Gesammelte Schriften: Erster Band: Grundlagen des Rechts. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.] 9783428481286, 9783428081288


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German Pages 762 Year 1995

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Gesammelte Schriften: Erster Band: Grundlagen des Rechts. Zweiter Teilband. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly / Herbert Schambeck / Wolf-Dietrich Grussmann [1 ed.]
 9783428481286, 9783428081288

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ADOLF JULIUS MERKL . GESAMMELTE SCHRIFTEN

Adolf Julius Merkl

GESAMMELTE SCHRIFIEN Erster Band

Grundlagen des Rechts Zweiter Teilband Herausgegeben von

Dorothea Mayer-Maly . Herbert Schambeck W olf-Dietrich Grussmann

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Merkl, Adolf Julius: Gesammelte Schriften / Adolf Julius Merk!. Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly .. . - Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07753-9 NE: Mayer-Maly, Dorothea [Hrsg.]; Merkl, Adolf Julius: [Sammlung] Bd. 1. Grundlagen des Rechts. Teilbd. 2. - (1995) ISBN 3-428-08128-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druckvorlage: Ch. Weismayer, Salzburg/Österreich Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07753-9 (Gesamtausgabe) ISBN 3-428-07912-4 (Bd. 1/1) ISBN 3-428-08128-5 (Bd. 112)

Inhalt I. Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre .... ..... ..... ....... .....

3

2. Ein lapsus linguae........................................................................................................

13

3. Rezension von: Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie; Hans Kelsen, Sozialismus und Staat ....................................................................................

25

4. Rezension von: Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung .............................

33

5. Das Kriterium von Republik und Monarchie........................... ...................................

43

6. Rezension von: Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre ...............................................

63

7. Individualismus und Universalismus als staatliche Baugesetze .................................

85

8. Enzyklika "Quadragesimo anno" und Verfassungsfrage ............................................ 115 9. Geschichtlicher und autoritärer Ständestaat................................................................ 123 10. Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika "Quadragesimo anno" ............................. 129 11. Ein tschechisches Zeugnis für Österreich und das Deutschtum ..... ...... ..... ........... ...... 165 12. Die berufs ständische Verfassung Österreichs und die Arbeitnehmer ......................... 175 13. Vorbild oder Warnung? ................................................................................................ 187 14. Möglichkeiten und Schranken der Berufstände .......................................................... 193 15. Die individuelle Freiheit im autoritären und ständischen Staat... ............................... 201 16. Autoritär, demokratisch und ständisch ........................................................................ 227 17. Staatskompetenz, Berufstand und politische Freiheit...... ...... ........ ...... ..... ..... ....... ...... 235 18. Zur Pflege des Volksgruppenrechtes ........................................................................... 243 19. Der autoritäre und der totale Staat... ............................................................................. 245 20. Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens .............................................................. 251

VI

Inhalt

21. Die Enzyklika gegen den Kommunismus ....... ...... ........... ...... ..... ..... ......... .... ..... .... ..... 269 22. Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer Staatsauffassung................................... 277 23. Probleme der ständischen Neuordnung Österreichs ................................................... 319 24. Volkstumsrecht und Staatsverfassung ......................................................................... 357 25. Friedrich Schiller und der Staat................................................................................... 365 26. Rezension von: Kurt Matthes, Luther und die Obrigkeit............................................ 405 27. Zur Typenlehre des Volkstumsrechtes ... ....... ........ ......... ........... ...... ......... .... .... ......... ... 413 28. Rezension von: Walter Adolf Jöhr, Die ständische Ordnung ...................................... 447 29. Europäische Volkstumsprobleme ........ ......... ....... ........ ....... ...... ..... ....... ..... ...... .... ........ 451 30. Baustile des modemen Staates .................................................................................... 471 31. Sturz in den Abgrund................................................................................................... 495 32. Das Flüchtlingsproblem in volkstums geschichtlicher und volkstumsrechtlicher Beleuchtung ................................................................................................................. 499 33. Was man von unseren Neubürgern nicht weiß! .......................................................... 507 34. Kriegsdienstverweigerung und Friedensbewegung ..................................................... 511 35. Die deutsche Volkserhebung 1848 .............................................................................. 521 36. Das Grundgesetz im Licht der Verfassungsgeschichte ............................................... 531 37. Unvergängliches Freiheits-Erbgut .............................................................................. 545 38. Tragödie des Gehorsams ............................................................................................. 559 39. Der Krieg und die Heimatvertriebenen ....................................................................... 565 40. Rezension von: Hans Domois, Menschenrechte und moderner Staat; Hans Pannwitz, Das Weltalter und die Politik; Hans Peters, Problematik der deutschen Demokratie ... ........ ..... ....................... ... ....... ..... ........ ........ ................. ............. .... .......... 571 41. Gnade für Kriegsverbrecher? .... ........... ...... ........ .... .......... ........... .................. .... ..... ..... 573 42. Idee und Gestalt der politischen Freiheit .................................................................... 579 43. In eigener Sache. Die Österreicher - Feinde des Deutschtums? ................................ 611 44. Die Legende vom österreichischen "Völkerkerker" ................................................... 615

Inhalt

VII

45. Rezension von: Heinrich Benedikt u.a., Geschichte der Republik Österreich ........... 625 46. Widerstand! Volkserhebung der Tiroler 1809 - Eine rechtshistorische Untersuchung ........................................................................................................................... 631 47. Rezension von: K. Rabl, Das Ringen um das sudetendeutsche Selbstbestimmungsrecht 1918/19 .................................................................................................... 635 48. Südtirol und das Vielvölkerreich der Habsburger. ...................................................... 641 49. Der staatsrechtliche Gehalt der Sozialenzykliken und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart. ........ ............................................. ....... ........... ....... 645 50. Der Staat und die politischen Parteien (I) ................................................................... 679 51. Der Staat und die politischen Parteien (11) ............ ....... ............ ......... ...... ..... .... ... ........ 683 52. Das Unrecht an Österreich. Wegweiser durch Geschichte und Gegenwart: die Minderheitenfrage .. ..................... .............. ..... .... ............... ....... ... ...... ......... ...... .... .... ... 699 53. Südtirol: Legende und Historie ................................................................................... 711 54. Die Zukunft der Demokratie - Hoffnung oder Verhängnis ........................................ 715 55. Idee und Gestalt des Rechtsstaates .............................................................................. 737

B. Staatslehre und politische Theorie

Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre 1 Trotz des in modernen Staaten herrschenden Grundsatzes, der vielfach zum Grundrechte erhoben wurde, daß nämlich die Wissenschaft und ihre Lehre frei ist, sehen wir sie nur zu oft gebunden, innerlich unfrei. Bei der engen Beziehung zwischen Recht und Politik liegt es nahe, daß die innere Unfreiheit, der leider auch die Wissenschaft vom Rechte unterworfen ist, von der so benachbarten Politik herrührt. Es soll kein Vorwurf gegen die deutsche Wissenschaft sein, die an Objektivität ihresgleichen vielleichen Grundsatzes, der vielfach zum Grundrechte erhoben wurde, daß nämlich die Wissenschaft und ihre Lehre frei ist, sehen wir sie nur zu oft gebunden, innerlich unfrei. Bei der engen Bezieht auf der ganzen Erde sucht, wenn ich hier feststelle, daß die deutsche Staatsrechtswissenschaft der letzten Jahrzehnte, der Blütezeit des deutschen Kaiserreiches nicht selten politisch injluenziert, determiniert, ja sogar orientiert war. Wenn man sich für einen Augenblick nur vergegenwärtigt, was für Opfer der Wissenschaftlichkeit z.B. die Geschichte, diese berufenste Wahrerin der Wahrheit, der "historischen Treue", bei allen Nationen - den deutschen vielleicht weniger als bei allen anderen - gebracht hat, dann ist unzweifelhaft der Vorwurf entwaffnet, daß die Rechtswissenschaft ihre wissenschaftliche Pflicht vergesse, ihr Recht - das von ihr selbst gelehrte Recht der Freiheit der wissenschaftlichen Lehre - außer acht lasse. Übrigens ist auch die Staatsrechtslehre anderer Völker politisch orientiert, und daher die im folgenden aufzuzeigende Schweizerische Juristen-Zeitung, 16. Jg. (1920), S. 378-383. 1 Gegenwärtig, wo die republikanische Staatsfonn im ganzen Siedlungsgebiete der Deutschen so weit gefestigt ist, daß die Annahme naheliegt, diese Staatsfonn werde in Zukunft dauernder Besitz der Deutschen sein, wo somit auch für die deutsche Staatsrechtswissenschaft eine neue Ära begonnen hat, dürfte der folgende Rückblick auf die Staatsrechtslehre der vergangenen monarchischen Ära gerade zeitgemäß sein. Ich möchte der von mir beabsichtigten längeren Darstellung dieses Gegenstandes den folgenden Auszug vorausschicken, und lege besonderen Wert darauf, ihn in einer deutschen und dabei doch neutralen Fachzeitschrift erscheinen zu lassen.

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LB. Staatslehre und politische Theorie

politische Orientierung der deutschen Staatsrechtswissenschaft keine Besonderheit im Prinzipe, sondern höchstens in der Richtung dieser Orientierung. Ich möchte es daher bloß als Feststellung einer geschichtlichen Tatsache und nicht als kritisches Urteil verstanden wissen, wenn ich behaupte, daß die deutsche Rechtswissenschaft lange Zeit in ihren maßgeblichsten Vertretern eine Gefangene der monarchischen Idee gewesen sei, daß sie in ihren extremen monarchistischen Vertretern, namentlich soweit sie Staatsrecht tradierten, mitunter mehr eine (modern) monarchische als eine zeitlos juristische Anschauung vertrat. Das gilt z.B. besonders von Rehm und auch Laband, ausnahmsweise aber auch, um zwei besonders glänzende Häupter der deutschen luristenwelt zu nennen, selbst von Georg Jellinek und OUo Mayer. Es wäre eine Entstellung meiner Behauptung, wenn man mir unterstellte, daß ich hinter diesem Wissenschafts betriebe mala fides vermute. Ich möchte im Gegenteil nicht zweifeln, daß diese monarchistische Orientierung in den meisten Fällen unbewußt auftritt, daß die Zumutung ihres Vorhandenseins im besten Glauben entrüstet zurückgewiesen worden wäre. Ich bin auch nicht blind für die Zeugnisse einer innerlich und äußerlich völlig unbefangenen, eher von demokratischem und jedenfalls von kritischem Geist erfüllten Staatsrechtslehre, wie sie andere, gleichfalls deutsche Staatsrechtslehrer - es sind hier besonders Österreicher zu nennen -, namentlich Bernatzik, tradiert haben. Endlich bin ich selbst zu unbefangen, als daß ich diese politische Befangenheit der juristischen Lehre als Eigentümlichkeit der monarchischen Ära erachten würde. Was ich im Vorstehenden kurz als "monarchistische Befangenheit" bezeichnet habe, äußert sich vornehmlich darin, wie die herrschende Staatsrechtslehre die Stellung des Monarchen im Rechtssysteme und im besonderen im Systeme der Staatsorgane fixiert hat. Um in einem astronomischen Bilde zu sprechen, erscheint der Monarch etwa als der Fixstern, um den sich der ganze juristische Sternenhimmel dreht. Es entstand hiedurch der falsche Anschein, als wäre die monarchische Institution das einzig Bleibende und Notwendige im Wechsel der sonstigen nur als zufällig und mehr oder weniger ephemer erscheinenden staatlichen und rechtlichen Einrichtungen. Die konsequente literarische Durchführung dieses Gedankens mußte - sehr im Gegensatz zur persönlichen Auffassung gerade der bedeutendsten Monarchen, aber selbstverständlich ganz nach dem Sinne persönlich unbedeutender, jedoch von ihrem Gottesgnadentum durchdrungener Herrscher - den juristisch unhalt-

Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre

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baren Eindruck hervorrufen, als ob der Monarch der Mittelpunkt und der Träger des Staates und als ob der eigentliche Zweck des Staates sei, dem Glanze des Monarchen als entsprechender Hintergrund zu dienen. Um noch in einem optischen Bilde zu sprechen, ward der Monarch als Brennpunkt des Staates dargestellt, zu dem alle Handlungen der andern Organe konvergierten, wurde in ihm dieser einzige Brennpunkt sogar noch in einer Zeit erblickt, als ein zweiter Brennpunkt im Staatssysteme nicht mehr zu übersehen war. Der Monarch wurde kritiklos als das höchste Organ des Staates zu einem Zeitpunkt bezeichnet, als diese seine Qualität in der Verfassung schon längst nicht mehr eindeutig feststand; dem Monarchen wurde die höchste Funktion im Staate zugeschrieben, als er sie schon längst mit anderen Organen teilte; dem Monarchen wurden alle Staatsakte zugerechnet, als diese Zurechnung schon längst auf Grund des geltenden Staatsrechtes im höchsten Grade problematisch war. Mit einem Worte: der Monarch wurde - im Vergleiche mit der rechtlichen Wirklichkeit - von der Rechtslehre überlebensgroß und somit entstellt gezeichnet, er wurde sogar bisweilen noch - nach dem Muster des Satzes: "l'etat, c'est moi" -mit dem Staate identifiziert,2 obwohl ihn der Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus bereits - wenn dieser Ausdruck gestattet ist - zu einem zwar mächtigen, aber doch dienenden Organe des Staates degradiert hatte. Kurz, die Staatsrechtslehre war gegenüber den rechtlichen Tatsachen zum großen Teil beträchtlich im Rückstand, war von der rechtlichen Wirklichkeit zum guten Teile weit überholt. Die Staatsrechtslehre des konstitutionellen Staates war mit absolutistischen Rudimenten durchsetzt - ein Zustand, dessen unwissenschaftlicher Charakter zur Zeit der Monarchie zwar nur Wenigen zum Bewußtsein gekommen war, heute aber etwa daran ermessen werden kann, daß man sich vorstellt, es wäre z.B. die Staatsrechtslehre der Republik zum Teile noch an einer konstitutionellen oder parlamentarischen Monarchie orientiert, was keine gröbere Verfälschung des Gegenstandes mit sich brächte, als wenn die Staatsrechtslehre des konstitutionellen Staates noch mehr oder weniger in der Vorstellungswelt der absoluten Monarchie lebte. Noch eine Feststellung dürfte in diesem Zusammenhange angebracht sein, um Mißverständnisse auszuschließen. Es ist kein Zweifel, daß die monarchistische Befangenheit vieler deutscher Staatsrechts lehrer in einer 2 So insbesondere in der (vermeintlich konstitutionellen!) Staatsrechtslehre Seydels und Bomhaks.

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I.B. Staatslehre und politische Theorie

monarchistischen Gesinnung wurzelte und ihren letzten Grund hatte. Es liegt mir völlig fern, an dieser Gesinnung Anstoß zu nehmen, obwohl ich sie nicht teile. Es kann und soll auch keinem Staatsrechtslehrer, der die absolute der konstitutionellen, die konstitutionelle der parlamentarischen Monarchie und die Monarchie der Republik vorzieht, verwehrt sein, diese Überzeugung frei zu äußern, und jeder Vorurteilslose wird diese Meinung, wenn er sie auch nicht teilt, respektieren. Ein berechtigter Vorwurf kann sich nur gegen die Form richten, in der diese Meinung zum Ausdruck gekommen ist. Die Staatsrechtslehrer, die ich meine, haben den Wunsch zum Vater ihres Gedankens gemacht. Es ist ihnen freilich der mildernde Umstand zuzuschreiben, daß sie sich geradezu in einer tragischen Situation befanden: der Gegenstand ihrer Lehre und mithin ihres Interesses, ihrer Liebe, das deutsche und österreichische Staatsrecht, wies einen Zustand auf, mit dem sie sich nicht identifizieren konnten. Was den großen Massen und den demokratischen Parteien als viel zu reaktionär erschien, war in ihren auf alten Obrigkeitsstaat eingestellten Augen schon unliebsam radikalisiert. Die rechtliche Realität entsprach nicht mehr ihrem politischen Idealstaat, aber statt zu kritisieren, wo sie loben wollten, haben sie das Bestehende gemäß dem ihnen vorschwebenden Vorbilde idealisiert, haben damit aber den Gegenstand ihrer Lehre mehr oder weniger entstellt, dem Staatsrechte der konstitutionellen Monarchie absolutistische Elemente unterschoben. Diese absolutistischen Influenzierungen haben sich in der Folge in die Staatsrechtslehre des konstitutionellen Staates untrennbar verwoben, wurden staatsrechtliche Tradition und haben auch die Politik, die sich auf ein unrichtiges, gefärbtes Bild der staatsrechtlichen Zustände berufen konnte, in unseliger Weise beeinflußt.

*** Die vorstehende allgemeine Charakterisierung der vorrevolutionären deutschen Staatsrechtslehre soll im folgenden durch zwei weitverbreitete, typisch absolutistisch orientierte Doktrinen belegt werden, durch die Lehre von der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Monarchen und von seinem selbständigen Verordnungsrechte. Ich beschränke mich dabei naturgemäß darauf, diese bei den Doktrinen gewissermaßen in ihrer Reinkultur vorzuführen, und betone dies, um von vornherein der Einwendung zu begegnen, daß nicht alle Vertreter dieser Lehre sie in der hier dargestellten extremen Formulierung vertreten haben, was eben nur dafür ein Beweis ist,

Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre

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daß sie es an der (auch einen Fehler mitunter zierenden) Konsequenz und Aufrichtigkeit haben fehlen lassen, daß sie auf halbem Wege stehen geblieben sind. Die wesentliche Errungenschaft der Revolutionen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Mitteleuropa hingegangen waren, war die Mitbeteiligung des Volkes an der Gesetzgebung: zum Inkrafttreten des Gesetzes war nicht mehr bloß der Wille des Monarchen, sondern auch der Beschluß einer Volksvertretung erforderlich. Die Sprache der Verfassungen hat die Art dieser Schlußfassung naturgemäß in möglichst vorsichtige Wendungen gekleidet, die die begreifliche Empfindlichkeit des Monarchen schonen, die capitis diminutio des Monarchen möglichst verschleiern sollten. Es war bald ganz farblos von einer Mitwirkung der Volksvertretung an der Gesetzgebung die Rede, was den Monarchen immerhin noch gewissermaßen als Hauptakteur erscheinen läßt; bald sprachen die Verfassungen pointiert von einer Zustimmung, was die Abhängigkeit des bisher allein maßgeblichen Willens des Monarchen von dem gleichgerichteten Willen einer Volksvertretung besonders sinnfällig macht, aber immerhin noch das Schwergewicht der Gesetzgebung im Willen des Monarchen erscheinen läßt; ich will und kann hier nicht alle Nuancierungen der oft sehr wählerischen und gesuchten Ausdrucksweise für dieses verfassungsmäßig vorgesehene Zusammenwirken der beiden Faktoren der Gesetzgebung anführen und beschränke mich nur darauf, noch jener Formulierung zu gedenken, die schon äußerlich die sachliche Parität dieser beiden Faktoren am deutlichsten zum Ausdruck bringt: Wenn z.B. die österreichische "Dezember-Verfassung" (vom 21. Dezember 1867) "zu jedem Gesetze die Übereinstimmung beider Häuser (des Reichsrates) und die Sanktion des Kaisers erforderlich" erklärt, so läßt dies keinen Zweifel, daß der Anteil der beiden Faktoren der Gesetzgebung an dieser höchsten Staatsfunktion im Sinne einer solchen Verfassung der gleiche ist. Aber wie immer auch der gesetzliche Ausdruck für die in Frage stehende Kompetenz des Parlamentes ist, daran kann doch kein Zweifel bestehen, daß es eine Kompetenz zur Gesetzgebung ist, die Ermächtigung zu einer der Funktion des Monarchen durchaus gleichartigen legislativen Tcitigkeit. Und so kann, sollte man meinen, kein Zweifel darüber bestehen, daß einerseits, falls der Monarch als Gesetzgeber bezeichnet wird, auch der Volksvertretung dieser Titel gebührt, daß andererseits, falls der Volksvertretung für sich allein

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I.B. Staatslehre und politische Theorie

der Titel einer Gesetzgeberin bestritten wird, der Monarch für sich allein ihn ebensowenig verdient, sondern daß dann nur Monarch und Volksvertretung zusammen den "Gesetzgeber" darstellen. Dies alles ist aber durchaus nicht unbestrittene Meinung. Ein wichtiger Zweig der Staatsrechtswissenschaft, dem klangvolle Namen - lellinek, Laband, Seligmann und andere - angehören, hat es zuwege gebracht, die Errungenschaft der gegen den absoluten Staat gerichteten Revolution des 19. Jahrhunderts, das wesentliche Merkmal des konstitutionellen Staates das ist eben die Mitbestimmung einer Volksvertretung an der Gesetzgebung zu deteriorieren, wenn nicht zu nullifizieren! An der reellen Mitbestimmung der Volksvertretung an den Akten der Gesetzgebung ließ sich nun einmal nichts ändern, obwohl diese rechtliche Tatsache für manchen Rechtslehrer bedauerlich genug sein mochte. Aber wie die Erfahrung zeigt, ließ sich diese rechtliche Tatsache mit Erfolg nominell wenigstens umdeuten. Die recht anfechtbare Praxis, daß - in der Terminologie der Gesetzblätter - der Gesetzesbefehl vom Monarchen auszugehen pflegte, gab einen - wenngleich sehr brüchigen - Anhaltspunkt für die Behauptung, daß der Monarch der eigentliche und alleinige Gesetzgeber sei. Man sollte es nicht für möglich halten, daß die deutsche Rechtswissenschaft ganze Abhandlungen und Bücher produziert hat, die dem Nachweise der ausschließlichen Gesetzgeberqualität des Monarchen dienen sollten, daß sich Schriftsteller des deutschen Staatsrechtes gefunden haben, die auf diese Art das Hauptmerkmal des konstitutionellen Staates, der ja bekanntlich von Rechtswegen das deutsche Reich und Österreich gewesen sind, in Frage stellten, und daß wiederum Bücher nötig waren und hochverdienstlicher Weise gleichfalls geschrieben wurden, um den einfachen rechtlichen Sachverhalt, der bedauerlicherweise getrübt worden war, wiederum ins Licht zu rücken. Es ist hier nicht der Platz, die zahlreichen verschiedenen Argumente vorzuführen, die Staatsrechtslehrer der verschiedensten Richtungen zum Beweise der Behauptung, daß der Monarch allein der Gesetzgeber sei, vorgebracht haben. Die Mehrzahl der Argumente älterer Autoren trägt übrigens den politischen Ursprung so deutlich an der Stirn, daß es sich heute kaum verlohnte, sich mit ihnen ernstlich auseinanderzusetzen. Was kann man z.B. von einer Lehre halten, die dem Monarchen die ausschließliche Gesetzgeberqualität zuspricht, weil er "Träger der Staatsgewalt" sei, die also die petitio principii begeht, auf Grund der - für den absoluten Staat und nur

Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre

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für ihn allein gültigen - These, daß der Monarch Träger der Staatsgewalt sei, den mit dieser These unvereinbaren Veifassungsrechtssatz, daß bei der Gesetzgebung eine Volksvertretung in irgend einer Weise mitzuwirken habe, zu ignorieren, statt auf Grund dieses positiven Rechtssatzes, der allen konstitutionellen Veifassungen eigen ist, den dogmatischen, in der absolutistischen Ideologie wurzelnden Ausgangspunkt zu revidieren. Die fast einzige scheinbar juristische und prima facie ernst zu nehmende Begründung des Mehrwertes der monarchischen vor der parlamentarischen Gesetzgebungsfunktion ist der Hinweis auf das Faktum, daß in konstitutionellen Staaten der Gesetzesbefehl vom Monarchen auszugehen pflegt. "Wir verordnen ... " ist die typische Publikationsformel der Gesetzblätter konstitutioneller Staaten. Wenn sich aber herausstellen sollte - wie es z.B. für das konstitutionelle Österreich unanfechtbar feststeht -, daß diese Publikationsformel nicht auf einer verfassungsrechtlichen Bestimmung, sondern auf einer gewohnheitsmäßigen Übung beruht, die aus dem Grunde höchst anfechtbar ist, weil die "Anordnung" mehr besagt als die Sanktion, die allein dem Monarchen vorbehalten ist, und weil sie der Tatsache nicht gerecht wird, daß ein Beschluß des parlamentarischen Vertretungskörpers die Voraussetzung für die Kundmachung des Gesetzes ist - dann ist die juristische Haltlosigkeit der politischen Konstruktion monarchischer Alleingesetzgebung klar. Haenel, Lukas,3 Kelsen 4 haben zu verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Argumenten ihr Möglichstes getan, um den politischen Schleier, der die rechtliche Tatsache der Gesetzgebung verhüllte, zu lüften, und haben denn auch in den Augen der politisch Unbefangenen jene politische Konstruktion der Alleingesetzgeberqualität des Monarchen gründlich zerstört; nichtsdestoweniger haben aber bis zu den TageR des Umsturzes selbst die namhaftesten Lehrer des Staatsrechtes die Lehre von der ausschließlichen Gesetzgebereigenschaft des Monarchen tradiert.

3 Die rechtliche Stellung des Parlamentes in der Gesetzgebung Österreichs und der konstitutionellen Monarchien des deutschen Reiches, Graz 1901. 4 Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 416-418, 470, 546-548, 690. 2A.J. Merkl

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I.B. Staatslehre und politische Theorie

Ein Gegenstück der bisher besprochenen Doktrin stellt die fast ebensoweit verbreitete und fast ebenso festgewurzelte Theorie des selbständigen Verordnungsrechtes des Monarchen dar. Diese Theorie besagt bekanntlich, daß die Verordnungsgewalt - die man sich selbstverständlich ebenfalls, sogar mit etwas mehr Recht als die Gesetzgebungsgewalt, zu Gunsten des Monarchen monopolisiert, in seiner Hand konzentriert denkt - überall dort normierend auftreten könne, wo sich kein ausdrücklicher "Vorbehalt" zu Gunsten der Gesetzgebungsgewalt finde. Es wird der Verordnungsgewalt dieser Art einfach eine suppletorische Gesetzgebungsfunktion zugeschrieben, ein breites, ja geradezu uferloses Betätigungsfeld "praeter legern", auf dem der Wille des Monarchen allein entscheidend sei und sich rechtschäpferisch betätigen könne. Bezeichnend ist auch, daß man für das selbständige Verordnungsrecht eine Generalklausel sprechen läßt, während die formelle Gesetzgebung in eine taxative Aufzählung gepreßt wird. Die Lehre vom selbständigen Verordnungsrecht wurde für das deutsche Reich namentlich von Arndt,5 für Österreich von Zolger6 vertreten. Wes Geistes Kind dieses "selbständige Verordnungsrecht" ist, zeigt die Erwägung, daß die Inthronisation einer Gewalt vom Range der Gesetzgebung und von gleichartigen Befugnissen wie diese eine solche Konkurrenzierung der Träger der formellen Gesetzgebung bedeutet, daß der theoretische Vorrang des Gesetzes praktisch zum guten Teil entwertet wird. Man braucht sich auch nur zu vergegenwärtigen, daß der Monarch im Verein mit einer Volksvertretung den formellen Gesetzgeber darstellt, daß er allein jedoch die Verordnungsgewalt beherrscht. Wie groß ist unter diesen Umständen für eine Regierung, die mit parlamentarischen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die Versuchung, die parlamentarisch schwer zu behandelnden Angelegenheiten auf das Geleise des Verordnungsrechtes zu verschieben, wie gelegen mochte ihr eine Theorie kommen, wonach man in gewissen Angelegenheiten mit einer Verordnung, zu der man den schwerfälligen 5 Das Verordnungsrecht des deutschen Reiches, S. 22 ff. 6 Österreichisches Verordnungsrecht, S. 93-116. - Wenn ich hier Zolger "Johann" (wie er sich ursprünglich nannte, später nannte er sich slowenisch "Iwan" der deutschen Staatsrechtslehre zuzähle, geschieht dies deshalb, weil er längere Zeit selbst großen Wert darauf zu legen schien, der deutschen Kulturgemeinschaft anzugehören. Erst in den letzten Jahren hat er mit gewandelter Konjunktur eine Wendung zum chauvinistischen Deutschenfeind gemacht.

Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre

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parlamentarischen Apparat nicht in Gang setzen mußte, dasselbe erreichen könne, wie mit einem Gesetz! Auch diese Entgleisung der Rechtswissenschaft in das Gebiet der Politik hat aus dem Kreise der deutschen Juristen ihre Kritik und Widerlegung gefunden. Die Kritik hatte in dieser Frage insoferne einen schwereren Stand, als manche staatsrechtliche Einrichtungen der mitteleuropäischen Kaiserreiche den Vertretern des selbständigen Verordnungsrechtes bis zum einen gewissen Grade Recht gaben: So hat insbesondere die österreichische Verfassung des Jahres 1867 mit ihrer vielgenannten Einrichtung der "kaiserlichen Verordnungen" mit provisorischer Gesetzeskraft unter bestimmten Voraussetzungen ein selbständiges Verordnungsrecht gekannt. Gerade aber eine so ausdrückliche Anerkennung der Einrichtung legt, zumal wenn sie von der Verfassung in deutlicher Weise als Ausnahmeerscheinung gekennzeichnet ist, den Schluß nahe, daß das selbständige Verordnungsrecht im übrigen nicht bestehe. In der Tat ist geradezu der Sinn des konstitutionellen Systems, daß einseitige Willensäußerungen der Regierungsorgane nur auf Grund und im Rahmen von Gesetzen, für die bekanntlich die Mitbestimmung einer Volksvertretung vorgesehen ist, möglich sein sollen. Die Verordnung hat im Rechtsquellensystem des konstitutionellen Staates nur kraft Delegation des Gesetzes, also nur in Subordination, nicht in Koordination zum Gesetze Raum. 7 Diese zwei Proben dürften genügen, die monarchistische Befangenheit wichtiger Kreise der deutschen Staatsrechtslehre darzutun. Die zwei Doktrinen allein - das ausschließliche Gesetzgebungsrecht des Monarchen und sein selbständiges Verordnungsrecht - sind, namentlich wenn sie sich gegenseitig ergänzen, imstande, das ganze konstitutionelle System illusorisch zu machen und in absolutistischem Sinne zu färben. Zunächst behaupten, die Mitbestimmung eines Parlamentes an der Gesetzgebung sei kein eigentliches Gesetzgebungsrecht, sondern dieses ruhe nach wie vor beim Monarchen, gleichviel, ob er konstitutioneller oder absoluter Monarch sein wolle;

7 Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hat dies vor allen Bematzik bereits in seinem Hauptwerk "Rechtsprechung und materielle Rechtskraft" (1889), S. 108 f. festgestellt. Ich selbst habe in der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht, J g. 1919, S. 295, gegen die das selbständige Verordnungsrecht mißbrauchende Praxis der damaligen österreichischen Regierung Stellung genommen. 2'

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I.B. Staatslehre und politische Theorie

und außerdem behaupten, daß sogar diese dermaßen deteriorierte Mitbestimmung des Parlamentes in vielen Fällen materieller Gesetzgebung überflüssig sei: das bedeutet im Kern den konstitutionellen zu einem halb absoluten Staat umdeuten. In der Tat haben sich eine Menge Übergriffe der Praxis hinter dieser bequemen Theorie verschanzt. Fast alle Verfassungsbrüche, die sich im konstitutionellen Staat ereignet haben, hat diese Theorie mit oder gegen ihren Willen gerechtfertigt. Auch ist es zum guten Teile dieser Theorie zuzuschreiben, wenn der Ruf des Staatsrechtes Deutschlands (dazu zähle ich auch Deutschösterreich) in demokratischen Ländern und Kreisen nicht der beste war; an demokratischen Maßstäben gemessen, war es sicherlich besser als sein Ruf. Die deutsche Staatsrechtslehre war in manchen ihrer klangvollsten Vertreter reaktionärer als das deutsche Staatsrecht. Es ist mir mit den vorstehenden Ausführungen nicht bloß um eine Kritik der Staatsrechtslehre des ehemaligen monarchischen Staates zu tun - es können diese Erfahrungen auch der Staatsrechtslehre der Republik zur Lehre dienen. Kaum ein Wissenschaftszweig unterliegt derart der Versuchung politischer Entgleisungen wie die Staatsrechtswissenschaft. Auch wenn sie die Einrichtungen eines republikanischen Staatsrechtes untersucht, ist die Möglichkeit einer gewissen Befangenheit gegeben. Wie dort das Bild des Monarchen, kann hier z.B. die Stellung der Volksvertretung ins Überlebensgroße verzerrt und entstellt werden; auch hier gibt es mitunter Verfassungsbrüche zu beschönigen. Das, was in dieser Untersuchung an der Staatsrechtslehre der Monarchie bemängelt wurde, sollte für die der Republik ein Memento sein, der höchsten Forderung strenger Wissenschaftlichkeit vor allem zu gedenken!

Ein lapsus Iinguae Die Friedensverhandlungen in Neuilly rufen die Erinnerung an eine Debatte wach, die sich zu einer Zeit, als die Wogen des Krieges hochgingen, im Budapester Parlamente abspielte. Vorweg möchte ich aber betonen, daß darin keine Spur von Schadenfreude zu suchen ist, wenn wir in der gegenwärtigen Zeit der tiefsten Erniedrigung der magyarischen Nation, wo sie um die Erhaltung ihres nationalen Besitzstandes kämpft, in eine erst kurz vergangene Zeit zurückgreifen, wo ihre politische Führerschaft in einem Anflug nationalen Übermutes die nicht magyarischen Nationen zu Nationalitäten erniedrigte und ihnen den Charakter selbständiger Nationen (der im Herrschaftsbereich der Stephanskrone offenbar zugunsten der herrschenden magyarischen Nation monopolisiert sein sollte) mit ebenso ausdauernder wie unberechtigter Konsequenz strittig machte. Zur Schadenfreude hätte ja in dieser Zeit ein Deutschösterreicher wahrhaftig um so weniger Anlaß, als der Staatsvertrag von St. Germain auch unseren Staat so behandelt hat, als ob zwischen den Deutschen und Nichtdeutschen ein ähnliches Verhältnis oder eigentlich Mißverhältnis bestanden hätte wie zwischen Magyaren und Nichtmagyaren in Ungarn. Deutschösterreichischen Lesern braucht man nicht nachzuweisen, daß, mag es im alten Österreich auch "beherrschte Völker" gegeben haben, von der deutschen als einer "herrschenden Nation" doch niemals die Rede sein konnte, daß die von Vertretern der nichtdeutschen Völker behauptete "Unterdrückung" I trotz mancher nicht unbegründeter Beschwerdefälle maßlos übertrieben wird, wofür das beste Zeichen der heutige Stand der nichtdeutZeitschrift für Verwaltung, 53. Jg. (1920), S. 25-27 und 29-30. 1 Soweit von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, war sie niemals das Werk einer ganzen Nation, sondern eines kleinen Kreises aus fast allen österreichischen Nationen, wobei es interessant wäre. zu erforschen, was selbst von diesen verhältnismäßig harmlosen nationalpolitischen Mißgriffen in Österreich durch die ständige peinliche Rücksicht auf die offizielle ungarische Nationalitätenpolitik bedingt war.

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I.B. Staatslehre und politische Theorie

sehen Nationalstaaten im Vergleich mit Deutschösterreich ist. Ohne Schönfärberei wird man behaupten können, daß der alte österreichische Nationalitätenstaat zwischen seinem östlichen und westlichen Nachbar, zwischen den Nationalitätenstaaten Schweiz und Ungarn auch in bezug auf die politische Stellung der im Staat vereinigten Völker gut die Mitte einnahm, und niemand wird das Verdienst verdunkeln können, daß schon damals die besten politischen Köpfe der Deutschen Österreichs als Mittel des innerstaatlichen Völkerfriedens den Gedanken der nationalen Autonomie vertraten. - Und es ist ferner auch bezeichnend für den angeblichen Herrenvolkscharakter der Deutschen Österreichs, daß hier keine ernst zu nehmende Stimme auch nur für den bloßen - freilich von vorneherein unerfüllbaren Wunsch laut geworden ist, die Länder und Völker Altösterreichs gegen ihren Willen zusammenzuhalten, und daß die Wünsche unserer Friedensdelegation in St. Germain in territorialer Hinsicht einzig darauf abzielten, die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete Altösterreichs für Deutschösterreich zu erhalten. Wie ganz anders in Ungarn, wo trotz vieler Stimmen der Einsicht das Schlagwort von der "territorialen Integrität" - das vielleicht letzten Endes dem alten Österreich wie dem alten Ungarn das Grab geschaufelt hat! - noch immer nicht verstummt ist, wo sich die Friedensdelegation den alliierten und assoziierten Mächten mit einer Note eingeführt hat, die noch immer den Unterschied zwischen der Nation und den Nationalitäten Ungarns zu machen beliebt und wo nach einem Weltkrieg, in dem, wenn überhaupt eine Idee, dann die des Nationalitätenstaates besiegt worden ist - man denke an die Schicksale Österreichs, Ungarns, Rußlands und der Türkei! - heute noch der Wunsch ernster Kreise daranhängt, diese Idee in ihrer verhaßtesten Gestalt, als Nationalitätenstaat mit einer herrschenden Nation, zu realisieren oder zu konservieren. Diese jüngsten Erfahrungen rechtfertigen, wie mir scheint, umsomehr die folgende historische Reminiszenz. 2

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2 Der folgende Artikel sollte im Jahre 1916 erscheinen, mußte damals jedoch mit Rücksicht auf die bestehenden Zensurschwierigkeiten zurückgestellt werden.

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In der Sitzung des ungarischen Abgeordnetenhauses vom 26. Jänner 1916 wurde eine Interpellation eingebracht,3 die einen an sich wenig auffallenden Passus aus dem Berichte des österreichisch-ungarischen Generalstabes vom 18. Jänner 1916 zum Gegenstand hatte. Die gravaminöse Stelle lautete: "Der Truppenzusammensetzung nach haben am Siege in der Neujahrsschlacht alle Stämme der Monarchie Anteil." Es soll in dieser hiemit ausdrucklieh auf das staatsrechtliche Gebiet beschränkten Betrachtung der Frage nicht nachgegangen werden, ob der kleine Satz, wenn er wirklich irgendwie Inkorrektes besagte, zu dem großen Redeaufwand, den er zur Folge hatte, nicht außer Verhältnis stand; es soll nur die Frage untersucht werden, ob die Interpellationsgründe, die dem Staatsrecht entnommen sein wollen, im Staatsrechte begründet sind. Der Interpellant fand auszuführen,4 das ungarische Staatsrecht kenne keine Volksstämme, es gebe nur eine einheitliche ungarische Nation. Deshalb sei es ein staatsrechtlicher Irrtum und ein schweres Gravamen, wenn die kompetenten Faktoren der Heeresleitung die ungarische Nation einen Volksstamm nennen. Und die Interpellation klang in die Frage aus, "ob der Ministerpräsident geneigt sei, seinen verfassungsmäßigen Einfluß dahin geltend zu machen, daß die militärischen Organe in keiner ihrer Handlungen oder ihrer Kundgebungen mit unserem Staatsrecht in Widerspruch geraten und dadurch unser nationales Gefühl verletzen". Nicht der Form, wohl aber der Sache nach gab der ungarische Ministerpräsident5 in seiner Antwort dem Interpellanten Recht. "Wenn der Interpellant aus einem amtlichen militärischen Bericht einenjedenjalls irrtümlichen und unrichtig angewendeten Ausdruck vorbringt", so hat der Ministerpräsident darauf zu erwidern: "Dieser Ausdruck wäre eine sehr ernste Erscheinung, wenn er eine mit der staatsrechtlichen Stellung der ungarischen Nation im Gegensatz stehende Überzeugung der kompetenten militärischen Faktoren zum Ausdruck brächte und wenn darin die Tendenz einer Verkleinerung der ungarischen Nation verborgen wäre. Ich bitte aber zu gestatten, ich war vom Anfang an darüber im reinen, und ich glaube, jedermann kann darüber 3 Interpellant war der Abgeordnete Keleman von der Unabhängigkeitspartei. - Vgl. den ausführlichen Bericht der Wiener Tagesblätter vom 27. Jänner 1916. 4 Nach den Wiener Tagesblättern vom 27. Jänner 1916. 5 Graf Tisza.

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im reinen sein, daß es sich hier um einen lapsus linguae handelt." Man beachte, wie groß der behauptete Fehler im beanständeten Heeresberichte anwächst, wenn ihm der ungarische Ministerpräsident nur dadurch für entschuldigt findet, daß er ihn zum lapsus linguae verkleinert! So bedenklich erscheint der Ausdruck dem ersten Staatsfunktionär Ungarns, daß er ihn und ähnliches künftig "unbedingt vermieden" wünscht. Er "hofft, daß sich der Gebrauch derartiger Ausdrücke in der Zukunft nicht wiederholen wird". Er hat es mit Grund gehofft. Etwas anderes ist es aber, ob die Hoffnung sachlich ebenso begründet war, wie sie durch die Tatsachen gerechtfertigt wurde.

*** Der ungarische Gesetzesartikel XLIV aus dem Jahre 1868 sagt: "Da sämtliche Staatsbürger Ungarns auch den Grundprinzipien der Verfassung gemäß in politischer Hinsicht eine Nation bilden, die unteilbare einige ungarische Nation, deren gleichberechtigtes Mitglied jeder Bürger des Vaterlandes ist, welcher Nationalität er auch angehöre; da ferner diese Gleichberechtigung nur in Rücksicht auf den amtlichen Gebrauch der im Lande üblichen verschiedenen Sprachen und nur insoferne besonderen Regeln unterworfen sein kann, als dies die Einheit des Landes, die praktische Möglichkeit der Regierung und Verwaltung und der Justizpflege notwendig machen, werden mit vollständiger Aufrechterhaltung der Gleichberechtigung der Staatsbürger in allen anderen Verhältnissen für die amtliche Benützung der verschiedenen Sprachen folgende Regeln zur Richtschnur dienen: Da vermöge der politischen Einheit der Nation die Staatssprache Ungarns die ungarische ist, ist die Beratungs- und Verhandlungs sprache des ungarischen Reichstages auch fernerhin die ungarische; die Gesetze werden in ungarischer Sprache geschaffen, dieselben sind jedoch auch in den Sprachen aller im Lande wohnenden Nationalitäten in beglaubigter Übersetzung hinauszugeben; die Amtssprache der Regierung ist auch fernerhin in allen Zweigen der Verwaltung die ungarische." Es handelt sich kurz gesagt um die Gesetzesstelle, wo die magyarische Sprache zur ungarischen Staatssprache erhoben, wo aber weiters auch nach spezifisch ungarischer Auffassung die magyarische zur herrschenden Nation proklamiert wird.

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Vorerst einige Worte über die Proklamierung der magyarischen Staatssprache! Das Bestimmungswort unseres zusammengesetzten Wortes besagt nichts, was das Grundwort in einer philologisch relevanten Weise determinieren würde. Die Qualität als Staatssprache hebt eine Sprache in sprachlicher Beziehung auf keine Weise von anderen Sprachen ab. Die magyarische ist eine der in Ungarn6 gesprochenen Sprachen; das ungarische Recht weist ihr innerhalb dieser Sprachen eine besondere Rolle an. Der zitierte Gesetzartikel besagt des weiteren, daß sämtliche ungarischen Staatsbürger "eine Nation bilden, die unteilbare einige ungarische Nation, deren gleichberechtigtes Mitgliedjeder Bürger des Vaterlandes ist, welcher Nationalität er auch angehöre". Ist damit nicht auch ein Vorrecht der magyarischen Nation begründet? Wer dies glaubt, überschätzt die Normierungsfähigkeit der Gesetzesform und verwechselt überdies den politischen und ethnographischen Begriff, das, was wir mit den freilich oft auch synonym gebrauchten7 Ausdrücken ungarisch und magyarisch auseinanderzuhalten suchen. Das, was der Gesetzartikel ausspricht, gilt nur vom politischen Begriff des "Ungarn". Deutlich genug spricht sich das Gesetz auch dahin aus: "in politischer Hinsicht". Würde aber auch das Gesetz diese ausdrückliche Verweisung vermissen lassen, so könnte man es doch nicht anders verstehen. Zu der auf diese Weise konstituierten "ungarischen Nation" wird nämlichwiederum nach dem Gesetzeswortlaut - "jeder Bürger des Vaterlandes" gerechnet, "welcher Nationalität er auch angehöre". Daß es unter den ungarischen Staatsbürgern im ethnographischen und philologischen Sinne Nichtmagyaren gibt, kann das ungarische Staatsrecht weder bestreiten noch verhindern. Es versucht dergleichen auch gar nicht; es tut vielmehr ihrer in ihrer Eigenschaft als Nichtmagyaren deutlich genug Erwähnung, reiht sie aber nichtsdestoweniger in den Kreis der "ungarischen Nation" ein. Dieser kann also mit dem Kreise der durch die magyarische Nationalität Zusam6 Um eine größere Deutlichkeit zu erzielen, werden hier und im folgenden die Worte magyarisch und ungarisch in einem engeren, von einander abweichenden Sinn verwendet. Magyarisch soll auf den philologisch-ethnographischen, ungarisch auf den rechtlich-politischen Begriff beschränkt werden. 7 Gegen diesen synonymen Gebrauch ist nichts einzuwenden, wenn nur die hiedurch gedeckten, keineswegs identischen Begriffe nicht konfundiert werden.

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mengehaltenen nicht identisch sein. Es handelt sich vielmehr um zwei konzentrische Kreise. 8 Der weitere Kreis wird durch die ungarische Nation im politischen Sinne bezeichnet; den engeren stellt die "magyarische" Nation im ethnographischen Sinne dar. Von ihm kann man ebenso gut, ebenso richtig als magyarischen "Volke", magyarischen Volksstamm oder der magyarischen Nationalität sprechen und kann dies, wie mit aller Entschiedenheit festgestellt sei, sogar im Sinne des ungarischen Staatsrechtes, da dieses nur für die rechtlich-politische Gesamtheit der Staatsbürger den gesetzlichen terminus der "ungarischen Nation" ausspricht. Es ist ein Mißbrauch mit dem gesetzlichen terminus, wenn man diesen, der sich ausdrücklich und kraft innerer Notwendigkeit auf den rechtlichen Begriff beschränkt, auch zur Bezeichnung des ethnographischen Begriffes des Magyaren gebraucht. Es wäre eine Verfälschung des ungarischen Staatsrechtes, wenn man diesem in den Mund legte, daß es den Ausdruck "ungarische (= magyarische) Nationalität" verpöne. Aber selbst dann, wenn das ungarische Staatsrecht die "magyarische Nationalität mit der "ungarischen Nation" identifizierte oder ihr Bestehen ausdrücklich in Abrede stellte, wäre man berechtigt, diesen Ausdruck zu gebrauchen. Das Gesetz kann zwar eine rechtliche Tatsache schaffen, kann aber ein außerrechtliches Faktum nicht aus der Welt schaffen. Das Gesetz kann einen spezifisch juristischen Nationsbegriff einführen, hebt aber dadurch einen ethnographischen Nationsbegriff nicht auf Und vom Standpunkt dieses ethnographischen Nationsbegriffes aus ist es wohl gleichgültig, ob man die ungarländischen Magyaren eine Nation, einen Stamm oder auch eine Nationalität nennt. Eine Nationalität in demselben Sinne, wie man von den anderen, nichtmagyarischen Nationalitäten spricht, aus denen sich die magyarische Nationalität ja nun allerdings durch Zahl und zivilisatorische Bedeutung, durch Siedlungsdauer und Verdienste um Entstehung und Bestand des ungarischen Staates hervorheben mag. Die offizielle magyarische Deutung des oben zitierten Gesetzartikels, wonach die Nichtmagyaren auf ungarischem Boden Nationalitäten, die Magyaren jedoch die einheitliche ungarische Nation bilden, ist also dahin 8 Der Kreis der Angehörigen der ungarischen Nation umfaßt also einerseits Nichtmagyaren, schließt aber andererseits Magyaren aus, welche der ungarischen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen oder aus einem sonstigen Grunde nicht teilhaftig sind; die letztere Gruppe fällt aber zahlenmäßig nicht ins Gewicht.

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richtigzustellen, daß die Ungarn im nationalen Sinne nur ein Stück der "ungarischen politischen Nation" ausmachen, die im übrigen aus Deutschen, Rumänen, Kroaten, Slowaken und anderen Nationsangehörigen zusammengesetzt ist. Es ist eine Übung, die einem Taschenspielerkunststück gleicht (wobei wir aber böse Absicht für die Regel der Fälle keineswegs annehmen wollen), von der ungarischen Nation im politischen Sinne zu reden und dabei diesem Ausdruck den ethnographischen Sinn zu supponieren, als ob dieser Begriff in jenem restlos aufginge. Auf diesem Weg, der für jeden klar zu sehen gewohnten und klar sehen wollenden Blick einen unverkennbaren logischen Hiatus aufweist, werden die nichtmagyarischen Ungarländer einfach eskamotiert und um ihre Qualität als vollberechtigte ungarische Staatsbürger, als mit den Magyaren gleichberechtigte Angehörige der ungarischen Nation gebracht. Sie sind um nichts weniger Ungarn (im politischen Sinne) als die Magyaren, und dürfen daher, wenn es sich um den politischen Begriff des Ungarn handelt, nicht unberücksichtigt bleiben. Die Magyaren haben nicht einmal ein Vorrecht, geschweige denn ein alleiniges Recht auf den Titel eines Angehörigen der ungarischen Nation, und könnten es am allerwenigsten darauf stützen, daß sie den Namenfür die "politische Nation" Ungarns abgeben. Dieser ist durch Legaldefinition ausdrücklich vom ethnographischen Begriffe des Magyaren unterschieden und auf einen weiteren (teilweise auch wieder engeren)9 Begriff übertragen. Die ungarische Gesetzesstelle, welche den Begriff der ungarischen politischen Nation kreiert, bedeutet nicht - was man in der Regel aus ihr entnehmen möchte eine Privilegierung der magyarischen Nationalität, sondern merkwürdigerweise eher die der übrigen Nationalitäten, welche eben auf dem gesetzestechnischen Wege einer Bezeichnung als "Ungarn" dem in Ungarn herrschenden Stamme der Magyaren gleichgestellt sind. Aus der vom ungarischen Staatsrecht ausgesprochenen Gleichstellung wird eine Unterordnung oder Zurücksetzung; den gesetzlichen Begriff der ungarischen Nation sehen wir dahin umgedeutet, daß er den Schein des naturwissenschaftlichen Begriffes der magyarischen Nation annimmt, indem man den Magyaren zum Ungarn im rechtlich-politischen Sinne erhebt, neben dem dann nichtmagyarische Ungarn eigentlich nicht mehr recht Platz hätten. So bestreitet man 9 Insofeme auch wieder enger, als selbstverständlich nur die Magyaren mit ungarischer Staatsbürgerschaft der ungarischen politischen Nation angehören, während andererseits die ethnographisch noch so reinen Magyaren, weIche jedoch die ungarische Staatsbürgerschaft eingebüßt haben, aus dem Zusammenhange der ungarischen politischen Nation losgelöst sind.

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ihnen eine Stellung, die ihnen im Sinn des in dieser Hinsicht erfreulich klaren ungarischen Staatsrechtes gebührt. Ist nun der eine Schritt der Umdeutung geschehen, ist die ungarische (politische) Nation mit der magyarischen (ethnographischen) Nation identifiziert, dann ist auch schon die weitere angebahnt, den Nationalitätsbegriff nur für die ungarländischen Nichtmagyaren gelten zu lassen und für die magyarische Nationalität den Ausdruck "ungarische Nation" auch in den Fällen zu arrogieren, wo offensichtlich auf das nationale, auf das völkische Moment abgezielt ist. Dafür, daß sie dadurch den eigenen staatsrechtlichen Nationsbegriff verwischen, haben freilich jene Nationalisten jeden Sinn verloren, welche vorher kurzsichtig genug gewesen waren, als Angehörige der ungarischen Nation lediglich Magyaren zu sehen. Und dieser doppelte Gedankenfehler führt auch dazu, an einem Ausdrucke, wie "alle Volksstämme der Monarchie" Anstoß zu nehmen, noch dazu aus staatsrechtlichen Gründen, denen hier jede Daseinsberechtigung mangelt. Daß Cis- und Transleithanien von den Angehörigen der verschiedensten Sprachstämme und Völkerschaften bewohnt ist, wird schwerlich bestritten werden können. Mit diesem Urteil wird der staatlichen Zugehörigkeit dieser Sprach- und Volksstämme noch in keiner Weise präjudiziert; das Urteil sieht von rechtlichen Momenten völlig ab, insbesondere von der Frage der staatlichen Zugehörigkeit zu Cis- oder Transleithanien; am allerwenigsten will es behaupten, daß es sich um Angehörige eines und desselben Staates handle, daß also Österreich-Ungarn unter irgendeinem Gesichtspunkt ein Einheitsstaat sei. Kein Staat kann eine Beleidigung seiner besonderen Staatlichkeit darin erblicken, daß, wo das völkische Moment bezeichnet werden soll, Redewendungen gebraucht werden, welche von Staatsgrenzen u.dgl. rechtlichen Scheidewänden absehen. Es ist ja damit noch keineswegs behauptet, daß jeder solche Stamm, jede solche Nationalität eine politische Nation bilde, womit man sich freilich zu rechtlichen Tatsachen in Widerspruch setzen würde. Die besondere politische Nation, die eigentlich von jedem souveränen Staate repräsentiert ist und keine Eigentümlichkeit Ungarns darstellt, wird hiebei in durchaus zulässiger Weise ignoriert.

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Auch das alte Österreich bildete ja kraft der "allen im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern gemeinsamen Staatsbürgerschaft" (Artikel 1 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger) eine einheitliche politische Nation, welche, wenn sie auch ex lege keinen Namen trug, doch wohl die "österreichische Nation" genannt werden durfte und von der ungarischen politischen Nation nicht im mindesten wesensverschieden ist. Insbesondere bezeichnet die "ungarische" um nichts mehr als die "österreichische Nation" das nationale Element, wenn sie auch ihren Namen - a potiori - einer der im Staate siedelnden Nationalitäten entlehnt, während Österreich - gleich Ungarn ein Nationalitätenstaat - den die politische Nation bezeichnenden Namen richtigerweise nicht einer diese politische Nation konstituierenden Nationalitäten entlehnt, sondern sich für den rechtlich politischen Begriff einen besonderen Namen - eben den Österreichs - zugelegt hat, womit schwere Irrtümer vermieden sind. Mit demselben Recht oder Unrecht, wie man in Ungarn den politischen Begriff des Ungarn in einem ethnographischen Sinne umdeutet, könnte dies in Österreich geschehen, was freilich diesen logischen Fehler auf der Stelle ad absurdum führen würde; und doch ist es um nichts unlogischer, den terminus der ungarischen politischen Nation, wie ihn das ungarische Staatsrecht kennt, eine ethnographische Bedeutung unterzuschieben, wie der lächerliche etwaige Versuch, den Namen Österreich zum Begriffe eines die übrigen Volksstämme überragenden Volkes auszudeuten, was an der Vernunft wie am Widerstande aller den Staat bildenden Völker Österreichs gescheitert wäre. Trotz der Tatsache, daß die Nationalitäten durch das Band des Staates zu einem Staatsvolk, zu einer politischen Nation zusammengefaßt werden, bestehen sie in ihrer völkischen Besonderheit fort und kommen von Rechts und Staats wegen nicht um Eigenschaft und Titel ihrer Nationalität. Am allerwenigsten schließt es die Kreierung einer "politischen Nation", welche eigentlich mit jeder Staatsgrundung parallel läuft, aus, von den im Staate siedelnden verschiedenen Nationalitäten staatlicherseits Notiz zu nehmen. Die Rechtsordnung selbst beinhaltet oft nationale Rechte, womit nicht solche der politischen Nation, sondern solche der ethnograhischen Nationalitäten gemeint sind; der Staat selbst unterscheidet weiters innerhalb der einheitlichen Nation zum Beispiel bei der Volkszählung zwischen verschiedenen Nationalitäten und dergleichen mehr, so daß es auch bei sonstigen Anlässen nicht verwehrt sein kann, mit der Tatsache, daß das rechtlich-staatliche Band verschiedene Volksstämme umschließt, zu rechnen.

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Wie hätte der eingangs zitierte Bericht richtigerweise - das heißt richtig im Sinne seiner Kritiker -lauten sollen? "Die Volksstämme bei der Staaten der Monarchie"? Im Sinne der dualistischen Staatsauffassung wäre dies noch richtig gewesen - aber unsere Kritiker hätte diese kleine Änderung nicht zufrieden gestellt, denn ebensowenig wie "Volksstämme der Monarchie" wäre man "Volksstämme Ungarns" anzuerkennen geneigt. In Österreich mochte es nur Nationalitäten geben, in Ungarn hat man aber wohl die Nationalitäten von der magyarischen Nation zu sondern. Also wäre etwa von den österreichischen Nationalitäten, jedoch von der ungarischen Nation und allenfalls daneben noch von den Nationalitäten Ungarns zu sprechen gewesen?! Die Parität, die nun doch auch zu Wort kommen will, hätte jedoch gefordert, daß unter solchen Umständen auch des Anteils Österreichs in ähnlicher Weise hätte Erwähnung getan werden müssen. Und so hätte das "österreichische Staatsvolk" gleich wie die ungarische Nation genannt zu werden verdient. Dieser Ausdruck in unserem Zusammenhang trägt aber das Zeichen der Lächerlichkeit unverkennbar an sich. Ein "Staatsvolk" "schlägt sich" nicht "tapfer" - und womöglich noch weniger tut dies das juristischkonstruktive Gebilde einer "rechtlich-politischen Nation"; das tun nur Menschen und höhere soziale Einheiten, vor allem eben Volksstämme, Nationalitäten. In unserem Falle von der ungarischen Nation zu sprechen - von diesem blutleeren, künstlichen Begriffsgebilde -, wo die Tapferkeit von Söhnen des magyarischen Stammes gerühmt werden sollte, fürwahr, wenn das Gegenstand des Anstoßes wäre, so wäre dies leichter begreiflich gewesen. Wie gesucht und nichtssagend klingt in unserem Zusammenhang doch die "ungarische Nation", während "magyarischer Volksstamm" alles sagt, was gefühlsmäßig zu sagen war, ohne daß hiedurch das ungarische Staatsrecht, an dem leider zu viel Gefühle hängen, beleidigt werden konnte. Das müßte, sollte man meinen, beim nationalen Magyaren Anstoß erregen, wenn man von der ungarischen Nation spräche, wo man den magyarischen Volksstamm meint, der ja doch dem magyarischen Nationalstolz teurer sein müßte als der Nationsbegriff, in dem sich gerade nach ungarischem Staatsrecht der Magyare mit mancherlei Nicht-Magyaren teilen muß.

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Abschließend sei mir noch folgende kurze Feststellung gestattet. Aus derselben Überzeugtheit für den Gedanken der nationalen Selbstbestimmung, aus der ich gegen die von der offiziellen magyarischen Politik beliebte Differenzierung zwischen Nation und Nationalitäten polemisiere, möchte ich wünschen, daß es im Frieden von Neuilly Teilen der lebenstüchtigen und gewiß autarken magyarischen Nation erspart bleibe, zu Nationalitäten im Rahmen der Staatlichkeit anderer Herrenvölker herabzusinken.

Rezension von:

Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920; Hans Kelsen, Sozialismus und Staat, Leipzig 1920 Prof. Hans Kelsen, der Schöpfer einer neuen Theorie des Rechtes, hat nun auch in unserer der Statik des positiven Rechtes weniger günstigen, von der Dynamik der Rechtsentwicklung oder des werdenden Rechtes erfüllten Gegenwart die politischen Wissenschaften, die wissenschaftliche Politik um zwei wertvolle Studien über besonders aktuelle Probleme bereichert. Es bedarf kaum der Feststellung, daß die in den bei den Schriften behandelten Tagesfragen für unseren Autor nur Anstoß für Untersuchungen und Erkenntnisse von zeitlich nicht bedingtem Werte sind.

In der Studie über die Demokratie bringt Kelsen einleitend eine tief schürfende Untersuchung der Ideengeschichte des demokratischen Ideals. Vor allem deckt er den tiefgehenden Bedeutungswandel auf, den der Begriff der Demokratie erfahren hat. Aus der Freiheit der unverbundenen Einzelnen, die das demokratische Freiheitsideal ursprünglich fordert, wird die Freiheit des staatlichen Ganzen. Die Überwindung des ursprünglichen Gedankens der Freiheit wird insbesondere durch die Vorstellung und Einrichtung der Repräsentation gefördert, in deren Begriff sich ein bestimmtes Faktum das aus möglichst breiten Wahlen hervorgegangene Parlament - mit einer Fiktion begegnet, daß nämlich dieses Parlament das Staats volk (= die Gesamtheit der Staatsbürger) selbst sei oder, wie man sich ausdrückt, es "darstelle" (wozu freilich Kelsen treffend bemerkt, daß der Repräsentativgedanke für demokratische Staatswesen nicht charakteristisch ist, sondern sich ebenso oft - hier freilich ungleich deutlicher seinen fiktiven Charakter enthüllend - in Autokratien findet). Zur Überwindung der ursprünglichen Freiheitsforderung trägt ferner auch die von der demokratischen Ideologie

Zeitschrift für Verwaltung, 54. Jg. (1921), S. 156-159. 3 A.J. Merkl

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gleichzeitig erhobene Forderung nach Gleichheit bei, deren annähernde Realisierung im Staate bei der natürlichen Ungleichheit der Menschen die Unterdrückung der individuellen Freiheit voraussetzt und in der Folge - soll in einem dem Gleichheitsideal mehr oder weniger entsprechenden Staate von Freiheit überhaupt noch die Rede sein - die Umdeutung des anfänglichen Freiheitsideals, die Ersetzung des individuellen Freiheitsträgers durch das Kollektivum als Freiheitsträger bedingt. Diesen soeben skizzierten gegensätzlichen Ideologien sind bestimmte unterschiedliche Staatsformen zugeordnet. Dem ursprünglichen demokratischen Ideale entspricht die unmittelbare Demokratie, die in ihrer Reinkultur die Freiheit des Einzelnen restlos verwirklicht, durch die Einrichtungen der Selbstgesetzgebung, der Einstimmigkeit, des individuellen Sezessionsrechtes usw. selbst im Staate verwirklichen würde, falls die Existenz eines Staates mit einer derartigen Stellung des Individuums überhaupt verträglich wäre. Man begreift unter solchen Umständen, daß die unmittelbare Demokratie in ihrer reinsten, diesem Begriffe konformen Gestalt nie und nirgends Realität geworden ist. - Die mittelbare Demokratie hinwiederum, die der Forderung der Volkssouveränität entspricht, hat sich über mangelnde "Wirklichkeit" wahrhaftig nicht zu beklagen - im Gegenteile ist sie die den Erdball beherrschende Staatsform geworden -, doch ist sie eben vom Standpunkte des ursprünglichen und ungebrochenen demokratischen Gedankens, im Lichte des Freiheitsideals besehen, eine echte Demokratie nicht mehr, nämlich - wie jeder Staat - man möchte fast sagen, eine mit besonderem Raffinement organisierte, die widerstrebendsten Menschen in technisch vollkommenster Weise sich einordnende Zwangsorganisation, die unter dem Prätexte der Freiheit naturnotwendig eine, wenn auch möglichst gemilderte Unfreiheit bedeutet. Und diesen gegensätzlichen Staatsformen entsprechen auch bestimmte politische Systeme, der Anarchismus, sublimiert zum Liberalismus, und der Sozialismus, potenziert zum Kommunismus; politische Systeme, deren diametraler Gegensatz, deren Polarität gerade auf diesem Untergrunde analoger Staatsformen, auf jenem Hintergrunde verwandter politischer Ideologien, besonders deutlich sichtbar wird. Dieselbe Demokratie, die bis in die jüngste Zeit unangefochten als die modernste fortgeschrittenste Staatsform, ja geradezu als politische Selbst-

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verständlichkeit gegolten hatte, die bei einem Überblick über die Staaten der Erdoberfläche schlechthin als die gegenwärtig herrschende angesprochen werden konnte, ist nun aber auffälligerweise mit dem in einzelnen Staaten erfolgten Herrschendwerden der Sozialdemokratie - ihrer bisher konsequentesten und weitestgehenden Vertreterin - problematisch geworden. Kelsen macht zur rechten Zeit feinsinnig darauf aufmerksam, daß die Sozialdemokratie dem Worte nach zur Hälfte ihres Wesens demokratisch orientiert sei, was die Wirklichkeit in einzelnen Staaten, wo bisherige Sozialdemokraten herrschend wurden, nicht erkennen ließ. An der Hand von sorgfältig gesichteten literarischen Belegen weist Kelsen nach, wie sich die politische Praxis des Kommunismus (namentlich in der Form des Bolschewismus, der bezeichnenderweise auch den Parteinamen der Sozialdemokratie ablehnt) der politischen Theorie der Sozialdemokratie, die, soll die Parteibezeichnung keine Falschmeldung sein, nur die der Demokratie sein kann, scheinbar weiter als jede bürgerliche Republik annähert, um sich in der Tat von ihr zu entfernen. Negativ erfolgt dieser Rückgriff zum ursprünglichen demokratischen Ideal in der Ablehnung des Parlamentarismus, positiv in dergleichen Einrichtungen, wie kurze Mandatsdauer, Möglichkeit jederzeitiger Abberufung der in die verschiedenen Sowjets vom Volke Abgeordneten und damit verbundene völlige Abhängigkeit von den Wählern, der innige Kontakt mit dem Urmaterial des Volkswillens - Charakteristika echtester Demokratie, die Kelsen in der Sowjet-Verfassung vorfindet. Vor allem aber ist es die Politisierung der Volksrnasse nicht nur, sondern geradezu ihre Bürokratisierung auf Kosten des vorhandenen bürokratischen Elementes, ihre nebenberufliche Betrauung mit der Staatsverwaltung, die Kelsen mit Recht als eine sehr entschiedene Annäherung an Forderungen der Demokratie bezeichnen kann - eine Annäherung, die freilich die fragliche Bedeutung hat, von der praktischen Verwirklichung eines reichgegliederten und aufgabenreichen sozialistischen Gemeinwesens abzuführen. Kelsen widmet in diesem Zusammenhange dem zwar reindemokratischen, aber zugleich liberalen, unsozialistischen, in den letzten Konsequenzen zum Primiti vismus und Anarchismus führenden Versuche einer radikalen Demokratisierung der Verwaltung aufschlußreiche Betrachtungen. Uns werden gerade am Beispiel des kommunistischen Staates, der in einem Atem aus radikalen Forderungen des demokratischen Ideals Ernst macht und zugleich ins Extrem der Autokratie umschlägt, aber selbst beim besten Willen dem Ideal einer radikalen Demokratie nicht treu bleiben 3*

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könnte, weil die letzten Konsequenzen der Demokratie den Daseinsbedingungen des modemen, zumal des sozialistischen Staates zuwiderlaufen, die engen Grenzen demokratischer Politik offenbar. Aber trotzdem ist der letzte Schluß von Kelsens Studie über die Demokratie nicht die Skepsis an der Demokratie; selbst nicht angesichts der Krise, in die das demokratische Ideal durch die kommunistische Realität geraten ist. "Gerade gegenüber solcher Diktatur enthüllt die Demokratie ihr tiefstes Wesen, zeigt sie ihren höchsten Wert. Weil sie den politischen Willen jedermanns gleich einschätzt, muß sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung - gleichermaßen achten ... Die Relativität des Wertes, den ein bestimmtes politisches Glaubensbekenntnis aufrichtet, die Unmöglichkeit, für ein politisches Programm, für ein politisches Ideal absolute Gültigkeit zu beanspruchen, zwingt die Demokratie gebieterisch zu einer Ablehnung auch des politischen Absolutismus, mag das nun der Absolutismus eines Monarchen, einer Priester-, Adels-, Kriegerkaste, einer Klasse oder sonst einer privilegierten, jede andere ausschließenden Gruppe sein." Mit einem tiefsinnigen Ausblick auf die Pilatusszene der Bibel, wo unter anderen die Prinzipien der Toleranz und Intoleranz, des Relativismus und Absolutismus und - ins Politische übersetzt - das demokratische und adernokratische Prinzip hart aufeinanderprallen, schließt die Schrift. Die zweite politische Schrift Professor Kelsens über "Sozialismus und Staat" knüpft an die Tatsache an, daß die Erwerbung der politischen Macht in großen Teilen Europas im Gefolge des Weltkrieges die politische Theorie des Sozialismus unvorbereitet getroffen hatte. Allerdings waren auch die ökonomischen Voraussetzungen, unter denen sich nach sozialistischer Lehre der Übergang zur neuen Ordnung der Gesellschaft vollziehen sollte, nichts weniger als erfüllt. Dieser Zustand der politischen Theorie hat zu Improvisationen der politischen Praxis geführt, die erst ihrerseits die Diskussion über das politische Ziel des Sozialismus angeregt haben. Kelsens Schrift macht vortrefflich klar, wie wenig die politische Theorie des Sozialismus im Vergleich mit seiner ökonomischen Theorie geklärt und ausgebildet ist; und geradezu als das Hauptergebnis der Schrift dürfen wir wohl den Nachweis betrachten, daß die Haltung des Sozialismus zum "politischen Mittel" des Staates teils in sich widerspruchsvoll ist, teils zum ökonomischen Ziele in Widerspruch steht.

