interpretationsmethode, in der Verschiedenheit des Ausgangspunktes der Rechtsbetrachtung zu suchen ist. Mit dem Auslegungsmittel wandelt sich das Auslegungsergebnis. In extremer Formulierung kann man sogar behaupten, daß es eben so viele Rechtsordnungen als Auslegungsmethoden gibt. Die Relation zwischen Recht und Rechtswissenschaft ist nicht die, daß dem einen unverrückbaren Rechte verschiedene Erkenntnismethoden desselben gegenüberstünden, sondern verschiedene Erkenntnismethoden der einen Rechtswissenschaft führen zu einer schillernden, verschwommenen, insbesondere mehrdeutigen Rechtsvorstellung. Durch den Spiegel der Rechtserkenntnis gebrochen, erscheinen mehrere Rechtsbilder; deren Berichtigung aus der Rechtssphäre heraus und damit die Einengung der Erkenntnismethoden zu einer Einheit, zu einem einzigen Strahle, welcher einlinear den Punkt des Rechtes mit dem seiner Wissenschaft verbinden würde, ist aber ausgeschlossen, da das Recht das logisch Sekundäre, das Erkenntnisobjekt ist. Um die Probe auf die gangbarsten widersprechenden Rechtserkenntnismethoden, die man als objektive und subjektive Auslegung einander gegenüberstellt, in Kürze zu machen, so führen eben diese Vorstellungsgänge zu grundverschiedenen, stark divergierenden Vorstellungsbildern, die, übereinandergebreitet, das Rechtssystem, sowie die einzelnen Rechtsnormen verschwommen und damit mehrdeutig erscheinen lassen. Wenn nun, wie so häufig, für das Auslegungsergebnis die Probe aus dem Recht gemacht wird, so führt sie - wie jede mathematische Probe - zum Ausgangspunkt zurück, ist aber gerade darum noch kein (logisch-juristischer) Beweis für die Richtigkeit der betreffenden rechtswissenschaftlichen Methode. Denn diese Richtig-

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keit wird - darin steckt der arge Denkfehler - an einem Maßstab gemessen, der mit dem Objekt der Messung zusammenfällt. Das Gemessene ist Maß zugleich. Jedes Recht ist (durch die es erkennende Rechtswissenschaft) schon irgendwie "ausgelegt", ist z.B. entweder ein Recht der historischen oder der objektiven Auslegung und wird als solches die Auslegungsmethode, die zu ihm geführt hat, notwendig bestätigen. Jedes Auslegungsergebnis der Rechtswissenschaft ist rechtlich einwandfrei, da das Recht das Antlitz seiner Wissenschaft zur Schau trägt. Wie die Rechtsauslegung, so das Recht. Juristische Beweise für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines Ergebnisses der historischen oder objektiven Auslegung - vorausgesetzt eben, daß diese Auslegungswege strenge, ohne Abirren von den Gesetzen der Logik verfolgt wurden - gibt es nicht. Wer sie zu besitzen meint, hat die Grenzen der Rechtswissenschaft überschritten. Zum ersten Male bricht sich diese Vorstellung im ausgezeichneten Werke Hecks 16 Bahn, um allerdings bald wieder verdunkelt zu werden, ja sogar in einer Weise, daß es zweifelhaft ist, ob den treffenden Worten die richtige, daraus zu entnehmende Vorstellung entspricht. "Bei unseren Einzeluntersuchungen" (warum - nebenbei! - nur bei diesen?) "müssen wir uns immer gegenwärtig halten, daß unser Gebiet nicht durch Gesetzesgebote geregelt ist. Unsere Aufgabe gehört daher nicht in das Gebiet der historischen Forschung" (will sagen: der Rechtserkenntnis), "sondern in das Gebiet der Rechtsfortbildung" (soll heißen: der Erkenntnistheorie des Rechts). "Die Endprobleme, die wir zu lösen haben, sind Probleme der Nonnierung" (d.h., wie vordem ausgeführt: Wir setzen eigentlich erst - oder zum zweitenmal von neuem - die N onn, indem wir ihre Erkenntnismittel aufstellen, und wir setzen sie in verschiedener Gestalt, je nach den verschiedenen Erkenntnismitteln, welche wir aufstellen). "Solche nonnative Aufgaben sind einmal zu scheiden von Erkenntnisproblemen" (d.h. richtiger, es ist zwischen einer Rechtserkenntnislehre und einer Rechtslehre, zwischen der Interpretationslehre und der eigentlichen Jurisprudenz zu unterscheiden). "Die Endfrage ist bei ihnen eine

16 Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914.

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'Sollfrage' und nicht eine 'Istfrage' . ,,17 Nun, innerhalb der eigentlichen Rechtswissenschaft handelt es sich im Gegensatz dazu allerdings in dem Sinne um eine Istfrage, als es sich durch die Anwendung bloßer logischer Mittel, durch reine Erkenntnis feststellen läßt, was unter der Voraussetzung dieser oder jener Interpretationsmethode Rechtens ist. Welche Interpretationsmethode jedoch anzuwenden sei, ist eine Sache außerrechtlicher, mehr oder minder dogmatischer Festsetzung. Und wie immer diese Festsetzung ausfallen möge, die unter dieser Voraussetzung operierende Rechtswissenschaft ist stets "im Rechte". Nur eine einzige Interpretationsmethode möchten wir (unter der Voraussetzung des Gesetzes als oberster Rechtsquelle) als logisch geboten erachten. Nicht sie allein ist in allen Fällen obligatorisch, aber doch auch niemals eine andere Interpretationsmethode ohne sie. Wir meinen die grammatisch-logische Interpretation und stellen als ersten Satz jeder Auslegungslehre auf, daß diese als erstes Auslegungsmittel zu dienen habe. Und in dem Sinne ist ihr Primat zu verstehen, daß sie das einzige notwendige, alle anderen sonst etwa in Betracht kommenden nur mögliche Auslegungsmittel sind. Diese primäre Rolle der grammatisch-logischen Interpretation gründet sich - was, wie sehr es auch in die Augen springen mag, immer wieder übersehen wird - darauf, daß sie als nichts denn die Berücksichtigung der dem Gesetze eigenen Ausdrucksmittel erscheint! Tritt doch das Gesetz in der Sprach- und Denkform auf und schließt damit, was die Theorie der Sprache und des Denkens lehrt, stillschweigend wie selbstverständlich in sich ein! Da liegt wohl die Vorstellung nahe, daß kraft Verweisung von Logik und Grammatik das Gesetz gilt. In ihrer primären Stellung wird die grammatisch-logische Interpretation nicht so durch das Recht, wie durch die Rechtserkenntnis sanktioniert. Das Gesetz bringt in der Gestalt der Sprache Gedanken zum Ausdruck. Denken und Sprache sind aber nicht bloß das Medium des Rechts, sondern auch der Rechtserkenntnis. Diese wendet die genannten Mittel ebenso unwillkürlich und sozusagen selbstverständlich an wie das Recht selbst. Es handelt 17

Heck, a.a.O., S. 105.

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sich also um jene Mittel der Rechtserkenntnis, mangels derer es überhaupt kein erkanntes Recht gäbe. Grammatik und Logik sind also jene Elemente, die durch die Rechtserkenntnis unfehlbar in das Recht hineingetragen werden, die aber darum das Recht doch nicht verfälschen, da es sich von vornherein nur um ein Recht der mit den normalen Erkenntnismethoden gewonnenen Rechtserkenntnis handelt, da wir ein von der Erkenntnis unberührtes Recht begriffiich nicht erfassen können. Grammatik und Logik sind also in keiner Hinsicht rechtsfremde Elemente. Kraft einer Verweisung des Gesetzes, die darin zu erblicken ist, daß es sich dieser Ausdrucksmittel selbst bedient, kann man diese als geltend annehmen. Diese logische Gebotenheit der grammatisch-logischen Interpretation geht so weit, daß wenn sie ausgeschlossen sein soll, das Gesetz ausdrücklich die Ausnahme machen muß. Eine solche Ausnahme ist z.B. eine - vom normalen Sprachgebrauch abweichende - Legaldefinition. Unterläßt das Gesetz die Legaldefinition, so gilt eben das, was der normale Sprachgebrauch unter einem Wort versteht. Und im Zweifel ist in einem Rechtssatz das normiert, was der normale Sinn unter dem Satze versteht. Etwas vom normalen Sinne Abweichendes bedarf ausdrücklicher Normierung. Und so ist andrerseits eine ausdrückliche gesetzliche Delegation des normalen Sprachgebrauches als Pleonasmus aufzufassen. Der Satz des § 6 des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches "Einem Gesetze darf in der Anwendung kein anderer Verstand beigelegt werden, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange ... hervorleuchtet", würde z.B. gelten, auch wenn er nicht geschrieben stünde. Ein solcher Satz ist nicht anders zu beurteilen, als wenn ein Gesetz erklärt, daß es allein Recht und daß alles andere ausgeschlossen sei. (Ob es Recht ist, hat es nicht selbst zu entscheiden, wenn es Recht ist, versteht sich damit aber gleichzeitig, daß nichts Widersprechendes als Recht angesprochen werden kann.) Unter der Voraussetzung, daß das Gesetz Recht ist, stellt sich aber andrerseits doch nur die grammatisch-logische Interpretation als geboten dar und sind alle anderen denkbaren Interpretationsmethoden höchstens möglich und immer akzessorisch-suppletorisch. Dort - in diesen jedenfalls sehr zahlreichen Fällen - erscheinen sie als möglich,

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wo die grammatisch-logische Interpretation nicht zu einer eindeutigen Lösung gelangt. 18 Zwischen diesen mehreren Interpretationsmöglichkeiten, welche sich bei der Beschränkung der Interpretationstheorie auf die grammatisch-logische Interpretation rechtlich alle gleich stellen, muß die Praxis eine engere Wahl treffen. Ihr wandeln sich die weiteren Interpretationsmethoden zu unentbehrlichen Lückenausfüllungsmitteln, zu Mitteln, innerhalb des von der Auslegungstheorie freigegebenen Rahmens zum Einzelfalle hinabzusteigen. Der Theorie ist aber bei unserer Voraussetzung eine ähnliche Wahl verwehrt; es genügt nicht, wie man etwa glauben könnte, daß sie wenigstens eine dieser Interpretationsmethoden gelten lasse, es steht ihr nicht frei, die anderen zu verwerfen. Wenn man sich paradox ausdrücken will: Die Lückenfeststellung, nicht aber die LückenausjUllung fällt in die Kompetenz der Rechtswissenschaft. Sie hat sich damit zu bescheiden, daß sie erklärt: Hier ist ein rechtsfreier Raum, hier findet sich eine Variationsmöglichkeit. Das Recht der Variation, das mit dem Ausschluß aller übrigen Möglichkeiten einhergeht, steht bloß der Praxis offen. Dies unter der Voraussetzung, daß sich die Interpretationsproblematik auf das Interpretationsprinzip der grammatikalisch-logischen Auslegung beschränkt. Eine Einengung der rechtswissenschaftlichen Lösungsmöglichkeiten ergibt sich nun durch eine Erweiterung der Interpretationstheorie, durch eine Vermehrung der Interpretationsprinzipien. Die grammatikalisch-logische Interpretation deckt sich so ziemlich mit dem Bereiche der objektiven Auslegung, der Wortlautmeinung Kohlers; sie läßt die meisten Lösungsmöglichkeiten offen, ihr ist der weiteste gesetzesfreie Raum zugeordnet. Der Einengung des Auslegungsergebnisses in der Richtung der Eindeutigkeit dient es, wenn die Interpretationstheorie als weiteres Auslegungsprinzip etwa die Materialienforschung aufstellt; also eine Art der subjektiven (historischen) neben der objektiven Interpretation. Neben ihr - denn diese selbst wird dadurch nicht ausgeschlossen, sie wird nur in eigentümlicher Weise modifiziert. Das Verhältnis von objektiver und subjektiver Interpretation ist nämlich nicht, wie meist angenommen wird, das einer gegenseitigen Ausschließung - es handelt sich vielmehr meist um zwei konzentrische Kreise; das besondere Ergebnis der historischen Interpretation ist im Rahmen der grammatikalisch-logischen 18 Daß dies der Regelfall ist, hat Verdroß, a.a.O., treffend entwickelt.

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Interpretation in der Regel mitenthalten - es hätten sich denn die Kodifikatoren sprach- und denkwidrig unter einem bestimmten Rechtssatze etwas anderes gedacht, als sich durch logisch-grammatikalische Auslegung aus ihm ergibt. Der Rechtssatz, den der an diese vom Rechtsphilosophen und Interpretationstheoretiker geleistete Vorarbeit anknüpfende Jurist formuliert, lautet vollständig: Unter der Voraussetzung, daß das Gesetz oberste Rechtsquelle und daß diese Rechtsquelle historisch-subjektiv auszulegen ist, gilt das und das als Recht. Man darf nun aber nicht zurückschließen und sagen: Weil dies und jenes als Recht gilt, ist diese oder jene Interpretationsmethode rechtlich geboten. Eine andere Interpretationsmethode hätte zu einem anderen rechtswissenschaftlichen Ergebnis geführt und mit demselben guten oder besser schlechten Grunde hätte man dann diese andere Interpretatiosmethode für rechtlich geboten erklären können. Wer aber aus der auf einer bestimmten Auslegungsmethode gewonnenen Rechtserkenntnis auf deren juristische Gebotenheit, ja überhaupt nur auf deren Richtigkeit die ja allenfalls noch zuläßt, daß auch andere Ergebnisse richtig sindzurückschließt, bewegt sich in einem unentrinnbaren Zirkel. Das Beispiel hat gezeigt, daß die metajuristischen Voraussetzungen bei der historisch-subjektiven Auslegung vermehrt, erweitert sind, was zur Folge hat, daß das Auslegungsergebnis eingeengt ist. Und dies gilt für alle Interpretationsmethoden, welche außer Grammatik und Logik noch weitere Voraussetzungen in den GesetzesbegrifT aufnehmen, für die Interessenforschung Hecks, für die soziologische Deutung der Rechtssoziologen und noch für viele andere. Der Irrtum der meisten dieser Theoretiker ist jener, daß sie, was höchstens als rechtslogisch möglich erklärt werden kann, als rechtswissenschaftlich geboten erachten. Es gibt aber nur ein Mittel, eine dieser engeren Auslegungsregeln mit rechtlicher Kraft auszustatten und die anderen mit rechtlicher Kraft auszuschließen: 19 das ist die sogenannte gesetzliche Auslegungs19 Man befindet sich nämlich meist in dem Glauben, daß nicht nur das eine favorisierte Auslegungsprinzip rechtlich geboten, sondern daß damit auch jedes andere - de iure gleich gut mögliche - rechtlich verwehrt sei.

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regel. Sie, die zur Normierung der logisch-grammatikalischen Interpretation ein Superfluum ist, ist zu der einer jeden anderen Auslegungsregel eine condicio sine qua non. Aber in solcher Gestalt wandelt sich der wissenschaftliche Charakter der Auslegungsregel. Der allgemeine Satz, mit dem die Auslegungstheorie von Wurzel 20 charakterisiert wird, kann nicht anders als für verfehlt erklärt werden: "Die Gesetze, welche die Auslegung beherrschen, sind Naturgesetze und keine Rechtsnormen." Wenn auch nicht Rechtsnormen, so sind sie doch Normen, allerdings solche einer dem Rechte transzendenten Rechtserkenntnistheorie (was natürlich nicht ausschließt, daß man außerdem auch naturgesetzliehe Regeln der tatsächlichen Auslegungspraxis - wie übrigens auch der Rechtspraxis - aufstellen kann). Aber ebenso richtig, wie jener Satz falsch, ist die "sehr wichtige Einschränkung", die der Satz erfahren muß. "In der Form von Auslegungsregeln verbergen sich sehr oft neue Rechtsvorschriften. ,,21 "Diese neuen Rechtsvorschriften " sind eben die gesetzlichen Auslegungsregeln . Einen - sonst möglichen - Sinn des Gesetzes sind sie in der Lage auszuschließen, eine nur mögliche Bedeutung zur gebotenen zu erheben. So das bürgerliche Gesetzbuch, wenn es im § 6 auf die "Absicht des Gesetzgebers" verweist. Damit ist jedem einzelnen Rechtssatz seine grammatikalisch-logische Bedeutung mehr oder weniger einengend, denkbarerweise auch sie modifizierend - die Absicht des Gesetzgebers als maßgeblich vorangestellt. Statt daß er seine Absicht bei jedem einzelnen Rechtssatz erschöpfend gesagt hätte, ist auf etwaige anderweitig sich findende Willensäußerungen verwiesen. Bildlich gesprochen, bedeutet die gesetzliche Auslegungsregel einen gemeinsamen Faktor, der aus sämtlichen Rechtsnormen der Einfachheit oder Übersichtlichkeit halber herausgehoben ist - nicht anders als alle anderen sogenannten allgemeinen Teile. Auch dieser um die Auslegungsnorm ergänzte Rechtssatz unterliegt aber nach wie vor der Rechtsauslegung . Wie ein Gesetz auszulegen sei, kann letzten Endes trotz allen gesetzlichen Auslegungsregeln nie das Gesetz selbst bestimmen, fällt vielmehr stets in die Kompetenz der das selbstherrlich-

20 Das juristische Denken, Wien 1904, S. 14. 21 Wurzel, ibidem.

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ste Recht zu ihrem Objekte wandelnden und damit dieses Objekt sich unterwerfenden, über das Recht erhabenen Wissenschaft.

9 A. 1. Merkl

Das Recht im Lichte seiner Anwendung * Recht und Wissenschaft vom Recht Dem Fragenkreise der Gesetzesauslegung gehört das Meiste und das Beste an, was die neuere juristische Literatur an Werken, Abhandlungen und Aufsätzen allgemeinen Inhalts unserer Wissenschaft beschert hat. Aus dem ungeheuren Wirrsal der Einzelfragen, zu dem die Jurisprudenz immer tiefer hinabgestiegen war, ist sie wieder zur einfachen Mehrheit ihrer Grundfragen - wenn es nicht gar eine Einheit ist - hinaufgestiegen. Auchjene haben ihren wohlverdienten Platz in der Wissenschaft und nehmen mit Recht den weitaus größeren Raum ein, auch jene haben ihren guten Sinn, ihren großen Wert, ja, ihnen kommt im Rahmen der Wissenschaft unumgängliche N otwendigkeit zu - aber diese bedeuten Boden und Spitze, Anfang und Vollendung der Disziplin. Wie wohl in jedem einzelnen Vertreter unserer Wissenschaft, so kommen auch für die Wissenschaft des Rechts im ganzen Augenblicke, wo sie sich sozusagen ihres Daseins - ihres Existenzgrundes - besinnt; der nie völlig zu ertötende philosophische Trieb führt Fragen dieser Art herauf und bringt unseren Problemkreis der Forschung näher; er läßt, wenn die interessantesten Spezialfragen

Deutsche Richterzeitung, 8. Jg. (1916), Sp. 584-592; 9. Jg. (1917), Sp. 162-176,394398, 443-450; I!. Jg. (1919), Sp. 290-298. Mit geringfügigen Veränderungen als selbständige Schrift erschienen in der Helwingschen Verlagsbuchhandlung, Hannover 1917 (umfaßt nur die Beiträge aus dem 9. Jg.). Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. I, S. 1167-1201 (umfaßt nur die Beiträge des 9. J gs.). Italienische Übersetzung unter dem Titel "11 diritto dal punto di vista applicativo" in: 11 duplice volto dei diritto, S. 281-323 (umfaßt nur die Beiträge des 9. Jgs.) .



Die ersten beiden Teile der Artikelserie erschienen unter dem Titel" Das Recht im Spiegel seiner Auslegung", der Rest unter dem Titel "Das Recht im Lichte seiner Auslegung". Da im vorliegenden Text die Überarbeitung anläßlich der selbständigen Wiederveröffentlichung im Jahre 1917 berücksichtigt ist - die entsprechenden Textteile sind in eckige Klammern gesetzt - wurde auch der dortige Titel gewählt. Die in der selbständigen Wiederveröffentlichung nicht mehr enthaltenen Teilüberschriften sind kursiv gesetzt. 9"

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schal erscheinen, die allgemeinen Fragen unserer Wissenschaft, die eigentlich zeitlos-stetig aktuell sind, ganz besonders aktuell erscheinen. In diesem Problemkomplex findet sich nun auch die Frage der Rechtsauslegung. Nicht als die unbedeutendste und nicht als die letzte - gerade für den Juristen ist sie unter den Fragen der juristischen Erkenntnistheorie die wichtigste - aber jedenfalls die letzte in dem Sinne, daß sie an der Grenze der juristischen Wissenschaft steht. Dies ist aber eben die erste Frage, gewissermaßen das Vorproblem des Auslegungsproblems: Gehört die Auslegungstheorie überhaupt noch der Jurisprudenz an, ist sie nicht ein Stück Rechtsphilosophie, Philosophie schlechthin? Und gerade dieses meinen wir: die Problemstellung der Auslegungstheorie ist ja doch wie die der juristischen Erkenntnistheorie: Was ist Recht? Allerdings wirft die Auslegungstheorie wie auch die Auslegung selbst diese Frage nicht völlig voraussetzungslos, sondern gewissermaßen unter der Bedingung auf, daß, was im allgemeinen als Recht zu betrachten sei, bereits feststehe. Die Rechtsquelle muß außer Streit stehen oder wird wenigstens als außer Streit stehend angenommen; die Auslegung fragt: Was ist unter der Voraussetzung, daß etwa das Gesetz oberste Rechtsquelle ist, im einzelnen als Recht zu erkennen? Oder besser: wie, aufweIchen Wegen, mit weIchen Mitteln ist aus der gegebenen Rechtsquelle im einzelnen Falle das Recht zu finden? Denn das erste: Was ist im einzelnen Falle Recht? ist eigentlich bereits die Frage des Rechtsinterpretators, des eigentlichen Juristen, weIcher nicht nur auf der Vorarbeit des Rechtsphilosophen, der ihm die Rechtsquelle an die Hand gegeben hat, sondern insbesondere auch auf der des Interpretationstheoretikers fußt, weIcher ihm die Mittel und Wege an die Hand zu geben hat, damit er die abstrakte generelle Norm der Rechtsquelle zu konkretisieren und zu individualisieren, kurz sie für die unmittelbare Anwendung bereit zu stellen oder selbst anzuwenden vermöge. Dieses ist, um zusammenzufassen, Sache des praktischen, jenes Sache des theoretischen Juristen; beide bauen auf der Vorarbeit des Rechtsphilosophen, d.h. des Rechtserkenntnistheoretikers und im besonderen des Auslegungstheoretikers auf; was ja natürlich nicht ausschließt, daß sie diese ihrem Fache transzendente Vorarbeit selber leisten. Es muß dabei nur daran festgehalten werden, daß sie dies nicht als Juristen tun.

Das Recht im Lichte seiner Anwendung

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Nun wird wohl mancher meinen: dies sei nur ein terminologischer Streit, der eben darum unfruchtbar und unberechtigt sei. Es könne gleich bleiben, ob die Lehre von den Auslegungsmitteln philosophischer oder juristischer Natur sei, wenn sie nur überhaupt tradiert werde - und wie, darauf komme es in erster Linie, wenn nicht ausschließlich an. Dem ist aber doch nicht ganz so. Wie uns scheint, ist gerade dies der einschneidendste Fehler der herrschenden Auslegungslehre und das ist ihre einstimmige Gemeinsamkeit, der heutigen Auslegungstheoretiker, mögen sie in allem anderen auch noch so voneinander abweichen, daß sie sich ihrer im Verhältnis zur Rechtswissenschaft transzendenten, ihrer metajuristischen Stellung im Wissenschaftssysteme nicht bewußt werden. Die Auslegung, der doch offenbar die Rolle eines Werkzeugs der Rechtserkenntnis zukommt, kann doch nicht gleichzeitig ein Gegenstand der Rechtserkenntnis sein! Mit welchem Werkzeuge würde man denn dieses besonderen rechtlichen Erkenntnisobjektes Herr werden? Doch wieder nur mit Auslegung. Doch diese Auslegung des rechtlichen Interpretationsproblems kann doch selbst nicht wieder juristischer N atur sein. Ich vermute, daß man die gesetzlichen Auslegungsregeln als Argument gegen diese Aufstellungen ausspielen wird. Mit Unrecht würde man dies aber tun. Freilich, die gesetzlichen Auslegungsregeln sind ein Bestandteil des Rechtes und zufolge dieser ihrer Eigenschaft nicht bloß ein Werkzeug, sondern auch ein Gegenstand der Rechtserkenntnis und damit auch der Rechtsauslegung, welche nur den Weg zur Rechtserkenntnis darstellt. Aber diese eigentümliche Doppelfunktion der gesetzlichen Auslegungsregeln entkräftet doch nicht unsere Behauptung von der außerrechtlichen Natur der Auslegungsregeln, richtiger, von der Notwendigkeit des Bestandes außerrechtlicher Auslegungsregeln. 1 Lehrt uns nicht jede allgemeine Rechtslehre, die eben insoweit nicht das ist, was sie zu sein vorgibt, sondern allgemeine Rechtserkenntnislehre ist, wie diese Auslegungsregeln auszulegen seien? Nach welchem Prinzipe geht nun dieser Zweig der Auslegungs1 Allerdings stellen die gesetzlichen Auslegungsregeln einen Versuch dar, die Wis· senschaft des Rechtes von der Seite des Rechtes, des Wissenschaftsobjektes aus zu in· fluenzieren.

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lehre vor? Nach Auslegungsregeln - die aber offenbar nicht wieder Auslegungsregeln rechtlicher Natur sind. Mit Auslegungsregeln von Auslegungsregeln haben wir es also hier zu tun, die aber, soll nicht das alogisch-komische Bild vom Münchhausen, der sich am eigenen Zopfe aus dem Sumpf zieht, zutreffen, verschiedener Natur sein müssen.

*** Die Wissenschaft vom Recht ist Rechtsauslegung; die rechtlichen Erkenntnisse sind Produkte der Auslegung, daher fällt die Funktion der Rechtserkenntnis mit der Auslegungstätigkeit in eins zusammen. In dieser Reduktion der Jurisprudenz auf die Interpretation mag man eine Deteriorierung erblicken - was uns aber nicht abschrecken könnte, diese Konsequenz zu ziehen. Tatsächlich ist die Rechtslehre vielfach so inkonsequent, mit bloßen Fragen der Rechtsauslegung, welche in jeder juristischen Darstellung - wenn auch unbewußt - die durchschnittlich weitaus überwiegende Rolle spielen, Fragen der Auslegungstheorie und sonstige allgemeine Probleme, die mit ihr auf ein und derselben Linie stehen, - hier des disparaten Charakters der behandelten Dinge unbewußt - wahllos zu vermengen und dadurch die Jurisprudenz, wie man sich, wenn man hiebei ziel bewußt vorgeht, auszudrücken pflegt: "zu bereichern". Denn das ist die Eigenschaft, die vor einer strengen Konsequenz im Betriebe der Jurisprudenz so abschreckt: daß sie dann so "schrecklich arm" erscheine. Das ist aber allerdings nur eine Verschlimmbesserung, wenn man die Jurisprudenz auf Kosten eines Dinges, das mit ihm so gut wie nichts gemein hat, zu bereichern sucht. Philosophie vom Recht, wozu auch die sogenannte Auslegungstheorie gehört, ist etwas anderes als die Wissenschaft vom Recht, die, wie gesagt, mit der Rechtsauslegung identisch ist. Wem diese nicht genügt, der betreibe dann eben offen jene; er muß sich dann aber gegenwärtig halten, daß er nicht mehr Jurist - auch nicht theoretisierender Jurist - sondern Rechtstheoretiker ist, also einer, der souverän über dem Rechte und nicht etwa inmitten des Rechtes steht. Ist Interpretation das Wesen der Rechtswissenschaft, so ist ihre Funktion, Dinge, die schon gesagt sind, nochmals zu sagen; selbst-

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verständlich - sonst würde sich ja die ganze Jurisprudenz erübrigen mit anderen Worten, aber doch nicht - denn sonst würde sie ja ihrer Aufgabe als Wissenschaft wieder nicht genügen - sachlich verschieden. Es ist ihre Aufgabe und die Kunst der von ihr gelösten Aufgabe, nicht anderes, sondern gleiches (wie ihr Objekt, das Recht) zu sagen, dieses Gleiche aber doch anders zu sagen, als es das Recht gesagt hat. Ich habe schon an anderer Stelle ausgeführt, 2 daß der Kommentar nicht nur die sachgemäß-typische, sondern die geradezu notwendige Ausdrucksform der Jurisprudenz ist, wofern man den Begriff des Kommentierens nur halbwegs weit faßt. Interpretieren ist also kommentieren; doch der Kommentar im engsten Sinn weist das Interpretationsergebnis noch in ungeordnetem Zustande, gewissermaßen als Rohprodukt auf. Es hat dann noch das Systemisieren zum Kommentieren hinzuzutreten, um dieses Rohprodukt in ein abgerundetes wissenschaftliches System, in das Endprodukt der Interpretationsfunktion umzusetzen. Es handelt sich also lediglich um Reproduktion einer gegebenen Erscheinung - und dies mag ja die Abkehr von einer so "armen" Wissenschaft, nicht aber die Verwerfung dieser Auffassung von der Rechtswissenschaft rechtfertigen. Diese müßte aber gleichzeitig die Abkehr von allem Wissenschaftsbetriebe bedingen, denn gehört das Reproduzieren nicht zum Wesen der Wissenschaft und ist es nicht das große Vorrecht und der schöne Vorzug der Kunst,3 im Gegensatz zur Wissenschaft Neues zu schaffen? Für die Erkenntnisfunktion ist das Objekt der Wissenschaft zwar nicht gegeben; ist es einfach noch nicht vorhanden, solange es noch nicht eine Wissenschaft von diesem Gegenstande gibt, aber die Wissenschaft setzt doch gerade voraus, daß ihr Objekt schon irgendwie - wenn auch nur im Sinne des erkenntnistheoretischen Idealismus als Vorstellung, genauer als Inhalt einer Vorstellung - "in rerum natura" sei und daß sie es aus dieser Gegebenheit nur in die Sphäre oder in das Licht der Erkenntnis emporzuheben brau2 Vgl. meine Abhandlung "Zum Interpretationsproblem ", Grünhutsche Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 42. Bd. (1916), 535-556. 3 Außerdem auch der Technik, zu der auch unter anderem die Technik der Rechtsanwendung gehört, welche also, um einen Grad der Kunst verwandter als ihre Partnerin auf theoretischem Gebiet, nämlich als die Wissenschaft vom Recht, einen Anflug von Kunst an sich tragen könnte.

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che. Es handelt sich also doch nur um relatives "Nichtgegebensein", das ein absolutes "Dasein" voraussetzt, um ein Nichtgegebensein für die Erkenntnis oder gar nur für die qualifizierte wissenschaftliche Erkenntnis, während eine niedrigere psychische Funktion mit derselben Gegebenheit als etwas Seiendem operiert. Der Effekt des Wissenschaftsbetriebes ist also nur, daß er Gegebenes in eine höhere psychische Funktion umsetzt, daß er es in einer anderen, höheren Form erscheinen läßt, wobei es den Schein des Neuen annimmt. Und warum Schein? Neues tritt ja doch dazu, auch die Form ist in gewissem Sinne eine Realität. Und warum soll man schließlich auch hier nicht von Kunst sprechen? Die Zutat aus der Subjektivität der erkennenden Person heraus ist ja unverkennbar, wenn es sich auch nur, wie schon das Wort sagt, um eine Zutat zu Gegebenem und nicht wie bei der Kunst, um eine Tat handelt. Verschwimmen so letzten Endes die Grenzen zwischen Produktion und Reproduktion, indem sich diese, relativ betrachtet, auch nur als eine Art Produktion erweist, und wird man bei der sogenannten Produktion auch anderseits reproduktive Elemente nachweisen können, verschwimmen des weiteren mit diesen charakteristischen oder doch nur als charakteristisch angenommenen Merkmalen die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, so wird die Distanz einer auf das Interpretationsproblem zurückgeführten und mit ihm sich bescheidenden Rechtswissenschaft von anderen Wissenschaften so gering, daß niemand das Recht hat, sich "um des wissenschaftlichen Prinzipes willen" von einer derart sich bescheidenden Rechtswissenschaft abzukehren, "weil sie dem wissenschaftlichen Geiste nicht genüge", oder sie mit außerjuristischen Gegenständen zu belasten und damit, statt sie zu bereichern, zu verfälschen. Auch sämtliche Naturwissenschaften, die doch von der Jurisprudenz gewiß grundverschieden sind, wenn sie mit ihr auch gewisse Berührungspunkte aufweisen, 4 üben dieselbe Funktion, daß sie nämlich Gegebenes - sie speziell die sogenannte "Natur" - systematisch deuten, interpretieren und damit dem Menschen, im besonderen dem menschlichen Bewußtsein, der menschlichen Erkenntnis näher bringen.

4 Nicht mit Unrecht hat man die Jurisprudenz eine Mathematik genannt und könnte von dieser letztem anderseits als der Rechtswissenschaft der Naturtatsachen sprechen.

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Ich sehe also auch nicht ein, was bloß unter diesem Gesichtspunkt gewonnen wäre, wenn wir, namentlich nach dem Vorschlage der Rechtssoziologen, 5 die Rechtswissenschaft naturwissenschaftlich gestalten wollten. Von ihrer Interpretationsaufgabe hätte sie sich weit entfernt, Reproduktion wäre sie aber trotzdem - auch als N aturwissenschaft - geblieben, ohne dadurch eine interpretative Kunde vom Rechte (die nur nicht unter dem Titel einer Wissenschaft auftreten dürfte) entbehrlich zu machen. Zwischen der rein interpretativen Jurisprudenz und der noch so lebendig-schöpferischen Naturwissenschaft bestehen unter dem Gesichtspunkt des Produktiven oder Reproduktiven, der Armut der Nachahmung oder des Reichtums der Neuschöpfung nur graduelle, keine essentiellen Unterschiede. Auch so, wie von uns verstanden, ist die Wissenschaft vom Rechte eine Wissenschaft wie jede andere.

*** Aber eine auffällige Besonderheit hebt sie doch von anderen ab. Sie reproduziert in Worte und in Gedanken Gefaßtes in Worten und Gedanken. Kaum haben andere als die Sprachwissenschaften dieses Substrat mit der Rechtswissenschaft gemein. Das Reproduzierte kann hier nur dieselbe Form aufweisen wie das zu Reproduzierende. Bei dieser nahen Berührung zwischen dem Gegenstand der Reproduktion, deren Mittel und deren Ergebnis scheint sich der schöpferische Faktor sehr zu verkleinern. Größer scheint er hingegen wieder dort zu werden, wo nicht das Substrat des geschriebenen Rechts gegeben ist, wo das Objekt gewissermaßen aus dem Nichts herauszufinden (allerdings nicht zu schaffen), aus einem formlosen Dinge in Gedanken und Worte zu fassen ist. Doch dieses verschiedene Äußere, die Tatsache, daß das geschriebene Recht in die Gedanken und Sprachform gefaßt ist, ändert nichts am Wesen der Erkenntnisfunktion. Man kann nicht einmal behaupten, daß sie prinzipiell erleichtert werde, was ja sicherlich kein 5 Vgl. insbesondere Eugen Ehrlich, [Grundlegung der Soziologie des Rechts,)· München und Leipzig, 1913; geistesverwandt sind ihm insbesondere Bozi und Fuchs .

• Die Titelangabe fehlt im Original; eine - offensichtlich nicht veröffentlichte - Besprechung dieses Werkes durch Merklliegt den Herausgebern vor und wird im letzten Band dieser Ausgabe abgedruckt.

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wesentliches, weil nur am erkennenden Subjekt, nicht am Erkenntnisobjekt festzustellendes Phänomen sein könnte. Muß ja doch das Geformte oft sozusagen in die Urform des Unerkannten - zu Erkennenden, d.i. im Grunde eine Unform, die Negation der Form - zurückgeführt werden, um von dieser Stufe aus eine reine, von der Sprachund Gedankenform des Erkenntnisobjektes abstrahierende Erkenntnis zu ermöglichen,6 muß sie von den Schlacken der Sprache gereinigt werden, in die sie gegossen ist. Auf dieser Stufe würden sich also ungeschriebenes Gewohnheitsrecht und das seiner besonderen Qualität entkleidete Gesetzesrecht begegnen und würde also keineswegs das Verhältnis derart sein, daß die Erkenntnisoperation bei diesen kürzer und mithin einfacher und unwissenschaftlicher wäre als bei jenem. Übrigens ist Kompliziertheit der Erkenntnisoperation ebensowenig Kriterium der Wissenschaftlichkeit wie ihre Kürze notwendig Beweis der Unwissenschaftlichkeit. Übrigens besteht zwischen Rechts- und Sprachwissenschaften nur eine sehr äußerliche Berührung. Die Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne hat die Sprache als Form zu ihrem Gegenstande und abstrahiert von jeglichem Inhalt, hingegen tritt der Rechtswissenschaft die Form der Sprache doch nur als das Medium eines gewissen Inhalts entgegen. Nur der Inhalt der Sprachform interessiert sie also, während die Sprachwissenschaft mit ihrem Interesse an dieser Form haften bleibt. Gerade dieses Hinausdringenmüssen über die Sprachform, wobei diese passiert werden muß, ist für die Rechtswissenschaft charakeristisch; mit Spezialdisziplinen der Sprachwissenschaft hat allerdings auch dies die Rechtswissenschaft gemein: mit den interpretativen Disziplinen; die Interpretation literarischer Erzeugnisse erweist sich dabei freilich als ein Zweig der Sprachwissenschaft, der diesen Titel nur zu Unrecht führt. Denn auch hier handelt es sich um die Abstraktion von der Form, um die Überwindung des rein Sprachlichen und Gewinnung der Erkenntnis des Sachlichen. Es gilt gewissermaßen 6 Beim Erkenntnisziele ist diese Abstraktion bei unserer Abhängigkeit von der Sprach- und Denkform allerdings nicht zu erreichen. Den Ballast nicht nur, sondern auch die Fehlerquelle, die damit gegeben ist, daß jede Erkenntnis an die Sprach- und Denkform gebunden ist, müssen wir unvermeidlich in Kauf nehmen. Das ist vielleicht die schwerstwiegende Unzulänglichkeit jeder menschlichen Erkenntnis, daß sie, wenn sie nach Ausdruck ringt - und das ist doch auch ihr Zweck - mit den Unvollkommenheiten namentlich der Sprache belastet ist.

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auch, Fesseln der Sprache zu sprengen, die aber freilich bei der literarischen Produktion künstlerischer Natur ihre besondere Bedeutung hat, bei der Rechtserscheinung aber ganz zurücktritt und tatsächlich nur die Rolle des Ungewollt-Unvermeidlichen spielt. Der Parallelismus ist also nicht vollständig. Ein Zustand ohne Gesetze wird selbst von denen als Ideal empfunden, die an der Allmacht von Recht und Staat überzeugungstreu festhalten. Ein solcher gesetzloser müßte ja keineswegs ein rechtloser Staat sein. Platons Idealstaat mit dem Richterkönig ist ein Staat ohne Gesetze, aber mit vollendetem Recht; es ist eben an ein Recht für den Einzelfall an Stelle der generellen Rechtsnorm gedacht. Aber nicht nur, weil das Recht, das für den Einzelfall, zugleich mit dem Akte der Rechtsanwendung gesetzt wird, diesem Einzelfalle besser angepaßt zu sein verspricht - eine Anpassung, die das Gesetzesrecht trotz Blankettrechtssatz und freiem Ermessen nie zu erreichen vermag -, sondern vor allem auch aus dem technischen Grunde steht das geschriebene dem am Einzelfall gefundenen wie allem ungeschriebenen Rechte nach, weil zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung die Gesetzesinterpretation zu liegen kommt, die als recht unbequeme Brücke die beiden verbindet oder fast eher trennt. So ist der gedanklich-sprachliche Ausdruck, die Form des Gesetzes ein notwendiges Übel, also weit entfernt von der bedeutsamen, einen Selbstzweck erfüllenden Funktion, die dem in Sprachform gegossenen Gedanken bei der poetischen Produktion zukommt. Ein notwendiges Übel der Kundgebungen des Rechts - das würde wohl den Gedanken nahelegen, diesen Kundgebungen des Rechts keine allzugroße Bedeutung beizumessen, und wenn man nach dem Rechte forscht, auch andere Dinge in Rücksicht zu ziehen außer dem gedanklich-sprachlichen Ausdruck. Die Geringschätzung vor dem gedanklich-sprachlichen Ausdruck macht den Wunsch rege, dem Rätseldinge, das sich in eine so banale Form kleidet, auf den Grund zu gehen und verleitet von diesem Ausgangspunkt, von der in Worte gefaßten Kundgebung des Rechts weit abzugehen; veranlaßt insbesondere, in dieser Kundgebung bloß eine Willensäußerung zu erblicken, die vom "wahren Willen" des Rechts ins Unrecht gesetzt werden könne.

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Wo liegt nun aber jener "Grund", dem man "auf den Grund gehen", welcher ist jener "wahre Wille", der den ausgesprochenen Rechtssatz ins Unrecht setzen könnte? Dieses Problem oder vielmehr seine Lösung ist aber, wie man sieht, das juristische Hauptproblem, sozusagen die Existenzfrage aller Jurisprudenz; es ist das Fundament, das sie nicht setzen kann, das sie voraussetzen muß, um darauf zu bauen. Was im allgemeinen Recht sei, kann die Jurisprudenz nicht ausmachen; die Rechtserkenntnistheorie muß ihr dieses Objekt an die Hand geben, die Rechtserkenntnistheorie sagt ihr z.B.: "das Gesetz ist Recht"; "die Gewohnheit ist Recht". Die Rechtswissenschaft fragt sich erst: "Was ist unter dieser allgemeinen Voraussetzung im besonderen Recht?" Sie will Rechtserkenntnisse an diesen Erkenntnisgegenstande finden. Zur Klarheit über diesen Erkenntnisgegenstand gehört aber insbesondere auch die Lösung der Frage, wie man ihn von seiner äußeren Form - wo eine solche, wie im Falle des Gesetzes, sichtbar vorhanden ist - abzugrenzen habe. Fällt das, was man als Recht im einzelnen untersucht, mit dem sprachlichen Ausdruck zusammen, wenn nicht, wie weit differiert es von ihm? Daß das Wesen des Rechts nichts als die Worte seien, die das Gesetz macht, wird keiner annehmen wollen, der nicht das Recht um allen Sinn und damit eine Wissenschaft vom Recht um ihren Existenzgrund bringen möchte. Konsequent fortentwickelt, würde ja diese formalistische Theorie - Formalismus an sich ist ja kein Übel, sondern ist nur dort zu vermeiden, wo der Gegenstand, den man behandeln möchte, notwendig materieller ist als jene Form - dahin führen, die Buchstaben, ja mehr noch: den Druck im Reichsgesetzblatt als Wesen des Rechts aufzufassen. Nicht weniger absurd wäre das Haftenbleiben am Worte, das selbst nicht der "Wortlautmeinung" Kohlers entspräche. Die Rechtswissenschaft muß, soll sie sinnvoll sein, als eine Inhaltswissenschaft verstanden werden; so kann das Gesetz, das geschriebene Wort auch nur Form für einen bestimmten Inhalt sein, auf den es ausschließlich ankommt. Und doch spielt bei dieser Auffassung der Jurisprudenz als einer Inhaltswissenschaft das geschriebene Wort eine große Rolle. Es kann sich nämlich fragen, ob man als Form dieses aufzusuchenden Inhalts lediglich den Gesetzeswortlaut anzusehen oder ob man den Inhalt

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auch aus anderen Quellen zu entnehmen habe; ob das Gesetz die einzige oder nur eine der Quellen, das heißt hier Fonnen des Rechts sei. Das ist die Frage, um deren beide entgegengesetzten Lösungsmöglichkeiten es sich bei dem Gegensatze von subjektiver und objektiver Auslegung handelt. Dabei darf man als objektive Auslegung nicht etwa eine Auffassung verstehen, die das Recht mit dem Gesetzeswortlaut gleichsetzt; vielmehr ist auch dieser Auslegungsmethode der Gesetzeswortlaut nur Mittel und die Auffindung des Inhalts, der diesem Gesetzeswortlaut zu entnehmen ist, ihr Zweck; der Unterschied von anderen Interpretationsmethoden besteht bloß darin, daß ihr der Gesetzeswortlaut ausschließliches Substrat ist, während insbesondere die sogenannte historische Interpretation auch nach einem anderen Substrate sucht, da ihr das Gesetz allein nicht genügen will. Unverkennbar bedeutet aber das Hereinbeziehen der Materialien oder gar die Frage nach dem subjektiven Willen der am Gesetzgebungswerk beteiligt gewesenen Personen ein Abrücken von der Rechtsquelle des Gesetzes in der Richtung weniger fonnaler Rechtsquellen bis zum ungeschriebenen Recht. Bei der größten Pressung des Gesetzesbegriffes lassen sich Gesetzgebungsmaterialien sowie die unausgesprochenen oder zumindest nicht in Gesetzesfonn ausgesprochenen Gedanken und Wünsche der am Gesetzgebungswerk beteiligt gewesenen Personen nicht unter den Begriff des Gesetzes subsumieren. Wenn also die Wahl zwischen den beiden hauptsächlichen Interpretationsmethoden einer Wahl zwischen zwei verschiedenen Rechtsquellen gleichkommt, so können es nicht rechtliche Gründe sein, die für die eine oder die andere Interpretationsmethode sprechen. Die Entscheidung für die eine oder andere Interpretationsmethode ist noch der Rechtswissenschaft transzendent; erst nach dieser Entscheidung hebt die Rechtswissenschaft an. Diese wird sich verschieden entwickeln und vom Rechte abweichende Bilder entwerfen, je nachdem ob sie auf die subjektive oder objektive Interpretation eingestellt ist; das Recht wandelt sich mit seiner Auslegung; wie viel Rechtsauslegungsarten, so viel Rechtsordnungen. Die Unterschiede lassen sich nicht mit einem einfachen "Falsch" abtun. Sie sind im verschwommenen Wesen unseres Wissenschaftsobjekts begründet. Juristische Feh-

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ler lassen sich nur auf dem Wege, nicht am Ausgangspunkte nachweisen. Unter bestimmten Voraussetzungen muß man zwar zu bestimmten Zielen gelangen, das Recht detenniniert aber nicht eindeutig die Voraussetzungen der von ihm handelnden Wissenschaft. Im Gegenteile: die Rechtsauslegung schafft sich ihr eigenes Rechtssystem. Wie die Rechtsauslegung, so das Recht.

Wer hat Recht? Die Verneinung ist in der Regel die bequemere Position als ihr Gegenteil, die Bejahung. Das ist eine Erscheinung, die unter anderem insbesondere auch die Wissenschaft gegenüber ihrer Kritik, aber überhaupt auch gegenüber aller Nichtwissenschaft in Nachteil setzt. Die Erfahrung zeigt, daß man leichter, vielleicht auch öfter die Unrichtigkeit einer venneintlichen Erkenntnis nachweisen, als ihre behauptete Richtigkeit verfechten kann. Einen ganz besonders schwierigen Standpunkt hat aber der Jurist, sei er nun Praktiker oder Theoretiker, wenn Fragen seines Faches auf der Tagesordnung stehen. Der Laie ist gewöhnt, von einer Wissenschaft Eindeutigkeit zu verlangen, und dieses Verlangen wird in der Regel begründet sein; wir werden aber sehen, daß es gerade gegenüber der Rechtswissenschaft unbegründet wie sonst nirgends ist. Das stimmt nun freilich mit ihrem altüberkommenen Rufe nicht im entferntesten überein. Wir haben sie zum Beispiel für fähig gehalten, der Justiz Recht und Unrecht mit so mathematischer Exaktheit vorzuwägen, daß diese mit verbundenen Augen das Richtige treffen müsse. Da ist sie freilich schlechter als ihr Ruf, der Ruf ihrer Exaktheit, - wofern dieser Ruf ein guter zu nennen ist. Denn es ist wirklich erwägenswert, ob es wohl wünschenswert wäre, daß das Recht alle Lösungen und für alle Fälle nur je eine Lösung bereithalte, so daß seine Wissenschaft mit durchaus eindeutigen Erkenntnissen operieren könnte. Bewußt, mit Absicht, ist ja offenbar eine Lösungsmehrheit, Lösungsvielheit ins Recht getragen, wenn das Gesetz dem Richter Strafspielräume an die Hand gibt, innerhalb derer er im Einzelfalle wählen soll und darf, wenn das Gesetz eine Entscheidung vom freien Ennessen des zur Entscheidung Berufenen abhängig macht. In diesen Fällen muß eine auf das Gesetz allein basierte Rechtswissenschaft, die nicht durch außergesetzliche N onnsysteme,

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nicht durch ethische oder politische Richtungen mitorientiert ist, auf eindeutige Rechtserkenntnisse verzichten, richtiger, als Recht all das sanktionieren, was der Richter in seinem "Erkenntnisse" als Recht "erkennt". Die Rechtserkenntnis ist in diesen Fällen materiell durch des Richters Erkenntnis über das Recht bedingt. Er selbst hat insoweit nicht Recht zu kennen oder zu erkennen, was Recht ist - es fehlt ja vom Standpunkt des Gesetzes aus noch an einem Objekte der Rechtskenntnis und der Rechtserkenntnis -, er hat viel mehr durch sein Erkenntnis maßgeblich festzustellen, was Recht sein solle, wobei er nicht so sehr eine Denkfunktion als vielmehr eine Willensfunktion ausübt, wobei er nicht rezeptiv, sondern produktiv vorgeht. Er trifft ja hiebei nur den einen Rechtssatz vor: "Recht ist, was du Richter als Recht erkennst" - "erkennst" nicht im intellektuellen, sondern im emotionellen Sinn - und hat in seinem Urteil erst dieses formelle Gesetzesblankett gewissermaßen zu materialisieren, für den ihm vorliegenden Einzelfall mit Inhalt auszufüllen, der aber für alle anderen gleichartigen Fälle unverbindlich ist. Die Rechtswissenschaft entfernt sich in diesen Fällen von ihrem Ausgangspunkte, dem Gesetze, wenn sie innerhalb des vom Gesetze offen gelassenen Rahmens noch Genaueres in Erfahrung bringen will, wenn sie etwa nur ein ganz bestimmtes Strafausmaß innerhalb des gesetzlichen Strafspielraums für angemessen und darum rechtmäßig erklärt, wenn sie ganz bestimmte, dem Gesetze nicht zu entnehmende Direktiven für die Ausübung des freien Ermessens dem Richter an die Hand gibt. Es ist ja sicherlich auch eine andere Rechtswissenschaft als reine Gesetzeskunde denkbar, wir geben es sogar als möglich zu, daß sich eine rechtswissenschaftliehe Richtung über das Gesetz als Rechtsquelle hinwegsetzt - geht man aber davon aus, daß das Gesetz die oberste Rechtsquelle und das Recht in letzter Linie ausnahmslos dem Gesetze zu entnehmen sei - und das ist der regelmäßige Ausgangspunkt - so wird man mit solchen wie den angedeuteten Weiterungen seinem Programme untreu. Denn man begibt sich mit solchen Einengungen der Ermessensfreiheit oder des Strafspielraumes, auf eine dem Gesetze fremde Plattform - dem Gesetze sind ja gerade die Ermessensjreiheit, die Strafspielräume, beide ohne Schranken, eigen, das Gesetz schweigt dabei, um den Richter reden zu lassen - man verläßt aber alsbald wieder mit methodischer Inkonsequenz diesen vorübergehend eingenommenen, gesetzesfremden

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Standpunkt, um auf die Plattform des Gesetzes zurückzukehren, wo dieses das Recht inhaltlich ausgeprägt zur Schau trägt. Zum erstenmal wurde es in der grundlegenden Rechtslehre Kelsens 7 erwogen, ob diese Eigentümlichkeit des Rechtes, vielfach eine materielle Determinierung vermissen zu lassen, tatsächlich eine solche Besonderheit, ob sie nicht im Gegenteil eine allgemeine Erscheinung des Rechtes sei, eine Notwendigkeit, die, wie ich überzeugt bin, durch die abstrakte Form des Gesetzes bedingt ist. Ich muß mich übrigens auf der Stelle insofern berichtigen, als ich vom Gesetze als der Form des Rechtes spreche und was von dieser Form des Rechtes gilt, als Eigentümlichkeit, als Notwendigkeit des Rechtes schlechthin nehme. Der End- und Totalerscheinung des Rechtes, d.i. die Entscheidung und Verfügung, kommt ja nämlich tatsächlich jene Qualität des Einzigen zu, die man irrtümlich bereits bei jenem verhältnismäßig unentwickelten Entwicklungsstadium der Rechtserscheinung, wie es das Gesetz ist, sucht. Das Gesetz kann noch gar nicht jene Individualisierung der Rechtserscheinung aufweisen, wie sie im letzten Akte der Rechtsanwendung erzielt wird, da es eine bewußtermaßen vor der Rechtsanwendung eingeschobene Rechtsform, Entwicklungsstufe des Rechtes darstellt. Jenes Höchtsmaß der Individualisierung, das die heutige, allzusehr auf die Rechtsform des Gesetzes eingestellte Rechtslehre bereits bei diesem als der vermeintlich einzigen Form des Rechtes festzustellen und - insoweit es nicht vorhanden ist - zu fingieren findet, kann erst mit den Formen der unmittelbaren Rechtsanwendung, als welche uns Verfügung und Entscheidung entgegentreten, erreicht werden, da ja sonst diese Rechtsgeschäfte entbehrlich wären; muß dem Gesetze fehlen, da es ja ansonsten um seinen Charakter als generelle Norm käme. Daß das Gesetz dem Rechtsanwender noch manches zu sagen übrig läßt, drückt Kelsen so aus, daß sich in der gesamten Rechtsanwendung ein Element freien Ermessens finde. Daß aber das 7 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen, Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 505/6: "Der Wille des Staates in der Rechtsordnung ist stets mehr oder weniger abstrakt, die Handlungen des Staates sind dagegen stets ganz und gar konkret. Das freie Ermessen der Staatsorgane ist nichts anderes als die notwendige Differenz zwischen dem Inhalte des abstrakten Staatswillens in der Rechtsordnung und der konkreten Staatshandlung in der Verwaltung, der Exekutive." Vgl. auch von Verdroß, Österreichische Zeitschrift rur öffentliches Recht, 11. Jg., 5./6. Heft, Zum Problem des freien Ermessens.

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Gesetz nicht alles für jeden Einzelfall sagt, klärt sich demnach so auf, daß es selbst nicht alles sagen kann, weil es selbst nicht alles sagen will, weil es selbst nur eine Form im Gestaltungsprozesse des Rechtes und zwar eine relativ noch sehr generelle, d.h. zugleich "unindividualisierte" Form des Rechtes sein will. 8 Daß mit dieser Auffassung die Rechtsanwendung, die man bisher nur als Dienerin des Gesetzes zu sehen gewohnt war, zu einem Akte der Rechtserzeugung emporwächst, daß damit auch der Richter etwas vom Berufe des Gesetzgebers erhält, den er freilich nur in arbeitsteiliger Gemeinschaft mit den formellen Gesetzgebungsorganen, mit der Verordnungsgewalt und mit etwaigen sonstigen Faktoren der Rechtserzeugung ausübt, indem er deren Zwischenprodukte zum Endprodukte des (in der Anwendung völlig individualisierten) Rechtes erhebt, indem er also den Prozeß der Rechtsgestaltung gewissermaßen krönt, daß sich hingegen diese Rechtserzeugung einschließlich der Rechtsschöpfung von Seite des Gesetzgebers, von dem man als dem angeblichen Urheber alles Rechtes auszugehen gewohnt war, unter dem Gesichtswinkel der ungleich allgemeineren, formelleren StaatsverJassung gesehen, wiederum nur als Rechtsanwendung darstellt, diese Erkenntnis der Relativität der legislativen und exekutiven Staatsfunktion, die ich mit freudiger Zustimmung bei Thoma fand, 9 habe ich an anderer Stelle lO entwickelt und kann ich nicht weiter zum Gegenstand der vorliegenden Ausführungen machen. Für die hier zu beantwortende Frage ist nur der Gesichtspunkt maßgeblich, daß das Gesetz, als bloße Zwischenstufe und nicht Endglied der Rechtschöpfung, als verhältnismäßig allgemeinere Rechtsform, die noch die Besonderung durch den Rechtsanwender voraussetzt, auch noch nicht den parallelen Weg vom Abstrakten zum Konkreten, womit sich erst an Stelle der Vieldeutigkeit die Eindeutigkeit einstellt, zurückgelegt haben kann.