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Im einzelnen ergeben sich für unseren Autor die Probleme: Ob der Staat grundSätzlich bejaht oder verneint werde; ob der Staat eine bloße Übergangserscheinung oder eine endgültige Organisationsform sei, schließlich welche die der sozialistischen Gesellschaftsordnung adäquate Staats- und Regierungsform sei. Und er beantwortet diese Fragen in eindringlicher Auseinandersetzung mit der politischen Literatur des Sozialismus, beginnend bei der ersten Programmschrift des wissenschaftlichen Sozialismus, dem kommunistischen Manifest, bis zu den programmatischen Schriften des russischen Kommunismus. Das kommunistische Manifest bezeichnet vielleicht das staatsfeindlichste Stadium der politischen Theorie des modernen Sozialismus. Das liegt ganz im Geiste dieser zugleich revolutionärsten Schrift sozialistischer Theoretiker. Ein klarer Nachweis, daß späterhin Marx und der Marxismus seine Haltung zum Staate revidiert habe, ist angesichts der wechselnden Terminologie und der schillernden Begriffe schwer zu führen. Es ist ein besonderes Verdienst des Buches Kelsens, daß er es im einzelnen verfolgt und aufdeckt, wie die sozialistische Literatur zwischen der Charakterisierung der sozialistischen Organisationsform als Staat (der begriffsnotwendig ein Zwangsstaat) ist und der (freien, herrschaftslosen) Gesellschaft unaufhörlich schwankt und eine eindeutige Erklärung vermeidet. Nur die Ansicht, daß das nächste politische Ziel des Sozialismus, der sozialistische Zukunftsstaat, eine autoritäre Organisationsform sein werde, tritt aus der sozialistischen Literatur annähernd eindeutig hervor, während über die ferneren politischen Ziele zwischen den einzelnen Theoretikern des Sozialismus und zwischen den einzelnen Schriften dieser Theoretiker mehr oder minder weit gehende Abweichungen bestehen. Die deutsche sozialdemokratische Parteidoktrin hat, wie Kelsen an der Hand zahlreicher Belege feststellt, trotz der entschieden ablehnenden Haltung zum kapitalistisch-monarchistisch-militaristischen Gegenwartsstaat mit dem Staate schlechthin sozusagen "Frieden gemacht" . Die verschiedene Haltung zum Staate ist es im Grunde auch, die Mehrheitssozialisten und Unabhängige gespalten hat. - Unter den österreichischen Sozialdemokraten verneint z.B. Danneberg den Staat, indem er die Frage, ob es in der sozialistischen Gesellschaftsordnung überhaupt einen Staat geben werde, dahin beantwortet, daß mit der Befreiung aus der Lohnknechtschaft die Ausbeutung und damit der Staat selbst aufgehoben sein werde. Hingegen

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nimmt Karl Renner keinen Anstand zu erklären: "Die Ökonomie dient immer ausschließlicher der Kapitalistenklasse, der Staat immer vorwiegender dem Proletariat." und er verkündet: "Der Staat wird der Hebel des Sozialismus werden." Das ist die denkbar offenste Bejahung des Staates, selbst noch des kapitalistischen Staates, dessen plötzliche unvermittelte Umkehr zum Sozialismus Renner offenbar nicht für möglich halten will, den er vielmehr heute schon schrittweise in den Sozialismus hineinwachsen sieht. Uneingeschränkt hat sich die Institution des Staates die Theorie und Praxis des modemen Kommunismus zu eigen gemacht. Lenin und Bucharin, die Wortführer des Bolschewismus, geben offen zu, den mit altüberkommenen Zwangsmethoden funktionierenden staatlichen Zwangsapparat zur Niederwerfung und Niederhaltung der Bourgeoisie nicht entbehren zu können. Für die weitere Zukunft, über deren Termin man allerdings vorsichtigerweise keine Prognosen wagt, stellt aber auch der Bolschewismus, schon um sich gegenüber der in seinen Augen sozialverräterischen Sozialdemokratie als orthodoxer Marxismus gehaben zu können, den staatslosen Zustand in Aussicht. Dieser kommt freilich wie ein deus ex machina und trifft merkwürdigerweise - darin ist eben der Gegensatz zwischen der ökonomischen und politischen Theorie des Sozialismus gelegen - mit einem Gesellschaftszustand zusammen, wo die Normalisierung und Bürokratisierung, kurz die "Verstaatlichung" des Wirtschaftslebens auf die Spitze getrieben ist. Über die Frage, wieso dieser staatslose Zustand komme, hilft sich die bolschewistische Theorie mit Phrasen, wie Anpassung und Gewöhnung an den neuen Gesellschaftszustand, hinweg. Die staatliche Verwaltung werde sich just in der Zeit der vergesellschafteten planmäßigen Produktion dermaßen vereinfachen, daß sie sich in einem "Kontrollieren" und "Registrieren" erschöpfen könne. Just unter der Herrschaft des bolschewistischen Staates werden auch die in einer Klasse geeinten, das bedeutet zugleich klassenlosen Menschen, die Gerichte wie überhaupt alle Herrschaftsäußerungen des Staates und damit den Staat selbst überflüssig machen. In der Frage der besten Staatsform (naturgemäß nur für den Übergangsstaat) hat, wie insbesondere auch Kelsen dogmengeschichtlich nachweist, der Neokommunismus den klassischen Marxismus entscheidend revidiert, wiewohl er selbst insoweit, namentlich durch Umdeutung des Begriffes der Diktatur, den Schein der Orthodoxie bewahren will. An Stelle der demokra-

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tischen Staatsform, die im Sinne des Marxismus jedenfalls eine mögliche Staatsform des sozialistischen Zukunfts- oder Übergangs staates ist und die der deutschen sozialdemokratischen Parteidoktrin so kongenial ist, daß sie ihr geradezu als die einzige denkbare Staatsform nach dem Siege der sozialen Revolution erscheint, tritt nunmehr die aristokratische oder autokratische, jedenfalls eine nichtparlamentarische Staatsform - als politische Realität im kommunistischen Rußland, dessen Beherrscher konsequenterweise nunmehr auch den Namen Sozialdemokraten abgelegt haben, als politisches Ideal für die radikalen Gruppen der Sozialdemokratie im übrigen Europa. Diese Wendung der politischen Theorie des Sozialismus entspringt einer geradezu tragischen Situation der sozialdemokratischen Bewegung: Entgegen seiner gewissen Erwartung mußte nämlich der Sozialismus gerade an der Schwelle der politischen Macht die Erfahrung machen, daß er in keinem der fraglichen Staaten über die Mehrheit der Bevölkerung verfüge, hie und da sogar von der Mehrheit hoffnungslos weit entfernt sei. So stellt sich das autokratische Sowjetsystem als das Eingeständnis der Tatsache dar, daß im agrarischen Rußland der Sozialismus auf absehbare Zeit nicht gewärtigen kann, mit demokratischen Methoden zum Ziel zu gelangen. Und so ist, wenn man die Feststellungen Kelsens anwendet, die Spaltung der Mehrheitssozialisten und Unabhängigen, wie überhaupt die Spaltung zwischen Gemäßigten und Radikalen zum Teile als Parteiung zwischen Optimisten und Pessimisten zu verstehen, von denen diese selbst in industriellen Ländern an der Erreichung der parlamentarischen Mehrheit, an der Eroberung der politischen Macht durch demokratische Methoden für immer oder wenigstens auf absehbare Zukunft verzweifeln, während sich jene, soweit sie Sozialisten geblieben sind, diese Hoffnung bewahrt haben und einem Wandel des politischen Programmes ein weiteres unbestimmtes Zuwarten auf die Stunde des Sozialismus vorziehen. Wer die schier unerschöpfliche Schrift Hans Kelsens liest, wird dem Verständnis der sozialistischen Bewegung, ihres Sieges und ihrer Krise um vieles näher kommen. Man darf gespannt sein, ob und wie diese würdevolle und wohlwollende Kritik an der politischen Theorie des Sozialismus aus dem sozialistischen Lager würdige und erschöpfende Erwiderung finden wird.

Rezension von:

Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922 Es mag in rechtswissenschaftlichen und politischen Kreisen des Deutschen Reiches nicht wenig Aufsehen verursacht haben, daß ein Österreicher, und zwar ein Wiener Staatsrechtslehrer, "dem deutschen Volk zum dritten Jahrestag seiner Verfassung" - wie es auf einem Widmungsblatte des hier angezeigten Buches heißt - die erste große rechtspolitische Würdigung des Weimarer Verfassungswerkes gewidmet hat. Diese Zueignung würde gewiß nicht mißverstanden werden, wenn in ihr die deutsche Leserwelt den Ausdruck des lebendigen Wunsches - nicht gerade und nicht allein des Verfassers, sondern überhaupt der in diesem Falle von ihm repräsentierten intellektuellen Welt Deutschösterreichs - erblickte, diese Verfassung, dieses Reich, lieber heute als morgen sein Vaterland nennen zu können. Nur vorahnendes Sicheinsfühlen führt zu solcher Einfühlung in eine formell doch fremde Staatlichkeit und Rechtsordnung. Wer sich mit dem politischen Gehalt der geltenden Verfassung des Deutschen Reiches, mit den politischen Ideologien, die zu ihr in dieser ihrer Fassung geführt haben und von ihr ausgegangen sind, vertraut machen will, darf nicht nur - der Vollständigkeit halber - an diesem Buche nicht vorübergehen, sondern wird gerade in ihm den zuverlässigsten Führer finden. Damit ist allerdings bereits eine Qualifikation des Buches vorgenommen, die der Verfasser vermutlich nicht gelten lassen möchte: die Qualifikation des Buches als vorwiegend politische, erst in zweiter Linie juristische Schrift, die bei diesem Methodensynkretismus ihre juristischen Erkenntnisse notwendig in politischer Richtung desorientiert. Was ich als methodischen Mangel feststellen muß, der vielleicht allem staatsrechtlichen Schrifttum anhaftet, möchte der Verfasser freilich, insoweit aus der Not eine Tugend machend, als besonderen Vorzug angesehen wissen. Die kunstvolle Zeitschrift für Verwaltung, 55. Jg. (1922), S. 55-60.

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Kombination von juristischer und politischer Betrachtung dürfte Wittmayer, der gelegentlich in meinen Aufstellungen "Auswüchse einer extrem-formalistischen oder formal-normativen Richtung" erblickt und an ihnen "Widersprüche mit aller Wirklichkeit" kritisiert (S. 15), nicht bloß als die Krone, sondern geradezu als Kern und Wesen "wirklichkeitsgetreuer" staatsrechtlicher Forschung beurteilen. Mit dieser Einschränkung muß ich, der ich angesichts solcher Kritik gewiß nicht dem Verdacht einer favorablen Befangenheit zugunsten meines Kritikers ausgesetzt bin, seine vorliegende literarische Leistung als Meisterleistung politischen Schrifttums anerkennen, und zwar ohne daß ich den Vorwurf "maßloser Überschätzung der rechtlichen Fundierung des Staats" als Vorwurf maßloser Unterschätzung und den Vorwurf "sophistischer", will sagen: juristischer, Zuspitzung mit dem Vorwurf politischer Abplattung der Probleme zurückgeben möchte. Die Wege, einerseits der auf die Erfassung der rechtlichen Forderung, und nur ihrer, abgestellten, auch von Wittmayer so genannten Wiener - genauer müßte er sagen: Kelsenschen - Schule, die er augenscheinlich in mir bekämpftwomit er mir freilich zuviel Ehre antut - und der die politische Forderung samt der ganzen Wirklichkeit des Staatslebens festhaltenden publizistischen Forschung andererseits, sind durch Weltanschauungsgegensatz so tief geschieden, daß es müßig, ja sinnlos wäre, über sie zu rechten. Ich bin, im Gegensatz zu den Spöttern des Formalismus, so tolerant, auch jenen Weg eines gewissen Materialismus für gangbar, ja für notwendig zu erachten, nur scheint mir freilich der Gegensatz der Methode einen Unterschied im Gegenstand der Erkenntnis zu bedingen, der mir mit hergebrachten Terminis - ohne daß ich einen terminologischen Streit heraufbeschwören möchte - am zweckmäßigsten eben als Gegensatz zwischen juristischer und politischer Erkenntnis bezeichnet zu werden scheint. Naturgemäß steht Wittmayer gerade der juristischen Richtung, die solchen Methodensynkretismus am entschiedensten und konsequentesten ablehnt, nämlich der Rechtstheorie Hans Kelsens, in scharfer Gegnerschaft gegenüber, eine Gegnerschaft, die denn auch an den verschiedensten Stellen, wenn auch meist in sublimierter Form, in Erscheinung tritt. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit dem inhaltsreichen Werke würde weit den zugemessenen Raum überschreiten; es kommt daher nur die Beleuchtung einzelner Partien des Buches in Frage. Auch dem Verfasser ist es nicht um eine erschöpfende Darstellung und gleichmäßige systematische Durchdringung seines Gegenstandes zu tun, sondern er gruppiert in Vortrag-

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fonn den ihn interessierenden Stoff in neun (durch die doppelte Zählung eines Problem gelangt Wittmayer zur Zehnzahl) in sich abgeschlossene Problemkreise: I. Die neue Reichsveifassung als QueUe geschriebenen Veifassungsrechtes, 2. Die Demokratie als Grundprinzip des Veifassungsrechtes, 3. Das Reich als Staat, 4. Die liinder und das Reich, 5. Die preußisch-deutsche Frage, 6. Parlamentarismus und Reichstag, 7. Reichsregierung und Staatspräsident, 8. Die anderen Gegenspieler des Parlaments im einzelnen, 9. Die Reichsgesetzgebung und ihr Weg. An der Spitze des Werkes wird das Problem der Kontinuität oder Diskontinuität der Reichsverfassung in juristisch korrekter Weise gestellt und in zutreffender Weise gelöst. Der revolutionäre Bruch mit der Vergangenheit ist dem Verfasser Erkenntnisgrund der Diskontinuität und damit der These, daß die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 "die ausschließliche Grundlage, Ausgangspunkt oder Quelle der Rechtsordnung bedeutet" (S.2).1 Hiebei handelt es sich, was vielleicht nicht deutlich genug zum Ausdrucke kommt, nicht um Diskontinuität im Verhältnis zu der unmittelbar dem Weimarer Verfassungswerke vorausgegangenen verfassungsrechtlichen Vergangenheit - in dieser Zwischenzeit wurde nach dem wohl nicht ganz passenden Bilde unseres Verfassers "einigennaßen darauf gesehen, daß ein Regime dem anderen die Türklinke in die Hand drückt," - sondern um eine Diskontinuität im Verhältnis zur vorrevolutionären Vorvergangenheit. Die Gründe, die der Autor für diese von ihm treffend eingesehene Diskontinuität ins Treffen führt, sind allerdings nicht alle einwandfrei. So spricht der Satz "Kontinuität im fonnal-rechtlichen Sinne bleibt nun einmal mit der unleugbaren Unterbrechung der Rechtsordnung unvereinbar" (S. 6) - eine offenbare petitio principii oder eine Tautologie aus, und daß das vorrevolutionäre System "für jeden, der nicht aller Wirklichkeit zum Trotz an der Unverbrüchlichkeit der alten Ordnung festhalten will, ... mit dem tatsächlichen Wegfall des deutschen Kaisertums, der deutschen Dynastien und Für die Verfassung der Republik Österreich im Verhältnis zu der Verfassung des konstitutionellen Österreich habe ich die Frage in meinem Buche "Die Verfassung der Republik Deutschösterreich" in demselben Sinne beantwortet und halte diese Ansicht auch in meinem demnächst erscheinenden Buche "Das Verfassungsrecht der österreichischen Republik" (Verlag Franz Deuticke, Wien), gegenüber neueren Anfechtungen dieser Auffassung aufrecht. - In dieser neuen Publikation nehme ich auch Gelegenheit, auf manche Streiflichter, die Wittmayer in seinem Werke über die Weimarer Verfassung auf die österreichische Bundesverfassung geworfen hat, zu reagieren.

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sonstigen Voraussetzungen, auf denen der Bau des früheren Reiches beruhte, als erledigt angesehen werden" (S. 7) müsse, ist desgleichen kein Beweis, sondern bestenfalls eine Paraphrase des Beweisgegenstandes, wenn nicht ein Mißverständnis. Nicht auf diese oder irgend welche sonstigen noch so augenfalligen "Tatsachen", sondern lediglich darauf kommt es an, daß die Weimarer Verfassung weder mittelbar, noch auch unmittelbar aus der Bismarksehen Verfassung logisch ableitbar ist, und zwar deshalb unableitbar ist, weil die in dieser Verfassung aufgestellten Bedingungen der Verfassungsänderung seit den Novembertagen 1918 bewußt und absichtlich mißachtet worden sind. (Darin liegt überhaupt der Verfassungsbruch einer zugleich eine neue Verfassung begründenden Revolution.) Treffend verwendet hingegen der Verfasser in seiner Argumentation den (gelegentlich auch von mir ausgesprochenen) Gedanken, daß die Rezeption des alten Rechtes, die selbstverständlich auch im Deutschen Reiche im weitesten Umfange vorgenommen werden mußte, eher ein Symptom der (formellen) Diskontinuität als der Kontinuität ist, obwohl sie ja begriffsnotwendig gerade materielle Kontinuität herstellt (S. 8, 12). Bei dieser Haltung des Verfassers zum Problem der Kontinuität des Rechtes ist seine Haltung zum verwandten, wenn nicht identischen Probleme der Identität des Staates, das er im Grunde im entgegengesetzten Sinne löst - entgegengesetzt auch meinem gelegentlichen Lösungsversuche -, geradezu überraschend. Wenn man - wie ich es prinzipiell ausgesprochen habe 2 - die Integrität der Verfassung über die Staatsidentität entscheiden läßt, so nennt dies derselbe Verfasser, für den die Integrität der Verfassung augenscheinlich Voraussetzung der Kontinuität der Rechtsordnung ist, den "Auswuchs einer extrem-formalistischen oder formal-normativen Richtung", eine "maßlose Überschätzung der rechtlichen Fundierung des Staates ... , die sich wie eine sophistische Zuspitzung einer politisch orientierten gelegentlichen Übertreibung des alten Aristoteles ausnimmt". (S. 15 f.) Zur Rechtfertigung dieser Epitheta omantia wird der derart charakterisierten Theorie lediglich "Widerspruch mit aller Wirklichkeit" vorgewotfen - ein Vorwutf, der für eine Theorie im allgemeinen erträglich ist und eher ihrem Kritiker zur Last fällt, zumal, falls unter dieser nicht näher deklarierten Wirklichkeit nichts als die beweisbedürftige Behauptung zu verstehen wäre,

2 Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, S. 2 ff.

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daß die von der anderen Seite behauptete Staatenmehrheit in "Wirklichkeit" eine Staateneinheit sei. Mit dieser prinzipiellen Ablehnung meiner These, daß Diskontinuität des Rechtes Identität des Staates ausschließe - einer These, die übrigens denknotwendige Konsequenz der von Hans Kelsen vorgenommenen Kongruenzierung und späteren Identifizierung von Staat und Recht3 ist -, kann ich mich aber um so eher abfinden, als Wittmayer überraschenderweise in dem konkreten Falle, der ihm zu jener prinzipiellen Stellungnahme Anlaß bot, zu einem seiner allgemeinen Feststellung, daß Staatsidentität mit Diskontinuität der Rechtsordnung "an und für sich" vereinbar sei (S. 15), widersprechenden Ergebnis gelangt. Wittmayer wendet schon gegen die Behauptung des Reichsministers Preuß, daß das "Reich als solches" fortbestehe, daß es "ganz selbstverständlich dasselbe Rechtssubjekt mit geänderter Verfassung" sei, in treffender Kritik ein, daß das wohl nicht so selbstverständlich sei (S. 15, Anmerkung 32) und gibt sodann dem "Eindruck" Ausdruck, "als ob das Unwahrscheinliche hier (d.h. im Falle des neuen Deutschen Reiches) gleichwohl Ereignis, die Diskontinuität der Rechtsordnung zur Geburtsstunde eines neuen Staates werden sollte". (S. 16) Es ist dies, wie man sieht, ganz mein Standpunkt, auf den hier der Verfasser gelangt, nur mit dem Unterschiede, daß dieses Ergebnis, vom Ausgangspunkte unseres Autors aus gesehen, mit seinen eigenen Worten

ausgedrückt, als Un'vvahrscheinlichkeit erscheint, \väh.rend es bei mir als

selbstverständliche Konsequenz eines allgemeinen Prinzips auftritt. Aus welchem Grunde soll aber das neue mit dem alten Reiche nicht identisch sein, wenn nicht schon infolge der durch die Revolution bedingten Diskontinuität des Rechtes? Wittmayer rekurriert an "die augenfällige Inkommensurabilität der alten und neuen Reichsverfassung" und meint, "nicht so sehr auf den Wechsel der Staatsfonn als solcher kommt es hier an, sondern auf das mitbedingte, stark geänderte Reichsgefüge". (S. 16) Das frühere Deutsche Reich sei ein "ewiger Bund" seiner Fürsten und wenigen Stadtrepubliken gewesen, das heutige sei ein wirklicher Staat, in dem - nach den Worten Kahls - eine souveräne gesetzgeberische Versammlung über die Verfassung entscheidet. Nach Wittmayer bedingt also nicht schon eine revolutionär entstandene neue Verfassung, sondern ein qualifizierter Inhalt dieser Verfassung den Mangel der Identität der fraglichen Staaten. Der inhaltliche Abstand zwischen der Bismarckschen und Weimarer Verfassung erscheint 3 Vgl. dieses neueste Werk Hans Kelsens "Über den soziologischen und juristischen Staatsbegriff' , Tübingen, Mohr, 1922.

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unserem Autor groß genug, um sie als "rechtliche Zentren der Rechtsetzung" zweier verschiedener Staats gebilde annehmen zu können. Meines Erachtens erlaubt hingegen niemals ein auch noch so großer inhaltlicher Unterschied zweier Verfassungen, insbesondere der Wechsel der Staatsfonn, aber auch jeder sonstige Unterschied zwischen alter und neuer Reichsverfassung nicht, diese Verfassungen zwei verschiedenen Reichen oder richtiger, diesen Verfassungen zwei verschiedene Reiche zuzurechnen, sondern ergibt sich diese logische Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit ausschließlich aus der Tatsache des revolutionären Risses zwischen den bei den Rechtsordnungen. Auf die folgenden Partien des Werkes kann selbstverständlich nicht annähernd mit der bisherigen Einläßlichkeit eingegangen werden, sondern es mögen und müssen einige Hinweise genügen. Im Abschnitt über "Verfassung und Friedensvertrag" nimmt der Verfasser zur österreichischen Frage Stellung, die mit dem Artikel 61, Absatz 2 (wonach Deutschösterreich nach seinem Anschluß das Recht der Teilnahme am Reichsrat und bis dahin beratende Stimme im Reichsrat hat) in die deutsche Reichsverfassung getragen wurde. Sehr richtig stellt der Verfasser fest, daß die (von der Entente erpreßte) "Ungültig" -Erklärung dieser Bestimmung durch die deutsche Regierung mitsamt der Zustimmung der Nationalversammlung staatsrechtlich unfähig war, "an der Rechtslage irgend eine Änderung herbeizuführen". (S. 23) Den "demütigenden Beigeschmack", den der Autor an dieser Erklärung findet, kann ich allerdings nicht teilen, vielmehr erscheint sie mir gerade wegen ihrer rechtsunwirksamen Fonn der taktisch geschickteste Ausweg aus der politischen Schwierigkeit. Zu den ansprechendsten Partien des Werkes gehört das Kapitel über die Demokratie als Grundprinzip des Verfassungsrechtes, wiewohl mir auch hier vielleicht gerade der als Vorzug anzusehende persönliche Charakterzug der Ausführungen es unmöglich macht, mich mit ihnen schlechthin zu identifizieren. Bemerkt sei nur so viel, daß der Verfasser mit einem so rigorosen und exklusiven Begriffe oder Idealtypus der Demokratie operiert, daß Staaten und Einrichtungen, die man an der Hand des hergebrachten Begriffes schwerlich als adernokratisch qualifizieren kann, eine Disqualifikation vom Standpunkte der Demokratie aus erleiden müßten. Wittmayer scheint z.B. demokratische Monarchien nicht als möglich gelten lassen zu

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wollen. Ebenso, wie es mir zu weit zu gehen scheint, die Demokratie ausschließlich für die Republik zu reklamieren, wiewohl ich zugebe, daß sich Monarchie und Demokratie nicht leicht verbinden, scheint mir z.B. auch die Wahl aller Organe als Wesenszug der Demokratie zu viel verlangt. Derlei Verengungen - fast ist man auch versucht zu sagen: Verrenkungen des Demokratiebegriffes werden der charakteristischesten Eigenschaft der Demokratie nicht gerecht, die gerade darin besteht, daß sie variationsfahigste und relativistischeste Staatsform ist. Für Leser dieser Zeitschrift mag der in diesem Rahmen eingefügte Abschnitt über die "Demokratisierung der Staatsverwaltung als Aufgabe", im besonderen mit seinen Ausführungen zum Beamtenproblem, von vorzugsweisem Interesse sein. Den Kern des Werkes stellen die umfangreichen Kapitel über "Das Reich als Staat" sowie "Die Länder und das Reich" dar. Hier wird uns eine juristische und politische Totalansicht des neuen deutschen Reichsgebäudes vorgezeichnet, die auch nur oberflächlich nachzuzeichnen, den Rahmen einer Besprechung weitaus übersteigen würde. Das neue Reich ersteht dem geistigen Auge an seinem rechtlichen Gegensatze zum alten Reiche, der sicher tief genug ist, wenn er auch nicht der ist zwischen Staat und Nichtstaat, genauer zwischen Bundesstaat und Staatenbund, wie Wittmayer eindringlich, aber doch nicht jedermann überzeugend, beweisen mächte. Und wäre auch erwiesen, daß das alte Reich besser unter die hergebrachte Kategorie des Staatenbundes als des Bundesstaates passe - es wäre dennoch Staat, der sich nur durch den Grad, einen freilich hohen Grad an Dezentralisation vom heutigen zentralisierenden Bundesstaate unterschiede. 4 - Bei Wittmayer widerfährt der gerade im intellektuellen Österreich mit nicht wenig Antipathie bedachten Staatsform des Bundesstaates, diesem rechtstechnisch bewunderungswürdigen Komprorniß von unitarischer und partikularischer Politik, diesem Produkt einer Synthese von individualistischer und kollektivistischer Staatsgesinnung, verständnisvoll gerechte Würdigung. Es sei nur die eine ironisch-treffsichere Bemerkung zu den nicht selten "unter Beweis gestellten Komparativen und Superlativen von Bundesstaatlichkeit" erwähnt, der blitzlichtartig den Bundesstaat in ungewohnter Weise charakterisiert; denke man, so meint der Verfasser, "diesen Gedanken zu Ende, so käme man etwa zu der paradoxen Formel, daß je mehr Stärke der 4 Die Konstruktion des Staatenbundes als Staat hat schon Kelsen in seinem "Problem der Souveränität" (Tübingen 1920) vollzogen.

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bundesstaatliehe Gedanke in diesem Sinne gewinnt, desto weniger vom Bundesstaate - erübrigen würde, bis er in einem Staatenbunde aufgeht. Hier müßte schließlich der bundesstaatliche Gedanke dem Bundesstaat ans Leben gehen, was offenbar nicht gemeint sein kann, wenn man den Bundesstaat als Rechtsbegriff retten will" (S. 149). Wenn man des weiteren in Betracht zieht, daß gleicherweise wie eine Potenzierung der partikularistischen Anlagen des Bundesstaates, so auch eine Potenzierung der zentralistischen Elemente ihn unfehlbar denaturieren würde, so erweist sich auch unter diesem doppelten Gesichtspunkte der oben festgestellte, zwischen zwei Extremen vermittelnde Charakter der bundes staatlichen Staatsform, seine Eignung, in der Vielheit die Einheit herzustellen, die den Bundesstaat gerade dem Deutschen kongenial erscheinen läßt. Das nächste Kapitel zeigt, wie die preußisch-deutsche Frage - diese rechtstechnische crux des deutschen Bundesstaatsproblems - in der Weimarer Verfassung ungelöst geblieben, aber in solcher Weise umgangen ist, daß ihr sozusagen an zwei Seiten die Spitzen abgebrochen sind. Das Kapitel "Parlamentarismus und Reichsrat" bringt eine Reihe grundsätzlicher, zum Teil überaus feiner, aber durchaus nicht immer unanfechtbarer Bemerkungen zum Probleme des Parlamentarismus, führt sodann den Reichstag als das dominierende Organ nicht bloß im Rahmen des parlamentarischen Organismus, sondern der ganzen Staatsorganisation vor und zieht bereits seine Konkurrenzierung durch den Reichsrat in Betracht, die allerdings das Einkammersystem nicht schlechthin aufhebe. In den beiden folgenden Kapiteln werden die "Gegenspieler" des Parlaments, die Reichsregierung und der Reichspräsident, der Reichsrat, der Reichswirtschaftsrat und die Stimmberechtigten als oberstes Reichsorgan im einzelnen in Betracht gezogen. Das Schlußkapitel behandelt das Verfahren der Reichsgesetzgebung, das Verhältnis von Gesetz und Verordnung und endlich die richterliche Überprüfbarkeit von Reichsgesetzen. Was diesen letzten Punkt betrifft, kann ich, wiewohl ich gewiß nicht geflissentlich und ungerne abschließend tadle, nicht umhin festzustellen, daß der Verfasser der grundSätzlichen Bedeutung des Problems einer Rechtskontrolle der Gesetzgebung (wie sich z.B. in dem Bericht Dr. Seipis an die österreichische Nationalversammlung über den

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Entwurf des Bundes-Verfassungsgesetzes - Nr. 991 der Beilagen zum stenographischen Protokoll aus 1920 - in vorbildlicher Weise unterstrichen findet), nichts weniger als gerecht wird, wenn er es in witzig gemeinter, aber nicht witzig wirkender Wendung als Beispiel der "unserer Nation sonst in Unterrichts sachen eigenen Prüfungswut" abtut (S. 457); zumal die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit als unifizierende Klammer der dualistischen Konstruktion eines Bundesstaates - wie sie gleichfalls in jenem parlamentarischen Berichte vorgezeichnet ist - wird von unserem Autor nicht bloß verkleinert, sondern im Grunde völlig verkannt, wenn ihm hiebei "die richterliche Gewalt in Gestalt eines hohen Sondergerichts" als "tertius gaudens" erscheint (S. 465). Es soll schließlich, wie ungewöhnlich auch eine solche Feststellung einem wissenschaftlichen Werke gegenüber sein mag, nicht unerwähnt bleiben, daß der Ausdruck, gerade dort, wo er sich zu steigern bemüht, nicht selten in auffälliger Weise dem Gegenstande unangemessen wird. Treffenden Bemerkungen, wie etwa der, daß der Deutsche ohne geeichte bidimensionale Doppelstaatlichkeit nicht sein könne, halten verunglückte Wendungen die Waagschale. Es ist z.B. ein in mehr als einer Beziehung verfehltes Bild, wenn das lange unpolitische Vorleben in Deutschland - just als englische Krankheit diagnostiziert wird, und auch die "Inkubationszeit politischer Schrullen" ist eher - Schrulle als Bild. Wenn wir an anderer Stelle lesen, der Herrscherwille hinterlasse in Form des Einspruches Fingerabdrücke, so muß man sagen, daß in den meist durchgeistigten Gedankengang manchmal, wenn schon nicht wie vorhin das Krankhafte, so doch das Körperhafte fast unheimlich hereinragt. Wenn Wittmayer des weiteren sich die kalte Teufelsfaust der Gesetzeskraft entgegenrecken sieht und sogar, wenn auch nur als "ungeheuerliche Fiktion", die Vorstellung vollzieht, "als ob die alte Verfassung bis dahin auf Eis hätte gehalten werden können oder aufgebahrt geblieben wäre", so ist diese Phantasie wiederum eher unheimlich als üppig zu nennen. Soll mit solcher Ausdrucksweise der Text belebt werden, so darf der Kritiker dem Autor bezeugen, daß ein Werk von solchem Geist nicht nötig hat, mit solchen Mittel geistreich zu scheinen. Ganz zum Schlusse darf eine Tatsache festgestellt werden, die meiner Überzeugung nach dem Werke Wittmayers sehr zur Ehre gereicht. Bei seinem politischen Grundcharakter und bei der Fülle politischer Werturteile, die im einzelnen gefällt werden, konnte das Werk an der entscheidenden 4A.J.Merkl

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Frage, ob das alte oder neue Reich den Vorzug verdiene, nicht vorbeigehen. An allen Stellen nun, wo diese Frage anklingt, findet sich zum Unterschied von dem sonstigen vielen Für und Wider, Einerseits und Anderseits, eine unzweideutige Parteinahme für die demokratische Republik. Wittmayers Werk empfiehlt sich durch dieses Bekenntnis um so mehr, als dieses Bekenntnis in weiten Kreisen deutscher Intellektueller leider sozusagen noch keine Empfehlung ist.

Das Kriterium von Republik und Monarchie Es sind nun schon mehr als drei Jahrzehnte verstrichen, seit Edmund Bernatzik mit seinem akademischen Antrittsvortrag über Monarchie und Republik an der Basler Universität in seiner impetuosen Art neues Leben in die Jahrtausende alte Lehre von Republik und Monarchie gebracht hat. Die neue Lehre, die in der erwähnten kurzen Rede und einer die Rede etwas ausführlicher wiedergebenden Schrift! verkörpert war, hatte freilich den Widerstand einer ungewurzelten und eingealterten Theorie zu überwinden, deren Lehrgebäude mit einem einzigen Angriff wohl zu erschüttern, aber nicht zum Einsturz zu bringen war. Die alte Staatsformenlehre wurde zwar durch Bernatziks Angriff wie aus einem Winterschlafe aufgerüttelt, aber sie ist nochmals eingeschlafen. Wir dürfen so im Bilde sprechen, weil das Ziffernspiel, das sich als juristische Theorie der Staatsformen ausgibt, noch immer nicht beendet, weil die Theorie, wonach die Zahl der Herrscher Kriterium der republikanischen oder monarchischen Staatsform ist, nach jahrtausendlanger, fast unangefochtener Herrschaft, selbst nach der entschiedenen Anzweifelung von Seite Edmund Bernatziks, noch immer nicht erledigt ist. Freilich regen sich seit Bernatzik auch noch andere abweichende Meinungen. Im Ausdruck wenigstens steht ein so maßgebender Vertreter der deutschen Staatsrechtswissenschaft wie Georg Jellinek der erwähnten Zahlentheorie ganz deutlich fern. Sein Kriterium der Republik und Monarchie ist, wie noch zu zeigen sein wird, nicht der Zahl der Herrscher, sondern, wie bei Bernatzik, der Qualität der Herrschaft entnommen; nur freilich ist für Zeitschrift für Verwaltung, 56. Jg. (1923), S. 63-82. Der vorliegende Aufsatz, der kurz nach dem Umsturz entstanden ist, will in seiner auf einen knappen Zeitschriftartikel zusammengedrängten Gestalt nur andeutender Vorläufer einer umfassenden Behandlung dieses Themas sein. I Republik und Monarchie. Tübingen, Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), I. Auf!. 1891, 2. Auf!. 1919. 4*

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lellinek eine andere Herrschaftsqualität kennzeichnend als für Bernatzik. In der Sache läuft aber auch lellineks neue Theorie von Republik und Monarchie auf die alte Ziffernlehre zurück und so ist Bernatziks Lehre so ziemlich vereinzelt geblieben. Ihr Schicksal war fast durchaus Nichtbeachtung und - Mangel an Kritik, obwohl sie sehr Beachtung verdient und stark zur Kritik herausgefordert hätte. In diesem Zustand wurde die Wissenschaft von der Wirklichkeit angetroffen, die im Gefolge des Weltkrieges das weltpolitische Gleichgewicht zwischen Republik und Monarchie gewaltig erschüttert und beträchtlich verschoben hat. Mit dem Umsturz der staatlichen Organisation in Mittelund Osteuropa, mit der Aufrichtung eines bunten Baues neuer Republiken auf dem Boden alter Monarchien wurde das monarchische Prinzip zwar noch lange nicht aus seinen letzten, wohl aber aus seinenJestesten Bastionen vertrieben und das republikanische Prinzip durch den Zuwachs zahlreicher typischer Republiken in seiner Weltstellung ansehnlich gestärkt. Was an monarchischen Staaten die Nachkriegsstürme überstanden hat, sind doch gerade nicht die stärksten und typischesten, sondern zum guten Teil verwässerte, gewissermaßen republikanisierte Monarchien, mehr oder weniger Grenzfälle des monarchischen Gedankens nächst dem Bereiche der Republik. Mit einem Male hat somit die weltgeschichtliche Erfahrung nach einer langen Periode der Stabilität das Problem der Monarchie und Republik, das so alt ist wie der geschichtliche Gegensatz von Monarchie und Republik, von neuem aktuell gemacht. Man kann aber nicht sagen, daß damit auch die bisherige Lehre von Monarchie und Republik in ihrem eingangs skizzierten Zustande, unvorbereitet wie sie war, eine Renaissance erfahren hat. Unmittelbar nach dem Umsturz, unmittelbar vor seinem Tode hat noch Bernatzik eine Neuauflage seines zitierten Schriftchens vorbereitet, und das war m.E. immerhin noch das Beste, was auf deutschem Boden fürs erste zur theoretischen Meisterung der ungewohnten staatlichen Praxis beigesteuert wurde. Die angedeutete mangelhafte theoretische Rüstung für die Gegenwart äußerte sich bei den Deutschen überdies noch darin, daß, soweit die Staatsform Gegenstand juristischer Erkenntnis war, infolge der - wenn man von

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den deutschen Schweizern absieht - viele Jahrhunderte alten monarchischen Tradition die monarchische Staatsform im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses gestanden war. Die rechtswissenschaftliehe Vernachlässigung der republikanischen Staatsform war gewiß der verzeihlichste Fall monarchistischer Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre? In der Fülle des Neuen fand aber auch in der Folge das unerwartet aktuell gewordene Problem von Republik und Monarchie nicht gebührende Beachtung. Soweit die neue Staatsform Gegenstand der Betrachtung wurde, drängte sich vor allem der demokratische Charakter der Betrachtung auf, und man übersah beinahe, daß die neuen Staaten und damit alle Staaten, in denen heute das deutsche Volk organisiert ist, nicht bloß Demokratien, sondern zugleich auch Republiken sind. Wodurch unterscheidet sich die Republik begrifflich - für die juristische Betrachtung - von der Monarchie? Das ist die m.E. noch immer ungelöste Frage. Fast jeder erwartet als Antwort die Aufzeigung eines tiefgreifenden rechtlichen Unterschiedes der beiden - für die politische Betrachtung immerhin viel deutlicher geschiedenen - Staatsformen, aber die Antworten, die man regelmäßig erhält, drücken, wie aufzuzeigen sein wird, keinen oder keinen entscheidenden Unterschied aus. Republik und Monarchie sind nach herrschender Auffassung zwei Typen von Staatsformen, nach denen man alle bestehenden und denkbaren Staaten reinlich sondern kann, zwei Typen, die einander unbedingt ausschließen, während zwischen anderen staatsformähnlichen Typen, wie z.B. Einheits- und Bundesstaat, Aristokratie und Republik Mischformen und Übergangsgestalten ideal möglich, ja sogar häufig real sein sollen. Was aber bisher meistens an Unterscheidungsmerkmalen behauptet wurde, macht eine reinliche Sonderung der Staaten in Monarchien und Republiken beim besten Willen nicht möglich.

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2 Typische Fälle monarchistischer Befangenheit sind insbesondere die Lehren vom Gesetzesbefehl und vom selbständigen Verordnungsrechte des Monarchen.

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Die älteste und bis in die neueste Zeit herrschende Einteilung der Staaten ist die nach der Zahl der Herrscher. Kennzeichen der Monarchie ist hienach die Einzahl des Herrschers, Kennzeichen der Republik die Mehrzahl der Herrscher. Die verschiedenen Möglichkeiten der "Mehrzahl" führen sodann zu einer Unterteilung der Republik, die aber an dieser Stelle, wo nur die Grenzabscheidung zwischen Monarchie und Republik in Frage steht, nicht weiter von Interesse ist. An sich ist das Kriterium der Zahl ein immerhin mögliches und daher von vornherein nicht von der Hand zu weisendes Einteilungsprinzip. Wer sich der Funktion dieses Einteilungsprinzipes in der Geschichte der Wissenschaft besinnt, kann es schwerlich dem Juristen zum Vorwurf machen, daß auch er sich dieses systematischen Hilfsmittels bedient. Freilich wird gerade die erwähnte Bestimmung an sich schon eine Ermahnung bedeuten, ein juristisches System nicht ohneweiters und ohne Not auf dieses formale, immerhin problematische Kriterium aufzubauen. Die wissenschaftliche Systematik hat sich nämlich - es sei nur an das Linnesche System der Pflanzen erinnert - von dieser Systematisierungsmethode nach Möglichkeit entfernt. Ist aber überhaupt ein derartiges wie das erwähnte Beispiel mit der Zweiteilung der Staatsformen in Monarchien und Republiken in eine Parallele zu bringen? Hinkt nicht der Vergleich, der auf den ersten Blick jenes juristische Verfahren am Beispiele anderer Wissenschaften zu rechtfertigen scheint?

In dem erwähnten Falle der Botanik z.B. ist oder war die Zahl der Staubgefäße der Pflanzen kategorienbildend. In unserem juristischen Falle soll die Zahl der Herrscher für die Kategorie der Staatsform bestimmend sein. Ist aber der Begriff des "Herrschers" eines Staates etwas so deutlich Umrissenes, zweifelsfrei Feststehendes wie der des Staubgefäßes einer Pflanze? Kann man apriori sagen, wie viel Herrscher ein Staat aufweist, oder ergibt sich ein Urteil hierüber erst aposteriori, und zwar nach der Bestimmung der Staatsform eines Staates als Monarchie oder Republik, so daß die Herrscherzahl nicht selbst wieder für die Staatsform bestimmend werden könnte?! Die Theorie, die so unbedenklich mit dem Kriterium der Zahl, genauer der Herrscherzahl operiert, gibt sich über ihre wichtigste Vorfrage keine Rechenschaft - über die Frage nämlich, was oder wer ein Herrscher sei.

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Keinesfalls kann es auf die tatsächliche Herrschaftsübung ankommen, denn dann würde sich z.B. die Monarchie, in der sich der Monarch von irgend welchen unverantwortlichen Personen beherrschen läßt, unversehens in eine Republik verwandeln, und im Gegensatz dazu die Republik, wo zufällig ein einzelner Politiker eine unverkennbare Führerrolle spielt - sei es nur das Perikleische Athen zitiert! - damit zur Monarchie umschlagen. Solche tatsächliche Machtverhältnisse sind überdies außerordentlich wandelbar, augenblicklichen Verschiebungen ausgesetzt und überdies für den Beurteiler, der die Frage: Republik oder Monarchie? beantworten soll, nichts weniger als durchsichtig, so daß nicht nur mit einem ständigen Pendeln des konkreten Staates zwischen monarchischer und republikanischer Staatsform gerechnet werden, sondern es überdies zeitweilig in Schwebe bleiben müßte, ob man es augenblicklich mit einer Republik oder Monarchie zu tun habe. Unbedachte Konsequenzen, die wenigstens eine kleine naheliegende Korrektur unseres Kriteriums bedingen! Wenn überhaupt auf eine Zahl, dann kann es nicht auf die Zahl der (wirklichen) Herrscher, sondern höchstens auf die Zahl der (von Rechts wegen) Herrschaftsberechtigten ankommen. Doch wieder muß man fragen: wer ist als herrschaftsberechtigt anzusehen? In einer Herrschaftsorganisation, wie sie der Staat darstellt, ist es keineswegs, wie vielleicht der Fernstehende annehmen möchte, eine Leichtigkeit, sondern bei näherem Zusehen eine fast unlösbare Schwierigkeit, einen oder mehrere Herrschaftsberechtigte als solche, und zwar als die alleinigen "Herrschenden" namhaft zu machen. Immer wird dieses Verfahren etwas Willkürliches an sich haben, es wäre denn durch das bereits feststehende Urteil in der Frage: Republik oder Monarchie? die Person des Herrschers oder der Herrscher bereits eindeutig festgestellt. Ohne einen solchen - in unserer Lage allerdings, wenn wir einen Zirkel vermeiden wollen, unbrauchbaren - Wegweiser werden wir ratlos sein, wem wir die Herrscherrolle zubilligen sollen, wem nicht. Namentlich darf man sich in dieser Situation nicht durch den zufälligen Herrschertitel eines Organes bestimmen lassen, denn wir wissen ja voraussetzungsgemäß noch nicht, ob wir es mit einer Monarchie oder mit einer Republik zu tun haben. Dem unbefangenen Blick wird sich immer und überall eine Mehrheit von Herrschaftsberechtigten aufdrängen. Streng genommen ist jeder "Berech-

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tigte" "herrschaftsberechtigt". Jedes sogenannte subjektive Recht stellt eine Kompetenz zu herrschen dar. Jedes, auch das untergeordnete Organ, ja geradezu jedes Rechtssubjekt ist in einer mehr oder minder großen Sphäre "Herrscher". Jeder sogenannte Anteil am staatlichen Imperium bedeutet qualifiziert Herrschaftskompetenz. Man muß ein ganz besonderes Qualifikationsmerkmal der Herrschaft suchen und finden, um zu einer brauchbaren Verengerung jenes Kreises der Herrschaftsberechtigten zu gelangen, deren Zahl für die Beurteilung eines Staates als Monarchie oder Republik bestimmend sein soll. Schwerlich aber wird man trotz dieser Verengerung an der Hand des Herrschaftskriteriums zu einer Einteilung der Staaten gelangen, die sich mit der heutigen Unterscheidung zwischen Monarchien und Republiken deckt. Steigt man z.B. zu dem verhältnismäßig hohen Grade an (rechtlicher) "Herrschermacht" empor, die sich in der Gesetzgebungskompetenz manifestiert, und entscheidet man die Frage der Staatsform nach dem Kriterium der Zahl der Gesetzgeber, genauer der Gesetzgebungsberechtigten, so wird zwar die absolute Monarchie mit ihrem Gesetzgebungsmonopol des Monarchen als Monarchie bestätigt, erweist sich jedoch bereits jede Gestalt der beschränkten Monarchie, namentlich sowohl die konstitutionelle als auch die parlamentarische Monarchie als Republik, da ja hier die Gesetzgebungskompetenz des Monarchen, soweit sie überhaupt besteht, durch die analoge Kompetenz einer Volksvertretung konkurrenziert wird. Es muß für den Vertreter des monarchischen Gedankens überraschend sein, wie ihm die vertrautesten Monarchien an der Hand des Kriteriums der Herrscherzahl verloren gehen, und den Republikaner verblüffen, welch absonderliche Staatsgebilde seinem Vorstellungsvermögen dank demselben Kriterium als Republiken zugemutet werden. Dieser Konsequenz, unangezweifelte Monarchien als Republiken verstehen zu müssen, weicht aber der Beurteiler nur dann aus, wenn er sich dazu versteht, das Taschenspielerkunststück der im monarchistischen Sinne befangenen Theorie des konstitutionellen Staates mitzumachen, wonach der Monarch zum alleinigen Gesetzgeber vergrößert, das Parlament jedoch zu einem Organ das bloß am Gesetzesinhalt Anteil habe, verkleinert wurde. Reduziert man aber die "Herrschaftskompetenz" nicht auf einen engen Kompetenzkreis, als deren engster hier der der Gesetzgebung, also der

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höchsten Staatsfunktion, in Betracht gezogen wurde, so steigert sich mit der Zahl der Herrschaftsberechtigten die logische Nötigung, in der großen Mehrzahl der Staaten an der Hand unseres Kriteriums Republiken zu erkennen, ja ist diese Nötigung sogar schon in der absoluten Monarchie gegeben, da kein Staat denkbar ist, in dem nicht der Herrscher anderen Organen an der Herrschaftsübung einen Anteil lassen muß. Das Kriterium der Zahl der Herrscher oder selbst der Herrschaftsberechtigten führt also, wenn es kritisch verwendet wird, niemals zu einer Scheidung von Staaten in Monarchien und Republiken, sondern läßt die Staaten unterschiedslos als Republiken erkennen, womit sein heuristischer Wert als Unterscheidungsmerkmal begreiflicherweise aufgehoben ist. Des Rätsels Lösung, daß die bisherige Staatsformenlehre trotzdem mit dem Kriterium der Zahl der Herrscher als Bestimmgrund von Monarchie und Republik das Auslangen gefunden hat, ist wohl darin zu erblicken, daß sie es niemals ernstlich angewendet hat. Man fragt gar nicht nach der Zahl der Herrschaftsberechtigten, man fragt nur, ob es in einem konkreten Staate einen sogenannten "Herrscher", einen "Monarchen" gibt, und freut sich mit der bejahenden Antwort auf diese Frage eine Monarchie entdeckt zu haben, wiewohl die Vertreter dieser Theorie von einem Monarchen streng genommen erst sprechen dürften, sobald feststeht, daß das so benannte Staatsorgan im Sinne der fraglichen Verfassung ausschließlich herrschaftsberechtigt ist. Man ahnt nichts davon, daß nur ein fehlerhafter Zirkel zur Entdeckung einer Monarchie geführt hat.

*** In seinem eingangs zitierten Basler Antrittsvortrag hat nun Edmund Bernatzik in Opposition gegen das vom klassischen Altertum bis zur Staatslehre der neuesten Zeit beliebte Kriterium der Zahl der Herrscher ein neues Kriterium des Unterschiedes zwischen Republik und Monarchie aufgestellt. Nicht das formelle Moment der Zahl der Herrscher, sondern das materielle Moment der Art der Herrschaft soll darüber entscheiden, ob ein Staat als Republik oder Monarchie anzusprechen ist. Vernehmen wir also Bernatziks Begriffsbestimmung! "Ein Staat, dessen oberstes Organ ein eigenes Recht auf seine OrgansteIlung hat, ist eine Monarchie; wo dagegen der Inhaber des höchsten Amtes nur Beauftragter;

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Diener des Staates ist, ohne daß er ein Recht auf diese Stellung hat, da ist die Verfassung eine Republik. ,,3 Diese Definitionen finden sich unter anderem noch folgendermaßen erläutert: "Die Republik kennt keinen Herrn, dem ein eigenes Recht darauf zustünde, den Staat zu beherrschen; das heißt, sie negiert ein Vorrecht irgend jemandes zu herrschen. ,,4 ... Der Monarch hingegen "hat so ein Vorrecht vor den anderen". Und worin besteht dieses Vorrecht? Auf diese Frage gibt unser Autor also Antwort: "Ein jedes subjektive oder eigene Recht auf eine Herrschaft, auf ein Richteramt oder eine sonstige Regierungsfunktion begründet notwendig ein Vorrecht, eine Bevorzugung vor den anderen, die diesen unzugänglich ist und einen Schutz erforderlich macht, der dem Träger dieses Vorrechtes in seinem Interesse in irgend einer Weise zuteil werden muß, während bei einem republikanischen Magistrat zwar die Funktion, das Amt geschützt und geheiligt ist, aber nicht wegen der Person des Amtsträgers, sondern um der Gesamtheit willen, die er damit repräsentiert, wonach dieser Schutz im einen und im anderen Falle verschieden ist. ,,5

Diese Gegenüberstellung von Republik und Monarchie ist psychologisch sehr wohl verständlich, politisch zutreffend, juristisch aber gleichwohl trotz eines Körnchens Wahrheit - verfehlt. Sie ist der charakteristische Irrtum eines der nicht allzu zahlreichen deutschen Staatsrechtslehrer, dem die in deutschen Landen weit verbreitet gewesene monarchistische Befangenheit der Staatsrechtslehre so wenig nachgesagt werden konnte, daß er im Gegenteil unter dem Eindruck der Örtlichkeit, wo er jene Definitionen prägte, viel eher in entgegengesetzter Richtung befangen sein mochte. Soviel ist richtig, daß in der Regel ein gewisser Unterschied in der Rechtsstellung der obersten Organe einer Monarchie und einer Republik besteht, insbesondere auch ein Unterschied in Bezug auf das Verhältnis zwischen Organträger und Amt, und auch das ist einzuräumen, daß dieser Unterschied viel eher als Unterscheidungsmerkmal zwischen Monarchie und Republik zu dienen vermag als der Unterschied in der Herrscherzahl. 3 A.a.O., S. 33.

4 Ebenda. 5

A.a.O., S. 35.

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Bematziks Fehler besteht nur darin, daß er diesen Unterschied, indem er ihn für die Unterscheidung zwischen Republik und Monarchie erstmals verwertet, doch bei weitem übertreibt. Der für die politische Betrachtung zweifellos gegebene größere Abstand zwischen Republik und Monarchie wird unbedenklich und unzutreffend auf das juristische Gebiet übertragen. Das Staatshaupt der Monarchie soll also ein eigenes, ein subjektives Recht oder ein Vorrecht auf seine Stellung haben, während dem Staatshaupte der Republik ein solches qualifiziertes Recht oder Vorrecht, oder, wie sich Bematzik an einer der zitierten Stellen ausdrückt, überhaupt "ein Recht" auf seine Stellung fehlen soll. Und noch schärfer drückt Bematzik diesen vermeintlichen Gegensatz zwischen Republik und Monarchie mit den Worten aus: "Der Monarch herrscht also auch kraft eigenen Rechts, der republikanische Magistrat bloß als staatliches Organ; letzerer übt bloß die Funktion des Herrschers namens des Gemeinwesens aus, er hat kein Recht auf die Herrschajt.,,6 Dieser angebliche Unterschied muß, wenn er für die juristische Betrachtung überhaupt gegeben sein soll, irgendwie in der Rechtsordnung, namentlich in der Staatsveifassung zum Ausdruck kommen. Man wird aber in der Rechtsordnung sämtlicher Republiken und Monarchien von heute vergeblich nach Rechtssätzen suchen, die diesen Unterschied zu machen erlauben. Die republikanischen wie die monarchischen Verfassungen sehen bestimmte höchste Staatsorgane mit einem bestimmten Wirkungskreise vor, der unter bestimmten Bedingungen ausgeübt werden darf oder soll. Solche Rechtssätze erlauben, gleichviel ob sie einer republikanischen oder monarchischen Verfassung entnommen sind, gleicherweise das Urteil, daß das Organ unter gewissen Bedingungen zu gewissen Funktionen "berechtigt" sei. Zieht man jenes Organ in Betracht, das gemeiniglich als Staatsoberhaupt bezeichnet wird, so wird man in der Monarchie sehr häufig (aber durchaus nicht immer) ein größeres Maß an Kompetenzen und eine geringere Zahl an Bedingungen ihrer Ausübung feststellen können, als in der Republik, aber dies sind doch nur Unterschiede im Maße und nicht in der Tatsache der "Berechtigung" zur Herrschaft. In seinem Wirkungskreise und unter den für diesen Wirkungskreis bestehenden Bedingungen ist das republikanische 6 A.a.O., S. 33.

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Organ nicht weniger zur Kompetenzausübung "berechtigt" und zwar allein, d.h. unter Ausschluß unzuständiger Personen berechtigt als das Staatshaupt einer Monarchie. Auch die Dauer der Organkompetenz macht offenbar keinen Unterschied in Bezug auf die Art, sondern nur in Bezug auf das Maß der Herrschaftsberechtigung. Ebensowenig die Frage der Verantwortlichkeit und deren Sanktion - eine Frage, die ja freilich eher in der Republik als in der Monarchie im Sinne der Möglichkeit einer Absetzung des Staatshauptes entschieden ist. Solche Einrichtungen der Republik schließen aber die von Bernatzik vermeinte - "Berechtigung" der höchsten Organe auf ihr Amt nicht aus, denn was bedeutet Absetzung anderes als Entziehung einer Berechtigung, die eben darum bis dahin bestanden haben muß? Dem republikanischen Magistrate wird eigentlich die ohnehin schwächere Rechtsstellung geschmälert, wenn dieser (im Gegensatz zur Monarchie) der Charakter einer Berechtigung gänzlich abgesprochen wird. Und zugleich wird die Rechtsstellung des monarchischen Staatshauptes über sein rechtliches Maß hinaus vergrößert, wenn ihm im Gegensatz zur Republik ein "Recht" auf seine Stellung zugeschrieben wird: Das ist eine durch die politische Ausnahmsstellung des Monarchen veranlaßte unzutreffende juristische Einschätzung, deren wahres Wesen dadurch noch heller beleuchtet wird, daß der Verfasser dem Monarchen die Organeigenschaft bestreitet; eine Stellung außerhalb der staatlichen Organisation kann nicht Inhalt eines (juristisch erfaßbaren) "Rechtes", sondern nur eines (politisch geforderten) "Naturrechtes" sein. Auf die von Bernatzik bezeichnete Art und Weise unterscheidet sich für die juristische Betrachtung also ebenfalls kein Staat von einem anderen, keine Monarchie von einer Republik. Der Unterschied zwischen Republik und Monarchie muß, wenn er überhaupt zu machen sein soll, in etwas anderem bestehen.

*** Es kann begreiflicherweise nicht Aufgabe eines Zeitschriftaufsatzes sein, im Vorbeigehen alle auch nicht zur allgemeinen Anerkennung gelangten Theorien von Republik und Monarchie in Betracht zu ziehen; nur die dank dem Namen ihres Vertreters Georg Jellinek zu nicht geringem Ansehen gelangte Theorie, wonach der Weg der Willensbildung im Staate für Republik und Monarchie charakteristisch ist, sei noch kurz erörtert.

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"Monarchie ist der von einem physischen Willen gelenkte Staat. Dieser Wille muß rechtlich der höchste, von keinem anderen Willen abgeleitete sein.,,7 In der Republik dagegen wird "die höchste Staatsgewalt niemals durch einen bloßen psychologischen Prozeß gebildet; sie ist stets Wille eines kleineren oder größeren Kollegiums. Dieses Kollegium aber hat eine rein juristische Existenz, die von den einzelnen es bildenden Personen scharf unterschieden ist. Sein Wille ist durch einen juristischen Prozeß, kraft einer verfassungsmäßigen Ordnung aus den Willensakten verschiedener Individuen gewonnen. ,,8 Dieser vermeintlich neue Weg der Unterscheidung zwischen Republik und Monarchie stellt sich bei näherem Zusehen als eine nicht weit abliegende Variante des seit altem ausgetretenen Weges der an erster Stelle erörterten, hier so genannten Zahlentheorie dar, und er hat mit ihm auch gemeinsam, daß er ebensowenig zu einem juristisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den bei den Staatsformen hinführt. Kann tatsächlich der Unterschied zwischen den bei den fraglichen Staatsformen in jenem Gegensatz der Willensbildung bestehen, den Jellinek als physisch und juristisch bezeichnet? Ist es denkbar, daß nach der einen Verfassung der Staatswille physisch und mithin - in der Vorstellung unseres Autors - nicht juristisch, nach der anderen Verfassung jedoch wiederum der Staatswille juristisch und eben darum nicht physisch gebildet wird? Schließen sich physische und juristische Willensbildung überhaupt aus, so daß die eine Form der Willensbildung für die eine Staatsform, die andere Form der Willensbildung für die andere Staatsform charakteristisch werden könnte? Im Gegenteil! Nur durch eine handgreifliche Abstraktion kann man dazu gelangen, in der Monarchie bloß physische, in der Republik bloß juristische Willensbildung wahrzunehmen. Und diese Abstraktion könnte bloß durch die Erwägung erklärt, wenn auch keineswegs gerechtfertigt werden, daß im

7 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Verlag Springer (Berlin), 1920,

S.669.

8 A.a.O., S. 711.

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Falle der Monarchie der "physische Wille", im Falle der Republik der "juristische Wille" "überwiege" (um ein Lieblingswort der Jurisprudenz zu gebrauchen), oder besser gesagt, daß im Falle der Monarchie der psychische Prozeß, im Falle der Republik der rechtliche Prozeß der Willensbildung mehr in die Augen springe. Jellinek hätte nämlich von seinem unhaltbaren, weil juristische mit meta-juristischer Betrachtung vereinigenden Standpunkt aus um einen Grad richtiger sagen müssen, daß in dem einen Fall die rechtliche (nicht die juristische) und in dem anderen Fall die psychische (nicht physische) "Seite" der Willensbildung (um das Bild seiner "Zweiseitenlehre" vom Staat auch auf die Staatsformenlehre zu erstrecken) stärker ausgeprägt oder ausgebildet sei. Jedes Organhandeln setzt psycho-physische Funktionen voraus, die selbst oder deren Resultate dem Organe als Organfunktionen und auf dem Wege des Organes dem Staate als "Staatswille" zugerechnet werden. 9 Solche psycho-physische Funktionen liegen gewiß dem vom Monarchen, ebenso gewiß aber auch dem von einem republikanischen Magistrat repräsentierten Staatswillen zu Grunde. Im letzen Falle fehlt diese psychische Seite oder besser Vorstufe der staatlichen Willensbildung, die freilich unter der Schwelle der juristischen Erkenntnis bleibt, so wenig, daß sie im Gegenteile viel komplizierter ist als im ersten Falle. In der Monarchie ist der psychische Wille eines Einzelmenschen, der dem "Monarch" genannten Organe korrespondiert, höchster Staatswille gemäß dem Grundsatze "Suprema lex regis voluntas". In der Republik setzt hingegen der höchste Staatswille eine Mehrheit oder Vielheit psychischer Willensakte voraus, den vielfaltig zusammengesetzten Akt der Mehrheitsbildung in der Volksvertretung, Volksabstimmung oder Volksversammlung, jedenfalls einen viel komplizierteren psycho-physischen Tatbestand, der eigentlich viel schwerer zu übersehen ist als der analoge überaus einfache Vorgang in der Monarchie zumal in der Gestalt der unbeschränkten Monarchie. Ebensowenig wie in diesem oder jenem Falle ein psycho-physischer Tatbestand der Willensbildung fehlen kann, ist es denkbar, daß ein rechtlicher Tatbestand, der von seinem Autor als juristische Willensbildung be9 Über den Sinn des Staats willens und den Prozeß rechtlicher Willensbildung vgl. vor allem: Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen, Verlag J. C. B. Mohr, 1911.