8 Diesen Gedanken wird eine [längere) Abhandlung von mir über die "Rechtseinheit des Staates" näher ausführen, die das "Archiv des öffentlichen Rechts" zu publizieren im Begriffe ist. 9 Vgl. Thoma, Der Gesetzesvorbehalt nach preußischem Verfassungsrecht in der Festgabe für Otto Mayer, S. 179. 10 Vgl. Die Verordnungsgewalt im Kriege, Juristische Blätter, 45. Jg. (1916), S. 397399 und 409-411 . 10 A. J. Merkl

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Mit dem Vorstehenden ist wohl bewiesen, daß es nicht nur nicht wünschenswert, sondern einfach unmöglich ist, daß das Recht, solange es die Form des Gesetzes aufweist und solange diese Rechtsform das einzige Objekt der Rechtswissenschaft ist, der Rechtswissenschaft eindeutige Erkenntnisse ermögliche. Ein so [abstraktes] Erkenntnisobjekt muß im Lichte der Erkenntnis schwank erscheinen. Schwankwenn man so die Bedingtheit durch den Richter, durch den letzten Rechtsanwender nennen mag. Kompakt wird ja, wenn ich so sagen darf, auch das Ergebnis der auf das Gesetz eingestellten Rechtswissenschaft, wenn man die [Konkretisierung oder] Ergänzung, die noch dem Rechtsanwender vorbehalten ist, durch die Formel vorwegnimmt: Recht ist a + b ... + z, wobei z die vom Rechtsanwender zu determinierenden Elemente bezeichnet. Formal ist ja auch auf diese Weise die Rechtserscheinung eindeutig bestimmt, wenn auch neben den materiell determinierten Elementen zum restlichen Teil nur durch die Delegation jenes Organes, dem die Ausgestaltung der derzeit noch in nuce ruhenden Elemente zukommt. Ebenso unbestimmt, wie im Stadium der vollendeten formellen Gesetzgebung das von der individuellen Rechtsanwendung, d.i. von der Verfügung und Entscheidung zu enthüllende Element z ist ja übrigens auch die Größe y, deren Zugabe zum Gesetzesinhalt auf dem Wege der Spezialisierung, Konkretisierung, Materialisierung der Rechtserscheinung etwa der Verordnungsgewalt als unmittelbarer Untergebener der Gesetzgebung vorbehalten ist. ll Andererseits stellt, was man nicht vergessen darf, vom Standpunkte der Verfassung aus das nachmals von der Gesetzgebung konkretisierte Element b nicht anders wie nach vollendeter Gesetzgebung das y und z eine unbekannte Größe vor, die wir mit x bezeichnen wollen. In unserer Zeichensprache ist also Funktion der Gesetzgebung, die Unbekannte zur Bekannten zu machen, wodurch sich die Gesetzgebung zwar graduell, aber, wie nunmehr offenkundig wird, nicht essentiell von anderen rechtschöpferischen Staatsfunktionen unterscheidet. Daß es in diesem Lichte besehen, zur Willkür wird, wenn ll Nebenbei sei erwähnt, daß die Gebiete der Größen y und z vom Gesetze nicht einzeln, sondern nur zur Gänze abgesteckt sind. Nur der jeweils übrig bleibende Rest an Konkretisierungsmöglichkeiten verbleibt dem letzten Rechtsanwender, entfallt also auf die Größe z, während die Verordnungsgewalt als das dem Gesetzgeber formal-funktionell nächststehende Organ innerhalb des vom Gesetzgeber leer gelassenen "rechtsfreien" Raumes gewissermaßen die Sahne abschöpfen kann.

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die Rechtswissenschaft durch die Rechtserscheinung gerade beim vollendeten Gesetze eine Schnittfläche zieht, die ihr die Einsicht in die fernere materielle Gestaltung des Rechtes verschließt, die ihr jede Rechtseinheit in zwei Hälften, eine materialisierte und eine formelle Hälfte zerlegt; warum ferner die Rechtswissenschaft gerade an diesem und nicht an dem gewiß näherliegenden Punkte der höchsten Konkretisierungsstufe ansetzt; welche Vorteile und Nachteile endlich beide Beobachtungspunkte haben - diese Probleme können im Zuge dieser Ausführungen auch nur aufgeworfen und nicht im entferntesten beantwortet werden. Nur so viel mag in diesem Rahmen angedeutet werden, daß sich mit der hier versuchten Verbreiterung der Rechtsbasis (in beiden Richtungen weit über die bisher isoliert betrachtete Erscheinungsform des Gesetzes hinaus) der Rechtswissenschaft Aspekte eröffnen, von denen sich die mit der Dürre des Gesetzes das ganze reiche echte Recht wegwerfenden Neuerer und "Bereicherer" des Rechtes, die Anhänger der soziologischen und anderer modernisierender Richtungen nichts träumen lassen. Wir haben - und zwar mit bestem Grunde - eine auf die Rechtsanwendung abgestellte, vornehmlich ihren Zwecken zu dienen bestimmte Rechtswissenschaft, die daher notwendig, wenn auch unbewußt, ihr Forschungsgebiet auf das Bereich der Gesetzgebung einschließlich der Verordnung absteckt und ebenso notwendig wie unbewußt von den letzten Konkretisierungsformen der Verfügung und Entscheidung absieht. Ihr großer Fehler ist nur, daß sie deren Funktionen bereits im Gesetze vorwegzunehmen versucht, wodurch sie vom Gesetze bereits abbiegt, dessen direkte selbstgesetzte Fortsetzung eben die Verfügung und Entscheidung ist. Erfassen wir aber neben dieser beschränkten Rechtswissenschaft, neben diesem Ausschnitt aus der Rechtswissenschaft, den die herrschende Lehre vom positiven Recht repräsentiert, die Denkmöglichkeit einer um den unglaublich mannigfachen Inhalt der Entscheidungen und Verfügungen bereicherten Rechtswissenschaft - erst die Gesamtheit aller aktualisierten Rechtserscheinungen gibt uns ein Bild der gesamten geltenden Rechtslage - dann brauchen wir jene Pseudowissenschaft vom Rechte nicht, welche die Rechtssoziologen und andere vom "pulsierenden Leben" gefangenen Nicht-Juristen uns als juristisches Heilmittel reichen. - Doch auch die noch herrschende Rechtslehre fehlt, wenn sie uns an der Hand des Gesetzes bereits eine Besonderung der Rechtserscheinung vortäuscht, die in diesem Stadium noch 10·

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nicht erreicht ist, noch nicht erreicht sein kann. Das Gesetz sagt uns durchaus noch nicht, was materiell Rechtens ist, es gibt uns vielfach nur auf die Frage Antwort: Wer hat Recht?, und verweist uns, bei diesem anzufragen.

*** Was im einzelnen Rechtens sei - das soll sich aus dem Gesetze, dem Urquell alles Rechtes, nicht entnehmen lassen? Darum soll erst bei einer anderen Stelle anzufragen sein?! Dieses Ergebnis der bisherigen Darlegungen mag nicht nur beim Laien, sondern insbesondere auch beim Juristen auf den Widerstand einer alten, wie wir nicht bestreiten wollen, für die meisten lieben und - was wir sogar gestehen wollen schönen Denkgewohnheit stoßen. Denn dieses Ergebnis würde das Recht um den vermeintlich guten Ruf - daß dieser Ruf nicht so gut ist, weil er nicht gerade sinnvoll ist, wurde im vorigen gezeigt - also um den Ruf der Exaktheit, in den Verruf der Unbestimmtheit bringen. Wir machen, wenn man so sagen will, aus der Not eine Tugend und erklären die teilweise materielle Indeterminiertheit der Rechtserscheinung des Gesetzes als diesem begrifTswesentlich. Gerade die Juristen haben zu dem Rufe des Allvermögens des Gesetzes das meiste beigetragen, haben dem Gesetze die letzte Meinung über das, was Recht ist, entlocken zu können geglaubt. Juristen wurden und werden nicht nur zum Spotte von Nichtjuristen, sondern schämen sich geradezu auch vor einander, wenn sich herausstellt, daß ebenso viele Meinungen bestehen als Köpfe da sind. Und der Gipfelpunkt des Lächerlichen scheint nach allgemeinem Dafürhalten erreicht zu sein, wenn mehr Meinungen als Köpfe auftauchen, wenn schließlich gar eine Sondermeinung auftritt, die von jemandem vertreten sein muß, der zugleich eine andere Meinung hat. Das ist nun keineswegs eine solche Ungeheuerlichkeit, wie man glauben und glauben machen möchte. Viel unglaublicher scheint es mir vielmehr, wenn sich nicht eine Vielheit von Meinungen und zwar nicht etwa bloß bei den vielen Köpfen, sondern sogar eine Vielheit im einzelnen Kopfe hervorwagt. Eine Vielheit freilich nicht von Ansichten darüber, was Recht ist - Recht sein kann immer nur etwas Ungeteiltes und insbesondere nichts Widersprechendes - sondern eine Vielheit der Ansichten darüber, was

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Recht werden könnte. Daß nur ein einziges Rezept den Gesetzesanwender zum Rechte geleite, das ist juristischer Wunderglaube. Vor allem sei hervorgehoben, daß der moralische Charakter durch eine solche "charakterlose" Meinungsmehrheit am wenigsten leide. Den Forderungen an die ethische Persönlichkeit ist genug getan, wenn man sich darüber im klaren ist, was (im Sinne des dem einzelnen vorschwebenden ethischen Gebotes) Recht sein sollte, womit die Einsicht in die logische Möglichkeit anderweitiger Lösungen keineswegs benommen zu sein braucht. Nicht alles logisch Richtige braucht übrigens auch ethisch gut zu sein. Setzt man nicht von vornherein das Recht mit der Sittlichkeit gleich, so hat man damit die Möglichkeit offen gelassen, daß Rechtliches sittlich indifferent oder umgekehrt, daß sittlich Indifferentes als Recht zu erkennen sei, und auch die womöglich noch weitere Distanz zwischen Recht und Sittlichkeit wird möglich, daß auf unzweifelhaftes Recht die Moral sogar negativ reagieren muß. Wer an solchen Gegensatz von Recht und Sittlichkeit nicht glauben möchte, setzt sich zu den Zeugnissen der Geschichte in Widerspruch, welche von den moralisch niedrigsten Rechts- und Staatsgebilden erzählt. Die Möglichkeit ungerechten und schlechten Rechtes ist die denknotwenige Konsequenz aus der Annahme eines vom Moralsystem selbständigen Rechtssystems. Jeder Kompromißversuch, um diese beiden disparaten (darum aber noch nicht einander entgegengesetzten) Normsysteme des Rechtes und der Sittlichkeit einander nahezubringen, geht, wie mir scheint, auf Kosten des einen oder anderen, setzt des einen oder des anderen Selbständigkeit aufs Spiel, wobei man regelmäßig das Recht in die Sittlichkeit aufgehen sieht. Um nur ein Beispiel anzuführen - in seiner Art jedenfalls das großzügigste und großartigste - ist Stammlers Versuch des "richtigen Rechtes" ein Widerspruch zu der eigenen Voraussetzung. Diese ist ja eben die Unabhängigkeit von Recht und Sittlichkeit. Von dieser Voraussetzung aus ist richtiges Recht noch keineswegs notwendig sittliches Recht. Doch meint Stammler keineswegs die "Richtigkeit" im Sinne des rechtlichen Normsystems womit sich ja durch die Beifügung des Attributes "richtig" zum Worte "Recht" eine Tautologie ergäbe -, sondern er hat "Richtigkeit" im Sinne eines moralischen Wertes im Auge. Derartig richtiges, d.h. ethisch wertvolles Recht gibt es nun zweifellos, durch das so verstandene Attribut der Richtigkeit kann aber das Recht an eigenem

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Rechtswert nicht mehr gewinnen. Es bleibt vom eigenen Standpunkt aus gleich gutes oder richtiges Recht - die Voraussetzung der Unabhängigkeit der beiden fraglichen Normsysteme zugegeben - ob es nun sittlich richtig, unrichtig oder indifferent sei. Vom Standpunkte der Ethik aus wird man freilich an den Gesetzgeber das Postulat richten, daß er das logisch gleich gut wie das Gegenteil mögliche, richtige Recht verwirkliche, und ebenso wird man vom Rechtsanwender verlangen, daß er unter seinen verschiedenen Wahlmöglichkeiten in dem von der Ethik gebotenen Sinne die Wahl treffe. Damit sind wir von unserem kurzen Exkurse auf dem Wege unserer Ausführungen zu einem Punkt zurückgelangt, der besonders ins Licht zu rücken ist. Geradesowenig, wie man dem Gesetzgeber, der schlechte, politisch verwerfliche Gesetze macht, den VOlWUrfmachen kann, er sei rechtswidrig vorgegangen, wofern er sich nur an die von der Verfassung vorgezeichneten Formen gehalten hat, kann man dem Gesetzesanwender, wofern er sich innerhalb des vom Gesetz eingeräumten Blankettes hält, Rechtswidrigkeit zum VOlWUrfmachen, wenn er, statt der in seiner Wahlmöglichkeit liegenden moralisch besseren eine schlechtere Lösung trifft. Denn welche dieser mehreren Lösungsmöglichkeiten rechtlich für diesen Fall geboten sei, das hat in rechtsverbindlicher Weise ausschließlich der Rechtsanwender zu entscheiden. Mit dieser Feststellung wurde den weiteren Ausführungen bereits vorgegriffen. Es ist nur ein Fall des Vorbehalts des Rechtsanwenders, unter der Mehrheit der Lösungsmöglichkeiten die Wahl im Sinne der moralischen Pflicht zu treffen, auch verschiedene andere Wertmaßstäbe und Einzelgesichtspunkte hat nur der Anwender des Gesetzes in das Gebiet des Gesetzes hineinzutragen. Wie bei der Einengung des Gesetzes im Sinne der Ethik, kann auch auf andere unzulässige Weise dem Rechtsanwender von dem auf das Gesetz eingestellten Rechtswissenschafter vorgegriffen sein. Die ethisch beste Lösung ist sicherlich oftmals dem Rechte eigen, aber doch nicht gewissermaßen aus eigener Kraft, sondern kraft Wahl durch den Rechtsanwender . Der Rechtsanwender ist unter Umständen berufen, "richtiges", d.h. sittlich gutes Recht anzuwenden, nicht ist aber der Rechtswissenschafter berufen, das Recht bereits in diesem Sinn zu richten. Ebensowenig hat ja der Verfassungsrechtler Politik zu machen, sondern dies dem Gesetzgeber zu überlas-

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sen. Der Jurist, der sich unbekümmert um die noch ausstehende Spezialisierung durch den Rechtsanwender im Wege der Entscheidung und Verfügung ein durchaus ins einzelne gehendes Rechtssystem zu zimmern unterfängt und für jeden Rechtsfall den einzig richtigen Rechtssatz parat zu haben glaubt, kommt mir ungefähr so vor, wie jener Spezialist unter den Juristen, der bloß das Verfassungsrecht darzustellen unternimmt - das ist selbstverständlich eine mögliche und zulässige Einschränkung des Betrachtungsgegenstandes -, dies aber auf die Weise besorgt, daß er gleich bereits den Inhalt der auf Grund der Verfassung zu erlassenden Gesetze angibt. Tut er dies, so hat er seine Erkenntnisbasis verlassen, so ist er nicht mehr Verfassungsrechtler; gleichzeitig hat er aber den Boden des Rechtes verlassen, denn um zuverlässig dieses festzustellen, hätte er sich ja vom Gesetzgeber allein führen lassen müssen, der von der Verfassung zur Rechtserzeugung berufen ist. Ist ja doch in der historischen Gegebenheit nicht alles das Recht, was auf Grund der Verfassung Inhalt eines Gesetzes zu werden vermöchte und was hievon im Sinne irgendeines Normsystems (namentlich der Ethik und Politik) Recht werden sollte, sondern ausschließlich das, wovon der Gesetzgeber wollte, daß es Recht werde. Während aber ein solches Vorgreifen, durch das der Bearbeiter des Verfassungsrechtes die Funktion des Gesetzgebers präokkupiert, bedingungslos als unwissenschaftlich, unjuristisch anerkannt würde, richtet man dem Rechtswissenschafter derlei Schranken nicht auf; und doch könnte, wie der Verfassungsrechtler nur unvorgreiflich des Gesetzgebers, so er, der Rechtswissenschafter schlechthin, nur unvorgreiflich des Rechtsanwenders das Recht erkennen, d.h. er kann das Recht nur erkennen, soweit es bereits erzeugt ist, nicht selbst erzeugen. Ist die Erzeugung noch nicht abgeschlossen - und das ist sie nach [obigen Ausführungen] erst mit dem letzten Akt der Rechtsanwendung - so bleibt dem Rechtswissenschafter nichts anderes übrig, als das Recht in diesem unfertigen Zustande, in dieser Unabgeschlossenheit, in dieser Bedingtheit durch weitere Handanlegung darzustellen. Diese Beschränkung seiner Erkenntnisfunktion ist aber heutzutage dem Juristen noch ziemlich fremd. Ich habe soeben vom Rechtswissenschafter schlechthin gesprochen und ihn zum Verfassungsrechtler in Gegensatz gestellt. Der, dem die

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zuletzt aufgezeigte Erkenntnisschranke aufgerichtet ist, kann aber gar nicht als der Rechtswissenschafter schlechthin angesehen werden. Der Rechtswissenschafter schlechthin - das ist wohl der Theoretiker, welcher sich mit der Totalerscheinung des Rechtes befaßt - hat derlei Schranken nicht mehr zu beachten. Er hat es ja voraussetzungsgemäß mit dem Endprodukte des Rechtserzeugungsprozesses, mit der Entscheidung und Verfügung, mit dem durchaus konkretisierten Recht für den Einzelfall zu tun, das nicht mehr des individualisierenden Zugriffs des Rechtserzeugers oder Rechtsanwenders bedarf, das in seiner materiellen Gestaltung nicht mehr durch das Wollen und Handeln einer Organperson bedingt ist. Das Recht, das uns regelmäßig dargestellt wird, ist aber ebenso regelmäßig noch in seiner Materialisierung persönlich bedingt, nur lassen die Vorstellungen diese Bedingtheit nicht erkennen. Man vergißt eben, ja es kommt einem eigentlich gar nicht zum Bewußtsein, daß nicht das Recht schlechthin, sondern bloß das unfertige Entwicklungs-, das Durchgangsstadium des Rechtes, als das sich uns das Gesetz herausgestellt hat, Gegenstand der Erkenntnis ist. Es ist ja nur Gesetzeserkenntnis, was man unter dem umfassenderen Namen der Rechtswissenschaft betreibt. Ich habe nichts gegen diese Selbstbeschränkung der Rechtswissenschaft, wenn sie mit der entsprechenden Selbstbescheidung hinsichtlich der Erkenntnisresultate gepaart ist. Die Ergebnisse einer bezüglich ihres Objektes so beschränkten Wissenschaft können nur bedingte sein. Die Bedingung muß in einer in jeder Einzelerkenntnis mitenthaltenen Formel zum Ausdruck kommen. Die Erkenntnisse dieser auf das Gesetz abgestellten Rechtswissenschaft gelten gewissermaßen unpräjudizierlich der vom Rechtsanwender getroffenen Einzelentscheidung und Einzelverfügung. Das und nur das ist wirklich erschöpfende Rechtserkenntnis, wenn das Recht im Gesetzesstadium erfaßt werden soll, denn in diesem Stadium ist die materielle Gestaltung noch nicht erschöpft, ist sie für die Erkenntnis nur formell, durch die Verweisung auf noch unbekanntes Wollen und Handeln des Rechtsanwenders vorwegzunehmen. Der Rechtswissenschafter maßt sich selbst diese im Sinne des (von ihm zu erkennenden) Gesetzes einem anderen zugedachte Rolle an, wenn er Rechtserkenntnisse für den Einzelfall in restloser Konkretisierung zum besten gibt.

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Keine Wissenschaft kann über ihr Objekt hinaus; und sobald sie es versucht, über ihren Erkenntnisgegenstand hinauszukommen, wird sie ihrem Wesen, ihrem Berufe untreu. Das wird auch die Rechtswissenschaft, die zwar vom Gesetze ausgeht, von diesem Ausgangspunkte aus jedoch das ganze Recht erfassen will. Das Recht erschöpft sich nicht im Gesetze, mithin kann eine Gesetzeskunde nicht das Recht erschöpfen.

*** Sie soll es auch gar nicht. Hat sie nämlich, so lange sie sich streng an ihr Objekt, das Gesetz, hält, ihren guten Sinn, so verliert sie diesen, wenn sie von diesem Objekte aus weitergehende Erkenntnisse zu gewinnen strebt. Sie verliert ihr Objekt aus dem Auge, das sie nicht bloß zu erkennen hat, von dem sie gewissermaßen zu lernen hätte. Das Gesetz bescheidet sich bei seiner abstrakten und generellen Form und überläßt es dem Gesetzesanwender, durch dessen subjektive Zutat eine Zutat aus dem mehr oder minder großen Schatze der Persönlichkeit des Rechtsanwenders - konkretisiert, individualisiert zu werden. Will die Rechtswissenschaft ein getreues Abbild ihres Objektes, d.i. vorausgesetztermaßen des Gesetzes sein - und dieser Beruf, das Erkenntnisobjekt zu kopieren, ist ihr wie aller Wissenschaft eigen - dann tut ihr dieselbe Selbstbescheidung wie ihrem Objekte not, dann muß wie freiwillig das Gesetz - so notgedrungen die Gesetzeskunde sich sagen, daß einem anderen das letzte Wort zusteht. Jetzt können wir aber vielleicht die Grenzüberschreitung des Erkenntnismöglichen, die sich unsere Rechtswissenschaft so oft zuschulden kommen läßt, verstehen, wenn auch nicht verzeihen. Entthront sich nämlich nicht eine Wissenschaft aus ihrer erhabenen Erkenntnisfunktion, wenn sie auf letzte Erkenntnisse zugunsten eines anderen, zugunsten eines Nicht-Gelehrten verzichtet? Es ist jedenfalls die Zumutung einer weitgehenden Selbstverleugnung, wie sie außer an die Jurisprudenz an keine andere Wissenschaft gestellt wird, daß sie auf eigene, scheinbar greifbar nahe Erkenntnisse verzichte, um einen anderen zum Erkennen zu berufen. Ist es überhaupt denkmöglich, daß ein anderer hiezu berufen sei, als die Wissenschaft, deren Beruf ja die Erkenntnis ist? Ist die Vorstellung vollziehbar, daß der Richter, der

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Rechtsanwender, das Recht besser kennen soll als der, dessen Beruf die Rechtserkenntnis ist, der Rechtsgelehrte? Ist es möglich, daß sich eine Wissenschaft vom Recht gestehen muß: "Ich weiß es nicht, was Recht ist?" und gleichzeitig bekennen muß: "Du Rechtsanwender" das ist derjenige, der mit der technischen Behandlung derselben Materie, die der Wissenschafter intellektuell zu meistern bestrebt ist - "du Richter" - dieser ist uns nur Symbol oder Typus der Rechtsanwendung - "hast Recht"? In welchem anderen Fache gibt die handwerksmäßige Behandlung eines Gegenstandes gerade diesen Vorteil vor der erkenntnismäßigen Befassung mit demselben Gegenstande? Ist auf anderen Gebieten die Praxis nur die Nutzanwendung der Theorie, so soll auf unserem Gebiete das umgekehrte Verhältnis Platz greifen? Ist anderswo die Praxis die Schülerin der Theorie, so soll vielleicht umgekehrt die Rechtserkenntnis von der Rechtsanwendung lernen, oder gar in jedem einzelnen Falle bei ihr anfragen müssen, was Rechtens sei? Bleibt da noch der Rest einer Wissenschaft zurück?

*** Es ist so, wie wir uns halb ungläubig gefragt haben, es steht die Rechtswissenschaft tatsächlich in dieser Abhängigkeit, in dieser Botmäßigkeit der Rechtsanwendung. Will sie erkunden, was im einzelnen Rechtens sei, dann frage sie - beim Richter an! Sein Teil ist das Besserwissen, ihres die Unwissenheit. Und dies will trotzdem noch Wissenschaft heißen? Mit Recht spricht man selbst angesichts dieser Sachlage von einer Wissenschaft, wenn sie auch streng genommen nicht den Namen Rechtswissenschaft verdient. Ich muß an früher in anderem Zusammenhang Gesagtes erinnern. Was wir - und zwar mit gutem Grundeunter dem Titel der Rechtswissenschaft betreiben, ist im Grunde nur eine Wissenschaft vom Gesetze. Diese Wissenschaft vom Gesetze kann nicht mehr beinhalten, als das Gesetz beinhaltet. Diese Gesetzeskunde kann unzweifelhaft das Gesetz in einer leichteren und besseren Fassung wiedergeben, kann den Gesetzesinhalt in ein wohlgebautes System bringen, kann uns aber niemals sagen, was unter diesem System im Einzelfalle ausschließlich Rechtens sei, weil wir erst diesen Einzelfall an uns herankommen lassen und das Urteil des Richters

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abwarten müssen, unter weIchen Rechtssatz und aufweIche besondere Weise er diesen Einzelfall subsumiert. Die Rechtswissenschaft kann wohl auch gegenüber dieser Einzellösung zu der Erkenntnis kommen, daß sie falsch, mit anderen Worten, daß sie aus der abstrakten und generellen Norm unableitbar sei. So z.B. kann an der Hand des Gesetzes die Erkenntnis möglich werden, daß die Lösung n, weil unter den Lösungsmöglichkeiten abis m nicht enthalten, unrichtig sei. Wollte sie aber, um bei unserem Beispiel zu bleiben, behaupten, daß nur die Lösung a oder moder irgendeine bestimmte andere in dieser Reihe zulässig sei, dann hat die am Gesetz orientierte Rechtswissenschaft die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten überschritten. Niemals kann es unwissenschaftlich sein, wenn sich eine Wissenschaft an die Grenzen ihres Objektes hält. Es wurde jedoch schon hinreichend deutlich ausgeführt, ein wie eng begrenztes Objekt das Gesetz ist. Das Gesetz verweist, so haben wir gehört, auf seine Anwendung, delegiert in gewissem Ausmaß den Rechtsanwender: Es kann von der Gesetzeskunde nicht unwissenschaftlich sein, wenn sie diese Verweisung erkennt und anerkennt. Es ist kein Verzicht auf eine selbständige Erkenntnis - das Urteil, daß ein anderer zum Erkennen berufen sei-, sondern ein Gebrauch der eigenen Erkenntnisfähigkeit. Die Rechtswissenschaft als Gesetzeskunde vergibt sich nichts, wenn sie sagt, sie wisse nicht, was im besonderen Recht sei; im Grunde weiß sie es ja doch, indem sie auf Grund des Gesetzes das eindeutige und unzweifelhaft richtige Urteil abgibt: "Recht ist, was der Rechtsanwender auf Grund des Gesetzes als Recht erkennt." Sie bleibt für viele Fälle in der Lage, dem vermeintlichen Rechtsanwender etwas Unrichtiges nachzuweisen: das ist dann der Fall, wenn sich die Lösung für den Einzelfall aus der allgemeinen Gesetzesnorm als logisch unableitbar erweist. Sie ist aber andererseits auch oft genötigt, einem Rechtsanwender Recht zu geben, obwohl ein anderer Rechtsanwender anders vorgegangen wäre, obwohl insbesondere auch der betreffende theoretisierende Jurist als Praktiker ganz anders gehandelt haben würde. Nichts hindert ihn, die bestimmte vom Rechtsanwender getroffene Lösung zu verwerfen: das tut er aber nicht als Jurist, sondern in der Anwendung eines rechtsfremden Maßstabes. Die reinliche Sonderung zwischen Recht und allem ethisch und voluntaristisch Bejahtem ist allerdings der einzige Boden, auf dem die Erkenntnis reift, daß etwas persönlich Verneintes, ethisch Verworfenes, Recht sein könne.

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Das Gesetz, um zusammenzufassen, scheint also in vielen Fällen, in vielen Belangen die Antwort auf die Frage schuldig zu bleiben: "Was ist Recht?" Und damit erweckt die am Gesetz orientierte und sich vernunft-, weil voraussetzungsgemäß dabei bescheidende Lehre vom Gesetzesinhalt den gleichen Anschein des Versagens angesichts der wichtigsten an sie gerichteten Frage. Streng genommen, gibt aber die Gesetzeskunde darauf Antwort, wenn auch Antwort in besonderer Fassung, wodurch das Problem auf ein anderes Geleise verschoben ist. Die Antwort lautet nämlich so, als wäre Frage: "Wer hat Recht?" Die Frage: "Was Recht ist", wird mithin damit beantwortet, daß der genannt wird, der maßgeblich zu sagen hat, was Recht ist. Die Gesetzeskunde gibt also immer nur bis zu einem bestimmten Punkte materiell zu wissen, was Recht ist, und deutet den Rest möglicher Rechtserkenntnis bloßjormell an. Das Aufklärungsbedürftigste bleibt aber immer noch aufzuhellen; wir wissen nun, daß die restlose materielle Rechtserkenntnis der auf dem Gesetze fußenden Rechtswissenschaft nicht zu entnehmen ist, wissen ferner auch, wer sie uns zu bieten vermag. Wieso aber der Rechtsanwender zu dieser scheinbar dem Rechtstheoretiker vorbehaltenen Funktion gelangt ist, ist noch verschleiert. Und ich schicke voraus: würde es sich tatsächlich um intellektuelles Erkennen handeln, dann wäre es auf keinen Fall beim Rechtsanwender zu suchen und zu finden. Ein vom Gesetze verliehenes Können steht in Frage. Erkenntnisjähigkeit kann aber selbst das mächtigste, das allmächtige Gesetz nicht verleihen. Ist ein Urteil, das der Richter auch für noch so richtig hält, aus dem Gesetze logisch unableitbar, dann ist es logisch falsch, dann ist es, wofern das Gesetz notwendige Durchgangsform des Rechtes ist, fürs erste überhaupt nicht Recht. 12 Es handelt sich bei der dem Rechtsanwender vorbehaltenen Erkenntnisfunktion, soweit diese maßgeblich und aller Rechtstheorie überlegen sein soll, nicht um ein Denken, sondern um ein Wollen oder Handeln. Denken muß er wohl auch, der Rechtsanwender. Insoweit kann er aber von der Rechtswissenschaft kontrolliert und ins Unrecht

12 Aposteriori kann durch das Institut der Rechtskraft auch eine ungesetzliche Entscheidung oder Verfugung Recht werden.

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gesetzt werden. Die freie Wahl unter den gesetzlichen Möglichkeiten, die der Rechtsanwender durch sein Erkenntnis trifft - das ist der Punkt, wo er gewissermaßen den Rechtstheoretiker ins Unrecht setzt, ihn unfehlbar dann ins Unrecht setzt, wenn dieser sich ins Gebiet der Einzelfragen, der Fragen für den Einzelfall zu weit vorgewagt hat. Ich muß an früher Gesagtes erinnern. Das freie Ermessen, der Strafspielraum sind Erscheinungen, die vom Gesetzeskundigen als solchen, also in Ausübung seines wissenschaftlichen Berufes in maßgeblicher Weise überhaupt nicht ausgefüllt werden können; wäre dies möglich, so wäre die Bezeichnung dieser Erscheinungen als Ermessen oder Strafspielräume bereits unzutreffend. Der theoreti-sierende Jurist kann hier höchstens Vermutungen über die mögliche Art der Ausfüllung dieser Blankette durch den Rechtsanwender anstellen, ist aber nicht in der Lage, diesem hierfür irgendwelche Weisungen zu erteilen. Jede beliebige Art der Ausfüllung muß er hinnehmen, womit er sich gar nicht unter eine fremde Botmäßigkeit, unter eine fremde Erkenntnis beugt, da er ja selbst die Instanz des Rechtsanwenders mit dieser Erkenntnisfunktion ausgestattet erkannt hat. Nichts anderes als für diese Fälle uferloser Ausfüllungs-möglichkeiten gilt für die Fälle einzelner weniger Auslegungs-möglichkeiten. 13 Wenn schon nicht die Wahl unter den unendlich vielen Möglichkeiten, so will die Rechtswissenschaft, welche Gesetzeswissenschaft ist, doch wenigstens die Wahl in den zahlreichen Fällen doppelter, aber nicht mehrfacher, geschweige denn vielfacher Lösungsmöglichkeit sich vorbehalten sehen. In den berühmten Beispielen der telephonischen Offerte oder der Speisewagengesellschaft, die von dem einen Standpunkt aus Gastwirt ist, vom anderen nicht, soll just die eine Lösung die richtige sein, die andere nicht? Da es die Rechtswissenschaft in diesen Fällen - die Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren - so gern auf eine einzige Lösung abgesehen hat, da man es geradezu für unwissenschaftlich hält, wenn man sich nicht für das eine oder andere entscheidet - wiewohl gerade diese Einheitsentscheidung das Unwissenschaftliche ist -, hat man das Schauspiel widersprechender Erkenntnisse. 14

13 Vgl. von Verdroß, a.a.O.

14 Hiergegen sind einander widersprechende Erkenntnisse als Willensprodukte der Richter, wie ja schon die Erfahrung zeigt, ohne weiteres denkbar und sogar, was erst

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Damit ist schon offenbar, daß zum mindesten eine der beiden Erkenntisse falsch sein muß, da es ja eine doppelte Logik, eine doppelte Wahrheit nicht geben kann. In Wirklichkeit sind wohl hier wie in so vielen Fällen, wo auf die eine oder die andere Meinung geschworen wird, beide sogenannten Erkenntnisse unhaltbare Pseudoerkenntnisse. Hier und gleicherweise in zahllosen anderen Fällen ist mit den Mitteln der Logik eine Wahl nicht möglich, erweist sich rein erkenntnismäßig beides als gleich gut möglich; und nur der Richter kann in diesen Fällen die für den Einzelfall unentbehrliche Wahl vornehmen. Er freilich nicht mit den Mitteln der Erkenntnis denn die würden nicht weniger, ja voraussetzungsgemäß ungleich besser der Rechtswissenschaft zu Gebote stehen -, sondern kraft seines persönlichen Willens, der bei der Unentschiedenheit des Gesetzes in verbindlicher Weise durch das rechtskräftige Erkenntnis die Wahl trifft. Von Rechts wegen ist also, soweit sich das Gesetz nicht eindeutig erklärt hat, das richtig, wofür sich der Richter entscheidet - nicht weil dies als Recht zu erkennen ist! - Hand aufs Herz! für die Gegenmeinung gäbe es ebensoviele Gründe -, sondern weil der Richter, freilich nur in diesem engen Kreise, im Rahmen des gesetzlichen Blanketts, Recht sprechend Recht geschaffen hat. Wer sich daran stößt, daß einander Widersprechendes gleicherweise, gleich gut Recht soll sein können, dem sei etwa die hie und da bestehende verfassungsrechtliche Einrichtung der enbloc-Annahme oder enbloc-Ablehnung von Gesetzesvorschlägen vorgehalten. Da gibt es auch nur zwei Möglichkeiten, und zwar einander gerade Entgegengesetztes, zwischen dem dem Gesetzgeber die Wahl zusteht. Man wird hier ohne weiteres dem Gesetzgeber die freie Wahl zubilligen, indem man, wie immer seine Wahl ausfallen mag, das Ergebnis dieser Wahl als rechtmäßig, im besonderen verfassungsmäßig bezeichnen wird. Man sieht also, daß die eine inhaltlich undeterminierte Verfassung vielerlei, mitunter aber auch nur zwei gerade entgegengesetzte Varianten offen läßt. Dasselbe wiederholt sich aber auch auf niedrigerer Stufe der Rechtshierarchie und wird nunmehr nach diesem Vorbilde wohl für möglich gehalten werden: Das inhaltlich undeterminierte Gesetz - und diesen Charakter weist auch die sogenannte Lücke im Gesetze auf - läßt dem Rechtsanwender vielerlei, ganz besonders später klar werden soll. trotz des inneren Widerspruchs gleichzeitig als richtig anzusehen.

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gerne aber zwei einander entgegengesetzte Lösungsmöglichkeiten offen, zwischen denen die Gesetzeserkenntnis ebensowenig eine Wahl treffen darf, wie die Verfassungsrechtslehre es zwischen den gesetzgeberischen Möglichkeiten dürfte, welche die Verfassung darbietet. Der Gesetzgeber schafft nicht Recht, weil er bei der Art der Ausfüllung Recht hat, sondern er hat Recht, die Art seiner Ausfüllung des Gesetzesblanketts ist richtig, weil und sofern er (in gewissen formellen Grenzen) willkürlich Recht schaffen darf. Diese Vorstellung, die beim Gesetzgeber völlig gangbar ist, hat jedoch auch beim Rechtsanwender, der von ihm nur graduell absteht, wie ungewohnt sie auch in diesem Zusammenhange sein mag, ihre völlig gleiche Berechtigung. Die logische Ordnung der Dinge ist nicht die, daß seiner Entscheidung und Verfügung Rechtskraft zukommt, weil sie richtig ist, sie ist vielmehr als richtig anzusehen, weil und soweit sie von Rechtskraft ist, soweit sie Recht zu schaffen vermag, das vom Gesetze noch nicht zu Ende geführt ist. Die Fähigkeit des Richters wie überhaupt des Rechtsanwenders, zu sagen, was Recht ist, kann nach all dem nicht als Zeichen besseren Wissens, das man vielleicht zuerst darin erblicken mochte, sondern ausschließlich als Zeichen stärkeren Könnens gewertet werden. Die aristokratische Auslese im Gesetzesrecht durch den Richter (wie nicht anders im verfassungsrechtlich Möglichen durch den Gesetzgeber) wird nach außerrechtlichen Gesichtspunkten vollzogen, die dadurch ins Bereich des Rechtes getragen sind, daß sie Motivationen des zur Entscheidung berufenen Rechtsanwenders sind. Auf dem Umwege des in gewissen Grenzen zu irgendeiner, gleichgültig welcher Entscheidung berufenen Rechtsanwenders ergeben sich Ethik und Politik und manches andere als delegierte, vermöge des ungebundenen richterlichen Willens rezipierte Rechtsquellen. Bei der Gesetzeserkenntnis ist man zu derlei Rezeption noch nicht berufen, weil auf dieser Stufe das Bedürfnis zur Eindeutigkeit im Rechtssystem noch nicht gegeben ist. Dieses Bedürfnis wird hinlänglich durch die im letzten Stadium der Rechtswerdung eintretende unfaßbar ergiebigere Determination, durch den subjektiven richterlichen Willen befriedigt. Das Blankett, welches gegebenes Recht mit materiell fremden Erscheinungen verbindet, die sich der delegierte Wille des Rechtsanwenders zu eigen macht, fehlt übrigens völlig bei der Rechtserkenntnis . Diese ist durch

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nichts in die Lage versetzt, Rechtsfremdes auf welche Weise immer dem Rechte zu akquirieren; ein Unvermögen, das wiederum mit der Funktion als Wissenschaft zusammenhängt. Wissenschaft ist Reproduktion und Reproduziertes kann in keiner Richtung über das zu Reproduzierende hinausragen. Die Rechtsproduktion hingegen geht wie überall so auch beim Richter, der, soweit er zwischen Wahlmöglichkeiten entscheidet, soweit er Lücken ausfüllt, Rechtserzeuger ist, materiell außerrechtlich vor sich, was nicht ausschließt, daß sie wie alle Rechtserzeugung formell Rechtsfunktion ist, wozu sie durch die mitunter weitreichende Vollmacht des Rechtsanwenders gestempelt wird. Diese Vollmacht kann die Rechtswissenschaft nur erkennen, niemals teilen.

*** An anderer Stelle 15 habe ich ausgeführt, daß Rechtsanwendung wie Rechtswissenschaft, also juristische Theorie und Praxis, nichts als Rechtsauslegung seien. Nachdem nunmehr von mehreren Punkten aus in die unterschiedlichen Funktionen der Theorie und Praxis, namentlich der Rechtserkenntnis und des Rechtserkenntnisses, Einblicke gewonnen sind, ist es an der Zeit, sich der unterschiedlichen Methoden der Auslegung zu besinnen. Die Rechtspraxis bedient sich also, wie damit schon angedeutet ist, einer anderen Interpretationsmethode als die Rechtstheorie. Die Rechtspraxis zielt ja darauf ab, neues Recht zu schaffen, während die Rechtstheorie das jeweils, sei es auf welcher Entwicklungsstufe immer geschaffene Recht nur klären, erklären will. Die erkenntnismäßige Rechtsauslegung ist auf die gegebene Rechtsmaterie beschränkt; neue Rechtspartien anzugliedern, das gegebene Recht durch die Hereintragung bisher rechtsfremder Elemente zu erweitern ist der Zweck der Rechtspraxis, die zugleich Rechtsproduktion ist. 16 Wie sich uns das Gebiet der Rechtsproduktion als ungeahnt erweitert darstellt, indem wir ihm weitere Stufen an-

15 Vgl. den ersten Aufsatz dieser Serie in der Nummer vom 1. November 1916 und meine Abhandlung in der Grünhutschen Zeitschrift, 1916, S. 535-556, "Zum Interpretationsproblem ... 16 Vgl. das oben Ausgeführte über die Relativität von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung [dieser) beiden Erscheinungen der hier sogenannten Rechtspraxis.

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gegliedert haben, die für die bisherige Lehre mit ihr nichts zu tun zu haben schienen, haben wir auch das Gebiet der Auslegung ungeahnt erweitert. In der Hand des Rechtstheoretikers trifft sie mit der Rechtserkenntnis, in der Hand des Praktikers mit der Rechtsproduktion zusammen. Diese letztere erweist sich übrigens als nichts denn authentische Interpretation, die - ich wüßte nicht aus welchen Gründen - nicht Monopol des formellen Gesetzgebers, sondern schlechthin Instrument des Rechtserzeugers ist. In einem Werdegange einer unbestimmten Anzahl von Interpretationsprozessen, wobei intellektuelle und authentische Interpretation in eigentümlicher Weise miteinander abwechseln, entwickelt sich der einfache, inhaltsarme, aber ungeahnt entwicklungsfähige Rechtsstoff, wie er durch die Verfassung repräsentiert wird, zu einem überreich verzweigten System von Rechtserscheinungen. Man wird an die Bilder des Nervensystems, das durch das Gehirn konstituiert wird, des Blutgefäßsystems, das im Herzen sein Zentrum hat, erinnert. Noch sprechender ist aber ein Bild, das nicht ein Sein, sondern ein Werden darstellt. Den Fluß, der in Katarakten abfällt, welche durch Klärungsbecken voneinander getrennt sind, gibt uns ein Vorbild der Rechtswerdung, an der erkenntnismäßige und schöpferische Auslegung zusammenwirken. Durch einen großen Schritt, einen förmlichen Sturz in der Entwicklungsreihe der Rechtsgenesis, ist der gegebene Rechtsstoff mächtig aufgewühlt. Da setzt die Klärungsarbeit der Rechtswissenschaft ein. Doch das Gewässer, die Rechtswerdung, steht nicht still; sie macht einen weiteren großen Schritt dem Endziel zu; und wieder gibt es Anlaß für wissenschaftliche Klärungsarbeit, und so fort, bis die Entwicklungsreihe der Rechtserscheinungen erschöpft, bis der Strom im Meer der Einzelheiten gemündet ist. Und noch ein sprechenderes Bild stellt uns der Strom dar, in den von Etappe zu Etappe fremde Gewässer münden; nicht anders nimmt die stufenweise Rechtserzeugung fremde Elemente in die Rechtsmaterie auf, die nach dieser Rezeption zwar formell unverändert ist, der Wissenschaft aber nun reichlich Assimilationsarbeit zu leisten übrig läßt. Doch nach der Klärung tritt wieder eine Vermischung ein, bis auch auf diesem Wege das Meer der Einzelheiten, das ist das völlig individualisierte, völlig konkretisierte Recht erreicht ist.

11 A. 1. Merk!

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*** Die niedrigere oder auch, wenn man will, höhere, jedenfalls die vorgeschrittenere Stufe im Prozeß der Rechtserzeugung basiert begreiflicherweise stets auf der vorangegangenen. Es handelt sich prinzipiell nur um einen Zubau, richtiger Aufbau, nicht um einen Neubau. Weniger bildhaft gesprochen: Die authentische Interpretation kann prinzipiell nur innerhalb des Rahmens, den die - selbstverständlich ihrer (vorhin gekennzeichneten) Grenzen bewußte - intellektuelle Interpretation offen gelassen hat, weiterwirken. Die Rechtsentwicklung muß in der einmal eingeschlagenen Entwicklungslinie des Rechtes bleiben. Wie die Rechtswissenschaft falsche Rechtserkenntnisse, so kann die Rechtserzeugung unrichtige Rechtserzeugnisse zutage fördern (wobei freilich die Ausdrücke Rechtswissenschaft und Rechtserzeugung nicht mehr ganz am Platze sind). Mit anderen Worten ausgedrückt: die Rechtserzeugung ist nicht schrankenlos, namentlich nicht auf der untersten Stufe, die mit der Rechtsanwendung zusammenfällt: hier hat das schöpferische Moment ein verhältnismäßig nur sehr enges Bewegungsfeld . Und doch kann die Rechtserzeugung, im besonderen die Rechtsanwendung, alle diese Schranken übersteigen. Es ist das Institut der Rechtskraft, wodurch Unrecht des Rechtsanwenders zum Recht gewandelt wird. Dieser interessantesten Erscheinung der Rechtsanwendung, daß der Richter vermöge der Rechtskraft letzten Endes immer Recht hat, wenn er sich auch zum gesetzten Recht in noch so entschiedenen Gegensatz stellt, soll die weitere Untersuchung auf den Grund gehen. Unrecht als Recht

Zum Wesen der Rechtserzeugung oder Rechtsanwendung - bei dieser Unterscheidung handelt es sich, wie an anderer Stelle ausgeführt, nur um die verschiedene Betrachtungsweise derselben Erscheinung zum Wesen des Rechtsentwicklungsprozesses gehört es, daß rechtsfreie Räume vom Rechte in Beschlag genommen werden. Bietet die Verfassung eines Staates nichts als unbestimmte Möglichkeiten der Rechtsgestaltung, so schafft die Gesetzgebung in die-

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sem weiten Blankette der Verfassung ungleich bestimmtere Wirklichkeiten. Doch sind immer erst Konturen des rechtlichen Willens sichtbar, welche einer viel entschiedeneren Zeichnung fähig und bedürftig sind: Dies besorgt die Ausführungsgesetzgebung. Was diese zu tun übrig läßt - zweifelsohne ist bei einem auch noch so kasuistischen Gesetz die Konkretisierung immer noch weiter zu treiben -, läßt der Verordnungsgewalt - auch eine Art Ausführungsgesetzgebung - reichliche Betätigungsmöglichkeit. Und doch wird durch alle diese Vorarbeit, die arbeitsteilig von den vorgenannten Organen an dem Rechtserzeugnisse geleistet wird, der allerletzte Rechtsanwender - Richter und Verwaltungsmann - am allerwenigsten entbehrlich. Er legt die letzte Feile an die Rechtserscheinung an, wodurch die von seinen Vorläufern mehr oder minder absorbierte Konkretisierungs-, Spezialisierungs-, Individualisierungsmöglichkeit erst erschöpft wird. Die Rechtsbestimmung hat in diesem Stadium bei kleinstem Umfang - in dieser Bestimmtheit gilt sie eben nur für den Einzelfall- den reichsten Inhalt angenommen. Aus der Schale des Verfassungsrechtssatzes hat sich der Kern des Einzelrechtsfalls herausentwickelt. Wie vielerlei Kerne hätten in dieser fassungsfähigen Schale Platz gefunden! Der so vielfach verkannte subjektive [Faktor] ist es, der [auf] diesem Entwicklungsgange der Rechtserscheinung Inhalt gibt. Es ist einfach nicht wahr, daß der jeweilige objektive Gehalt der Rechtserscheinung das ganze Recht darstelle; man übersieht dabei die subjektive Komponente, die anfänglich das objektiv Gegebene weit überwiegt und erst im Fortlauf des Entwicklungsganges einer objektiven Gestaltung weicht, [bis mit dem letzten Rechtsanwendungsakte das mögliche Höchstmaß an objektiver Gestaltung erreicht, der subjektive Faktor gänzlich ausgeschaltet ist. Auf höherer Stufe spielt jedoch der subjektive Faktor eine gesteigerte Rolle und auf der Stufe der Verfassung ist das Recht bekanntlich fast nur formal, durch den materiell noch unentschiedenen Willen des Gesetzgebers determiniert. So ist Recht im Sinne der Verfassung der in gewissen Formen, inhaltlich aber fast ungebunden sich kundgebende Wille des Gesetzgebers, Recht auf der Stufe der Gesetzgebung ein bestimmter materieller Gehalt vermehrt um den unbestimmten Willen untergeordneter, zugleich ermächtigter Rechtsetzungs- oder Rechtsanwendungsorgane. Erst sobald diese ihr letztes Wort gesprochen haben, ist das auf höherer Stufe durchaus 11"

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durch Verweisung auf (des näheren determinierende) subjektive Faktoren charakterisierte Recht in all seinen Ermessenssphären ausgeschöpft, restlos gewissermaßen entsubjektiviert, dem gestaltenden Zugriffjedweden Organes entrückt. Es ist der Punkt, wo die Dynamik der Rechtsentwicklung in die Statik einer Rechtskraft (in einem besonderen, betonten Sinne) übergegangen ist]. Das Recht für den Einzelfall oder auf irgendeiner höheren Stufe unter Vernachlässigung [des] persönlichen Faktors anzugeben, zum al in einer Weise, daß dessen Bestimmung vorgegriffen wird, ist unwissenschaftlich. Diesem subjektiven Faktor vorzugreifen oder sich gar an dessen Stelle zu setzen, ist der Hauptfehler der gegenwärtigen Wissenschaft vom positiven Recht, die eben das Recht - sagen wir auf der Gesetzesstufe - nicht in seiner gewollten U nvollendetheit und das ist zugleich inhaltlichen Unbestimmtheit - es ist nur formal, durch den Faktor der Bestimmung determiniert -, sondern in einer idealisierten Endgestalt aufzeigt. Die Wissenschaft von den Zwischenprodukten des Rechtes, namentlich von dem häufigsten Gegenstand der Jurisprudenz, dem - wenn dieser Ausdruck der Technik gestattet ist Halbfabrikate des Gesetzes kann eben, was man immer wieder übersieht, kein Endprodukt vorführen, sie müßte immer noch die Bestimmungskraft des Rechtsanwenders in Ansatz bringen. Und wenn sie etwas dazu tun will, diese unbestimmte, weil auf die unerschlossene Subjektivität des Rechtsanwenders abgestellte Größe zu veranschaulichen, dann kann sie nur mögliche, aber nicht wirkliche Konkretisierungsfälle vorbringen und zwar diese wohl regelmäßig auch nur in demonstrativer, nicht in taxativer Aufzählung. Es geschieht dies immer nur unvorgreiflich, vorbehaltlich der tatsächlichen Individualisierung der Rechtsnorm, die der Rechtsanwender vornimmt. Die Rechtswissenschaft als Kunde vom Gesetze kann, soweit sie sich mit der subjektiven Komponente ihres Objektes befaßt, nur Potentialitäten und nicht die Realität der perfekten Rechtserscheinung zum Gegenstande haben: [Das Wort dieses subjektiven Faktors] ist eben das Geheimnis der letzten Rechtsanwendung. Vom Standpunkte des Gesetzes aus ist die Realität der letzten Rechtsanwendung eine unter den mehreren oder vielen Potentialitäten, die das Gesetz im Rahmen des von ihm delegierten subjektiven

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Faktors in sich einschließt: [dies kann nicht oft und laut genug betont werden]. Vom Standpunkt eines im Endstadium seiner Entwicklung erfaßten Rechtes ist aber, da nunmehr bereits der Ausleseakt des Rechtsanwenders, oder, wie wir ihn in der Einsicht der Rechtsanwendungsfunktion des Gesetzgebers, der Verordnungsgewalt und etwaiger weiterer Faktoren genauer nennen: des letzten Rechtsanwenders vorliegt, nur diese eine Konkretisierungsrealität Recht und jede andere Potentialität ausgeschlossen. Von einer auf dieses Endstadium des Rechtswerdeganges abgestellten Rechtserkenntnis wäre es ebenso sinnlos, andere Realisierungsmöglichkeiten des Gesetzes als die gerade vorliegende zum "Recht" zu rechnen (das eben auf dieser Stufe ein restlos angewendetes ist), wie wenn die Rechtswissenschaft als Gesetzeskunde alles unter dem Titel des Rechtes brächte, was auf Grund der von der Verfassung umschlossenen Möglichkeiten Recht, Gesetzesrecht hätte werden können, ohne das es Recht geworden ist. Die Bestimmtheit einer Rechtserscheinung, die ihr von ihrem berufenen Gestalter gegeben wird, fällt zusammen mit dem Ausschluß aller anderen Gestaltungsmöglichkeiten, die auf [höherer] Rechtsgestaltungsstufe mit dieser einen auserkorenen von gleicher Güte waren, auf "gleicher Stufe" standen; sie sind eben nunmehr endgültig sozusagen um diese eine Stufe zurückgeblieben. Der berufene Rechtsgestalter, von dem soeben die Rede war, ist nun nicht der theoretische, sondern der praktische Jurist. Die Entscheidung, die von diesem getroffen wird, muß von jenem unweigerlich hingenommen werden, nicht anders, wie er sich mit dem Gesetze, so wie es der Gesetzgeber gestaltet hat, abfinden muß, und wie es ihm verwehrt ist, mit einem anderen Gesetze zu operieren, das freilich gleich gut auf der Verfassung basieren könnte, das aber eben nicht "Gesetz" geworden ist. Die authentische Auslegung, welche nicht auf jenes enge Betätigungsfeld beschränkt ist, das man ihr derzeit zugewiesen findet, die von einer höheren Warte aus gesehen, schlechthin mit der Rechtsetzung zusammenfällt[ 17] - sie ist eine emotionelle 17 Authentische Interpretation möchte ich die Auslegung jedes Rechtsschöpfers oder Rechtsanwenders nennen, die über das rein erkenntnismäßig zu Gewinnende hin·

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Auslegung - hat vor der intellektuellen den Vorzug; selbstverständlich nicht einfach deswegen, weil sie eine "willensmäßige 11 ist - das ist auch die des Rechtstheoretikers, welcher eindeutige Auslegungsergebnisse sucht und sie (begreiflicherweise) regelmäßig nicht bloß durch Vernunft-, sondern nur durch ergänzende Willensfunktion findet: wobei aber gerade diese Willensfunktion - weil nicht Funktion des berufenen Willens - von uns als Fehlerquelle eingesehen wurde. Den Vorzug hat sie als qualifizierte Erkenntnisfunktion, nämlich als Erkenntnis dessen, der kraft Rechtens innerhalb der erkannten Möglichkeiten seinen Willen die Wahl treffen lassen darf. Nur insofern stellt [aber] die authentische Interpretation vollgültiges Recht dar, als sie auf intellektueller Interpretation fußt, als sich die Auslese des Rechtsanwenders innerhalb der erkenntnismäßigen Wahlmöglichkeiten hält. Im Zweifel ist [bloß] intellektuelle Interpretation authentisch, nur kommt bei weitem nicht allen Interpretationsergebnissen diese privilegierte Stellung zu. Bildlich gesprochen, würde sich die authentische zur intellektuellen Interpretation wie ein enger zu einem bedeutend weiteren Kreise verhalten. Doch diese Aufstellungen bedürfen der nunmehr einsetzenden Richtigstellung. Sie scheinen vorausgesetzt zu haben, daß der authentische Interpretator auch immer korrekter Interpretator sei. Sie scheinen angenommen zu haben, daß er nur innerhalb des logisch Möglichen die Wahl treffe - ganz zu schweigen davon, ob er auch immer innerhalb des logisch Möglichen die im Sinne eines anderweitigen, namentlich ethischen Ideals beste Wahl trifft. Die Erfahrung, die ich keineswegs zu belegen brauche, lehrt nun, daß der Rechtsanwender nur zu oft daneben greift. Wie denn sonst, wenn nicht die immer wahre Wissenschaft, aber auch nicht einmal der dem Irrtum ausgesetzte Wissenschafter berufen ist, [was Recht ist, berufsmäßig zu erkennen], um innerhalb des Erkannten zu wählen. Irrtümer sind da unvermeidlich: der Wissenschaft bleibt da als einzige Abhilfe - sie als Irrtum zu erkennen.

ausgeht. - Über den Gegensatz von authentischer, d.i. emotioneller, und doktrinärer, d.i. intellektueller, Auslegung wird ein eigener Aufsatz in dieser Artikelreihe handeln.