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zeichnet wird, in einem der beiden Fälle mangelt. Gewiß, eine Zurechnungsregel der republikanischen Verfassung läßt jenen komplizierten psycho-physischen Tatbestand, der die Voraussetzung des höchsten Staats willens in der Republik ist, dem Staate zurechnen und als Staatswille erscheinen. Dieser rechtliche Zurechnungsprozeß ist aber auch der Monarchie wesentlich; nur eine analoge, wenn auch viel einfachere und darum leichter dem Übersehenwerden ausgesetzte Zurechnungsregel erlaubt den psycho-physischen Tatbestand der Willenskundgebungen eines Menschen dem Organe "Monarch" und durch dieses Organ dem monarchischen Staate zuzurechnen. Jellineks aufliegender Denkfehler ist, daß er zwei völlig heterogene, in völlig getrennten Betrachtungsfeldern liegende Erscheinungen einander gegenüberstellt, die überhaupt nicht in Vergleich gezogen werden können. Die Monarchie betrachtet er gewissermaßen mit dem Auge des Psychologen, und nur des Psychologen, die Republik mit dem Auge des Juristen, und nur des Juristen. Bei der Begriffsbestimmung der Monarchie verharrt er in der Sphäre der Psychologie und lehnt es geradezu ab, in das Bereich juristischer Betrachtung vorzudringen; die Begriffsbestimmung der Republik bewegt sich ausschließlich in der Sphäre juristischer Betrachtung und lehnt den Rückblick in das gewissermaßen vorgelagerte Bereich psychologischer Betrachtung ab. Solche unterschiedliche Betrachtungsweisen führen selbstverständlich zu verschiedenen Gegenständen, so daß eine solche "Theorie" allerdings um Gegensätze zwischen Republik und Monarchie nicht verlegen sein kann. Aber es ist selbstverständlich, daß der Jurist, soweit er Jurist sein will, mit dieser doppelten Betrachtungsweise nicht operieren darf, sondern sich für einen einzigen Weg entscheiden muß, der nur der Weg sein kann, den Jellinek der Republik gegenüber einschlägt, wie denn auch nur Jellineks Definition der Republik einen juristischen Begriff umschreibt. In der Republik und Monarchie wird der Jurist bloß einen rechtlichen, dagegen in der Republik und Monarchie der Psychologe einen psychischen Weg der Willensbildung beobachten können. Die vermeintlichen Unterschiede in der Staatsform reduzieren sich auf Unterschiede in der Betrachtungsweise, wobei es dahingestellt bleibe, ob eine Staatsform als solche überhaupt Gegenstand einer anderen als juristischen Betrachtungsweise werden kann.

Ist die Willensbildung in Monarchie und Republik immer ein rechtlicher Prozeß, dann wäre eigentlich jeder Staat an der Hand des von Jellinek an die Hand gegebenen Kriteriums als Republik zu erkennen; will man aber

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aus begreiflichen Gründen eine solche Konsequenz venneiden, so fragt es sich, wenn überhaupt die Art der Willensbildung für die Staatsfonn charakteristisch sein soll, welches diese rechtliche Willens bildung qualifizierende Moment den einen Staat als Monarchie, den anderen Staat als Republik erkennen läßt. Für den Kenner der Staatsfonnenlehre lellineks kann es keinem Zweifel unterliegen, daß für ihn unbewußt die Frage entscheidend ist, ob im Herrscherwillen der Wille des Einzelmenschen oder einer Mehrzahl von Menschen in Erscheinung tritt; in jenem Falle spricht er von physischer Willensbildung und somit nach seiner Begriffsbestimmung von einer Monarchie, in diesem Falle von juristischer Willensbildung und darum von einer Republik. Wenn man die irrtümlichen und irreführenden Zwischenglieder dieses Denkprozesses, den physischen und juristischen Willen, ausschaltet, hat man das alte Kriterium der Zahl vor sich. Der lellineksche Unterscheidungsversuch stellt sich als bloße Ausschmückung der Theorie von der Herrscherzahl heraus und ist so unbrauchbar wie diese.

*** Es müssen in diesem engen Rahmen die vorstehenden Ausführungen für den Beweis genügen, daß sich mit den bisher aufgestellten Unterscheidungsmerkmalen eine juristische Grenze zwischen Republik und Monarchie, zumal ein Grenze, die die der Vergangenheit und Gegenwart angehörenden Staaten in der üblichen Weise in Monarchien und Republiken scheidet, nicht gewinnen läßt. Es mag leichter sein, ein einerseits einigendes, andererseits scheidendes Prinzip zwischen absoluten Monarchien einerseits, allen anderen Staatsfonnen andererseits aufzuzeigen - nach welchem juristischen Gesichtspunkt man aber einerseits die unbeschränkte und alle Gestalten der sogenannten beschränkten Monarchie als die eine große Staatsfonnkategorie allen anderen, mitunter zum Verwechseln ähnlichen Staatsfonnen gegenüberstellt, bleibt noch aufzuhellen, wofern diese Gegenüberstellung überhaupt rationell und nicht willkürlich erfolgt. Alle Staaten, die man als Monarchien anzusprechen pflegt, weisen ein Organ auf, dessen Rechtsstellung in eigentümlicher, sogleich zu beleuchtender Weise qualifiziert ist; allen Republiken fehlt ein derartiges Organ entweder gänzlich, oder es ist seine Rechtsstellung nicht in gleicher Weise qualifiziert. Man wird schon erraten haben, daß das Organ, welches hier in Frage steht, das sogenannte Staatsoberhaupt ist.

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Von einem sogenannten "Staatsoberhaupt" müssen wir deshalb sprechen, weil sich die rechtliche Bedeutung dieses Begriffes bedeutend von seinem Wortsinne entfernt hat. 1O Das Staatsoberhaupt des absoluten Staates ist wirklich das, worauf dieser sein Name hindeutet: das oberste, weil mit den höchsten Kompetenzen bekleidete Staatsorgan. In jeder beschränkten Monarchie jedoch muß sich der Monarch in die höchsten Staatsfunktionen mit einem ebenbürtigen Partner teilen, wenn er durch ihn nicht etwa gerade von den höchsten Staatsfunktionen ausgeschlossen ist. Für die konstitutionelle Monarchie will man den ursprünglichen Inhalt der Monarcheneigenschaft bekanntlich durch die Fiktion retten, daß er nach wie vor der alleinige Gesetzgeber sei, während das zweite Organ der Gesetzgebung, das Parlament, nur an der Feststellung des Gesetzesinhaltes mitzuwirken habe. Für die parlamentarische Monarchie, die den Monarchen fast ganz aus seiner gesetzgeberischen Position verdrängt hat, ließ sich aber eine solche Fiktion unmöglich aufrechterhalten, da hier nicht einmal der Anhaltspunkt eines paritätischen Anteils des Monarchen an der Gesetzgebung zur Verfügung stand, und darum mußte man einen Bedeutungswandel des Begriffes eines Staatsoberhauptes vornehmen. Um auch für die durch die Revolution in ihrem Kompetenzkreis geschmälerten Monarchen den Monarchentitel und für die von ihnen repräsentierten Staaten den Titel von Monarchien aufrechtzuerhalten' begnügte man sich mit einem Inhalte des Begriffes "Staatsoberhaupt", der zum Wortsinn in einem auffalligen Widerspruch stand und steht. Damit zugleich wurde der Übertragung der zunächst nur einer Monarchie angepaßten Einrichtung eines Staatsoberhauptes auf republikanische Verhältnisse der Weg gebahnt, denn wenn sich Kompetenzen, die das Organ einer Monarchie als Staatsoberhaupt qualifizieren, in der Hand des Organes einer Republik vereinigt finden, muß man wohl oder übel auch das betreffende Organ einer Republik als Staatsoberhaupt gelten lassen. Als Staatsoberhaupt wird nunmehr - aus monarchischer Tradition - ein Staatsorgan, sei es in Monarchien, sei es auch in Republiken, bezeichnet, das in der Regel nicht nur nicht die höchsten Staatsfunktionen, namentlich

10 Überhaupt erscheint mir die Institution wie der Begriff des "Staatsoberhauptes" in Republiken als eine monarchistische Reminiszenz; es ist denn auch bezeichnend, daß gerade die Schweizer Eidgenossenschaft, die nicht eine monarchische Tradition aufweist, die Institution des Staatsoberhauptes im üblichen, den Monarchien und Republiken gemeinsamen Sinne nicht kennt. 5 A.J. Merkl

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die Gesetzgebung, allein ausübt, sondern in einer Reihe von Fällen von jedem entscheidenden Anteil an den höchsten Staatsfunktionen ausgeschlossen und auf einen mehr oder minder großen Kreis minder bedeutsamer Staatsgeschäfte beschränkt ist. Die Tendenz, überhaupt ein Organ mit dem Namen eines Staatsoberhauptes beizubehalten, hat dahin geführt, die Anforderungen an den Inhalt dieser Organstellung in einer Weise herabzusetzen, daß Form und Inhalt, Titel und Amt oft in einem krassen Gegensatze stehen. Eine staatenweise variierende Summe sogenannter Regierungsgeschäfte, zu denen in der Regel die Vertretung des Staates nach außen, die Ernennung hoher staatlicher Funktionäre, die Erteilung von Gnadenakten, namentlich die Begnadigung gerichtlich verurteilter Personen, ferner häufig die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie der Abschluß von Staatsverträgen, beides letztgenannte freilich oft unter Mitwirkung des Parlamentes, gehören, bilden den typischen Kern des Wirkungskreises des Staatsoberhauptes, der im übrigen außer sonstigen nicht so häufigen Verwaltungsagenden vielfach gewisse Funktionen auf dem Gebiete der Gesetzgebung als der höchsten Staatsfunktion - aufweist, die aber nichtsdestoweniger für ein Staatsoberhaupt im herrschenden Sinne des Wortes nicht charakteristisch sind. Bekanntlich gibt es vereinzelt Verfassungen, die nicht einmal dieses traditionelle Minimum von Kompetenzen einem Einzelorgane einräumen ein negatives Merkmal, das sozusagen von vollendeter Demokratie zu zeugen pflegt. Es sind dies somit Staaten ohne eigentliches Staatsoberhaupt - wenigstens ohne ein Staatsoberhaupt nach dem Muster des Großteils der anderen Staaten. Beispiele von Staaten mit einer derartigen verfassungsrechtlichen Anomalie in Bezug auf das Staatsoberhaupt sind bekanntlich die schweizerische Eidgenossenschaft und neuestens die österreichische Bundesrepublik, deren Verfassung I I in ganz singulärer Weise die typischen Geschäfte eines Staatsoberhauptes auf das Bundesparlament (den Nationalrat), die Bundesregierung und den Bundespräsidenten verteilt, so daß der letzte, mit anderen republikanischen Staatshäuptem verglichen, durchaus nicht ohne weiteres als Staatsoberhaupt gelten kann.

11 Vgl. den Kommentar zu der österreichischen Bundesverfassung von Hans Kelsen, Verlag Franz Deuticke, Wien 1922.

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Die große Mehrzahl der Republiken hat aber bekanntlich nach dem offenkundigen Vorbild der Monarchie ein Staatsorgan mit jenem typischen Wirkungskreis auf dem Gebiete der Vollziehung, mitunter selbst der Gesetzgebung, eingeführt und analoger Weise hat die Staatsrechtslehre auf diese republikanischen Organe, die Staatspräsidenten, den zunächst nur auf dem Gebiete der Monarchie heimisch gewesenen, für Monarchen üblich gewesenen Ausdruck "Staatsoberhaupt" ausgedehnt. In der Tat gibt es ja monarchische und republikanische Staatshäupter, deren Wirkungskreis sich entweder gar nicht oder sogar dadurch unterscheidet, daß der des republikanischen Staatsoberhauptes umfassender ist als der des monarchischen; (man vergleiche z.B. nur die Rechtsstellung des Präsidenten der nordamerikanischen Union mit der des Königs von Norwegen!) Der Unterschied zwischen Monarchie und Republik kann also weder darin bestehen, daß der einen Staatsform ein Staatsoberhaupt eigentümlich ist, der anderen nicht, noch auch darin, daß sich der Wirkungskreis des Staatsoberhauptes in Monarchie und Republik in charakteristischer Weise unterscheidet. Soll nichtsdestoweniger der Unterschied zwischen Monarchie und Republik in der Rechtsstellung des Staatsoberhauptes bestehen und wir sind wohl auf dieses Kriterium angewiesen, nachdem die anderen Kriterien versagt haben -, so kann der Unterschied nur in der Dauer der Organfunktion des Staatsoberhauptes zu suchen sein. In der Tat findet sich in diesem Punkt ein ziemlich durchgreifender Unterschied in den verschiedenen Verfassungen, ein Unterschied, der, wenn überhaupt irgend einer, geeignet erscheint, als Kriterium für die Unterscheidung von monarchischen und republikanischen Verfassungen zu dienen. Als Monarchien stellen sich demnach Veifassungen dar, die die Institution eines grundsätzlich auf Lebensdauer bestellten "Staatshauptes" aufweisen; als Republiken sind zum Unterschied hievon alle Veifassungen anzusprechen, denen die Einrichtung eines durch die Lebenslänglichkeit der OrgansteIlung ausgezeichneten Staatsoberhauptes mangelt, sei es nun, daß ihre Verfassung ausnahmsweise ein Staatsoberhaupt nach hergebrachtem Muster überhaupt nicht kennt, oder daß, was der Regelfall ist, das Staatsoberhaupt grundsätzlich nur auf bestimmte Zeit bestellt wird. Hiebei haben wir in bei den Fällen unter Staatsoberhaupt ein mit typischen Vollzugsgeschäften, mit den sogenannten Regierungsgeschäften, deren we-

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sentlichste oben aufgezählt wurden, verfassungs gemäß betrautes Staatsorgan zu erblicken. Begriffswesentlich ist ein gewisses Minimum an Kompetenzen. Der Ausstattung der Organstellung mit einem Plus von Kompetenzen sind keine Grenzen gesetzt. Das Maß der Kompetenzen des Staatshauptes ist aber für die Eigenschaft des Staates als Monarchie oder Republik irrelevant. Ausschließlich das Moment der Dauer der OrgansteIlung ist relevant. Selbstverständlich steht nur der Zeitraum in Frage, für den von Verfassungswegen das Staatsoberhaupt zu bestellen ist, und nicht etwa der Zeitraum, während dessen es tatsächlich im Amte ist. Für die Qualifikation einer Verfassung als Monarchie ist es demnach ohne Einfluß, wenn der grundsätzlich auf Lebensdauer berufene Monarch, z.B. infolge Thronverzicht oder selbst infolge Absetzung, nur vorübergehend fungiert, desgleichen für die Qualifikation einer Verfassung als Republik ohne Belang, wenn das Amt des Staatspräsidenten tatsächlich, z.B. durch Wiederwahl einer und derselben Person, ein lebenslängliches wird. Das Moment der Erblichkeit der Monarchen in der Familie des Staatshauptes wurde in die hier versuchte Begriffsbestimmung der Monarchie nicht aufgenommen, um auch die sogenannten Wahlmonarchien im Einklang mit der herrschenden Auffassung als Monarchien qualifizieren zu können. Definiert man etwa als Monarchie die Verfassung oder den Staat, wo das Amt des Staatshauptes nicht nur auf Lebensdauer von einem Würdenträger besetzt, sondern gemäß einer Thronfolgeordnung in einer Familie vererbt wird, so wären ausschließlich die Erbmonarchien als Monarchien zu erkennen und die Wahlmonarchien bereits den Republiken zuzuzählen. Ein Beweis für die Richtigkeit der vorstehend aufgestellten Begriffe der Monarchie und Republik ist selbstverständlich ausgeschlossen. An Rechtsbegriffe läßt sich, soferne sie in sich widerspruchslos sind, nicht weiter das Maß logischer Richtigkeit, sondern nur das Maß systematischer Zweckmäßigkeit anlegen. Rechtsbegriffe lassen sich nicht beweisen, sondern können sich nur bewähren oder - als unbrauchbar erweisen. Sie sind dazu da, die Welt des Rechtlichen wissenschaftlich, das bedeutet vor allem systematisch meistem und damit verstehen zu helfen. Die Begriffe der Staatsformen im besonderen wollen die bunten Fälle der vergangenen und gegenwärtigen Staaten nach bestimmten Gesichtspunkten ordnen. Unter diesen Umständen kann ein Begriff der Monarchie oder der Republik auch nicht den Anspruch erheben, der allein maßgebende zu sein.

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Niemandem kann verwehrt sein, seiner Systematik der Staatsformen einen anderen Begriff der Monarchie und der Republik, ja überhaupt eine andere Einteilung der gegebenen Verfassungen zugrundezulegen, wenn er nur ein juristisches Einteilungsprinzip erwählt. Aber die hier aufgestellten Begriffe der Monarchie und Republik dürfen für sich in Anspruch nehmen, daß sie eine solche Einordnung der geschichtlichen und gegenwärtigen Staaten in das republikanische und monarchische Schema ermöglichen, wie sie bisher auf Grund anderer Begriffsbestimmungen versucht wurde, streng genommen aber nicht zu erreichen gewesen ist. Unsere Begriffsbestimmungen stellen sich somit als Rationalisierung und Rechtfertigung der herkömmlichen Klassifikationen der gegebenen Staaten als Monarchien und Republiken heraus. Gewiß, bei dieser Begriffsbestimmung ist der Unterschied zwischen Republik und Monarchie nicht tief, wenigstens nicht annähernd so tief, als man im Lager der Republikaner und Monarchisten oft gerne annehmen möchte. So groß der Abstand zwischen extremen Erscheinungsformen der Republik und Monarchie ist, so klein ist er in anderen Fällen, in denen nur der begrifflich notwendige Unterschied zutage tritt. Gewiß ist die Frage der Dauer der OrgansteIlung des Staatsoberhauptes nicht belanglos, sie ist jedoch in ihrer Bedeutung dadurch begrenzt, daß das Staatsoberhaupt in der Staatsorganisation durchaus nicht immer so ausschlaggebend ist, als sein Name erwarten ließe und namentlich die monarchistisch befangene Staatslehre glauben machen möchte. Und so hat eine an der Rechtsstellung des Staatsoberhauptes orientierte Systematik der Staatsformen sicherlich ihre Berechtigung, keineswegs aber Alleinberechtigung. Die Einteilung der Verfassungen in Monarchien und Republiken bedarf der Ergänzung durch andere Einteilungen nach anderen Einteilungsgründen. Monarchie und Republik sind wichtige, aber nicht die einzigen Kategorien der Staatsformen. Vor einer Überschätzung ihres rechtlichen Unterschiedes wamtjede ernstliche Kritik der beiderseitigen Begriffsbestimmung, und warnt umsomehr der relativ dürftige Inhalt der aus dieser Kritik gewonnenen neuen Begriffe. Auch, ja gerade hier, in diesem Grenzgebiete zwischen Rechtswissenschaft und Politik, erweist sich der Abstand zwischen juristischem und politischem Denken.

Rezension von:

Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925 Die scharfe Kritik, die neben immer stärkerer, wenngleich nicht immer vorbehaltloser Zustimmung Kelsens Rechtslehre bisher erfahren hat, ist doch fast ausnahmslos zu dem Zugeständnisse bereit gewesen, daß seine Theorie in der Kritik Zutreffendes geleistet habe; für ein Schrifttum, das äußerlich vorwiegend in Polemik besteht, immerhin eine nicht bedeutungslose Anerkennung, wenngleich ein solches Urteil der schon bisher scharf umrissenen Forscherpersönlichkeit Kelsens nicht gerecht wurde. Der Anerkennung steht aber die gelegentliche Anzweiflung gegenüber, daß seine Theorie hinreichende Grundlage für ein positives System sein könne. Eine Antwort darauf hat Kelsen, wie er bescheiden in der Vorrede seines neuesten Werkes sagt, mit diesem Buche versucht. Schon äußerlich unterscheidet sich das jüngste Werk Kelsens von seinen bisherigen Werken dadurch, daß es die Probleme, die es sich stellt, in einer positiven, durch keinerlei persönliche Polemiken unterbrochenen Gedankenführung entwickelt und die Auseinandersetzung mit gegenteiligen Auffassungen in abgesonderte "Belege und Beweise" verlegt, wo die typischen Repräsentanten der betreffenden Lehrmeinungen in charakteristischen Zitaten zum Worte kommen. Von einem Revolutionär gegen die herrschende Lehre ist jedenfalls bemerkenswert, mit welchem Respekte er des literarischen Werkes der Führer der herrschenden Lehre, namentlich seines Lehrers Georg lellinek, gedenkt und, wo immer es angängig ist, die Kontinuität seiner Lehrmeinung im Verhältnis zu jenen ins Licht rückt. Im Gegensatz zur bisherigen Arbeitstechnik Kelsens, die durch die breite monographische Behandlung einzelner Probleme der Staats- und Rechtslehre charakterisiert war, erschöpft sein neuestes Werk in knappster kontinuierlicher Gedankenführung die Summe der grundlegenden Probleme Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 49 (1926), S. 257-274.

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einer Rechts- und Staatslehre. Die Auff~ssung des Staates als bloße Rechtserscheinung, die Identifizierung des Staates mit dem Rechte, die Kelsen bereits in seinem Buche über den "Soziologischen und juristischen Staatsbegriff' entwickelt und im vorliegenden Werke bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt hat, bringt allerdings eine beträchtliche Reduktion des Gegenstandes mit sich. Ist die traditionelle von Juristen vorgetragene allgemeine Staatslehre ein Kompositum aus einer Soziallehre und einer Rechtslehre vom Staate, eine Lehre der vermeintlichen bei den "Seiten" des Staates, so ist Kelsens allgemeine Staatslehre grundsätzlich nichts als eine allgemeine Rechtslehre. Zu solcher Beschränkung des Gegenstandes sieht sich Kelsen durch die - erstmals von ihm für die Rechts- und Staatslehre fruchtbar gemachte - Einsicht genötigt, daß der Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnisrichtung bestimmt sei, und daß daher zwei verschiedene Methoden wie die naturwissenschaftlich-kausale und die juristisch-normative nicht ein und denselben Gegenstand erzeugen können, sondern zwei trotz der gleichen Benennung als "Staat" doch wesensverschiedene Gegenstände erzeugen müssen. Unter dieser Voraussetzung verliert eine Soziallehre vom "Staate" im Rahmen einer juristisch sein wollenden Staatslehre ihre Existenzberechtigung. Wenn gleichwohl die wichtigsten ihrer Probleme in solchem systematischen Zusammenhange aufgerollt werden, so kann dies sinnvoll nur zu dem Zwecke geschehen, um sie entweder als metajuristisch darzutun oder sie als soziologisch verkleidete juristische Probleme zu erweisen. Diese verkappte juristische Bedeutung liegt bei dem von Kelsen nachdrücklich unterstrichenen "durchaus normativen Charakter, der dem Begriffe der Gesellschaft anhaftet" (S. 16), nur zu nahe. Es ist namentlich die Lehre von der Rechtfertigung des Staates, die zur Gänze der Politik als Wissenschaft zufällt. Die geistreichen Ausführungen über das Problem der Politik und über die auf den Gegensatz von Anarchismus und Etatismus mit dessen Spielarten Konservativismus, Liberalismus und Staatssozialismus zurückgeführten politischen Systeme können vom Standpunkt Kelsens nur als Exkurs auf ein fremdes Problemgebiet beurteilt und sollen darum nicht näher in Betracht gezogen werden. "Nicht ob der Staat, nicht warum und wie er sein soll, wie die Politik, sondern was der Staat und wie er ist, fragt die Staatslehre, Politik als Lehre vom besten, vom 'wahren' und richtigen Staat unterscheidet sich von der allgemeinen Staatslehre als Lehre vom möglichen, der besonderen Staatslehre als Lehre von einem konkreten, wirklichen Staat, so wie sich die

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sogenannte Rechtsphilosophie als Lehre vom besten, wahren, richtigen, d.h. gerechten Recht, nach der schon heute üblichen Auffassung, von der allgemeinen Rechtslehre als der Lehre vom möglichen Recht und der besonderen Rechtslehre als der Lehre vom positiven als einem konkreten Recht unterscheidet." (S. 44) Ist der Staat gleichviel wie die Rechtsordnung, dann muß die Staatslehre mit der Rechtslehre zusammenfallen. Die allgemeine Staatslehre im besonderen stellt sich als eine Art allgemeinster Rechtslehre dar. Genauer ist ihre Stelle im System der Rechtslehre dahin zu bestimmen, daß sie die Lehre vom Wesen und von der Erzeugung der Rechtsordnung ist, und zwar im besonderen - denn auch die Lehren vom Zivil-, Straf- und Verwaltungsprozeßrecht sind Rechtserzeugungslehren - die Lehre von der Erzeugung der höheren und höchsten Stufen der Rechtsordnung. Auch damit ist indes noch keine eindeutige actio finium regundorum zwischen der Staatslehre, so wie sie Kelsen versteht, und sonstigen Rechtsdisziplinen wie z.B. Zivil- und Strafrechtslehre vollzogen, die Grenze muß sich vielmehr erst aus der tatsächlichen Problemstellung ergeben. Bemerkenswert ist, daß in dem zusammengesetzten Worte Staatslehre das Bestimmungswort "Staat" einen eigentümlichen Sinn hat, der weder mit dem schon erwähnten weiteren Wesensbegriff des Staates (= Recht) noch mit dem unten zu erörternden! engeren Rechtsinhaltsbegriffe des Staates übereinstimmt. Die Staatslehre ist im Gegensatz zu der auch heute noch nachwirkenden älteren Auffassung, die den juristischen Teil der Staatslehre als eine Lehre vom Staate in seiner Eigenschaft eines Subjektes von Rechten oder als Lehre von subjektiven Rechten des Staates verstanden hat, als eine Lehre von objektivem Rechte zu bestimmen. Damit tritt vor allem das Problem des objektiven Rechtes und seines Widerspiels, des subjektiven Rechtes, in ihren Gesichtskreis. Das objektive Recht wird von Kelsen als eine Zwangsordnung charakterisiert, die sich aus den Rechtsnormen, das sind zwangandrohende Normen, zusammensetzt. Das Wesen der Rechtsnorm" drückt sich in einem Satze aus, in dem an eine bestimmte Bedingung der Zwangsakt als Folge geknüpft ist.

1 Vgl. bei Anm. 6.

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Er ist so wie das Naturgesetz eine spezifische Verknüpfung von Elementen nach Bedingung und Folge" (S. 47). Nur daß im Rechtsgesetze zum Unterschiede vom Naturgesetze die Bedingung - es ist der "Tatbestand" im engeren Sinne - mit dem als "Rechtsfolge" im engeren Sinne auftretenden Tatbestand nicht in dem gleichen Sinne verknüpft ist wie Ursache und Wirkung, sondern in einem spezifisch rechtlichen Sinne. Zum Ausdruck dieser - von der Naturgesetzlichkeit prinzipiell abweichenden - Eigengesetzlichkeit des Rechtes dient das Soll. Das Rechtsgesetz lautet nicht: wenn a, so "ist" b, sondern wenn a, so "soll" b. Der Rechtssatz ist demnach hypothetisches Urteil, nicht Imperativ. Damit ist zugleich das Problem des Normadressaten aufgehoben; daß sich der Rechtssatz an jemanden richtet, bedeutet nur, daß dessen Verhalten Inhalt des Rechtssatzes ist. Der bedingte Zwangsakt tritt positivrechtlich in den Gestalten der Strafe und Exekution auf, die sich auf den gemeinsamen Nenner einer zwangsweisen Entziehung von Gütern bringen lassen. Als bedingender Tatbestand für den bedingten Zwangsakt, als Voraussetzung, unter der die Folge des Zwangsaktes eintreten soll, ist notwendig in jedem Rechtssatz menschliches Verhalten gesetzt, es kann aber der Tatbestand noch durch sonstige Elemente, Z.B. Ereignisse, kompliziert oder sogar in eine Mehrzahl von Teiltatbeständen gegliedert sein. Durch eine Gliederung des Tatbestandes in eine Mehrzahl von Bedingungen, die nur letztlich durch einen Zwangsakt bedingt sein müssen, entsteht der Unterschied zwischen primären und sekundären Rechtsnormen. Als primäre Norm wird jener Rechtssatz bezeichnet, der unmittelbar den Zwangsakt statuiert, als sekundäre Norm der Rechtssatz, der ein Verhalten statuiert, durch das der letztlich angedrohte Zwangsakt vermieden werden soll. In dem zusammengesetzten Rechtssatze: "Wenn jemand einen Vertrag schließt, soll er sich vertragsmäßig verhalten; wenn er sich aber nicht vertragsmäßig verhält, soll gegen ihn - auf Antrag des Vertragspartners Exekution geführt werden" (S. 51), stellt der letzte, den Zwang androhenden Satz die primäre Rechtsnorm, der erste Satz, der das zwangvermeidende Verhalten statuiert, die sekundäre Rechtsnorm dar. Die spezifische Verknüpfung des Tatbestandes mit der Folge, wie sie im Rechtssatz zum Ausdruck kommt, bezeichnet Kelsen als Zurechnung, womit schon terminologisch der Unterschied von der Kausalität - als der Verknüpfung der Elemente im System der Natur - verdeutlicht werden soll. Wenn der Zwangsakt mitunter als Unrechtsfolge bezeichnet wird, womit gesagt sein soll, daß er die Folge einer Rechtswidrigkeit, eines Unrechtes sei, so wendet Kelsen treffend ein, daß im System des Rechtes nur Rechtliches Platz habe, daß nur Rechtliches

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Gegenstand der Rechtserkenntnis sein könne. Der den Zwangsakt bedingende Tatbestand mag zwar im Rahmen der sekundären Norm, als Widerspruch zu dem von ihr statuierten zwangvermeidenden Verhalten, den Schein einer Negation des Rechtes schlechthin annehmen, stellt sich aber im Gesamtzusammenhang des Rechtssatzes als in höherem Sinne rechtlich heraus. "Erkennt man das Recht als Zwangsordnung, dann muß der Begriff des Unrechts als einer Negation des Rechtes verschwinden. Der so bezeichnete Tatbestand wird als Bedingung des mit ihm rechtssatzmäßig verknüpften Zwangsaktes, der sogenannten Unrechtsfolge begriffen." (S. 52) Die Begriffe des subjektiven Rechtes und des Rechtssubjektes unterzieht Kelsen einer Kritik, die auf die Aufhebung dieser Begriffe hinausläuft. An der Hand der Interessentheorie, die voraussetzungswidrig das allein psychologisch faßbare konkrete Individualinteresse durch ein "rechtlich geschütztes Durchschnittsinteresse" ersetzt, an der Hand der Willenstheorie, die unbewußt ebenfalls an Stelle eines subjektiven einen objektiven Willen treten läßt, wird gezeigt, daß das subjektive Recht nur eine subjektivistische Wendung des objektiven Rechtes ist, soweit sich hinter der Maske des subjektiven Rechtes nicht ein dem objektiven Rechte gegensätzliches Naturrecht verbirgt. Das Urteil, jemand habe ein subjektives Recht, bedeutet: "Eine objektive und zwar generelle Rechtsnorm setzt die auf ein bestimmtes Verhalten eines anderen gerichtete Willensäußerung des darum Berechtigten als Bedingung für die Pflicht zu dem intendierten Verhalten, speziell zur Realisierung des Zwangsaktes ... Das sogenannte subjektive Recht als Berechtigung ist nur eine besondere Gestaltung des objektiven Rechtes, ist selbst Norm." (S. 58) Die naturrechtliche Wurzel des Begriffes des Rechtes im subjektiven Sinne enthüllt sich nach der Auffassung Kelsens aus der Tatsache, daß darunter immer nur die Berechtigung, nicht auch die Verpflichtung verstanden werde. Nur ein gegen die positive Rechtsordnung bestehendes Recht, ein Naturrecht kann als primäre Erscheinung vorgestellt werden, im System des objektiven Rechtes erscheint die Rechtspflicht als das Primäre. Diejuristische Person stellt sich für Kelsen als eine im Grunde überflüssige Hilfskonstruktion der Rechtswissenschaft dar, als Personifikation einer rechtlichen Teilordnung, die für einen Menschen oder eine Menschengruppe relevant ist. Eine solche der Personifikation fähige Teilordnung sei schon der nur das einmalige gegenseitige Verhalten zweier Menschen normierende Vertrag. Vom Vertrag führe eine kontinuierliche Reihe mannigfaltiger Teilordnungen oder Verbände über Gesellschaft, "Korporation",

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1.8. Staatslehre und politische Theorie

Verein, Genossenschaft, "Gemeinde" bis zu der Totalrechtsordnung, dem Gesamtverband: Staat; und sofern man über der einzelstaatlichen Rechtsordnung noch eine alle einzelstaatlichen Rechtsordnungen als Teilordnungen zusammenfassende Völkerrechtsordnung gelten lasse, weiter zur Staatenverbindung und der Völkerrechtsgemeinschaft (S. 66). Die von der Rechtswissenschaft in dieser Reihe von "Verbänden" vorgenommene Zäsur, die die einen den bloßen "Gesellschaften", die anderen den "Korporationen" zuteilt, erscheint demnach willkürlich und der ganze Streit um die juristische Persönlichkeit als müßig. Mag aber auch der Rechtswesensbegriff der juristischen Person unhaltbar sein, so hat doch wohl ein - von Kelsen allerdings nicht in Betracht gezogener - Rechtsinhaltsbegriff der juristischen Person Existenzberechtigung. In diesem Sinne ist die juristische Person keine mystische Personifikation, sondern der terminologisch allerdings mißglückte abbreviatorische Ausdruck für einen bestimmten positivrechtlich umschriebenen Kompetenzkreis, z.B. aktive und passive Klagslegitimation, Vermögensfähigkeit u.dgl. In jedem einzelnen Falle, wo eine solche Rechtslage hergestellt werden soll, erübrigt dann die Umschreibung des gesamten Kompetenzkreises, sondern genügt, daß das positive Recht der in Frage stehenden Einrichtung - etwa einer "Genossenschaft", einer "Anstalt", einem "Wirtschaftskörper" - "juristische Persönlichkeit" zuschreibt. Hervorhebung verdient die vernichtende Kritik, die Kelsen im Zuge der Lehre von der Rechtssubjektivität an der "berüchtigten" Lehre von der Selbstverpflichtung des Staates übt. Diese Lehre behauptet bekanntlich, der Staat stelle nicht nur eine Rechtsordnung auf, sondern er unterwerfe sich auch selbst dieser seiner Rechtsordnung; so werde der Schöpfer der Rechtsordnung zugleich auch deren Subjekt, so werde eine metarechtliche Erscheinung zur Rechtsperson. Dieser unvollziehbaren Vorstellung hält Kelsen die Erwägung entgegen, daß der Staat, wenn er überhaupt, sei es auch sich selbst, rechtlich verpflichten, wenn er der Ursprung rechtlicher Bindung sein könne, keine rechtsfremde Macht, sondern Recht sein müsse. Denn Recht könne nicht aus Macht, könne nur aus Recht werden. So ist das Problem der Selbstverpflichtung des Staates auf das Scheinproblem zurückgeführt, wie die rechtliche Bindung rechtlich gebunden werden könne. Wie schon wiederholt an anderen Stellen, zieht Kelsen auch in diesem Zusammenhang seines neuesten Werkes eine Parallele zwischen Staat und Gott, wobei gewiß auffällige, aber doch wohl nicht durchgängige Analogien zutage treten. Zum Abschluß des Kapitels von "Staat und Recht" befaßt sich Kelsen mit der obersten Einteilung alles Rechtes in privates und öffentliches Recht; Kelsen

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weist an den gangbarsten Theorien dieser Unterscheidung nach, daß sie auf rechtsfremde Kriterien gestützt ist und daß sich hinter der Maske eines rechtlichen Gegensatzes politische Tendenzen verbergen. Dem Staate, der dem öffentlichen Rechte untersteht, namentlich der Verwaltung, soll durch diese Unterwerfung unter ein Recht sui generis, das seinen Interessen und seinem Mehrwert Rechnung trägt, eine begünstigende Ausnahmsstellung eingeräumt werden. Man könnte fast sagen: das öffentliche Recht korrespondiere mit dem überrechtlichen Staate wie das private Recht mit dem Staate als Rechtsperson. Wird diese dualistische Staatsauffassung überwunden und durch eine monistische und zwar ausschließlich juristische Staatsauffassung ersetzt, so verliert auch der Dualismus von öffentlichem und privatem Recht seine Existenzberechtigung und ist einer an rein rechtlichen Kriterien orientierten Rechtssystematik Raum gegeben. Hat das erste Buch des Werkes das Wesen des Staates zum Gegenstande und es als eine spezifische Sollordnung bestimmt, so stellen sich das zweite und dritte Buch die Analyse dieser Ordnung zur Aufgabe; jedoch unter differenzierten Gesichtspunkten: jenes unter einem statischen Gesichtspunkt, indem es die Geltung der Staatsordnung, dieses unter einem dynamischen Gesichtspunkt, indem es die Erzeugung der Staatsordnung zum Gegenstande nimmt. Eine juristisch sehr fruchtbare Gliederung des Stoffes, die nur das eine Bedenken gegen sich hat, daß sich eine Reihe von Problemen sowohl unter dem statischen als auch unter dem dynamischen Gesichtspunkt betrachten läßt, daß also bei ihnen nicht systematische Notwendigkeit, sondern Belieben über die Zuteilung zu dem einen oder anderen Problemkreis entscheidet. Unter dem statischen Gesichtspunkt werden die Geltung der Staatsordnung (worunter die Lehre von der "Staatsgewalt" und ihren Eigenschaften zu verstehen ist), die Lehre vom Geltungsbereich der Staatsordnung (herkömmlich ausgedrückt: Die Lehre vom Staatsgebiet und Staatsvolk), endlich die Lehre von der räumlichen Gliederung des Staates (Zentralisation und Dezentralisation sowie Staatenverbindungen) vorgetragen. Mit diesem Inhalt wird zugleich eine erschöpfende Kritik der Lehre von den Staatselementen geboten, die den herkömmlich angenommenen Charakter von Wesensmerkmalen des Staates gegen den Charakter bloßer rechtsinhaltlicher Momente vertauschen. Die Lehre von der Staatsgewalt und ihren Eigenschaften ist eine nicht wesentlich modifizierte Zusammenfassung der Souveränitätstheorie, die

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Kelsen in seinem Werke "Das Problem der Souveränität und die Theorie des V6lkerrechts" 2 entwickelt hat. In dieser Hinsicht sei gestattet, auf meine in dieser Zeitschrift veröffentlichte Abhandlung über "Hans Kelsens System einer reinen Rechtstheorie,,3 zu verweisen. Im Lichte einer reinen Rechtslehre ist der einzige juristisch faßbare Sinn der Staatsgewalt, die von der herrschenden Staatslehre als - sehr verschiedenartig charakterisiertes Seinsfaktum verstanden zu werden pflegt, nichts als die spezifische "Gewalt" des Rechtes, das ist seine Geltung. Auch die Souveränität, die vorwiegend noch als irgendwie kausal faßbare Eigenschaft der Staatsgewalt verstanden zu werden pflegt, liegt für Kelsen in der normativen Ebene. Die Souveränität wird von ihm als Ausschließlichkeit der Geltung eines Normensystems und als Ausdruck der Einheit einer Ordnung verstanden. "Daß der Staat souverän sei, bedeutet, daß man voraussetzungsgemäß die Frage nach einem außerhalb dieses Systems liegenden Geltungsgrunde nicht stellen dürfe" (S. 103); "daß der Staat ... als höchstes Rechtswesen vorausgesetzt wird" (S. 106). Unter dieser Voraussetzung ist es ausgeschlossen, irgendwelchen Teilordnungen innerhalb der staatlichen Ordnung Souveränität zuzuschreiben und erledigen sich Lehren von der Art der Theorie der "geteilten" Souveränität. Ist nur der Gesamtordnung Souveränität zuzuschreiben, so schwindet zugleich auch jede grundsätzliche Differenzierungsmöglichkeit zwischen den einzelnen ihr "eingegliederten" Teilordnungen. Auch die Rückzugslinien, für gewisse hohe Verbände zum Unterschiede von den niedrigeren Verbänden, wenn schon keinen Anteil an der "souveränen Gewalt", so doch "Herrschafts-Gewalt", wenn schon nicht Souveränität, so doch Staatlichkeit zu behaupten, ist nicht haltbar. Kelsen weist überzeugend nach, daß zwischen den als Staat angesprochenen Verbänden, namentlich den Gliedstaaten eines Bundesstaates einerseits, anderen - unterstaatlichen - Verbänden, namentlich den Selbstverwaltungskörpern andererseits, nicht ein qualitativer, sondern nur ein quantitativer Unterschied bestehen kann. Von der Gemeinde, als der relativ engsten territorial fundierten Teilrechtsordnung baut sich bis zu der alle Teilrechtsordnungen umfassenden Gesamtrechtsordnung eine durch keinerlei juristisch feststellbare Zäsur unterbrochene mehr- bis vielgliedrige Hierarchie von rechtlichen und darum auch staatlichen Verbänden, das ist Teilordnungen, auf. 2 Verlag lC.B. Mohr, Tübingen 1920. 3 Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. XLI (1921), S. 171-201.

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Die Souveränität muß indes nicht schon der einzelstaatlichen Ordnung zuerkannt, sondern kann auch der alle Einzelstaatsordnungen umfassenden Völkerrechtsordnung vorbehalten werden. Kelsen erachtet beide Hypothesen, die des sogenannten Primates der Völkerrechtsordnung wie die des Primates der Staatsrechtsordnung als rechtstheoretisch möglich, als juristisch gleichwertig, wenngleich ihm weltanschauungsmäßig die erste Hypothese, welche die Souveränität des Einzelstaates überwindet, näher als die zweite Hypothese liegt, welche die Souveränität des Einzelstaates behauptet. Mit der Wahlmöglichkeit zwischen den beiden monistischen Konstruktionen des Verhältnisses zwischen Staats- und Völkerrecht behauptet Kelsen zugleich die Notwendigkeit einer monistischen Konstruktion und verneint er die Möglichkeit einer dualistischen Konstruktion. Das Völkerrecht könne zwar als Teil des staatlichen Rechtes und das staatliche Recht als Teil des Völkerrechtes begriffen werden; die Vorstellung der staatlichen Rechtsordnung und der Völkerrechtsordnung als zweier voneinander völlig unabhängiger, einander gar nicht berührender Normkreise sei jedoch völlig unvollziehbar. Der gegenteilige Standpunkt, den Alfred Verdroß in seinem Buche "Die Einheit des rechtlichen Weltbildes,,4 zu diesen Fragen einnimmt, wird m.E. durch Kelsens Polemik (S. 129) nicht entkräftet. Die Entscheidung zwischen der Alternative: Primat des staatlichen Rechtes, Primat des Völkerrechtes ist danach kein Gegenstand subjektiver Voraussetzung, sondern objektiver Erkenntnis. Gewiß ist das positivrechtliche Material, das der rechtswissenschaftlichen "Konstruktion" des Verhältnisses zwischen Staats- und Völkerrecht zur Verfügung steht, recht dürftig und scheinbar widerspruchsvoll. Doch das erschwert nur, erspart aber der Rechtswissenschaft nicht ihre konstruktive Aufgabe, die ja im Grunde auch nicht anders gegenüber dem einzelstaatlichen Rechtsmaterial besteht, dessen oft chaotische und scheinbar widerspruchsvolle Bestandteile es in den Systemzusammenhang der Staatsrechtsordnung einzuordnen gilt. Gewiß mag manchem mit dem Prätexte positivrechtlicher Satzung auftretenden Rechtsinhalte bloß der Charakter unmaßgeblicher Theorie des Rechtssetzers über das Verhältnis zwischen Staats- und Völkerrecht zukommen, aber es ginge denn doch zuweit, allem einschlägigen Inhalt der Rechtsquellen den Rechtssatzcharakter oder gar die Möglichkeit einschlägiger positivrechtlicher Satzung zu bestreiten. Auch in diesem wie in so vielen Fällen ist es eben die

4 Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen, 1923.

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interpretative Aufgabe der Rechtswissenschaft, maßgeblichen und unmaßgeblichen Rechtsquelleninhalt zu sondern und festzustellen, ob das rechtswissenschaftlich erkennbare gesetzte Recht die rechtswissenschaftliche Auffassung des Rechtsetzers verifiziert oder desavouiert hat. Soweit aber eine derartige positivrechtliche Einheitsbeziehung zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht - eine Einheitsbeziehung gleichviel welcher Richtung - nicht feststellbar ist, bleibt m.E. der Rechtswissenschaft nichts anderes übrig als die Feststellung der Beziehungslosigkeit der beiden in Frage stehenden Normensysteme. Die Rechtswissenschaft, die mangels einer positivrechtlichen Beziehung aus vermeintlicher rechtstheoretischer Notwendigkeit, selbstherrlich eine Völkerrecht und Staatsrecht verbindende Rechtseinheit stiftet, fcillt aus der Rolle der Rechtserkenntnis in die der Rechtschöpfung. Das Nebeneinanderbestehen mehrerer unabhängiger Rechtsordnungen - deren gleichzeitige Bezeichnung als Rechtsordnungen ein untergeordneter terminologischer Streitpunkt sein kann - mag wenig befriedigen, ist aber wohl für die Rechtswissenschaft ebenso denkmöglich wie für die Moralwissenschaft das Nebeneinanderbestehen verschiedener Moralordnungen, z.B. mehrerer heteronomer religiöser und zahlloser autonomer Moralordnungen; oder wie für eine allgemeine Normentheorie der gleichzeitige Geltungsanspruch zweier voneinander völlig unabhängiger, inhaltlich sogar einander widersprechender Normkategorien, wie sie uns in Moral und Recht entgegentreten. - Sehr dankenswert ist, daß Kelsen in diesem Zusammenhange in einem Exkurse auch das Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche aufrollt, dessen grundsätzliche Problematik die allgemeine Staatslehre bisher nicht zu würdigen pflegte. Den räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Rechtsordnung bestimmt Kelsen dahin, daß das Recht grundsätzlich insoweit und insolange gelte, als es nicht selbst seiner Geltung räumliche und zeitliche Schranken setze. Das Staatsgebiet im besonderen definiert Kelsen im Anschluß an Radnitzky und Henrich 5 als "räumlichen Geltungsbereich der staatlichen Rechtsordnung" (S. 147). Wird das Staatsgebiet aus einem Element des Staates zu einem Rechtsinhaltsbegriff, der für die einzelne Rechtsordnung nur durch Satzung Geltung erlangt, so hört natürlich die Seßhaftigkeit auf, Voraussetzung des Staates zu sein; es ist wahrhaftig nicht einzusehen,

5 Theorie des Staatsgebietes. Wien 1922.

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warum nicht ein wanderndes Volk ebenso wie ein seßhaftes einen Staat bilden könne. Für eine allgemeine Staatslehre ist auch neu, daß ihr das Verhältnis von Recht und Zeit (unter dem Gesichtspunkt des zeitlichen Geltungsbereiches der Rechtsordnung) zum Problem wird. Das Staatsvolk kann nicht etwa als ethnographische oder sonstwie kausalwissenschaftlich erfaßbare Einheit juristisch relevant sein; seinjuristisch relevanter Kern sind "die im Inhalt der Rechtsordnung verbundenen, als menschliches Verhalten qualifizierten Tatbestände" (S. 159). Die herkömmlich unter dem Gesichtspunkt des Staatsvolkes aufgerollten "staatsrechtlichen" Probleme erweisen sich größtenteils als im Naturrechte verwurzelte Scheinprobleme. Man denke an die Lehre von den Freiheitsrechten (mit deren Setzung, wie Kelsen treffend aufzeigt, die Verfassungen in der Regel unverbindlichen, überflüssigen Gesetzesinhalt einführen), an die Lehre von den wohlerworbenen Rechten und vom Staatsnotrecht. Wenn in dem wertvollen Werke eine Graduierung der Wertung angebracht ist, so gehört das Kapitel, das die räumliche Gliederung des Staates behandelt, zum Wertvollsten, wenngleich auch hier in untergeordneten Einzelheiten Vorbehalte zu machen sind. Staunenswert ist die Kasuistik, mit der die verschiedenen positivrechtlichen Möglichkeiten der Zentralisation und Dezentralisation bloßgelegt werden. Für den Begriff der Selbstverwaltung, den Kelsen in diesem Zusammenhange untersucht, erachtet er die Gedanken der Demokratie und der Dezentralisation als begriffswesentlich. "Was mit dem Schlagwort der 'Selbstverwaltung' gemeint ist, das ist im wesentlichen: eine dezentralisierte Teilordnung, deren Normen demokratisch erzeugt werden." (S. 181) Nicht ganz einleuchtend ist die scharfe Polemik gegen die übliche Kontrastierung von Selbstverwaltung und Staatsverwaltung. Wäre im Ausdruck "Staatsverwaltung" das Wort Staat im Rechtswesenssinn, identisch mit Recht verstanden, dann wäre es gewiß sinnlos, die Selbstverwaltung, die - nicht anders als selbst die Erscheinungen der Privatautonomie - eine Funktion des so verstandenen Staates ist, demselben Staate als Gegensatz gegenüberzustellen. Doch es steht ja außer Diskussion, daß die zur Selbstverwaltung in Gegensatz gestellte Staatsverwaltung eine Funktion des Staates im engeren, rechtsinhaltlichen Sinne des Wortes sein soll. Dieser Begriff steht aber durchaus nicht eindeutig fest, wie Kelsen selbst später feststellt (S. 275), wie er umschrieben wird, ist lediglich eine Frage der Begriffsökonomie. Und diese erlaubt immerhin eine solche Umschreibung des rechtsinhaltlichen Staatsbegriffes, daß er die so unab6A.J. Merkl

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hängige, mit einem eigenen Organapparat ausgestattete Selbstverwaltung nicht in sich begreift. Auch daß man dem Selbstverwaltungskörper juristische Persönlichkeit zuschreibt, ist, sofern man überhaupt mit dieser Hilfsvorstellung operiert, vielleicht eher vertretbar, als Kelsen einräumen möchte, denn gerade der Selbstverwaltungskörper stellt - im Vergleich mit anderen üblicherweise personifizierten "Verbänden" - eine verhältnismäßig sehr deutlich abgegrenzte und zur Personifikation tendierende Teilordnung dar. Vor allem ist das Kriterium der vom Staatsfiskus verschiedenen aktiven und passiven Klagslegitimation, der Vermögensfähigkeit und außerdem oft, wenigstens in einem Teile des Wirkungskreises, eine Autonomie gegeben, die sich durchaus nicht von der Privatautonomie des bürgerlichen Rechtes unterscheidet. Sehr richtig ist, was Kelsen gegen die Annahme eines "eigenen" Rechtes und eines "selbständigen" Wirkungskreises der Gemeinde anführt; eine von naturrechtlichen Schlacken gereinigte Rechtslehre kann in den erwähnten Erscheinungen selbstverständlich nur qualifizierte Delegierungen der einen positiven Rechtsordnung erkennen. Ungemein fruchtbar wird Kelsens reine Rechtslehre für die Lehre von den Staatenverbindungen. Wie unerhört ist doch angesichts der bisherigen Lehre von den Staatenverbindungen die Leistung, daß der immer verabsolutierte Gegensatz von Staatenbund und Bundesstaat relativiert ist, und wie einfach und selbstverständlich mutet uns diese rechtstheoretische Leistung an, nachdem sie in zwingender Argumentation vollbracht ist! Überzeugend wird dargetan, daß der Entstehungsweg oder die Rechtsgrundlage - Vertrag oder Verfassung? - keinen Wesensunterschied der bestehenden Staatenverbindungen begründen kann. Das Kriterium des Unterschiedes kann nur im Rechtsinhalt zu suchen sein. Beim Vergleich des in Betracht kommenden Rechtsinhaltes stellt sich jedoch heraus, daß die beiden Typen von Staatenverbindungen bei wesensgleicher Struktur nur einen verschieden großen Grad von Zentralisation oder Dezentralisation aufweisen; den Staatenbund im besonderen kann man als stark dezentralisierten Bundesstaat auffassen. Die einzige Hemmung dieser Konstruktion und überhaupt der Einsicht in die derart revidierte Lehre von den Staatenverbindungen geht von bewußten oder unbewußten politischen Rücksichten aus. Unter dem dynamischen Gesichtspunkt behandelt Kelsen die Erzeugungsstufen, die Erzeugungsorgane und die Erzeugungsmethoden der Staatsordnung.

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An die Stelle der traditionellen Lehre von den Staatsgewalten, die, weil von politischen Rücksichten beeinflußt, das vom positiven Recht vorgezeichnete Bild der Rechtserscheinungen teils ungeheuer vereinfacht, teils verzerrt hat, tritt die sogenannte Stufentheorie . Deren Grundgedanke ist, daß das Recht in einer mehr oder weniger langen, positivrechtlich wechselnden Reihe von Teilprozessen zur Entstehung gelangt, denen je ein bestimmter Rechtsformtypus entspricht. Staatsfunktion ist überhaupt nur Rechtserzeugungsfunktion, und zwar "der stufenweise fortschreitende Prozeß der Normsetzung" (S. 249). An der Spitze des Stufenbaues steht die von Kelsen sogenannte Ursprungshypothese oder Grundnorm; der Name erklärt sich daraus, daß diese Norm - die einzige ihrer Art im ganzen Rechtssystem die Einheit der Rechtsordnung in ihrer Selbstbewegung begründet. Sie allein - als Ursprung der gesamten Rechtsordnung - ist nicht von der Rechtsordnung gesetzt, sondern von der Rechtserkenntnis vorausgesetzt. "Indem diese (Ursprungsnorm) allererst ein das Recht erzeugendes Organ einsetzt, bildet sie die Verfassung in einem rechtslogischen Sinne. Und indem der solcherweise geschaffene Gesetzgeber Normen setzt, die die Gesetzgebung regeln, entsteht - als nächste Stufe - die Verfassung im positivrechtlichen Sinne. "(S. 249) An sie reihen sich als weitere Stadien des Prozesses der Konkretisierung und Individualisierung regelmäßig das Gesetz, die Verordnung, das private Rechtsgeschäft, die behördliche Individualnorm (gerichtliches Urteil, administrative Entscheidung und Verfügung), endlich der reine, nicht zugleich wieder norm setzende Vollzugsakt an. Dieses fluktuierende Bild der aus vielerlei Rechtserzeugungsakten zusammengesetzten Staatstätigkeit bringt erst recht die Problematik der historisch überkommenen Gliederung der Staatstätigkeit in die drei großen Teilgebiete Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung zum Bewußtsein. Kelsen verzichtet im Grunde darauf, zwischen Gesetzgebung und Verwaltung eine feste Grenze zu ziehen; den Unterschied zwischen Verwaltung und Justiz sucht er (einigermaßen abweichend von einem früheren Abgrenzungsversuch, S. 242) endgültig in dem m.E. einzig durchgreifenden Kriterium der unterschiedlichen Rechtsstellung des handelnden Organs hier unabhängiger Richter, dort abhängiger Verwaltungsbeamter (S. 230). Schon in dem systematisch engen Rahmen der Verwaltung (S. 238) stellt Kelsen einen zweiten, engeren Staatsbegrif.{zum Problem, um dieses Problem in der Lehre von den Staatsorganen nochmals aufzunehmen (S. 275), ohne jedoch zu diesem Gegenstande ein letztes abschließendes Wort zu 6*

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sagen. Ganz unvermeidlich fordert der weite, durch die Identifikation mit dem Recht sich ergebende Rechtwesensbegriff des Staates ein Gegenstück in Gestalt eines engeren, auf einen bloßen Ausschnitt der rechtlich relevanten Funktionen beschränkten Staatsbegriffes, den Kelsen den Rechtsinhaltsbegriff des Staates 6 nennt. Auch im Kaufvertrage, im Kollektivvertrage, selbst im Ehevertrage tritt der Staat in Erscheinung; weil Rechtsfunktionen, liegen auch Staatsfunktionen vor. In gewissen Rechtsfunktionen, etwa in der Gesetzgebung, in der Justiz, in der behördlichen Verwaltungstätigkeit einerseits, in den Geschäften, in denen der "Staat" als Privatrechtssubjekt auftritt (z.B. der bergbautreibende oder schulenbetreibende "Staat") andererseits, glaubt man jedoch eine engere, intensivere, qualifizierte Beziehung zum Staate feststellen zu können. In Wirklichkeit liegt in diesen Fällen die Bezugnahme zu einem qualifizierten "Staate" vor. Dieser zweite engere Staatsbegriff Kelsens fällt im Grunde mit dem einen Staatsbegriffe der herrschenden Staatslehre zusammen. Seine Abgrenzung gegen den weiteren Staatsbegriff gestaltet sich aber zu einer schier unlösbaren Aufgabe. Wie fest umrissen der weitere Staatsbegriff ist, so fließend ist der engere. Es gelingt Kelsen, mehrere unbewußt diesem Staatsbegriff zugrunde gelegte Kriterien ins klare zu stellen; da sich aber die herrschende Lehre über diese Kriterien nicht Rechenschaft ablegt, schwankt ihr Staatsbegriff oder operiert sie eigentlich abwechselnd mit verschiedenen Staatsbegriffen - z.B. das eine mal mit einem solchen, der die Selbstverwaltung in sich begreift, das andere Mal mit einem anderen, der die Selbstverwaltung ausnimmt. Die Feststellung dieses Staatsbegriffes kann nicht eigentlich Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis sein, sondern ist eine (willkürliche) Funktion der Rechtswissenschaft, die sich dabei bloß an den Forderungen der Denkökonomie zu orientieren hat. Unter diesem Gesichtspunkt kann es m.E. möglicherweise zweckmäßig werden, mit mehreren, untereinander abweichenden rechtsinhaltlichen Staatsbegriffen zu operieren. In der Tat operiert das positive Recht selbst, das des Halts einer sicheren Theorie entbehrt, mit wechselnden Staatsbegriffen. Die mindeste denkökonomische Forderung an die Begriffsbestimmung ist jedoch, daß dem Rechtsinhaltsbegriffe des Staates die Rechtsinhaltsbegriffe der Staatsfunktion und des Staatsorganes korrespondieren; d.h. daß überall, aber auch nur dort ein Staatsorgan von

6 Hiebei folgt er einer von Walter Henrich in seiner Theorie des Staatsgebietes gegebenen Anregung.

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rechtsinhaltlichem Sinn als handelnd angenommen wird, wo der Staat im rechtsinhaltlichen Sinn in Erscheinung tritt. Erst diese Problematik des Staatsbegriffes, deren sich die herrschende Staatslehre kaum bewußt wird, bringt das Verdienst und den Vorteil zum vollen Bewußtsein, daß durch die Gleichsetzung mit dem Rechte wenigstens ein unverrückbarer Bedeutungskern für den Staatsbegriff gewonnen ist. Grundsätzlich neu und ausnehmend tief ist endlich auch die Lehre vom Staatsorgan. In lichtvoller Weise wird der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem rechtlichen Organe auseinandergesetzt. Auch hier begegnet uns der Dualismus eines Rechtsformenbegriffes und Rechtsinhaltsbegriffes. Im ersten Sinne kommt das Staatsorgan als Erzeuger und Vollzieher der Staatsordnung in Betracht. "Staatsorgan im Sinne eines die staatliche Ordnung schaffenden Werkzeuges ist somit der durch die Norm höherer Stufe bestimmte Setzer der Norm niederer Stufe." (S. 262) Infolge der Relativität des Gegensatzes von Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung ist der Erzeuger in der Regel zugleich auch Vollzieher der Norm. Der Rechtsinhaltsbegriff des Staatsorganes steht ebensowenig wie der Rechtsinhaltsbegriff des Staates eindeutig fest. "Nur mehr oder weniger typische Momente lassen sich aufzeigen." (S. 271) Als solche glaubt Kelsen die Pflichtmäßigkeit, die Berufsmäßigkeit und die Entgeltlichkeit der Funktion erkennen zu können. Im Zuge der Begriffsbestimmung der Behörde entwickelt Kelsen seine überzeugende Theorie des fehlerhaften Staatsaktes, wonach grundSätzlich jedes Manko von den rechtlichen Entstehungsbedingungen eines Organaktes dessen Nichtigkeit begründe. In Vorführung der Arten der Staatsorgane ist die Darlegung der verschiedenen Spielarten des zusammengesetzten Organes von besonderem Interesse. Unter dem Gesichtspunkt der Stellung des Staatsorganes im Stufenbau der Staatsordnung werden in breiter Kasuistik die Probleme der Normgemäßheit der Organfunktion und ihrer Garantien, namentlich die verschiedenen Möglichkeiten der Prüfung der Rechtmäßigkeit der zu vollziehenden Norm erörtert. Mit der Theorie der Selbstlegitimation des obrigkeitlichen Aktes wird eine von der Doktrin des konstitutionellen Staatsrechtes aufgerichtete naturrechtliche Schranke des (mangels anderer positivrechtlicher Regelung) bestehenden unbeschränkten Prüfungs- und Entscheidungsrechtes des Normvollziehers weggeräumt. Das Problem der Rechtskraft möchte Kelsen in dem Sinne lösen, daß Staatsakte als unabänderlich zu betrachten sind, wofern die Rechtsordnung nicht bestimmt, daß und unter welchen Bedingungen sie

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abgeändert werden können. 7 Was das gegenseitige Verhältnis der Staatsorgane betrifft, hat Kelsen das Verdienst, einerseits die unzulänglichen Kriterien des Subordinationsverhältnisses, andererseits die Unklarheiten des Begriffes des "höchsten" Organes bloßgelegt zu haben. Das sogenannte Staatsoberhaupt stellt sich seinem Wirkungskreise nach oft nur als ein wichtiges Vollzugsorgan dar und ist, wofern sich der Rang eines Organes nach seiner Funktion bemißt, oft weit davon entfernt, ein absolut höchstes, geschweige denn das höchste Staatsorgan zu sein. In geistreicher Weise sucht Kelsen vornehmlich in der "Symbolfunktion" den Existenzgrund des sog. Staatsoberhauptes (S. 305). Die Analyse des Repräsentativorganes gibt Kelsen Gelegenheit, die Repräsentativfiktion bis in ihre letzten Winkel zu verfolgen; die Vorstellung der Repräsentation des Volkes durch das Parlament - ja sogar durch den Monarchen, die Vorstellung der Repräsentation des Monarchen durch den Richter, die Idee der Volkssouveränität u.dgl. sind typische Anwendungsfälle dieser politischen Zwecken und nicht juristischer Erkenntnis dienenden Fiktion. Im neunten und letzten Kapitel wird unter dem Titel der "Erzeugungsmethoden" die Lehre von den Staatsformen abgehandelt. Der Titel erklärt sich aus der Auffassung der Staatsformenlehre als "Lehre von den verschiedenen Möglichkeiten, die staatliche Ordnung als die Rechtsordnung zu erzeugen" (S. 320). "Staatsform ist Rechtsform als Rechtserzeugungsform. " "Staatsformen sind die typischen Inhalte der die Rechtserzeugung betreffenden Normen." (S. 321) Ausgangspunkt für die Analyse der Staatsformen ist die Idee der Freiheit, die als die Grunddominante aller sozialen Spekulation charakterisiert wird. Die Entwicklung des Bedeutungswandels des Freiheitsbegriffes von der Negationjeder staatlichen Bindung zu einer bestimmten Form dieser Bindung gehört zu den tiefsten Gedankengängen des tiefen Buches. Der Abstand zwischen dem sogenannten modernen und dem antiken Freiheitsideal ist der Abstand zwischen natürlicher und politischer Freiheit, zwischen der Freiheit der Anarchie und der Freiheit der Demokratie. Natürlich frei ist der durch eine soziale Ordnung Ungebundene. Politisch frei ist, wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen untertan ist. Nun ist aber politische Freiheit im Sinne einer Bindung an den 7 Damit stellt sich Kelsen auf den Standpunkt, den ich in meinem Buche "Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff' (Wien, Verlag Deuticke 1923) eingenommen habe.