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Was ist oder sagen wir vorsichtiger: was wäre aber mit dieser [unserer] Erkenntnis verbunden? Die weitere Erkenntnis, daß es sich nicht um Rechtsanwendung handle und daß der scheinbare Rechtsanwender nicht das sei, was (in diesem Falle fälschlich) sein Name sagt. Das ist jedenfalls eine sehr wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft, die einzige übrigens, die sie gegenüber der vollzogenen Rechtsanwendung und dem, was sich so nennt, haben kann. Aber trotz der Erkenntnis, daß sich der vermeintliche Rechtsanwender geirrt habe, genauer, daß er nicht das anzuwendende Recht angewendet habe, ist die Rechtswissenschaft mitunter genötigt, ihn als Rechtsanwender gelten zu lassen; trotz der Tatsache, daß nicht jegliche authentische Interpretation des Richters (im weitesten Sinne) vor dem Richterstuhle der Erkenntnis besteht, da sie sich [rechtswissenschaftlich nicht] als logisch richtig erweist, muß sie die Rechtswissenschaft als Recht gelten lassen, womit natürlich noch keineswegs gesagt ist, daß alles, was sich als authentische Interpretation gehabt, Recht sei. Wieso ist aber für die Rechtswissenschaft diese Nötigung gegeben, vor den letzten Konsequenzen ihrer Erkenntnis, d.h. gewissermaßen vor sich selbst abzudanken? Ist sie der Rechtsanwendung untertan? Soll sie sich in ihrer Erkenntnis-Souveränität vor dieser beugen müssen, von der sie umgekehrt nicht erreichen kann, daß sie sich ihr anpasse. Warum, wenn schon nicht Akkordanz der Rechtsanwendung an die Rechtskenntnis, dann [nicht] Diskrepanz [der beiden], die ja immer noch harmonischer anmuten würde, als wenn die Wissenschaft vom Recht der Rechtsanwendung zu Liebe ein Jota von ihren Erkenntnissen aufgeben müßte? Es wird vielleicht schon hier die Versicherung am Platze sein, daß ein Versuch, die Rechtserkenntnis der Rechtsanwendung anzupassen, falls dieser Versuch an einem gewissen Punkte Halt macht, nicht die Gefahr einer Entthronung der Wissenschaft in sich schließt. Es wird nämlich hiebei nicht die richtige Rechtserkenntnis auf das Niveau der unrichtigen Rechtsanwendung hinabgezogen, sondern diese Rechtsanwendung auf das Niveau einer Rechtserkenntnis emporgehoben. Nicht die Diffamierung und Diskreditierung der Rechtswissenschaft,

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sondern die Sanktionierung einer Rechtsanwendung l8 steht in Frage. Die Anpassung der Theorie an die Praxis folgt nicht aus einem gewissen Zwange der Rechtsanwendung, sondern aus einer Notwendigkeit der Rechtserkenntnis heraus. Daß sie hierbei nur ihren eigenen Gesetzen folgt, ergibt sich schon daraus, daß sie zwischen falscher und falscher Rechtsanwendung wohl unterscheidet, daß sie sich keineswegs zur Aufgabe macht, kritiklos jegliche sogenannte Rechtsanwendung im Lichte des Rechtes erscheinen zu lassen. Das bleibt aber bestehen, daß falsche Rechtsanwendung, oder sagen wir richtiger: daß eine Rechtspraxis, die nicht schlankweg durch das geschriebene Recht gedeckt ist, zu vollgültigem Rechte umgedeutet wird, kurz, daß sie überhaupt als Recht [besteht]. Und auch dies bleibt Tatsache, daß der Rechtsanwender, der sich offenbar geirrt hat, in seiner Rolle als Rechtsanwender [beharrt]. Dies ist freilich genug des [schier] unerklärlich zu Erklärenden. Denn wenn der Rechtsanwender Recht behält, selbst wenn er etwas aus dem Rechtsrnaß, namentlich aus dem Gesetze logisch Unableitbares wählt - was soll dies anders bedeuten als das Wunder, daß Unrecht zum Rechte wird? Unrecht als Recht

Der Knoten ist geknüpft - wie löst er sich? Da müssen wir uns vorerst fragen: Was nötigt uns, den offenbaren Fehler des Rechtsanwenders zu beschönigen, seinen Irrtum zu bemänteln, seine Rolle - oder doch den Schein der Rechtsanwendung, selbst wo er ihr gänzlich untreu geworden zu sein scheint - mit solchen schier verzweifelten Mitteln aufrechtzuerhalten? Der Richter habe, um zunächst das einfachste Beispiel zu wählen, einen Unschuldigen verurteilt: warum soll dies überhaupt ein gerichtliches Urteil sein? Wir zögern nicht anzunehmen, daß der Verurteilte der betreffenden strafbaren Handlung schuldig sei, was natürlich keineswegs bedeutet, daß er sie begangen habe. Eine ungeschehene Tat kann selbstverständlich kein Richter der Welt geschehen machen, so 18 D.h., es soll erst solche gewonnen, konstruiert werden; Voraussetzung ist ja, daß zunächst die Erkenntnismöglichkeit rur einen Akt der Rechtsanwendung mangelt.

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wenig wie eine geschehene ungeschehen, aber die Strafe kann wegen einer nicht begangenen Tat verhängt und vollzogen und - was das Entscheidende ist - die Schuld der Tat kann dem "Unschuldigen" zugerechnet werden, wie ja überhaupt die Zurechnung fremden Handeins zum eigenen Verschulden dem Juristen geläufig ist. Aber wenn das Strafgesetz selbst vorschreibt, daß nur der des Hochverrats (im Laiensinne) "Schuldige" des Hochverrates wirklich im Rechtssinne schuldig sei, warum soll dann die (zweifellos unrichtige) Verurteilung des Unschuldigen Recht sein? Oder wenn das Gesetz selbst sagt, daß eine verjährte Schuld nicht klagbar ist - und über Klage wird sie trotzdem zugesprochen -, warum soll dies ein rechtmäßiges Urteil sein, warum soll hier eine Rechtspflicht zur Zahlung der verjährten Schuld bestehen? Oder es war das Gericht nicht gehörig besetzt: Warum nehmen wir da überhaupt einen gültigen Richterspruch an? Oder es sei ein Verfahrensmangel unterlaufen: es sei etwa eine bestehende Frist zu einer Streitverhandlung nicht eingehalten worden; was erlaubt uns zu sagen, diese Streitverhandlung sei eine Gerichtsverhandlung gewesen, dieses Schauspiel habe mit einem Urteil geendet? Läge nicht in allen vorangeführten Fällen ungleich näher, ja allein nahe, einzubekennen, es habe ein juristisches Nichts vorgelegen - und der Aktor dieser Handlungen sei (wenigstens insoweit) kein Richter oder Verwaltungsbeamter, kein Staatsorgan und damit auch kein Vollstrecker des Rechts - kurz gesagt, er sei ein "juristischer Niemand" gewesen? In vielen, zahllosen Fällen, wo mehr oder minder dichter Schein einer Rechtsanwendung vorliegt, oft ein Schein, der den in den vorangeführten Fällen übertrifft, schrecken wir keineswegs vor einem solchen mit Grund nihilistischen Urteil zurück. Die Gerichtshandlung auf dem Theater, mag sie dem Leben auch noch so täuschend ähnlich sein, werden wir nie mit einer Rechtshandlung verwechseln, und in den Streichen des "Hauptmanns von Köpenick" werden wir nicht den Staat handeln sehen. Aber auch in zahllosen Fällen, wo es durchaus ernst zugeht, wo Personen die Aktoren sind, die ansonsten Rechtsanwender und Staatsorgane sind, geht unser Urteil- und zwar mit Recht - unzählige Male dahin, daß ihre Akte aus diesem oder jenem Grunde nichtig seien.

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Wo liegt da die Grenze? Welche Abweichungen vom geschriebenen Rechte erlauben noch, Rechtsanwender und Rechtsanwendung anzunehmen, an welchem Punkte beginnt die Unmöglichkeit einer solchen Annahme? Der einzig mögliche Standpunkt ist jedenfalls der, daß die geringste Abweichung vom Gesetze - als dem Erkenntnisgrunde der Rechtmäßigkeit - bereits die Möglichkeit der Annahme einer Rechts- und Staatsorganhandlung benimmt. 19 Das praktische Bedürfnis, geringfügige Versehen zu vernachlässigen, ist nicht oder wenigstens nicht in dieser Weise vom Gesetze unterstützt. Nun erinnern wir uns aber wieder, daß auch "falsche" Gerichtsurteile, "rechtswidrige" Verwaltungsakte vor dem Gesetze bestehen, und wir fragen uns wieder: "Wie kommt das?" Da muß zunächst dem verbreitetsten Irrtum entgegengetreten werden: Nicht das Maß und auch nicht einmal die Art einer Abweichung vom Gesetze entscheiden darüber, ob ein derartiger "abweichender", "fehlerhafter" Staatsakt vom Rechte toleriert wird. Das Recht hat ein ganz anderes, durchaus unkasuistisches Sanktions- und damit zugleich auch Perhorreszierungsmittel, ein viel einfacheres und eben darum großzügigeres Mittel, das mitunter vor den kleinsten Fehlern (mit Absicht) versagt und die größten saniert, das sich gar nicht darum kümmert, ob die Abweichung schwerwiegend oder nebensächlich sei, und das die Ursachen, aus denen sie erfolgt ist, schon ganz und gar vernachlässigt. Dieses radikale Allheilmittel, das aber mitunter - oft scheint es launenhaft, meist hat es aber seinen guten Sinn - mit seiner Heilkraft angesichts von Kleinigkeiten, um hier nicht das doppelsinnige Wort

1 9 ·· . So auch Kelsen, Uber Staatsunrecht, 1913, Separatabdruck aus der Grünhut'schen Zeitschrift S. 85 ff. - Kelsens Erkenntnisse (a.a.O.) leiten uns übrigens wie bei der vorstehenden Exposition so beim folgenden Lösungsversuche des Problems vom Unrecht als Recht, während wir bei der Darstellung der Relativität des Begriffspaares Rechtssetzung - Rechtsanwendung seinen diesen Gegensatz verabsolutierenden Ausführungen in den "Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" nicht zu folgen vermochten.

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Nichtigkeiten zu gebrauchen, rundweg versagt, ist das Rechtsmittel in Verbindung mit der Rechtskraft. Ja, das sogenannte Rechtsmittel, das für die Fälle behaupteter unrechtmäßiger (im Gegensatz zu unzweckmäßiger) Rechtsanwendung gegeben ist, mag es sich nun um sogenannte Nichtigkeits- oder Anfechtungsgründe handeln, und das richtig verstanden, nie einen gegebenen, aber "fehlerhaften Staatsakt (ein logisches Unding!) aus der Welt schafft, sondern höchstens einem nichtigen Staatsakt das Leben schenkt; das freilich diese Wirkung nicht dadurch erzielt, daß es zum Erfolge führt - durch das erfolgreiche Rechtsmittel wird besiegelt, daß der angefochtene Akt [nichtig oder anfechtbar], daß er überhaupt kein Staatsakt [ist] - sondern dadurch, daß es fehlschlägt. [Dem steht gleich, daß es, obzwar] eingeräumt, innerhalb einer bestimmten Frist nicht angewendet wird. 11

Das ist nun freilich eine höchst sonderbare Funktion des Rechtsmittels, daß in seiner gewissermaßen negativen Äußerung seine höchst positiv zu wertende rechtliche Tat gelegen sein soll. Einige aufhellende Gedankengänge werden angesichts unserer paradoxen Behauptung am Platze sein. Es wird der Einrichtung des Rechtsmittels die ebenso geläufige wie verfehlte Vorstellung zugrunde gelegt, daß gewisse Abweichungen vom Rechte apriori geduldet wären, und daher, wenn sie nicht statthaft sein sollen, ausdrücklich ausgeschlossen werden müßten; ihren Ausschluß soll das Rechtsmittel bewirken. Es ist dies einer der häufigsten und wohl der typischeste Fall, wo eine (noch dazu sinnvolle) Einrichtung des positiven Rechts einer sinnlosen Vorstellung der Rechtstheorie ihre Entstehung verdankt; einer geläuterten Rechtstheorie erwächst damit die Aufgabe, diese positiv-rechtliche Einrichtung, die nun einmal vorhanden ist und im Rechtsgebäude untergebracht sein will, aufpassendem Platz zurechtzurücken. Die herrschende Lehre legt sich keine klare Rechenschaft darüber ab, in welchen Fällen denn eigentlich Abweichungen vom Rechtsplane des Gesetzes geduldet sein sollen, und legt sich kaum die Frage vor, auf welche Weise diese Duldung zum Ausdruck komme. Ginge man dieser letzten Frage auch nur einigermaßen nach, so würde man

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bald zum Ergebnis kommen, daß das positive Recht über diese wichtige Frage schweigt. In der Tat hat man sich in naturrechtliehe Gedankengänge verstrickt. Bei der Beurteilung der positivrechtlichen Voraussetzungen einer Staatshandlung feststellen, diese seien wesentlich, eo] jene nicht, auf diese könne ohne Schaden für den Rechtscharakter verzichtet werden, auf jene nicht - eine solche eklektische Methode ist typisches Naturrecht. Sondert man die gesetzlichen Erfordernisse, die ohne jede nähere Charakterisierung aufgestellt sind, nach dem Kriterium der größeren oder geringeren Wichtigkeit, so legt man damit nach der Methode des Naturrechts an das positive Recht den Maßstab eines subjektiven Wertes oder einer idealen Norm an. Positiv-rechtlich sind, wie schon angedeutet, sämtliche gesetzlichen Erfordernisse gleichwertig und daher jedweder Mangel an ihnen ein Sanktionshindernis - Sanktionshindernis für die erkennende Vernunft, die sagen soll, ob Gesetzmäßigkeit erfüllt und damit Staatsund Rechtscharakter gegeben ist oder nicht. Soll trotzdem eine Sanktionsmöglichkeit gegeben sein, dann muß wieder das positive Recht ihr Urheber sein. Und solch eine Sanktionsmöglichkeit findet sich nun tatsächlich - freilich, man muß schon sagen auf sehr vertrackte Weise - im Institut des Rechtsmittels in Verbindung mit der Rechtskraft ausgedrückt. Die Rechtskraft des apriori rechtswidrigen Aktes - auf dessen Rechtskraft kommt es uns hier allein an - bedeutet nämlich einen freilich meist unbewußten, weil von vornherein als selbstverständlich gedachten, aber doch auf keine sonstige Weise zum Ausdruck gebrachten Verzicht auf gewisse gesetzliche Erfordernisse. Auf welche - das sollen wir gleich sehen, soweit es überhaupt im Recht zum Ausdruck kommt. Zugegeben, daß die Rechtskraft ein Verzicht auf gesetzliche Erfordernisse sei, die in gewissen Fällen nicht erfüllt worden sind - an dieser ihrer Bedeutung läßt sich wohl kaum zweifeln und darum dürfen 20 Vgl. hiefür wie für das folgende der vorbildlichen Ausführungen Kelsens, Ober Staatsunrecht, Seperatabdruck aus der Grünhut'schen Zeitschrift, 1913, S. 85 ff.

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wir uns füglich ihre nähere Begründung ersparen -: was gestattet uns aber, eine sogenannte Rechtskraft, wohlgemerkt, bei rechtswidrigen Akten anzunehmen? Keineswegs schon die Tatsache, daß sie etwa nicht anfechtbar sind, daß gegen sie kein Rechtsmittel gegeben ist. Was rechtlich nichts ist, was ein rechtliches Nichts ist, braucht nicht erst entrechtet, um seinen rechtlichen Charakter gebracht zu werden. 21 Hier müssen wir aber wieder des aus der naturrechtlichen Auffassung der gesetzlichen Erfordernisse erklärlichen Sinnes der Rechtsmittel in der heutigen Lehre und der Bedeutung, die ihnen vom Gesetzgeber (als urteilendem Wesen) zugedacht ist, inne werden! Man nimmt nämlich wie gesagt an, daß trotz bestimmter Mängel, deren Bestimmung aber eigentlich ganz ungeklärt ist - es findet da eine fragwürdige Abwägung nach der Natur der Sache, nach inneren Gründen statt, vielfach ist aber wohl der subjektive Wunsch, daß dieser oder jener Akt aufrecht bestehen bleibe, der einzige Bestimmgrund -, daß also ein mangelhafter Staatsakt von vornherein möglich sei. In Wirklichkeit wird der Akt erst im nachhinein ein gültiger Staatsakt - nämlich mit Eintritt der Rechtskraft, mag dies nun durch Nichtgebrauch oder infolge Erfolglosigkeit der Rechtsmittel geschehen. Es werden also ungültige Akte, die sich in gewisser Weise den gültigen Akten annähern - wo nicht einmal der Schein eines Staatsaktes vorliegt, ist dies nicht der Fall, aber selbst bei Scheinstaatsakten bleibt es vielfach [bei diesem] Schein - unter gewissen Bedingungen nachträglich ratihabiert, was allerdings schon im voraus im Rechtsplane vorgesehen ist. Für diese Akte gelten die fraglichen Bestimmungen nicht, wofern die Akte trotz der Nichtbeobachtung in Rechtskraft erwachsen; und die Person, welche die fraglichen Bestimmungen vernachlässigt, hat insoweit trotzdem als vollgültiger Rechtsanwender zu gelten, mag sie sich auch durch das Versehen strafbar, disziplinarisch verantwortlich

21 Die Rechtswidrigkeit einer scheinbaren Rechtshandlung, eines fehlerhaften Staatsaktes festzustellen und die Folgerungen daraus zu ziehen (Kassierung des Aktes usw.), ist nämlich nach herrschender Lehre die Funktion des Rechtsmittels. [- Treffend Tezner, Handbuch des österreichischen Administratiwerfahrens, S. 239.)

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machen. Genug, daß sie, da ihre fehlerhafte Organhandlung in Rechtskraft erwächst, Recht setzt, obwohl sie scheinbar unrecht handelt. Der Normalfall und unser Ausgangspunkt war, daß der Rechtserzeuger oder Rechtsanwender aus dem und in dem rechtsfreien Raume Recht schafft; normalerweise macht er rechtlich Irrelevantes rechtlich relevant. Nun konnten wir aber den Ausnahmsfall beobachten, daß der Rechtsanwender offenbares Unrecht zum Rechte wandelt. Die juristische Konstruktion ist hier vor ein schweres Problem gesteilt. Nimmt sie an, daß das fragliche Organ in den fraglichen Fällen Recht schafft, was angesichts der durch die [künftige] Unanfechtbarkeit gegebenen Rechtskraft nicht anzuzweifeln ist, dann muß sie des weiteren annehmen, daß dasselbe Organ, wie es Recht setzt, auch Recht anwendet, daß es also von einer rechtlichen Freiheit Gebrauch macht, wenn es rechtlichen Zwang, wieder muß ich sagen: scheinbaren rechtlichen Zwang, der in der Festsetzung von Bestimmungen für eine Organhandlung besteht, mehr oder weniger ignoriert. Wie die Geltung dieser Bestimmungen mit ihrer mangelnden Geltungskraft, wie das ursprüngliche Unrecht mit dem schließlichen Recht zu vereinbaren, wie die Dissonanz dieses doppelten Rechtes in die Konsonanz einer Rechtseinheit aufzulösen wäre, die Beantwortung dieser Fragen muß einer besonderen Behandlung der doppelten (wenn nicht mehrfachen) Rechtsordnung vorbehalten werden. 22 N ach wäre aufzuhellen, weIche die fraglichen Mängel sind, die durch Rechtskraft saniert werden. Das Gesetz drückt sie, allerdings meist unvollständig und undeutlich, durch die Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe aus. Der schon mehrfach festgestellte Irrtum, daß gewisse Mängel an sich reparabel, andere an sich irreparabel seien, spukt auch in der Abgrenzung dieser Anfechtungs- und Nichtigkeitsgründe. Es kann nicht entschieden genug betont werden, daß es für den juristischen Charakter eines Aktes völlig gleichgültig ist, ob er von 22 Nur als Beispiel aus diesem hier so nahe berührten Problemkreise sei hervorgehoben, daß es unter anderem Aufgabe der juristischen Konstruktion ist, den Justizmord als vollendete Rechtmäßigkeit darzustellen.

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einem Scheinorgane oder einem evidenten Nichtorgane gesetzt wurde, ob er nur einige oder keine Erkenntnisgründe eines Staatsaktes aufweist. Die Prozeßordnungen setzen aber einerseits teilweise die vorläufige Gültigkeit solcher unvollkommener Scheinstaatsakte voraus, nehmen aber andererseits doch wieder die Ungültigkeit aller anderen Akte an, die nur einige Merkmale eines gültigen Staatsaktes aufweisen, weil ihnen diese Merkmale trotz ihrer, wie man sieht, mehr oder weniger herabgeminderten Ansprüche an einen gültigen Staatsakt denn doch zu wenig sind. Zu wenig - man weiß nur nicht, nach welcher ratio. Es ist bei dieser Sachlage Frage des betreffenden positiven Rechtes, welche Mängel durch Rechtskraft saniert werden können. Da in zahlreichen Fällen nicht durchsichtig ist, auf welche Mängel sich Rechtsmittel beziehen, ist unsere Frage mitunter begreiflicherweise nur sehr schwer zu beantworten. Alle Unstimmigkeiten einer unhaltbaren theoretischen Konstruktion sind bei der geschilderten Sachlage unnötigerweise ins positive Recht und in dessen Praxis getragen.

*** Das positive Recht macht die apriori unrechtmäßige Handlung a posteriori zu einer Handlung Rechtens. Damit korrigiert es ja doch nur sich selbst, was offenbar in seiner Macht liegt. Nicht aber kann die unrechtmäßige zur richtigen Entscheidung gewandelt werden. Das würde die Macht der souveränsten Rechtsordnung übersteigen. Das positive Recht kann zwar bewirken, daß unter mehreren Möglichkeiten, die apriori gleich zulässig wären, aposteriori nur eine zutrifft, weil sich auf sie der eine Rechtsanwender festgelegt hat, daß aber statt aller dieser Handlungen eine andere, unter das Blankett logisch nicht subsumierbare zutreffe, das übersteigt die Macht der souveränsten Rechtsordnung. Denn nur über Rechtsnormen, nicht über Denkgesetze hat die positive Rechtsordnung Gewalt. Was logisch richtig ist, sagt nur die reine Erkenntnis und von keiner Instanz kann sie sich in diesem Urteil beirren lassen. Was juristisch richtig ist, oder sagen wir lieber vorsichtiger: wofür die Möglichkeit

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juristischer Richtigkeit zutrifft,23 darüber steht ausschließlich der Wissenschaft vom Recht ein Urteil zu. Wir haben mit einem gewissen Fatalismus unter Verzicht auf jede eigene Rechtsanschauung der Stimme des Rechtsanwenders gelauscht, wenn er uns aus dem Borne seiner Subjektivität heraus das in seinem Sinn rechtlich Maßgebliche verkündete, wobei wir freilich von der Voraussetzung ausgingen, daß er von der Linie'der Erkenntnis, die von den Gesetzen der Logik vorgezeichnet ist, nicht um Haaresbreite abweiche. Er ist nun kein vollendeter Logiker, kein vollendeter Denker, wie überhaupt kein vollendeter Mensch. Dies alles sind nur Idealitäten. Die Rechtsordnung muß aber bei dem Prozesse ihrer Anwendung mit Realitäten rechnen, mit den unvollendeten, in keiner Hinsicht an die Idealbilder heranreichenden Menschen. Nur der Richterkönig, das ist das Idealbild des Rechtsanwenders, würde sie ersetzen und überragen können, er würde aber auch die Rechtsetzung unnötig machen. Der Gesetzgeber setzt den Rechtsanwender, wie er heute ist, voraus - und damit sind die logischen Konflikte innerhalb des Rechtes unvermeidlich. Logische Konflikte zwischen dem gesetzten Rechte und dem Recht, wie es uns in der Anwendung entgegentritt, berechtigen aber apriori zu dem Urteile, daß diese Unrecht habe, daß ihre Resultate unrichtig, unwahr seien, [weil diese jenes zum Maß, zur Norm hat]. Was ist Wahrheit? Diese Grundfrage alles Erkennens zu beantworten, fällt nie in die Kompetenz des Objektes, sondern des Subjektes. Auf die rechtlichen Dinge angewendet, bedeutet dies: nie Kompetenz der Rechtspraxis, ausschließliche Kompetenz der rechtlichen Theorie. Unrecht und Recht zu erkennen, diese juristischen Wahrheiten auszusprechen, ist ausschließliche Aufgabe der Rechtswissenschaft. Sollte sich ein positives Recht anmaßen, diese Kompetenzen anders zu verteilen, die juristische Erkenntnis etwa dem Rechtspraktiker vorzubehalten, so wäre dies wirkungsloser, unverbindlicher Gesetzesinhalt.

23 Der Rechtspraktiker hat, wie oben ausgefUhrt, innerhalb dieser vom Rechtstheoretiker dargelegten Möglichkeiten die engere Wahl zu treffen.

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Wie stimmt dies freilich mit den Grundsätzen des Rechtspositivismus überein, jenes juristischen Glaubensbekenntnisses, das aus den gesamten bisherigen Ausführungen gesprochen hat und das dahin geht, daß das Gesetz in allen Dingen Ausschlag gebe und sozusagen alles vermöge? Nun, auch für das Vermögen des positiven Rechtes gibt es im Sinne des Rechtspositivismus sehr bestimmte Grenzen. Das gesamte menschliche Handeln im weitesten Sinne, selbst das menschliche Denken kann es unter seine Herrschaft beugen - nur die anderen Normen haben daneben ihre unberührte und unverrückbare Geltung. 24 Daß diese Normen nicht angewendet werden sollen, ist eine der noch im Rechtsbereiche, freilich bereits so ziemlich an seinen Grenzen liegende Normierungsmöglichkeit. Daß sie aber überhaupt nicht bestehen - das Urteil ihres Nichtgeltens abzugeben, übersteigt die Macht des Rechtes, da es sich ja hierbei überhaupt nicht um ein dem Rechte begrifTswesentliches Normieren, sondern um ein Urteilen handelt. Ein solches Urteil kommt dem Rechte ebensowenig zu, wie das Urteil über Tatsachen oder die aus ihnen gewonnenen Lehrsätze, die sich wiederum als Werte, im besonderen als logische Werte darstellen. Um das soeben Ausgeführte durch ein paar Beispiele zu belegen, wird es auf der Stelle einleuchten, daß das Gesetz mit der Kodifizierung des Pythagoräischen Lehrsatzes ebensowenig verbindlichen Inhalt enthalten würde, wie mit der Normierung, daß er nicht gelten solle. Sein Wahrheitswert kann von der souveränsten Rechtsordnung nicht aus der Welt geschafft werden, bedarf aber auch von seiten einer Rechtsordnung keiner Bekräftigung, ja ist einer solchen Bekräftigung im Grunde gar nicht zugänglich. Es [wäre] dasselbe juristische Nichts, als wenn, wie es ja mitunter vorkommt, eine Dankadresse oder eine Begrüßungsansprache in Gesetzesform gegossen wird. - Das Einmaleins zu kodifzieren, wird keinem vernünftigen Gesetzgeber einfallen. Täte er es dennoch, so würde er wirkungslos ein logisches Gesetz kopieren. Möglich wäre es, daß er die Beachtung dieses logischen Gesetzes unter Strafsanktion stellte, womit richtiges Rechnen zur rechtlichen Pflicht erhoben wäre, möglich wäre es sogar 24 Das ist die Erscheinung des Parallelismus, die mit dem Positivismus zusammentrifft, wenn nicht überhaupt zusammennmt. 12 A. J. Merkl

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- womit freilich die Grenzen des Denkmöglichen erreicht und die des Vernünftigen überschritten sein würden -, daß das positive Recht die Anwendung des Einmaleins verböte, nach einer anderen Schablone zu rechnen anbeföhle - daß aber das geltende Einmaleins unrichtig und ein anderes richtig sei, dies in verbindlicher, d.h. hier: vor dem Richterstuhl der Wahrheit haltbarerweise auszusprechen, wäre das Recht nicht mehr in der Lage. Die Wahrheit, und sei es auch die rechtliche Wahrheit, kann vom Rechte nicht ins Unrecht gesetzt und korrigiert werden. Aber wie verträgt sich diese - wenn schon in allen bisherigen Fällen nicht, dann doch an dieser Stelle zutage tretende - Ohnmacht des Gesetzgebers mit seiner gerade in unseren Ausführungen entwickelten Macht zu sagen, was Recht sei? Ich glaube, auch dazu steht seine hier behauptete Unfähigkeit, maßgeblich zu beurteilen, was Recht und was Unrecht sei, in keinem Gegensatze. Es muß hier an jenen Punkt der Ausführungen erinnert werden, wo betont wurde, daß das Rechtanwenden nicht so sehr eine Erkenntnisals eine Willensfunktion sei. Des Rechtsanwenders rechtliches Wollen setzt zwar normalerweise ein Erkennen (namentlich ein Erkennen der rechtlichen Möglichkeiten seines Willens) voraus, aber nicht weil er etwas als Recht erkennt, sondern weil er es will, ist es Recht; das steht mit seiner Rechtschöpfungsaufgabe, als die sich die Rechtsanwendung darstellt, im Zusammenhange. Und dieser Wille ist kraft Rechtens so mächtig, daß er selbst das als Recht zu Erkennende beugen kann. Willensmacht zu delegieren, steht anerkanntermaßen in der Kompetenz des Rechtes; warum soll also, was unschwer als Ausfluß der Willenssphäre zu erklären ist, als Ausfluß einer Erkenntnis erklärt werden, die doch nicht das ist, was ihr Name sagt? Denn eine Rechtserkenntnis, die aus dem Rechte logisch unableitbar ist, könnte Erkenntnis doch wohl nur auf Grund einer Ermächtigung von Seite des Rechtes, also auf Grund einer verliehenen Willensmacht sein. Der Rechtsanwender, oder besser, der ein solcher apriori zu sein scheint, der bis zu einem gewissen Grade die gesetzlichen Erfordernisse erfüllt, hat Recht, auch wenn und soweit er sie nicht erfüllt -

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nicht auf Grund eines Kennens, sondern eines Könnens, nicht weil er es besser weiß, sondern weil er es besser kann. Sache der Rechtserkenntnis wird es nun, die Resultate dieses Könnens mit den apriorischen Möglichkeiten in Einklang zu bringen, Gesetz und Gesetzesanwendung, die dies doch nicht zu sein scheint, zu vereinbaren. Sie vereinbart es, wie schon oben angeführt, indem sie auch bei diesen scheinbaren Abweichungen vom Gesetze eine Gesetzesanwendung annimmt, die sich freilich als solche nicht im Verhältnis zu den vernachlässigten Gesetzesbestimmungen, sondern im Gegenteile im Verhältnis zu einer (nicht dem materiellen, sondern regelmäßig dem Prozeßrecht zu entnehmenden) Blankettvollmacht zur Vernachlässigung einer solchen Bestimmung ergibt. Das ist nun freilich [im Grunde das gerade Gegenteil einer Gesetzesanwendung], die man etwa den überschätzten Erkenntnisfähigkeiten des Gesetzgebers supponieren möchte. Aber ich gebe zu, daß diese Erkenntnis des Rechtstheoretikers den Anschein erweckt, als würde es sich um Erkenntnisse des Rechtspraktikers handeln. Es sind ja tatsächlich Rechtserkenntnisse des Rechtsanwenders - Rechtserkenntnisse, deren Einzahl nicht bloß das sondern auch die Erkenntnis ist - aber doch solche, die ein Verkennen oder Verfehlen des ursprünglichen Rechtsplanes, also Erkenntnismängel und nicht gesteigerte Erkenntnisfähigkeiten des Rechtsanwenders voraussetzen, Rechtserkenntnisse, deren einziger Erkenntnisgrund der Wille des Rechtsanwenders, im besonderen seine Macht zur [ratihabierten] Fehlerkenntnis ist. Unrecht bleibt Unrecht - auch in der Hand des gewohnten Rechtsanwenders. Aber soll er wirklich auch im Fall der Rechtsbeugung ein Rechtsanwender sein, zu dem ihn in vielen Fällen unrichtiger Rechtsanwendung das Rechts stempelt, dann muß dies Unrecht doch irgendwie Recht geworden sein. Dies wird es nicht aus dem nicht angewendeten Rechte, sondern aus dem Rechte der Nichtanwendung. Es kann nicht, um uns näher auszudrücken, das tatsächlich nicht angewendete Recht doch irgendwie als angewendet gelten, sondern es muß die Anwendung des Rechtes, die ja doch vorliegt und nicht abzustreiten ist, da ihr Ergebnis in Rechtskraft erwächst, anderweitig fundiert werden. Die Rechtserkenntnis stellt da nun ein Recht bei, als dessen Anwendung auch die Rechtsbeugung von Seite des Rechtsanwenders 12'

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angenommen werden kann: es ist kurz gesagt ein Recht zur (wenigstens teilweisen) Nichtbeachtung des Gesetzesplanes. Es handelt sich hiebei - nach hergebrachten Kategorien ausgedrückt - um formelles Recht, dem das materielle Recht weichen muß, so daß höchstens nur noch materiell "Unrecht" vo'rliegt. 25 Apriori ist die falsche Rechtsanwendung falsch, aposteriori ist sie richtig, weil sie Anwendung eines anderen Rechtes ist. Das Unrecht wird nicht Recht - es wird von Recht verdrängt. Alle auch fürs erste unrichtige Rechtsanwendung mündet erkenntnismäßig und erkenntnisnotwendig in Recht, wie und weil sie aus dem Recht entspringt. In aller Rechtsanwendung spiegelt sich nur anzuwendendes Recht. Subjektive und objektive Auslegung

Vom Gesetz gilt, was Hamerling von der Dichtung sagte: "Ich glaube zunächst, daß jedes echte Dichtwerk vieldeutig ist, wie ein N aturwerk; ... daß eine künstlerische Schöpfung so geheimnisvoll tief ist, so wenig auszuerklären, als das Leben selbst; daß daher die Frage nicht sein kann, was der Künstler oder Dichter mit Bewußtsein hineingelegt, sondern was überhaupt darin liege. ,,26 Das ist freilich zunächst nur ein Bekenntnis, eine höchst subjektive Überzeugung: des großen Dichters, den ich mir anzurufen erlaubte, nicht anders als meinerseits. Es wird sich erweisen, ob dieses Urteil mehr sein kann als Überzeugungssache; ich glaube nicht; ich glaube, daß es in diesem Punkte kein Wissen, sondern nur einen Willen, daß es keine Erkenntnis, sondern nur eine Überzeugung gibt. Doch dies ist späteren Ausführungen, ja geradezu den Ergebnissen, bereits vorgegriffen. Zuerst bin ich verpflichtet zu sagen, was in Diskussion steht.

25 Es verhält sich zu seinem Widerspiel, dem unbeachteten materiellen Rechte, ähnlich, wie die Kontumazentscheidung, die etwa den klägerischen Gläubiger abweist, zur materiellrechtlichen Sachlage, wonach der obsiegende Schuldner zu einer Leistung verpflichtet war und wäre. 26 Epilog an die Kritiker zu "Ahasver in Rom". Volksausgabe von Dr. M. M. Rabenlechner, Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei AG, S. 203.

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Mit der Anführung der Gewissensfrage, die an jeden - bewußt - interpretierenden Juristen herantritt: "Soll ich das Gesetz subjektiv oder objektiv auslegen?" ist unser Problem charakterisiert, wenn auch nicht eindeutig bestimmt. Auch um diese eindeutige Bestimmung hat es seine eigene Bewandtnis. Ist eine solche überhaupt möglich, angesichts so verschwommener Begriffe? Die subjektive und die objektive Interpretation bedeuten nur Kategorien der Auslegungsmöglichkeiten - wie ich gleich bemerken möchte, nicht weniger fundamentale als das Kategorienpaar doktrinäre und authentische Interpretation - zwei Kategorien, durch die die geltenden Auslegungsmethoden gleichfalls in zwei große Lager gespalten werden. 27 Jede dieser Kategorien hat ihre zahlreichen Variationen - und selbstverständlich gibt es auch auf diesem Gebiete, zutreffender müßte ich sagen: zwischen diesen beiden Gebieten - wie in so vielen Fällen, für die der logische Satz gilt: tertium non datur - gibt es also auch hier Vermittlungsversuche, Zwischenbildungen, oder sagen wir ehrlich: Zwitter, Halbheiten.

*** Das objektive Recht ist in seiner Existenz, wie alles Seiende, verursacht; es ist auf ein Subjekt zurückzuführen. Wesenszug der subjektiven Interpretation ist es nun, auf dieses Subjekt zurückzugreifen, diesem selbst und nicht bloß seiner Ä'ußerung eine Bedeutung zuzuschreiben, auf die im Zweifelsfalle, wenn nicht injedem Falle zu rekurrieren ist. Das Gesetz ist ihr nur Erscheinung und bleibt ihr immer bloße Emanation. Für den subjektiven Interpretator ist notwendig einzig maßgebliche Instanz das emanierende Prinzip. Da dieses emanierende Prinzip, dajene Ursache, welche dem gegebenen Gesetze zugrunde liegt, in der Vergangenheit gelegen ist, erweist sich die Berechtigung des sprechenden Namens von der historischen Interpretation. Streng historisch geht aber, wie gleich an dieser

27 Ober diesen Gegensatz vgl. insbesondere Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen, J .C.B. Mohr, S. 3, 24, 59, 89 fT. Vielleicht ihr entschiedenster neuerer Vertreter - um nur einen zu nennen - ist Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 4,1911, S. 256fT.

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Stelle bemerkt sei, auch die sich so benennende Auslegungsmethode nicht vor, weil sie dem Gesetze doch wohl eine vom historischen Standpunkt aus nicht zu rechtfertigende Bedeutung einräumt. Das Gesetz, das bei konsequentem Vorgehen nur eines der verschiedenen Dokumente des Gesetzgeberwillens zu sein hätte, das sich auf die Rolle eines den Gesetzgeberwillen bezeugenden geschichtlichen Belegmittels zu beschränken hätte und vor anderen vorfindlichen Willensausdrücken des Gesetzgebers keinen Vorzug verdiente, wird augenscheinlich überwertet und rückt auch in den Augen des historischen Interpretators an eine Stelle, die nur vom Standpunkt ahistorischer, den subjektiven Gesetzgeberwillen vernachlässigender, wo nicht verschmähender Interpretation gerechtfertigt wäre. Die objektive Interpretation ist dagegen dadurch charakterisiert, daß sie von den dem Gesetze zugrunde liegenden psychischen Erscheinungen abstrahiert, sich nicht darum kümmert, ob das Gesetz ein gelungener oder mißlungener Ausdruck des Gesetzgeberwillens sei; daß sie das Gesetz als ein selbständiges Ding betrachtet, durch dessen Schöpfung sich der Gesetzgeber jedes maßgebenden Willens entäußert habe; ein Ding, das gewissermaßen entsubjektiviert, objektiviert, petrifiziert ist, ein Petrefakt vom Standpunkt seines Urhebers aus, aber doch andererseits eine Erscheinung voller "Eigenleben" . Wodurch diese von der objektiven Interpretation entseelte Erscheinung des Gesetzes belebt wird, das ist die Psyche des Interpretators, die gerade bei objektiver Interpretation ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten hat: ein Satz, der hier nur vorausgeschickt sei, um an späterer Stelle bewiesen zu werden. Auch dies sei hier noch im voraus festgestellt, daß im Gegensatzpaare "objektive und subjektive Auslegung" diese Wörter in anderem Sinn verstanden werden, als am Platze, oder wenigstens denkbar wäre: Bei der subjektiven Auslegung ist nicht an die subjektive Sphäre des Auslegenden, sondern, kurz ausgedrückt, des Auszulegenden zu denken. Man sieht wohl ein, daß dasselbe Wort mit mindestens gleich gutem Recht jener Auslegungsmethode den Namen ge ben könnte, die der subjektiven Sphäre des Interpretators den größeren Spielraum

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läßt: das ist, wie schon im vorigen festgestellt wurde und im folgenden zu erweisen sein wird, gerade die sogenannte objektive Interpretationsmethode . Andererseits könnte gerade die historische Auslegung mit gutem Grunde die objektive heißen; ist doch der Raum, der bei der sogenannten objektiven Auslegung der Ausfüllung aus der psychischen Sphäre des Auslegenden heraus freisteht, für die historische Auslegung durch den psychischen Willen des Gesetzgebers ausgefüllt und objektiver Erfassung, objektiver Erkenntnis zugänglich. Die Namen sind mithin nicht bezeichnend, ja wenn man ihnen auf den Grund geht, geradezu irreführend. Es bleibe den späteren Darlegungen vorbehalten, neue N amen vorzuschlagen. Vorderhand bediene ich mich noch der alten Terminologie. Subjektive oder objektive Interpretation? - das ist also die Frage; und zwar eine Frage, auf die sich eine juristische Anwort nicht erteilen läßt. 28 Denn es handelt sich hierbei um eine Voraussetzung der Jurisprudenz - und die Annahme dieser Voraussetzung ist nicht anderer Art, als wenn man sich für das eine oder andere Verfassungssystem entscheidet, auf dem man sein Rechtsgebäude aufrichtet. Ja, während in letzter Beziehung doch viel eher die Macht der Tatsachen als ein politischer Gesichtspunkt entscheidet, indem man etwa von zwei denkbaren Verfassungsprinzipien das als herrschend annimmt, welches sich durchgesetzt hat,29 hängt die Wahl zwischen objektiver und

28 Den Beweis fUr die hier behauptete rechtsfremde , metajuristische Natur dieses Auslegungsstreites habe ich in meiner Abhandlung "Zum Interpretationsproblem ", Grünhut'sche Zeitschrift fUr das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 42. Bd. (1916), S. 535-556, zu fUhren versucht. Im ersten Artikel dieser Serie wurde das Problem bereits aufgeworfen. 29 Vgl. die geistvollen Ausflihrungen in der Abhandlung des Privatdozenten Dr. Pitamic, Denkökonomische Voraussetzungen der Rechtswissenschaft, Österreichische Zeitschrift fUr öffentliches Recht, 1917, 3. Heft. Anklänge einer ähnlichen Auffassung des Verhältnisses von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert finden sich übrigens schon im geflügelten Worte Georg Jellineks von der "normativen Kraft des Faktischen". In der Studie" Die Rechtseinheit des österreichischen Staates", Archiv des öffentlichen Rechts, 37. Bd. (1918), S. 56-121, habe ich mir das Verhältnis so auszudrücken erlaubt, daß ich von einer qualifIZierten politischen Gegebenheit als dem Erkenntnisgrunde eines rechtlichen So liens sprach.

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subjektiver Auslegung doch wohl fast ausschließlich von inneren Momenten, insbesondere von der Weltanschauung ab. Ja, hat man zwischen subjektiver und objektiver Auslegung die freie Wahl? Es ist so, wenigstens wird praktisch diese Wahlfreiheit in Anspruch genommen, wofern sie vom positiven Rechte nicht aufgehoben ist. Ist aber das positive Recht zu einer derartigen Aufhebung kompetent, ja auch nur imstande, wenn die Frage, ob subjektive oder objektive Auslegung dem Rechte transzendent ist? Vorausgesetzt, daß man insoweit einig ist, daß der Text des Gesetzes - vorläufig mit oder ohne Berücksichtigung des Gesetzgeberwillens - das Recht repräsentiere und in dieser Annahme treffen sich historische und objektive Auslegung -, so muß man die Möglichkeit zugeben, daß das Recht in dieser Richtung disponiere. Die nicht seltene Gesetzesbestimmung, daß einerseits "im Zweifel" auf den wahrscheinlichen Willen des Gesetzgebers zurückzugreifen oder das andererseits - daneben oder denkbarerweise auch ausschließlich - das zu gelten habe, was der Rechtsanwender als Gesetzgeber verfügen würde, 30 ist apriori noch einer neutralen Auslegung zugänglich und kann nicht selbst bereits mit dem ihr zu entnehmenden Maße gemessen werden. Aber auf verschiedenen Wegen kommend, begegnet man sich hier in der Erkenntnis, daß von nun an, kraft positiven Rechts, aposteriori nur der Weg der historischen oder der objektiven Auslegung weiter zu verfolgen sei. Verweist der Buchstabe des Gesetzes auf den Gedanken des Gesetzgebers, so ist es ganz selbstverständlich, daß ihm - vielleicht ausnahmsweise - in diesem Falle der Vertreter der historischen Interpretation gehorcht, da er ausnahmsweise vom geschriebenen Rechte bekräftigt findet, was auch ohne diese Bekräftigung für ihn feststeht. Aber auch vom Standpunkte der objektiven Interpretation muß man angesichts einer Gesetzesbestimmung, die auf den Willen des Gesetzgebers verweist, zu demselben Ergebnis gelangen, weil es eine seltsame Treue gegen den Wortlaut des Gesetzes wäre, wenn man die ausdrückliche Verweisung des Gesetzes auf den Willen des Gesetzgebers nicht gelten ließe.

30 Es ist dies eine verschrobene Ausdrucksweise für die Tatsache, daß der Rechtsanwender insoweit, als an seine Gesetzgebenähigkeiten appelliert wird, wenigstens materiell Gesetzgeber ist.

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Aber soferne das Gesetz über diesen Punkt geschwiegen hat, ist man, auch wenn man sich bedingungslos auf den Standpunkt begeben hat, das Gesetz als Rechtsquelle - d.h. noch nicht als einzige Rechtsquelle - zu akzeptieren, rechtlich noch nicht verbunden, im Sinne der objektiven oder subjektiven Auslegung vorzugehen. Es müßte, um eine Bindung in der einen oder anderen Richtung zu erreichen, schon der Begriff des Rechts in anderer Weise festgelegt werden; an Stelle des gesetzten Rechts schlechthin hätte etwa der Gesetzeswortlaut einerseits oder die Satzung als Ausdruck eines Gesetzgeberwillens andererseits zu treten. Nur unter der Voraussetzung einer solchen Bestimmung des Rechtsbegriffes wäre die eine oder die andere Auslegung rechtlich bedingt. Daß aber der Rechtsbegriff so festgesetzt werde, kann rechtlich ebensowenig gefordert werden, wie daß man einen rechtlichen Beweis zu führen vennöchte, daß Gewohnheitsrecht oder daß unabhängiges Verordnungsrecht bestehe. Das ist Gegenstand der juristischen Annahme und nicht des Beweises. Hierzu ist eine Besonderheit des Verhältnisses zwischen subjektiver und objektiver Interpretation zu vennerken: materiell bleibt sich der auf Grund subjektiver und objektiver Auslegung gewinnbare Rechtsstoff gleich, wenn man den Rechtsbegriff soweit faßt, daß man ihn einfach undifferenziert auf das Gesetz abstellt. Die subjektive Auslegung wird in der Regel von der objektiven mit umfaßt; die Möglichkeiten der letzteren sind so vielfältig, daß sich unter ihnen als eine Möglichkeit regelmäßig das Ergebnis der subjektiven Interpretation derselben Frage vorfindet - vorausgesetzt, daß der Gesetzgeber logisch richtig vorgegangen ist, daß er den Ausdruck nicht verfehlt hat, daß sich das, was er sich gedacht hat, auch den Worten des Gesetzes bei logisch-grammatikalischer Interpretation entnehmen läßt. Ist dies der Fall, dann wird auch die lediglich auf den Gesetzeswortlaut abgestellte Auslegung, wofern sie eindeutig ist, gerade - allerdings gewissennaßen zufällig - das treffen, was sich auch auf Grund subjektiver Auslegung ergäbe. Nur ist eben bei solcher Sachlage die ratio der Anwendung dieses Auslegungsergebnisses nicht, daß der Wille des Gesetzgebers so geartet gewesen sei; sondern es wird dieser Auslegungsmethode genügen, daß der Wortlaut des Gesetzes dieses Ergebnis fordere.

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Und wo uns der Wortlaut des Gesetzes zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen läßt (womit sich eine Wahlmöglichkeit und Wahlnotwendigkeit erhebt), da wird die Wahl unter Umständen auch auf die vom Gesetzgeber beabsichtigte Lösung fallen, unter Umständen sogar aus denselben Motiven, die dem Gesetzgeber vorgeschwebt sind; aber doch wohl niemals rein aus dem einen Grunde: weil es so Wille des Gesetzgebers gewesen sei. Denn wem der Gesetzgeberwille um seiner selbst willen bestimmend ist, als Interpretator so und nicht anders vorzugehen, obwohl es vom Gesetze ermöglicht wäre, anders vorzugehen, der akzeptiert den Willen des Gesetzgebers als Interpretationsgrundsatz und nimmt ihn von vornherein in den RechtsbegrifT auf, der ist bereits Vertreter der historischen Interpretationsmethode.

*** Es war und ist die Schwäche der Gesetzgeber, daß sie ihren Lebenswerken die Kraft ihres Willens einzuträufeln, daß sie ihnen unauslöschlich den Stempel ihrer Persönlichkeit einzuprägen streben. Will man dies, dann tut man freilich gut, es deutlich im Gesetze auszusprechen. Findet sich demnach die historische Interpretation ausdrücklich im Gesetze postuliert, so wird der Gesetzgeber bei der nun einmal bestehenden Tatsache, daß beide gebräuchlichen Interpretationsmethoden vom Gesetze ausgehen und beim Gesetze enden, in der Regel seinen Willen - wenigstens fürs erste - erreicht haben. 31 "Fürs erste" - denn ein solches Gesetz, das ständig in die Vergangenheit zurückzugreifen gebietet, wird die geringste Fernwirkung in die Zukunft haben. Unausgesetzt zur Frage nötigen, was sich der Gesetzgeber gedacht habe, ist wohl das Gegenteil von Schmiegsamkeit, von Anpassungsfähigkeit an kommende Verhältnisse und löst denn auch am ehesten den Gedanken an eine Reform des Gesetzes aus. 32 Daß sich der 31 Dies ins besondere auch für den prinzipiell auf die objektive Methode eingestellten Interpretator; denn diesem wird der Gesetzgeberwille zwar nicht aus Eigenem, aber vermöge des Gesetzeswortlautes, der auf jenen verweist, maßgeblich sein. 32 Das ist ja bekanntlich das wiederholt enthüllte Geheimnis der ewigen Jugend alter Gesetze, daß sie sich im Lauf der Zeiten, ohne einer Reform unterworfen zu werden, wandeln. Diese Wandlungsfähigkeit gemäß dem Zug der Zeit und damit die Möglichkeit, sich jung und brauchbar zu erhalten, ist abgeschnitten, wenn das Gesetz die stets mehr alternden Züge des Gesetzgebers an sich trägt, wenn man sich an dessen Züge auf Dauer des Gesetzes anschließen muß.

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Gesetzgeber zunächst ganz durchsetzt, der Rechtsanwendung am deutlichsten und tiefsten seinen Willen einprägt, bezahlt er damit, daß er alsbald ganz abzudanken und das Gesetz zu erneuern gezwungen ist, da das starre, modulationsunfähige Gesetz bzw. seine Anwendung durch die historische Interpretation außerstand gesetzt wurde, mit der Zeit zu gehen. Das hindert freilich den Gesetzgeber in der Regel der Fälle nicht, diesem Wunsche nach ausschließlicher Verbindlichkeit, nach restloser Bindung der Rechtsanwendung, nach unbedingter Gefolgschaft des Rechtsanwenders zu huldigen. Hierbei hält er sich sogar meist der Notwendigkeit enthoben, daß dieses Postulat an die Adresse des Rechtsanwenders im Gesetze ausdrücklich ausgesprochen werde, während Verbote des Kommentierens und dgl. konsequente Äußerungen in der Richtung einer historischen Interpretation belächelt werden. Gerade das aber, daß der Gesetzgeber schweigend den willenlosen Gehorsam des Gesetzanwenders voraussetzt, in der Meinung, dieser werde sich auch ohne ausdrücklichen Gesetzesbefehl bestimmen lassen, sich für die historische Interpretation zu entscheiden, ist die Zumutung eines circulus vitiosus: man muß sich im voraus für die historische Interpretation entschieden haben, um die unausgesprochene Forderung des Gesetzgebers nach Anwendung der historischen Interpretation für rechtsverbindlich zu erachten; nicht könnte dieser unausgesprochene Gesetzgeberwille die Erforderlichkeit der historischen Interpretation rechtlich begründen, weil dieser unausgesprochene Gesetzgeberwille nach Anwendung der historischen Interpretation selbst nur bei Anwendung eben dieser Interpretationsmethode maßgeblich ist: man muß bereits von vornherein auf die historische Interpretationsmethode eingestellt sein, wenn einem der unausgesprochene, sei es auch als selbstverständlich vorausgesetzte Wille des Gesetzgebers genügen soll, in allem und jedem auf einen eigenen Willen zu verzichten. Wenn nicht der Wille des Gesetzgebers - was vermöchte dann zu bewirken, daß man sich auf die historische Interpretation festlegte? Unter anderem wird uns z.B. - nur um typische Beispiele aus der unendlichen Fülle von Fundierungen der historischen Interpretation handelt es sich hier - wird uns also die subjektive Auslegung mit der Begründung aufgedrängt, daß sie von der Achtung vor der Meinung

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des Gesetzgebers erfordert sei. Unhistorisch interpretieren, hieße den Gesetzgeber, im besonderen seine Gebote mißachten. "Wer sich der objektiven Theorie anschließt, nimmt daher die bewußte Vereitelung legislativer Absichten in sein Programm auf. ,,33 Ja, welche sind denn die legislativen Absichten? Sind die, wie in dem Zitate angenommen wird, notwendig mit denen des Gesetzgebers identisch? Man darf doch wohl nicht so ohne weiteres wie selbstverständlich Gesetz mit Gesetzgeber identifizieren. Man darf nicht so leichthin darüber hinweggehen, daß z.B. Kohler so scharf unterscheidet wie im folgenden Satze: "Auslegen heißt ... nicht Sinn und Bedeutung dessen ermitteln, was jemand sagen will, sondern Sinn und Bedeutung dessen, was gesagt wird. ,,34 Die Argumentation mit der "Vereitlung legislativer Absichten" erweist sich als petitio principii. Das Wort "Legislativ" kann sich auf den Gesetzgeber, aber auch, ja wohl eher, auf das Gesetz beziehen. Wie wir wissen, macht die historische Interpretation in dieser Richtung keinen Unterschied, sondern identifiziert den Gesetzes- mit dem Gesetzgeberwillen; und in diesem Sinne kann man sagen, "daß eine Erfolgsvereitlung unabwendbar eintritt, sobald der Richter auf die historische Auslegung verzichtet". Für die objektive Interpretation besteht aber jene Identität zwischen Gesetzes- und Gesetzgeberwillen nicht. Von diesem Standpunkt aus kann aber, wie man sieht, unschwer die besondere, nicht zum Ausdruck gebrachte Absicht des Gesetzgebers unbeachtet geblieben sein, ohne daß die legislative Absicht - im Sinne des Willens des Gesetzes, das eben nach der Gesetzgebung seine eigenen Wege geht - "vereitelt" sein müßte. Vom Standpunkt der objektiven Interpretation gebührt dem Gesetzgeberwillen nur insoweit Achtung, Beachtung, als sich sein Niederschlag im Gesetzestexte findet. Wie ein logischer, so fehlt auch ein ethisch-politischer Grund für die Beachtlichkeit des Gesetzgeberwillens neben oder über dem Gesetzeswortlaut. Der Gesetzgeber ist nur ein Organ in der Hierarchie der Staatsorgane mit dem Zwecke, Recht zu schaffen; er ist nur Mittel zum Zweck und hat mit der Gesetzwerdung jeweils seinen Zweck er33

Heck, a.a.O., S. 62.

34 Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, S. 123.