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eigenen Willen nur ein Grenzfall. Die reale Demokratie muß sich mir irgendeiner Annäherung an diesen Idealtypus genügen. Die relativ größte Annäherung gewährleistet das Majoritätsprinzip. Der Sinn des Majoritätsprinzipes ist, "daß wenn schon nicht alle, so doch möglichst viele Menschen frei sein, d.h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen" (S. 323). Es ist durchaus einleuchtend, wenn Kelsen das Majoritätsprinzip aus der Idee der Freiheit und nicht, wie üblich, aus der Idee der Gleichheit ableitet, doch ist damit wohl noch nicht jedwede, ja nicht einmal die überragende Bedeutung des Gleichheitsgedankens neben dem Freiheitsgedanken für die Demokratie in Frage gestellt, der vielmehr um so eher für die Demokratie charakteristisch erscheinen muß, als man zwischen Demokratismus und Liberalismus einen Unterschied macht und das letztgenannte politische System vorzugsweise durch die Freiheitsforderung charakterisiert erachtet. In überaus feinsinniger Weise entwickelt Kelsen eine weitere Funktion des Majoritätsprinzipes im Dienste des Freiheitsgedankens. Die Existenz einer Mehrheit bedinge die Existenz einer Minderheit, das Recht der Majorität die Existenzberechtigung einer Minorität; damit ergebe sich die Möglichkeit eines Schutzes der Minderheit gegen die Mehrheit und eines Kompromisses zwischen der Mehrheit und Minderheit. Überzeugend tritt Kelsen der von sozialistischer Seite (namentlich von Max Adler) vertretenen Anschauung entgegen, daß das Majoritätsprinzip (und damit im Grunde überhaupt die Demokratie) nur in einer aufInteressengemeinschaften beruhenden, nicht durch den Klassengegensatz gespaltenen Gesellschaft denkbar sei. Wie in so vielen vermeintlichen oder behaupteten theoretischen Erkenntnissen der herrschenden Staatslehre verbirgt sich auch in dieser Aufstellung der marxistischen Staatstheorie ein politisches Postulat, das wie so viele derartige Verschleierungen von Kelsen treffsicher enthüllt wird: Das Postulat, den Klassengegensatz nicht kompromissarisch, sondern revolutionär, nicht demokratisch, sondern autokratisch-diktatorisch zu überwinden. Als letzten Schritt im Bedeutungswandel des Freiheitsbegriffes stellt Kelsen dessen Übertragung vom Individuum auf den Staat dar: Frei oder Freistaat ist der Staat, dessen Form die Demokratie ist, dessen "Wille" oder Rechtsordnung von denjenigen selbst erzeugt wird, die dieser Ordnung unterworfen sind; der unfreie Staat, die Autokratie, ist jener Staat, wo die staatliche Ordnung von einem Einzigen unter völligem Ausschluß der Untertanen erzeugt wird. Wird der Anteil der Normunterworfenen an der Normerzeugung als oberster Einteilungsgrund der Staatsformen angenommen, so ist

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damit der unterschiedliche Weg der Willensbildung als oberster Einteilungsgrund der Staatsformen abgelehnt. Dieser Einteilungsgrund ist schon darum unbrauchbar, weil jeder denkbare Weg der Willensbildung für eine realpsychologische Betrachtung ein psychischer, für die in der Rechtswissenschaft allein maßgebliche juristische Betrachtung aber ein rechtlicher ist. Die derart charakterisierten Staatsformen der Autokratie und Demokratie stellen sich unserem Autor nur als polare Idealtypen dar, innerhalb deren die Wirklichkeit des positiven Rechtes eine kontinuierliche Reihe von Übergängen, von Mischformen schafft. Mit der obersten Einteilung der Staatsformen in Autokratien und Demokratien ist die herrschende Einteilung der Staatsformen in Monarchien und Republiken in die zweite Linie gedrängt. Mehr noch: unter der Kritik der reinen Rechtslehre wird diese traditionelle Einteilung der Staatsformen überhaupt problematisch. Die Lehre von Monarchie und Republik zeigt sich in so vielen Punkten als politisch irregeleitet, namentlich in monarchischer Richtung befangen, daß man fast versucht ist, anzunehmen, der juristische Dualismus von Monarchie und Republik sei überhaupt politischen Motiven entsprungen. Symptom einer monarchischen Befangenheit der Staatsformenlehre ist abgesehen von der Tatsache, daß die Republik als reines Negativ der Monarchie erscheint, eine Zeichnung der Rechtsstellung des Monarchen, die bestenfalls der absoluten Monarchie entspricht, dagegen dem positiven Rechte der beschränkten Monarchien widerspricht. Kelsen zeigt diese naturrechtliche Überhöhung der Rechtsstellung des Monarchen im einzelnen auch an der Theorie vom Monarchen als Träger der "höchsten Gewalt", an der Annahme seiner "freien", das will sagen rechtlich nicht determinierten Verfügung über gewisse Kompetenzen, an der Annahme eines "eigenen" Rechtes des Monarchen auf seine Stellung und - mit besonderer Einläßlichkeit - an der Theorie des konstitutionellen Staatsrechtes, wonach der Monarch der ausschließliche Gesetzgeber sei, indem er dem von der Volksvertretung formulierten Gesetzesinhalt den Gesetzesbefehl beifüge. Für die juristische Betrachtung reduziert sich die derart vergrößerte Stellung des konstitutionellen Monarchen in der Weise, daß er als der Rechtsordnung unterworfenes, dem Parlament gleichgeordnetes, namentlich auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung paritätisches Organ erscheint. Ebenso zutreffend ist es, wenn Kelsen die juristische Relevanz der Unterscheidung zwischen Despotie und absoluter Monarchie bestreitet; ebensowenig entsprechen übrigens auch der theokratischen, patriarchalischen und

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patrimonialen Staatsauffassung rechtliche Unterschiede. In allen diesen Fällen handelt es sich nicht, wie üblicherweise angenommen wird, um verschiedene rechtliche Arten der absoluten Monarchie, sondern nur um unterschiedliche politische Ideologien, die dieser einen Staatsform zugrunde gelegt worden sind; dasselbe wäre übrigens auch vom sogenannten aufgeklärten Absolutismus zu sagen. Juristisch faßbar ist hingegen der Unterschied zwischen der unbeschränkten und den verschiedenen Arten der beschränkten Monarchie. Der üblicherweise angenommene beziehungslose Dualismus der beiden "Gewalten" im Ständestaat stellt sich als eine ungewohnte überwundene und darum von der Staatslehre unverstandene Form einer dualistischen Dezentralisation eines Einheitsstaates heraus. Eine eingehende, vielerlei Mißverständnisse der konstitutionellen Doktrin aufhellende Betrachtung erfährt die konstitutionelle Monarchie, unter der Kelsen auch die üblicherweise von ihr unterschiedene parlamentarische Monarchie begreift. Es handelt sich vielleicht in diesen beiden Fällen nicht "nur um zwei verschiedene Wirkungsmöglichkeiten innerhalb der Ordnung eines und desselben Rechtstypus" (S. 340), sondern vielmehr um zwei Abarten der beschränkten Monarchie, die an der Hand bestimmter positivrechtlicher Kriterien - unterschiedlicher verfassungsgemäßer Anteil des Monarchen und des Parlamentes an der Gesetzgebung und Vollziehung - auch juristisch unterscheidbar sind. Von den beiden Grundtypen der Republik steht heute die Demokratie begreiflicherweise im Vordergrunde der Betrachtung; es geht aber doch vielleicht zu weit, der Aristokratie jede Bedeutung für die Gegenwart abzusprechen. Es mag zwar ungewohnt sein, Sowjet-Rußland als modemes Beispiel einer Aristokratie anzuführen, warum sollte aber nicht auch die Herrschaft einer Klasse, die nur eine Minderheit innerhalb des Gesamtvolkes bildet, den Aristokratien - in dem weiteren Sinn von Minderheitsherrschaften - zuzuzählen sein? Aus dem Problemkreis der Demokratie behandelt der Autor in herkömmlicher Weise namentlich die Wahlsysteme, den Parlamentarismus einschließlich der Versuche zu dessen Ausbau oder Überwindung und die Modifikationen am parlamentarischen System, die sich aus den Einrichtungen der Volksinitiative und des Referendums ergeben. In diesem Zusammenhang nimmt Kelsen die Gelegenheit wahr, sich mit der geistreichen, aber doch mehr blendenden als überzeugenden Schrift von Carl Schmitt über" die geistesgeschichtliche Lage des modemen Parlamentarismus" auseinanderzusetzen und das Unausgedachte an dem Vorschlage einer das Parlament ersetzenden berufsständischen Vertretung aufzuzeigen. An der Gegenüberstellung der Demokratie der Gesetzgebung

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und Demokratie der Vollziehung macht Kelsen offenbar, daß die Frage der Staatsform durchaus noch nicht aus der Verfassung, mit anderen Worten aus der Regelung der Gesetzgebung, eine erschöpfende Antwort erfährt, sondern daß für die Staatsform auch die Vollzugsordnung, die Erzeugung der niedrigeren Normstufen mitbestimmend ist; die Relevanz aller der Verfassung untergeordneten Stufen der Rechtsordnung für das Problem der Staatsform ergibt sich aus der Einsicht in die Relativität des Gegensatzes zwischen diesen Stufen, aus der Erkenntnis, daß nicht bloß die Verfassung, sondern die Gesamtheit der Rechtsordnung Erzeugungsregel für den" Staatswillen ", für das Recht ist. Indes kann das Urteil über die Staatsform, das sich aus der Verfassungsstufe ergibt, durch die Gestaltung der anderen Stufen der Rechtsordnung nicht mehr in Frage gestellt werden. Die überragende Stellung der Verfassungsstufe in der Rangordnung der Rechtserscheinungen kommt in der Weise zum Ausdruck, daß die untergeordneten Stufen nur gewissermaßen Nuancierungen des in der Verfassung ausgeprägten Grundcharakters der Staatsform mit sich bringen können. So bedeutet beispielsweise Autokratie der Vollziehung neben Demokratie der Gesetzgebung höchstens einen autokratischen Einschlag in die grundsätzlich bestehende Demokratie, wofern man nicht mit Kelsen gar in der Demokratie der Verwaltung eine Schwächung und in der Autokratie der Verwaltung eine Stärkung der vom Zentralparlament repräsentierten, in der Gesetzgebung ausgeprägten Demokratie erkennt. Überzeugend ist der Hinweis, daß auch das private Rechtsgeschäft, die ehedem so genannte Privatautonomie, einen demokratischen Einschlag in die Erzeugung der Privatrechtsordnung bedeutet. Im Schlußparagraphen beleuchtet Kelsen die Zusammenhänge zwischen Staatsform und Weltanschauung. Er hält den Relativismus für die Weltanschauung, die den demokratischen Gedanken voraussetze; dem politischen Absolutismus sei eine metaphysische, insbesondere religiös-mystische Weltanschauung kongenial. Daß der Relativismus die Unmöglichkeit in sich schließt, für ein politisches Programm absolute Gültigkeit zu beanspruchen, also den politischen Absolutismus zu vertreten, leuchtet jedenfalls ein; daß der Glaube an absolute Werte den Demokratismus ausschließe, erscheint mir als weniger zwingender Zusammenhang. Kelsen entscheidet sich vom Standpunkt seiner Weltanschauung unverkennbar für die Demokratie als den Ausdruck eines politischen Relativismus. Wie immer sich die Kritik zu Kelsens Staatslehre stellen mag, wird sie unmöglich noch die Behauptung wagen können, daß sie sich in unfruchtba-

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rer Negation erschöpfe, sondern einräumen müssen, daß sie die Rechts- und Staatswissenschaft um ein Werk bereichert hat, das zu den Standardschriften unserer Wissenschaft gezählt zu werden beanspruchen darf.

Individualismus und Universalismus als staatliche Baugesetze Eine Typologie der staatsgestaltenden Ideen ist in aller Fülle der juristischen und politischen Literatur bisher nicht anzutreffen. Selbstverständlich kann es nicht Aufgabe der Abhandlung einer Zeitschrift sein, diese Lücke auch nur skizzenhaft auszufüllen, sondern höchstens, auf sie und das damit aufgegebene staatstheoretische Problem aufmerksam zu machen. Die Rolle des Individualismus und des Universalismus als staatsgestaltende Ideen ist freilich nicht unerkannt geblieben, I doch ist die einschlägige Literatur mehr staatspolitisch als staatstheoretisch orientiert, d.h. bestrebt, den Individualismus oder den Universalismus - je nach dem politischen Bekenntnis des Theoretikers - als das einzige wahre Baugesetz des Staates nachzuweisen und der gegenteiligen politischen Grundeinstellung destruktive, also im Grund apolitische Wirkungen nachzuweisen. Eine an der geschichtlichen Erfahrung wie übrigens auch an der Idee der genannten politischen Grundeinstellungen orientierte und politisch voraussetzungslose Erkenntnis kann weder an der Variationsfähigkeit und an der Relativität der beiden Grundtypen politischen Denkens und politischen Handelns, die man neuestens gemeiniglich als politischen Individualismus und Universalismus einander gegenübergestellt, noch auch an ihrer Konkurrenz in der Staatengeschichte, die diese geradezu als eine Schaukelbewegung zwischen Individualismus und Universalismus erscheinen läßt, vorbeisehen. Der Monopolanspruch der einen wie der anderen politischen Ideenrichtung und gar die prätentiöse Exklusivität der einen oder der anderen Variante eines der beiden politischen Grundsysteme wird also höchstens von einer zeitlich und Revue internationale de la Theorie de droit, 8. Jg. (1934), S. 243-265. Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 1, S. 417-445. I Über Begriff und soziale Funktion von Universalismus und Individualismus vergleiche vornehmlich die grundlegenden Ausführungen von Spann, Gesellschaftslehre, 2. Aufl., 1923, S. 51ff.

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örtlich bedingten politischen Situation, niemals aber vom Lauf der Geschichte anerkannt. Nicht die objektiven Merkmale der auf dem Individualismus und dem Universalismus beruhenden Staatsordnungen entscheiden letztlich über deren Haltbarkeit, sondern die subjektive Einstellung des Staatsvolkes, in dessen öffentlicher Meinung die wahre Staatsautorität verankert ist, trifft diese Entscheidung. Gewiß hat eine universalistisch fundierte Staatsordnung größere Chancen der Beständigkeit für sich, weil sie selbst eine entwurzelte Staatsautorität mit sozusagen autoritären Mitteln am Leben erhalten kann und will, während eine individualistisch fundierte Staatsordnung gemäß dem ihr eigenen Baugesetz abdanken muß, wenn sie die spezifische Staatsautorität verloren hat. Aber auf die Dauer läßt sich auch ein universalistisch fundiertes Staatsgebäude nicht gegen Einsturz sichern, wenn ihm die Basis wahrer Staatsautorität, d.i. die innere Bejahung der Grundlagen der Staatsordnung durch das Staatsvolk, entzogen ist. Äußere Staatsmacht und erfolgreiches Einsetzen der Machtmittel nach außen und nach innen - in dieser Hinsicht gegen den individuellen Rechtsbrecher - ist bedingt durch Staatsautorität im Sinn einer geistigen Macht, eines inneren Konsenses zwischen Herrscherwillen und Volkswillen, der denkbarerweise gewiß ebenso im autokratischen wie im demokratischen Staat bestehen kann. Gerade ein universalistischer Denker und Theoretiker des Nationalsozialismus hat das einsichtige Wort geprägt: "Das geistige Leben läßt sich nicht gleichschalten, sondern es muß innerlich umgestaltet werden. ,,2 Eine solche innere Umgestaltung und Vereinheitlichung des politischen Denkens ist aber angesichts der unendlichen Mannigfaltigkeit der menschlichen Individualität nur in beschränktem Raum und für beschränkte Zeit möglich; so ist denn auch die Grundlage jeder Herrschaftsordnung, nämlich die Einheitlichkeit des politischen Denkens, ungeachtet aller Versuche rechtlicher und tatsächlicher Garantien des jeweiligen Herrschaftssystems auf die Dauer nirgends und niemals zu erreichen. Wenn sich auch alle staatlichen Bausteine bei Abstraktion ihres differenzierenden Ideengehaltes letztlich auf die bei den Grundideen des Individualismus und Universalismus zurückführen lassen, so bedeutet das doch nicht, daß diese Ideenkreise örtlich und zeitlich immer streng getrennt sein müssen oder auch nur getrennt sein können. Es dürfte empirisch lückenlos nachzu-

2 Koellreutter, Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution, 1933, S. 7.

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weisen sein, daß jede Rechts- und Staatsordnung Bestandteile individualistischen und universalistischen Gepräges in sich trägt und daß daher die Annahme der Herrschaft der einen oder anderen Grundidee nur den Sinn hat, daß entweder der Individualismus oder der Universalismus die Dominante der wirksamen politischen Ideen und rechtlichen Institutionen ist, wobei das Mischungsverhältnis der einander ideologisch widersprechenden Bausteine der Rechts- und Staatsordnung allerdings derart variieren kann, daß bald der Anschein eines unausgeglichenen Kompromisses, bald aber auch der einer Alleinherrschaft des politischen Individualismus oder des Universalismus entstehen kann. Diese gegenseitige Überlagerung von individualistischem und universalistischem Gedankengut, die in manchem Staatsgebäude geradezu den Eindruck einer geologischen Schichtung erweckt, ist die selbstverständliche Folge davon, daß kein neues zur Herrschaft gelangtes politisches System einen vollen Umbruch des gesellschaftlichen Erdreichs herbeiführen kann, sondern jedes neue System nach Umackerung gewissermaßen der oberflächlichen Schichten doch auf dem vorgefundenen und von einem fremden politischen System vorbearbeiteten Boden neu aufbauen muß. Jeder Staatsstreich und jede Revolution muß bewußt oder unbewußt bei ihren Vorgängern - meist einem politischen Antipoden - geistige Anleihen machen, die über alle geschichtlichen Zäsuren hinweg eine gewisse Kontinuität der politischen Entwickelung bewirken und - sub specie aeternitatis - hinter der Fassade der Revolution doch auch eine gewissermaßen organische Evolution erscheinen lassen. Aber nicht bloß diese technische Notwendigkeit der Rezeption von Bestehendem bei jeder politischen Erneuerung führt zu einer Vermischung widersprechender politischer Ideologien und Institutionen, sondern auch der innere Widerspruch in der Staats gesellschaft, der niemals eine einer bestimmten politischen Idee völlig adäquate Staatswillensbildung zum Durchbruch kommen, vielmehr die empirische Staatswillensbildung unvermeidlich zur Komponente verschiedener Strömungen und Bestrebungen, die sich freilich in sehr verschiedenem Maße durchsetzen, werden läßt. Gewiß muß sich das geschichtlich überwundene und von seinem Gegenspieler abgelöste politische System sozusagen tarnen und seinem Gegenspieler assimilieren, um in einem gewissen Umfang unter den neuen politischen Bedingungen Bestand zu behaupten; ganz läßt sich aber ein politisches System, das einmal staatsbeherrschend war, von seinem siegreichen Gegner nach allen Erfahrungen der Geschichte weder verschütten noch gar ausrotten. Diese Erfahrung hat bekanntlich schon Aristoteles wenigstens hinsichtlich des Wechsels

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der Staatsformen ausgesprochen, indem er, über alle Dekadenz der Demokratien seiner Zeit vorausschauend, angesichts der von ihm bejahten und geradezu ideologisch fundierten Diktatur der Mazedonierkönige der Meinung Ausdruck gab, daß unter gewissen sozialen Bedingungen - von seinem Standpunkt aus wohl bedauerlicherweise - die Demokratie die Staatsform der Zukunft sein werde. Der Ausspruch dieses Staatsphilosophen müßte für die Staatskonstrukteure aller Zeiten, die für Äonen zu bauen vermeinen, eine ernste Mahnung sein, wenn sie nur auf Staatsphilosophen hören wollten '" Außer soziologischen Tatsachen erklärt aber auch ein psychologisches Phänomen die Koexistenz widersprechender politischer Ideen und selbst einer individualistischen und universalistischen Komponente innerhalb derselben Staats- und Rechtsordnung. Wenn auch bei einem kritischen Denker das Gedankenreich auf einen Nenner zu bringen, auf eine Wurzel zurückzuführen ist, so entspricht doch nicht immer dieser Einheitlichkeit des Denkens eine Einheitlichkeit des Wollens und Bewertens. Und Individualismus sowie Kollektivismus sind eben nicht nur Denkordnungen, sondern auch Wertordnungen. So kommt es, daß ein und derselbe oft das eine Postulat aus der einen, das andere aus der anderen Wertordnung entnimmt und bejaht, daß man, konkreter gesprochen, als grundsätzlicher Individualist trotz Bejahung der Eigenständigkeit, ja sogar eines Vorranges des Individuums, doch auch der staatlichen Gemeinschaft Existenzgarantien zu bieten und das Individuum unter Umständen zu opfern geneigt ist und daß man andererseits als Universalist trotz Anerkennung des Primates der staatlichen Gemeinschaft doch auch wiederum dem Individuum gewisse Existenzgarantien zu bieten und damit dem Staat Schranken der Herrschaft zu setzen entschlossen ist. Eine solche Einerseits-andererseits-Haltung führt aber unvermeidlich zu einem Komprorniß von Individualismus und Universalismus, zwar nicht in der Idee, wohl aber in der staatlichen Wirklichkeit. Selbst in der gegenwärtigen Geschichtsetappe, in der sich der Individualismus gewissermaßen in einem Wellental befindet, zeigt sich, daß sein politischer Exponent, der Liberalismus, aus den rechtlichen Institutionen selbst der extrem universalistisch eingestellten Staats- und Rechtsordnung nichts weniger als ausgemerzt ist; und zwar wohl nicht allein darum, weil man den individualistisch-liberalen Ursprung so vieler, aus früherer Zeit übernommener Institutionen nicht mehr erkennt, sondern wohl auch darum, weil man sie ohne Rücksicht auf ihren ideologischen Ursprung nach wie vor inhaltlich bejaht.

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Die scheinbare Paradoxie einer intra-individuellen Koexistenz von individualistischem und universalistischem Gedankengut erklärt sich aufs einfachste aus der Relativität von Individualismus und Universalismus und aus dem Wechsel des Objektes, auf das der Individualismus wie der Universalismus bezogen sein können. Der Staat ist eben nicht das einzige denkmögliche Universum oder Kollektivum, dem das Individuum dienstbar gemacht werden kann, vielmehr kann das Individuum als Mittel für die Zwecke verschiedentlicher Kollektiva gedacht und eingesetzt werden. Jede Hypothese eines anderen höchsten Zweckes oder Zieles menschlichen Handeins relativiert aber den Wert des Staates und macht ihn davon abhängig, daß sich der Staat mit jenem vorausgesetzten höchsten Zweck vereinbaren läßt. Wer etwa in der Menschheit oder in einer Glaubensgemeinschaft, in der Natur oder in einer übermenschlichen oder überirdischen Autorität den letzten Zweck und das letzte Ziel menschlichen Daseins und Handeins erblickt, kann niemals den staatlichen Totalitätsanspruch anerkennen. Universalismus hinsichtlich einer außerstaatlichen Idee schließt auf den Staat bezogenen, mit einem Wort: politischen Universalismus schlechterdings aus. Die Folge eines solchen überstaatlichen oder wenigstens außerstaatlichen Universalismus ist dann eine Einstellung gegenüber dem Staat, die einem grundsätzlichen Individualismus durchaus nahekommt. So erklärt sich aufs einfachste die scheinbare Paradoxie, daß insbesondere die christliche Staatsphilosophie nicht trotz, sondern eben wegen ihres autonomen Universalismus, der namentlich in der Idee des corpus mysticum symbolischen Ausdruck gefunden hat, die Staatsomnipotenz rundweg ablehnt. Metaphysischer verträgt sich nicht mit politischem Universalismus, es wäre denn, daß der metaphysische Universalismus - wie in der Theokratie - selbst Staat geworden ist. Selbst die Setzung der Nation als höchster Wert läuft nur im Nationalstaat auf politischen Universalismus hinaus, während derselbe nationalpolitische Universalist im national gemischten Staat - zumindest als Angehöriger einer beherrschten Nationalität - den politischen Universalismus ablehnen wird. Gerade dieser naturgemäße Standpunktwechsel zwischen Individualismus und Universalismus - je nach den herrschenden gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen - könnte eine Mahnung dafür sein, jeder der heiden Grundpositionen des politischen Denkens und Handeins ihr ethisches Recht widerfahren zu lassen und sie als möglich hinzustellen. Diesen andeutungsweisen Vorbemerkungen mögen nun einige dogmengeschichtliche Belege zum Beweis folgen, wie tief und nach menschlicher 7 A. J. Merkl

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Voraussicht unausrottbar individualistisches und universalistisches Gedankengut nebeneinander in der Staatenwelt der Gegenwart verankert sind. Die Beweislast liegt in dieser Stunde auf dem politischen Individualismus, der sich unstreitig in Verteidigungsstellung befindet, ja im Urteil seiner Gegner vielfach schon als erledigt gilt. Die politische Entwicklung scheint unstreitig gegen den politischen Individualismus zu sprechen; es fragt sich nur, ob diese Entwicklung bereits die letzten Bastionen des politischen Individualismus sturmreif gemacht oder ob sie wenigstens gewisse Positionen des Individualismus unangetastet gelassen hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine wertende, sondern lediglich erkennende Untersuchung. Nicht den Wert, sondern den allfälligen Bestand von Institutionen individualistischen Ursprunges gilt es nachzuweisen. Vor allem ist schon das Aufkommen einer zweiten politischen Ordnung neben der Staatsordnung, nämlich einer Rechtsordnung, als unbewußter Ausdruck individualistischer Biegung und Beugung des politischen Kollektivismus zu verstehen. In gewissem Sinn kann man nämlich den Dualismus von Recht und Staat auf den Dualismus von Individualismus und Universalismus zurückführen, indem man das Recht als gewissermaßen individualistischen Gegenspieler des Staates deutet. Dabei ist allerdings bereits an eine bestimmte Rechtsstruktur, an die generelle Rechtsnorm zu denken, die als regulatives Prinzip des Staates wie der Untertanen auftritt und auch den Staat sozusagen in ein Rechtssubjektverhältnis, also in die Untertanensteilung versetzt. Wenn man freilich erkannt hat, daß der Staat in keiner denkbaren Gestalt rechtsfrei ist, sondern daß ihm, wenn er schon nicht selbst Rechtsordnung ist, doch immer irgendeine Rechtsordnung entspricht, zumindest eine Summe von Kompetenznormen, welche den psychischen Willen bestimmter Menschen als Staats willen oder als das rechtlich Gesollte bezeichnen, dann kann nicht mehr das Recht schlechthin als Repräsentant des Individualismus und der Staat schlechthin als Repräsentant des Universalismus angesehen werden, sondern dann gibt erst eine bestimmte Gestaltung des Staatswillens dem Staat und Recht individualistisches und eine andere Gestaltung universalistisches Gepräge; dann erscheint nicht jede Rechtsordnung, sondern nur eine zu einem Komplex genereller Normen verdichtete Rechtsordnung als Erscheinungsform des politischen Individualismus und nicht jeder Staat, sondern nur der einer Bindung durch generelle Rechtsnormen entbehrende Staat als Erscheinungsform des Universalismus. Die Rolle der Rechtsordnung, die ja in jedem Fall ein System hetero-

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nomer Verhaltensmaßregeln für das Individuum ist, als Mittel des politischen Individualismus ist gewiß paradox und doch auch wieder verständlich, wenn man sich die Stellung des Individuums in dem nicht durch generelle Rechtsnormen beherrschten Staat vorstellt. Symptomatisch für die unterschiedliche Bedeutung des sogenannten Verhältnisses von Recht und Staat, für die individualistische oder universalistische Deutung der jeweiligen Gesellschaftsverfassung, ist die geradezu instinktive Ablehnung, die von universalistischer Seite der am reinsten individualistischen Rechts- und Staatsauffassung, der sogenannten Reinen Rechtslehre, entgegengebracht wurde. Die Eliminierung des metarechtlichen Staates, die Reduktion des ganzen Staates auf die Rechtsordnung scheint eben dem Universalismus seine ureigenste Position zu entziehen. Ähnlich symptomatisch ist auch die Erfahrungstatsache, daß universalistische Strömungen, sobald sie vom Staat Besitz ergreifen, den instinktiv als individualistisch empfundenen Weg genereller Rechtsetzung verlassen und ihr Programm in Einzelanordnungen durchzusetzen streben: Das bedeutet, in Staatstypen gesehen, die Rückkehr vom sogenannten Rechtsstaat zum Polizeistaat, bis eine Konsolidierung der Herrschaft wiederum eine schrittweise Rückkehr zu rechtsstaatlichen Formen ermöglicht. Der sogenannte Rechtsstaat ist somit die allgemeinste geschichtliche Erscheinungsform des politischen Individualismus, einerseits geeigneter Ausgangspunkt für die Fortentwicklung individualistischer Staats- und Rechtsgestaltung bis zu jenen Grenzen, wo Recht und Staat geradezu schon vor dem Individuum kapitulieren, andererseits jedoch auch annehmbar für den politischen Universalismus, wenn er nicht die bedingungslose Kapitulation des Individuums vor dem Kollektivum heischt. So stellt sich der Rechtsstaat als jene Grenzerscheinung im Staatsleben dar, wo sich politischer Individualismus und Universalismus berühren. Es ist ein Zeichen der starken individualistischen Influenzierung universalistischer Denker, daß die Idee des Rechtsstaates die ideologische Plattform war, auf der sie sich mit dem Individualismus ihrer Zeit getroffen haben, wenn ihnen auch nicht immer bewußt gewesen sein mag, daß die Bejahung des Rechtsstaates von ihrem Standpunkt aus bereits ein Zugeständnis an den politischen Individualismus war. So sagt der Theoretiker des preußischen monarchistischen Konservativismus - also einer typischen Ausdrucksform universalistischer Staatsauffassung - Julius Stahl in seiner 7"

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Rechts- und Staatslehre: "Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern, und soll die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört. Dies ist der Begriff des 'Rechtsstaates', nicht etwa, daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze. Er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen. ,,3 Die individualistische Funktion des Rechtsstaates besteht darin, daß er die Leistungen des Individuums an den Staat von vornherein und allgemeingültig fixiert und damit die Handlungen des Staates für das Individuum voraussehbar und vorausberechenbar macht. Gerade diese Kalkulierbarkeit ist es aber, was der Universalismus grundsätzlich ablehnen muß, denn ihm erscheint eine solche Rationalisierung des Kollektivums als Profanierung des Gemeinschaftsgedankens, ja als Entschleierung eines vor dem Individuum gehüteten Geheimnisses, als Verendlichung eines Unendlichen. Ist aber auch die Herrschaft des Rechtsstaates, d.h. des unter das Recht gebeugten, an rechtliche Normen, nämlich Verhaltensregeln für die Staatsorgane gebundenen Staates eine dem Individuum zuliebe vollzogene capitis diminutio des Staates, so kann er in der Wirklichkeit doch noch omnipotenter und - was noch mehr dem Universalismus entgegenkommt - unbedingt dem Individuum gegenüber Primat erheischender Staat sein. Diese Möglichkeit ist es ja offenbar, die die Form des Rechtsstaates im rechtsinhaltlichen Sinn des Wortes auch für den Universalisten annehmbar macht. So erklärt es sich aber auch, daß dem politischen Individualismus in der Regel die Form des Rechtsstaates schlechthin nicht genügt, sondern daß er diese Form auch noch mit verschiedenartigem, der individualistischen Idee entsprechenden Inhalt erfüllen will. Die Möglichkeiten solcher individualistischer Ausfüllung des Rechtsstaates sind unendlich. Im folgenden sollen nur die praktisch bedeutsamsten Forderungen vorgeführt werden, die entsprechend der individualistischen Idee im Rahmen 3 2. Bd., 1830137, S. 137.

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des Rechtsstaates zum Durchbruch gekommen sind. Diese Forderungen betreffen einesteils den Weg der staatlichen Willensbildung und drücken sich somit im formellen Recht aus und betreffen andernteils bestimmte Gestaltungen des materiellen Rechtes. Damit ist schon angedeutet, daß individualistisch bestimmter Rechtsinhalt auch außerhalb jener Elemente der Rechtsordnung anzutreffen ist, die die Staatsform bestimmen. Politischer Individualismus kann in der ganzen Rechtsordnung seinen Niederschlag erfahren und sie in einer Weise durchdringen, daß sie in allen ihren Teilen auf das Individuum hin orientiert ist und der Staat den Charakter einer totalen Assekuranzanstalt für das Individuum annimmt. Freilich werden meist retardierende Momente universalistischen Ursprunges im Zug der Rechtsgestaltung eine solche eindeutig und bis in die letzten Folgerungen individualistische Gestaltung der Rechtsordnung durchkreuzen. Die individualistische Ordnung des Weges der Staatswillensbildung besteht vor allem in einer Gliederung der Staatswillensbildung in mehrere in sich abgeschlossene Teilprozesse. Diese Aufspaltung eines denkbarerweise und im Sinne des Universalismus auch tatsächlich einheitlichen Verfahrens gibt insbesondere die Möglichkeit, den verschiedensten Interessenten des Staatswillens an dessen inhaltlicher Gestaltung Anteil zu geben. Die Aufspaltung der Staatswillensbildung geschieht teils in der Weise, daß verschiedene parallel laufende Prozesse der Staatswillensbildung eröffnet werden, teils auch in der Weise, daß mehrere Stufen des Staatswillens, die in einem kontinuierlichen Zusammenhang stehen, vorgesehen werden. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen stellen sich einerseits die Gewaltenteilung, andererseits der rechtliche Stufenbau als Ausdrucksformen des politischen Individualismus dar. In der Tat hat bekanntlich Montesquieu in seinem "Esprit des lois" die Gewaltenteilung mit der spezifisch individualistischen Begründung gefordert, daß durch eine Balance der einander ebenbürtigen Gewalten - soziologisch gesehen, durch eine Konterkarierung widersprechender Willensrichtungen - die Freiheit des Individuums verbürgt werde. So war denn auch die Gewaltenteilung immer und überall eine Forderung des politischen Liberalismus, der sich darin wie in seinem ganzen Forderungsprogramm als typischer, wenn auch nicht zu den letzten Konsequenzen bereiter Vertreter des politischen Individualismus erwiesen hat. Im besonderen ist auch die typische Verfahrensregelung der drei herkömmlichen Staatsgewalten im Rechtsstaat ein Werk des politischen Individualismus.

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In der Sphäre der Gesetzgebung fordert und bewirkt politischer Individualismus, daß das staatliche Gesetz nicht bloße Willensäußerung prädestinierter Autoritäten ist, sondern daß der Rechtsunterworfene - sei es nun unmittelbar oder wenigstens mittelbar - Rechtserzeuger oder Miterzeuger des staatlichen Rechtes wird. Die Forderung der Identität von Herrscher und Untertan - bekanntlich die Grundformel der Demokratie - ist der denkbar extremste Ausdruck des politischen Individualismus; gerade sie wurde nun bekanntlich für den Bereich der Gesetzgebung durch den plebiszitären Weg faktisch und durch den parlamentarischen Weg wenigstens fiktiv verwirklicht. In der Verwaltung ist namentlich die Organisationsform der Selbstverwaltung eine Nutzanwendung des politischen Individualismus. Wofern die Selbstverwaltung als Ausfluß eines pouvoir municipal gedeutet wird - den die französische Naturrechtsdoktrin, die einheitliche Staatsgewalt atomisierend, neben den drei überkommenen älteren gewissermaßen als vierte Staatsgewalt konstruiert hat - fungiert die Selbstverwaltung als ein Mittel, die Staatsautorität im Interesse der Freiheit des Individuums zu schwächen. Wofern die Selbstverwaltung als Mittel der Selbstbestimmung der Bevölkerung gedeutet wird, erfüllt sie die individualistisch-demokratische Identitätsforderung. Wie immer man sie ideologisch fundiert, ist die Selbstverwaltung ein rechtliches Mittel, staatliches Imperium dem Individuum nahezubringen und zur Verfügung zu stellen.4 Die richterliche Gewalt wird teils durch das Rechtsprinzip der richterlichen Unabhängigkeit, teils durch die Teilnahme des Volkes an der Rechtsprechung im individualistischen Sinn beeinflußt. Die richterliche Unabhängigkeit ist wiederum eine typische Forderung des Liberalismus. Sie stellt sich gewissermaßen als eine letzte Konsequenz der Gewaltenteilung, als eine Vertiefung der Zäsur zwischen Gesetzgebung und Verwaltung einerseits, Gerichtsbarkeit andererseits dar, wodurch das Individuum einen Hort vor Vergewaltigung durch die über ihre Schranken übergreifende Verwaltung erlangen soll. Mit der Statuierung und verfassungsmäßigen Verankerung der richterlichen Unabhängigkeit verfolgt somit der Liberalismus für das staatsunterworfene Individuum eine Politik von der Art des "divide et

4 Vgl. meine Broschüre: Demokratie und Verwaltung, 1923.

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impera!". Die Teilnahme des Volkes an der Gerichtsbarkeit, namentlich in Form der Schöffen- und Schwurgerichtsbarkeit, ist ein Gegenstück der Selbstverwaltung und soll ebenso wie diese den durchaus individualistischen Gedanken der Selbstbestimmung des Volkes im Bereich der Justiz verwirklichen. Weniger ist es einleuchtend, daß auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in welcher Gestalt immer, im politischen Individualismus ihren Ursprung hat. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Form einer Rechtskontrolle der Verwaltung durch unabhängige Gerichte verdankt ihre Entstehung dem Verdacht, daß sie - ehedem die rechtlich ungehemmte Wahrerin des Staatswohls - die ihr vom Rechtsstaat auferlegten Schranken schwerlich einhalten werde. Schon die Zweckbestimmung, den Rechtsstaat gegen die Wiederbelebung eines metarechtlichen Staates zur Geltung zu bringen, macht die Verwaltungsgerichtsbarkeit - im Sinn der individualistischen Funktion der Rechtsordnung überhaupt - zu einem Instrument des politischen Individualismus. Dazu gesellt sich noch die Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine, und zwar die am stärksten vom Vertrauen des Individuums getragene Staatsgewalt, nämlich die Gerichtsbarkeit, gegen die Verwaltung als die andere konkurrierende Staatsgewalt auszuspielen und ihr, sei es durch die korrektive Wirkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, sei es durch ihre prophylaktische Wirkung, Hemmungen aufzuerlegen. Nicht zuletzt ist aber die Prozeßordnung überhaupt - in allen Staatsgewalten und in allen ihren Varianten - mehr oder weniger ein Mittel der Zügelung der übermächtigen Staatsgewalt im Interesse des sonst ohnmächtigen Individuums. Diese individualistische Funktion des Verfahrensrechtes ist deswegen weniger zum Bewußtsein gekommen, weil prozeßpolitisch selbst Universalisten individualistisch zu denken und zu handeln pflegen. Wenigstens soweit es sich um den höchstpersönlichen Interessenkreis handelt, verschmäht eben auch ein Universalist nicht die rechtstechnischen Sicherungen, die ihm eine Prozeßordnung verschaffen kann, wenn er auch grundSätzlich Sicherungen der Rechtsunterworfenen vor der Staatsautorität als überflüssig erachtet und als autoritätslos empfindet. Der Sinn einer Prozeßordnung ist ja doch, den Gang des Verfahrens zur Erzeugung gewisser Staatsakte dem Ermessen der zuständigen Staatsorgane zu entziehen und den Interessenten des Staatsaktes an dessen Erzeugung eine mehr oder minder weitgehende Mitwirkung zu gewährleisten. Diese soziale Zweckbe-

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stimmung ist der Regelung des Weges der Gesetzgebung in den konstitutionellen Verfassungen und des Weges der Justiz und der Verwaltung gemeinsam. Die konstitutionelle Verfassung erfüllt ihren Sinn als Prozeßordnung der Gesetzgebung gemäß den Forderungen des politischen Individualismus, indem sie die Adressaten der Gesetzgebung als deren Interessenten am Gesetzgebungsverfahren teilnehmen läßt oder das Gesetzgebungsverfahren vollends den Interessentenkreisen anheimstellt. Nur werden aus begrifflichen technischen Gründen die Interessenten nicht für den einzelnen Akt der Gesetzgebung ermittelt und zur Teilnahme an der Gesetzgebung aufgerufen, sondern es wird ein für allemal ein Personenkreis, den man sich als Repräsentanten der Gesetzunterworfenen denkt, an deren Stelle und in deren Namen zur Gesetzgebung berufen. Der Sinn der Autonomie auf territorialer oder personeller (ständischer) Grundlage ist unter diesem Gesichtspunkt gesehen der, den Zusammenhang zwischen Gesetzgebern und Gesetzunterworfenen enger zu gestalten, indem für die verschiedenen Aufgaben der Gesetzgebung besondere Gesetzgebungskollegien eingeführt werden, die den Interessenten der Gesetzgebung näher stehen als ein zentrales und personell indifferenziertes Gesetzgebungskollegium. Die Prozeßordnungen in Justiz und Verwaltung wiederholen diese Technik der Staatswillensbildung durch Mitwirkung der Interessenten in der Weise, daß der Staatsakt, sei es nun das Gerichtsurteil oder der Verwaltungsakt, aus einer prozeßrechtlich geregelten Zusammenarbeit zwischen dem zuständigen Staatsorgan und dem unmittelbar am Staatsakt interessierten Untertan hervorgeht. Die prozessualen Rechte des Parteiantrags, des rechtlichen Gehörs, des Anspruches auf Erledigung (prozeßrechtlich etwa als "Entscheidungspflicht" konstruiert), das Recht auf Begründung der Entscheidung, auf Rechtsmittelbelehrung, auf den Instanzenzug und auf die Rechtskraft des Staatsaktes sind ebensoviele Beschränkungen des Staates und der zuständigen Prozeßbehörden und ergeben in ihrer Gesamtheit in demselben Sinn einen konstitutionellen Zivilprozeß, Strafprozeß und Verwaltungsprozeß, wie man von einem konstitutionellen Weg der Gesetzgebung spricht. Der Universalismus müßte folgerichtig an einer derartigen individualistischen Influenzierung des Justizund Verwaltungsverfahrens ebenso grundsätzlichen Anstoß nehmen wie an dem parlamentarischen Weg der Gesetzgebung und auch ein ständischer Weg der Gesetzgebung schließt das grundsätzliche Gravamen nicht aus. Nicht zuletzt ist die Rechtsform des subjektiven Rechtes als Korrollar des objektiven Rechtes eine echt individualistische Erfindung und daher vom

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Liberalismus in liebevollster Weise kulti viert worden. Der Universalist kann sich mit der Existenz des objektiven Rechtes genug sein lassen und selbst Rechtseinrichtungen, in denen sich nach individualistischer Rechtsauffassung das subjektive Recht wie namentlich das Klagerecht usw. manifestiert, deutet er nicht subjektivistisch, sondern objektivistisch, bestenfalls als bloßen "Reflex" des objektiven Rechtes. Die individualistische Rechtslehre bezeugt ihren Individualismus dagegen darin, daß sie Parität des objektiven und subjektiven Rechtes annimmt, wenn sie nicht gar das einzig denkbare Verhältnis zwischen objektivem und subjektivem Recht auf den Kopf stellt und dem subjektiven Recht im Verhältnis zum objektiven Recht Priorität zuspricht. Der kursorischeste Überblick über die individualistischen Einschläge in den Verfahrensordnungen von der Verfassung über alle Stufen der Rechtserzeugung hinweg bis zur Vollstreckung zeigt das nicht überschätzbare Maß individualistischer Durchdringung der Rechtsordnung. Mit dieser individualistischen Influenzierung, deren weltanschauungsmäßiger Ursprung freilich bereits vergessen ist, steht und fällt geradezu jeder Existenzgrund und Wert des Prozeßrechtes und die Ausmerzung restlos aller individualistischen Einschläge der Prozeßordnungen würde einen ungeahnten Rechtsprimitivismus herbeiführen. Etwas anders steht es um das materielle Recht individualistischer Herkunft. Aus der unübersehbaren und zeitlich und örtlich schwankenden Fülle hierher gehöriger Rechtseinrichtungen seien nur die für den abendländischen Kulturkreis bedeutsamsten hervorgehoben. Die Bedeutung der sogenannten Grund- oder Freiheitsrechte erhellt schon aus ihrer verfassungsmäßigen Verankerung. Sie sind bekanntlich der gesetzliche Ausdruck des modemen Freiheitsideals, indem sie dem Individuum, sei es nun bloß dem Staatsbürger, sei es jedermann, ein Freisein vom Staat gewährleisten und so in echt individualistischer Natur der Staatstätigkeit Grenzen ziehen. Dem nach universalistischer Ansicht potentiell omnipotenten Staat werden vom siegreichen Liberalismus in der Weise Schranken gezogen, daß von der Summe der denkbaren Staatszwecke die einem politischen Existenzminimum des Individuums gemäß unzulässigen Staatszwecke durch die typische Enumeration der Grundrechtskataloge abgezogen werden. Dem Individuum ist hiernach zwar alles erlaubt, was nicht

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rechtlich verboten ist, dem Kollektivum jedoch nicht erlaubt, alles zu verbieten. Diese partielle Staatsverneinung ist gewissermaßen der Preis, um den der politische Individualismus den Staat bejaht und von ihm Besitz ergreift. Diese Selbstbeschränkung des am Staatsruder befindlichen Individualismus ist denn auch der tiefste ideologische Grund seiner Schwäche, der somit als politische Form nur Bestand haben kann, wenn die Staatsnation in ihrer Gesamtheit diese ideelle Grundlage der Herrschaft bejaht. Es ist ja eine Erfahrungstatsache, daß sich die Repräsentanten der universalistisch orientierten Opposition dieses antietatistischen Hilfsmittels bedienen, um das herrschende politische System mit dessen eigener Ideologie und rechtlicher Rüstung zu bekämpfen und aus dem Sattel zu heben. In solchen Lagen zeigt sich dann, daß grundsätzliche Vertreter des politischen Individualismus zu staatlichen Mitteln greifen müssen, die eher der Ideologie ihrer Gegner entsprächen; wenn sie es aber mit ihrem politischen Individualismus ehrlich meinen, dann geschieht eben diese taktische Hinwendung zur Haltung des politischen Universalismus nur schwächlich und mit begreiflicherweise schlechtem Gewissen und ist so auch nicht geeignet, den Untergang des Systems hintanzuhalten, das sich überdies des Sacrificium eines Selbstwiderspruchs schuldig gemacht und damit im Grund selbst aufgehoben hat. Dieser Selbstwiderspruch ist ja vielfach schon in den Verfassungen demokratischer Staaten verankert, indem sie für Zeiten der Gefährdung des politischen Systems gewissermaßen als ultima ratio der Selbsterhaltung diktatorische Handhaben geben, die, wenn sie einmal gebraucht werden müssen, nur zu leicht über ihre Zweckbestimmung hinaus tendieren, gewissermaßen als immanente Sprengkörper eines fremden Systems das System, das sich ihrer bedient, selbst sprengen und aus einem Mittel zur Bewahrung der Demokratie zur Wurzel einer antidemokratischen Diktatur werden. Die bunte Skala der Grund- oder Freiheitsrechte zeigt wiederum die Variationsfahigkeit der individualistisch fundierten Rechtseinrichtungen. Jedes Jota eines Grundrechtskatalogs als Bedingung politischer Freiheit hinzustellen, erscheint sinnlos, wenn man bedenkt, daß der jeweilige Katalog der Freiheitsrechte das Erzeugnis einer augenblicklichen geschichtlichen Situation ist, daß er sich der Idee der Freiheit im Staat immer nur asymptotisch nähern kann, da der Staat in jeder Staatsform Bindung des Individuums, also notwendige Unfreiheit bedeutet, und daß daher die mit staatlichen Mitteln immer nur relativ zu bewerkstelligende Freiheit sehr

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wohl Ergänzungen und Beschränkungen der Grundrechte verträgt, ohne daß damit eine absolute Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit überschritten wäre. In diesem Zusammenhang ist auch nicht zu übersehen, daß die Rechtsform des Grundrechtes nur das eine der bei den nebeneinander möglichen rechtstechnischen Mittel politischer, d.h. also immer relativer Freiheit bedeutet, nämlich das spezifische Mittel des sogenannten modernen Freiheitsideals. Der politische Individualist in der Antike - auch diesen gab es nämlich! - hat jene mögliche Seite politischer Freiheit - die rationalistisch ausgeklügelte Paradoxie einer staatlich anerkannten Freiheit vom Staat - nicht gekannt oder wenigstens ganz vernachlässigt, um dafür durch Teilnahme jedes einzelnen "Freien" an der Staatswillensbildung vom Staat die Freiheit einzutauschen. Den Gegenwartsmenschen stehen an der Hand der geschichtlichen Erfahrungen und der ihnen parallel laufenden politischen Ideologien beide rechtstechnische Handhaben zum Zweck der verfassungsmäßigen Verankerung der Freiheitsidee wahlweise zu Gebote und so kann er das Manko an grundrechtlicher Sicherung des Individuums durch intensive Beteiligung des Individuums an der Staatswillensbildung, letztlich durch plebiszitäre Mittel, ausgleichen oder auch umgekehrt bei etwas zurückhaltender Beteiligung des Individuums an der Staatswillensbildung dieses Manko an politischer Freiheit durch Teilnahme am Staat in der Weise wettmachen, daß die grundrechtlichen Sicherungen vor vermeidbarer staatlicher Intervention gesteigert werden. Diese Variation ist im Grund das Schwanken zwischen Demokratie und Liberalismus, der Gegensatz zwischen diesen beiden möglichen Formen politischer Freiheit. Die gleichzeitige verfassungsgesetzliche Verankerung von Freiheitsrechten und allgemeinem sowie gleichem Wahlrecht zu einer Volksvertretung, in die das Schwergewicht der Staatsfunktionen gelegt ist, bedeutet dann jenes so häufig wiederholte Komprorniß von Liberalismus und Demokratismus in den modernen europäischen und amerikanischen Verfassungen, das zu der Gleichsetzung von Liberalismus und Demokratismus als zwei ursprünglich grundverschiedenen und nur geschichtlich zusammengewachsenen Gedankenrichtungen und Einrichtungskomplexen des politischen Individualismus geführt hat. Eine originelle Frucht des politischen Individualismus ist auch das sogenannte ius resistendi, das "Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt". Diese politische Idee, die auch staatliche Institution geworden ist, ist ideologisch den Freiheitsrechten am nächsten verwandt, ja ist mitunter geradezu als

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Freiheitsrecht aufgetreten. Sobald der Staats wille an die Rechtsform gebunden ist, kann die Staats- und Rechtstheorie allerdings nur den wahren Staatswillen, d.h. jenen, der den obersten rechtlichen Ordnungsgesetzen, namentlich der Verfassung, entspricht, als verbindlich, weil überhaupt als Staatswillen erkennen. Doch kann sinnvollerweise kein Staat, der sich nicht selbst verleugnet, die Prüfung der einzelnen Willensäußerung, die namens des Staates auftritt, auf ihre Übereinstimmung mit dem staatlichen Grundgesetz dem Individuum überlassen, an das sich der jeweilige Staatswille normativ wendet; denn das liefe auf eine Verfassung hinaus, die etwa dahin lauten würde: "Der Untertan hat dem Rechtsgebot zu gehorchen, das er als rechtmäßig erkennt", was soviel heißen würde wie: anerkennen will. Also die Anerkennung des Individuums als letzte höchste Autorität, d.h. Selbstentthronung von Staat und Recht! Daher muß jeder Staat die ihm unterworfenen Individuen an die irgendwie erkennbare Äußerung des Staatswillens binden, gleichviel, ob sie allen formellen und materiellen Voraussetzungen der Staatswillensbildung entspricht. Die rechtstechnischen Mittel der Verbindlichmachung solcher potentiell rechtswidriger Staatswillensäußerungen - die freilich in Anbetracht ihrer Rechtswidrigkeit erst zufolge der positivrechtlichen Gutmachung des Fehlers zu Staatswillensäußerungen werden - habe ich "Fehlerkalkül" genannt. 5 Ein solcher Fehlerkalkül ist denn auch das ius resistendi. Freilich nicht von der Art, daß es den Fehler endgültig sanieren würde, sondern daß es den Fehler dauernd aufs schärfste disqualifiziert, und mit der Maßgabe, daß jeder Adressat des Aktes oder wenigstens qualifizierte Adressaten des Aktes zur Prüfung und in der Folge zum Ungehorsam gegen den Akt, ja geradezu zur Auflehnung gegen den Urheber des Aktes legitimiert werden. In diesem Widerstandsrecht steckt demnach noch die alte individualistische Idee der Selbsthilfe, deren individualistische Natur noch dadurch betont wird, daß sich diese Selbsthilfe gegen den Staat selbst richtet. Und so haben wir in dem Widerstandsrecht die primitivste Form individualistischer Verfassungsgarantie zu erkennen. Die Idee des Widerstandsrechtes wurde bekanntlich in der Lehre der Monarchomaehen, also im 16. Jahrhundert, entwickelt und selbst in die radikale Fassung gebracht, daß das Volk in förmlicher Versammlung das Todesurteil über den verfassungsbrecherischen Herrscher zu beschließen habe - also eine gewissermaßen plebiszitäre Exekution der Unrechtssank-

5 Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff, 1923, S. 275 ff.

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tion. Diese Lehre des spanischen Jesuiten Juan de Mariana wurde nicht nur grundsätzlich von offiziellen kirchlichen Stimmen verurteilt, am deutlichsten wohl in der päpstlichen Enzyklika "Immortale Dei" vom 1. November 1885, in der sich unter anderem die These findet: "Die Freiheit zum Aufruhr widerstreitet der Vernunft" und die die Worte des Römerbriefes zitiert: "Wer der Hoheit Widerstand leistet, widersteht der Anordnung Gottes", sondern hat auch schon zu seiner Zeit zu der Exekution geführt, daß das solche revolutionäre Lehren verbreitende Buch "De rege et regis instituione" öffentlich verbrannt wurde. Das hat aber nicht gehindert, daß frühneuzeitliche Ständeverfassungen dem "Volk" - will sagen, den Ständen - ausdrücklich ein Recht des Widerstandes gegen "gottlose", will sagen rechtswidrige Anordnungen des Königs zuerkannt haben. In dieser positiv-rechtlichen Verankerung des Widerstandsrechtes offenbart sich am deutlichsten die unheilbare Autoritätslosigkeit jenes geschichtlichen Ständestaates, der die Konkurrenz zweier ebenbürtiger, geradezu zu zwei Staatsgewalten,ja selbst Staaten hypostasierten Autoritäten, nämlich des Königs und der Stände zu tragen hatte - und daran zugrunde ging, indem die Stände samt ihrem Widerstandsrecht vom gestärkten und schließlich absolut gewordenen Herrscher enteignet wurden. Im System des duozentrischen und im Grund individualistisch fundierten Ständestaates des Mittelalters und der frühen Neuzeit war aber dieses Widerstandsrecht gewiß folgerichtig, denn im Streit zweier ebenbürtiger oberster Herren gibt es als Mittel der Streitentscheidung in KonfliktsfaIlen nur den Vergleich oder den Kampf. Und so kommt dieser Staats typ zur rechtlichen Paradoxie eines legitimierten Staatsstreiches oder einer legitimierten Revolution. (Hier treffen nämlich beide Begriffe zu, weil beide fraglichen Autoritäten Obrigkeit und rechtsunterworfen sind.) In der inhaltlichen Ausgestaltung der Staatsordnung ist sodann die Wahl der Staatszwecke für den Individualismus symptomatisch. Nach der Ausscheidung gewisser, dem Staatsbegriff nach zweifellos denkbarer Staatszwecke durch die Kodifikation von Freiheitsrechten handelt es sich für jede staatliche Gesetzgebung und so eben auch für die des individualistischen Staates darum, innerhalb des Kreises der rechtlich möglichen die rechtlich wirklichen Staatszwecke zu bestimmen. Und es ist nun für den politischen Individualismus kennzeichnend, daß er nicht bloß positivrechtlich durch die Aussonderung einer staatsfreien Individualsphäre dem Staatshandeln in jeder Erscheinungsform des Staatswillens Grenzen zieht, sondern auch bei der positiven Formulierung der hiernach möglichen Staatszwecke sich

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innerhalb des engsten Rahmens des Möglichen zu halten bestrebt ist. Innerhalb der Trias der herkömmlich angenommenen Staatsgrundzwecke Rechtszweck, Machtzweck und Kulturzweck - beschränkt sich der am politischen Individualismus orientierte Staat auf den sogenannten Rechtszweck und Machtzweck, nicht ohne daß er sich auch innerhalb dieses dehnbaren Rahmens Beschränkungen auferlegen würde, die dem liberalen Staat von sozialistischer Seite die Kritik als "Nachtwächterstaat" eingetragen haben. Gerade im Fall der Staatszwecke zeigt sich indes wiederum die Relativität des Gegensatzes von politischem Individualismus und Universalismus in deren positivrechtlicher Durchführung. Denn es gibt keine Grenzlinie bei Absteckung der Staatszwecke, zu deren bei den Seiten eindeutig die Herrschaft des politischen Individualismus und Universalismus anzunehmen wäre, wobei noch zu bedenken ist, daß die Gestaltung der Staatszwecke nur eine der mehreren Komponenten ist, die bei der Beurteilung der politischen Grundeinstellung einer Staats- und Rechtsordnung mit in Betracht zu ziehen sind. Dazu kommt noch die Komplikation, daß für die Verwirklichung der einzelnen Staatszwecke auch verschiedene rechtliche Mittel zur Verfügung stehen, die ebenfalls, und zwar unabhängig von den damit verfolgten Zwecken, einer bestimmten politischen Grundeinstellung entspringen und entsprechen. So wird es möglich und wirklich, daß ein relativ universalistisch zu beurteilender Staatszweck mit einem relativ individualistisch zu beurteilenden rechtlichen Mittel verfolgt wird und umgekehrt. Es geht selbstverständlich auch nicht an, Rechtszweck und Machtzweck als schlechthin individualistische und dagegen etwa den Kulturzweck als schlechthin universalistischen Staatszweck abzustempeln. Vielmehr hängt es von der geschichtlichen Situation und von der für die einzelnen Zwecke bestimmenden politischen Idee ab, ob man sie für den Individualismus oder Universalismus reklamieren darf. In einer Zeit, wo staatliche Kulturzwecke überhaupt noch nicht problematisch waren, darf selbstverständlich ihr Fehlen nicht als Ausdruck des Individualismus gedeutet werden. Und andererseits braucht staatliche Vielregiererei, wenn sie keiner leitenden Idee entspringt, sondern okkasionell geübt wird, nicht dem Universalismus zur Last gelegt oder gutgeschrieben zu werden. Nein, auf den Geist kommt es an, der das Staatshandeln beherrscht, wenn man halbwegs richtig den Einfluß des Individualismus und des Universalismus auf das Staatshandeln bestimmen will. Übrigens wäre auch die Grenze zwischen den drei Staatsgrundzwecken - Rechtszweck, Machtzweck und Kulturzweck - fließend, wenn diese Abgrenzung überhaupt theoretisch haltbar

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wäre. Alles staatliche Handeln dient entweder der Ordnungsbewahrung und Machtbehauptung oder dem Kulturschutz und alles derart zweckbestimmte Handeln des Staates bedient sich unvermeidlicherweise des Mittels des Rechtes. 6 Alles staatliche Handeln ist durchrechtlichtes Gesellschaftsgeschehen. So ist der Rechtszweck oder, richtiger gesagt, die Rechtsform überhaupt kein Kriterium individualistischer oder universalistischer Haltung, sondern unvermeidliches neutrales Mittel für den Individualismus und Universalismus, soweit sie sich des Staates bedienen. Außerdem ist es eine verfehlte Vorstellung, daß überhaupt eine Kumulierung der Staatszwecke in einem bestimmten Stadium einen universalistischen Charakter des Staatslebens ergebe. Wenn freilich der Primat des Staatslebens vor dem individuellen Leben Kriterium einer universalistischen Staatshaltung ist, dann ist zumindest die rücksichtslose Drosselung des Individualhandelns zugunsten des Kollektivums und eine starke Konzentration gesellschaftlicher Zwecke im Staat ein Symptom universalistisch orientierter Staatsführung. Ebensowenig wie die Zwecke können die Mittel staatlichen Handeins eindeutig in individualistisch und universalistisch beeinflußte gegliedert werden. Eine hier nicht zu analysierende, sondern einfach festzustellende Typologie der möglichen Verhaltensweisen des Staates gegenüber der Gesellschaft scheint drei Grundformen zu ergeben, die ihrerseits wiederum eine Reihe von Abstufungen und wohl auch Übergänge aufweisen. Der Staat kann entweder gegenüber der Gesellschaft Neutralität bewahren: Grundsatz der Nichtintervention; oder er kann gesellschaftliches Handeln zum Gegenstand rechtlicher Regelung und staatlicher Überwachung machen: beschränkte - nämlich auf Reglementierung und Kontrolle beschränkte Intervention; endlich kann er sich selbst in seinen verschiedenen Gestalten geradezu an die Stelle der freien Gesellschaft setzen, diese durch Eigentätigkeit verdrängen oder, da ja auch die verstaatlichte Gesellschaft Gesellschaft bleibt, gänzlich durchdringen: Grundsatz der totalen Intervention Verstaatlichung im engeren Sinn des Wortes. So steht zum Beispiel durchschnittlich im heutigen Staat zwar die menschliche Erholung unter dem Gesetz der Nichtintervention, dagegen die menschliche Berufstätigkeit fast ausnahmslos unter dem Gesetz zumindest der beschränkten, aber selbst auch schon im sogenannten kapitalistisch-individualistischen Staat bisweilen

6 Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 39 ff.

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unter dem Gesetz der totalen Intervention. Das Prinzip der beschränkten Intervention macht das Individuum - als Glied der freien Gesellschaft - zum konzessionierten (reglementierten, kontrollierten) Unternehmer, der sich überdies zur Erreichung bestimmter beruflicher Ziele bestimmter rechtlicher Formen (sogenannter privatrechtlicher Verkehrsformen) bedienen muß. Das Prinzip der totalen Intervention verwandelt dagegen das berufstätige Individuum in ein Staatsorgan - heute in der vorherrschenden Form des Staatsangestellten. Wenngleich die herrschende Rechtslehre mangels einer richtigen Typenbildung des staatlichen Handeins den Zustand der beschränkten staatlichen Intervention noch als "freie" Gesellschaft deutet, weil sie das einschlägige gesellschaftliche Geschehen als Zustand der Staatsfreiheit ansieht, so kann doch eine über das Verhältnis von Staat und Recht aufgeklärte Betrachtungsweise nicht verkennen, daß jede rechtliche Beherrschung des gesellschaftlichen Geschehens nicht nur die Freiheit in einem gewissen Sinn aufhebt und durch Zwang ersetzt, sondern auch die "Gesellschaft" durch den Staat ersetzt, daß also damit schon ein gewisser Zustand der Verstaatlichung gegeben ist und insbesondere von freier Wirtschaft bei dieser Rechtslage nicht mehr gesprochen werden kann. Was man der derart staatlich reglementierten und kontrollierten "freien" Gesellschaft und "freien" Wirtschaft als Zustand der Verstaatlichung gegenüberstellt, das stellt sich im Vergleich mit einer wirklich freien, d.h. von jeder rechtlichstaatlichen Intervention freien Gesellschaft und Wirtschaft nur als eine andere Technik der Verstaatlichung, allenfalls auch als ein geringerer Grad der Verstaatlichung des betreffenden Zweiges des Gesellschaftslebens dar. Der Gegensatz zwischen reglementierter und kontrollierter Privatwirtschaft und staatlicher Eigenwirtschaft nimmt nur dadurch den Anschein einer unüberbrückbaren Tiefe an, weil man die dritte - vom Manchester-Liberalismus propagierte und realisierte - Möglichkeit der absoluten Nichtintervention, also einer völlig anarchischen Wirtschaft und damit einer ausgebreiteten anarchischen Zelle im Gesellschaftsleben überhaupt kaum noch in Betracht zieht. Von den drei schematisch skizzierten Verhaltensweisen des Staates gegenüber der Gesellschaft ist lediglich der Standpunkt absoluter Nichtintervention rein individualistisch gekennzeichnet. In dieser Haltung spricht sich nämlich die Auffassung aus, daß zumindest die wirtschaftliche Betätigung des Individuums die Gemeinschaft nichts angehe, daß der Gemeinschaft in dieser Hinsicht eine unbedingte Schranke der Betätigung gesetzt sei. Dage-

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gen verweben sich in der Interventionspolitik fast unentwirrbar individualistisch und universalistisch fundierte Erwägungen. Fast rein individualistisch ist noch jene Interventionspolitik, die dem Kollektivum lediglich die Rolle zuschreibt, das Individuum in seiner privaten Betätigungssphäre zu schützen und zu fördern. Staatliche Protektion des freien Individuums ist ein zwar inkonsequenter Weg zu einem individualistisch formulierten Ziel. Die mannigfaltigen sonstigen Formen staatlicher Intervention erscheinen aber je nach dem Blickpunkt, von dem aus man sie beurteilt, aber auch je nach dem Motiv, dem sie entquellen, bald als individualistisch, bald als universalistisch orientiert. Mit dem Gegensatz der absoluten Nichtintervention verglichen, darf man aber wohl in allen Fällen der fraglichen Intervention den Universalismus am Werke sehen, soweit die Intervention irgendeinem Gemeinschaftsziel, z.B. der Steigerung der Gesamtproduktion der Volkswirtschaft, dem Schutz der Konsumenten oder der Arbeitnehmer usw. zu dienen bestimmt ist. Nur zeigen sich in dieser Sphäre parteipolitische Strömungen, die darauf hinauslaufen, die theoretische Deutung des Tatbestandes zu verwirren. So ist es eine bekannte Erfahrungstatsache, daß namentlich Angehörige der Wirtschaft bei grundsätzlich universalistischer Haltung nur ein gewisses Maß an staatlicher Intervention gutheißen, jedes darüber hinausgehende Maß jedoch verwerfen und es als individualistische Entgleisung hinstellen. Es ist eine psychologisch gewiß erklärliche Erfahrungstatsache, daß sich in demselben Kopf stärkste Bejahung der repressiven Staatstätigkeit und ebenso lebhafte Verneinung produktiver Staatstätigkeit, in einem anderen Kopf die Forderung der Erstreckung der produktiven und der Beschränkung der repressiven Staatstätigkeit zusammenfinden. Das ist aber kein Beweis für die ideologische Zusammengehörigkeit der psychisch konfundierten Bestrebungen, sondern nur ein Beweis dafür, daß dieselbe Psyche ideologische Gegensätze bewußt oder unbewußt (vielfach durch die persönliche Interessenlage influenziert) vereinigen kann und daß insbesondere auch der Gegensatz von Individualismus und Universalismus in ein und demselben Menschen wohnen und ein Komprorniß eingehen kann. Man wird im allgemeinen in der Steigerung interventionistischer Einschläge in das Gesellschaftsleben und insbesondere im Übergang von der ersten zur zweiten Stufe des Interventionismus, vom beschränkten zum totalen Interventionismus, ein Zunehmen universalistischer Tendenzen erkennen können, sofern sich nicht im Einzelfall etwa aus den gesetzgeberischen Motiven für die interventionistischen Maßnahmen Gegengründe gegen eine universalistische Deutung erkennen lassen. 8 A. J. Merk!

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Doch nicht bloß das Objekt und hinsichtlich des Objektes das Maß der Intervention, sondern auch, ja vielleicht sogar primär das Subjekt der Intervention scheint für die ideologische Deutung der Interventionspolitik ausschlaggebend zu sein. Wenn bisher immer schlechthin vom Staat und der Verstaatlichung die Rede war, so galt dies für alle geschichtlichen Erscheinungsformen des rechtlich gebundenen Imperium, für sämtliche Träger obrigkeitlicher Kompetenz. Der äußerste Grenzfall der Organisation der Staats- und Rechtsautorität ist bekanntlich die Zusammenfa~sung des gesamten Imperium in einem sogenannten Gewaltträger - Fall der radikalen Zentralisation. Zum Unterschied von diesem extremen Fall gibt es aber zahlreiche Abstufungen der Dezentralisation des Imperium, wonach einem zentralen Gewaltträger eine wechselnde Zahl dezentraler Gewaltträger gegenübersteht, deren Autorität nach der einen Auffassung eigenständig, nach der anderen Auffassung von der zentralen Autorität delegiert ist. Durch die Konfrontation des zentralisierten Imperium mit diesen Einrichtungen der Autonomie und Selbstverwaltung ergibt sich ein engerer Staatsbegriff und der Dualismus von Staat im engeren Sinn und Selbstverwaltungskörpern? Dieser Pluralismus von Gewaltträgern ermöglicht die Verteilung der kollektiv zu besorgenden Funktionen auf eine Mehrzahl oder Vielzahl von Kollektivformen und somit die buntesten Variationen "vergesellschafteter" Tätigkeit und die verschiedensten Übergangserscheinungen von "öffentlicher" und "privater Funktionsweise", da diese dezentralen Gewaltträger durch stufenweise Abschwächung des Imperium zwischen Staat und Individuum vermitteln. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch ständische Organisationen dem Typus der Autonomie und Selbstverwaltung angehören, also im weiteren Sinn Staat, dezentrale Träger von Staatsgewalt sind, so wird wohl die geschichtliche und voraussichtlich auch künftige Bedeutung der dezentralisierten Staatsorganisation für die Gesellschaftsstruktur offenbar. Man ist nun leicht versucht, die zentrale oder dezentrale Ordnung der Kollektivfunktionen dem Universalismus und Individualismus zuzuschreiben. Jede solche Zuordnung ist aber willkürlich. Der Individualismus und der Universalismus können sich für die Gesellschaftstätigkeiten, die sie kollektiv besorgt wissen wollen, der zentralen und dezentralen Organisationstechnik bedienen und die beiden Organisationssysteme beliebig mischen. Insbesondere sind Verstaatlichung und - wenn der Ausdruck gestattet

7 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 290 ff.

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ist - Verständischung der Wirtschaft zwei gleicherweise gangbare Methoden universalistischer Interventionspolitik. In dem einen Fall ist eben ein weiterer sozialer Kreis, in dem anderen ein engerer sozialer Kreis Subjekt der kollektiven Reglementierung und Kontrolle privater Tatigkeit oder Subjekt total kollektiver Geschäftsführung. Die nächstliegende Ausdrucksform universalistischer und individualistischer Politik scheint vielleicht die Staatsform zu sein. Doch sind die meisten Staatsformen Komponenten so vielfaltiger und heterogener politischer Strömungen und Strebungen, daß eine eindeutige Zuordnung der Staatsform zu den fraglichen politischen Grundrichtungen nur in seltenen Fällen möglich ist. Werden ja doch die Staatsformen nicht in der Retorte als Destillate des individualistischen und universalistischen Denkelementes konstruiert, sondern im geschichtlichen Ablauf und Zusammenprall der verschiedensten im Volk wirksamen politischen Ideen zusammengeschweißt. So kann man in den meisten Fällen bestenfalls feststellen, daß die eine oder andere Staatsform der einen oder anderen politischen Grundidee kongenial ist oder nicht. Gewiß wäre der "liberale Staat" eindeutig individualistisch zu charakterisieren, doch gibt es keine so zu nennende Staatsform. Die konstitutionelle oder parlamentarische Monarchie, in der der Liberalismus die größte geschichtliche Rolle gespielt hat, ist jedenfalls nicht mehr ganz dem Individualismus zuzuschreiben, sondern weist auch universalistische Bestandteile auf, namentlich den Erbmonarchen. In der Tat hat sich gerade in der politisch-geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte die Mischung des durch den Erbmonarchen dargestellten universalistischen Elementes mit den typischen staatlichen Institutionen individualistischer Herkunft in der konstitutionellen und parlamentarischen Monarchie als das beste Konservierungsmittel sowohl für das monarchische Prinzip als auch für den so stark angefochtenen Kreis liberaler Institutionen bewährt. Die bei den auf Gedeih und Verderb verknüpften heterogenen Staatseinrichtungen sichern sich gewissermaßen gegenseitig die isoliert nur viel schwerer zu behauptende Existenz. Auch die demokratische Staatsform in ihren verschiedenen Spielarten ist gewiß dem politischen Individualismus kongenial, doch auch sie verwirklicht ihn nicht rein, sondern weist Einschläge aus dem universalistischen Ideenkreise auf, so etwa den für die großräumigen Demokratien charakteristischen und geradezu rechtsordnungsmäßig verankerten Imperalismus. Den politischen Absolutismus kann man keinesfalls eindeutig dem Individualismus oder Universalismus zuordnen; wenngleich eher die Ver8*

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mutung für das letzte spricht, so ist doch letztlich für die Charakterisierung des Absolutismus die ihm zugrunde liegende - zeitlich und örtlich wechselnde - politische Idee entscheidend. Keinesfalls kann man dezentralisierende Staatsformen um dieser ihrer Eigenschaft willen für den Universalismus und zentralisierende Staatsformen für den Individualismus reklamieren. 8 Sonst wären ja namentlich die faschistischen und bolschewistischen Staaten der Gegenwart dank ihrer extremen Zentralisation, deren Ausmaß von keiner Demokratie erreicht wird, als Repräsentanten des individualistischen Prinzips anzusehen, wogegen doch ihre ganze Ideologie, insbesondere die unbedingte Betonung des Primates des Kollektivums vor dem Individuum Zeugnis abgelegt. Gibt es einen sprechenderen Beweis für die Herrschaft universalistischer Staatsauffassung als die Worte des ersten Artikels der Carta deI Lavoro des faschistischen Italien: "Die alte und mächtige italienische Nation steht als selbständiger Organismus von höherem Wert mit höheren Zwecken und Mitteln über den einzelnen oder verbundenen Personen, die sie bilden. Sie ist in dem faschistischen Staat als eine geistige, wirtschaftliche und politische Einheit endgültig verwirklicht." Das ist echtester Universalismus, ungeachtet der durch das Korporationssystem kaum verschleierten Zentralisation. In Wahrheit hat eben die zentralisierende oder dezentralisierende Organisation für die Herrschaft von Individualismus oder Universalismus nichts zu bedeuten und so ist auch der Gegensatz von Unitarismus und Föderalismus oder Einheitsstaat und Bundesstaat unter dem Gesichtspunkt unseres Problems irrelevant. Diese beispielsweise Demonstration des Zusammenhanges zwischen Staatsform und den politischen Formprinzipien des Individualismus und Universalismus möge und muß genügen, da für eine systematische Untersuchung die Aufrollung der ganzen Staatsformenlehre unvermeidlich wäre. Echtester politischer Individualismus lebt sich auch in dem System rechtlicher Kontrollmittel der Staatstätigkeit aus, das in den konstitutionellen Rechtsordnungen ausgebildet worden ist. Bewußt ist daran oft nur die Skepsis, daß sich die bisher absolut regierenden Staatsorgane an die neugeschaffenen und für sie ungewohnten Bindungen des Rechtsstaates halten werden; unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt das Postulat, dem Staat

8 So die Wiener soziologische Schule, namentlich Spann, Der wahre Staat, 2. Aufl., 1923, und Heinrich, Das Ständewesen, 2. Aufl., 1934, passim.

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um des Individuums willen weitere Fesseln anzulegen. Wird der Staat schon von vornherein durch die Sicherung einer absolut staatsfreien Sphäre beschränkt, wird ihm sodann durch eine differenzierte Rechtsordnung ein kasuistisches Gesetz des Handeins vorgezeichnet, so treibt das antietatistische Ressentiment in den Kontrolleinrichtungen noch die letzte Blüte, daß dem handelnden Staat auf Schritt und Tritt ein Kontrollorgan an die Seite gestellt wird: das Parlament als Organ der politischen Verwaltungskontrolle, überdies das parlamentarische Budgetrecht als finanzielle Kontrolle, sodann ein Rechnungshof zur Kontrolle der tatsächlichen finanziellen Gebarung, die Verwaltungsgerichtsbarkeit als Rechtskontrolle und unter Umständen auch Ermessenskontrolle mehr oder minder großer Bereiche der Verwaltung, die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst als Instrument der Kontrolle der Gesetzgebung, die Staats- und Staatsorganhaftung als zivilgerichtliche Variante der Kontrolle von Justiz und Verwaltung und die Ministerverantwortlichkeit als subjektives strafgerichtliches Kontrollverfahren zur Ergänzung der objektiv verfahrenden, nämlich gegen bestimmte Staatsakte gerichteten Kontrollmittel. Bezeichnenderweise wurden aber selbst diese der Rüstkammer des Individualismus entstammenden Rechtseinrichtungen auch von grundSätzlichen Universalisten gutgeheißen und benützt, wenn es galt, die Anhängerschaft universalistischer Ideen gegenüber der Herrschaft grundsätzlich individualistisch eingestellter Parteien zu schützen. Als letztes Symptom individualistischer Rechtsgestaltung sei noch die neuzeitliche Wandlung des Strafrechtes und Strafprozesses erwähnt, die auf eine Milderung des Strafwesens zugunsten des straffälligen Individuums und - von einem universalistischen Standpunkt aus gesehen - auf eine Entrechtung, ja sogar, wie man gelegentlich behauptet hat, Schutzloserklärung des Staates hinauslief. Das letzte trifft am ehesten hinsichtlich der Verengung des Kreises und der Abschwächung der Qualifikation der politischen Delikte zu. Es kann nicht verkannt werden, daß das letzte Ziel des politischen Individualismus die Beschränkung des Strafrechtsschutzes auf das Individuum und außerstaatliche gesellschaftliche Güter ist, wogegen der Staat auf den außerstrafrechtlichen Schutz beschränkt werden soll, den ihm seine geistige Macht, nämlich die allgemeine Anerkennung der Untertanen, verleiht; eine Strafrechtspolitik, die in der Vorstellung wurzelt, daß der Staat nicht existenzberechtigt sei, der seine Existenz nach innen, d.h. gegenüber seinen Untertanen, durch strafrechtliche Machtmittel schützen, der seine Anzweifelung durch die Untertanen strafrechtlich disqualifizieren muß.

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Ansonsten fällt die Verengung des Kreises der Delikte und die Milderung der Strafrechtspflege, wie namentlich die Abschaffung der Todesstrafe und der Tortur, auf das Konto des politischen Individualismus. Der Sinn solcher Strafrechtsreformen ist ja wiederum eine Schrankenziehung gegenüber dem Staat, dem die universalistisch durchaus begründete Herrschaft über Tod und Leben seiner Untertanen entzogen wird. Auf diesem Gebiet begegnet sich der Liberalismus nicht selten mit Vertretern der Kirche, die ja auch vom Standpunkt ihrer spezifischen Bewertung des Menschen der Herrschaft des Staates über den Menschen gewisse Schranken ziehen mußte. Nicht zuletzt werden die großen rechtspolitischen Probleme des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie Staat und Nation von den Ideen des Individualismus und Universalismus determiniert. Für den politischen Individualismus steht im Vordergrund die Frage der religiösen Haltung des einzelnen Staatsangehörigen und er beantwortet sie naturgemäß im Sinn der religiösen Freiheit des Individuums. Auch in dieser Frage ist der politische Individualismus bis zu einem gewissen Punkt mit dem Universalismus der Kirche eines Sinnes, denn dieser wirkt sich auf religiösem Gebiet naturgemäß in der individualistischen Forderung aus, daß der Staat die kirchlichen Pflichten seiner Untertanen in keiner Weise beeinträchtigen dürfe; nur an dem Punkt scheiden sich dann freilich die Wege der kirchlichen und der liberalen Glaubenspolitik, daß diese absolute, jene dagegen bloß relative Toleranz fordert (vgl. die päpstliche Enzyklika "Libertas" vom 28. Juni 1888, namentlich den Abschnitt XI über die Gewissensfreiheit). Naturgemäß fordert der Liberalismus, was das zweite staatskirchenrechtliche Problem, das religiöse Organisationswesen betrifft, ebenfalls Betätigungsfreiheit. Nur wird diese Freiheit in echt individualistischer Weise nicht als ein Recht oder Grundrecht der religiösen Verbände, sondern ebenfalls des Einzelnen konstruiert, indem es in dem Gewand eines religiösen Koalitionsrechtes, d.h. des Rechtes der Individuen auftritt, sich zu religiösen Zwecken zu vereinigen, um sich nicht bloß einzeln, sondern auch in freiwilliger Gemeinschaft mit seinesgleichen religiös zu betätigen. Die Kirche fordert selbstverständlich auch wiederum religiöse Organisationsfreiheit, aber nicht mit Unbeschränktheit für jede religiöse Lehre, sondern mit Ausschließlichkeit für die einzig wahre Lehre. Also auch hier eine teilweise Weggemeinschaft, aber nicht bis zu den letzten Konsequenzen des Liberalismus. Wird aber der Individualismus auch dem Kollektivum Nation gerecht? Gewiß nicht insofern, daß er die Nation als ein überindividuelles Kollekti-

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vum erfassen und im Recht verankern würde. Wenn nichtsdestoweniger der politische Individualismus vielfach dem Nationalismus den Weg gebahnt hat, so geschah dies in der Weise, daß die einzelnen Individuen der Nation mündig gemacht wurden und die Gelegenheit geboten wurde, die Freiheit des Einzelnen für die Freiheit der nationalen Gemeinschaft auszuwerten. Dieserart wurde zum Beispiel der politische Liberalismus in Österreich der Erwecker und Wegbereiter der Nationalitäten. Freilich ist der politische Individualismus vom Standpunkt des Nationalismus aus unter Umständen auch negativ zu bewerten, denn im Konfliktsfall entscheidet sich der politische Individualismus grundsätzlich für das Individuum und gegen die Gemeinschaft, gleichviel, ob diese die des Staates oder des Volkes oder die bei der Kollektiva ist. Unverkennbar ist dagegen wiederum die nationalpolitische Funktion des politischen Individualismus im national gemischten Staat, wo eben der politische Individualismus, wenn er sich selbst treu bleibt, die Partei der unterdrückten Minderheit ergreifen und ihr ein Lebensrecht gewährleisten muß, wogegen man dem Universalismus keinesfalls den Vorwurf des Selbstwiderspruchs machen kann, wenn er wie den Einzelnen so auch eine Minderheit und auch eine nationale Minderheit den "Bedürfnissen der Gesamtheit", d.h. in Wirklichkeit der herrschenden Nation, zum Opfer bringt. Mit den letzten Betrachtungen wurde schon unausgesprochen jener Eigenschaft des politischen Individualismus präludiert, die man als Gemeinschaftsfeindlichkeit bezeichnen könnte und die in dem Vorwurf gipfelt, den namentlich auch die päpstliche Enzyklika "Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931 erhebt, der individualistische Geist habe "das einst blühend und reich gegliederte, in einer Fülle verschiedenartiger Gemeinschaften entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu ertötet, bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrig blieben". Wenn man davon absieht, daß das geschichtliche Instrument dieses destruktiven Eingriffes in die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaftsverfassung nicht eigentlich der politische Liberalismus, sondern sein großer Vorläufer und Gegner, nämlich der politische Absolutismus war, muß dieser Vorwurf anerkannt und die Tatsache, auf die er sich bezieht, als dem Wesen des Individualismus entsprechend zugegeben werden; doch mit einer Einschränkung: Der politische Individualismus ist nicht schlechthin organisationsfeindlich, sondern lehnt nur ein Übermaß an Zwangsorganisationen ab, die in ihrer Summe die persönliche Freiheit· des Einzelnen zu stark absorbieren. Für die Vielzahl von Zwangs verbänden, die das Verhältnis von Staat und Individuum in jener reichgegliederten

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mittelalterlichen Gesellschaftsverfassung mediatisiert haben, ist im liberalen Staat einfach darum kein Raum, weil sie als Konkurrenten des Staates diesen ihren ohnehin schon auf das engste Betätigungsbereich beschränkten Konkurrenten ganz aushöhlen würden. Von einer absoluten Organisationsfeindlichkeit kann aber schon darum keine Rede sein, weil gerade der Liberalismus in Opposition zur monopolistischen Konzentration des Gemeinschaftslebens im absoluten Staat in den revolutionären Verfassungen dem Individuum in verschiedenen rechtlichen Formen Organisationsfreiheit gewonnen und gewährleistet hat. Nur gegen die Wiederherstellung des Organisationszwanges durch die Einführung von Zwangsorganisationen, die zwischen das Individuum und den Staat eingeschaltet sind, hat sich der Liberalismus - abgesehen von der Einrichtung der territorialen Selbstverwaltungskörper - seinem Wesen getreu zögernd, wenn nicht ablehnend verhalten. Wenn somit eine vielgliedrige und noch beliebig vermehrbare Reihe eindeutig individualistischer Einschläge der meisten heutigen Staatsrechtsordnungen feststeht, so sei nur anhangweise festgestellt, daß die derzeit am meisten als vermeintlich individualistisch betrachtete Rechtseinrichtung der Abstimmung und der Wahl - diese ist nur ein Spezialfall der Abstimmung, nämlich eine Abstimmung zum Zwecke der Organberufung - weder eine individualistisch noch eine universalistisch erklärbare Rechtseinrichtung, sondern ein durchaus neutraler technischer Behelf der Staatswillensbildung ist. Gewiß, eine universalistische Staatsauffassung wird das monokratische Prinzip - in moderner Übersetzung: das Führerprinzip - bevorzugen. Aber soweit der kollegialen Organisationsform Raum gegeben wird, ist, wenn man es mit dem Kollegialprinzip ehrlich meint, die Abstimmung - sei es nun mit der Bedingung der Einstimmigkeit oder der Mehrstimmigkeit unvermeidlich. Denn das Kollegium wird denaturiert, zu einer Reihe von Statisten herabgesetzt, wenn die Herren Kollegen immerhin reden dürfen, der Vorsitzende jedoch nach dem Führerprinzip entscheidet. Wenn gar Wahl und Abstimmung als extrem individualistische Erfindungen der französischen Revolution hingestellt werden, so tut man dieser zu viel Ehre an, indem man ihr Originalität in bezug auf ein Jahrtausende altes Rechtsinstitut zuschreibt. Man könnte sich von dem gewiß unverfänglichen Kenner des altgermanischen Rechtes Otto von Gierke 9 belehren lassen, daß schon das 9 Deutsches Genossenschaftsrecht, 2. Bd., 1873, S. 204 ff.

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altgermanische Gerichtsurteil durch Abstimmung geschöpft wurde, und die katholische Kirche ist gewiß nicht bei der französischen Revolution in die Lehre gegangen, um den Weg der Papstwahl ausfindig zu machen; und weder mit der Wahl gewisser ihrer Funktionäre noch mit den Abstimmungen auf ihren Konzilien und manchen anderen Einrichtungen des Kirchenrechtes, die den Kritiker der Demokratie als "Hexeneinmaleins" anmuten, ist die Kirche ihrem immanenten Universalismus - der sich freilich dem Staat gegenüber unter Umständen individualistisch auswirkt - untreu geworden. Der Universalismus ist der Gegenbegriff des Individualismus. Sein politisches Programm ist einfach in großen Zügen das Negativ seines politischen . Iers. 10 Gegensple Politischer Individualismus und Universalismus sind überhaupt nur Idealtypen der Gesellschaftsverfassung und der Staatsverfassung, die von der Wirklichkeit nie restlos verwirklicht werden können. Die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit wendet immer beide Baugesetze an und erreicht ihre Buntheit sowie die Annäherung an die beiden Idealtypen des Gesellschafts- und Staatslebens nur durch die verschiedene Dosierung der beiden Baugesetze. Die Alleinherrschaft der einen oder anderen Idee ist aber nicht nur aus verschiedenen soziologischen Gründen unmöglich, sie wäre auch vom Standpunkt der beiden beteiligten ethisch-politischen Werte letztlich nicht gutzuheißen; denn die Alleinherrschaft des Individualismus würde den Staat und damit den wichtigsten, wenn nicht den einzigen sozialen Garanten des Individuums aufheben; die Alleinherrschaft des Universalismus aber würde letztlich das Individuum entindividualisieren, die Persönlichkeit aus dem sozialen Leben ausschalten und damit auch den Universalismus um seinen letzten Sinn bringen. Man braucht sich nur die bisherigen extremsten Realisierungen des individualistischen und universalistischen Prinzips Anarchismus und Bolschewismus - zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, daß die Wahrheit auch hier in der Mitte liegt und daß der Weg des sozialen Fortschrittes der der Vermittlung zwischen Individualismus und Universa-

10 Konkrete Belege müssen aus Raumgründen, die ohnehin schon zur Kürzung des Manuskriptes genötigt haben, entfallen.

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lismus ist. Auch hier bewahrheitet sich das Wort jener geschichtlichen Persönlichkeit, die die polaren Erscheinungen des Individualismus und Universalismus, aber auch ihren Ausgleich in sich erlebt hat, das berühmte Goethewort: "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." Es ist die historische Mission des Rechtsgesetzes, in universalistischer Funktion dem Individuum und in individualistischer Funktion dem Staat das Gesetz des Handeins vorzuzeichnen und heteronome Schranken zu ziehen.

Enzyklika "Quadragesimo anno" und Verfassungsfragel Unter den immer zahlreicher werdenden Plänen und Entwürfen einer Ständeverfassung ragt das ständisch-politische Programm der Enzyklika "Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931 nicht nur durch die einzigartige Autorität ihres Urhebers, sondern auch durch die Lebensnähe und den Wirklichkeitssinn ihrer einzelnen Forderungen hervor, womit sie sich auch für jede sachliche Kritik vorteilhaft von so manchen sozusagen am grünen Tisch konstruierten Ständestaatsprojekten unterscheidet. Diese Eigenschaften verdankt sie freilich vornehmlich einer weisen Selbstbeschränkung auf allgemeine Richtlinien für den Neubau der Gesellschaft und des Staates, sozusagen allgemeingültige Baugesetze, die dem Konstrukteur der konkreten Ständeverfassung reichlichen Spielraum lassen, und mit jedem gesellschaftlichen und im besonderen politischen System, sowie mit jeder herkömmlichen politischen Form vereinbar sind - außer mit dem Kapitalismus, Sozialismus, und freilich auch dem Absolutismus jeglicher Art. Es brauchte somit kaum einer besonderen Feststellung, daß auch zwischen dem Programm der Enzyklika und einer nationalen Politik keinerlei Gegensatz besteht, und daß daher eine Ständeverfassung, die ohne Nebenabsichten die reinen und hochherzigen Ideen der Enzyklika verwirklichen will, das Vertrauen und die Zustimmung aller national Gesinnten verdient und wohl auch gewärtigen darf.

Wiener Neueste Nachrichten vom 14. März 1934, S. 1-2. 1 Da ich auf Grund eindringlicher Studien schon im November 1933 der von Professor Verdroß redigierten "Zeitschrift für öffentliches Recht" ein ausführliches Manuskript über den "staatsrechtlichen Gehalt der Enzyklika" überreicht habe, der im April-Heft dieser Zeitschrift erscheinen wird, halte ich mich für legitimiert, auch im vorliegenden engen Rahmen, der Einladung der Schriftleitung folgend, zu diesem aktuellsten Zeitproblem Stellung zu nehmen.

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Der grundsätzliche äußere Unterschied des päpstlichen Planes einer Ständeverfassung von den zahlreichen anderen gleichbenannten Verfassungsplänen besteht darin, daß sich der kirchliche Plan bewußt und absichtlich auf die Errichtung und Einrichtung von Gemeinschaften beschränkt, die zwischen dem "Staat" als der zentralen Autorität eines politischen Gemeinwesens und dem isolierten Individuum stehen sollen, und daß er es gänzlich dem Ermessen der einzelnen Staaten und Staatsvölker anheimstellt, ob und wie sie diese neuen innerstaatlichen Gemeinschaftsformen, eben die "Stände", zur Bildung des Staatswillens verwerten; die Enzyklika empfiehlt ausdrücklich nur berufständische Körperschaften, nicht auch den Ständestaat. Somit bietet die päpstliche Enzyklika zwar einen Grundriß einer Ständeveifassung im Sinne einer Verfassung bestimmter inner- und unterstaatlicher Gemeinschaften, aber streng genommen nicht einer Ständestaatsveifassung, wofern man unter dieser die Verfassung eines Ständestaates, also eines Staatstypus versteht, der innerstaatliche Gemeinschaften von der Art der Stände an der Staatswillensbildung beteiligt, ja äußerstenfalls diese für die Stände ausschließlich in Anspruch nimmt. Diese Selbstbescheidung der Enzyklika ist eine unvermeidliche Folgerung aus dem von der Kirche folgerichtig eingenommenen - in klassischer Weise in der Enzyklika "Immortale Dei" (1885) formulierten - Standpunkt der Neutralität gegenüber der Staatsform, der selbstverständlich auch gegenüber dem Ständestaat Geltung haben muß. An diesem Punkte scheiden sich somit die Wege zwischen dem kirchlichen und allen praktisch-politischen Ständeverfassungsplänen, denn für diese sind die Stände bestenfalls der bloße Unterbau eines Organapparates, der Mitträger oder Alleinträger der Staatswillensbildung werden soll; in diesem Falle gipfelt die Ständeverfassung in einer Ständestaatsverfassung, die freilich diesen ihren Namen nur dann zu Recht trägt, wenn ihre sogenannten ständischen Spitzenorgane, seien sie nun bloß einzelne "ständische" Vertreter oder ein ganzes Ständehaus mit einem ständischen Kollegium und einer ständischen Bürokratie und dergleichen "auf ständischer Grundlage beruhen", das heißt aus den ständischen Körperschaften abgeordnet sind. Die päpstliche Enzyklika schließt gewiß einen derartigen "Überbau" über den von ihr geforderten ständischen Gemeinschaften nicht aus, ja erlaubt sogar das Urteil, daß eine solche Auswertung der von ihr geforderten innerstaatlichen Gebilde für die Konstruktion der Staatsspitze ihr kongenial sei. Doch würde auch eine Staatsverfassung, die sich mit der Einrichtung der ständischen Körperschaften genug sein läßt, und im übrigen ein politisches Parlament oder sogenannte autoritäre Organe

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mit der Staatswillensbildung betraut, den Absichten der Enzyklika genugtun, während anderseits ein bloßes "ständisches" Spitzenorgan ohne den ständischen Unterbau nicht nur eine Halbheit wäre, sondern geradezu die Absichten der Enzyklika verfehlen würde und daher bestenfalls als Übergangslösung bis zur ehestmöglichen Einrichtung der im berufstätigen Volk verwurzelten ständischen Körperschaften in Frage kommt. Da nun aber die Berufsstände im Sinne der Enzyklika unvermeidlicher Unterbau einer wahren Ständestaatsverfassung wie übrigens auch mögliche und wünschenswerte Bestandteile jedweder anderen Staatsordnung sind, wird die Verfassung dieser Berufsstände im Sinne der Enzyklika zu einer Vorfrage und zu einem mittelbaren Problem einer jeden Ständestaatsverfassung, die sich mit Recht auf den Willen des Papstes berufen will. Die charakteristischeste Eigenschaft der in der gegenwärtigen politischen Diskussion gemeinten Stände im Gegensatz zu den geschichtlichen Ständen ist ihre klassenmäßige Neutralität, ihre Zusammensetzung aus latenten oder aktuellen Klassengegnern, die aber die unbewußte, jedoch durch die ständische Organisation über die Schwelle des Bewußtseins zu hebende Gemeinsamkeit des Berufes verbindet. Der Berufsstand als die gemeinsame rechtliche Plattform der klassengegnerischen Berufsgenossen von der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite soll ja nach dem Wunsche und der Erwartung der Enzyklika der Boden und das rechtlich-soziale Bindemittel werden, um die nach der realistischen Schilderung der Enzyklika "feindselig erstarrten gesellschaftlichen Kampffronten" aufzulösen und die Gegner an einen Tisch zu bringen, in eine Zwangsgemeinschaft zu zwingen, die das rechtliche Korollar ihrer Schicksalgemeinschaft ist. Zwangsgemeinschaft soll der Berufsstand freilich nicht in dem Sinne werden, daß man in ihn hineingeboren wird und ihm lebenslang verhaftet bleibt, sondern in dem Sinne, daß eine bestimmte Berufszugehörigkeit die Mitgliedschaft in dem entsprechenden Berufsstand zur Folge hat - sei es nun unmittelbar oder auf Grund gewisser Eintritts- oder Aufnahmeförmlichkeiten -, so daß der für die heutige Zeit in zahllosen Fällen unvermeidliche Berufswechsel unter Umständen auch einen Wechsel der berufsständischen Zuständigkeit bedingt. Mit den bisherigen Andeutungen über die Einrichtung der Berufsstände ist zugleich schon ausgemacht, daß sie die gesamte berufstätige Bevölkerung und wohl auch die Arbeitslosen, soweit diese durch irgendwelche - freilich rechtlich mitunter schwer faßliche - rechtliche Merkmale gekennzeichnet

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sind, erfassen müssen, mag man nun Name und Eigenschaft des Berufsstandes im Sinne der Lehre und Ausdrucksweise der Schule Othmar Spanns auf den Umkreis der wirtschaftlich Tätigen beschränken und den so verstandenen Berufsständen Kulturstände usw. gegenüberstellen oder in allen Erzeugern und Hütern ideeller und materieller Werte "berufstätige" Menschen sehen und somit - abgesehen von einem etwaigen, im Grunde systemwidrigen Verbraucherstand - eine mehr oder minder große Zahl von Berufsständen einrichten. Damit erledigt sich auch der befremdliche Vorschlag Löbells in der "Wiener Wirtschaftswoche" (Nr. 21 aus 1933), die ständische Organisation auf die Wirtschaft zu beschränken, da es außer der Regierung, den Ländern und der Wirtschaft keine Interessen gebe und geben könne. Die Abgrenzung der Berufsstände und die Aufteilung der Bevölkerung auf sie, wie übrigens auch die rechtliche Behandlung der trotz allem berufsständisch "Heimatlosen", ist gewiß das schwierigste und verantwortungsvollste berufsständische Organisationsproblem. Die Tragweite der Lösung dieses Problems hängt naturgemäß von der Behandlung des anschließenden Problems des Wirkungskreises der Berufsstände ab. Während aber jene Probleme von Anbeginn in einem bestimmten präjudizierlichen Sinne gelöst sein müssen, kann wenigstens das Problem des Wirkungskreises einer schrittweisen Lösung zugeführt werden, wobei man von einer zunächst nur vorsichtigen Selbstverwaltung der Angelegenheiten des berufsständischen Interessenkreises zur Übertragung obrigkeitlicher Verwaltungsgeschäfte und zuletzt wohl auch fonnell-gesetzgeberischer und richterlicher Funktionen vom Staat auf die Berufsstände fortschreiten und damit die von der Enzyklika angestrebte Entlastung des Staates bewerkstelligen kann. An dieser Zielsetzung erweist sich der ständische Umbau der Gesellschaft als ein eigenartiges rechtstechnisches Mittel zur Dezentralisation des Staatsapparates nach Art der Selbstverwaltung, wobei es der rechtswissenschaftlichen Beurteilung gewiß unbenommen bleibt, auch die neuen selbständigen Träger von Imperium im weiteren Sinn als Staatsorgane aufzufassen. Die Eigentümlichkeit der ständischen Dezentralisation des Staatsapparates besteht jedoch darin, daß die Ständeverfassung Personenkreise, die durch berufliche Merkmale als zusammengehörig gekennzeichnet sind, in ihrem Interessenkreis mit Herrschennacht ausstattet, so wie es der bisherige Staat unter liberalem und demokratischem Einfluß mit den engeren Wohnsitzgemeinschaften getan hat. Mit dieser Einrichtung von Verwaltungsträgern und allenfalls auch Gesetzgebungsträgern, die nach Berufsmerkmalen zusam-

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mengesetzt sind - freilich nicht auch in anderer Hinsicht -, knüpfen bekanntlich die modernen Ständestaatspläne an ältere Rechtseinrichtungen an, die aber in deutschen Landen der Absolutismus ausgemerzt hat. Das naheliegende Vorbild der innerstaatlichen Gebietskörperschaften zeigt übrigens die ganze Skala der Gestaltungsmöglichkeiten der Personalverbände: zwischen den beiden Polen einer dem engsten Lokalverband, also der Gemeinde, entsprechenden Berufsverband und einer etwa dem Gliedstaat eines Bundesstaates angeglichenen berufsständischen Spitzenorganisation, die neben dem Typus des Länderbundesstaates den Typus eines Ständebundesstaates möglich und vielleicht auch wirklich macht, ist eine vielgliedrige Hierarchie ständischer Verbände denkbar, der nur aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung praktische Grenzen gezogen sind. Zwei Schranken sind freilich bei dem Aufbau der berufsständischen Organisation zu beachten, wenn man sie nicht durch Überspannung einer richtigen Idee gefährden will. Neben den neuen berufsständischen Körperschaften behalten auch die überkommenen Gebietskörperschaften ihre Existenzberechtigung, und zwar nicht nur, weil auch sie, was oft übersehen wird, wohl sogar eher organisch gewachsen sind und ... auch sie natürliche Interessengemeinschaften zum rechtlichen Ausdruck bringen, nämlich die Gemeinsamkeit des Wohnsitzes, also gewissermaßen der Scholle, die auf eine Gemeinschaft des Blutes zurückführt, sondern auch, weil sie bestimmte soziale Bedürfnisse befriedigen, die einer Berufsgemeinschaft naturgemäß fremd sind. Man darf aber auch nicht über der Besonderheit der Berufsinteressen das den Berufsegoismus überbrückende Gemeininteresse übersehen; daraus ergeben sich naturgemäße Schranken bei der Übertragung von Verwaltungsund Gesetzgebungsaufgaben an die Berufsstände, an denen alle Außenstehenden als Gegeninteressenten mitbeteiligt sind. Bedient sich nun eine Verfassung - die hiedurch zur Ständestaatsverfassung wird - dieses freilich nur aufs knappste skizzierten ständischen Apparates zur Regelung der Staatswillensbildung, so kann dies sinngemäß nur in der Weise geschehen, daß die berufsständischen Körperschaften selbst jene Mandatare aus ihrer Mitte delegieren, die den Berufsstand beim Staate zu repräsentieren haben, wie ja auch die berufsständische Selbstverwaltung erfordert, daß zumindest die Gesamtrepräsentation des Selbstverwaltungskörpers auf der Berufung von Seite der Körperschaftsangehörigen beruht. Wenn eine derartige Organisation auch Wahl- und Vorschlagsrechte bedingt,

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so ist dies zumindest im Rahmen eines kirchlichen Organisationsplanes nicht befremdlich, weil ja die Kirche in ihrer bald zweitausendjährigen Geschichte die Formen der Abstimmung im allgemeinen und der Wahl- als einer auf eine Organbestellung abzielenden Abstimmung im besonderen mannigfach verwendet hat. Die Ernennung sogenannter Ständevertreter von Seite der obersten Staatsorgane findet daher nur im Mangel von Berufsständen ihre einstweilige Rechtfertigung. Noch ein abschließendes Wort über den Weg, der zur Verwirklichung des päpstlichen Gesellschaftsplanes führt! Auch hier läßt die Enzyklika beträchtlichen Bewegungsspielraum und man muß es trotz ihrer Begünstigung der Freiwilligkeit als erlaubt erkennen, daß die berufsständischen Körperschaften für den Rechtsbereich durch einen staatlichen Kreationsakt geschaffen, mit Rechtspersönlichkeit und mit ihrem Wirkungskreise ausgestattet werden. Wenn und soweit die Berufsstände, sei es durch ein Berufsständehaus oder anderweitig an der zentralen Staatswillensbildung beteiligt werden sollen, muß zumindest hiezu auch der Weg der Verfassungsgesetzgebung beschritten werden. Die ganze, fast zweitausendjährige katholische Staatsphilosophie läßt nun daran keinen Zweifel, daß jede Verfassungserneuerung, wenn irgend möglich auf dem Boden der bisherigen Verfassung vor sich gehen, also die Rechtskontinuität wahren soll; die vereinzelten Zeugen einer gegenteiligen Auffassung, nämlich die kirchlichen Vertreter des spezifisch ständestaatlichen "Widerstandsrechtes gegen die Staatsgewalt" fallen wohl für eine autoritäre Staatsauffassung nicht ins Gewicht. Es verdient auch festgehalten zu werden, daß die katholische Politik in Österreich, wenn sie sich vorbehaltlos und einmütig zur Zeit des Umsturzes im Jahre 1918 dem Neubau einer deutschösterreichischen Republik zur Verfügung gestellt hat, dieser zutiefst in der katholischen Staatsauffassung verankerten Tradition keinesfalls untreu geworden ist. Denn mit dem Zerfall der österreichischen Monarchie waren die tatsächlichen Voraussetzungen für eine streng verfassungsmäßige Staatserneuerung hinfällig geworden. Es braucht kaum noch vermerkt zu werden, wie sehr es die revolutionäre Selbstenthauptung der Sozialdemokratie erleichtert hat, der Forderung rechtlicher Kontinuität wenigstens nahe zu kommen und dadurch für die Verwirklichung der politischen Ideen der Kirche eine Form zu finden, die gleich dem Gegenstand des bevorstehenden Staatsaktes der Ideologie der Kirche entspricht. Dem in Rechtsfragen weniger Bedenklichen und in der kirchlichen Staatsphilosophie Unbewanderten mag die Form der kommen-

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den politischen Entscheidung neben deren Inhalt nebensächlich erscheinen - für das Urteil der Geschichte wird aber der Weg einer solchen säkularen Lösung des Staatsproblems Österreichs nicht gleichgültig sein.

9 A.}. Merkl

Geschichtlicher und autoritärer Ständestaat Das Programm einer Ständestaatsverfassung für Österreich kann sich nicht bloß auf die Empfehlung der Enzyklika "Quadragesimo anno", 1 sondern auch auf die werbende Kraft einer großen geschichtlichen Vergangenheit stützen. Und in der Tat begegnet uns außer den Richtlinien der Enzyklika auch eine reichliche empirische Erfahrung als Bestimmgrund für die Einrichtung eines modemen Ständestaates. Die werbende Kraft der Forderung nach einer Ständeverfassung müßte geradezu verdoppelt werden, wenn die Erfüllung des päpstlichen Willens zugleich die Erweckung einer großen heimischen Tradition bedeutet. Indes kann bei einem Vergleiche der idealen Forderungen der päpstlichen Enzyklika und der als Ständestaat überlieferten geschichtlichen Wirklichkeit diese letztere gewiß nicht in demselben Sinne oder wenigstens demselben Maße als Wegweiserin für die neue Staatseinrichtung erkannt und verwendet werden, wie das Programm der päpstlichen Enzyklika, denn die beiden Vergleichsgegenstände decken sich nicht, sondern schließen einander zum Teile aus. Überdies steht der geschichtliche Ständestaat in einem solchen Gegensatz zu einem weiteren, für die Neueinrichtung des Gegenwartsstaates aufgestellten Baugesetz, daß er nur mit Vorsicht und Zurückhaltung, wenn überhaupt, auf die Gegenwart übertragbar ist. Die Stände des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständestaates waren etwas völlig anderes, als was man sich bei der heutigen Diskussion einer Ständeverfassung vorzustellen hat. Sie waren zwar auch soziale Gruppen, aber, schon weil zu ihrer Zeit die soziale Differenzierung in Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft noch kaum eingetreten war, nicht so sehr Berufs- als vielmehr Klassenverbände, und infolge ihrer strengen Abschich-

Wiener Neueste Nachrichten vom 20. März 1934, S. 1-2. I Siehe den Aufsatz "Enzyklika Quadragesimo anno und Verfassungsfrage" vom selben Verfasser in Nr. 3038 der "Wiener Neueste Nachrichten" vom 14. März.

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tung geradezu, zum Teile wenigstens, soziale Kasten. Die rechtliche Zusammenfassung der Klassengenossen in Gemeinschaften, die der gemeinsamen politischen Aktion dienten, hat des weiteren eher der Vertiefung als der Überbrückung der sozialen Gegensätze gedient. Dabei erfaßte aber diese ständische Organisation bei weitem nicht das Gesamtvolk, insbesondere nicht alle Werktätigen, sondern nur die politisch berechtigten, nämlich durch die Reichs- oder Landstandschaft ausgezeichneten Kreise der Staatsnation und ließ somit zahlreiche Werktätige ständisch unorganisiert. Als Instrument der Staatswillensbildung ergaben sonach diese historischen Stände eine Oligarchie, die sich kaum schon durch die Einbeziehung der Städte, sondern bestenfalls durch die vereinzelte Einbeziehung der Bauernschaft in der Richtung einer Demokratie ausweitete. Eine Wiedererweckung der mittelalterlichen Stände würde demnach, wie schon ihre knappste schematische Charakterisierung zeigt, keinesfalls der Idee der Enzyklika entsprechen, sondern von dieser abführen. Ein bekannter Interpretator der päpstlichen Enzyklika, der Jesuitenpater O. Nell-Breuning, sieht sich sogar zu einer Warnung genötigt, den Plan der Enzyklika durch die Heraufbeschwörung des "Schreckbildes" jener ständischen Ordnung zu gefährden, "die fast nur in ihrer überlebten und zuletzt völlig entarteten Form als ungerechtfertigte und durch nichts entgoltene Bevorrechtung einzelner Gruppen gegenüber den anderen in der Erinnerung der heutigen Menschheit fortlebt" ("Die soziale Enzyklika", Seite 154). Wenn diese Kritik der geschichtlichen Rolle der Stände des vergangenen Ständestaates auch nicht ganz gerecht wird, so ist an ihr gewiß soviel richtig, daß die mittelalterlichen Stände einerseits wegen ihrer Organisation, anderseits wegen ihres Wirkungskreises nicht als Vorbild für die Einrichtung der modemen Berufsstände dienen können. Immerhin zeigt der geschichtliche deutsche Ständestaat zweierlei: die Möglichkeit der Einsetzung ständischer Gruppen für die Staatswillensbildung und die Notwendigkeit, bei ehrlicher Verwirklichung des ständischen Gedankens, wenn der Kreis der Standesangehörigen einen gewissen Umkreis überschreitet, sich der Wahl und für die Willensäußerung der einzelnen Ständeversammlungen der Abstimmung zu bedienen. Wahl und Abstimmung waren schlechterdings Selbstverständlichkeiten der Ständestaatsverfassung, und konnten zu ihrer Zeit um so weniger problematisch sein, weil diese Formen der Organbestellung und Willensbildung bis ins deutsche

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Altertum zurückreichen. Der mittelalterliche Ständestaat wird so zum überzeugenden Beweis, daß Wahl und Abstimmung nicht eine Erfindung der Neuzeit oder gar eine Schöpfung der revolutionären Demokratie sind, sondern daß sich die modernen Demokratien dieses alte, sozusagen auf der Straße liegende Rechtsgut angeeignet haben. Es sei nur beispielsweise erwähnt, daß eine herzogliche Verordnung vom Jahre 1396 paradoxerweise die jährliche Wahl des Wiener Bürgermeisters und Rates durch die ganze Gemeinde vorschrieb, ja daß die Form der Abstimmung in deutschen Landen auf das altgermanische Volksgericht zurückreicht, wie ja auch bekannt ist, daß sich die christliche Kirche von ihren Uranfangen an der Abstimmung zur Willensbildung ihrer verschiedentlichen Kollegialorgane bediente. Es kann nun allerdings diese Eigentümlichkeit der Ständestaatsverfassung an sich kein Hindernis ihrer Nachahmung sein, weil in diesem Punkt auch die Enzyklika "Quadragesimo anno" zu keiner abweichenden Lösung führt. Doch eine weitere, nicht schon durch die Enzyklika "Quadragesimo anno" bedingte Eigentümlichkeit des geschichtlichen Ständestaates läßt ihn als Vorbild für einen künftigen Ständestaat wenig geeignet erscheinen. Hat doch die Art und Weise der Einfügung der Stände in den Prozeß der Staatswillensbildung den Staat zumindest zur Zeit des Höhepunktes ständischer Macht geradezu in zwei rivalisierende Autoritäten aufgespalten, die in ihrem Antagonismus die ganze Schwäche, ja geradezu den ganzen Jammer der deutschen Staatsgeschichte begründet haben. Wie ist mit einer zielsicheren Staatsführung vereinbar, wenn noch nach dem Dreißigjährigen Kriege von einer unbestrittenen Geltung des Grundsatzes der Verpflichtung der Abwesenden durch die Beschlüsse der Anwesenden, namentlich gegenüber mächtigen Landständen nicht gesprochen werden kann? Kaum findet man auch bei einem modemen Parlament so wenig Verständnis für Staatsnotwendigkeiten, wie etwa bei jenen deutschen Ständen, welche Klage führen, daß "wegen der Türkengefahr ohne Not und merklichen Nutzen das arme Land vom Landesherrn so unverschuldeterweise hingerichtet" werde, und wenn andere deutsche Stände fragen, ob sie sich für Zwecke des Reiches "bis aufs Blut aussaugen lassen sollen, da sie das römische Reich doch nicht das geringste angehe"? Und selbst im Urteil so hervorragender Kenner und wohlwollender Kritiker des Ständestaates, wie es namentlich Otto v. Below ist, begegnet uns ein Bild dieses Ständestaates, das es nicht unbegreiflich erscheinen läßt, daß die Vertreter des Autoritätsgedankens in der Niederrin-

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gung der Stände den einzigen Weg zur Aufrichtung einer landesfürstlichen Autorität - die Reichsautorität kam überhaupt kaum in Frage - erblickt haben? Der polizei staatliche Absolutismus hat - gestützt auf eine universalistische politische Ideologie - die geschichtliche Aufgabe der Errichtung einer straffen Staatsautorität durch die Entmachtung der politischen Stände erfüllt. Die tiefste Kluft zwischen dem geschichtlichen Ständestaat und den heutigen Ständestaatsplänen und die gedankliche Unmöglichkeit, die durch die jahrhundertlange Herrschaft des Absolutismus und Liberalismus verschüttete Tradition des geschichtlichen Ständestaates wieder zu erwecken und zum Neubau eines Ständestaates zu verwerten, ist aber begründet durch das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt, das nicht etwa bloße Ideologie, sondern zwischen den Fürsten und den Ständen vereinbarte Institution des Ständestaates gewesen ist! Dieses Widerstandsrecht ist zwar durch die germanische Rechtsvorstellung, daß über dem König noch die höhere Autorität des Rechtes stehe, und daß das Volk durch den Widerstand gegen den rechtsbeugenden König einer diesem übergeordneten rechtlich-sittlichen Autorität gehorche, geadelt, und poetisch - etwa in Wagners Siegfried und in Schillers Rütliszene - idealisiert, aber dadurch mitnichten zu einem brauchbaren Baustein eines Staatsgebäudes gemacht. Selbst der liberale Staat hat dem Staatsbürger im reichen Bündel der staatsbürgerlichen Freiheiten nicht mehr ein Recht des Widerstandes gegen die rechtswidrig handelnde Obrigkeit gewährt, sondern als Ersatz für diese staatsgefährliche Institution Rechtsgarantien gegen rechtswidriges Handeln der Staatsorgane geboten. Und während sich in der staatsphilosophischen Literatur des Ständestaates eine Reihe kirchlicher Schriftsteller selbst zu einem über die positivrechtliche Anerkennung von Widerstandsmitteln hinausgehenden, insoweit naturrechtlichen Widerstandsrecht bekannten, und namentlich der spanische Jesuit Mariana sich zur Behauptung eines Rechtes auf Tyrannenmord verstieg, ist der Standpunkt der Kirche nunmehr in der Enzyklika "Quod apostolici muneris" (1878) - übrigens völlig im Sinne ihrer ethischen Prinzipien - dahin fixiert, daß gegen willkürliche ungebührliche Ausübung der Staatsrnacht "durch die Verdienste der christlichen Geduld und inständiges Gebet zum Herrn" Abhilfe zu suchen sei. So ist es durchaus erklärlich, daß gegen die möglichen und, wie gezeigt, wirklich gewordenen Überspannungen des ständischen Gedankens bewußt

Geschichtlicher und autoritärer Ständestaat

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oder unbewußt im sogenannten Autoritätsprinzip ein Gegengewicht gesucht wird, daß die kommende Verfassung zugleich ständisch und autoritär sein soll. "Autoritär" in der jüngstens gangbar gewordenen Bedeutung will offenbar besagen, daß dem in Ständen organisierten und sich selbst verwaltenden Volk eine starke, nicht ausschließlich auf dem Volkswillen basierte, sondern ihm auch heteronom gegenübertretende Staatsgewalt gegenüberstehen soll, die ja selbstverständlich ihre moralische Legitimation auch nur dank der Autorität im ursprünglichen Wortsinn, d.h. als geistige, durch ihre überzeugende Kraft wirksame Macht gewinnt. Ein Staat, der nicht bloß ständisch, sondern autoritär sein soll, unternimmt es, zwei durchaus nicht identische, sondern möglicherweise sogar einander widersprechende Baugesetze in seiner Organisation zu vereinigen. Ein bloß ständisch organisierter Staat kann zwar nicht rein absolutistisch regiert sein, denn wirklicher Absolutismus schließt die Mitregierung des wie immer, sei es durch Ständevertretungen oder Parlamente repräsentierten Volkes und schließt darüber hinaus selbst die Konkurrenz durch ständische Selbstverwaltungskörper aus. Dagegen würde ein bis zur Staatsspitze ständisch aufgebauter Staat, wenn die ständischen Verbände alle Werktätigen umfassen, soziologisch einer Demokratie durchaus nahekommen, und die meisten Demokratien an dezentralisierender Auflockerung des Staatsgefüges sogar übertreffen, sich also von dem hergebrachten west- und nordeuropäischen sowie amerikanischen Staatstypus nur juristisch durch den Wechsel der Repräsentationstechnik - Ständevertretung statt Volksvertretung - unterscheiden. In einem reinen Autoritätsstaat dagegen wäre nicht einmal für ständische Körperschaften im Sinne der "Quadragesimo anno" Raum. Also läuft das Programm einer ständischen und autoritären Verfassung auf eine sogenannte gemischte Staatsjorm, nämlich aus Elementen der Fremdbestimmung und Selbstbestimmung gemischte Staatsform hinaus. Eine dieser Art gemischte Staatsform war bekanntlich auch die österreichische Monarchie, ohne daß freilich eine Mischung der fraglichen heterogenen Baugesetze notwendig an die monarchische Regierungsjorm gebunden wäre. Wenn sich die künftige Verfassung Österreichs außer den Leitsätzen der "Quadragesimo anno" die für ein bewußtes Österreicherturn nächstliegenden erprobten Rechtseinrichtungen der österreichischen Monarchie, die wir übrigens auch im kaiserlichen Deutschland antreffen, zum Vorbild nähme, so wäre ein Mittelweg zwischen den Diktaturen und Demokratien der Gegenwart beschritten, der vielleicht am ehesten für die starken inneren Gegensätze befriedend wirken könnte. Gleichwohl bleibt das Verfassungswerk in Anbetracht der Festle-

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gung auf die Richtlinien der "Quadragesimo anno" und deren großes Ziel, den Kapitalismus zu überwinden und dadurch den Irrweg des Marxismus überflüssig zu machen, vergleichslos in der ganzen Weltgeschichte. Und wenn man bedenkt, daß die Verfassungsarbeiten der Jahre 1918 bis 1920, die sich an so vielen geschichtlichen und gegenwärtigen Beispielen, namentlieh den naheliegenden Vorbildern des Deutschen Reiches und der Schweiz, orientieren konnten, und nicht nur unter Mitwirkung des denkbar größten Kreises von Fachleuten, sondern auch unter der mehr minder sachverständigen Kontrolle der großen Öffentlichkeit zustande kamen, auf die Dauer nicht befriedigen konnten, dann würdigt man wohl auch die geschichtliche Verantwortung der Persönlichkeiten, die ein solches vergleichsloses Werk auf sich genommen haben.

Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika "Quadragesimo anno" 1 Von der Folie des umfassenden Planes einer Sozialreform in der Enzyklika "Quadragesimo anno,,2 hebt sich der Entwurf einer teil weisen Staatsreform ab. Die Sozialreform, der die Enzyklika den Weg weist, zielt bekanntlich auf nichts Geringeres als die Wiederaufrichtung der Gesellschaftsordnung ab, einer Gesellschaftsordnung, in der der Kapitalismus mit dem ihm nach den Worten der Enzyklika - eigentümlichen Klassenkampf überwunden sein wird. Als die gleicherweise erforderlichen Mittel zur Wiederaufrichtung der Gesellschaftsordnung stellt die Enzyklika eine Zuständereform und Sittenbesserung hin. Nur als eines der Mittel der Sozialreform kommen nach der Enzyklika politische Mittel und staatliches Handeln in Frage und nur einer ihrer Gegenstände, wenngleich der primäre, ist der Staat und damit das vom Staat unzertrennliche weltlich-positive Recht. Es ist zutiefst in der christlichen Sozialphilosophie im allgemeinen und in der christlichen Staatsphilosophie im besonderen begründet, daß sich eine Sozialreform nicht in einer Staatsreform erschöpfen kann, weil der Staat nicht die Summe der Gemeinschaften, nicht die Gemeinschaft der Gemeinschaften, sondern nur eine zwar notwendige und sittlich-religiös gerechtfertigte, aber nicht die höchste in der Hierarchie menschlicher Gemeinschaften ist. Und es ist ebenso in der christlichen Sozial- und Staatsphilosophie begründet, daß der Staat nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel für ihm transzendente Zwecke, freilich nicht"": im Sinne des Individualismus - Mittel für das zum Zwecke-

Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 14 (1934), S. 208-239. Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 1, S. 381-415. 1 Das Manuskript wurde Mitte November 1933 von der Schriftleitung angenommen (Anmerkung des Verfassers). 2 Die Enzyklika wird im folgenden zitiert nach: Die sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius XI., herausgegeben im Rahmen der Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, III. Heft, 2. Aufl., Paderbom 1933.

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zentrum erhobene Individuum, sondern Mittel eines metaphysischen Zweckezentrums ist. Als eines der Mittel zur Erfüllung des menschlichen Daseinszweckes kann der Staat im Sinn der christlichen Staatsphilosophie weder den ganzen Menschen für seine Zwecke in Anspruch nehmen noch auch im entferntesten die irdischen, geschweige denn die metaphysischen Aufgaben des Menschen allein und ganz erfüllen. Nicht aus anthropozentrischem Individualismus, sondern aus metaphysisch eingestelltem Universalismus lehnt die christliche Staatsphilosophie in unbeirrbarer Folgerichtigkeit den Totalitätsanspruch des Staates und jedes politischen Systems, das den Staat zum Gipfelpunkt in seiner Wertordnung erhebt, ab und gibt ihm gemäß der christlichen Wertordnung nur als einem Mittel, dem sozusagen politischen Mittel für außerstaatliche Zwecke Raum. So kann auch die Staatsreform der Enzyklika nur einen Teil des Programms der SozialreJorm darstellen. Es konnte nicht Aufgabe der Enzyklika sein, ihre Forderungen der Staatsreform aus dem gesamten Postulatenkomplex auszusondern; dies ist vielmehr Aufgabe ihrer staatswissenschaftlichen Analyse. Und diese Aufgabe ist um so dringender, als sich die Politik des an sich rein ethisch orientierten Programms bemächtigt hat. Diese Feststellung soll an sich keine Kritik an jener Tatsache aussprechen, denn Forderungen an den Staat, wie sie eben unter anderem auch die Enzyklika aufstellt, müssen von seiten der Politik Beachtung finden, um Erfüllung zu finden. Nur bringt dieser Eintritt eines über die Tagespolitik erhabenen Programms in das Bereich eben dieser Tagespolitik die Gefahr mit sich, daß das Programm mehr oder weniger verkannt und verschoben und daß es Zwecken dienstbar gemacht wird, die ihm selbst nicht eigen sind. Es ist nicht Aufgabe der Politik zu bestimmen, was sich die Enzyklika vom Staat erwartet, denn es ist nicht ihre Art, dieses der Erkenntnis aufgegebene Problem sine ira et studio zu lösen. Die Forderungen der Enzyklika in bezug auf die Zuständereform und damit auch an den Staat ergeben sich aus einer zutiefst schürfenden und nichts verschleiernden, fast unglaubhaft realistisch klingenden Schilderung der sozialen Lage, die der Kapitalismus gezeitigt habe. Die Enzyklika führt uns ein Bild der Auflösung einer schon verwirklichten sozialen Ordnung vor, ehe sie die Mittel aufzeigt, die das atomistische Chaos in christlichem Geist zu einem harmonischen Kosmos rückverwandeln sollen. Das menschliche Gesellschaftsleben, das ehedem in eine Fülle verschiedenartiger Gemeinschaftungen entfaltet gewesen sei, sei in einer Weise erschlagen und nahezu getötet worden, 'bis schließlich fast nur noch die Menschen und der

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Staat übriggeblieben seien. Die Enzyklika deutet diesen Gesellschaftszustand als Ergebnis einer Entwicklung, die zwangsläufig der Individualismus gezeitigt habe. Der geschichtlichen Betrachtung enthüllt sich allerdings neben dieser individualistischen eine ihr teleologisch unfreiwillig verbundene universalistische oder quasi-universalistische Ursache für die Aushöhlung und Aufzehrung des formenreichen Gemeinschaftslebens einer früheren Zeit: der politische Individualismus, nämlich der Liberalismus, hat zwar die Staatsunmittelbarkeit des Individuums und als deren Voraussetzung die Auflösung der bunten innerstaatlichen Bindungen des Individuums, die auf personeller Grundlage beruhten, gefordert, der seinem Anspruch und seiner Begründung nach konservative Absolutismus hat jedoch gewissermaßen als unfreiwilliger und unbewußter Wegbereiter des Liberalismus diese destruktive Arbeit geleistet, freilich nicht, um das Individuum aus den Bindungen dieses zwischen ihm und der Zentralgewalt vermittelnden politischen Zwischenreiches zu lösen, sondern um die Zentralgewalt durch die Beseitigung des Gegengewichtes dieses politischen Zwischenreiches zu stärken und ihren Wirkungskreis durch die Einbeziehung der Aufgaben aller unterstaatlichen politischen Gebilde zu vermehren. Die Feststellung, die die Enzyklika nicht von einer bestimmten politischen Form des Staates, sondern schlechthin vom omnipotenten Staat macht, "der Staat, der sich mit all den Aufgaben belud, welche die von ihm verdrängten Vergemeinschaftungen nun nicht mehr zu leisten vermochten, wurde unter einem Übermaß von Obliegenheiten und Verpflichtungen zugedeckt und erdrückt", 3 trifft gewiß eher vom konservativ-absolutistischen als vom liberal-individualistischen Staat zu, den ein sonst gewiß sachkundiger Interpret4 des Sozialreformplans der Enzyklika als den ideellen Gegenpol des kirchlichen Staatsideals zeichnet. Die konservative Kritik des Liberalismus hat bisher stets von der Staatsskepsis oder dem Staatsnihilismus des Liberalismus gesprochen, und zwar gewiß mit mehr Recht, als wenn der genannte Interpret der Enzyklika deren Forderung nach Selbstbeschränkung des Staates der "liberalen Staatsvergottung" entgegenstellt. An der zitierten Stelle nimmt die Enzyklika späteren Ausführungen präludierend - mit ihrer Polemik gegen die Expansion des Staates den Standpunkt eines limitierenden Staatszweckes und damit in bezug auf das staatsphilosophische Kardinalproblem des Staats3 A.a.O., S. 113. 4

Weichs, Der Weg zum Ständestaat, 1933.

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zweckes einen Standpunkt ein, den gerade auch der individualistische Liberalismus gegen die vom absolutistischen Konservativismus vertretene Auffassung eines in seinen Mitteln und Zwecken schrankenlosen Staates eingenommen hatte. Und diese, allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, nicht wesenhafte, sondern nur inhaltliche Übereinstimmung zwischen kirchlicher und individualistischer Staatsauffassung steigert sich noch durch die Vorzeichnung der Reihenfolge oder Rangordnung der sozialen Kreise, in denen die gesellschaftlichen Zwecke Erfüllung zu finden haben. "Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen und aufsaugen. ,,5 In diesem sogenannten sozialphilosophischen Grundsatz der Subsidiarität des jeweils weiteren Kreises der Gemeinschaften und der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum kommt gemäß der christlichen Forderung sittlicher Selbstverantwortlichkeit des Individuums der Handlungsprimat des Individuums vor dem Kollektivum und der Handlungsprimat des engeren Kreises des Kollektivums vor dem weiteren Kreis zum Ausdruck. Den Primat des Individuums vor dem politischen Kollektivum hat aber auch der Liberalismus verkündet, freilich ganz anders begründet. Und so offenbart sich in der inhaltlichen Übereinstimmung, die die christliche Staatsauffassung dem politischen Individualismus viel näherstehend erscheinen läßt als dessen Gegenteil, doch auch zugleich ein tiefer ideologischer Gegensatz. Die Beschränkung des Staates wird von der christlichen Staatsphilosophie nicht um der Unbeschränktheit und Selbstherrlichkeit des Individuums 5 A.a.O. (FN 2), S. 113.

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willen gefordert, sondern einerseits, um innerstaatlichen, das Individuum gleichfalls beschränkenden Gemeinschaften und andererseits, um der Selbstbetätigung des Indivdiuums als Pflichtsubjekt im Rahmen einer anderen, höheren Pflichtenordnung Raum zu geben. Die zur Entlastung des Staates geforderten engeren Gemeinschaften, die die individualistische Atomisierung der Gesellschaft im Sinn ihrer Vergenossenschaftung rückbilden sollen, sind nun aber nicht Selbstzweck - ebensowenig wie der Staat -, sondern Mittel für einen, und zwar für die Bewertung der Gesellschaftsordnung schlechthin entscheidenden Zweck: die Gesellschaft aus der Auseinandersetzung zwischen den Klassen zur einträchtigen Zusammenarbeit der Stände emporzuführen. Mit diesem Abschnitt, der sich "ordinum mutua conspiratio", berufsständische Ordnung, betitelt, geht die Enzyklika vom staatsphilosophischen Raisonnement zur Vorzeichnung staatsrechtlicher Richtlinien über. Unter diesem Titel findet sich denn auch der Kern - nicht die Summe - der staatspolitischen Forderungen des päpstlichen Rundschreibens. . Die heutige - kapitalistische - Gesellschaft sei "geradezu aufgebaut auf der Gegensätzlichkeit der Interessenlage der Klassen, und damit auf dem Gegensatz der Klassen selbst, der allzu leicht in feindseligen Streit ausartet".6 Obwohl die Arbeit keine feile Ware, vielmehr in ihr immer die Menschenwürde des Arbeiters zu achten sei, lasse bei der heutigen - gewissermaßen naturnotwendig durch den Kapitalismus gegebenen - "Sachlage Nachfrage und Angebot der Arbeitskraft die Menschen auf dem Arbeitsmarkt zwei Klassen, sozusagen zwei Kampffronten bilden. Die Auseinandersetzung dieser Arbeitsmarktparteien aber macht den Arbeitsmarkt zum Kampffeld, auf dem die beiden Parteien in heißem Streite miteinander ringen"? Diese Begründung des ständischen Programms gibt, wie der Motivenbericht eines Gesetzesvorschlags, wertvolle Anhaltspunkte zur Auslegung der nur andeutenden Bestimmungen über den Wirkungskreis und das Verfahren der berufsständischen Körperschaften.