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füllt. übrigens disponiert ja auch der Gesetzgeber von heute über das aus früherer Zeit überkommene Gesetz und kann es jederzeit umgestalten, aufheben und dgl. Also besteht wohl kein Bedürfnis, den Gesetzgeber von gestern und ehegestern im Gesetze ein Scheindasein weiterfristen zu lassen. Insbesondere hat aber, um nur noch einen für die historische Auslegung vorgebrachten Grund anzuführen, diese nicht den Vorteil der Bestimmtheit, der Zweifelsfreiheit für sich. Ganz abgesehen davon, ob diese Eigenschaften des Interpretationsergebnisses unbedingt als Vorteile zu gelten hätten, fragt es sich, und möchte ich in Abrede stellen, daß den Ergebnissen der historischen Interpretation, so, wie man sich diese denkt, diese Eigenschaften eigen sind. Darauf, daß der Gesetzgeber nicht einen einzigen Willen hat, daß das Gesetz insbesondere dort, wo mehrere Gesetzgebungsfaktoren zusammenwirken und einer oder mehrer dieser Faktoren Kollegien 35 sind, kompromissarischer Natur ist, die Komponente mehrerer Willensakte darstellt: auf diese Tatsachen wurde schon so unzähligemale hingewiesen, so daß hier diese bloße Feststellung genügen dürfte. Was im Laufe dieser Ausführungen auch bereits angedeutet wurde, sei aber nun besonders hervorgehoben. Wie oft versagen auch die M Olive des Gesetzes, wie oft könnte der Gesetzgeberwille nur auf Grund der umständlichsten Quellenforschungen aufgedeckt werden, wenn er nicht schlechthin unergründlich ist. Wo sich der Wille des Gesetzgebers lediglich im Gesetzestexte manifestiert hat und dieser zu Zweifeln Anlaß gibt, da ist die "im Sinne der historischen Interpretation" gefundene Lösung historisch unwahr, da imputiert man dem Gesetzgeber den eigenen Willen und wandelt nicht mehr auf die Wege subjektiver, historischer Interpretation. Und auf diesen Weg pseudohistorischer Interpretation wird von den Anhängern der historischen Interpretation so ziemlich jeder Richter verwiesen, der nicht mit dem Rüstzeug historischer Forschung ausgestattet ist, sondern bestenfalls den Gesetzestext vor sich hat. Stellt ja doch die historische Interpretation an jeden Rechtsanwender

35 So z.B. alle gesetzgebenden Körperschaften, aber auch das Redaktionskomitee einer Regierung.

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die unerfüllbare Forderung, vollendeter Quellenforscher gleich einem Berufshistoriker zu sein. Wo bleibt da die Bestimmtheit, außer wenn sie sich der Richter durch Interpretationskünste errafft, durch willkürliche Deutung schafft? Die objektive Auslegung macht nun aus dieser Not eine Tugend. Die unbewußte oder verschwiegene Konsequenz unhistorischer "historischer Interpretation", daß letzten Endes als vermeintlicher oder behaupteter Wille des Gesetzgebers das aufscheint, was der Interpretator als Gesetzgeber gedacht und gewollt haben würde und als Rechtsanwender denkt und will, wird zum erklärten Programme einer objektiven Interpretation. Die eine Erwägung sei vorausgeschickt, daß sich objektive Interpretation vielleicht gerade auf Grund historischer Auslegung vertreten läßt. Hat der Gesetzgeber geschwiegen, hat er Fragen offen gelassen vielleicht auch nur auf die Weise, daß er sich undeutlich ausgedrückt hat - wer sagt uns, daß er dies nicht mit Absicht getan habe; daß er nicht mit Absicht Selbstbeschränkung geübt habe, daß er selbst dem Willen des Rechtsanwenders Raum geben wollte, da er nun einmal die Welt der Anwendungsmöglichkeiten nicht auszuschöpfen vermöchte. Freilich ist dieses Argument, dem nur von den Anhängern der historischen Interpretation mehr Beachtung geschenkt werden sollte,36 für ihre Widersacher nicht ausschlaggebend. Ist man sich mit den Anhängern der historischen Interpretation darüber einig, daß das Gesetz Gegenstand der Auslegung sei, dann spricht derselbe logische Grund wie gegen die subjektive so für die objektive Interpretation. Gesetz und Gesetzgeber sind nicht dasselbe. Man wird unter Umständen um die reichen Möglichkeiten eines Gesetzes gebracht, wenn man den armen Gedanken eines Kodifikators nachspürt. Jeder wird zugeben, daß ein unfähiger Gesetzgeber ein kasuistisches Gesetz notwendig verdirbt, während ein inhaltsarmes Gesetz oft noch zum Guten gewendet, ja in den Händen eines fähigen 36 Sie gehen zweifelsohne unhistorisch vor, wenn sie es sich nicht zu eigen machen und von ihrem eigenen Standpunkte aus eine Ermächtigung des Rechtsanwenders zur emotionellen Rechtsauslegung - unbekümmert um den (insoweit eben materiell schweigenden) Willen des Gesetzgebers - nicht zugeben.

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Rechtsanwenders, Richters oder Verwaltungsbeamten immer noch zu einem tauglichen, wenn nicht tremichen Instrument werden kann. Soll er ebenso schlechte Musik machen, wie der Gesetzgeber intoniert hat? Freuen wir uns, daß er nur einige wenige Töne angeschlagen hat, die der Phantasie des Rechtsanwenders noch freien Lauf lassen! Muß er den Gesetzgeber unbedingt zur Gänze interpretieren, wenn dieser nur gewissermaßen intoniert hat? Wie oft kann man sehen, daß der nachschaffende, insbesondere der darstellende Künstler über die Vorstellungswelt des schaffenden Künstlers hinausgewachsen ist, aus dessen Werk mehr herausgeholt als dieser hineingelegt hat? Ist er dabei seinem Berufe untreu geworden? Ebensowenig wird der Gesetzanwender seinem Berufe untreu, wenn er mit schöpferischer Intuition die vom Gesetzgeber oft ungeahnten Möglichkeiten hervorholt, die im Gesetze ruhen. Es ist nicht Mißachtung vor dem Gesetze, sondern gerade ein Beweis der Achtung, wenn er es nicht auf den unter Umständenja recht beschränkten Horizont des Gesetzgebers abstellt. Bei diesen Ausführungen haben außer rein logischen bereits ethisch-politische Erwägungen mitgesprochen. Es sei hier hervorgehoben, was beiläufig schon bemerkt wurde, daß wir aus der Not eine Tugend machen. Die zweifelhafte Eindeutigkeit der subjektiven Interpretation ist die Enge, aus der wir Recht und Richter hinausführen in die Freiheit der objektiven Interpretation. Rein "objektive" Interpretation ist ausgeschlossen - ein "Subjekt" muß notwendig mitsprechen. Es fragt sich nur, ob als solches Subjekt der Rechtssetzer oder Rechtsanwender den Vorzug verdiene. Auch wenn man jenem den Vorzug gibt, kann man diesen nicht mundtot machen. Als vermeintliches Sprachrohr des Gesetzgebers wird er so oft die Sprache der eigenen Überzeugung sprechen. Und wo der Gesetzgeber seinen Willen undurchdringlich verschleiert hat, muß ja doch - auch im Sinne der historischen Interpretation - der Gesetzanwender supplieren. Warum da mit förmlichen Taschenspielerkunststücken dem Gesetzgeber mehr abgewinnen wollen, als das Gesetz gesagt hat, und nicht von vornherein den Gesetzesanwender innerhalb des Rahmens des geschriebenen Gesetzes als vollgültigen Gesetzesvollstrecker inthronisieren? Die Möglichkeit, daß der wirkliche Wille, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein vernünftiger Wille des Gesetzgebers durchsetzt, ist hierbei noch immer offen gelassen; unter der Voraussetzung selbstver-

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ständlich, daß der Gesetzgeber seinem psychischen Willen entsprechenden sprachlichen Ausdruck verliehen hat; denn nur unter dieser Voraussetzung ist der Gesetzgeberwille als eine der logischen Möglichkeiten vom Gesetzeswortlaut umfaßt. Ich muß mich, ehe ich schließe, dagegen verwahren, daß die von mir - mehr erkannte als geforderte, oder mindestens zunächst erkenntnismäßig und dann erst willensmäßig bejahte - Richterfreiheit als Bekenntnis zum Freirecht gedeutet werde. Das Freirecht postuliert bekanntlich eine Freiheit neben dem Gesetze, ja gegen das Gesetz. Es konnte wohl nicht verborgen bleiben, wie streng ich den Richter bei aller Freiheit im Zaume des Gesetzes halte. Praktisch mögen meine Aufstellungen freilich hie und da sogar über die Konsequenzen der Freirechtsschule hinausgehen, da diese dem Richter oft Freiheiten unabhängig vom Gesetze postuliert, die er - auf Grund eben des geschmähten Gesetzes, allerdings in diesem ihren Grunde unerkanntohnehin schon hat. Diese Freiheit des Richters ist nicht so sehr ein Bekenntnis als eine Erkenntnis. Und diese läßt sich finden, wofern man im "Gesetz" das Recht erblickt. Von diesem Standpunkt aus ist das Urteil von der allein selig machenden Kraft der historischen Interpretation nachweisbar falsch, weil voraussetzungswidrig, und das gegenteilige Urteil von der Zulässigkeit der reinen Wortauslegung beweiskräftig richtig. Von einem weiter zurückliegenden Standpunkt aus, wo die Differenzierung zwischen Gesetzesschöpfer und Gesetzeswerk noch nicht Platz gegriffen hat, sind beide Interpretationsmethoden zulässig. Da erscheint das Recht alles, was immer mittels einer der wahlfrei eingeschlagenen Interpretationsmethoden gewonnen wird. Von diesem Standpunkt aus kann man bildhaft sagen, das Recht sei nichts als das Echo oder als das Spiegelbild seiner gleich wie immer gearteten Auslegung.

Rezension von:

Hans Reichel, Gesetz und Richterspruch, Zürich 1915 Aus den dichtauftretenden Reihen der Bücher und Broschüren, die das Rechtsquellen- und Rechtsanwendungs-, heute unstreitig das modernste Problem der Jurisprudenz behandeln und sich vornehmlich durch die entgegengesetzte Beantwortung der zum Hauptproblem erhobenen Frage: "Richterfreiheit oder richterliche Gebundenheit?" scheiden, tritt Reicheis Programmschrift mit der erklärten Absicht heraus, zwischen den beiden gegnerischen Lagern zu vermitteln. Diese Absicht erlangt ihren besonderen Sinn, wenn man bedenkt, daß Reicheis Abhandlung hauptsächlich der Praxis dienen, dem Rechtspraktiker helfen will, in dem um seine juristische Stellung geführten Streit selbst eine feste Position zu finden. Dabei widerfährt unserem Autor eine jetzt doppelt interessante Erscheinung: Er ist im besten Glauben, daß er strikte Neutralität bewahre - und steht mit seinen Aufstellungen doch durchaus im Lager der einen Partei, der Reformatoren. Dem für uns wichtigeren "grundsätzlichen Teil" wird, die Zwecke der Praxis berücksichtigend, ein umfangreicher" geschichtlicher Teil" vorausgeschickt, welcher über den Stand der gesamten Rechtsquellenund Rechtsanwendungslehre in großen Zügen referierend berichtet. In interessanter Weise wird (nicht ohne Anklänge, vornehmlich an Spiegels "Gesetz und Recht"), aber doch in eigentümlicher Methode der "Gesetzesabsolutismus" (als Ausgangs- oder vielmehr Angriffspunkt der modernen Rechtsquellenbewegung) aus dem Staatsabsolutismus abgeleitet, als dessen natürlicher Fortsetzer bei konstitutioneller oder parlamentarischer Regierungsform er erscheint. Aber ge-

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 2. Jg. (1916), S. 518-521. 13 A. 1. Merkl

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rade diese historische Reminiszenz wird für viele (nicht für Reiche/), vielleicht eben deswegen, weil sie sich ihrer nicht voll bewußt werden, zur Quelle eines Denkfehlers, indem die historisch-subjektive Auslegung, die für das Recht, solange es sich mit dem subjektiven Willen des Monarchen deckte, völlig am Platze war, nunmehr auch auf die neue Rechtsform, das Gesetz, bekanntlich eine Resultante verschiedener psychischer Willensakte, kritiklos angewendet wurde; die historische Erwägung verdeckt das eben erst mit der von Grund auf geänderten Sachlage neu entstandene Problem; erst durch die Vielfältigkeit der Gesetzgeber mit deren von ihnen so eigentümlich distanziertem und in der Form des Gesetzblattes oder Gesetzbuches verselbständigtem sogenannten "Willensprodukt" , eben dem Gesetze, war das Problem der Auslegung gegeben, in der absoluten Monarchie war aber, was man vielleicht auch schon Auslegung nannte, nichts als empirische Willensforschung, die in dem Gang des Rechtsfalls zu Hof ihren sinngemäßen Ausdruck und ihre korrekteste Lösung fand. - Um auf Reicheis Schrift zurückzugreifen: auch sie findet ein Analogon des modernen Rechtsstaates zum absoluten Staat: den Gesetzesabsolutismus als Nachfolger des "Staatsabsolutismus" im engern Sinn (selbst ja, wenn das Gesetz die fundamentale Staatseinrichtung sein will, ein mittelbarer Staatsabsolutismus!); eine Analogie, die mit dem vorhin skizzierten Gedankengang subjektiver Interpretation gewisse Ähnlichkeit hat: ebenso wie ehedem der teils ausgesprochen vorliegende, teils beliebig erfragbare Wille des Monarchen, regle jetzt das abstrakte Gesetzesgebot jeden Rechtsfall bis ins kleinste; was aber, wenn überhaupt, doch nur bei subjektiv-historischer Auslegung zutrifft; nur nach dieser Methode appelliert man ja (wir meinen zwar: vergeblich) an Instanzen,die vor dem Gesetzesworte liegen, die dieses möglicherweise bloß als höchst unvollkommenen Ausdruck einer vollkommenen Idee erscheinen lassen. Reichel ist nun zwar Anhänger der subjektiv-historischen Auslegung (wir möchten ihn am ehesten in die Gruppe der am hervorragendsten durch Heck repräsentierten Interessenjurisprudenz stellen) hält aber doch das Dogma des Gesetzesabsolutismus für mißverständlich, wobei er es selbst im Sinne der (wieder nicht richtig erfaßten) Lückenlosigkeitstheorie mißversteht. Man kann wohl in dem Sinne von einem Gesetzesabsolutismus sprechen, daß es sich das Gesetz anmaßt, für jeden denkbaren Rechtsfall eine Lösung an die Hand zu geben, wenn dies auch kaum in einem Fall eine

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eindeutige Lösung sein wird. Unter Lückenlosigkeit versteht man aber, und insbesondere auch Reichel, bloß die Eindeutigkeit der Lösung. Diese Eindeutigkeit in allen Fällen herbeizuführen, sei aber keine Auslegung imstande (nicht einmal also die der objektiven Auslegung an Ergiebigkeit l weit überlegene subjektive). Das Dogma des Gesetzesabsolutismus - als einer Lückenlosigkeit, die gleichzeitig Eindeutigkeit der Lösung in sich schließt - sei daher unbegründet. Doch damit wurde bereits der dogmatische Teil der Arbeit Reichels berührt. N ach einem kurzen sachlichen Bericht über die juristische "Reformation" der Freirechtsbewegung, die jenem Lückenlosigkeitsdogma begegnete, und über die "Gegenreformation", die aus dem Lager der alten Lehre kam, formuliert Reichel seine eigene Stellungnahme, die, wie gesagt, zwischen den feindlichen Lagern vermitteln will. "Die Grundsätze aufzuzeigen, nach denen der Richter der Gegenwart bei seiner rechtsprechenden Tätigkeit zu verfahren haben wird ... " (S. 59), die Beantwortung der Frage: "Welche Normen legt er seiner Entscheidung zugrunde?" ist das allgemeine, von Reichel ins Auge gefaßte, die Lösung der engeren Frage aber: "Welche Stellung nimmt der Richter bei seiner entscheidenden Tätigkeit gegenüber dem geschriebenen Gesetze ein?" (S. 59) ist Reichels spezielles Problem. Vorausgeschickt soll werden, daß für Reichel die Verwaltung kaum zu existieren scheint: immer und immer Justiz und Richter - eine Einseitigkeit, die unser Autor mit den meisten Rechtsquellentheoretikern teilt. - Zu der Problemstellung wäre nachzutragen, daß sie unklar läßt, ob eine empirische oder eine normative Lösung beabsichtigt ist. Die drei oben aufgeführten Problemstellungen haben nicht die ihnen zugemutete Eigenschaft, daß sie sich decken. Was die letzte, für die weiteren Ausführungen maßgeblich sein wollende

I Wenn man von der Ergiebigkeit einer Auslegungsmethode spricht, ist man wohl heute stets an eine solche zu denken geneigt, die das Auslegungsergebnis bis zur Einzahl verengt; zu einem solchen eindeutigen Ergebnis führt am ehesten offenbar die subjektive Auslegung: "Der Wille des Gesetzgebers" ist als psychischer Wille notwendig eindeutig; von einer Ergiebigkeit der Auslegung kann man aber wohl auch in dem Sinne sprechen, daß sie eine Mehrzahl bis Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten eröffnet; die herrschende Anschauung hält allerdings gerade ein solches Auslegungsergebnis für unfruchtbar und spricht angesichts einer Fülle von gesetzlichen Wahlmöglichkeiten - man sollte es nicht für möglich halten - von einer Gesetzeslücke . 13'

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betrifft, so läßt die Frage: "welche Stellung nimmt der Richter ... gegenüber dem geschriebenen Gesetze ein?" eine der Tatsachenwelt entnommene, der tatsächlichen richterlichen Praxis abgelauschte Antwort vermuten. Die Antwort ist aber normativ, sie geht dahin, wonach der Richter judizieren soll. Gleichzeitig damit geht die Vorstellung einher, daß der Richter in dieser bestimmten, gleich näher zu besprechenden Weise von rechtswegen zu judizieren habe, daß sich diese Anweisungen (welche doch erst zur Rechtserkenntnis führen sollen) aus dem Recht erkennen lassen. Wenn nicht im Auslegungsobjekte selbst, sind Auslegungsregeln juristisch nie geboten. Als erster und oberster Grundsatz für die Rechtsanwendung erscheint der für den modernen Rechtsstaat (der zugleich Gesetzesstaat ist) noch immer selbstverständliche Satz: "Der Richter ist an das Gesetz gebunden." (S. 60) Gleichviel aus welchem Grunde - wichtig ist nur, daß Reichel den "Grundsatz der Gesetzestreue als bestehend erwiesen" (S. 62) annimmt; daß unser Autor auf das allgemeine Kulturbewußtsein, welches "die Bindung des Richters an das Gesetz" postuliere, zurückzugreifen für nötig findet und sich also nicht mit der juristisch allein ausschlaggebenden dogmatischen Annahme der Rechtsquellennatur des Gesetzes bescheidet, soll uns nicht weiter beschäftigen, ebensowenig das von Reichel wie von vielen Vorläufern zu Gunsten der Gesetzestreue ins Treffen geführte Argument der Rechtssicherheit, welches ja auch nicht juristischen, sondern gesetzgebungspolitischen Charakter hat. Nur soll hier schon der Verwunderung Ausdruck gegeben werden, daß man mit so festen Waffen die Forderung der Gesetzestreue verficht, wenn man sie so rasch wie Reichel zu verabschieden vorhat! Noch ist aber erst zu sagen, worin der Verfasser die Gesetzestreue verwirklicht findet. Die Materialien des Gesetzes sind nicht maßgeblich (von dieser Forderung extrem historischer Interpretation hält sich also Reichel fern), aber auch "in keinem Falle entscheidet der Wortlaut des Gesetzes für sich allein" (S 65). Vielmehr ist "eine Gesetzesbestimmung so auszulegen, daß sie sich als möglichst taugliches Mittel zur Erreichung des mit ihr verfolgten gesetzgeberischen Zweckes darstellt" (S. 67). Daß damit das Problem der Auslegung nicht gelöst, sondern nur auf ein anderes Geleise verschoben, nämlich durch die Aufgabe der Deutung der

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Gesetzeszwecke ersetzt ist, bleibt Reichel nicht verborgen - und daher wird in dem Rahmen unserer kurzen Abhandlung auch die weitwendige Frage des Gesetzeszweckes aufgerollt. Reichel steht unverkennbar stark unter Stammlers Einfluß; an dieser Stelle wirkt besonders die Vorstellung vom positiven Rechte als einem Versuch zum richtigen Rechte nach. "Auch für den Gesetzgeber gilt das tiefe Wort: quivis praesumitur bonus, donec probetur contrarium ... das Ideal des Gesetzgebers ist der bonus pater patriae (!). Solange daher das Gesetz sich so deuten und verstehen läßt, daß sein Ergebnis ein in diesem Sinne richtiges ist, so lange nehmen wir dieses Ergebnis vertrauensvoll als das vom Gesetz bezweckte an. Ein jedes Gesetz ist somit im Zweifel nach sozialer Angemessenheit, d.h. so auszulegen, daß seine Anordnung sich als das im gegenwärtigen Zeitpunkt förderlichste Mittel zur Herbeiführung eines gerechten und gesunden sozialen Zustandes herausstellt." (S. 78) Wie das Gesetz danach im einzelnen Falle auszulegen sei, bleibt ungesagt. Bekanntlich hält jede politische Richtung den von ihr postulierten sozialen Zustand für den einzig "gerechten und gesunden". Ist also die Entscheidung auf die politische überzeugung des einzelnen Rechtsanwenders devolviert? Juristische Gesetzesauslegung ist das wohl nicht mehr. Man sollte meinen, mit diesen reichlichen Anweisungen für die Fälle der "Entscheidung gemäß dem Gesetze" seien alle denkbaren an den Rechtsanwender herantretenden Rechtsfälle gedeckt und man staunt, wenn trotzdem noch "Entscheidungen in Ermanglung des Gesetzes" und gar in einem letzten Abschnitt "Entscheidungen entgegen dem Gesetze" im Rechtsanwendungssysteme Platz finden sollen. Wenn das Gesetz in so vielen und jedenfalls in allen heiklen Fällen gewissermaßen von selbst abdiziert, dann ist Gesetzestreue fürwahr keine schwer befolgte Tugend. Dort wo die Gesetzesauslegung nicht zum Ziele führe, haben nach Reichel das Gewohnheitsrecht, die Analogie und die Natur der Sache einzutreten. Man muß es Reichel schon zu einem gewissen Verdienst anrechnen, daß es ihm überhaupt zum Problem wird, ob solche Fälle denkbar sind - d.h. ob neben dem, mit so reichlichen Mitteln auszulegenden Gesetz noch die weiteren drei Faktoren - nicht als Auslegungsmittel, sondern als selbständige Rechtsquellen - ihre Daseins-

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berechtigung aufweisen können. Wenn sie nur will und muß, kann die Rechtsanwendung auch mit dem dürftigsten Gesetz ihr Auslangen finden. Diese seltene Einsicht scheint sich auch in unserer Schrift in dem Satz zu finden: "Rein logisch betrachtet zwar würden solche Lücken sich schlechtweg und überall in Abrede stellen lassen." Aber doch nicht überall - denn zum mindesten für die Entscheidung entgegen dem Gesetze soll die logische Möglichkeit offen gelassen werden. "Rein logisch steht nichts im Wege, jede gesetzliche Satzung auf alle Tatbestände anzuwenden, auf die sie ihrem Wortlaut nach paßt, 2 das Ergebnis mag nun erfreulich sein oder nicht." Allein die Rechtsprechung ist keine bloße Verstandesoperation, "sie ist vielmehr zugleich die Verwirklichung ethischer Postulate ... denn eine nach dem Kulturbewußtsein der Zeit auf den Fall offenbar nicht passende Bestimmung ist ebenso gut wie gar keine Bestimmung" (S. 94). So erfrischend freie Worte wurden im Rechtsquellenstreite noch selten gesprochen, so schonungslos wurde noch nie von einem Anhänger der Lückentheorie der Deckmantel juristischer Vorstellungsweise von dem Begriffe der Gesetzeslücke abgezogen und ihre in der Ethik steckende Wurzel aufgedeckt! Freilich steht dieses Bekenntnis einer Kapitulation der Jurisprudenz sehr nahe. Von diesem Standpunkt aus kann die von Reichel also formulierte letzte Frage: "Kommt es vor, ist es denkbar, daß der Richter gegen das geschriebene Gesetz ... entscheiden darf?" (S. 122) kaum Problem werden. Aber nun soll auf einmal die Ethik nicht entscheidend sein, und unser Verfasser fragt also nochmals: "Wann ist der Richter kraft seines Amtes rechtlich verpflichtet, ein gewisses Gesetz nicht zu befolgen?" Es gibt keine andere Antwort als "nie"! wenn der erste Grundsatz der Gesetzestreue nicht zu schanden werden soll. Doch Reichel nimmt die rechtliche Zulässigkeit des contra legem-Judizierens 3 an, "wenn der Überzeugung des Richters nach die gesetzliche Norm durch Gewohnheitsrecht außer Kraft gesetzt ist und ferner, wenn die tatsächlichen Verhältnisse seit Erlassung des Gesetzes sich

2 Es gibt nämlich nach Ansicht des Verfassers auch Rechtsfalle, auf die kein Gesetzesrechtssatz paßt. 3 Daß das praeter legern-Judizieren im Grunde auch nichts anderes ist, muß hier ganz außer Betracht bleiben. Die Schlagworte "contra" und "praeter legern" unterscheiden sich psychologisch, aber nicht logisch. Vgl. Kelsen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. XXXIV, Heft 2, S. 601 tT.

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dergestalt geändert haben, daß das Gesetz den vernünftigen Zweck, den es ehedem verfolgte und verfolgen konnte, nicht mehr zu erreichen vermag" (S. 153). Vermöge des auch von Reichel dem Gesetz ursprünglich zuerkannten Rechtsquellenprimates würden andere Rechtsquellen nur kraft gesetzlicher Zulassung Raum haben und würden völlig gesetzesfreie Fälle einfach undenkbar sein. Reichel endet, wenn auch unbewußt, bei einer Umkehrung des Sachverhaltes, indem ihm letzten Endes das Gesetz kraft Zulassung (sagen wir der richterlichen überzeugung oder des Gewohnheitsrechtes) gilt. Das ist jedenfalls auch ein möglicher, logisch gar nicht zu entkräftender Standpunkt, der in unserer Schrift nur an dem einen logischen Fehler krankt, daß im Anfang dem Gesetze Konzessionen gemacht wurden, welche mit diesem Endergebnis unvereinbar sind.

Die Unveränderlichkeit von Gesetzen ein normlogisches Prinzip Eine Erwiderung an Herrn Prof. Dr. Weyr

Es gibt kaum eine positivrechtliche Frage, hinter der sich nicht ein sogenanntes allgemeines Rechtsproblem verbergen würde. Den strengtheoretischen Naturen sind nun die Fragen des positiven Rechtes nur Anhaltspunkte, um an ihnen Fragen der allgemeinen Rechtslehre aufzurollen und zu beantworten; so reduziert sich ihnen die positivrechtliche Frage, die dem das positive Recht erforschenden Spezialisten als Rechtsproblem vom höchsten Eigenwert erscheinen mag, auf einen bloßen Anwendungsfall seines ihn "eigentlich" berührenden allgemeinen Problems. Das positive Recht stellt dann bloß die Figuren bei, mit denen man den Streit um sogenannte allgemeine Rechtsprobleme ausficht. Das Rechtsverhältnis zwischen Österreich und Ungarn, an sich ja auch das würdigste Objekt einer staatsrechtlichen Untersuchung, um das sich bekanntlich schon der Ernst und Geist der Staatsrechtswissenschaft von hüben und drüben durch mehr als ein Menschenalter bemüht hat, kann unter dem Aspekte der allgemeinen Rechtslehre ein bloßer Anwendungsfall der Frage nach der Möglichkeit rechtlicher Bindung souveräner Staaten werden; gerade das wird sie dem theoretisierenden Intellekte von Verdroßens in seiner ausgezeichneten Studie: "Die Neuordnung der gemeinsamen Wappen und Fahnen in ihrer Bedeutung für die rechtliche Gestalt der österreichisch-ungarischen Monarchie".1 Freilich bringt Verdroß nur nebenbei zum Ausdruck, Juristische Blätter, 46. Jg. (1917), S. 97-98, 109-111 und 571 (Druckfehlerberichtigung). Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. I, S. 1079-1090. Italienische Übersetzung unter dem Titel "L'immodificabilitä delle leggi, principio normologico" in: 11 duplice volta dei diritto, S. 129-145. I Juristische Blätter, 1916.