6 A.a.O. (FN 2), S. 115.

7 A.a.O. (FN 2), S. 115.

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Zur Lösung des damit aufgegebenen sozialen Problems - nämlich zur Überwindung des Klassengegensatzes - weist nun die Enzyklika den bekannten Weg, daß "wohl gefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus sich bilden, also Stände, denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört".8

*** Das erste staatsrechtliche Problem, das mit dem soeben zitierten Programm aufgegeben ist, ist das des Entstehungsweges der Stände. Die Aufgabe ist, um mit den Worten der Enzyklika zu sprechen, "socialis corporis membra bene instrueta constitui". Damit ist sowohl ein sozusagen organisches Wachstum dieser als Stände bezeichneten Glieder des Gesellschaftsorganismus als auch ein interventionistischer Gründungsakt des Staates in den Bereich der Möglichkeit gestellt, aber auch ein Kreationsweg, auf dem sich beide genannten Komponenten begegnen. Sicherlich ist ein möglichst großes Maß spontaner gesellschaftlicher Vorarbeit für das Inslebentreten der Stände erwünscht, da sozusagen aus dem Nichts durch staatliches Gesetz erschaffene Verbände schwerlich die Lebenskraft und Leistungsfähigkeit aufbringen werden, um die ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen. Die noch zu besprechende Rechtsnatur der Berufsstände im Sinn der Enzyklika macht aber doch auch einen wenigstens formalen Gründungsakt des Staates unvermeidlich. Die Rechtspersönlichkeit kann der noch so aktive gesellschaftliche Verband nur durch staatliche Verleihung erlangen. Es ist aber zumindest auch denkbar, daß das staatliche Gesetz rein rational Organisation und Funktionsordnung sogenannter "Stände" vorzeichnet, ohne daß zunächst eine Gemeinschaftsform dieser Rechtsform entsprechen würde, und daß dieses staatliche Gesetz zur Ursache einer ihm entsprechenden sozialen Erscheinung wird. Auch alle anderen sogenannten Verbandspersonen gehören sozusagen zwei Betrachtungssphären an: eine rechtliche Ordnung, in der sich für die juristische Betrachtung das fragliche Gebilde erschöpft, bedingt ein bestimmtes soziales Geschehen, und ein bestimmtes soziales Geschehen, das sich soziologisch als Gemeinschaft präsentiert, bedingt eine bestimmte rechtliche Ordnung. 8 A.a.O. (FN 2), S. 115.

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Die Frage des Entstehungsweges der Stände präjudiziert noch nicht der Frage, ob sie dem Funktionsgesetze der Autonomie oder der Heteronomie unterstellt sein sollen, d.h. ob sie, durch den unter allen Umständen erforderlichen Akt staatlicher Schöpfung oder Anerkennung existent geworden, noch weiteren staatlichen Einflüssen unterliegen oder völliger Selbstbestimmung teilhaftig sein sollen. Es wäre immerhin denkbar, daß sich der Staat auf die Verleihung des Charakters als Berufsstand beschränkt und dem damit rechtlich existent gewordenen Berufsstand bereits anheimstellt, Organisation und Wirkungskreis im Rahmen der von der Enzyklika vorgezeichneten Richtlinien selbst zu bestimmen. Doch würde ein solches Maß an staatlicher Selbstentäußerung den Intentionen des päpstlichen Rundschreibens kaum entsprechen; denn dieses schreibt überhaupt dem Staat die Aufgabe der Leitung, Überwachung, des Nachdruckes und der Zügelung "je nach Umständen und Erfordernis" zu, ohne zu erkennen zu geben, daß diese regulierende und kontrollierende Rolle des Staates vor irgend einem Menschen und irgend einer Gemeinschaft, im besonderen vor den Berufsständen halt zu machen habe. Auch sie sind dem Staat eingegliedert und nicht gewissermaßen exterritorial. Auch für sie darf er daher Organisationsnormen aufstellen, die freilich dem Organisationsplan der Enzyklika zu entsprechen hätten. Ja, man darf sogar den Worten der Enzyklika die Forderung subintelligieren, daß die für die Staatswillensbildung verantwortlichen Staatsmänner eine solche Organisationsordnung Gesetz werden lassen, weil niemals das Prinzip der Freiwilligkeit, sondern nur staatliche Intervention eine lückenlose Organisation der Gesellschaft in den von der Enzyklika angestrebten Berufsständen gewährleisten wird. Die somit vom Staat zu prästierende "berufsständische Verfassung", die sich etwa "Gesetz über die Organisation und den Wirkungskreis der Berufsstände" oder auch schlechthin "berufsständische Verfassung" nennen mag, hat jedenfalls die Richtlinien, die in der Enzyklika für die Einrichtung der Berufsstände vorgezeichnet oder ihr wenigstens interpretativ zu entnehmen sind, zu rezipieren und den Berufsständen als zwingende Normativbestimmungen vorzuschreiben. Damit ist aber gewissermaßen nur das Minimum an allgemeingültigem Organisationsrecht der Berufsstände umschrieben. Die Spärlichkeit der kirchlichen Richtlinien, die noch im folgenden offenbar werden wird und die sich geradezu aus der Absicht erklären läßt, der Anpassung der berufs ständi schen Verfassung an die Bedürfnisse von Ort und Zeit Raum zu geben, rechtfertigt es aber wohl und läßt es mit der Enzyklika vereinbar erscheinen, wenn die staatliche Organisationsordnung für die Berufsstände um vieles detaillierter

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ist als ihr ganz schematischer Grundriß in der Enzyklika. In diesem nicht mehr durch den kirchlichen Organisationsplan gebundenen Bereich ist die berufsständische Verfassung bloß der allgemeinen Direktive unterworfen, "eine Form nach ihrem Gefallen zu wählen, wenn nur der Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohles Genüge geschieht", und es findet sich wiederum kein Anhaltspunkt, daß die Wahl dieser Form innerhalb der angegebenen Schranken dem Staat verwehrt und dem einzelnen Berufsstand vorbehalten bleiben müsse. Man darf das Vorrecht des engeren Verbandes auf Leistung gesellschaftlicher Funktionen nicht im Sinn eines Vorrechtes mißverstehen, selbst das Maß des eigenen Handeins zu bestimmen. Die letzte Konsequenz einer solchen Deutung wäre die Anerkennung der Autoritätslosigkeit und Anarchie, die man der Enzyklika gewiß nicht imputieren kann. Ihr Sinn ist Selbstbeschränkung des weiteren Verbandes, an höchster Stelle des Staates, freiwilliger Verzicht des Staates auf eigenes Handeln, auf Ausschöpfung seiner Macht. Die berufsständische Autonomie muß demnach durchaus nicht darin bestehen, daß sich die Berufsstände selbst ihre Verfassung geben, sie ist vielmehr hinlänglich dadurch gewahrt, daß sie innerhalb und auf Grund der heteronom, nämlich staatlicherseits gesetzten Verfassung die ihnen in der Enzyklika zugedachten berufsständischen Aufgaben selbständig erfüllen dürfen. Darüber hinaus kann den Berufsständen sogar, aber nicht notwendigerweise, die Kompetenz erteilt werden, die Rahmenbestimmungen der staatlicherseits vorgezeichneten berufsständischen Verfassung näher auszuführen und so die Lebensordnung des einzelnen Berufsstandes je nach dessen besonderen Erfordernissen und Wünschen besonders zu gestalten. Dadurch würde sich die Möglichkeit ergeben, die berufsständische Ordnung selbst und nicht erst die auf Grund dieser Ordnung ergehenden berufsständischen Satzungen inhaltlich zu variieren. Ein Vorbild für die vorstehend angedeuteten Problemlösungen kann die staatliche Organisation der Selbstverwaltung hinauf bis zu den Staatsfragmenten und Gliedstaaten eines zusammengesetzten Staates sein, mit denen, wie noch zu zeigen sein wird, die berufsständischen Körperschaften viel gemeinsam haben werden. Auch diese Körperschaften verdanken unbeschadet ihrer Autonomie ihren rechtlichen Bestand und ihre Verfassung der zentralen staatlichen Autorität. Jede innerstaatliche Körperschaft beruht auf einer Delegation einer zentralen staatlichen Rechtsordnung und setzt somit

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die Kompetenzhoheit einer zentralen und unbeschadet überstaatlicher Autoritäten souveränen staatlichen Autorität voraus.

*** Die staatsrechtlichen Hauptprobleme der Enzyklika sind die Organisation und der Wirkungskreis der Berufsstände. Die Enzyklika bezeichnet die Berufsstände selbst wahlweise als "berufsständische Kollegien oder Körperschaften". Zugleich deutet sie diese Gebilde als "Glieder des Gesellschaftsorganismus". Während diese Deutung im Sinne der Organismustheorie juristisch irrelevant ist, nämlich über die Rechtsnatur der Berufsstände nichts aussagt, wird durch den Gebrauch des rechtlichen Fachausdruckes "collegia seu corpora" das rechtliche Wesen der "ordines" maßgeblich bestimmt. Allerdings ist diese Bestimmung zumindest an dieser Stelle nicht ganz eindeutig, denn "collegia" und "corpora" bezeichnen bekanntlich im juristischen Sprachgebrauch zwei verschiedene Organisationstypen. Das "Kollegium" ist ein zusammengesetzes Organ, das durch die Technik der Willensbildung, Beratung und Beschlußfassung gleichberechtigter Mitglieder gekennzeichnet ist, "Körperschaft" dagegen bezeichnet eine Personengemeinschaft, der Rechtspersönlichkeit zukommt. 9 Das Kollegium ist ein in charakteristischer Weise zusammengesetztes und der Rechtspersönlichkeit ermangelndes Organ, die Körperschaft dagegen eine Rechtspersönlichkeit, die selbst wiederum eine Vielzahl zusammengesetzter Organe, insbesondere auch Kollegien aufweisen kann. Die weiteren Organisationsvorschriften sprechen allerdings mehr für die körperschaftliche Organisation der Berufsstände, ohne indes ihre unpersönliche kollegiale Natur schlechterdings auszuschließen, es wäre denn, daß das Rundschreiben die im juristischen Sprachgebrauch differenzierten Fachausdrücke "collegia seu corpora" synonym gebraucht. Die Tatsache nämlich, daß jeder einzelne Berufsstand mindestens ein repräsentatives Kollegium und außerdem einen mehr oder minder komplizierten Organapparat, insbesondere auch eine berufsständische Bürokratie zu bestellen haben wird, außerdem aber auch die Analogie der Berufsstände zu den territorialen Verbänden, wie zu den von der Enzyklika ausdrücklich ver-

9 Vgl. hierzu mein Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 327 ff. IOA.1. Merld

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gleichsweise angeführten Gemeinden, legt es nahe, den berufsständischen Organkreis körperschaftlich zusammenzufassen und dieserart von den anderen rechtlichen Gemeinschaften durch eine scharfe Zäsur abzugrenzen. Nicht zuletzt deutet die erklärte Zweckbestimmung der Enzyklika, den Staat durch die Neueinführung gesellschaftlicher Zwischenformen von der Art der Berufsstände funktionell zu entlasten, auf die Absicht hin, die Errichtung berufsständischer Körperschaften unvermeidlich zu machen, denn sonst wären sie ja nichts als ein neuer Typus von Staatsorganen und würde ihre Einführung organisationsrechtlich gesehen nichts anderes bedeuten als eine Verschiebung staatlicher Kompetenzen innerhalb des staatlichen Organapparates. Im Fall der Organisation der Berufsstände als Körperschaften wären sie eine Art Selbstverwaltungskörper, deren Organisationsprinzip personeller Natur ist. Denn wie die anderen Selbstverwaltungskörper müssen auch sie dank ihrem noch zu beschreibenden Wirkungskreis am staatlichen Imperium Anteil haben, anders ausgedrückt: über obrigkeitliche Agenden verfügen. Ihre Eigenschaft als Körperschaften und im besonderen als Selbstverwaltungskörper bedingt auch eine eigene Finanzwirtschaft, die allein jene Handlungsfreiheit gewährleisten würde, welche der Rolle der Berufsstände entspricht. Die Bedeutung, die das Rundschreiben "Quadragesimo anno" der neuen Organisatonsform der Berufsstände beilegt, läßt nach allem Gesagten für die weiteren Betrachtungen nur ihre Einrichtung als öffentliche Körperschaften diskutabel erscheinen. 10 Die berufsständischen Körperschaften sollen sich aus Personen zusammensetzen, die eine gleichartige gesellschaftliche Funktion versehen. Damit ist das Problem der personellen Abgrenzung der berufsständischen Körperschaften gegeben, jenes Problem, dessen Lösung geradezu für den Erfolg der Sozialreform entscheidend ist. Denn die rechtliche Zusammenfassung Zusammengehöriger, zwischen denen bei allem Interessengegensatz durch die Gemeinsamkeit des Berufes und damit des wichtigsten Lebensinhaltes

10 Daß die Berufsstände trotz einer selbstverwaltungsmäßigen Organisation im weiteren Sinn doch auch als Staatsorgan qualifiziert werden können, wie es die Lehre von der Selbstverwaltung überhaupt versucht hat, darf als theoretische Konstruktion hier außer Betracht bleiben; nur die praktische Konstruktion der Berufsstände als Selbstverwaltungskörper steht in Frage.

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eine, wenn auch nicht eingesehene Interessenübereinstimmung besteht, soll ja die in der atomisierten Staatsordnung einander feindlich gegenüberstehenden Berufsgenossen zu befriedeten Gemeinschaften zusammenfassen, ohne neue Klüfte in der menschlichen Gesellschaft aufzureißen. Welche Menschen sind nun aber durch jene, wenn auch nicht eingesehene Interessengemeinschaft miteinander auf Gedeih und Verderb verbunden, daß es gerechtfertigt ist, sie und nur gerade sie in einem vielfach den atomisierten Staats verband ersetzenden engeren Verband, noch dazu zwangsweise, zusammenzufassen? Es darf wohl schon hier erwähnt werden, daß bei der unendlichen Nuancierung der in der Gesellschaft aktuellen Interessen nur innerhalb eines engeren Kreises von Staats genossen die Einordnung in einen bestimmten Berufsstand durch ihre Berufszugehörigkeit zwingend vorgezeichnet ist und daher die Berufszugehörigkeit unmittelbar im Sinn einer bestimmten Standeszugehörigkeit entscheiden wird, daß jedoch unvermeidlicherweise in einer mehr oder minder großen Zahl von Grenzfällen die Einordnung des Individuums künstlich vorgenommen werden muß und daß sich daher diese Elemente in jedem Berufsstand mehr oder weniger als Fremdlinge fühlen werden. Es ist dies ein persönliches Opfer, das unvermeidlicherweise fast jeder großen kollektiven Idee gebracht werden muß. Die Enzyklika legt nur ein Zuordnungsprinzip mit unüberbietbarer Entschiedenheit fest: nicht die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, also zur Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft, und innerhalb dieser sozialen Gruppen etwa wiederum die Eigenschaft als Großunternehmer oder Kleinunternehmer, als Handarbeiter oder Angestellter, darf für die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand entscheidend sein, sondern einzig und allein die gesellschaftliche Funktion des Einzelnen. Die Berufsstände dürfen also keinesfalls Organisationen von Klassengenossen, sondern nur Organisationen von Berufsgenossen sein. Das ist ja der tiefste Sinn, die politische und soziale Funktion der angestrebten berufsständischen Ordnung: durch die Vereinigung von Klassengegnern, und zwar nur der miteinander unmittelbar rivalisierenden sozialen Gruppen in einem Zwangsverband, durch ihr ständiges Zusammentreten in einem Beratungssaal, an einem Verhandlungstisch, mit der Notwendigkeit des Zusammenseins und der Zusammenarbeit auch außerhalb des Betriebes, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Schicksalsgemeinschaft entstehen zu lassen, eine hochgespannte Erwartung, deren Erfüllung kein Freund der berufsständischen Verfassung durch Fehler in der Organisationstechnik gefährden 10"

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lassen dürfte. Nach dem Plan der Enzyklika soll der rein vertikale Aufbau der gesellschaftlichen Berufsverbände die horizontale Klassenschichtung durchkreuzen und überwinden. Aus diesem Kerngedanken der berufsständischen Reform ergibt sich vor allem die eine, in der Enzyklika schon nicht mehr ausgesprochene Folgerung, daß jede berufsständische Körperschaft Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zwischen denen ihr Beruf gewisse Berührungspunkte schafft, in sich zu vereinigen hat; denn nur eine solche Begegnung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kann ja überhaupt die von der Enzyklika angestrebte pazifizierende Wirkung ausüben. Bei diesem Organisations prinzip ist aber die organisationsrechtliche Stellung jener Berufe problematisch, die nicht den Dualismus von Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft aufweisen, insbesondere also gewisser geistiger Berufe. Es besteht hier die von der Enzyklika nicht gelöste Alternative, sie entweder als ein eigentlich wesensfremdes Anhängsel einem unzweifelhaft als solchen zu konstruierenden Berufsstand anzugliedern oder doch einen besonderen Berufsstand zu schaffen, in dem dann freilich der Ausgleich zwischen der weitaus überragenden Arbeitgeberschaft und den mehr zufälligen und spärlichen Arbeitnehmern seine Schwierigkeiten hat. Während insoweit der Enzyklika wenigstens ein Fingerzeig zu entnehmen ist, sind andere Organisationsfragen, vermutlich voll bewußt, offengeblieben. Der Grund dieses Schweigens findet sich auch ausdrücklich in der Enzyklika ausgesprochen: "Kaum bedarf es eigener Erwähnung, daß das, was Leo XIII. über die Staatsform lehrte (Rundschreiben "Immortale Dei", 1. November 1885), auch auf die Berufsstände oder berufsständischen Körperschaften sinngemäße Anwendung findet, nämlich: die Menschen haben die volle Freiheit, eine Form nach ihrem Gefallen zu wählen, wenn nur der Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohls Genüge geschieht."ll Damit ergibt sich für die juristische Auslegung die Aufgabe, die im Rahmen des Planes der Enzyklika gelegenen Möglichkeiten aufzudecken und zur Wahl zu stellen. Diese Wahl ist nach den Worten der Enzyklika in das Ermessen der "Menschen" gestellt. Dem Geist der Enzyklika würde es gewiß eher entsprechen, daß die Entscheidung über diese Frage durch die Selbstbestimmung der berufs ständischen Körperschaften 11

A.a.O. (FN 2), S. 117.

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getroffen wird. Aber da diese Wahl unheilvolle Konfliktsmöglichkeiten in sich schließt - man denke an eine überschneidende Abgrenzung des Mitgliederkreises, wodurch mehr oder minder zahlreiche Menschen in mehrere berufsständische Kreise und damit einander widersprechende PartikularRechtsordnungen fallen würden -, ist auch zur Ausfüllung dieses durch die Enzyklika eröffneten Ermessenblankettes staatliche Intervention, und das bedeutet eine heteronom-autoritäre Lösung dieser Fragen, unausweichlich. Nur müßte im Geist der Enzyklika diese grundsätzlich nur als subsidiär tolerierte staatliche Intervention der naheliegenden Versuchung, das durch die Enzyklika eröffnete Organisationsblankett zur Gänze auszufüllen, entgehen und sich auf die Festsetzungjener Normativbestimmungen beschränken, die Konfliktsmöglichkeiten zwischen den Berufsständen auszuschließen geeignet sind. Was zunächst die Fragen der Mitgliedschaft in den Berufsständen betrifft, so kann, wie sehr auch die Enzyklika das Prinzip der Freiwilligkeit vor dem Zwang bevorzugt und ein organisches Wachstum der Berufsstände wünscht, doch nur, wenn die Berufsstände die ganze beruflich gebundene Gesellschaft erfassen sollen, eine Zwangsmitgliedschaft in Frage kommen, deren Eintritts- und Austrittsbedingungen heteronom, also staatlicherseits festgesetzt werden müßten; denn da jeder berufsständischen Körperschaft ein besonderer Rechtskreis entsprechen soll, der durch die Statuierung von Verpflichtungen und Einräumung von Berechtigungen bestimmte Leistungen der Gesellschaft an das Individuum und des Individuums an die Gesellschaft sicherstellen soll, kann es dem Belieben des Individuums höchstens anheimgegeben sein, in welchem dieser verschiedenen Rechtskreise, nicht aber, ob er überhaupt Mitglied einer berufsständischen Körperschaft werden will. Die berufsständischen Körperschaften selbst können auch nicht eigenwillig Mitglieder aufnehmen und ablehnen oder ausschließen, weil es sonst dahin kommen könnte, daß die Personen, von denen sich die Berufsstände Vorteile erwarten, in mehrere Körperschaften genötigt werden, dagegen Personen, die für die Berufsstände voraussichtlich nur eine Last werden würden - die ganze Sozialpolitik, vermutlich einschließlich des Armenwesens, ist ja den berufs ständischen Körperschaften zugedacht - in dem durch die berufsständische Verfassung bedingten neuen Sinn heimatlos, nämlich von dem Schutz der berufsständischen Körperschaften ausgeschlossen sein würden. Die Bedingungen des Eintrittes und Austrittes in die berufsständischen Körperschaften müßten also unter allen Umständen staatlicherseits

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oktroyiert werden, wobei ja immerhin in sehr vorsichtiger Weise dem Einzelnen und dem Verband eine Wahlfreiheit bzw. ein Ablehnungsrecht eingeräumt werden könnten, um der päpstlichen Grundidee des selbstgesetzlichen Wachstums der Berufsstände gerecht zu werden. Insoweit darr wohl auch das Vorbild der territorialen Selbstverwaltungskörper maßgeblich sein, die, obzwar organisch gewachsen - sind sie doch ursprünglich Blut- und zugleich Siedlungsgemeinschaften -, doch heute, nicht zuletzt im eigenen Interesse, auf Zwangsmitgliedschaft beruhen. Der große Unterschied in der Zusammensetzung der berufsständischen Körperschaften einerseits, der Territorialverbände andererseits muß aber darin bestehen, daß man in diese grundsätzlich hineingeboren wird und nur ausnahmsweise später durch bestimmte rechtliche Tatsachen hineinwächst, daß man hingegen in die neuen berufsständischen Körperschaften erst im Lauf seines Lebens eingegliedert werden kann, sei es nun durch den an bestimmte Tatsachen geknüpften ipso-iure-Erwerb der Mitgliedschaft oder durch grundsätzlich obligatorische Aufnahme. Der Erwerbsgrund der Mitgliedschaft muß nur im Sinn der Enzyklika der Eintritt in einen bestimmten Beruf sein, wenn die Körperschaften mit Recht im Sinne der Enzyklika als "berufsständisch" bezeichnet werden sollen. Durch diese Auslese- oder Berufungstitel unterscheiden sich die Berufsstände in einer vergleichslosen Weise von den mittelalterlichen Erbständen, so daß, wer ernstlich die Idee der Berufsstände verwirklichen will, sich keinesfalls auf die geschichtliche Gestalt der Erbstände berufen darf. Übrigens können auch nicht die mittelalterlichen und neuzeitlichen politischen Stände als geschichtlicher Beleg für die von der Enzyklika intendierte berufsständische Ordnung gelten, weil auch dieses geschichtliche Vorbild nach Zusammensetzung und Zweck ein Ausdruck der Klassenscheidung und Klassenherrschaft war, die von der neuen berufsständischen Ordnung endgültig überwunden werden soll. Wie bereits angedeutet, kann die Erfüllung der Merkmale der Standeszugehörigkeit, Z.B. der Antritt einer bestimmten Beschäftigung, sei es nun als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, unmittelbar den Eintritt in die sachlich entsprechende berufsständische Körperschaft herbeiführen. Ein solcher ipso-iure-Erwerb der Mitgliedschaft hätte in der modemen Gestaltung der Sozialversicherung sein Vorbild. Freilich müßten Möglichkeiten für eine objektive Streitentscheidung in jenen Fällen vorgesehen werden, wo der Verband oder ein einzelner Berufsangehöriger eine Mitgliedschaft behaupten, die von der Gegenseite nicht anerkannt wird. Diese Entscheidung eines

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offenbaren Rechtsstreites dürfte selbstverständlich nicht der berufsständischen Körperschaft selbst - als einem der beiden Streitteile -, sondern müßte einer überparteilichen Instanz, also, im Sinn der Enzyklika gesprochen, dem Staat zustehen, wofür ja auch schon das gegenwärtige Körperschaftsrecht Vorbilder bietet. Gerade diese Konfliktsmöglichkeiten legen dem Gesetzgeber, der, wie auch diese Erwägung zeigt, zur Organisation der berufsständischen Körperschaft unbedingt bemüht werden muß, die Verpflichtung auf, die Grenzlinie zwischen den Berufskörperschaften durch möglichst einleuchtende und eindeutige Merkmale der Zugehörigkeit so scharf wie möglich zu ziehen. Wer aber in der gegenwärtigen Verwaltung der öffentlichen Körperschaften, namentlich im Gemeinde- und Sozial versicherungswesen, halbwegs bewandert ist, sieht wenigstens für die Anfangszeit der Berufsstände eine ganz außerordentliche Inanspruchnahme jenes Behördenapparates voraus, der mit der Entscheidung über die Berufsstandszugehörigkeit befaßt sein wird. Die andere rechtstechnische Möglichkeit einer ausdrücklichen Aufnahme des Körperschaftsangehörigen durch Verbandorgane hat vom Standpunkt der Enzyklika den Vorzug der Freiwilligkeit und mithin der berufsständischen Selbstbestimmung für sich, wobei ja freilich die gesetzliche Begründung eines Aufnahmeanspruches und einer Aufnahmepflicht das Prinzip der Freiwilligkeit stark beeinträchtigen müßte. Die verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die sich aus der mangelnden Willensübereinstimmung zwischen dem Aufnahmewerber und der um Aufnahme ersuchten Berufskörperschaft oder auch zwischen einer Berufskörperschaft, die die Mitgliedschaft einer bestimmten Person in Anspruch nimmt, und einem widerstrebenden Berufsangehörigen ergeben müssen, bleiben dieselben wie im Fall des ipso-iure-Erwerbes. Ein unzweifelhafter Nachteil des Mitgliedschaftserwerbs durch ausdrücklichen Aufnahmeakt wäre die Verwaltungsbelastung, die sich aus der Behandlung der Eintrittsanzeigen und aus der Evidenz jener Umstände, die den Anspruch auf Aufnahme begründen, ergeben würde. Doch fallt vielleicht diese administrative Mehrbelastung überhaupt nicht neben der administrativen Arbeit der Evidenthaltung des Mitgliederstandes in Betracht; die einzige Mehrbelastung bestünde in der Notwendigkeit einer Erledigung der Eintritts- oder Austrittsanzeigen. Man muß sich überhaupt vergegenwärtigen, daß die Einschaltung neuer öffentlicher Körperschaften in das öffentliche Leben den Verwaltungsapparat und die Verwaltungskosten jedenfalls erhöht, da mit der Vielfältigkeit der öffentlichen Körperschaften unvermeidlich auch der bloße sachliche und finanzielle Verwaltungsaufwand zur Aufrechterhal-

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tung der Körperschaften und zur Besorgung der gewissennaßen zwischenkörperschaftlichen Agenden um so stärker wachsen muß, als die Körperschaften beruflich spezialisiert sind. 12 Diese Schwierigkeiten werden noch durch den Umstand erhöht, daß bei reinen Berufsverbänden der Gegenwart ein um so stärkeres Fluktuieren der Mitgliedschaft unvenneidlich ist, je stärker die Körperschaften beruflich spezialisiert sind. Der mittelalterliche Berufsverband, wie etwa die Zunft, hat seine Verbandsgenossen von der Lehrzeit bis zum Grab an sich gekettet. Wie oft mag aber heutzutage, wenn schon nicht der Arbeitgeber und der Spezialarbeiter, so doch der einfache Hilfsarbeiter seine berufsständische Mitgliedschaft wechseln! In diesem Punkt ist die berufsständische Organisation gegenüber der klassenmäßigen Organisation entschieden im Nachteil. Eine gerade durch diese Erscheinung nahegelegte organisationsrechtliche Frage ist die der ausschließlichen oder mehrfachen Mitgliedschaft. Die Tendenz der öffentlichen Körperschaften geht auf Ausschließlichkeit gegenüber Körperschaften gleicher Art, wogegen z.B. die Mitgliedschaft in einer Gebietskörperschaft und in einem Personenverband, aber auch in einer weiteren und engeren Gebietskörperschaft möglich und üblich ist. Analogerweise empfiehlt es sich, aus zwingenden Opportunitätsgründen zwar die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer weiteren und engeren berufsständischen Körperschaft freizugeben, dagegen die Mitgliedschaft in verschiedenen berufsständischen Körperschaften desselben Typus (z.B. Berufsstand der Landwirtschaft und des Gewerbes oder der Industrie und der geistigen Berufe) auszuschließen. Diese Unvereinbarkeit wird in Anbetracht des Pluralismus von Berufsrechtsordnungen durch die Gefahr der Pflichtenkollision und vom Standpunkt der Körperschaften aus durch die Gefahr der Doppelberechtigung erforderlich. Kein Staat wird vemünftigerweise dulden, daß ähnliche Folgen, wie sie mangels einer genügend mächtigen überstaatlichen Autorität die doppelte Staatsbürgerschaft mit sich bringt, innerhalb des Staates die mehrfache Berufsmitgliedschaft auslöst. Damit ist aber die Notwendigkeit gegeben - unverkennbar gegen die Grundidee der Enzyklika -, in den Fällen doppelter Berufszugehörigkeit, z.B. im Fall eines Finanzmagnaten, der zugleich über Industrien und Großgrundbesitz verfügt, aber auch im Fall eines Gewerbetreibenden, der ein Haus und eine kleine 12 Besonders sinnfallig wird dies an dem mehr als künstlichen Plan der Abgrenzung der Stände, den Weichs, a.a.O. (FN 4), S. 9 ff., entwirft.

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Landwirtschaft besitzt, die Frage der Zugehörigkeit zu einer berufs ständischen Körperschaft mehr oder weniger willkürlich durch einen staatlichen Machtspruch zu lösen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Möglichkeit der Zulassung doppelter berufsständischer Mitgliedschaft, sei sie nun fakultativ oder gar obligatorisch, zu untersuchen. Eine praktisch sehr aktuelle Frage ist die der Mitgliedschaft der Arbeitslosen, die ja nach der berufs ständischen Aufteilung der sozialpolitischen Lasten ihrer berufs ständischen Körperschaft zur Last fallen werden, so daß für sie bis zur Lösung der sozialen Frage einstweilen die Frage der berufs ständischen Zugehörigkeit geregelt werden muß. In dieser Richtung eröffnet sich die Alternative, entweder schon eine bestimmte berufliche Vorbildung, im besonderen Prüfungsnachweise, als Rechtstitel der berufsständischen Zugehörigkeit anzuerkennen, oder eine, wenn auch noch so kurze Betätigung im Beruf zur Bedingung der Berufszuständigkeit zu machen. Die Gefahr von Scheinhandlungen, die darauf abzielen, eine so folgenreiche Berufszuständigkeit zu erwerben, kann hier nur angedeutet werden. Auch das Problem, ob eine, wenn auch noch so kurze Berufsbetätigung auf Lebensdauer die Berufszuständigkeit bei einer bestimmten Berufskörperschaft mit allen deren finanziellen Folgen, also etwa auch Versorgungspflicht für die versorgungsbedürftigen Angehörigen, mit sich bringen soll, kann hier nur gestreift werden. Die Frage der Familienzuständigkeit ist wesentlich durch die Lösung des Problems der Berufskreise, insbesondere des Problems eines Berufsstandes der Hausfrauen bedingt. Auch die Frage der hauptberuflich oder nebenberuflich erwerbstätigen Gattinnen und Kinder birgt eine Fülle von Schwierigkeiten in sich. Alle angedeuteten Probleme würden es begreiflich machen, daß die berufsständischen Körperschaften je nach der Persönlichkeit des Aufnahmewerbers und seinen mehr oder minder großen Einflußmöglichkeiten eine nicht geringe Abschließungstendenz an den Tag legen werden und daß ein mehr oder minder großer Zwang zur Brechung dieses Widerstandes erforderlich sein wird. Weil in dieser Richtung Interessengemeinschaft aller Berufsstände besteht, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß bei dem Überwiegen der Berufsangehörigen über die Nichtberufstätigen die letzteren ein nicht sehr beneidenswertes Los als "berufsständisch Heimatlose" zu tragen haben werden. Hier erinnert man sich des päpstlichen Wortes, daß die Wiederaufrichtung und Vollendung der resellschaftlichen Ordnung die sittliche Erneuerung zur Voraussetzung hat. 3

13 A.a.O. (FN 2), S. 123.

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Geradezu das zentrale Problem einer berufs ständischen Verfassung ist das, welche Bevölkerungskreise zu einer berufsständischen Körperschaft organisiert werden sollen. Sachlich ist diese Frage nach dem Gesichtspunkt zu beantworten, ob Berufe insoweit verwandt sind, daß sie in einer berufsständischen Körperschaft vereinigt werden können, oder ob sie sich soweit unterscheiden, daß eine berufsständische Absonderung wünschenswert erscheint. Theoretisch sind beliebige Berufskreise denkbar, zwischen den beiden Grenzfällen, daß der territoriale Verband zumindest in zwei personelle Verbände gegliedert und daß er in soviel personelle Verbände untergeteilt wird, als das unvermeidliche Erfordernis der Kollegialnatur eines jeden Verbandes erlaubt. Praktisch wird innerhalb dieser Extreme die Lösung der Frage relativ eng begrenzt sein, trotzdem aber immer noch eine Fülle von Variationsmöglichkeiten aufweisen. Je weiter der einzelne Berufsverband gezogen wird, desto einfacher wird sich im allgemeinen das Organisationsproblem lösen lassen und desto rationeller und sparsamer wird die Lösung sein. Das Mißliche einer solchen Zusammenfassung großer Menschenrnassen in einem Verband ist vom Standpunkt der berufsständischen Lebensauffassung die innere Fremdheit zwischen den einzelnen Berufsgruppen und deren Angehörigen, die sich plötzlich durch staatliches Organisationsgesetz in eine Riesengemeinschaft versetzt sehen, deren enge Bindungen doch nur durch das Faktum und das Gefühl einer inneren Verbundenheit oder Verwandtschaft gerechtfertigt ist. Je enger dagegen die Kreise der einzelnen Berufsstände gezogen werden, desto schwieriger wird die Abgrenzung zwischen ihnen, indem sie von untergeordneten Berufsnuancierungen abhängig gemacht werden muß, und desto größer wird der Verwaltungsaufwand für die einzelne berufsständische Körperschaft und damit für die berufsständisch organisierte Bevölkerung im ganzen, da die Enge der Organisation keinesfalls in demselben Maß eine Minderung des Verwaltungsapparates erlaubt, wie der Kreis der Standesangehörigen kleiner wird. Dieser schematisch angedeuteten Alternati ve zwischen weitem und engem Verband kann, wenn auch nicht formell, so doch materiell dadurch ausgewichen werden, daß die großen berufsständischen Körperschaften in Unterverbände untergeteilt werden, denen wiederum bei Aufrechterhaltung einer gewissen Abhängigkeit von einem Spitzenverband besondere Rechtspersönlichkeit verliehen werden kann oder die auch als einfache, wenn auch mit gewisser Selbstbestimmung ausgestattete Organe eines Gesamtverbandes dessen Rechtspersönlichkeit teilen können. Eine derartige berufsständische Verbandshierarchie ist allerdings mit der organisationstechnischen Schwierig-

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keit der personellen, kompetenzmäßigen und finanziellen Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Teilverbänden belastet und wird durch die mannigfaltigen Beziehungen zwischen diesen Teilverbänden einen nicht geringen bürokratischen Apparat und Kostenaufwand mit sich bringen. Es muß in diesem Zusammenhang an die oft aufgerollte Problematik einer territorialen Körperschaftshierarchie, wie sie schon dem großen Verwaltungsreformator Freiherrn von Stein vorgeschwebt hat, erinnert werden. Die schönsten Ideen stoßen sich und scheitern an der Realität der Tatsachen. Ein vielbemerkter Vorteil für die große Aufgabe der berufsständischen Aufteilung der Bevölkerung ist die Tatsache, daß die Bevölkerung wenigstens in den Industriestaaten schon unter der Herrschaft des individualistischen Organisationsprinzipes - im offenbaren Widerspruch zu diesem - ziemlich reichlich, nach manchem Urteil sogar überreichlich beruflich organisiert ist - freilich nicht nach dem berufsständischen, sondern nach dem sozialklassenmäßigen Gesichtspunkt. Jeder grundsätzliche Anhänger der berufsständischen Verfassung muß es unter diesen Umständen bedauern, daß aus klassenmäßiger Engherzigkeit nicht zuletzt auch solcher Bevölkerungskreise, die ihrer Einstellung nach die berufsständische Idee gutheißen müßten, nicht schon bisher alle Gelegenheiten zur berufsständischen Zusammenfassung der Organisationen wahrgenommen worden sind. Kein politisches Hemmnis hat es beispielsweise verhindert, daß die in die Zuständigkeit der Landtage fallenden landwirtschaftlichen Körperschaften Österreichs überall berufsständisch zusammengesetzt worden wären. Immerhin bieten die bestehenden, wenn auch klassenmäßigen Berufsorganisationen die erste Grundlage für den wahren berufsständischen Neubau. Gewisse berufsständische Körperschaften werden sich ziemlich einfach durch die Zusammenlegung der miteinander fachlich korrespondierenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen aufbauen lassen. Der größere Teil der Organisationsarbeit bleibt aber unter allen Umständen noch zu tun, insbesondere sind bislang noch nicht annähernd alle Volkskreise, die berufsständisch zusammenzufassen sein werden, auch nur durch Klassenorganisationen erfaßt. Dabei ist auch noch die offene Frage zu beantworten, wie die Grenze zwischen der berufsständisch organisierten Bevölkerung und der mangels eines Berufes rein politisch organisierten Bevölkerung zu ziehen ist. Für reine Konsumentenkammern z.B. ist im berufsständischen System der Enzyklika mangels der Zugehörigkeit zu einem Beruf kein Platz. Für Beamtenkammern auch nicht, jedoch nur wegen ihres einseitig klassenmäßigen Charakters. Ein anderes hierher gehöriges Problem ist, ob die

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Beamtenschaft in ihrer berufsständischen Zuordnung einfach in der funktionell gleichartig beschäftigten Angestelltenschaft aufgehen soll- ein Fall, in dem die öffentlichen Körperschaften in ihrer Eigenschaft als Dienstherren in der fachlich zuständigen Berufskörperschaft auf der Arbeitgeberseite auftreten würden - oder ob die öffentliche Beamtenschaft zusammen mit den öffentlichen Körperschaften als ihren Dienstherren eine besondere berufsständische Körperschaft bilden soll. Dieses Problem setzt übrigens die Lösung der Vorfrage der berufsständischen Mitgliedschaft juristischer Personen voraus, für die strenggenommen im Rahmen der Enzyklika kein Platz ist; der Enzyklika schwebt ja die Vorstellung vor, daß sich in der berufsständischen Vertretung Mensch zu Mensch gegenüberstehe, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in unmittelbaren Kontakt treten; der bezahlte Repräsentant der Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ist gewiß nicht der Arbeitgeber im Sinn der Enzyklika, sondern ein im Interesse seiner Berufsstellung unerbittlicher Interessenvertreter. Die in der kapitalistischen Wirtschaft entwickelte gesellschaftliche Organisation wird es aber unvermeidlich machen, auch den juristischen Personen Mitgliedschaft und damit Vertretungsbefugnis in den berufsständischen Kollegien einzuräumen. Übrigens werden ja in den berufsständischen Vertretungskörpern sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer voraussichtlich sehr zahlreich durch beamtete Interessenvertreter vertreten sein, wie sich ja auch heute bereits in den Verhandlungen der Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft nicht so sehr die Interessenten selbst als vielmehr die beiderseitige Gewerkschaftsbürokratie gegenüberstehen. Eine nicht selten vorausgesetzte Schranke des Kreises der berufsständischen Organisationen muß indes vom Standpunkt des päpstlichen Rundschreibens mit allem Nachdruck abgelehnt werden, nämlich die Beschränkung der berufsständischen Organisationen auf die Kreise der "Wirtschaft" im gebräuchlichen Sinn dieses Wortes. Wenn z.B. ein ziemlich beachteter Vorschlag für eine berufsständische Verfassung Österreichs 14 reine Wirtschafts stände, d.h. bloß auf Industrie, Handel, Gewerbe, Bank- und Verkehrswesen beschränkte berufsständische Organisationen vorsieht, so ist dies eine so grob materialistische Ausdeutung der berufsständischen Idee,

14 Löbell, Verfassungsreform als Grundlage der Sanierung der Wirtschaft, Wiener Wirtschafts-Woche, 1933, Nr. 21.

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daß, wer immer sich berufen fühlt, die Ideen der Enzyklika in die Wirklichkeit umzusetzen, sich vor einer derartigen Verzerrung und Diskreditierung dieser Idee hüten müßte. Schon lange vor der Enzyklika und deren sachlich wenig berufenen Interpreten, die sich zu der Behauptung verstiegen, "außerhalb der Regierung, den Ländern und der Wirtschaft gibt es keine Interessen und kann es keine geben", hat schon Edgar Tatarin-Tamheyden - durchaus im Geist der späteren Enzyklika - festgestellt: "Allein auf den wirtschaftlichen Berufen ist eine politische Volksvertretung nie aufzubauen. Die Grundbedingung hierfür ist, daß neben dem Wirtschaftsleben der Gesamtheit das Geistesleben eine gleichwertige Berücksichtung finde.,,15 Zum Unterschied von den im vorstehenden behandelten Fragen der äußeren Abgrenzung der berufsständischen Körperschaften, die in der Enzyklika gänzlich dem Ermessen einer heteronom organisierenden Autorität oder der Selbstbestimmung der Standes angehörigen anheimgestellt sind, finden sich für die innere Struktur der berufsständischen Körperschaften gewisse Anhaltspunkte,ja sogar Richtlinien. Im Sinn der Enzyklika ist, wie aus dem vorstehenden hervorgeht, die berufs ständische Körperschaft als ein mehr oder minder umfangreicher Personenverband und nicht etwa als ein Vertretungskörper eines bestimmten, durch den Beruf gekennzeichneten Personenkreises zu denken. 16 Dieser Personenkreis bedarf aber, um handlungsfahig zu sein, unter allen Umständen einer Organisation, im besonderen vertretungs befugter Organe, die namens des Berufsstandes die der Korporation als solcher zugedachten Handlungen setzen. Dieses Minimum an Organisation kann aber auch beliebig gesteigert werden. Insbesondere ist es denkbar, daß die berufsständische Körperschaft, sei es nun nach dem Territorialprinzip oder dem Personalprinzip, in Unterverbände gegliedert wird. Dieserart ergibt sich vor allem die Möglichkeit einer territorialen Dezentralisation des Berufsstandes, beispielsweise durch Errichtung von Landesverbänden, Kreis-, Bezirks- und Gemeindeverbänden, die irgendwie dem gesamtstaatlichen Verband untergeordnet sind. Nach derselben Schablone ist es aber auch denkbar, daß der zentrale Verband, der einen ziemlich 15 Tatarin-Tarnheyden, Die Berufsstände, 1922, S. 238. 16 In dem tief schürfenden und gewiß sehr verdienstlichen Buch "Das Ständewesen " von

W. Heinrich macht die Unklarheit über den juristischen Körperschaftsbegriff sowie über

manche andere Rechtsbegriffe die Vorschläge für den Bau der Ständeverfassung in manchen Punkten verschwommen und mißverständlich.

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reichhaltigen Komplex von Berufen korporativ zusammenfaßt, für gewisse Geschäfte nach den einzelnen in der Berufskörperschaft zusammengefaßten Berufen aufgespalten wird, etwa in der Art, daß der Berufsstand "Urproduktion" in die Unterverbände Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbau usw. untergeliedert wird, um die Sonderinteressen der Angehörigen dieser Produktionszweige vor Majorisierung oder gar Nullifizierung in der umfassenderen Körperschaft zu schützen und Berufsangelegenheiten, die vorwiegend diese kleinere Berufsgruppe berühren, allein von den Angehörigen dieser Berufsgruppe besorgen zu lassen. Beispielsweise richtete sich eine von den meisten Kritikern als berechtigt befundene Klage über die Zusammensetzung des vorläufigen Reichswirtschaftsrates des Deutschen Reiches gegen die gemeinsame Vertretung der Land- und Forstwirtschaft, wobei die ziffernmäßig weitaus schwächere Forstwirtschaft gegenüber der Landwirtschaft bei der Behandlung divergierender Interessen dieser beiden Produktionszweige den Kürzeren zog. Es wird aber eine Existenzfrage der berufsständischen Körperschaften sein, die in der Interessenverschiedenheit der einzelnen Berufszweige begründete Spaltungstendenz nicht zu weit treiben zu lassen, weil ansonsten die berufsständische Verfassung das Übel der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, nämlich die Atomisierung der Gesellschaft, in veränderter Gestalt übernehmen und fortsetzen würde. Die Überwindung oder Milderung des Klassenkampfes wäre durch eine Verschärfung des Gegensatzes und Wettstreites der einzelnen Berufskreise, die ihre Konflikte bei Herrschaft der berufsständischen Verfassung in der Maske und mit den Mitteln öffentlicher Körperschaften auskämpfen könnten, teuer erkauft. Man denke etwa an den Interessengegensatz zwischen der Steinkohlen- und Braunkohlenwirtschaft, der schon bei der Zusammensetzung des deutschen Reichswirtschaftsrates eines der schwer lösbaren Probleme gebildet hat, der aber bei beliebiger Spezialisierung der berufskörperschaftlichen Organisation - sowie zahlreiche gleichartige Interessengegensätze gewissermaßen infolge der körperschaftlichen Isolierung und Organisierung der beruflichen Interessenkreise mit gesteigerter Stärke in Erscheinung treten könnte. Das Prinzip der Subsidiarität des weiteren Verbandes, das einer solchen Spaltungstendenz entgegenzukommen scheint, würde wohl in diesem Fall zu Unrecht angerufen werden, denn es handelt sich hier nicht um Angelegenheiten, die vom engeren Verband ebensogut wie vom weiteren Verband besorgt werden könnten. Die Möglichkeit der berufsständischen Untergliederung hängt begreiflicherweise ganz von der Gestaltung der rechtlichen Beziehung, insbesondere der Kompetenzabgrenzung zwischen

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dem Spitzenverband und den Teilverbänden ab. Innerhalb eines gewissen Rahmens, durch den für den Gesamtverband und die Teilverbände ein gewisses Kompetenzminimum festgelegt wird, könnte die erwähnte Auseinandersetzung immerhin den beteiligten Verbänden überlassen werden. Doch müßte wohl die Rechtsstellung der einzelnen Teilorganisationen die gleiche sein, damit sich nicht das Schwergewicht der stärkeren Teilverbände gegenüber den schwächeren Teilverbänden drückend bemerkbar mache. Auch hier zeigt sich also wiederum die Notwendigkeit heteronomer Normativbestimmungen, damit die Autonomie nicht zum Diktat des Starken über den Schwachen entarte. Selbstverständlich sind der korporativen Unterteilung der berufsständischen Körperschaften keine wesensnotwendigen, sondern nur opportunistische Schranken gezogen. Die Enzyklika faßt ziemlich deutlich die Möglichkeit einer mehrgliedrigen Hierarchie der berufsständischen Organisation ins Auge; einerseits durch den Hinweis auf das reichgegliederte Gemeinschaftsleben einer früheren Gesellschaftsepoche, andererseits durch den Hinweis auf den Ausspruch des heiligen Thomas von Aquin: "Einheit in wohlgegliederter Vielheit", den das Rundschreiben folgendermaßen ausdeutet: "Eine rechte gesellschaftliche Ordnung verlangt also eine Vielheit von Gliedern des Gesellschaftskörpers, die ein starkes Band zur Einheit verbindet." 17 Es wäre willkürlich, dieses Organisationsprinzip so auszulegen, daß nur eine vielgliedrige horizontale Gliederung gemeint, eine mehrgliedrige vertikale Gliederung dagegen ausgeschlossen sei. Selbstverständlich muß aber jede Teilordnung des berufsständischen Systems dem leitenden Organisationsprinzip entsprechen, d.h. sie muß sämtliche Berufsangehörige ihres Berufskreises umfassen, um derart auch im engsten Kreis den Gegensatz des Arbeitgebers und Arbeitnehmers zu verkörpern und zugleich gewissermaßen aufzuheben. Die naturgemäße Zelle dieser berufsständischen Organisation ist der einzelne, sozusagen konstitutionell geordnete Betrieb, in dem einerseits der Arbeitgeber, andererseits der Betriebsrat oder sonstige Vertrauensmänner der Arbeitnehmer die gegensätzlichen Interessengruppen repräsentieren und auszugleichen bestimmt sind. 18 Ob die in 17 A.a.O. (FN 2), S. 115. 18 Besonders beachtenswert sind in dieser Hinsicht die interessanten Vorschläge des christlichen Sozialphilosophen Dr. Kar! Lugmayer, Neue Ordnung, 10. Jg.

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einem Spitzenverband vereinigten Teilverbände selbst körperschaftlichen Charakter haben oder als bloße besonders zusammengesetzte Organe des Gesamtverbandes an dessen Rechtspersönlichkeit Anteil haben, ist von der Enzyklika den Beteiligten freigestellt. Dagegen schließt es das Rundschreiben aus, daß die von ihr intendierten berufsständischen Körperschaften als gesellschaftliche und im besonderen wirtschaftliche Organisationen Monopolcharakter besitzen. "Ebenso nun, wie die Bürger der Gemeinde zu den verschiedenen Zwecken freie Vereinigungen eingehen, denen beizutreten oder fernzubleiben ins freie Belieben des Einzelnen gestellt ist, werden die Angehörigen des gleichen Berufes freie Vereinigungen unter sich bilden zu Zwecken, die mit ihrer Berufsausübung irgendwie zusammenhängen; ... der Mensch hat die volle Freiheit, nicht bloß solche Vereinigungen, die der Privatrechtsordnung angehören, ins Leben zu rufen, sondern auch 'frei diejenige innere Lebensordnung, diejenigen Satzungen anzunehmen, die zum vorgesetzten Ziele am geeignetsten erscheinen (Rer.nov. n. 42)' . Nicht minder frei können Vereinigungen sich bilden, die über die Grenzen der Berufsstände hinausgreifen.,,19 Neben den Zwangsorganisationen werden also mit aller Entschiedenheit sachlich korrespondierendejreiwillige Organisationen ins Auge gefaßt; während die einen als berufs ständische Körperschaften bezeichneten Verbände öffentliche Körperschaften mit einem bestimmten obligatorischen Wirkungskreis sind, müssen die freiwilligen Verbände, namentlich die Gewerkschaften, als das gedacht werden, was sie heute schon sind, nämlich der Selbstbestimmung der Angehörigen entspringende und folgende private Vereine, denen nur die vorzugsweise Aufgabe gesetzt wird, sich als "Wegbereiter für die berufs ständische Ordnung" zu betrachten und zu betätigen. Für die Lösung des rechtstechnischen Problems der Willensbildung der berufsständischen Verbände findet sich in der Enzyklika nur ein einziger, allerdings sehr bedeutsamer Anhaltspunkt. Der Weg der Willensbildung ist als ein typisches Verfassungsproblem - freilich nicht der Staatsverfassung, sondern der Verfassung des Berufsstandes - grundSätzlich der menschlichen Selbstbestimmung freigegeben. Nur die noch zu erörternde Sonderbestimmung über die Sektionierung berufs ständischer Kollegien in Form einer für gewisse Angelegenheiten gesonderten Beratung und Beschlußfassung ver19 A.a.O. (FN 2), S. 117.

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rät die Annahme der Enzyklika, daß die Hauptfragen im Wirkungskreis der Berufsstände nicht durch den selbstherrlichen Willen eines einzelnen Spitzenorganes oder gar durch ein Oktroi von außen, sondern durch gemeinsame Beratung und Beschlußfassung der Interessenten zu beantworten sind. Es wird also in unverkennbarer Weise für das interne Wirken der Berufsstände das monokratische oder - mit einem modemen Wort - das Führerprinzip zugunsten des kollegialen und Mehrheitsprinzipes abgelehnt. Diese grundsätzliche Lösung des Problems der Willensbildung liegt ganz in der Richtung und im Geiste der kirchlichen Tradition, die das in ihr außerordentlich verbreitete Kollegialprinzip mit der diesem Organisatiünsprinzip eigentümlichen Abstimmung und Mehrheitsbildung nicht etwa als eine Erfindung weltlicher und gar revolutionärer Art übernommen, sondern in der nun fast zweitausendjährigen Geschichte der Kirche autochthon ausgebildet hat. Im Rahmen dieser, wie man sieht, gewiß nicht spezifisch demokratischen Willensbildung20 steht im Sinn der Enzyklika für die berufs ständischen Körperschaften gleicherweise der plebiszitäre wie auch der repräsentative Weg offen: Die berufsständische Verfassung kann also die Willensbildung der berufsständischen Körperschaften sowohl nach dem Vorbild der unmittelbaren als auch nach dem der parlamentarischen Demokratie, keinesfalls aber nach dem Vorbild der Autokratie einrichten. Wie im Staatsleben wird sich auch im berufsständischen Leben der Weg der Urabstimmung der Berufsgenossen in der Regel auf die kleinsten Teilverbände oder - im größeren Verbande - auf die Entscheidung lebenswichtiger Fragen des Berufsstandes beschränken müssen. Die Masse der Entscheidungen wird um so eher, je größer die Zahl der Verbandsmitglieder ist, auf repräsentativem Weg getroffen werden müssen. Selbstverständlich kann auch der plebiszitäre und repräsentative Weg der Willensbildung in beliebigem Umfang kombiniert werden. Die Technik der Repräsentation muß jedenfalls so beschaffen sein, daß die Vertretung den Willen der Berufsgenossen widerspiegelt. Im übrigen bestehen gerade in dieser Hinsicht zahlreiche Wahlmöglichkeiten. Insbesondere ist ebensowohl eine formlose Benennung der Delegierten der einzelnen Berufszweige durch deren Sonderverbände denkbar, wobei jedenfalls der Schlüssel der Mandatsverteilung in der Verfassung des Berufsstandes festgelegt sein muß, als auch eine organisierte Wahl der 20 Otto von Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht, führt das Mehrheitsprinzip auf das altgermanische Gerichtsurteil zurück. 11 A. J. Merkl

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berufs ständischen Vertreter von seiten der Mitglieder der berufsständischen Körperschaften oder auch von seiten der Vertretungen der Teilverbände. (Insbesondere also Variationsmöglichkeit zwischen direktem und indirektem Wahlrecht.) Die Forderung der Enzyklika nach einer zum Teil gesonderten Beratung und Beschlußfassung der berufsständischen Kollegien, also sowohl der allfälligen Mitgliederversammlungen als auch Vertreterversammlungen, mache jedoch für die letzten ein Kurienwahlrecht notwendig, und zwar in der Weise, daß "Selbständige" und "Gehilfenschaft" zu besonderen Wahlkörpern zusammengefaßt werden, da diese beiden sozialen Gruppen innerhalb der berufsständischen Vertretungskörper nicht etwa bloß zwei gesonderte Kurien, sondern sogar für gewisse Fälle zwei Kammern darstellen sollen. "Angelegenheiten dagegen, die in besonderer Weise die Sonderinteressen der Selbständigen oder der Gehilfenschaft berühren, so daß ein Schutz gegen Vergewaltigung geboten sein muß, unterliegen vorkommendenfalls der gesonderten Beratung und je nach der Sachlage auch getrennter Beschlußfassung.,,21 Um die Vergewaltigung des einen Interessenkreises durch den anderen hintanzuhalten, schließt hier also die Enzyklika - ähnlich der demokratischen Idee des Minderheitenschutzes - die volle Auswirkung des ansonsten als Regel vorausgesetzten Mehrheitsprinzips aus. Diesem Gerechtigkeitspostulat zuliebe macht zugleich auch die Enzyklika eine Ausnahme von dem berufsständischen Organisationsprinzip, denn die getrennt beratenden und beschließenden Repräsentantengruppen sind ja rein klassenmäßig zusammengesetzte Interessenvertretungen. In dieser organisationspolitischen Forderung der Sektionierung des berufsständischen Vertretungskörpers nach dem Klassenprinzip wird sich die Enzyklika einer soziologisch begründeten Schranke des berufsständischen Prinzips klar bewußt und hat den Mut, die Konsequenz des Doktrinarismus der klar aufscheinenden Forderung der Gerechtigkeit zu opfern. Wie im Fall einer Wahl der berufsständischen Vertretungskörper durch sozial undifferenzierte Wahlkörper die Frage des Stimmgewichtes der einzelnen Wahlberechtigten für die Zusammensetzung der berufs ständischen Vertretungskörper entscheidend ist, so ist in dem von der Enzyklika augenscheinlich bevorzugten Fall der Wahl durch sozial differenzierte Wahlkörper die Kontingentierung der Mandate der berufsständischen Vertretung auf die Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppe entscheidend. Durch die Sektionierung der 21 A.a.O. (FN 2), S. 116.

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berufsständischen Gesamtvertretung in eine Arbeitgeber- und eine Arbeitnehmerkurie wird die Frage des in zahlreichen Ständeprojekten vorgesehenen Pluralwahlrechtes der Arbeitgeberschaft gegenstandslos, aber auch die Frage der Kontingentierung der Mandate auf die beiden sozialen Gruppen verliert viel von ihrer Schärfe, da bei getrennter Abstimmung der kammerartig funktionierenden Kurien die Mandatszahl der beiden Kurien gleichgültig ist. Allerdings taucht dieses politisch heikelste Problem der Mandatsverteilung zwischen Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft in voller Schärfe für jenen Kreis von Funktionen auf, wo der berufsständische Vertretungskörper einheitlich berät und beschließt; gerade dieser Fall muß aber gemäß der berufsständischen Idee der Regelfall sein. Der Enzyklika ist insoweit wieder nur die Direktive zu entnehmen, daß die Lösung dieser Frage der Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohles Genüge tun müsse. Daß dem so ist, wird man nicht behaupten können, wenn die Kontingentierung der Mandate nach dem Schlüssel der Zahl der Körperschaftsmitglieder auf der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite erfolgt. Denn bei diesem Kontingentierungsschlüssel wäre je nach der quotenmäßigen Verteilung der Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft in den einzelnen Berufszweigen die eine oder die andere Interessentengruppe in die Lage einer hoffnungslosen Minorität gedrängt und es müßte der berufsständische Vertretungskörper, um die von der Enzyklika verpönte Vergewaltigung der einen Gruppe durch die andere zu vermeiden, in zwei Klassenvertretungen aufgelöst werden, die nur nominell eine berufsständische Vertretung bilden würden. Diese Erwägungen legen die Einsicht nahe, daß den Intentionen der Enzyklika am ehesten eine paritätische Vertretung der Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft entspricht, wobei freilich die in einzelnen berufsständischen Projekten auftauchende unehrliche Vorbelastung der Arbeitnehmerkurie durch Selbständige ausgeschlossen bleiben müßte. Eine solche paritätische Vertretung hat nur das Mißliche an sich, daß in den Fragen, in denen eine streng klassenmäßige Parteiung eintritt - und das ist um so eher zu erwarten, je mehr bei der Parteinahme im ständischen Vertretungskörper der parteipolitische Standpunkt durch den wirtschaftspolitischen Standpunkt verdrängt wird -, die Mehrheitsbildung von bloßen Zufalligkeiten, wie etwa der Regelung des Vorsitzes und denjeweiligen Absenzen abhängen und infolge solcher labiler Mehrheitsverhältnisse die Aktionsfahigkeit der ständischen Vertretungskörper in Frage gestellt sein würde. Diese Schwierigkeit wird natürlich auch nicht dadurch beseitigt, daß eine kurienweise 11'

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Abstimmung stattfindet. Denn bei dem für berufsständische Vertretungskörper in Frage kommenden Zweikuriensystem würden sich in den berufsständischen Vertretungskörpern in den Konfliktfällen ein Ja und ein Nein unvereinbar gegenüberstehen. So könnte es nur zu leicht auch in den berufsständischen Körperschaften, in denen man das Heilmittel gegen die Immobilisierung der Parlamente sieht und sucht, zu einer ähnlichen Frontenbildung und Erstarrung der Fronten wie in diesen kommen. Es würde aber dem Plan der Enzyklika diametral widersprechen, in dieser Lage an eine außerständische Autorität zu appellieren, einen Regierungskommissär oder einen Notgesetzgeber entscheiden zu lassen. Die Aussicht auf solche Möglichkeiten ist eine neuerliche Warnung, Konstruktionsfehler in den berufsständischen Körperschaften zu vermeiden, die, wenn die berufsständische Ordnung unter Berufung auf die päpstliche Enzyklika eingerichtet wird, von der internationalen Kritik nur zu leicht diese selbst statt den Konstrukteuren zugerechnet werden könnten. Ein Ausweg aus der angedeuteten Schwierigkeit wäre vielleicht, im Fall einer paritätischen Vertretung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft nicht nur für die grundlegenden Beschlüsse, sondern auch für Beschlüsse, die nicht zu den Funktionsnotwendigkeiten des Berufsstandes gehören, erhöhte Mehrheiten vorauszusetzen und im Fall kurienweiser Abstimmung Übereinstimmung beider Kurien zu bedingen, um insoweit eine klassenmäßige Majorisierung auszuschließen, die mit der Idee einer berufsständischen Ordnung unvereinbar ist. Selbstverständlich geht aber eine derartige Erschwerung der Willensbildung der berufsständischen Körperschaften auf Kosten ihrer Aktivität und wird gegen einen ausgiebigen Übergang der Kompetenzen politischer Vertretungskörper auf die berufsständischen Vertretungskörper retardierend wirken. Neben den im vorstehenden erörterten beschließenden und daneben wohl auch kontrollierenden Kollegien werden die berufsständischen Körperschaften einen Vollzugsapparat nicht entbehren können. Die Organisationstechnik dieser berufsständischen Exekutive hängt allerdings sehr vom Mitgliederkreis der berufsständischen Körperschaften und von deren Wirkungskreis ab. Während die lokalen Unterverbände mit wenigen, auch nebenberuflichen Bürokräften das Auslangen finden können, werden die Spitzenorganisationen einer spezialisierten Berufsbürokratie nicht entbehren können, wenn sie wirklich nach dem Plane der Enzyklika den Staat

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merklich entlasten und insbesondere obrigkeitliche Funktionen übernehmen sollen, die bisher die staatliche Bürokratie besorgt hat. In diesem Fall würde es sich darum handeln, die entbehrlich werdenden Arbeitskräfte der Gebietskörperschaften in ein Dienstverhältnis zu den funktionell an ihre Stelle tretenden berufsständischen Körperschaften überzuführen, damit einerseits die Gebietskörperschaften entsprechend dem Agendenabbau auch einen Personal abbau erfahren, andererseits die berufsständischen Körperschaften vor kompromittierendem Verwaltungsdilettantismus - man denke an die Entgleisungen der verschiedenen Räte in der ersten Nachkriegszeit! - bewahrt bleiben.

*** Der ganze vorgeführte berufsständische Organapparat empfangt seinen Sinn und seine Existenzberechtigung nur durch seine gesellschaftlichen Leistungen. Der Wirkungskreis der berufsständischen Körperschaft ist die letztlich entscheidende Detenninante ihrer Organisation. Die Enzyklika umschreibt den Wirkungskreis der berufsständischen Körperschaften nur mittelbar durch die Aufzeigung der Wirkungen, die sie von ihrem Wirken erwartet; es sind dies bekanntlich einerseits die Befriedung des Klassengegensatzes, andererseits die Entlastung des Staates, d.h. der zentralen Autorität, von allen jenen Aufgaben, die engere Verbandspersonen zu leisten vennögen. Sicherlich sind durch diese Perspektive der berufs ständisch organisierten und funktionierenden Gesellschaft die Konturen der berufsständischen Funktionsordnung nur sehr undeutlich sichtbar geworden. Das eine steht aber fest, daß ein so weit reichendes gesellschaftliches Ziel ein sehr kräftiges und weit ausgreifendes Funktionieren der berufsständischen Körperschaften bedingt. Ein Schattendasein der berufsständischen Körperschaften, das lediglich den Beweis ihrer von der Enzyklika gewollten Existenz erbringen soll und das sie außerdem etwa als Wahlkörper für einen gesamtstaatlichen berufsständischen Vertretungskörper benützen will, der gerade nicht von der Enzyklika vorgesehen ist, würde das Inslebentreten berufsständischer Körperschaften und die damit jedenfalls verbundene Komplikation der Staats struktur kaum rechtfertigen. Vor allem der Hinblick auf das Wirkungsziel der berufsständischen Körperschaften verwehrt es, ihr Werden, Wachsen und Wirken ausschließlich dem Willen der unmittelbar Beteiligten und damit gewissennaßen dem Zufall anheimzustellen. Wie schon in anderem Zusammenhang angedeutet, muß gleicherweise ein Mi-

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nimum an Organisation und an obligatorischer Kompetenz von vornherein durch eine den berufsständischen Körperschaften übergeordnete Autorität vorgezeichnet und zur Bedingung der Anerkennung ihrer Rechtspersönlichkeit und Zwangsnatur für einen bestimmten Berufskreis gemacht werden. In dem Wirkungskreis der Berufsstände liegt überhaupt der Grund der Unvermeidlichkeit staatlicher Intervention bei ihrem Inslebentreten und Funktionieren. Es gibt nur die Alternative, mit der Erstrebungjener sozialen Wirkungen, die sich die Enzyklika von den Berufsständen erwartet, ein gewisses Maß an staatlicher Intervention im angedeuteten Umfang in Kauf zu nehmen, wenngleich gewiß die Enzyklika der Freiwilligkeit der Berufsgenossen vor staatlichem Zwang den Vorzug gibt, oder zugleich mit dem Ausschluß staatlichen Zwanges von vornherein auf die Ziele zu verzichten, welche die Enzyklika der berufsständischen Ordnung steckt. Wer da glaubt, daß sich der Staat auf bloße "Förderung" der ohne ihn entstandenen und ihren Zielen zustrebenden Berufsstände beschränken könne, dem fehlt der Einblick in ihren im Sinn der Enzyklika notwendigen und außerdem vielleicht noch möglichen Wirkungskreis und mehr noch der Einblick in die rechtlichen Notwendigkeiten zur Ermöglichung dieses Wirkungskreises. Für die rechtliche Umschreibung des Wirkungskreises der berufsständischen Körperschaften bieten sich verschiedene Rechtsfiguren dar. Gewisse Angelegenheiten können sozusagen in den selbständigen Wirkungskreis der berufsständischen Körperschaften gestellt werden, womit ihnen an heim gestellt wäre, ob und wie sie diese Aufgaben erfüllen. Inhaltlich handelt es sich hierbei um die Interessenvertretung des Berufsstandes im weitesten Sinn, jedoch ohne Inanspruchnahme behördlicher Mittel. Andere Angelegenheiten können sozusagen den übertragenen Wirkungskreis bilden, der somit nicht nur inhaltlich festgelegt, sondern auch zugleich zum Gegenstand einer Rechtspflicht gemacht werden müßte; dies um so mehr, wenn diese Angelegenheiten bisher schon zum Wirkungskreis irgendeiner anderen öffentlichen Körperschaft gehörten und sich nun diese Körperschaft mit den berufsständischen Körperschaften in ihre bisherigen Aufgaben teilen oder gar diese Aufgaben den berufsständischen Körperschaften zur ausschließlichen Besorgung überlassen soll. Jede derartige Kompetenzverschiebung bedingt naturgemäß Beschreitung des Gesetzgebungsweges. Die Angelegenheiten nun, die den berufsständischen Körperschaften übertragen werden, können zu ihrer ausschließlichen Domäne gemacht werden oder ihnen nur mit der Einschränkung überlassen werden, daß die berufsständische Körperschaft

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gemeinrechtliche Gesetze vollzieht. Gerade dieser Kompetenztypus: gesamtstaatliche Gesetzgebung, berufsständischer Gesetzesvollzug, und die denkbare Abwandlung dieses Kompetenztypus: gesamtstaatliche Grundsatzgesetzgebung und berufsständische Ausführungsgesetzgebung sowie Voll ziehung können ein großes Anwendungsbereich gewinnen, wenn die berufsständischen Körperschaften in zunehmendem Maß - die Entwicklung kannja etappenweise vor sich gehen - auf dem Gebiet der Berufsverwaltung ein wesentliches Stück staatliches Imperium erlangen sollen.

Die verbreitete Vorstellung, als ob den einzelnen Berufsständen die Gestaltung ihres Berufsrechtes zur freien Selbstbestimmung überlassen werden könnte, oder gar die Annahme, daß die Berufsstände das Berufsrecht "kraft eigenen Rechtes" erlassen würden, beruht auf einem völligen Verkennen des gesellschaftlichen Wirkungsfeldes der einzelnen Berufsordnungen. Es ist eine erstaunliche Naivität zu glauben, daß das Landwirtschaftsrecht ein Rechtsgebiet sei, das nur die Landwirte, das Forstwirtschaftsrecht ein Rechtsgebiet, das nur die Forstwirte, das Gewerberecht ein Rechtsgebiet, das nur die Gewerbetreibenden angehe, und daß dann die gesellschaftliche Harmonie hergestellt sei, wenn über diese Rechtsgebiete zwischen den unmittelbaren Interessenten, nämlich den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ein Einverständnis zustande gekommen ist. In Wirklichkeit bedeuten die Gesetze, auf denen die einschlägigen Berufsrechtsordnungen beruhen, schlecht und recht eine Auseinandersetzung zwischen den Interessen der Berufstätigen der einzelnen Berufszweige einerseits und sämtlicher nicht dem Berufszweig Angehörenden andererseits, die den Berufsangehörigen als Konsumenten im weitesten Sinn in einer zum Teil sehr abweichenden Interessenlage gegenüberstehen. Außer der Aufgabe, zwischen dem Produzenten- und Konsumenteninteresse in jedem Berufskreise zu vermitteln, hat aber die Berufsgesetzgebung oft auch die Aufgabe, die von der betreffenden Berufsbetätigung abhängigen, weder als konkretes Produzenten- noch Konsumenteninteresse fühlbaren öffentlichen Interessen meist ideeller Natur wahrzunehmen; so denkt z.B. ein Forstgesetz in erster Linie weder an das unmittelbare wirtschaftliche Interesse der Holzproduzenten und -konsumenten, sondern vielmehr an das hygienische und kulturelle Interesse der Walderhaltung. Das Bauwesen ist gewiß auch nicht eine Privatdomäne der Bauhandwerker und ihres Personals, die man der Selbstbestimmung dieser Interessenten ausliefern könnte. Mit derselben Vernunft oder Unvernunft könnte man das Unterrichtswesen der Selbstbestimmung der im Lehrberuf

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tätigen Personen überlassen. Die wenigen Beispiele zeigen, daß das Berufsrecht, und zwar vor allem dessen Setzung, teilweise auch dessen Anwendung, nicht als Privatangelegenheit der in diesem Beruf Tätigen betrachtet und behandelt werden kann, sondern daß hierbei auch Berufsfremde direkt oder indirekt partizipieren müssen, und zwar umso eher, je sozial notwendiger der Beruf ist. Dieselben Anwälte der berufsständischen Ordnung, die die Erlassung und Anwendung des Landwirtschaftsrechtes für die Landwirte, des Gewerberechtes für die Gewerbetreibenden usw. reklamieren, würden es sich wohl überlegen, die Erlassung und Anwendung des Beamtenrechtes zur ausschließlichen Aufgabe einer reinen Beamtenkammer zu machen; und doch ist es um nichts paradoxer, die berufsständischen Vertreter der Beamtenschaft selbstherrlich über den Inhalt des Beamtenverhältnisses, z.B. über das Ausmaß der Bezüge, die Dienstzeit und manches andere bestimmen zu lassen, wie wenn eine gewerbliche Berufsvertretung über die Voraussetzungen des Gewerbebetriebes und über die Berechtigungen und Verpflichtungen des Gewerbetreibenden zu entscheiden hätte. Es kommt, soziologisch gesehen, auf dasselbe hinaus, wenn Standesfremde der partikularistischen Standesgesetzgebung einer berufsständischen Körperschaft unterworfen werden, als wenn sich Klassenfremde unter die Herrschaft einer Klassengesetzgebung beugen müssen. Mit dieser Einsicht erheben sich naturgemäße Schranken der Betrauung der berufsständischen Körperschaften mit gesamtstaatlichen Aufgaben, die - übrigens durchaus im Geiste der Enzyklika - in einer von Wettbewerb und Eigennutz diktierten Wirtschaftsordnung bei der großen und verantwortungsschweren Auseinandersetzung zwischen dem bisherigen Staatsapparat und dem neuen berufsständischen Apparat wahrgenommen werden müssen, wenn die berufsständischen Körperschaften nicht, was gelegentlich selbst ihre Freunde und Anwälte besorgen?2 noch mehr als die heutigen Parlamente die Domänen einer egoistischen und materialistischen Interessentenpolitik werden und die in sie gesetzten Erwartungen eine Ethisierung des wohl für alle menschliche Zukunft unvermeidlichen Wettstreites enttäuschen soll. Erst auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den neuen berufsständischen Körperschaften und dem bisherigen Staatsapparat, der jenen in 22 Vgl. z.B. die skeptischen und warnenden Ausführungen von Karl Braunias, Das parlamentarische Wahlrecht, S. 56 ff., über die Gefahr des Interessenegoismus berufsständischer Vertretungskörper.

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mehr oder minder großem Umfang auf dem rechtlichen Weg einer gesetzlichen Kompetenzüberweisung das Feld zu räumen hätte, erhebt sich die weitere heikle und fast vergleichslose Aufgabe der Verteilung der neugewonnenen Kompetenzen auf den berufsständischen Organapparat. Hier handelt es sich im einzelnen um eine Kompetenzverteilung zwischen dem Spitzenverband und den allfälligen persönlich und örtlich beschränkten Unterverbänden, um die Kompetenzverteilung zwischen den berufsständischen Kollegien und der berufsständischen Bürokratie, endlich um die Kompetenzverteilung innerhalb der berufsständischen Kollegien. Nur der zuletzt genannten Kompetenzverteilung präludiert die Enzyklika mit den Worten: "In diesen Körperschaften liegt das Schwergewicht durchaus bei den gemeinsamen Angelegenheiten, deren bedeutsamste diese ist, die Mitwirkung des Berufsstandes zum allgemeinen Wohle des Gesamtvolkes möglichst fruchtbar zu gestalten. Angelegenheiten dagegen, die in besonderer Weise die Sonderinteressen der Selbständigen oder der Gehilfenschaft berühren, so daß ein Schutz gegen Vergewaltigung geboten sein muß, unterliegen vorkommendenfalls gesonderter Beratung und je nach der Sachlage auch getrennter Beschlußfassung .,,23 Mit dieser Richtlinie stellt die Enzyklika - vielleicht überraschend, aber durchaus nicht systemwidrig - für die Funktionenverteilung innerhalb des einzelnen Berufsstandes die Regel des Vorrangs des (sozial) weiteren Kreises vor dem (sozial) engeren Kreis auf, denn nur der weitere Kreis repräsentiert den echten berufsständischen Organisationstyp. Doch läßt sie, wie schon in anderem Zusammenhang anzudeuten war, ausnahmsweise die Methode der klassenmäßig beschränkten Berufsregelung zu. Die Frage indes, welche Angelegenheiten in besonderer Weise die Sonderinteressen der Selbständigen oder der Gehilfenschaft berühren, wird auch nicht beispielsmäßig beantwortet, so daß die sinngemäße Antwort an der Hand der allgemeinen Richtlinie: "wenn nur der Gerechtigkeit und den Erfordernissen des Gemeinwohles Genüge geschieht" zu suchen und zu finden ist. Die Interessenverquickung der Arbeitgeberschaft und Arbeiternehmerschaft der einzelnen Berufsstände wird allerdings gerade bei den wichtigsten Entscheidungen eine isolierte Entscheidung der einen Gruppe, der Maßgeblichkeit für den ganzen Berufsstand zukommen soll, schwerlich erlauben. Denn eine Angelegenheit, die in besonderer Weise die Interessen der Selbständigen berührt, wird sich auch 23 A.a.O. (FN 2), S. 117.

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auf die Gehilfenschaft auswirken und umgekehrt. Man denke z.B. - unter der Voraussetzung, daß den Berufsständen die Sozialpolitik in ihrem Berufszweig delegiert wird -, einerseits an die rechtlichen Bedingungen der Betriebseinrichtung, andererseits an Arbeitszeitvorschriften. Die Bedingungen der Betriebseinrichtung sind für den Unternehmer gewiß von eminentem Interesse - hängt doch von dem Ausmaß dieser Bedingungen unter Umständen geradezu die Rentabilität der Betriebe ab; obgleich somit in diesem Fall die Voraussetzung für die gesonderte und ausschließliche Behandlung dieser Frage durch die Arbeitgeberkurie erfüllt wäre, wird man doch nicht in einem solchen Falle die Ausschaltung der Arbeitnehmerkurie, die an derselben Frage in Hinblick auf die Sicherheit der im Betrieb Beschäftigten im hohen Maß interessiert ist, verantworten können, da ihr ja hierdurch "Schutz gegen Vergewaltigung" versagt wäre. Im umgekehrten Fall der Arbeitszeitvorschriften, die unmittelbar freilich die Arbeitsleistung der Arbeitnehmer berühren, wird man doch auch wieder nicht die Arbeitgeberschaft von jeder Mitbestimmung ausschließen können. In solchen Fällen wird man also im Geiste der Enzyklika Willensübereinstimmung der getrennt abstimmenden beiden Kurien fordern müssen. Abgesehen von der Einrichtung der Berufsstände bietet die Enzyklika wohl keine nennenswerten staatsrechtlichen Probleme. Die große Zielgebung der Sittenbesserung als Mittel der Sozialreform stellt allerdings der staatlichen Gesetzgebung wenigstens die negative Aufgabe, alle Neuerungen und sonstigen Vorschriften zu unterlassen, die die Forderung der Sittenbesserung durchkreuzen könnte?4

*** Man wird sich nach dieser Skizzierung der staatsrechtlichen Probleme, die durch die Enzyklika aufgerollt werden, fragen, welche Gedanken und Forderungen sie zur Staatsverfassung beiträgt. Eine solche Fragestellung würde aber ein Mißverständnis über die Bedeutung der Begriffe Ständeverfassung und ständische Staatsverfassung bekunden. Die Enzyklika beschränkt sich auf die Aufzeichnung von Richtlinien für eine berufsständi24 Unter diesem Gesichtspunkt muß man wohl fragen, ob unter verschiedenen, dem Geist der Enzyklika sehr wohl entsprechenden Reformmaßnahmen Österreichs die Einführung von Spielbanken der idealen Forderung "sittlicher Erneuerung" entspricht.

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sche Verfassung im Sinn einer Verfassung der Berufsstände. In diesem Zusammenhang ist das Wort Verfassung nicht in dem engen rechtswissenschaftlichen Sinne der Staatsverfassung, sondern in dem weiteren Sinne der Grundlagen oder Grundzüge einer den Staat kreuzenden oder ihm eingeordneten gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen. Der Begriff der Ständeverfassung im Sinne der Enzyklika hat somit sein Analogon in den gebräuchlichen Begriffen Kirchenverfassung, Schulverfassung, Vereinsverfassung, Wirtschaftsverfassung usw. Der Staatsverfassung als der rechtlichen Grundlegung der Staatsordnung präjudiziert die Enzyklika nur insoweit, als sie von ihr stillschweigend fordert, daß sie der vorgezeichneten berufsständischen Organisation Raum gebe. Mit dieser sinngemäßen Forderung schließt die Enzyklika allerdings eine absolute und ebenso auch eine rein unitarische und zentralistische Verfassung aus. Im übrigen hat aber die Enzyklika an dem traditionellen kirchlichen Standpunkt der Neutralität gegenüber der Staatsform, und das bedeutet zugleich der Staatsverfassung als des rechtlichen Ausdrucksmittels der Staatsform, festgehalten. Es fehlt wenigstens jeder Anhaltspunkt dafür, daß die Enzyklika des Papstes Pius XI. den Grundgedanken der Enzyklika des Papstes Leo XIII., die mit den Eingangsworten "Immortale Dei" Richtlinien für die Staatsordnung aufstellt, über Bord geworfen habe. Der Kern dieser Enzyklika ist in den Worten beschlossen: "Das Befehlsrecht aber ist an sich mit keiner Staatsform notwendig verbunden. Die staatliche Gesellschaft ist frei, die Form zu wählen, soferne sie nur geeignet ist, den gemeinsamen Nutzen und das gemeinsame Wohl zu fördern." Die Nutzanwendung dieses Grundsatzes auf die Enzyklika "Quadragesimo anno" bedeutet aber, daß es den Staaten freisteht, ob und inwieweit sie der Staatsverfassung den Charakter eines Ständestaates geben, d.h. ob und inwieweit sie den Berufsständen über das für sie geforderte innerstaatliche Wirkungsbereich hinaus die Trägerschaft oder wenigstens Teilhaberschaft der Staatswillensbildung einräumen. Gewiß kann die Idee der Ständeverfassung auch auf die Staatsverfassung ausstrahlen: formell, indem die Ständeverfassung in der Staatsverfassung verankert wird, wie auch andere Organisationsprinzipien und Organisationsformen, z.B. die Selbstverwaltung, in den Staatsverfassungen verankert zu werden pflegen; materiell in der Weise, daß die Berufsstände in irgendeiner Weise an der zentralen Staatswillensbildung beteiligt werden. Diese Übertragung oder Nutzanwendung der berufsständischen Einrichtungen auf die Staatsverfassung ist aber erst eine sekundäre und vom Papst gar nicht ausdrücklich gestellte Aufgabe, hinter der die eigentliche Problemstellung der Enzyklika,

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die Einrichtung einer zwischen Staat und Individuum vermittelnden gesellschaftlichen Organisation weder übersehen noch verdunkelt werden darf. Diese Aufgabe ist zum Unterschied von allen gesetzgeberischen Problemen der Gegenwart, wenn man sich streng an den neuartigen Ständebegriff und das originelle berufständische Programm der Enzyklika hält, geschichtlich vorbildlos und in dieser ihrer Eigenart ein gesetzgeberisches Werk, das nur bei voller Einsicht in die Verwickeltheit der Probleme und bei unbeirrbarer Zielstrebigkeit in der Richtung des von der Enzyklika angestrebten Gesellschaftsideals von Meisterhand gemeistert werden kann.

Ein tschechisches Zeugnis für Österreich und das Deutschtum Die jüngste Demütigung, welche die älteste deutsche Universität durch die Wegnahme der ehrwürdigen Universitätsinsignien über sich ergehen lassen mußte, hat wiederum den ganzen Jammer der deutschen Minderheiten offenbar gemacht, der in dem unglücklichen Kriegsausgange und in den zumindest für die deutschen Minderheiten das Kriegsergebnis verewigenden Friedenschlüssen seine Ursache hat. In den nichtdeutschen Ländern findet man sich aber, soweit man für Minderheitenfragen überhaupt Interesse und Verständnis hat, mit solchen Erscheinungen durch die Vorstellung ab, daß nun eben die Deutschen, nachdem sie jahrzehntelang anderen Nationen ihren Willen aufgezwungen hätten, unter das Rad der Geschichte gekommen seien. Die geschichtliche Schaukelbewegung habe einfach bisherige Herren des Landes, wie etwa die Sudetendeutschen, aus ihrer Herrschafts stellung verdrängt und der bisher unterjochten Minderheit die Herrschaftsrolle zugewiesen. Solchen Vorstellungen begegnet man übrigens nicht bloß im voreingenommenen fremdsprachigen Ausland, wie etwa in den spannenden Charakterbildern "Europäische Diktaturen" von Carlo Graf Sforza, sondern selbst in Schweizer Stimmen, die bei grundSätzlichem Streben nach Objektivität die im Vergleiche mit ihren heimischen Staatseinrichtungen relativ autoritäre Gestaltung des alten Österreich einfach als nationales Herrschaftsmittel, als Technik der Vorherrschaft der Deutschen über die nichtdeutschen Nationen auslegen. Ja selbst reichsdeutsche Stimmen könnte man anführen, die die Lage der nichtdeutschen Nationalitäten in Österreich etwa nach der unleugbar zurückgesetzten Stellung der relativ verschwindenden polnischen Minderheit in Preußen beurteilt haben.

Sudetendeutschland. Zeitschrift der sudetendeutschen Freiheitsbewegung, 16. J g. (1935), Folge 2/3, S. 17-20.

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In der internationalen Diskussion der Minderheitsfragen geschieht nun aber unstreitig zu wenig, um der bewußten oder unbewußten Annahme entgegenzutreten, als sei das gegenwärtige Schicksal der deutschen Minderheiten die Erfüllung einer Forderung nach ausgleichender Gerechtigkeit. Man müßte es sozusagen in die Welt hinausschreien, daß dieser Versuch der Legitimation nationaler Zurücksetzung aufGeschichtslügen beruht, und daß zumindest die Lage der nichtdeutschen Minderheiten im österreichischen Nationalitätenstaat, höchstens die Ruthenen ausgenommen, die den Polen zuliebe zurückgesetzt waren, eine solche gewesen ist, daß die heutigen deutschen Minderheiten wenigstens in sämtlichen Sukzessionsstaaten des heutigen Österreich die Anwendung des Rechtes und der Praxis der Monarchie auf sie als wahre Befreiungstat begrüßen würden. Eine solche publizistische Unterstützung des nationalen Existenzkampfes dürfte sich aber auch kein Mittel entgehen lassen, welches die wahre, wenngleich gewiß nicht immer allen nationalpolitischen Erwartungen entsprechende Lage der nichtdeutschen Nationalitäten Österreichs ins Licht zu rücken vermöchte. Würde zum Beispiel die nach Objektivität strebende fremdnationale Kritik an unseren Verhältnissen die Tonart, die so ziemlich sämtliche österreichischen Nationalitäten durch ihre Repräsentanten im Reichsrat und in den Landtagen durch Jahrzehnte bei den verschiedensten Anlässen geführt haben, als Beweis einer den nationalen Willen mundtot machenden Unterdrückung deuten?! Würde eine Geschichte des Regierungskurses der nichtdeutschen Minister des alten Österreich, der sich zur Genüge in "Bände sprechenden" Staatsakten, Sprachenverordnungen usw. manifestiert hat, ihre Rolle etwa mit der der" aktivistischen" Minister vergleichen lassen, deren" Aktivismus" am besten nach Art des lucus a non lucendo zu erklären ist? Von einem womöglich noch deutlicher sprechenden Zeugnis für die wahre Stellung der tschechischen Nation im alten Österreich soll im folgenden die Rede sein. Der besondere Reiz und die gesteigerte Beweiskraft dieses Zeugnisses rührt daher, daß es eine Reihe hochangesehener, von berechtigtem Nationalgefühl erfüllter tschechischer Bürger der Monarchie gewissermaßen unfreiwillig abgelegt haben, nicht zum Ruhme des Staates, in dem sie lebten, sondern zur Ehre ihres Volkes, dem sie angehörten und heute noch meistens angehören. "Das böhmische Volk", so heißt eine glänzend ausgestattete Festschrift mit dem Untertitel "Wohngebiet, körperliche Tüchtigkeit, geistige und materielle Kultur", die in Prag im Jahre 1916 Dr. Zdenko V. Tobolka in Verbindung mit einer großen Zahl namhafter tschechi-

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scher Publizisten herausgegeben hat. Wer das Werk, das die sprechendste Gegenpropaganda gegen die Geschichtslüge vom "Völkerkerker Österreich" und der Unterdrückerrolle der Deutschen Österreichs darstellt, studiert hat, begreift, daß es heute in der Tschechoslowakischen Republik nicht mehr anzutreffen ist. Der Inhalt des Werkes widerlegt auch die an sich mögliche Deutung, daß es sich um eine unter einem gewissen Druck entstandene patriotische Gelegenheits- und Gefälligkeitsschrift handle, die etwa dazu bestimmt gewesen sei, den Eindruck des militärischen Verhaltens gewisser tschechischer Truppenteile überwinden zu helfen. Der ganze Tenor des Werkes ist der einer tschechisch-nationalen und nicht einer österreichischen Bekenntnisschrift. Die tschechische Auslandspropaganda hat bekanntlich während des Krieges der öffentlichen Meinung in den alliierten und assoziierten Staaten die Vorstellung vom "Völkerkerker Österreich" eingehämmert. Eine Resonanz dieser Propaganda war namentlich die berühmte, in Rom beschlossene Note der Westmächte an Wilson, die als Friedensprogramm unter anderem festlegt: "Befreiung der Italiener, Slowenen, Rumänen und Tschechoslowaken von fremder Oberhoheit." Und der französische Außenminister Pichon richtet am 29. Juni 1918 an die damals zwar noch nicht existente, nichtsdestoweniger aber von Frankreich als verbündeter Staat anerkannte Tschechoslowakei eine Note folgenden Inhalts: "Im Namen der Regierung spreche ich den aufrichtigsten und wärmsten Wunsch aus, der tschechoslowakische Staat möge ... der unüberschreitbare Wall gegen germanische Angriffe und ein Friedensfaktor in dem auf der Grundlage der Gerechtigkeit und der Rechte der Nationen neu aufgebauten Europa werden." Österreich war eben nach der Version der alliierten und assoziierten Mächte, die sie von der tschechischen Auslandspropaganda übernommen hatten, ein ständiger Widerspruch gegen diese "Rechte der Nationen" gewesen. Man höre, was dagegen die Apologeten des Tschechentums in dem außenpolitisch tendenzlosen Sammelwerk "Das böhmische Volk" (richtig müßte es natürlich "Das tschechische Volk" heißen. Anm.) sagen! Sie wollen mit ihrer gemeinsamen Arbeit nichts anderes als "daß man in den unserer Sprache nicht kundigen Kreisen über das böhmische Volk gerecht und so urteile, wie es vermöge seiner Leistungen und auf dem Gebiete der materiellen, geistigen und sittlichen Aufklärungsarbeit ver-

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dient". Anton Bohdc stellt in dem Einleitungsartikel an der Hand von überzeugendem statistischen Material fest, daß Deutsche und Tschechen die "beiden kulturell und wirtschaftlich fortgeschrittensten Völker der ganzen Monarchie sind". In gewisser Hinsicht gebühre sogar den Tschechen ein kultureller Vorrang. "Die amtliche Statistik gibt selbst zu, daß das böhmische Volk unter allen österreichischen Völkern in bezug auf die Kenntnis des Lesens und Schreibens überhaupt an der ersten Stelle steht." Und stolz schließt der Verfasser diese Betrachtungen mit der Bemerkung, daß diese Daten über die Bildung der breiten Volks schichten die sicherste Gewähr böten, "daß das nationale Leben und die böhmische nationale Kultur auf guten Fundamenten beruhen". Ein wirklich unterdrücktes Volk kann nun aber schwerlich, trotz aller Begabung und Lebenstüchtigkeit, die den Tschechen kein Vernünftiger in Abrede stellen wird, dem Herrenvolke ebenbürtig sein. Das behauptete Bildungsniveau kommt nicht wie ein Wunder zugeflogen, sondern ist, wie wir sehen werden, die Frucht eines hochentwickelten nationalen Bildungswesens. Mit begründetem Stolz werden in behaglicher Breite in einzelnen Essays die Leistungen des böhmischen Volkes auf dem Gebiete der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik dargestellt und dabei, unbeschadet der zwischendurch anerkannten Lehrmeisterrolle der Deutschen, die tschechischen Eigentümlichkeiten dieser Leistungen ins Licht gerückt. Jeder gerecht denkende Deutsche wird diese kulturellen Hochleistungen neidlos anerkennen. Ja mehr als dies: Wer seine deutschen Meister liebt, wird sich beispielsweise von vielen Klängen Anton Dvoraks, trotz deren Originalität, zutiefstgewissermaßen verwandtschaftlich - berührt fühlen. Die Deutschen dürfen aber wohl für ihre Anerkennung dieser Leistungen von der Gegenseite die Anerkennung erwarten, daß dem Tschechenturn im gemeinsamen Staatsverbande die ungehinderte Entwicklungsmöglichkeit zu solchem kulturellen Niveau geboten war. Es macht einen großen Unterschied aus, ob ein Minderheitsvolk die unter günstigeren politischen Verhältnissen erworbene Kultur lediglich zu behaupten hat oder ob eine Nation in einem überwiegend fremdnationalen Staat erst ihre nationale Kultur zu schaffen hat. Diese Möglichkeit hat aber das alte Österreich dem tschechischen Volke in einem Maße geboten, wie es wohl keiner nationalen Minderheit, mit Ausnahme der schweizerischen Minderheiten, beschieden ist. Beweis dafür der vom Standpunkt des Minderheitenproblems interessanteste und aufschlußreichste Artikel über das böhmische Schulwesen und die böhmischen Institute für

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Volkserziehung von Professor Ottokar Kadner! Unumwunden gibt der Verfasser zu, daß das Aufblühen des böhmischen Schulwesens den österreichischen Schulgesetzen des Jahre 1869 zu verdanken sei; das Verdienst um deren Durchführung gebühre in erster Reihe den Deutschen, während sich die Slawen vom Beginn an zu ihrem eigenen Nachteil feindselig oder wenigstens passiv gegen die Bestimmungen dieser Gesetze verhalten hätten. Erst von etwa 1880 an hätten sich die Tschechen bemüht, das durch eigenes Verschulden für die Entwicklung ihres Volksschulwesens Versäumte nachzuholen. Zur Berichtszeit (1916) gab es 3359 Schulen mit böhmischer, 2334 Schulen mit deutscher Unterrichtssprache. Wenn der Verfasser findet, daß das Verhältnis 59:41 "nur entfernt" dem Verhältnis der Bevölkerung beider Nationen im ganzen Lande (63:37) entspreche (wobei er allerdings zugibt, daß sich die tschechischen Schulbezirke meist in dicht bevölkerten Gegenden, die deutschen dagegen in minder gangbaren Berggegenden befinden), so ahnt er noch nichts von den Möglichkeiten der Zurücksetzung und Entrechtung nationaler Minderheiten auf dem Gebiet des Schulwesens, die in der sogenannten, von den "Friedensverträgen" hergestellten "Ordnung der Gerechtigkeit" wurzelt. Die Lehrerzahlen sprechen übrigens auch eine beredte Sprache: An den öffentlichen Schulen Böhmens stehen 10.338 tschechischen 6382 deutsche Lehrer gegenüber. Zusammenfassend rühmt sich unser Gewährsmann, daß man bei einem Vergleich des böhmischen Volksschulwesens mit jenem der anderen österreichischen Völker eingestehen müsse, "daß unser Schulwesen neben dem deutschen aufs beste eingerichtet ist und entschieden am höchsten steht". Der größte Mißstand des böhmischen und überhaupt österreichischen Schulwesens bestehe in dem Mangel einer gesetzlichen Norm über die allgemeine Ausbildung der nationalen Minoritäten in gemischten Gegenden - ein Mißstand, der gleicherweise auch die Deutschen betroffen hat. Insoweit bleibe zur Erhaltung der böhmischen Minoritätsschulen nur der Weg der Privatmittel und der Arbeit der nationalen Schutzvereine, eine Arbeit, die denn auch von tschechischer Seite in größtem Maßstab geleistet wurde. Scharf lehnt er die Versuche ab, den Utraquismus in den Schulen einzuführen und zu befestigen - also eine Lösung, die die meisten deutschen Minderheiten von heute als wahre nationale Erlösung begrüßen würden.

Auf die anderen Schulen übergehend, tadelt der Verfasser gelegentlich auch wiederum seine Landsleute, wenn sie die infolge einer richtigeren Bewertung des Schultyps rührigeren Deutschen einen Vorsprung gewinnen 12 A. J. Merkl

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ließen. Er muß zugeben, daß ein im böhmischen Landtag schon im Jahre 1861 eingebrachter Antrag auf volle Gleichberechtigung der beiden Sprachen im Mittelschulwesen im Jahre 1866 zum Gesetz erhoben wurde, findet aber mit Recht Rückschläge dieses Prinzips zu bedauern. Immerhin darf er feststellen, daß für das Schuljahr 1914/15 die relative Zahl der böhmischen Mittelschulen (116) im Verhältnis zu allen österreichischen Mittelschulen "ungefähr dem Verhältnis der Bevölkerung böhmischer Nationalität zur gesamten Population entspricht". Er darf auch für seine Landsleute das Verdienst in Anspruch nehmen, daß sie die ersten waren, die Realgymnasien als Typen der zwischen Gymnasien und Realschulen vennittelnden Anstalt errichtet haben, daß sie ferner auf dem Gebiete des Mittelschulwesens für Mädchen den Weg für andere Nationen Österreichs geebnet haben. Wurde doch das erste Privatmädchengymnasium von Österreich im Jahre 1890 in Prag (selbstverständlich mit tschechischer Unterrichtssprache) errichtet. Auch in bezug auf das Fachschulwesen findet er trotz der Erschwerung durch die Gleichgültigkeit und Ungunst der Bevölkerung (nicht also durch politische Hindernisse), daß, "ausgenommen Niederösterreich, unsere Länder unter allen Ländern Österreichs am besten in dieser Hinsicht ausgestattet sind". 1912 bestehen sieben zahlreich besuchte tschechische Handelsakademien und über zwanzig niedere Handelsschulen, "die sich im Gegenteil mühsam Beliebtheit und Anerkennung erkämpfen müssen". Bemerkenswert ist daran das Geständnis, daß nationale Schulen da sind, für die erst allmählich durch Propaganda ein Bedürfnis geschaffen werden muß. Kunstakademie, Kunstgewerbeschule und Musikkonservatorium "sind bisher alle utraquistisch", entsprechen also offenbar nicht dem schul politischen Ideale des Verfassers, aber doch wohl dem kulturellen Bedürfnis seiner Nation. Mit dem Jahre 1848 begann die allmähliche Utraquisierung der Prager Universität. Die unter dem Ministerium Taaffe vollzogene Trennung der Universität in zwei selbständige Anstalten widerspricht allerdings dem tschechischen Wunsche, "daß auf dem gemeinsamen Boden nebeneinander Lehrkanzeln in beiden Sprachen bestehen". Mit begreiflichem Bedauern muß der Verfasser feststellen, daß alle Bemühungen um eine zweite böhmische Universität bisher vergeblich waren - trotz grundsätzlicher Anerkennung der Berechtigung dieser Forderung von Seite der Regierung und der kirchlichen Kreise. Der Bestand einer zweiten technischen Hochschule mit tschechischer Unterrichtssprache ist ihm kein genügender Ersatz. Denn die junge Technik in Brünn sei noch unvollständig und ungenügend ausgestattet, weshalb sie die geringste Hörerzahl unter allen österreichi-

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sehen technischen Hochschulen aufweise. Abschließend gibt der Verfasser Einblick in das hochentwickelte und weitverzweigte nationale Volksbildungswesen. Auch das rosige Bild, das die Mitarbeiter des Werkes vom Wirtschaftsleben ihres Volkes entwerfen, ist nicht belanglos, denn es beweist, daß die Tschechen ungehindert auch ihre Zivilisation zur Blüte reifen lassen und die Früchte ihrer energischen Arbeit selbst genießen konnten. Die eindrucksamste Sprache über die wahre rechtliche und politische Situation der Tschechen im alten Österreich spricht indes der Schlußartikel über die "böhmische Selbstverwaltung im Königreiche Böhmen" aus der Feder des Privatdozenten Dr. Vaclav Joachim, der als Geschäftsführer des Verbandes der böhmischen Städte gewiß sachkundig und unabhängig genug ist, um dieses Thema maßgeblich abzuhandeln. Er schildert die Organisation der österreichischen Selbstverwaltung, die im Gesamtüberblick über die analogen europäischen Einrichtungen sehr freiheitlich erscheinen mußte, durchaus objektiv. Wenn er auch die Aufsicht der höheren Behörden sehr ausgedehnt und kompliziert findet, so stellt er doch aus seiner Erfahrung fest, daß dieses staatliche Aufsichtsrecht in der Praxis sehr selten und maßvoll gehandhabt werde, so daß Konflikte zwischen den Aufsichts- und Selbstverwaltungsbehörden tatsächlich äußerst selten sind, was übrigens auch ein Einblick in die Erkenntnisse des Reichsgerichtes erweise. (Begreiflicherweise, daja auch die Aufsichtsbehörde der Nationalität der Selbstverwaltungsbehörde angehört.) Auch dieser Gewährsmann bezeugt die starke Industrialisierung der tschechischen Bevölkerung und das damit einhergehende Wachstum und Gedeihen der tschechischen Städte. Mit Stolz bringt der Verfasser einschlägige Ziffern über die Entwicklung Prags, dessen Stadtvertretung im Jahre 1860 in die Hände der tschechischen Majorität überging. Die städtische Sparkasse von Prag ist zur größten kommunalen Sparkasse in Österreich angewachsen, die städtische Versicherungsanstalt ist die älteste städtische Anstalt dieser Art überhaupt. Die Landesbank des Königreiches Böhmen hat 563 Millionen Kronen an Kommunaldarlehen angelegt. Der Schuldenstand der Stadt Prag beträgt 1914 infolge großzügiger Investitionen allein mehr als 250 Millionen Kronen. Dem Verfasser bleibt eigentlich in bezug auf das Gemeindewesen nur das eine zu wünschen übrig, daß die Regierung das Ihre zur Schaffung Groß-Prags tue, so wie sie trotz dem Widerstreben Dr. Luegers Groß-Wien geschaffen habe. 12'

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In bezug auf die Schaffung von Kommunalverbänden hätten zwar die Deutschen die Priorität, doch seien sie von den Tschechen überflügelt worden. In den Verwaltungsausschüssen und Fachausschüssen der Kommunalverbände herrsche bei freundschaftlicher Zusammenarbeit von gewählten Funktionären und Beamten und reger Mitarbeit von Hochschulprofessoren wirksame Tätigkeit, zum Unterschied von den deutschen Verbänden, die durch politischen Hader beeinträchtigt seien. Trotz der Staatsähnlichkeit des Landes Böhmen will er die Einrichtungen der Landesverwaltung in seine Betrachtungen einbeziehen, "einerseits, weil wir Böhmen doch die Mehrheit haben, andererseits, und hauptsächlich, weil das stabile Element der autonomen Landesverwaltung, die Landesbeamten, auf welchen die eigentliche Last der ganzen Verwaltung beruht, zum größten Teil unserer Nation angehören". In diesem Zusammenhang bringt nun der Verfasser die wertvollste Feststellung des ganzen Werkes: "Unbefangene Kenner werden gewiß vorbehaltslos anerkennen müssen, daß in der autonomen Landesverwaltung in Böhmen die peinlichste Gleichberechtigung in dem äußeren sprachlichen Verkehr beobachtet wird - schriftliche und mündliche Anbringen der deutschen Minderheit werden seit jeher anstandslos angenommen und selbstverständlich auch deutsch erledigt - und daß auch in sachlicher, insbesondere finanzieller Hinsicht die deutsche Minderheit keineswegs verkürzt wird. " Läßt sich ein schlagenderer Beweis dafür vorstellen, wer die eigentlichen, wenn auch gewiß nicht unbeschränkten Herren im Lande waren, wenn sich die Tschechen ihrer Toleranz gegenüber der deutschen Minderheit rühmen können? Man stelle sich nur etwa vor, daß in irgendeinem Lande, wo die Deutschen die Rolle einer Minderheit spielen, sie in der Lage wären, sich dessen zu rühmen, daß sie in ihrem autonomen Verwaltungsbereiche der Staatsnation die volle Gleichberechtigung angedeihen lassen! Der Gedanke, daß etwa in Karlsbad oder Reichenberg Eingaben in tschechischer Sprache, in Bozen oder Meran Eingaben in italienischer Sprache von den dortigen - deutschen (!) - Stadtverwaltungen anstandslos entgegengenommen und - man höre und staune! - aus freiwilliger Toleranz in tschechischer oder italienischer Sprache erwidert werden, ist so phantastisch, daß der ungeheure Abstand zwischen der Lage der deutschen Minderheiten in nichtdeutschen Ländern und der Lage der Nichtdeutschen, insbesondere der Tschechen im alten Österreich gar nicht auszudenken ist!

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So spricht aus jeder Seite des besprochenen Werkes das hochgemute Selbstbewußtsein eines blühenden Volkes, das sich im Rahmen des Nationalitätenstaatesfrei weiß. Wir deutschen Österreicher dürfen den tschechischen Schriftstellern, deren Zeugnis im Vorstehenden der Vergessenheit entrissen wurde, wirklich dankbar sein, daß sie im Jahre 1916 unfreiwillig die späterhin verbreitete Darstellung vom "Völkerkerker Österreich" als politische Legende erwiesen haben.

Die berufsständische Verfassung Österreichs und die Arbeitnehmer Wenn die Tagung einer österreichischen Gewerkschaft am 2. Jahrestag der Verkündung der Verfassung mit Betrachtungen zu dem Thema "Berufsständische Verfassung und Arbeitnehmer" eröffnet wird, so hat dies eine tiefere Bedeutung, als wenn eine sonstige Gruppe von Staatsbürgern des heutigen Verfassungstages gedenkt. Denn es ist gerade die Neuerung dieser berufsständischen Verfassung, daß unter anderen die Gewerkschaften der Arbeitnehmer berufen sind, Bausteine der berufsständischen Ordnung und zugleich auch der staatlichen Organisation abzugeben. In der großen geschichtlichen Schaukelbewegung zwischen politischer Herrschaft und politischer Freiheit, die sich im Staatsleben als Wechsel zwischen autoritärem und demokratischem Prinzip auswirkt, hat bekanntlich in Mitteleuropa spätestens im Jahre 1933 das autoritäre Prinzip die Oberhand gewonnen, doch hat sich Österreich dieser autoritären Staatengruppe, der insbesondere auch unsere bei den großen Nachbarstaaten im Norden und Süden angehören, nicht vorbehaltlos, sondern mit der erklärten Absicht angeschlossen, der demokratischen Idee der Mitbestimmung des Volkes am Staatsleben in neuer Gestalt, durch Einsetzung der Berufsstände bei der Staatswillensbildung, Raum zu geben. Mit der Verwirklichung dieses Gedankens wird Österreich eine Verbindungsbrucke zwischenjenen Staaten schlagen, die an den überkommenen Formen der Demokratie nach Art der Schweiz und der skandinavischen Staaten, Frankreichs und Großbritanniens unverrückbar festgehalten haben, und jenen anderen Staaten, die, wenngleich auf entgegengesetzten Weltanschauungen und politischen Idealen fußend, wie Deutschland, Italien und Rußland, eine autoritäre, d.h. von der Einsetzung und Zustimmung von Seite der gleichberechtigten Volksgenossen unabhängige Staatsführung eingerichtet haben.

Auszug aus einem Vortrag auf der Tagung der Gewerkschaft, abgedruckt in: Der HandeIsangestellte. Monatsschrift der Gewerkschaft der Angestellten des Handels 1936, S. 101-103.

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Die berufsständische Idee, die der neuen österreichischen Verfassung vom 1. Mai 1934 das Gepräge gibt, ist katholischen Ursprunges. Diese Herkunft, zu der sich die Verfassung in ihren Eingangsworten deutlich bekennt, schließt unsoziale und klassenkämpferische Möglichkeiten aus, die an und für sich mit einer ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung nicht unvereinbar wären, und ist Wegweiser zu einer Lösung der ständischen Probleme, die es der Arbeitnehmerschaft gewiß ermöglicht, sich sozusagen mit beiden Füßen auf die neue politische Plattform zu stellen. Man muß sich nur vor allem klar werden, daß das Programm einer ständischen Gesellschaftsordnung, wie es in den päpstlichen Enzykliken "Rerum novarum" vom 15. Mai 1891, und "Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931 entwickelt ist, mit der geschichtlichen Ständeordnung, wie sie auch im deutschen Staat des Mittelalters und der früheren Neuzeit verwirklicht war, nicht mehr als den Namen gemeinsam hat. Zugleich die ständische Vergangenheit wiedererwecken und dem ständischen Programm der Päpste dienen zu wollen, können sich nur Wirrköpfe einfallen lassen. Am Berufsständebegriff des katholischen Naturrechtes gemessen, ist der geschichtliche Ständestaat nicht anders als der liberal-kapitalistische Staat, ein Klassenstaat, in dem die privilegierten "Stände", in Wahrheit zum guten Teile Klassen, den nicht privilegierten Ständen oder richtigen Klassen ohne jede Spur jenes Bandes gesellschaftlicher Solidarität, das den päpstlichen Enzykliken vorschwebt, einander gegenübergestanden sind. Die Arbeitnehmerschaft hat allen Grund, vor jeglicher Trübung der Ständeidee durch geschichtliche Vorbilder auf der Hut zu sein und jene sozialste Gestalt der Ständeidee, zu der sich auch die österreichische Verfassung bekennt, nämlich das Ständeprogramm der Enzykliken, festzuhalten, welche sich das heute fast noch utopisch anmutende Ziel setzt: Überwindung des Kapitalismus durch Entproletarisierung des Proletariats, Aufhebung des Klassengegensatzes durch organisierte Solidarität von Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft. Das päpstliche Rundschreiben vom 15. Mai 1931 hat sich auf den Boden des Ständebegriffes gestellt, den Ignaz Seipel in seinem bekannten Werk "Der Kampf um die österreichische Verfassung" vertreten hat, wo er sagt: "Der Begriff des Standes verträgt sich in keiner Weise mit dem der Klasse." Der Klasse, als einer horizontalen Aufspaltung der Gesellschaft, stellt er eine vertikale Gliederung der Gesellschaft gegenüber, "indem alle, die durch dasselbe Arbeitgsgebiet verbunden sind, von zuunterst bis zuoberst einen Stand bilden". In gleichem Sinne erklärt das päpstliche Rundschreiben die

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Lösung der sozialen Frage durch die Überwindung des Gegensatzes der Klassen bedingt, und die Erreichung dieses Zieles "kaum anders möglich als dadurch, daß wohlgefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus sich bilden, also Stände, denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört". Die Zugehörigkeit zum gleichen Beruf, gleichviel ob wirtschaftlicher oder außerwirtschaftlicher Art, lasse die Menschen zu Berufsständen oder berufs ständischen Körperschaften sich zusammenschließen. Was das päpstliche Rundschreiben über die Schaffung und Organisation dieser Berufsstände sagt, sind allerdings nur Richtlinien, die einer sehr verschiedenen Ausführung Raum geben. Man muß sich peinlich hüten, in das Rundschreiben mehr hineinzulegen, als es in seiner knappen Rahmenordnung der berufsständischen Gesellschaft ausspricht, und wird in vielen Berufungen auf die Enzyklika rein persönliche Wünsche des Zitators erkennen können. Daran läßt aber die Enzyklika keinen Zweifel, daß die Berufsstände weder einseitige Werkzeuge zum Vorteil einer einzelnen sozialen Gruppe gegenüber der übrigen Gesellschaft, noch auch Werkzeuge zur einseitigen Durchsetzung von Sonderinteressen der "Selbständigen" oder der "Gehilfenschaft" sein dürfen. Dem Papste ist in jener Richtung vor allem darum zu tun, daß der Berufsstand für das Wohl des Gesamtvolkes möglichst fruchtbar gemacht werde, in dieser Richtung, daß Schutz gegen Vergewaltigung geboten werde, wozu denn auch für den Fall überwiegender Sonderinteressen der Selbständigen oder der Gehilfenschaft gesonderte Beratung und getrennte Beschlußfassung gefordert wird. Eine Einrichtung von der Art des Gewerkschaftsbundes liegt durchaus in der Richtung dieser Forderung als Querverbindung zwischen der Arbeitnehmerschaft verschiedener Berufsstände und erfährt durch sie auch für jenen Endzustand der berufsständischen Neuordnung ihre Rechtfertigung, wo die Arbeitgeberschaft und Arbeitnehmerschaft der gleichen Berufsgruppe in eine echte berufsständische Vereinigung zusammengefaßt sein werden. Dies um so mehr, als die Enzyklika auch außerhalb der Berufsstände ein reich gegliedertes Organisationswesen für wünschenswert erachtet. Dem Programm der päpstlichen Rundschreiben, wonach die Berufsstände außerstaatliche gesellschaftliche Verbände sein sollen, die den Staat von entbehrlichen Aufgaben entlasten sollen, entspricht wohl eher der Grün-

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dungs weg durch Selbstbestimmung aus der Mitte der Berufsangehörigen. Doch wird auch ein staatlicher Gründungsakt, wofern er nur nicht allzusehr der Organisation und Funktion der Berufsstände vorgreift, nicht ausgeschlossen. Die österreichische Verfassung hat diesen zweiten Weg beschritten, und mußte dies, wenn überhaupt Berufsstände ins Leben gerufen werden sollten. Denn die Erfahrung des bisherigen sogenannten liberalen Staates hat deutlich genug gezeigt, daß aus Privatinitiative, sei es auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite, in der heutigen Sozialverfassung niemals eine berufsständische Ordnung entstehen würde, obwohl der durchaus nicht organisationsfeindliche bisherige Staat schon durch die verfassungmäßige Gewährleistung der Vereinsfreiheit jegliche rechtliche Möglichkeit geboten hatte, daß sich seine Bürger nach jedem beliebigen und so auch nach dem berufsständischen Prinzip in freien Organisationen zusammenfinden. Die katholische Politik in Österreich hat sich des altüberlieferten und in der Gelehrtenstube wohl gepflegten Gedankengutes einer berufsständischen Ordnung ernstlich erst in dem Jahre politischer Hochspannung in Europa, 1933, besonnen, und hatte in dieser kritischen Zeit glücklicherweise bereits Gelegenheit, sich die ausgereifte Fassung des berufsständischen Gedankens durch das vielgenannte päpstliche Rundschreiben zu eigen und zunutze machen zu können. Dieses zeitliche Zusammentreffen war gewiß auch ein ungewöhnlicher Glücksfall vom sozialpolitischen Standpunkt aus, weil hiedurch das berufsständische Staatsprogramm an dem unter diesem Gesichtspunkt vorteilhaftesten Vorbild orientiert worden ist; wenn irgend ein ständisches Gesellschafts- und Staatsideal, dann kann wohl nur das des Christentums die soziale Gerechtigkeit auf Erden verwirklichen. Der erste ständische Einschlag im österreichischen Verfassungsleben nach der jahrhundertelangen absolutistischen Ära, der die Stände in Wirklichkeit entmachtet und dem Liberalismus nur die Aufgabe der Liquidierung schattenhafter Reste vergangener Glanzzeit übriggelassen hatte, findet sich im Verfassungsentwurf der Abgeordneten Michael Mayr, Födermayr, Miklas usw. vom 14. Mai 1919. Dieser Entwurf sieht neben dem Volkshaus ein Ständehaus vor, in das einerseits die Landtage, andererseits die "Räteorganisationen als Berufsorganisationen" Vertreter zu entsenden haben. Dieses Ständehaus sollte sogar in einem die bei den Rollen des Bundesrates, nunmehr Länderrates, und eines Ständerates spielen, für den die wild gewachsenen Räte der Nachkriegszeit die Unterlage und wohl der in Bildung begriffene deutsche Reichswirtschaftsrat ein Vorbild sein sollte. Der zweite

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christlichsoziale Verfassungsentwurf vom 5. Juni 1920 hatte jedoch den Gedanken einer Ständevertretung völlig fallengelassen und eine heute sogenannte rein formaldemokratische Zusammensetzung der Volkskammer und Länderkammer vorgesehen. Erst der Regierungsentwurf zur zweiten, am 7. Dezember 1929 zum Gesetzesbeschluß erhobenen Novelle zum Bundesverfassungsgesetz hatte auf den Gedanken einer Ständevertretung zurückgegriffen, ihn jedoch nur programmatisch durch die Ankündigung eines Länder- und Ständerates angedeutet. So blieb es denn erst der geltenden "Verfassung 1934" vorbehalten, der Ständeidee deutlichere rechtliche Formen zu geben. Von der gegenwärtigen Verfassung Österreichs werden die Stände in zweifacher Rolle eingeführt. Zunächst als Träger einer berufsständischen Selbstverwaltung, die das Gegenstück der altüberkommenen Gemeindeselbstverwaltung bilden soll. Sodann aber auch als Teilhaber der Aufgaben der Gebietskörperschaften: Bund, liinder und Gemeinden. Durch die berufsständische Selbstverwaltung, wie sie die Verfassung im Artikel 32 regelt, soll die päpstliche Forderung der berufsständischen Gesellschaftsordnung erfüllt werden, das heißt die Einrichtung gesellschaftlicher Organisationen neben dem Staat, wenn auch unter Kontrolle des Staates, die den Staat entlasten und darüber hinaus die freie und durch den Klassenkampf zerklüftete Gesellschaft in christlichem Geiste einigen soll. Durch die Teilnahme der Berufsstände und kulturellen Organisationen an der Willensbildung von Bund, Ländern und Gemeinden, und zwar im einzelnen am Bundeskulturrat (Art. 47), Bundeswirtschaftsrat (Art. 48), an den Landtagen (Art. 108), an der Wiener Bürgerschaft (Art. 140) und an den Gemeindetagen (Art. 127), soll das berufsständische Element zum Aufbau der Gebietskörperschaften eingesetzt werden. Durch diese Teilnahme des Volkes, und zwar nicht mehr wie in der überkommenen Demokratie der einzelnen rechtlich unverbundenen und nur tatsächlich durch die politischen Parteien einerseits zusammengefaßten, andererseits geschiedenen Staatsbürgers, sondern der rechtlichen Berufsverbände der Staatsbürger, soll Österreich die Eigenschaft eines Ständestaates annehmen. Das ist mehr, als was die päpstlichen Rundschreiben gefordert haben. Denn sie verlangen nur eine Reform der Gesellschaft durch Ermöglichung der Bildung von Berufsständen, jedoch gemäß dem streng aufrechterhaltenen Grundsatz der Neutralität in bezug auf die Staatsform nicht eine Übertragung oder unmittelbare Einwirkung berufsständischer Einrichtungen auf den Staatsapparat. Mit der

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Sicherstellung einer berufsständischen Ordnung hätte also die österreichische Verfassung den Forderungen der Enzykliken Genüge getan, die staatliche Gesetzgebung und Verwaltung hätte darüber hinaus ebenso autoritär gestaltet bleiben können wie in der Übergangszeit von 1933 bis 1934 oder parlamentarisch-demokratisch wie seit dem Umsturz 1918 oder auch gemischt autokratisch-demokratisch wie in der konstitutionellen Monarchie. Daß die Verfassung das berufsständische Ordnungsprinzip von seinem primären gesellschaftlichen Geltungsbereich auch auf das staatliche Leben überträgt, macht freilich die berufsständische Organisation für alle Berufstätigen doppelt entscheidungsreich, denn unter diesen Umständen entscheidet sich mit der Stellung des einzelnen Berufstätigen im Berufsstand auch sein aktiver Anteil am Staat. Die Verfassung selbst gibt auf die Frage nach der Einrichtung der Berufsstände zum Unterschied etwa von der ins einzelne gehenden Regelung der Gemeinden nur programmatisch Antwort und überläßt alle Einzelheiten der Regelung auf dem Weg der Gesetzgebung. Nur zwei knappe Gesetzesstellen innerhalb zweier Verfassungsartikel befassen sich mit der Rechtsstellung der Berufsstände. "Den Berufsständen wird durch Gesetz die Selbstverwaltung ihrer berufseigenen Angelegenheiten unter der Aufsicht des Staates ermöglicht. Die Heranbildung zum Beruf und die Berufsausübung unterliegen den Gesetzen und den auf Grund der Gesetze erlassenen Satzungen der öffentlich-rechtlichen Berufskörperschaften." (Art. 32) "Als berufsständische Hauptgruppen sind jedenfalls vorzusehen die Land- und Forstwirtschaft, die Industrie und der Bergbau, das Gewerbe, der Handel und Verkehr, das Geld-, Kredit- und Versicherungswesen, die freien Berufe und der öffentliche Dienst." (Art. 48, Abs. 4) Diese knappen Sätze machen sich naturgemäß nicht einmal die schon sehr allgemein gehaltenen Richtlinien der Enzyklika "Quadragesimo anno" über die Einrichtung der Berufsstände zu eigen, treffen aber doch sehr wichtige Rahmenbestimmungen über die berufsständische Ordnung. Vor allem ist die Frage der Organisation der Berufsstände in der Weise gelöst, daß sie keine freien gesellschaftlichen Organisationen, etwa nach der Art der vormaligen Unternehmerverbände und Arbeitnehmergewerkschaften, sondern öffentlich-rechtliche Körperschaften, und zwar im besonderen Selbstverwaltungskörper sein sollen, also Rechtseinrichtungen von ähnlicher Natur, wie sie bisher nur den Gemeinden, den verschiedenen Kammern (Arbeiter- oder Handelskammern, Ärzteund Rechtsanwaltskammern usw.) und auch den staatlich anerkannten Kir-

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ehen und Religionsgesellschaften eigentümlich waren. Unter den genannten Körperschaften muß eine Berufskörperschaft insbesondere den bisherigen Kammern verwandt sein, weil sie nicht wie eine Gemeinde alle Bewohner eines bestimmten Gebietes, sondern Menschen mit bestimmten persönlichen Eigenschaften, nämlich von gleicher Berufszugehörigkeit, zusammenfaßt. Mit der verfassungsmäßigen Kennzeichnung des Berufsstandes als Selbstverwaltungskörper ist zugleich ausgemacht, daß die neuen Berufsverbände einen offiziellen obrigkeitlichen Charakter haben. Diese Eigenschaft schließt es aus, daß die Gründung des Berufsstandes so wie die eines vereinsmäßigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbandes dem Belieben irgendwe1cher Interessenten anheimgestellt bleibt, sondern bedingt einen gesetzlichen Gründungsakt, denn es kann nicht in Schwebe bleiben, ob ein Verwaltungsträger seinen gesetzlichen Aufgaben gerecht zu werden in die Lage kommt oder auch nicht. Dagegen hat die Verfassung die Frage offengelassen, ob die Mitgliedschaft im Berufsstand freiwillig oder zwangsweise begründet wird, zwei Möglichkeiten, die bei den verschiedenen Personenverbänden verschieden gelöst werden. Die wichtige Organisationsfrage des Wirkungskreises der Berufsstände ist in der Verfassung kaum andeutungsweise gelöst, denn wenn nach Vorschrift der Verfassung den Berufsständen die Selbstverwaltung ihrer "berufseigenen Angelegenheiten" zu ermöglichen ist, so zeigt das reiche Schrifttum über die Berufsstände die mannigfaltigsten Auffassungen über den Kreis der berufseigenen Angelegenheiten. Zwischen der Beschränkung der Berufsstände auf eine berufsständische Interessenvertretung einerseits und der Übernahme weiter staatlicher Verwaltungsbereiche, so insbesondere der Sozialpolitik einschließlich der Sozialversicherung andererseits, wie sie im berufsständischen Schrifttum vielfach gefordert wird, liegt ein Spielraum, innerhalb dessen für die Gesetzgebung zahllose Abstufungen möglich sind. Dabei ist zu beachten, daß eine engere Interessentengruppe nur zu leicht bestimmte Fragen als Angelegenheiten ihres ureigensten Interessses zu betrachten geneigt ist, obwohl durch deren Regelung auch andere Kreise, ja die Allgemeinheit mitbetroffen werden. So zeigt es sich, daß das Gewerbewesen, Industriewesen, Land- und Forstwirtschaft durchaus nicht bloß für die auf diesen Wirtschaftsgebieten Beschäftigten, sondern auch für die Nachbarberufe, ja selbst für alle Konsumenten von Belang sind und daher nicht einfach den Berufsständen als ausschließlicher Wirkungskreis überlassen werden können. Die Arbeitnehmerschaft wird sich wohl erst auf

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Grund der Erfahrungen mit der berufsständischen Verwaltung schlüssig werden, welche sozialen Aufgaben sie der berufsständischen Sonderverwaltung vorbehalten oder unter dem Gesichtspunkt des Konsumenteninteresses oder des Allgemeininteresses von beruflich neutraler Seite behandelt wissen will. Der weiteren Organisationsfrage, welche Berufsgruppen als Berufsstände organisiert werden sollen, hat die Verfassung durch die Aufzählung von sieben berufsständischen Hauptgruppen vorgegriffen. Aus dieser Aufzählung kann man folgern, daß zumindest die Angehörigen dieser Berufe in je einer Berufskörperschaft zusammengefaßt werden sollen, wobei der Berufsgliederung innerhalb dieser Hauptgruppen durch fachliche Unterverbände innerhalb des Spitzenverbandes beliebig Rechnung getragen werden kann. Wer aber die ausgeklügelten Vorschläge der berufsständischen Literatur zur Aufteilung der Bevölkerung auf die Berufsstände kennt, wird der Verfassung zubilligen müssen, daß sie mit ihrer Gruppierung die wirklichkeitsnächste Lösung gefunden hat. Es ist in der Natur einer solchen Gruppierung gelegen, daß sie wenigstens in einem Grenzbereich etwas willkürliche Scheidewände aufrichtet, so etwa wenn Handel und Gewerbe mit ihren vielen Berührungspunkten zerrissen und verschiedenen Berufsständen zugewiesen werden, oder wenn das Dienstverhältnis bei einer öffentlichen Körperschaft dafür entscheidend ist, daß ein wirtschaftlich tätiger Angestellter von seinem Kollegen im Privatdienstverhältnis berufsständisch geschieden wird. Die anderen Schwierigkeiten, die mit der Aufgabe der Aufteilung der Berufstätigen auf schablonenhaft umschriebene Berufskreise verbunden sind, so etwa die Behandlung der Personen mit Doppelberuf und vieles andere, können hier nicht einmal angedeutet werden. Inwieweit die päpstlichen Rundschreiben für die Lösung dieser Frage Fingerzeige gegeben haben, habe ich in meiner Abhandlung "Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika 'Quadragesimo anno'" (Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 14 [1934], S. 208-239) untersucht. Einer Organisationsfrage der Berufsstände hat indes das päpstliche Rundschreiben mit nicht überbietbarer Eindeutigkeit den Weg gewiesen: Wenn die österreichische Verfassung Berufsstände gemäß dem kirchlichen Programme einrichten will, so müssen diese Organisationen die Angehörigen eines Arbeitszweiges ohne Rücksicht auf ihre Stellung als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber zusammenfassen, unbeschadet einer Sonderstellung der bei den Interessentengruppen innerhalb des Berufsstandes nach Art einer Sektionierung und aller erdenklichen Siche-

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rungen vor einer Vergewaltigung der einen Gruppe durch die andere. Erst von dieser Zusammenfassung, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Schicksalsgenossen einer organisatorischen Einheit macht, erwartet sich der Papst die befriedende Wirkung mit dem Endergebnis der Überwindung des Klassenkampfes. Es übersteigt das mir gesetzte Thema und den mir zur Verfügung stehenden Raum, der Frage nachzugehen, wie die österreichische Gesetzgebung das ihr hiemit in der Verfassung vorgezeichnete Programm bisher ausgeführt hat. Nur soviel sei an dieser Stelle angedeutet, daß die Gesetzgebung derzeit im großen und ganzen bereits die zweite Etappe des Weges zur berufsständischen Gesellschaftsordnung zurückgelegt hat. Die erste Etappe der Ausführung der verbindlichen Richtlinien der Verfassung und der in ihrem Rahmen außerdem maßgeblichen Forderungen und Empfehlungen der Enzyklika bestand bekanntlich in der Zusammenfassung der Arbeitnehmer mit Ausnahme jener der Land- und Forstwirtschaft und des öffentlichen Dienstes im Gewerkschaftsbund durch die Verordnung der Bundesregierung vom 27. April 1934. Daß die berufsständische Gesetzgebung an diesem Punkte eingesetzt hat, ist eine unausgesprochene Anerkennnung der Tatsache, daß die Arbeitnehmerschaft von so außerordentlicher sozialer Spannweite am ehesten organisationsreif war. Die zweite Etappe bestand in der Einrichtung des Berufsstandes der öffentlichen Bediensteten, des Bundes der Industriellen, des Finanzbundes, des Gewerbebundes, des Handels- und Verkehrsbundes, des Berufsstandes der Land- und Forstwirtschaft. Von diesen Bünden sind der Gewerbebund, Industriellenbund, Handels- und Verkehrsbund und Finanzbund reine Arbeitgeberorganisationen und mithin organisatorisches Gegenstück des Gewerkschaftsbundes; nur freilich der Natur der Sache nach mit beruflicher Spezialisierung und, zum Unterschied vom Gewerkschaftsbund, zum Teil auf Zwangsmitgliedschaft beruhend. Der Berufsstand der öffentlichen Bediensteten steht als Organisation von beruflich Abhängigen dem Gewerkschaftsbund am nächsten. Mit der Einrichtung des Berufsstandes der Land- und Forstwirtschaft hat die Gesetzgebung die dritte Etappe der berufsständischen Entwicklung beschritten. Denn dieser echte Berufsstand stellt sich bereits als Zusammenfassung der Arbeitnehmerschaft und Arbeitgeberschaft der Wirtschaftszweige, auf denen er fußt, dar, während die vorgenannten Organisationen nur im unechten Sinne als Berufsstände bezeichnet werden können. Die Gesetzgebung hat sonach nur in einem bei aller Bedeutung dieses echten Berufsstandes verhältnismäßig kleinen Be-

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reich das Vorbereitungsstadium überschritten und das projektierte Endstadium erreicht. Die im Gewerkschaftsbund organisierte Arbeitnehmerschaft des Handels hat naturgemäß im Handels- und Verkehrsbund, der durch Bundesgesetz Nr. 303 aus 1935 organisiert ist, ihren Partner, mit dem sie unbeschadet des gewerkschaftlichen Zusammenhanges mit den anderen Arbeitnehmergruppen in einen besonderen Berufsstand zusammengefaßt werden soll. Auf die Einzelheiten der berufsständischen Mitwirkung an Gesetzgebung und Verwaltung der Gebietskörperschaften kann hier aus Raumgründen überhaupt nicht eingegangen werden. Insoweit sei auf den "Grundriß des österreichischen Staatsrechts" von Professor Dr. Ludwig Adamovich (Verlag der Staatsdruckerei, Wien 1935) und "Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" von Professor Dr. Adolf Merkl (Verlag Julius Springer, Wien 1935) verwiesen. Auch auf diesem Gebiete ist der von der Verfassung vorgezeichnete Endzustand schon darum nicht erreicht, weil die echten Berufsstände, die ihre Repräsentanten in die Vertretungskörper des Bundes, der Länder und der Gemeinden zu entsenden haben, erst teilweise bestehen. Der augenblickliche Übergangszustand ist bekanntlich dadurch gekennzeichnet, daß die Mitglieder des Bundeswirtschaftsrates und Bundeskulturrates in einem durch das Bundesgesetz vom 9. Oktober 1934 festgesetzten ziffernmäßigen Ausmaß den fraglichen Berufskreisen durch Ernennung entnommen werden. Desgleichen sind bekanntlich die Mitglieder der Landtage, der Wiener Bürgerschaft und der Gemeindetag, die als Vertreter der fraglichen kulturellen Organisationen und Wirtschaftskreise gedacht sind, durch Ernennung bestellt. Insoweit ist das im ständischen Prinzip bedingte Entwicklungsziel, daß die kulturellen Organisationen und Berufsstände ihre Repräsentanten aus ihrer Mitte in die verschiedenen Vertretungskörper zu entsenden haben werden, wobei indes die Verfassung das Erfordernis der Bestätigung dieser Volksvertreter durch die Staatsführung nicht ausschließt. Endlich ist die Vollendung des ständischen Charakters der Verfassung dadurch bedingt, daß der derzeit noch zulässige Weg von Regierungsgesetzen ausgeschlossen und der in den Verfassungsartikeln 61-67 vorgezeichnete Weg der Bundesgesetzgebung unter Beteiligung des Bundeskulturrates und Bundeswirtschaftsrates zum ausschließlichen Weg der Bundesgesetzgebung wird. Kein denkender loyaler Staatsbürger wird sich der Einsicht verschließen, daß eine so originelle beispiellose politische Idee wie die einer berufsstän-

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dischen Gesellschaftsordnung und Staats verfassung nicht in einem Zuge, sondern nur in bedächtig berechnenden Schritten verwirklicht werden kann; Leitsatz für jede große Idee, die in die Praxis wirken will, dürfen aber wohl die Worte des großen und erfolgreichen deutschen Staatsmannes Freiherrn vom Stein sein: "Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen."