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daß es sich hier im Grunde um dasselbe Problem handelt, das er in seiner völkerrechtlichen Studie: "Zur Konstruktion des Völkerrechtes,,2 in endgültiger Weise gelöst zu haben scheint. Doch im Gegensatz zu so manchen Theoretikern des positiven Rechtes, die sozusagen im besonderen Teile Entdeckungen zu machen glauben, wenn sie im allgemeinen Teile nicht nur nicht daheim, sondern sich über die grundlegenden allgemeinen Fragen ganz im unklaren sind, hat er seine ganz bestimmte Lösung der allgemeinen Frage, hält sie ziel bewußt im Auge und wendet sie mit bedingungsloser Konsequenz im besonderen Falle an. Diesen verborgenen Denkvorgang nimmt Weyr mit der theoretisierenden Schärfe, von der dieser Staatsrechtslehrer eine ganze Reihe Proben abgelegt hat, auf der Stelle wahr, bringt ihn ans Licht und stellt das allgemeinste Problem, um das es sich in diesem Zusammenhange handelt, zur Diskussion. 3 Die Problemstellung Weyrs ist treffend, die Problemlösung scheint mir nicht geglückt. Das Spezialproblem von Verdroß: Bindung des einen Staates durch einen anderen, ist, wie schon Verdroß treffend hervorhebt, nur ein Spezialfall jenes allgemeinen Problems, den Verdroß, vielleicht nicht ganz zutreffend, aber doch immerhin bezeichnend, die "Selbstbindung" des Staates nennt. Die Quelle der Bindung, die Wurzel der Schranke, ist ja eben nicht imfremden Staat zu suchen, durch den, an den sich der eine Staat gebunden hat; Verpflichtungsgrund oder richtiger Bindemittel ist immer die eigene Verfassung. Aber doch ist es eben die den Gesetzgeber einengende Verfassung, auf die diese eigentümliche in einer Unfreiheit sich äußernde Freiheit zurückzuführen ist, und im Grunde nicht der Gesetzgeber, der sich in allem und jedem selbst beschränkt. Daher hat der Ausdruck von der Selbstbindung nur relativ Gültigkeit: im Verhältnis zur fremden Staatsgewalt mag man Verfassung und Legislative als eins setzen; stellt man jedoch den Blick lediglich auf den einen Staat ein, so treten Verfassung und Legislative sofort in einer Weise auseinander, die jede Identifizierung ausschließt. 2 ZeitschriftflirVölkerrecht, 1914, S. 329fT. 3 Juristische Blätter, Nr. 33 ex 1916: "Zur Frage der Unabänderlichkeit von Rechtssätzen. "

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Dieses allgemeinere Problem der Selbstbindung des Staates, oder, wie ich, wie mir scheint richtiger, sagen möchte: der Bindung der Legislative durch die Verfassung habe ich in einer Artikelserie: "Die Verordnungsgewalt im Kriege" wiederholt zu streifen Anlaß gehabt und darum sei mir gestattet, an der von Weyr angeregten Diskussion mit einem kleinen Beitrag teilzunehmen, in dem zu dem zuletzt aufgeworfenen Problem in aller Gedrängtheit ex professo Stellung genommen werden soll.4 Die Verdroßsche These zu unserem Gegenstande geht dahin, es könne ein Gesetz "auch bestimmen, daß in Hinkunft seine Änderung nur unter Bedingungen möglich sei, die zum Zustandekommen nicht nötig waren". Unter dieser Voraussetzung bezeichnet Weyr auch den Fall für möglich, "daß ein Gesetz bestimmt, daß seine Änderung unter keiner Bedingung möglich sei, mit anderen Worten, daß es unabänderlich sein soll". Und an anderer Stelle formuliert er das Problem treffend also: "Es ist die Willensäußerung eines als souverän vorausgesetzten Gesetzgebers, wonach seine späteren, der früheren inhaltlich entgegengesetzten Willensäußerungen von vornherein als rechtlich ungültig erklärt werden." "Dies ist" - so Weyr - die Verdroßsche Idee der "Selbstbindung der Legislativen in allgemeiner Fassung, die ich" wieder Weyr - "- unter Voraussetzung der Souveränität dieser Legislativen - für rechtslogisch unrichtig halte" . Eine Selbstbindung souveräner Legislativen (man muß hier jedes Wort betonen) würde auch ich für denkunmöglich halten, eine Bindung des Gesetzgebers gehört mir jedoch zum Selbstverständlichsten, was eine Rechtslehre von Lehrsätzen aufstellen kann. "Selbstbindung und Souveränität vertragen sich nicht", sagt Weyr treffend; eine "Selbstbindung souveräner Legislativen" ist eine contradictio in adiecto - füge ich hinzu. Aber auch Gesetzgebung und Souveränität vertragen sich nicht; es wird hier behauptet, daß der Gesetzgeber nicht souverän sei, wobei die seine Souveränität aufbebenden Faktoren nicht, woran man zuerst denken mag,

4 Die nähere Ausflihrung und insbesondere eine Nutzanwendung aufpositivrechtliche Verhältnisse wird eine demnächst im Archiv des öffentlichen Rechtes erscheinende umfangreiche Abhandlung bringen; die tiefere philosophische Fundierung muß künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben.

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außerrechtlicher,5 sondern rechtlicher Natur sind. Der Gesetzgeber hat einen Höheren über sich: das ist die Verfassung. Die Qualitäten der Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit sind der Erkenntnisgrund des Mangels der arrogierten Souveränität. Maßt man dem Gesetze Souveränität an, dann verzichtet man auf die Erkenntnis einer Verfassungsrriäßigkeit und Verfassungswidrigkeit . Wir sind weit entfernt - mit einer immerhin noch bestehenden Lehre, mit der sich hier ein Berührungspunkt zu ergeben scheint - jene Rechtspflichten des Gesetzgebers anzunehmen, die ihm in bezug auf seine Bewilligung von sogenannten "Staatsnotwendigkeiten ", von anderer Seite vielleicht auch in bezug auf seine Zustimmung zu "Volksnotwendigkeiten" angedichtet werden. Ihren Bestand im Rahmen eines anderen Normsystems zugegeben, muß man doch feststellen: juristisch bestehen diese Pflichten nicht. Doch trotzdem sehen wir den Gesetzgeber nicht für ungebunden an: Die Verfassung ist es, die ihm mitunter peinlich enge Linien seiner Gesetzgebungsfunktion vorzeichnet, nach denen sich seine Tätigkeit in Recht und Nichtrecht scheidet, wobei die besondere Qualität dieses Nichtrechtes als Rechtsverletzung, d.h. als übertretung einer Rechtspflicht, hinzukommen oder unentschieden sein mag. Jedenfalls stellt die Verfassung ein Rechtsmaß für die Gesetzgebung dar - eben jenes Kardinalmaß, an dem gemessen sich ein Gesetzgebungsakt als verfassungsmäßig oder als verfassungswidrig darstellt. Nicht die Gesetzgebung, sondern die Verfassung ist also souverän. Setzt man nicht sie, sondern die Gesetzgebung als souverän voraus, so tritt an die Stelle des ruhenden Poles eine Flucht von Erscheinungen, zwischen denen kein solcher Zusammenhang besteht, daß das Urteil erlaubt wäre, es handle sich bei jedem Gesetzgebungsakte um die Emanation ein und derselben, einer einzigen souveränen Instanz. Nur die Rückführbarkeit dieser Akte auf eine Verfassung schafft jene Einheit zwischen den Gesetzgebungsakten, die sie uns als eine in sich geschlossene Rechtsordnung anzusehen und anzunehmen erlaubt. Auf den Gesetzgeber trifft nicht der Satz Weyrs zu: "Alles, was ich will,

5 Z.B. die Kirche, respektive Religion, die Moral, die individuelle Freiheit u.a.ffi.

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gilt, weil ich es will", vielmehr gilt es von rechtswegen, weil die Verfassung seine Geltung will. Die Verfassung freilich ist, und zwar gerade, weil sie bindet, weil sie insbesondere den Gesetzgeber schrankenlos bindet, ihrerseits ungebunden. Ihre Ungebundenheit - d.i. die Eigenschaft, in der sich die Souveränität in erster Linie äußert - ist die gedankliche Voraussetzung ihrer schrankenlosen Bindungsfähigkeit. Man muß der doppelten Bedeutung des Wortes Bindung achten, um nicht vom unbewußten Bedeutungswandel dieses Wortes in seinem eigenen Gedankengange irregeführt zu werden; man muß das Transitivum vom Intransitivum auseinanderhalten. Man mag ja Bindung als eine Eigenschaft der Verfassung bezeichnen (nur scheint mir diese Bezeichnung sprachlich nicht glücklich gewählt), dann ist es aber die Verfassung, die bindet, und nicht, die gebunden ist. Eine Selbstbindung der Verfassung ist aber unter solchen Umständen denklogisch wohl ganz ausgeschlossen; ausgeschlossen, weil unter diesem Worte vernünftigerweise nur eine Gebundenheit verstanden werden kann, die selbst wieder einen bindenden Faktor voraussetzt; nehmen wir aber die Verfassung als den obersten Ursprung aller rechtlichen Bindung an, dann ist für einen solchen Faktor nicht mehr Platz. Würde sich tatsächlich eine Gebundenheit herausstellen, dann müßten wir nach ihrer Quelle suchen und diese die Verfassung heißen, von der zuletzt gewonnenen "Verfassung" aus mithin einen weiteren RückgrifTvornehmen. Doch scheint mit unserer Behauptung, daß eine Selbst bindung der Verfassung undenkbar sei, wenn schon nicht die Gebundenheit der Legislative, die nach dem Gesagten mit der Verfassung nicht zu identifizieren, sondern aus ihr (als ihre Kreatur) abzuleiten ist, so doch die Erscheinung der sogenannten Verfassungsgesetzgebung unvereinbar zu sein. Für die Verfassungsgesetzgebung hat ja die Verfassung bestimmte mitunter eng umschriebene Formen aufgestellt und damit andere Verfassungsänderungen - jeder Akt neuer Verfassungsgesetzgebung involviert nämlich eine Verfassungsänderung - Verfassungsänderungen auf einem anderen als diesem vorgezeichneten Wege, unter Einhaltung dieser ganz bestimmten Formen, verpönt; da liegt also doch, sollte man vielleicht glauben, in dieser Beschränkung des Verfassungsgesetzgebers eine Selbstbindung der Verfassung vor? Doch

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auch diese Annahme wäre falsch. Auch die Verfassungsgesetzgebung ist mit der Verfassung nicht zu verwechseln; auch die Verfassungsgesetzgebung ist lediglich Gesetzgebung und steht daher von dieser ebenso weit ab wie die "gewöhnliche" Gesetzgebung. Nur ihr Inhalt verschafft ihr den Titel der Verfassungsgesetzgebung; sie ändert Bestimmungen der Verfassung ab, und hat daher ihren Namen; materiell ist es Verfassungsgesetzgebung, die formelle Betrachtung abstrahiert aber von diesem Inhalt und erblickt in ihr lediglich eine durch gewisse Formvorschriften qualifizierte Gesetzgebung. Es handelt sich, wie paradox dies auch erscheinen mag, ebenso um eine bloße AusjUhrung der Verfassung, zu der diese das Blankett gegeben hat, wie bei allen Akten gewöhnlicher Gesetzgebung. Nur daß diese "Ausführung" in der Abänderung von Verfassungsbestimmungen besteht, wozu die Verfassung selbst die Ermächtigung gegeben hat. Damit kommen wir zum Hauptpunkt unserer Ausführungen: Ohne Ermächtigung der Verfassung keine Verfassungsänderung. Das ist wohl die stärkste "Bindung" des Gesetzgebers, im besonderen des sogenannten Verfassungsgesetzgebers, zugleich aber auch der stärkste Ausdruck der Verfassungssouveränität. Für diese Behauptung begnügen wir uns nicht mit dem billigen Scheinbeweise, daß eine Verfassung, die ihre eigene Änderung für eine selbstverständliche Möglichkeit erachtet, doch nicht über diese Möglichkeit Worte zu verlieren brauchte. Daß ein Gesetz, daß insbesondere eine Verfassung mitunter überflüssige Worte macht, bedarf bei uns angesichts des reichlichen nichtssagenden Inhaltes unserer Verfassungsgesetze keines Beleges. Daher kann die Tatsache, daß die Verfassung ausdrücklich auf den Fall einer Verfassungsänderung Bezug nimmt, am allerwenigsten als Beweis der normlogischen Gebotenheit dieser Bestimmung angesehen werden. Stellt die Verfassung den Erkenntnisgrund des Rechtes dar, so kann dieser Erkenntnisgrund nur kraft der Verfassung ein anderer werden. Der Gesetzgeber entnimmt seine Kompetenz der Verfassung; er kann also doch wohl die Verfassung höchstens dann abändern, wenn er von

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ihr selbst dazu ennächtigt wird. 6 Die Verfassung braucht eine Verfassungsänderung nicht erst ausdrücklich zu verbieten, damit sie unmöglich sei; sie braucht sie bloß nicht ausdrücklich zu erlauben - und sie ist unmöglich. Das Prinzip der Gesetzeskraft, d.i. die Verfassung, ist dem Zugriff des Gesetzgebers entrückt, wenn sie ihm nicht selbst hiezu die Kraft gibt. Bezeichnenderweise frage man nach den Kompetenzen des Gesetzgebers, die man wie selbstverständlich und mit gutem Rechte in der Verfassung sucht. Gerade die unstreitig weitestgehende Kompetenz, die Verfassung (als Kompetenzquelle)7 abändern zu können, sollte bei solcher Sachlage des verfassungsmäßigen Ausdruckes nicht bedürfen? Wenn Weyrs These zu unserem Problem also dahin geht, das von ihm als souverän gedachte Gesetz sei außerstande,\ sich unabänderlich zu machen, so geht meine grundlegende Aufstellung dahin, die (von mir als souverän gedachte) Verfassung könne unmöglich abänderbar sein. Denn selbst in jenem Falle, wo sie Abänderungen zuläßt, handelt es sich zwar materiell, aber nicht fonnell um solche; die Verfassungsidentität ist gewahrt, da materielle Änderungen in der Verjassungssetzung, in der Ennächtigung des Gesetzgebers zu Verfassungsänderungen schon vorweggenommen sind. Hat nun aber tatsächlich die Verfassung die Abänderungsmöglichkeil ausgesprochen, dann bedarf es der Fonnen der Verfassungsänderung, um irgend eine Verfassungsbestimmung für unabänderlich zu erklären. In diesem Falle steht nicht - wie es dem Gedankengange Weyrs entsprechen würde - die Souveränität des künftigen Gesetzgebers, der eine derartige Verfassungsänderung beabsichtigt, in Frage, sondern die des vergangenen Gesetzgebers,8 der die Abänderbarkeit

6 Dabei ist besonders zu betonen, daß es sich um ein Nichtkönnen und nicht um ein Nichtdürfen handelt. 7 Bei der Verfassung fällt es bezeichnenderweise niemandem ein, nach ihren Kompetenzen zu fragen. Ganz mit Recht, denn sie, aber auch nur sie allein, besitzt die sogenannte Kompetenz- Kompetenz, besser ausgedrückt, die Kompetenzhoheit. 8 Es handelt sich um einen Gesetzgeber ganz anderer Natur: nicht um den, den die Verfassung, sondern um den, der die Verfassung geschaffen hat; formal ist sein Werkeben die Verfassung - an ihr selbst gemessen, noch nicht Gesetzgebung, erst ihre Schöpfung ermöglicht formelle Gesetzgebung.

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als Besonderheit der von ihm geschaffenen Verfassung statuiert hat. Wenn Weyr im Hinblicke auf die Souveränität des künftigen Gesetzgebers dem gegenwärtigen die Unabänderlich-Gestaltung seiner Gesetzesprodukte verwehrt, so muß man doch fragen, wo bei dieser Abhängigkeit, bei dieser Begrenztheit, die doch auch ihm zugeschriebene Souveränität geblieben ist. Es kann eben nur einer souverän sein, und das ist keiner der beiden Gesetzgeber, weder der gegenwärtige noch der künftige, sondern, wie schon in anderem Zusammenhange ausgeführt, lediglich die Verfassung, die sie beide als Gesetzgeber inthronisiert hat. Nur die Statik der Verfassung ermöglicht die Dynamik der gesetzgeberischen Akte, indem sie diese, die sonst in eine zusammenhanglose Reihe zerfallen würden, auf einen Punkt zurückführt. In dieser Statik der Verfassung ist aber nicht nur ihre eigene Unabänderlichkeit im Verhältnis zur Gesetzgebung, sondern auch ihre Dispositionsfähigkeit über das gegenseitige Verhältnis der durch sie legitimierten Gesetzgebungsakte begründet. Das Prinzip des Einfürallemalgegebenseins gilt nicht bloß für die Verfassung, sondern auch für das von der Verfassung legitimierte gewöhnliche Gesetz. Die im Zweifel anzunehmende Unabänderlichkeit des einmal gegebenen Gesetzes ist mit der Ermächtigung zur Gesetzgebung, wie sie in der Verfassung den Gesetzgebungsakten erteilt ist, keineswegs unverträglich. Gesetzgebung braucht ja doch keineswegs abändernde Gesetzgebung zu sein, namentlich nicht in dem betonten Sinne, daß sie bestehende Gesetze abändern würde. Mit dem Gesetzgebungsakt auf einem bestimmten sachlichen Gebiete ist im Zweifel die für dieses Gebiet bestehende Gesetzgebungsbefugnis erschöpft. Gerade mit der Ermächtigung zur Gesetzgebung ist gleichzeitig alles ausgeschlossen, was das auf Grund dieser Ermächtigung entstandene Gesetz um seine Geltung bringen könnte. Für die Gesetzgebung bleibt immer noch Raum genug, wenn ihr auch durch jeden Gesetzgebungsakt ein gewisses Betätigungsfeld entzogen wird. Keineswegs wird, was man vielleicht annehmen möchte, die in der Verfassung erteilte Gesetzgebungsbefugnis, wenn man sie als einzige für das Bereich ihrer Regelung sich in einem Akt erschöpfende Funktion versteht, illusorisch, solange noch andere Gesetzgebungsgegenstände gegeben sind. Das von der Legislative unbeackerte Land ist notwendig immer größer, als das von der Gesetzgebung mit Beschlag belegte; die Gesetz-

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gebung braucht sich also nicht darauf zu versteifen, um nur ja nicht stillezustehen, bereits beackertes Land neuerlich zu beackern. Dabei ist zu beachten, daß ein einmal betretenes Gebiet der Gesetzgebung, die es mit unabänderlichen Gesetzen zu tun hätte, nicht einmal in jeder Richtung unzugänglich sein müßte. Ausführungsgesetzgebung zum vorgängigen Gesetz, die sich ja notwendig auf demselben sachlichen Gebiete bewegt wie das auszuführende Gesetz, ist das gerade Gegenteil der Abänderung eines Gesetzes, insbesondere seiner Aufhebung, 9 und darum auch bei der Einrichtung der U nabänderlichkeit von Gesetzen schrankenlos zugelassen. Diese im Zweifel bestehende U nabänderlichkeit von Gesetzen zessiert dem eigenen Ausspruch der Abänderbarkeit insoweit, als die Aufbebung des Gesetzes durch seinesgleichen möglich, die Ermächtigung hiezu durch das aufzuhebende Gesetz jedoch immer notwendig ist; mit anderen Worten: selbst wenn das Rechtssystem vom Prinzip der U nabänderlichkeit beherrscht ist, wollen wir dem Gesetze die Fähigkeit dazu zuschreiben, den Gesetzgeber (wie übrigens auch eine ihm untergeordnete Rechtsquelle, insbesondere die Verordnungsgewalt) zu ermächtigen, den Endtermin seiner Geltung zu setzen. Damit ist dann auch für ein neues Gesetz auf demselben Gebiete Platz geschaffen, dessen Bestimmungen mit denen des aufgehobenen Gesetzes nicht übereinstimmen. Es soll an dieser Stelle nicht weiter den Eventualitäten einer Abänderung in dem vom Prinzip der Unabänderlichkeit beherrschten Rechtssysteme nachgegangen, sondern sogleich die Frage aufgeworfen werden, wie es mit Abänderlichkeit und Unabänderlichkeit in einem Rechtssysteme steht, das kraft ausdrücklicher Verfassungsbestimmung auf dem Boden prinzipieller Abänderlichkeit steht. Das ist nicht nur zufolge der Regelmäßigkeit einer derartigen Verfassungs bestimmung der praktisch wichtigere, sondern insbesondere für uns auch interessantere Fall, da z.B. auch die österreichische Verfassung

9 Gerade die Aufhebung eines Gesetzes kann sich aber auch wieder als dessen bloße Ausführung darstellen, dort nämlich, wo das Gesetz zu seiner Aufhebung Ermächtigung erteilt. Vgl. meine Ausfllhrungen hierüber in Nr. 34/35 des Jahrganges 1916 dieser Blätter unter dem Titel: "Kaiserliche und behördliche Verordnung" [= Die Verordnungsgewalt im Kriege, Juristische Blätter 45. Jg., S. 397-399 und 409-411). 14 A. J. Merkl

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(§ 15 des Gesetzes über die gesetzgebende Gewalt) Änderungen der Staatsgrundgesetze vorsieht.

Spricht also die Verfassung ihre Abänderbarkeit aus, dann ist damit jede Verfassungsänderung, selbst die zur Unabänderlichkeit der gesamten Verjassung, für möglich erklärt. Damit ist auch die Abänderung einer einzelnen Verjassungsbestimmung, welche kraft Verfassung nur bis zu einem neuen inhaltlich unvereinbaren Verfassungsgesetze zu gelten hätte, ihre Abänderung zur Unabänderlichkeit möglich gemacht. Welchen Einfluß hat aber die Verfassungseinrichtung der Abänderungsmöglichkeit auf gewöhnliche Gesetze? Der Schluß a maiori ad minus erlaubt - wenn auch nicht in logisch durchaus befriedigender Weise - auch ihre Abänderungsmöglichkeit anzunehmen. Und zwar ist wohl nicht unzulässig anzunehmen, daß bei solcher Sachlage dem späteren bloßen Gesetze diese abändernde Kraft innewohne. Es ist dann wieder ein Verjassungsgesetz, beziehungsweise die Anwendung der Formen eines solchen erforderlich, um das einzelne Gesetz unabänderlich zu gestalten - da ja vorausgesetztermaßen die Abänderbarkeit in unserem Falle ausdrücklich verkündetes Verfassungsprinzip ist. Und wenn in einem solchen Rechtssystem unabänderliche Rechtssätze möglich sein sollen, welche nicht die Verfassungsformen aufweisen, dann muß diese ausnahmsweise Unabänderlichkeit doch wieder irgendwie auf die Verfassung zurückzuführen sein. So darf man wohl schließlich auch annehmen, daß eine Verfassung, welche für Rechtssätze neben und geradezu im Gegensatz von Gesetzen auch die Vertragsjorm vorgesehen hat, im Gegensatz zur regelmäßigen Abänderbarkeit der Gesetze die Unabänderlichkeit von Staatsverträgen im Gesetzeswege gewollt hat. Die Unabänderlichkeit der Staatsverträge ist aber bei solcher Konstruktion nicht sozusagen ihrem eigenen Wesen, sondern einer stillschweigenden Anordnung der Verfassung zuzuschreiben, wie wir der Verfassung überhaupt Sinn und Zweck des gesamten Rechtssystems entnehmen. An diesem Berührungspunkte mit der Verdroßschen Selbstbindungs- und der Weyrschen Abänderlichkeitstheorie wollen wir uns ein wenig der Unterschiede der hier in aller Gedrängtheit skizzierten Ansichten von den vorzitierten Theorien besinnen. Wenn Verdroß meint,

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das Gesetz könne selbst die Bedingungen seiner Abänderung setzen, das heißt auch, seine U nabänderlichkeit statuieren, und wenn Weyr dem Gesetze - auffälligerweise in der Meinung und zu dem Zwecke, ihm damit die Souveränität zu sichern - selbst diese bescheidene Fähigkeit bestreitet, so gehe ich über Verdroß hinaus und bestreite der Verfassung, welche ich als souverän annehme, 10 nicht nur nicht diese Fähigkeit, sondern behaupte, daß sich gerade die Unabänderlichkeit von selbst verstehe und die Abänderbarkeit ausdrücklich gesetzt sein müsse. Weyr sieht den Verfassungssatz, der die Unabänderlichkeit postuliert, für abänderbar an - sein logisches Prinzip kann ihm selbst durch einen Rechtssatz für den bestimmten Fall nicht entkräftet werden -, ich postuliere dagegen, um zur Erkenntnis der Abänderlichkeit zu gelangen, angesichts der über ihre Abänderbarkeit schweigenden Verfassung einen Rechtssatz, der Abänderbarkeit statuiert; denn die Unabänderlichkeit ist mir normlogisches Prinzip. Ist mir aber die Abänderung einer über ihre Abänderungsmöglichkeit schweigenden Verfassung eine Denkunmöglichkeit, so wird mir bei verfassungsmäßiger Statuierung der Abänderbarkeit (der Verfassung und gleich ihr anderer Gesetze) die Unabänderbarkeit im einzelnen Fall zur Normwidrigkeit, welche, um diesen Charakter zu verlieren, die Formen der Verfassungsänderung annehmen muß. Und ich könnte Verdroß nicht beipflichten, falls er im Rahmen einer Verfassung, welche das Prinzip der Abänderbarkeit verkündet, das einzelne Gesetz für fähig hielte, sich ohneweiters für unabänderbar zu erklären. Dem zum erstenmal von Verdroß ausgesprochenen Satze, daß der Staatsvertrag den Staat einseitig unlösbar binde, stimme ich völlig zu, nur meine ich nicht, sicherlich in Übereinstimmung mit von Verdroß, der Staat sei kraft Vertrages in dieser Weise gebunden, sondern schreibe diese Gebundenheit der Kraft der Verfassung zu. Das positive Recht kehrt in diesem Ausnahmsfalle, kraft rechtssatzmäßiger Ausnahme von der positivrechtlich gesetzen Regel der Abänderbarkeit, zu seinem normlogischen Prinzipe, das ist zu seiner U nabänderlichkeit zurück. Eine Frage für sich ist es, ob - wogegen ich jedoch auch Bedenken hätte 10 Bei Verdroß sind Gesetz und Verfassung noch nicht differenziert. Wenn Weyrund Verdroß von Gesetz sprechen, ich aber dafür das Wort Verfassung einsetze, so darf man nicht etwa ein Aneinander·Vorbeireden vermuten, da es sich injedem Falle um nichts anderes als um die souveräne Rechtsquelle handelt und die unterschiedlichen Aufstellungen nur als Konsequenzen oder Anwendungssätze der Souveränität gedacht sind. 14*

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diese kraft Verfassung bestehende Unabänderlichkeit des Staatsvertrages nicht einer Abänderung im Verfassungswege, das heißt in den Formen der Verfassungsänderung, weichen müßte. Sollte man meiner Konstruktion, die hier freilich nur skizziert und nicht ausgebaut werden konnte, den Vorwurf machen, daß sie die Souveränität von Recht und Staat entwurzle, so möchte ich doch betonen, daß es sich höchstens um eine Verschiebung des Souveränitätsprinzipes handelt. Während ich es in die Staatsverfassung, welche zugleich oberstes Rechtsprinzip ist, als sein einziges Zentrum verlege, findet es sich bei Weyr und gleich ihm bei der gesamten herrschenden Lehre dezentralisiert, verteilt auf die einzelnen Gesetzgebungsakte. Da ich die staatliche Allmacht im Prinzip freudig bejahe und mich mit keinerlei staatsverkleinernden Tendenzen befreunden könnte, finde ich es für eine erfreuliche Begleiterscheinung meiner Konstruktion, daß sich mir die Souveränität des Staates nicht in der Abänderbarkeit, II sondern gerade in der U nabänderbarkeit der Staatsverfassung am sprechendsten zu äußern scheint.

*** Mit glücklichem Wurfe spricht von Verdroß neuestens - in seiner Entgegnung an Professor Weyr l2 - von einer Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, womit er dessen Bedingtheit durch die bedingende Verfassung besonders plastisch zum Ausdruck bringt. Damit ist der Nimbus der Gottähnlichkeit, der den Gesetzgeber freilich nur in der Theorie umkleidet, während [er( in der Praxis nur zu oft in aller II Materiell abänderlich ist sie nur aus sich heraus, kraft eigener Einrichtung, und das läuft ebenfalls auf eine fonnale Unabänderlichkeit hinaus. 12 Vgl. Juristische Blätter, Nr. 40 und 41 ex 1916. >I