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Vorbild oder Warnung? Die objektive Vieldeutigkeit des Begriffes "ständisch" und subjektive Ungeklärtheit dieses Begriffes bei denen, die sich dieses Ausdruckes bedienen, bringt die paradoxesten und doch täglich erlebten Widersprüche mit sich: Namentlich die einander entgegengesetzten Behauptungen, Österreich habe den Übergang zur ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung vollzogen - und Österreich sei im Begriffe, sich allmählich zu einer ständischen Staats- und Gesellschaftsordnung zu entwickeln; Österreich gebe sich mit seiner jüngsten Staats- und Gesellschaftsordnung ein ganz neues, durchaus originelles Gesicht, aber auch, Österreich habe sich seines großen geschichtlichen Vorbildes, seiner eigenen mittelalterlichen Verfassung erinnert und sei daran, sie wiederherzustellen, und gerade dadurch ein wahrer ständischautoritärer Staat zu werden. Solche einander sprachlich widersprechende Behauptungen werden begreiflicherweise nur dadurch denkbar und miteinander vereinbar, daß man ständisch injedem der wiedergegebenen Sätze mit einem besonderen Sinn verbindet, und sind unter dieser Voraussetzung durchaus sinnvoll. Ein politisches Programm wird mehr als durch noch so ins einzelne gehende Forderungen durch ein empirisches Vorbild deutlich gemacht, dessen Nachahmung es sich als Ziel steckt. Und da jeder Gebildete um die sogenannte ständische Vergangenheit unseres Volkes weiß, deren letzte Reste noch kein Jahrhundert zurückliegen, scheint es gewiß naheliegend, die Verheißung einer ständischen Zukunft durch die Verweisung auf eine ständische Vergangenheit deutlich zu machen. Das kommunistische Programm glaubte sich auch durch die Verweisung auf einen angeblichen oder Der österreichische Volkswirt 1936, S. 853-855. - Einer Anmerkung der Schriftleitung zufolge sollte dieser Artikel den Auszug aus einem Kapitel einer noch zu veröffentlichenden Schrift über "Probleme der Ständegesellschaft und des Ständestaates" darstellen. Zu einer solchen Wiederveröffentlichung ist es indes nicht gekommen, vgl. die ebenfalls in diesem Band abgedruckte Schrift "Probleme der ständischen Neuordnung Österreichs" aus dem Jahre 1938. 13*

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wirklichen Urkommunismus zu empfehlen. Die soziologische Zyklentheorie meint desgleichen, der idealen Forderung nach neuen ständischen Formen entgegenkommen zu müssen, indem sie nachzuweisen sucht, daß der geforderte Gesellschaftszustand einem historischen Gesetz gemäß heranreife, daß dem Pendelausschlag der Aufklärungszeit in der Richtung einer "atomisierten" Gesellschaft, einer "individualistischen" und "zentralistischen" Staatsordnung ein Pendelausschlag in der Gegenrichtung folgen müsse. Es ist natürlich niemandem verwehrt, sein politisches Zukunftsidealmit irgend einem Zustand der Vergangenheit gleichzusetzen und es ständisch zu nennen, ein Ausdruck, der so ziemlich für jede Art Gliederung der Gesellschaft gebraucht worden ist, mit Ausnahme der ganz auf Freiwilligkeit beruhenden Gliederung der Gesellschaft im liberalen Staat. Wenn man aber mit dem Begriff des Ständischen von vornherein einen bestimmten Sinn verbindet, den man nicht an der Geschichte, sondern an subjektiven Wünschen orientiert, dann ist es logisch verwehrt, die Verwirklichung des eigenen ständischen Ideals als zyklische Wiederkehr einer ständischen Vergangenheit auszugeben. Vollends das ständische Programm des neuen Österreich durch die ständische Geschichte unseres Landes verdeutlichen zu wollen, erklärt sich nur daraus, daß man entweder von dem einen oder anderen der beiden Vergleichsgegenstände oder auch von beiden keine klare Vorstellung hat. Eine Warnung vor diesem billigen und beliebten Vergleich könnte schon die Tatsache sein, daß ihn die gewiß historisch denkende Enzyklika "Quadragesimo anno" nicht anstellt. Sie spricht zwar von einer Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung (die ihr durch den Individualismus, sei es liberaler oder absolutistischer Prägung, zerstört erscheint), mit keiner Andeutung aber von einer restitutio in integrum des geschichtlichen Ständestaates. Und einer der besten theologischen Kenner des päpstlichen Gesellschaftsideales, Professor Oswald von Nell-Breuning SJ. warnt in seinem Kommentar, "Die soziale Enzyklika" (Katholischer Tat-Verlag, Köln 1932), vor der Verwechslung der geschichtlichen Ordnung mit dem namensverwandten päpstlichen Idealbild: "Gerade das Schreckbild einer solchen ständischen Ordnung, die fast nur in ihrer überlebten und zuletzt völlig entarteten Fonn als ungerechtfertigte und durch nichts entgoltene Bevorrechtung einzelner Gruppen gegenüber den andern in der Erinnerung der heutigen Menschheit fortlebt, läßt sehr viele Menschen zurückschrecken, wenn man ihnen von ständischer Gliederung der Bevölkerung

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redet." (A.a.O., 154) Was ein zurückhaltender geistlicher Schriftsteller derart als Schreckbild einer ständischen Ordnung darstellt, sollte man nicht so unbedenklich als Vorbild eines ständischen Österreich hinstellen. In der Tat lassen die fachwissenschaftlichen Darstellungen des geschichtlichen Ständestaates diesen in einem Licht erscheinen, das von dem Staatsideal des heutigen Österreich grell kontrastiert. Unter dem Titel der Stände begegnen uns soziale Gebilde, die wir in der heutigen Ausdrucksweise zum größeren Teil als Klassen bezeichnen würden, wobei diese Klassen kastenartig von einander abgeschlossen sind. Die Beziehungen der sogenannten Stände einerseits zur Staatsführung, anderseits zu ihren eigenen Untertanen, sind ganz individualistisch geregelt, ihre Politik ist nur zu oft reine Interessenpolitik, diktiert von Klassenegoismus. Und die Herrschaftsform ist weder schlechthin autoritär, noch schlechthin demokratisch. In Beziehung zum Herrscher, mag es nun der Kaiser oder mögen es die Landesfürsten sein, erfreuen sich die Stände einer Selbständigkeit, die den Staat in zwei von einander unabhängige Staats gewalten aufgespalten und mitunter geradezu anarchisch erscheinen läßt, im Verhältnis der Stände zu deren Untertanen besteht jedoch schroffe Subordination - also eine ganz unausgeglichene Herrschaftsordnung. Was die Schilderer des geschichtlichen Ständestaates, von Gierke, von Below, Ficker, Spangenberg, Kern, Keller und viele andere, ohne kritischen Unterton, als einfache der Erkenntnis gegebene Tatsachen wiedergeben, erscheint dann freilich, am Maßstab des päpstlichen Ständeprogrammes gemessen, als Abirrung von diesem Programme. Kein Zweifel, daß man jene sozialen Gruppen, die durch die Gruppe beherrschendes gleichartiges Recht und die Beteiligung der Gruppenangehörigen an der Staatswillensbildung, namentlich durch die Kompetenz zur Truppen- und Steuerbewilligung gekennzeichnet waren, als Stände bezeichnen kann, wie es die Literatur seit Jahrhunderten getan hat. Aber dieser überkommene Sprachgebrauch wurde in der Enzyklika "Quadragesimo anno" und in der der päpstlichen Willensäußerung präludierenden und nachfolgenden theologischen Literatur über Bord geworfen und durch einen Ständebegriff ersetzt, der durch seine Gegensätzlichkeit zum Begriff der Klasse gekennzeichnet ist. Ignaz Seipel kennzeichnet in seinem Aufsatz "Was sind Stände?" vertikal gegliederte soziale Gruppen als Stände, deren Angehörige durch eine gleichartige Berufsbetätigung zusammengehören, und führt als Beispiele solcher Stände den geistlichen Stand, den Soldaten-

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stand, den Gelehrtenstand und den Bauernstand an. ("Der Kampf um die österreichische Verfassung", S. 199 bis 204) Unter dem unverkennbaren Einfluß dieses in den Schriften deutscher Theologen herrschend gewordenen Ständebegriffes spricht die Enzyklika "Quadragesimo anno" von Ständen als sozialen Gebilden, "denen man nicht nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Arbeitsmarktpartei, sondern nach der verschiedenen gesellschaftlichen Funktion des einzelnen angehört". In diesen Begriffsbestimmungen tritt der Begriff des Standes in Gegensatz zum Begriff der Klasse; Stand ist das Ergebnis einer vertikalen, Klasse das Ergebnis einer horizontalen Gliederung der Gesellschaft. Der Bauernstand umfaßt alle im ländlichen Kleingrundbesitz tätigen Menschen, der Gewerbestand alle im Gewerbe, der Industriestand die in der Industrie, gleichviel ob auf der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite tätigen Menschen. Der "Unternehmerstand" und der "Arbeiterstand" erweisen sich aber an der Hand dieser Begriffskritik als Klassen. Wenn nun die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaftsordnung einen Herrenstand und einen Bauernstand, und innerhalb des Herrenstandes wiederum einen hohen und niederen Adel unterschied und daneben auch einen Bürgerstand kannte und diese Stände durch starre rechtliche Scheidewände trennte, wenn es daneben noch Halbfreie und Unfreie gegeben hat, also Menschen, die allesamt ihren Lebensunterhalt aus Grund und Boden zogen, auf mehrere streng getrennte Stände aufgeteilt waren, so tritt uns schon in den gröbsten Umrissen dieser sogenannten ständischen Gesellschaftsordnung eine typisch horizontale Aufteilung der Gesellschaft und somit eine Klassenordnung entgegen. In der Tat verwendet die ältere, noch nicht an der gegenwärtigen Aktualisierung des Ständeproblems orientierte Literatur den Ausdruck Stand abwechselnd mit dem Ausdruck Klasse. Ein Kenner des geschichtlichen Ständestaates wie Spangenberg schildert in seinem Buch "Vom Lehnstaat zum Ständestaat" (Bd. 29 der "Historischen Bibliothek", Berlin 1912) die zwischenständische Entwicklung im Ständestaate folgendermaßen: "Die Lockerung des staatlichen Zusammenhanges verschlimmert sich noch erheblich dadurch, daß auch die Stände untereinander zerfielen. Der jähe Trotz der Selbstbehauptung, der Materialismus der Zeit, die rücksichtslose Erwerbsucht schürten den Klassengegensatz zu bitterem Haß. Die Städte fürchteten nicht bloß vom Landesherm als ihrem Feinde Schaden und Beschränkung; sie mußten sich auch gegen die Ritterschaft zur Wehr setzen, der das Legen des Kaufmanns als rühmliche Tat, die Bekämpfung des Bürgertums als gemeinsame Aufgabe des Standes gilt. Die sozialen Gegensätze zwischen Rittern und Bürgern,

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Bürgern und Bauern verschärften sich." (A.a.O., S. 89) Dieses Bild eines ausdrücklich sogenannten Klassengegensatzes wird von demselben Autor also vervollständigt: "Die Auflösung des Ganzen in einzelne einander bekämpfende Interessenkreise führte in einigen Gebieten zu fast anarchischen Zuständen. Selbst die aufblühenden Stadtgemeinden ... sahen den inneren Frieden gestört durch die Erhebung der Zünfte gegen das städtische Patriziat. Die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Sonderrechte und Privilegien, die Absonderung der Stände, die Gegensätze zwischen Landesherrschaft und Ständen, zwischen Landwirtschaft und städtischem Gewerbe, zwischen Großhandel und kleinen Produzenten lähmten das Volk in aufreibenden Kämpfen." "Alles aber krankte am größten Übel der Zeit, der allgemeinen Friedlosigkeit und Rechtsunsicherheit, an jenen heillosen Zuständen der Vergewaltigung, denen das ausgehende Mittelalter seinen üblen Ruf verdankt." (A.a.O., S. 91) Und unser Autor schließt diese beredte Schilderung des ausgehenden ständischen Mittelalters, das "in kläglicher Verwirrung, in Selbsthilfe und Gewalttat, Fehde- und Faustrecht geendet hat", mit dem Urteil des Historikers Ranke über diese Geschichtsepoche. "Ein allgemeiner Krieg Aller gegen Alle entsprang in dem Innern unserer Nation. Eben die Zusammengehörigen entzweiten sich am heftigsten." Doch die Freunde eines wahren Ständestaates können sich über diese erschütternde Schilderung des geschichtlichen Ständestaates beruhigen. Das Ammenmärchen vom geschichtlichen Ständestaat mit seiner organischen Friedensordnung zerstiebt, und es entpuppt sich ein Klassenstaat mit einem Klassenkampf von sicherlich nicht geringerer Brutalität, als ihn der kapitalistische Staat der Neuzeit gezeitigt hat. Man hat nur mißverständlich, durch den Gleichklang des Wortes "ständisch" verführt, den Ständestaat des Mittelalters dem liberalen Staat der Neuzeit als Gegenbild und dem werdenden berufständischen Staat als Vorbild entgegengehalten. Nach solcher "Enthüllung" - die freilich für einen Geschichtskundigen keine ist - überrascht wohl nicht mehr, daß auch die behaupteten universalistischen Züge dieses Ständestaates zum großen Teil individualistischen Zügen, oder wenigstens Eigenschaften, die als individualistisch abgestempelt sind, weichen müssen. Die Einzelheiten des Verfassungsrechtes werden in Vertragsform als Ergebnis eines harten Feilschens zwischen Fürst und Ständen festgelegt. An die Stelle einer Auferlegung der Steuern von Seite der Staatsgewalt war seit dem 13. Jahrhundert "der Vertragsgesichtspunkt des do ut des getreten, der keine Identität zwischen Staats- und Volksinter-

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esse und keine eigentliche rechtliche Verpflichtung zur Steuerleistung" kannte (Adolf Wagner, Finanzwissenschaft). Die Landesherrschaft suchte zum Unterschied vom Erfordernis der Zustimmung sämtlicher einzelnen Landstände - also einem extrem individualistischen Prinzip - dem gleichfalls als individualistisch geltenden Mehrheitsprinzipe bei der Abstimmung und dem ständischen Vertretungs gedanken möglichst weite Geltung zu schaffen und hat es in der Tat allmählich zum Sieg geführt. (Spangenberg, a.a.O., S. 141) Der Zentralismus, ebenfalls ein angeblich individualistisches Prinzip, war innerhalb der einzelnen ständischen Herrschaftsbereiche oft aufs schärfste ausgeprägt. Dieses wahre Negativ des gewohnten Tendenzbildes des historischen Ständestaates rundet sich, wenn sich endlich auch die Vorstellung des autoritären und demokratischen Charakters des geschichtlichen Ständestaates als fiktiv herausstellt. Denn wenigstens auf dem Höhepunkte ihrer Macht bedeuteten die Stände nicht eine konstitutionelle Mitregierung des Volkes neben dem Fürsten, sondern waren sie dessen Gegenspieler, die den Fürsten aus einem Führer zu einem in allen Staatsnotwendigkeiten gehemmten Geführten machten, so daß die traditionelle Staatslehre den Ständestaat als einen dualistischen, d.h. durch zwei ebenbürtige Autoritäten gekennzeichneten Staat konstruiert, der in Wirklichkeit autoritätslos war. Die Mitregierung war aber auf die Stände beschränkt und die Masse des Volkes zu schweigendem Gehorsam verhalten. Die befriedende Wirkung einer solchen Ständeordnung ist selbstverständlich ausgeblieben. Es ist nach all dem ausgeschlossen, für die Einrichtung einer ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung das Ständeprogramm der Enzyklika "Quadragesimo anno" als Richtlinie und zugleich die Wirklichkeit des geschichtlichen Ständestaates als Leitstern zu benützen. In Wahrheit besteht zwischen den in Rede stehenden Ideenkreisen eine schroffe Alternative. Die österreichische Verfassung hat bereits zwischen den beiden Möglichkeiten zugunsten des wahrhaft sozialen Ständeplanes der päpstlichen Enzyklika die Wahl getroffen. Will man dieser Wahl treu bleiben, so muß man die Erinnerung an den geschichtlichen Ständestaat endgültig einsargen oder noch besser sie - als warnendes Memento benützen.

Möglichkeiten und Schranken der Berufstände Über der ideologischen Grundlegung und der Untersuchung organisationstechnischer Fragen tritt im berufständischen Schrifttum die Frage des möglichen und gebotenen Wirkungskreises der Berufstände verhältnismäßig in den Hintergrund. Mit Unrecht. Denn erstens wird der Bestand eines gesellschaftlichen Verbandes vor allem durch die soziale Leistung, die er erbringt, gerechtfertigt, und zweitens wird der organisatorische Apparat eines Verbandes hauptsächlich durch die Zwecke, denen er zu genügen hat, bestimmt.

Funktionen der Berufstände Die profane spezifisch berufständische Literatur verengt im übrigen gern das Problem durch eine eindeutige dogmatische Lösung. Besonders beliebt ist das Verfahren, aus einem bestimmten vorausgesetzten Wesen des Berufstandes einen in bestimmter Weise umgrenzten Aufgabenkreis zu folgern. Der scheinbar objektiv bestimmte, in Wirklichkeit subjektiv gewillkürte Wirkungskreis wird gewissermaßen zum Begriffsmerkmal des Berufstandes gemacht. In der Art des Marxismus werden sogar Voraussagen gemacht, daß sich die Berufstände in bestimmter Weise betätigen werden. Eine eingehende Analyse der Berufständedogmatik soll dies an anderer Stelle in weiterem Rahmen erweisen. In auffälligem Gegensatz zu solcher eindeutiger Feststellung des berufständischen Wirkungskreises steht die großzügig blankettförmige Umschreibung des Wirkungskreises der Berufstände, wie er der Enzyklika "Quadragesimo anno" eigentümlich ist. Im Sinne dieser so oft berufenen - und so oft verkannten päpstlichen Willensäußerung ist zwar der Bestand von Berufständen ein naturrechtliches Erfordernis, ist aber sowohl deren Organisation als auch deren Kompetenz innerhalb eines breiten Spielraums beweglich, also gewissermaßen der Entwicklung, der

Der österreichische Volkswirt 1936, S. 975-977.

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Festsetzung nach zeitlich und örtlich bedingten Zweckmäßigkeitserwägungen anheimgegeben. Im Gesamtplan der Enzyklika werden die möglichen und gebotenen Aufgaben der Berufstände durch deren letzten Zweck bestimmt, die Zuständereform zu bewerkstelligen, die als sachliche Ergänzung neben der ideellen Komponente der Sittenbesserung die Ausräumung des kapitalistischen Klassengegensatzes und damit eine dem Evangelium entsprechende befriedete Gesellschaftsordnung ergeben soll. Diese Zuständereform kann aber sinnvollerweise nicht schon durch den Bestand der Berufstände, sondern erst durch deren Wirksamkeit bewerkstelligt werden, und ist somit nicht bloß durch eine richtige Lösung der organisationstechnischen, sondern auch der funktionstechnischen Fragen, namentlich der Frage des Wirkungskreises, bedingt. Die Funktionen der Berufstände, die derart aus der Enzyklika zu entnehmen sind, können, formal betrachtet, auf zwei Hauptkategorien zurückgeführt werden: Einerseits Funktionen, die im gegenwärtigen "entgliederten" (d.h. einfach nur "nichtständisch gegliederten") Haushalt der Gesellschaft einem anderen Verrichtungsträger obliegen oder wenigstens tatsächlich von anderer Seite verrichtet werden, und Funktionen, die bei Nichtbestand der Berufstände ungeschehen bleiben würden und daher mit Wirksamwerden der Berufstände im gesellschaftlichen Leistungsschema eine Lücke ausfüllen. Die beiden Aufgaben müssen einander ergänzen, um die Wirkungsmöglichkeiten der Berufstände auszuschöpfen. Der erste Aufgabenkreis soll sich jedenfalls durch Anwendung des Subsidiaritätsprinzips aus der Entlastung des Staates und allenfalls sonstiger weiterer (heutzutage bloß gebietskörperschaftlicher) Verbände ergeben, die nach Auffassung der Enzyklika in der Zeit des rein liberalen Staates hinter der gebotenen Aufgabe durch Verleugnung des Wohlfahrtszweckes zurückgeblieben sind, sich dagegen in der staatssozialistischen Ära des bürgerlichen Staates übernommen hätten; außerdem möglicherweise auch durch Übernahme von Funktionen, die derzeit von Einzelpersonen und engeren Gemeinschaften versehen werden, zweckmäßigerweise aber der weiteren Gemeinschaft des Berufstandes vorbehalten bleiben. Konkrete Funktionen jedoch, abgesehen von der allgemein gehaltenen Aufgabe des Ausgleiches zwischen den Klassenangehörigen des Berufstandes nimmt die Enzyklika für die Berufstände nicht in Anspruch.

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Wenn die theologische Literatur zum Berufständeproblem, beispielsweise die monumentale Schrift von Prof. Johannes Messner über die soziale Frage, den Berufständen konkrete Kompetenzen zuspricht, so handelt es sich hiebei, worüber natürlich Sozialtheoretiker solchen Formats nicht im Zweifel sind, nicht um eine Auslegung kirchlicher Quellen, sondern um die Ausfüllung eines Blanketts, die den subjektiven Zweckmäßigkeitserwägungen des Verfassers entspricht. Diese Meinungsäußerungen sind dann naturgemäß mehr oder weniger an der profanen Literatur über das Ständeproblem orientiert. So kommt es zu Zielsetzungen für die Berufstände, die, wörtlich genommen und restlos verwirklicht, das Individuum entrechten, aber auch den Staat entmachten würden, weil das Schwergewicht des sozialen Lebens in den Berufstand verschoben wäre.

Die Lehre "Stand schluckt Staat" Wohl die expansivste Lehre des Ständezweckes wird von der Wiener soziologischen Schule vertreten, die bei dieser Problemstellung besonders eindrucksam von den Schülern Othmar Spanns, Walter Heinrich und Wilhelm Andreae, vertreten wird. Man könnte diese Lehre ihrem Inhalt nach am ehesten als die von der legislativen und administrativen Autarkie der Berufstände bezeichnen, denn ihr Kern ist etwa der Satz: "Die Wirtschaft den Wirtschaftern!" - und zwar in der Hauptsache EinzelwirtschaJtern, soweit sie ein ökonomisches Problem ist, dem BeruJstand der Wirtschafter, soweit sie ein legislatives und administratives Problem ist. Das bedeutet die Enteignung des Staates - als der Summe der Gebietskörperschaften - in der Eigenschaft als Wirtschaftsgesetzgeber und Wirtschaftsverwalter, die Zurückschraubung des Staates auf einen Wirtschaftskontrollor. In diesem in sich folgerichtigen und mit edlem Pathos vorgetragenen Programm erfüllt sich der allgemein gehaltene Leitsatz des Lehrmeisters "Stand schluckt Staat". Der Gesamtüberblick über den ständischen Wirkungskreis wird in der einschlägigen aufschlußreichsten Schrift, in Walter Heinrichs "Ständewesen", dadurch erschwert, daß nicht zuvörderst eine Grenzabscheidung zwischen den Ständen - genauer gesagt, Wirtschafts ständen - und dem Staat präziser ausgedrückt, den Gebietskörperschaften, zu denen namentlich auch die Gemeinde gehört - erfolgt, sondern die Grenzabscheidung nach außen mit jener nach innen, also des "Ständehauses" gegenüber den berufständi-

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sehen "Oberverbänden" und "Unterverbänden" verquickt wird. Wenn nun aber dem Ständehaus, oder genauer den "Ständehäusern" der verschiedenen Berufstände das "allgemeine wirtschaftliche Gesetzgebungsrecht" zugedacht ist - selbstverständlich mit Beschränkung auf den betreffenden Berufstand und unter Vorbehalt der Oberleitung des Staates über die Gesetzgebung des Hauses -, ist selbst die allgemeinste Gesetzgebung und um so mehr die Verwaltung in wirtschaftlichen Belangen dem Staat versagt und zur Standessache gemacht. Bei aller großzügigen Folgerichtigkeit läßt aber eine solche Forderung jedwede Einsicht in die Eigentümlichkeiten und Erfordernisse der Gesetzgebung und Verwaltung vermissen. Schon in meiner Abhandlung über den rechtlichen Gehalt der Enzyklika "Quadragesimo anno" (Zeitschrift für öffentliches Recht, Band 14 [1934], S. 208-239) bin ich der irrigen Vorstellung entgegengetreten, daß die Gesetzgebung der einzelnen Wirtschaftszweige lediglich das Interesse der Wirtschaftsangehörigen berühre und daß mit dem Ausgleich zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern eines Berufstandes der gesellschaftliche Gleichklang hergestellt sei. Den latenten Gegensatz zwischen den einzelnen Berufständen, etwa Gewerbe und Industrie, Landwirtschaft und Handel, darf man neben dem aktuellen Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht übersehen und noch weniger darf er durch die verfassungsmäßige Sanktionierung rücksichtsloser berufständischer Interessenpolitik - und nichts anderes würde die Übertragung der Zuständigkeit zur Berufsgesetzgebung an die Berufstände bedeuten - wachgerufen werden. Übrigens wird nur der Doktrinarismus eines Theoretikers, schwerlich aber ein lebender Gesetzgeber den Gedanken vollziehen, daß die Landwirtschaftsgesetzgebung ausschließlich Sache der Landwirte, die Bankengesetzgebung Sache der Bankleute und - folgerichtig - die Dienstrechtsgesetzgebung Sache der Bediensteten sei. Die Sicherungen, die von den Befürwortern einer solchen Ressortteilung der Gesetzgebung gegen Übergriffe der Berufsinteressen auf Kosten des Verbraucherinteresses und des Gemeininteresses vorgesehen werden, wie die Aufhebung von Gesetzen eines Ständehauses durch den Staat mit allfälligem Rekurs des Ständehauses an die Staatsspitze und dergleichen mehr, widersprechen aller staatlichen Erfahrung und den Erfordernissen einer vernünftigen Gesetzgebungstechnik und genügen übrigens auch nicht im entferntesten dem rechtlichen Wesen staatlicher Oberleitung, die wiederum, folgerichtig durchgeführt, die berufständische Autonomie aufheben müßte. Das gilt sogar von dem ausdrücklichen Vorschlag, den gesetzgebenden Körperschaften des Staates ein subsidiäres Gesetzgebungs-

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recht für den Fall einzuräumen, daß die Ständehäuser Gesetzesvorschläge des Staates ablehnen, denn damit wird eine konkurrierende und beliebig derogierende Gesetzgebungskompetenz des Staates neben den Berufständen auf dem Gebiet der Wirtschaft vorausgesetzt. Fehlkonstruktionen der Zuständigkeit

Sachlich erweitert sich der den Berufständen zugedachte Wirkungskreis dadurch ins Ungeheure, daß in die Wirtschaftsgesetzgebung und Wirtschaftsverwaltung die ganze Sozialpolitik und mit gewissen Vorbehalten das Steuerwesen inbegriffen wird. Es sind immerhin nicht bloß die verdächtigen Selbstbehauptungswünsche der staatlichen Bürokratie, sondern auch im Wesen der Sache gelegene Gründe, die gegen eine derart weitgehende Enteignung des Staates und Überwucherung der Berufstände sprechen. Einerseits würde es gegen die der christlichen Ständeidee innewohnende Forderung der Gemeinwohlgerechtigkeit verstoßen, die sozialpolitischen Schutzmaßnahmen von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand abhängig zu machen oder nach diesem Kriterium abzustufen, beispielsweise es der berufständischen Autonomie anheimzustellen, ob und inwieweit innerhalb des Berufstandes Kinderarbeit verboten oder ein bestimmter Zweig der Sozialversicherung ausgebildet wird. Anderseits würden die sozialpolitischen Einrichtungen bei einer solchen berufständischen Unterscheidung technisch zum Teil ungemein erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden; man denke nur an den Vorteil des Gefahrenausgleiches bei der Zusammenfassung großer Gruppen versicherungspflichtiger Personen. Womöglich noch schwerer wiegende Bedenken erheben sich gegen den Lieblingsgedanken mancher Ständepolitiker, die Steueraufbringung ständisch zu dezentralisieren. Man stellt sich etwa vor, der Staat lege sein unter Berücksichtigung der sonstigen Staatseinnahmen ermitteltes Steuererfordernis auf die einzelnen Berufstände um, und deren Aufgabe sei es nun, ihr Kontingent auf ihre einzelnen Unterverbände aufzuteilen und von deren Mitgliedern aufzubringen. Dieses altertümliche Verfahren, das einigermaßen an die Staatskostendeckung im geschichtlichen Ständestaat, besonders aber an die Einrichtung der Matrikularbeiträge im Staatenbund erinnert, wird mit Vorliebe damit gerechtfertigt, daß die einzelnen Stände und deren Unterverbände viel besser die Leistungsfahigkeit des einzelnen beurteilen könnten. Bei etwas Geschichtskenntnis müßte man wissen, daß die Stände des Mittelalters und der früheren Neuzeit keinen Anstand getragen haben,

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den Großteil der politischen Lasten auf ihre Hintersassen abzuwälzen und daß es alle, mit Ausnahme der unmittelbaren Interessenten, daß es insbesondere die Sozialwissenschafter als einen unendlichen Fortschritt beurteilt haben, daß absolute Monarchen die obrigkeitliche Verwaltung und Justiz den Ständen entwunden und einer unparteiischen Beamtenschaft übertragen haben. Nur die große zeitliche Distanz zur ständisch beeinflußten Gesetzgebung, zur ständischen Verwaltung und zur Patrimonialgerichtsbarkeit läßt die Wiederkehr ähnlicher Einrichtungen verlockend erscheinen. Die Expansionspolitik, die die Ständepolitiker, gewiß guten Glaubens, auf Kosten des Staates zugunsten der Stände betreiben, übersieht endlich das Wichtigste: Der Staat hat nicht an sich eine bestimmte Macht, unabhängig von den gesellschaftlichen Mächten, die ihm untergeordnet sind und in die er sich in die gesellschaftlichen Aufgaben teilt, sondern er empfängt seine individuelle, höchst verschieden abgestufte Macht aus der jeweiligen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Mächten, die seiner Herrschaftsordnung eingegliedert sind, juristisch gesehen, aus seinemjeweiligen Wirkungskreis. Berufstände mit einem derart mächtigen Wirkungskreis nicht bloß wirtschaftlicher, sondern spezifisch obrigkeitlicher Natur, mit reichlichen legislativen, administrativen und judiziellen Agenden, die gewissermaßen aus dem Leib des Staates herausgeschnitten sind, würden den Staat nicht von überflüssigem Kleinkram entlasten, wie es sich die päpstliche Enzyklika vorstellt, und ihn mächtiger oder erhabener machen, sondern würden ihn zum Gefangenen der Berufstände, und im Fall eines Widerstreites zwischen diesen übermächtigen Ständen zu deren Spielball machen. Die offizielle Ständepolitik in Österreich

Die offizielle Ständepolitik in Österreich hat realistischer, lebensnaher und lebensklüger gedacht und gehandelt als die Ständepolitik der freien Wissenschaft. Wohl sehr zur Enttäuschung der Ständeutopisten hat die Verfassung Österreichs vom 1. Mai 1934 und haben die Organisationsgesetze für die einzelnen Berufstände den überkommenen staatlichen Wirkungskreis nicht im Geringsten geschmälert und den neugeschaffenen ständischen Wirkungskreis derart umschrieben, daß er der staatlichen Autorität nicht im mindesten gefährlich werden kann. Die Verfassung selbst hat in ihrer Rahmenordnung der berufständischen Organisation der Umschreibung des berufständischen Wirkungskreises in keiner Weise vorgegriffen, insbesondere weder ein Maximum noch ein Minimum von berufständischen

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Angelegenheiten festgelegt. Die einzige Verfassungsbestimmung, die für die Organisation und Kompetenz der Berufstände den Rahmen umschreibt, besagt: "Den Berufständen wird durch Gesetz die Selbstverwaltung ihrer berufseigenen Angelegenheiten unter der Aufsicht des Staates ennöglicht." (Art. 32, Abs. 2) Es hieße der Verfassung Gewalt antun, wenn man die Fonnel "berufseigene Angelegenheiten" im Sinne einer der üblichen Fonnulierungen wesenhafter berufständischer Zuständigkeiten auslegte. Welche Angelegenheiten "berufseigen" sind, steht nicht von vornherein - etwa im Sinne irgend einer naturrechtlichen oder wissenschaftlichen Umschreibung - fest, dürfen auch nicht die Berufstände selbst auf Grund ihrer Autonomie bestimmen, sondern hat der staatliche Gesetzgeber nach freiem Ennessen zu dekretieren. Die österreichische Gesetzgebung hat sich in der Tat diese Nonnierungsfreiheit unbedingt gewahrt. Die Gesetze, mittels deren die einzelnen Berufstände eingerichtet worden sind, umschrieben völlig unbeeinflußt von jeder heteronomen Grenzziehung für jeden Berufstand den Kreis der berufseigenen Angelegenheiten. Es sind dies das Gesetz über die Einrichtung des Berufstandes Land- und Forstwirtschaft (BGBl. 304 aus 1935), in der Hauptsache in Artikel 10, das Bundesgesetz betreffend die Errichtung des Bundes der Gewerbetreibenden (BGBl. 84 aus 1935) in § 14, das Bundesgesetz betreffend die Errichtung des Handels- und Verkehrsbundes (BGBl. 303 aus 1935) in § 14, das Bundesgesetz betreffend die Errichtung des Bundes österreichiseher Industrieller (BGBl. 294 aus 1934) in § 4. Für eine vergleichende Untersuchung dieser knappen und kargen Zuständigkeitsnonnen ist hier nicht der Raum. Alle Kompetenzumschreibungen geben aber dem Berufstand den Charakter einer reinen Interessenvertretung, zwar mit MonopolsteIlung hinsichtlich des Abschlusses von Kollektivverträgen, doch mit der denkbar spärlichsten behördlichen Kompetenz. Und die Satzungsbefugnis der Berufstände erschöpft sich in der Zuständigkeitsfrage darin, die durch staatliches Gesetz zugewiesenen Aufgaben zu umschreiben, geht aber keinesfalls so weit, daß sich der Berufstand neue Zuständigkeiten beilegen dürfte.

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Man darf gewiß diese in Fonn und Inhalt vorsichtige Kompetenzzuweisung nicht als endgültig betrachten. Es handelt sich um einen von weiser Zurückhaltung bestimmten Versuch, der selbstverständlich noch reichen Entwicklungsmöglichkeiten der Berufstände Raum gibt. Sind ja doch nicht bloß die Forderungen der Ständeliteratur zum größten Teil unerfüllt geblieben, die freilich nach den Absichten des österreichischen Gesetzgebers scheinbar dauernd eine Utopie bleiben sollen, sondern gilt es doch noch die eine materielle Forderung der Enzyklika zu erfüllen, daß der Staat zugunsten der Berufstände zu entlasten sei, was Kompetenzüberweisungen vom Staat an die Berufstände bedingt, jedoch infolge der Blankettnatur der päpstlichen Forderung dem Staat wiederum Wahlfreiheit gibt. Aber durch die Methode der Kompetenzzuweisung hat sich der Staat in der Entwicklung der Berufstände das Gesetz des Handeins vorbehalten. Das bedeutet, daß auch in Zukunft das herrschende Prinzip im politischen Leben Österreichs das autoritäre Prinzip sein und daß das ständische Prinzip, gezügelt durch das autoritäre, den autoritären Kurs bloß mildem soll.

Die individuelle Freiheit im autoritären und ständischen Staat Der Staat ist im Sinne aller unterschiedlichen Begriffsbestimmungen eine Zwangsordnung, sei es nun, daß der einzelne an eine Art Naturgesetze gebunden ist, in denen sich ihm gegenüber nach der Vorstellung der Organismustheorien der staatliche Organismus auswirkt, sei es, daß der einzelne normativen Rechtsgesetzen unterworfen ist, die nach den Rechtstheorien die ausschließliche Wirkungsform des Staates sind.) Die unterschiedlichen Staatsformen bedeuten demnach keinen Unterschied in der Tatsache des als kausalgesetzlich oder normativ gedachten Zwanges, sondern nur Unterschiede in der Innehabung der spezifischen Zwangsgewalt des Staates, im besonderen in der Verfügung über die Rechtsordnung, und Unterschiede im Maße, in den Mitteln und im Zwecke des Zwanges. Freiheit gegenüber dem Staate oder politische Freiheit ist somit nur relativ möglich, denn absolute politische Freiheit würde Negation des politischen Mittels, Negation des Staates, Anarchismus bedeuten. Das Problem aller am Freiheitsideal orientierten Politik ist sonach nur die Möglichkeit und der Inhalt des Kompromisses von Freiheit und Zwang, und die Nach einem Vortrag in der "Vereinigung der österreichischen Rechtsanwaltsanwärter", Juristische Blätter, 65. Jg. (1936), S. 265-273. I Vgl. hiezu Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 17. - Daß Kelsen auch unter den geänderten Verhältnissen seine Geltung zumindest als geistiger Orientierungspunkt selbst in der deutschen Staatslehre nicht verloren hat, beweist zumindest die unbewußte und bewußte, wenngleich polemische Bezogenheit der heutigen deutschen Staatslehre auf sein System, das wie ein faszinierendes Licht wirkt. Das gesteht auch unverhohlen in einem Aufsatz in der "Germania" (Berlin), Sonntags-Beilage vom 16. Februar 1936, über die "Lage der deutschen Staatswissenschaft" Rudolf Heizler mit folgenden Worten ein: "Es ist der heutigen Rechtswissenschaft noch nicht gelungen, ein neues wissenschaftliches Gedankengebäude etwa von der Durchschlagskraft eines Kelsen zu schaffen, denn die Probleme sind noch zu umfassend, um innerhalb weniger Jahre bewältigt zu werden. Immerhin sind schon Ansätze zu einer neuen Verfassungslehre vorhanden." Solche Verbeugung eines Gegners vor der Autorität eines Kelsen zeugt von anerkennenswerter und seltener Vorurteilslosigkeit. 14 A. J. Merkl

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Benützung des Zwangsinstrumentes des Staates zur Herstellung und Sicherung der Freiheit. Diese notwendige Relativierung der individuellen Freiheit im Staate wirft übrigens die Frage auf, ob nicht absolute Freiheit für ein anderes Subjekt als das Individuum denkbar sei. Als solches Subjekt kommt das Staatsvolk in Frage, das als Träger der Herrschaft in seiner Einheit als frei gedacht und behauptet wird. Gewisse autoritäre Staatsideologien wollen im Staate bei unbeschränktem Zwang über den einzelnen die Freiheit der Gesamtheit verwirklichen. Hier steht aber bloß in Diskussion, ob und wie im Staate die Freiheit des einzelnen denkbar und vollziehbar ist, wie sich im besonderen das autoritäre und ständische Baugesetz mit der Idee der persönlichen Freiheit verträgt. Bekanntlich unterscheidet die Staatslehre zwei Arten von individueller Freiheit, die im folgenden als Freiheit schlechthin bezeichnet, unter dem zusatzlosen Namen Freiheit verstanden werden soll: die Freiheit vom Staate und die Freiheit im Staate. Die Freiheit vom Staate bedeutet eine Schrankenziehung des Staates zugunsten des einzelnen von der Art, daß entweder der Staat überhaupt nicht oder einzelne Erscheinungsformen des Staates, sogenannte Staatsgewalten, aus eigener Initiative das Handeln des einzelnen nicht beschränken dürfen. Dieser Freiheitsidee gemäß wird eine Grenzabsonderung zwischen Staat und einzelnen in dem Sinne vorgenommen, daß einem Bereiche möglichen staatlichen Handeins ein Bereich unbedingt staatsfreier Persönlichkeit gegenübergestellt wird. Hienach liegt es zwar im allgemeinen im Ermessen des Staates, inwieweit er von seinen Wirkungsmöglichkeiten Gebrauch macht, gibt es aber einen Ausschnitt des menschlichen Lebens, der jedenfalls die Wirkungsmöglichkeiten des Staates übersteigt. Es handelt sich um einen Fall limitierter Staatszwecke, wobei aber die Limitierung nicht auf objektive Materien bezogen ist, sondern in der Aussonderung von einzelmenschlichen Bereichen besteht, die der staatlichen Intervention entzogen sind. Die rechtstechnische Form dieser Freiheitsgewährung und -gewährleistung sind die sogenannten Freiheitsrechte, das sind nach ihrer vorherrschenden Deutung subjektive Rechte, die ein Nichthandeln des Staates, Passivität des Staates, Nichtintervention zum Gegenstande haben. Diesen Typus individueller rechtlicher Freiheit nennt man - ungeschichtlich verengt - die moderne Freiheit. Das rationalistische Aufklärungszeitalter hat diese Freiheit dem absoluten Staat gegenüber

Die individuelle Freiheit im autoritären und ständischen Staat

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geltend gemacht, und die liberalen Revolutionen haben sie dem absoluten Staate abgerungen. Es handelt sich um ein Stück positivierter und damit denaturierter Anarchie. Der absolute Staat wird geschichtlich vom absoluten Individuum abgelöst. Der Staat verbürgt diesem wenigstens eine partielle Unbeschränktheit, Herrschaftslosigkeit gewissermaßen als Preis dafür, daß es sich in anderen Lebensbereichen der staatlichen Herrschaft beugt. Diese wird dabei nur als Garantie gegen ungezügelte und ungeregelte Herrschaft gedacht und anerkannt, welche mangels der Ordnungsgewalt des Staates einträte. Eine solche rechtsordnungsmäßig anerkannte Freiheit ist freilich nicht mehr die angeborene und unentziehbare Freiheit des individualistischen Naturrechtes, sondern ein Geschenk des Staates, das auch wieder entzogen werden kann. Wenn und soweit die Verfassung Freiheitsrechte gewährleistet und sie nicht ausdrücklich für unentziehbar oder die bezüglichen Verfassungseinrichtungen für unabänderlich erklärt hat - was freilich nach weitverbreiteter Auffassung sogar das Normierungsvermögen einer Verfassung überschreitet -, dann kann die Verfassung diese Freiheitsrechte auch wieder aufheben oder beliebig beschränken, dann kann sie sie auch von vornherein beschränkbar oder beschränkt gestalten. In der Tat sind diese verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheitsrechte oft mit dem Vorbehalte versehen, daß sie nur innerhalb der Schranken der Gesetze bestehen oder daß Gesetze wenigstens Ausnahmen bestimmen können. Die Freiheitsgewährleistung bedeutet unter diesen Umständen nicht eine Schrankenziehung für den Staat überhaupt, sondern nur für die Vollziehung in den beiden Erscheinungsformen der Gerichtsbarkeit und Verwaltung, bei völliger Dispositionsfreiheit der Gesetzgebung, und mithin nur Freiheit in dem problematischen Sinn der Sicherheit vor plötzlicher staatlicher Intervention, der Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit staatlichen Eingreifens im Einzelfalle. Solche Freiheit im Sinne von Rechtssicherheit bietet der verfassungsmäßige Gesetzesvorbehalt, die Herrschaft des Grundsatzes der gesetzmäßigen Verwaltung: Das ist die individuelle Freiheit im Sinne des Liberalis2 mus. Eine grundsätzlich andere Rechtstechnik tritt uns im sogenannten antiken Freiheitsbegriffe entgegen, der seinen Namen wiederum einer willkürlichen 2 Den ganzen Ideengehalt dieses Freiheitsbegriffes entwickle ich unter anderem in meinem Buch "Allgemeines Verwaltungsrecht", Wien-Berlin 1927, S. 157 ff., insbesondere S. 169 ff. 14"

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Verengung des zeitlichen Geltungsbereiches dieser Form der Freiheit zu verdanken hat. Im Sinne dieses Freiheitsideals verwirklicht sich die persönliche Freiheit durch Teilnahme des einzelnen an der Staatswillensbildung, wodurch der Staatszwang eine Funktion der vereinigten Einzelwillen wird. Nach der berühmten Formel Rousseaus ist der einzelne insoweit frei, als der Allgemeinwille (volonte generale) der Wille aller einzelnen ist (volonte des tous). Wenn der einzelne sich selbst unterworfen ist, dann ist er auch im Staate frei. Diese Freiheit erfüllt sich allerdings nur dann buchstäblich, wenn überhaupt kein Staatswillensakt ohne Zustimmung jedes einzelnen Staatsbürgers zustande kommen kann. Da rechtsordnungsmäßig die Staatswillensbildung aber niemals durch die Zustimmung ausnahmslos aller Rechtsunterworfenen bedingt sein kann, ist diese antike Freiheit in großem Umfange fiktiv. Die Demokratie ist nun bekanntlich jene Erscheinungsform des Staates, welche den Staatswillen und namentlich den staatlichen Zwangsakt im denkbar weitesten Umfang von der Zustimmung der Zwangsunterworfenen, zumindest der willensfähigen Staatsbürger abhängig macht und damit das erfahrungsmäßig größte Maß der Freiheit in diesem Sinne verwirklicht. Auch das ist natürlich eine relative Freiheit: Zwang, der erträglich gemacht und gerechtfertigt ist durch einen mehr oder minder breiten bewußten Konsens der Untertanen, die einen solchen geregelten und als unvermeidlich gewollten Zwang dem ungeregelten chaotischen Zwange der Anarchie vorziehen. Die bei den Freiheitsforderungen und Freiheitsgewährungen können nun auch erfahrungsmäßig, wenn auch theoretisch nicht ganz folgerichtig, kombiniert werden, indem die Rechtsordnung einerseits dem staatlichen Eingriff mehr oder minder entschiedene Schranken zieht und damit eine Individualsphäre rechtlicher Ungebundenheit durch den Staat auszeichnet, und andererseits, soweit sie dem Staat im übrigen Eingriffsmöglichkeiten unvermeidlich oder wenigstens zweckmäßigerweise freistellt, den Eingriff an den Gesetzesvorbehalt, d.h. an die Zustimmung der Zwangsunterworfenen bindet, mögen diese nun in der Summe der Gemeinfreien oder durch eine gewählte Repräsentation, sei es auch in Mehrheitsbeschlüssen, die Zustimmung erteilen müssen. Diese Kombination einer Freiheit vom Staate mit einer Freiheit im Staate ist der Ausdruck eines Kompromisses und einer Symbiose von liberaler und demokratischer Staatsauffassung. Diese bei den möglichen, hier in ihrem Kern skizzierten Freiheitsbegriffe haben über alle Verengungen ihrer Bezeichnungen hinaus eine Geschichte,

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die so alt ist wie der Staat. Dessen wesenhafte Zwangsnatur ist zwar ihr unvermeidlicher polarer Gegensatz, eben darum ist es aber ein das ganze Staatsleben begleitendes Bestreben des politischen Individualismus, den wesenhaften Zwang des Staates durch einen Zuschuß an Freiheit des einen oder andern Typus abzumildern und dieserart das Individuum mit dem übermächtigen Kollektivum zu versöhnen. Alle Lokalisierungen des Freiheitsideals sind tendenziös und vernachlässigen die Erfahrungstatsache, daß jegliches Bewußtwerden der Persönlichkeit das Bestreben zeitigt, die Persönlichkeit in irgend einem noch so bescheidenen Teilbereiche vor der Absorption durch das Kollektivum zu retten. Wenn Montesquieu sagt, die Freiheit sei in den germanischen Wäldern gewachsen, so bringt er nur die Tatsache zum Ausdruck, daß bestimmte naturhafte und blutsmäßige Bedingungen dem Freiheitsinstinkt und der Freiheitsforderung günstiger sind als andere. Im allgemeinen hat auch die christliche Religion dank ihrer Emanzipation von den örtlichen und sachlichen Schranken des Staates die Freiheitsforderung unbewußt und bewußt mächtig gefördert und zumindest durch das Postulat der persönlichen Freiheit im religiösen Bereich auch ein Minimum an individueller Freiheit gegenüber dem Staate gefordert. So erklärt sich die scheinbare Paradoxie, daß das Christentum, soweit es in ungebrochener Reinheit und Eigengesetzlichkeit auftritt, dem Staate ebenso zugunsten des Individuums Schranken zieht wie irgend ein politischer Individualismus. 3

*** Unsere besondere Frage geht nun dahin, inwiefern der ständische und autoritäre Staat mit der politischen Freiheit des einzelnen vereinbar ist und wie er ihr Raum geben kann. Diese Fragestellung setzt eine einfache Verständigung über die Begriffe des ständischen und des autoritären Staates voraus. Die schlagwortartige sprachliche Verknüpfung der beiden Begriffe im politischen Sprachgebrauch der Gegenwart ist geeignet, die Tatsache zu verdunkeln, das ständisch und autoritär zwei Begriffe bezeichnen, die völlig disparat und in gewissem Sinne gegensätzlich sind. Eine Staatsverfassung kann zwar zugleich ständisch und autoritär gestaltet sein, aber doch nur 3 Vgl. unter anderem Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderbom 1935, insbesondere den Abschnitt "Die Idee des Menschen" . Dabei ist dieses Werk innerhalb der katholischen Staatsliteratur verhältnismäßig sehr etatistisch eingestellt.

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dennaßen, daß jedes Plus an ständischem Einschlag die autoritäre Komponente mindert und jeder Zuwachs an autoritären Einrichtungen die ständische Komponente schmälert. Der Begriff ständisch soll nicht isoliert, sondern in Verbindung mit dem Begriffe Staat betrachtet, also eine Begriffsbestimmung vom ständischen Staat versucht werden. Ständisch wird nämlich auch, und zwar erfahrungsgemäß viel eher, als eine Eigenschaft der Gesellschaft, im Gegensatz zum Staate, gedacht; namentlich die Enzyklika "Quadragesimo anno" fordert vom Staate nur die Duldung und Einrichtung einer ständischen Gesellschaftsordnung, nicht einer ständischen Staatsverfassung. Ständisch können wir den Staat nennen, der gesellschaftliche Gruppen sozial gleichartiger, rechtlich verbundener Individuen an der Staatswillensbildung beteiligt. Ständisch in diesem weiten Sinne des Wortes ist dann ebenso gut ein Staat, der durch gleichartige Geburt wie durch gleichartigen Beruf gekennzeichnete Menschen zusammenfaßt und diese körperschaftlichen oder quasikörperschaftlichen Gemeinschaften an der Staatswillensbildung beteiligt oder diese Gruppen geradezu mit der Staatswillensbildung betraut. Ein Berufsständestaat ist dann nur jene Variante des konstitutionellen, weil durch die Mitbestimmung von Untertanen gekennzeichneten Staates, der durch die Gleichartigkeit des Berufes im Sinne der sozialen Leistung gekennzeichnete Menschengruppen organisiert und als Organisationen an der Staatswillensbildung beteiligt.

Autoritär können wir einen Staat nennen, wenn und soweit er die Staatsgeschäfte von der Beteiligung oder Zustimmung der Untertanen unabhängig macht. 4 Das autoritäre Prinzip behandelt die Staatsbürger als Objekte, nicht aber als Subjekte der Staatswillensbildung. Es verträgt sich durchaus mit dem Leitmotiv: alles für das Volk, das ja bekanntlich das Regierungsprinzip aufgeklärter Autokraten gewesen ist, teilt aber rein durchgeführt auch deren Regierungsmaxime: nichts durch das Volk. Während das demokratische Prinzip Identität von Staatsführung und Volk fordert - ein Ziel, das freilich nur in asymptotischer Annäherung erreichbar ist -, bedeutet das autoritäre Prinzip die grundsätzliche Distanzierung der Staatsführung von den Geführten, den grundsätzlichen Dualismus im Staatsaufbau, der im Gegensatz von Staatsorganen und Staatsuntertanen zum Ausdruck kommt. Diese rechtliche 4 Vgl. hiezu unter anderem Erich Voegelin, Der autoritäre Staat, Wien 1936, und die dort zitierte Literatur, und mein Buch "Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs", Wien 1935.

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und tatsächliche Emanzipation der Ausübung der Staatsführung vor dem ausdrücklichen periodisch wiederkehrenden formellen Konsens der Untertanen, der freilich in irgend einer Form unabweislich bleibt, kann zwar durch die rechtliche Verantwortlichkeit des Führungsapparates teilweise kompensiert werden, diese Verantwortlichkeit ist aber grundsätzlich eine solche nach oben und gipfelt unbeschadet der Möglichkeit des tiefsten moralischen Verantwortungsbewußtseins systemgemäß in einer rechtlichen Verantwortungslosigkeit des obersten Führers. Soferne oberste Staatsorgane eines erklärt autoritären Staates in einem gerichtlichen Verfahren verantwortlich gemacht werden können, bedeutet dies schon eine Abbiegung des autoritären Prinzips in demokratischer und liberaler Richtung. Im Zusammenhange mit dem Begriffe autoritär wird immer wieder auch der Begriff "totalitär" genannt. Aus den schillernden Bedeutungen des Ausdruckes "totalitär" kann man als Bedeutungskern, falls totalitär als Eigenschaft eines Staates gebraucht wird, ungefähr die Eigenschaft des Staates feststellen, derzufolge Staat und Gesellschaft zur Deckung gebracht sind oder werden sollen, alle gesellschaftlichen Funktionen sonach Staatsfunktionen sein können und der Staat an keiner gesellschaftlichen Funktion von vornherein desinteressiert sein kann. Die Bedeutung des Autoritären liegt sonach im Weg der staatlichen Willensbildung, des Totalitären im Inhalt der staatlichen Willensbildung. Steigerungen des autoritären Prinzips gibt es nicht. Die Staatsführung kann durch die Einsetzung von Seite der Untertanen und durch periodische Vertrauenskundgebung der Staatsuntertanen bedingt sein oder auch nicht. Soweit in irgend einer Beziehung einer derartigen Mitwirkung der Untertanen an der Staatswillensbildung Raum gegeben ist, weicht das autoritäre Prinzip dem Prinzipe aristokratischer oder demokratischer Staatswillensbildung. Das autoritäre Prinzip kann sonach zwar von außen beeinträchtigt, aber nicht in sich gemildert oder gesteigert sein. Dagegen ist die Durchdringung der Gesellschaft von Seite des Staates im Sinne des Totalitätsprinzips steigerungsfähig. Wir können insbesondere zwei Stufen staatlicher Durchdringung der Gesellschaft unterscheiden: Die rechtliche Technik des ersten Grades des Totalitätsprinzips ist Reglementierung sämtlicher gesellschaftlicher Tätigkeiten, verbunden mit der Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln. Bei diesem Grade staatlicher Intervention spricht man noch von freier Gesellschaft, weil die staatliche Bindung noch nicht jede Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft absorbiert, insbesondere noch nicht alle Unternehmer verbeamtet hat. Der Unterschied einer solchen

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Einwirkung des Staates auf die Gesellschaft vom Zustand bei Herrschaft einer nicht totalitären Staatsauffassung besteht darin, daß jedwede inhaltliche Schrankenziehung für den Staat, die Aussonderung einer notwendig staatsfreien Sphäre, abgelehnt wird. Die einzig mögliche Schrankenziehung bleibt die formale durch das Erfodernis rechtlicher Ermächtigung: auch ein totaler Staat will mitunter Rechtsstaat sein. Die rechtliche Technik des zweiten Grades der Durchführung des Totalitätsprinzips besteht dagegen in der Überführung der gesellschaftlichen Tätigkeit in staatliche Eigentätigkeit, also in der inhaltlichen Absorption der Gesellschaft durch den Staat, wofern man unter der Gesellschaft staatsfreie oder wenigstens nur staatlich reglementierte und kontrollierte Gemeinschaftsformen versteht. Die erste Form der Totalität ist noch im sogenannten bürgerlichen Staate möglich, oder wird wenigstens mit seinem Wesen vereinbar erachtet. In diesem Sinne sind etwa das heutige Deutsche Reich und Italien totale Staaten. Die unleugbaren Differenzen zwischen dem Faschismus und Nationalsozialismus liegen im Bereiche der politischen Ideologie, nicht aber in der grundlegenden rechtlichen Technik, am wenigsten in dem grundlegenden Funktionsprinzip der Totalität. Die zweite Erscheingsform des totalen Staates ist der staatssozialistische Staat, wie er geschichtlich derzeit bloß in der russischen Sowjetrepublik verwirklicht ist, wie er aber auch das Ziel anderer kommunistischer und sozialistischer Ideologien ist. Prüfen wir nunmehr in Kürze, wie sich die genannten Staatstypen zum Problem der individuellen Freiheit verhalten, so ergibt sich ungefähr folgende Skala: Der totale Staat kann immerhin ebenso wie gewissen Gemeinschaften auch dem einzelnen Eigentätigkeit und sogar staatlich unbeeinflußte Eigentätigkeit ermöglichen. Das ist aber nur Ausfluß einer tatsächlichen, rechtlich nicht notwendigen Abstinenz. Er hört auf, totaler Staat zu sein, wenn er Individuen oder Kollektiven in irgend einem Umfang Selbstbestimmung rechtlich gewährleistet. Denn das ist bereits eine Wendung vom expansiven zum limitierenden Staatszweck, eine Schrankenziehung für den Staat. Die Freiheit des Individuums kann immer nur prekaristisch sein, nämlich ein freiwilliger augenblicklicher Verzicht auf rechtlich gegebene Interventionsmöglichkeiten. In der Tat sehen wir, daß die Staaten, die sich zum Prinzip der Totalität bekennen, trotz manchmal auffälliger Zurückhaltung in der Intervention, durch die sie sich vom sozialistischen oder kommunistischen

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Staat unterscheiden wollen, Gewährleistungen individueller Freiheit oder sonstige rechtliche Schrankenziehung der Staatszwecke ablehnen. Meist mit der Begründung, daß jede derartige Konzession an das Individuum ein individualistischer Atavismus wäre. Der autoritäre Staat nimmt zum Problem der individuellen Freiheit nur dann dieselbe Haltung ein, wenn er zugleich totalitär eingestellt ist, eine Verbindung, die zwar nicht notwendig ist, aber heute in einzelnen Fällen tatsächlich besteht. Man kann sich indes auch den Fall denken, daß das Totalitätsprinzip nicht von einer persönlichen, parteimäßigen oder klassenmäßigen Diktatur der Mehrheit oktroyiert, sondern von der Mehrheit auf demokratischem Wege verwirklicht wird. So hat sich bekanntlich die Sozialdemokratie zum Unterschied von der kommunistischen Partei die Verwirklichung des proletarischen Übergangsstaates und die Herstellung des Endzustandes der sozusagen "freien", in Wirklichkeit zur Gänze Staat gewordenen Gesellschaft, vorgestellt. Das totalitäre Staatsprinzip ist also ebensowenig an das autoritäre Staatsprinzip gebunden wie dieses an jenes. An sich, d.h. ohne Symbiose mit dem totalen Prinzip, schließt das autoritäre Prinzip die Gewährleistung einer staatsfreien Sphäre der Gesellschaft und aller Gesellschaftsindividuen nicht aus. Man kann gewiß nicht behaupten, daß ein solcher teilweiser Verzicht auf Herrschaft dem autoritären Staatsdenken kongenial sei, denn wenn sich die Träger des autoritären Prinzipes berufen fühlen, ohne Mitbestimmung der Beherrschten die Herrschaft zu führen, dann liegt für sie auch kein Grund vor, sie ganz oder teilweise aus der Herrschaft rechtlich auszunehmen, den Herrschaftsmöglichkeiten von vornherein bestimmte inhaltliche Schranken zu ziehen. Wenn nichtsdestoweniger die Erfahrung des Staatslebens zeigt, daß im sogenannten oder so sich nennenden autoritären Staat eine gesellschaftliche und persönliche Sphäre aus dem staatlichen Herrschaftsbereich rechtlich ausgesondert wird, so ist dies dem Einfluß anderer staatlicher Baugesetze zuzuschreiben, die positivrechtlich mit dem autoritären Prinzip kombiniert sind. So erklärt sich namentlich die Verankerung von individuellen Freiheitsrechten in einem gemischt demokratisch-autoritären Staat, wie der konstitutionellen Monarchie von der Art des Kaisertums Österreich, oder in einem ständisch-autoritären Staat, als der offiziell das heutige Österreich bezeichnet wird.

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Somit fragt es sich nur noch, wie sich das ständische Staatsprinzip zu einer staatsfreien Gesellschafts- und Individualsphäre verhält. Ein Ständestaat setzt partiell staatsJreie Gesellschaftsgruppen, eben die sogenannten Stände, mögen sie nun als Berufsstände, Erbstände oder wie immer organisiert sein, begriffsnotwendig voraus. Denn das Wesen des Ständestaates erfüllt sich darin, daß diese mit rechtlicher Eigenexistenz ausgestatteten Stände außer dem Bereiche ihrer Autonomie auch an der Staatswillensbildung beteiligt sind. Eine durch die rechtliche Koexistenz von Staat und Ständen gekennzeichnete Herrschaftsform kann weder einen totalen Staat noch auch einen zur Gänze autoritären Staat abgeben. Die Totalität ist durch die rechtliche Garantie der Existenz und einer staatsfreien Kompetenz der Stände ausgeschlossen. Der Mangel der ständischen Selbstbestimmung, die behauptet oder wirkliche Staatsorganqualität der Korporationen und Syndikate ist ja der Gegenstand der Kritik, die die Enzyklika "Quadragesimo anno" an der Korporationsverfassung des faschistischen Staates übt. 5 Der Charakter eines autoritären Staates wird durch ständischen Einschlag in der Staatswillensbildung zwar nicht aufgehoben, aber im Herrschaftsbereich der ständischen, nämlich aus der Mitte der Stände bestellten Staatsorgane, verdrängt. Ein wahrer ständischer Staat, ja selbst schon eine staatlich anerkannte ständische Gesellschaftsordnung bedingt somit die rechtliche Sonderexistenz von Gemeinschaftsgruppen und die Selbstbestimmung der ständischen Personalverbände, also ein minimales staatsJreies GesellschaJtsbereich. Damit ist aber noch nicht notwendig eine staatsJreie Individualsphäre gegeben. Vielmehr ist es denkbar, daß sich Staat und Stände in eine restlose Beherrschung des Individuums teilen. Gewiß gewährt eine solche Konkurrenz zweier Autoritäten eine größere Bewegungsfreiheit. als wenn das Individuum ausschließlich einer übermächtigen Autorität gegenübersteht. Aber diese rein faktische Freiheit hängt eben nur davon ab, wie sich die beiden konkurrierenden Autoritäten vertragen. Es liegt nun aber in der Idee einer ständischen Gesellschaftsordnung begründet, daß das Individuum nicht zur Gänze von der Gemeinschaft absorbiert wird. Insbesondere tendiert das ständische Gesellschaftsprinzip nach einer Aufspaltung der ständischen Organisation in mehrere bis zahlreiche Gemeinschaftskreise, die einerseits einander ausschließen, andererseits konzentrisch gelagert sind. Im Sinne des ständischen Weltbildes stellt der Staat den umfassendsten 5 Näheres hierüber in dem Werk "Die soziale Enzyklika" von Hochschulprofessor P. Oswald von Nell-Breuning, Katholischer Tat-Verlag, Köln 1932.

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Lebenskreis, die Lebenssphäre des Individuums den engsten Lebenskreis dar. Zwischen diesen beiden Polen der Gesellschaft vermitteln die ständischen Zwischenbildungen. Ein solches Bild der Gesellschaftsverfassung begegnet uns zugleich mit einem Programm der Kompetenzverteilung auf diese verschiedenen Kreise in der Enzyklika "Quadragesimo anno" (Nr. 79) in folgender klassischer Formulierung: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen ... Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär. Sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. ,,6 Mit diesen Worten wird ebenso entschieden wie die Totalität des umfassendsten Kollektivismus, des Staates, auch die Totalität beliebiger engerer Gemeinschaften, namentlich der Stände, abgelehnt und eine Sphäre der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Individuums reklamiert. Diese Vorstellung und Forderung der Subsidiarität jeglichen Gemeinschaftslebens im Verhältnis zum Individualleben liegt ganz in der Richtung der ethischen Auffassung des Christentums von der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der menschlichen Persönlichkeit, die in der bekannten Formel von der "Freiheit eines Christenmenschen" eine alte Prägung erhalten hat. Vom christlichen Standpunkt aus ist der Staat wie jegliche Gemeinschaft ein wiederum nur aus Individuen zusammengesetztes Mittel für letzlieh individuelle Zwecke; ein Mittel zur Sicherung des irdischen Heiles, das dem Menschen die Verfolgung seines überirdischen Zieles erleichtern soll. Es ist sonach kein Zufall, wenn die Rechtsgeschichte seit Herrschendwerden des Christentums in allen von christlichen Vorstellungen beherrschten oder wenigstens beeinflußten Staaten die Polarität zwischen Individuum und Kollektivum aufweist, die sich in einem staatsfreien und staatlich gebundenen Bereiche des Individuallebens auswirkt. Die Gesellschaftstheorie des Christentums ist gekennzeichnet durch "die Verbindung von

6 Zitiert nach Gustav Grundlach, S.1., Die sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius' XI., 2. Aufl., Paderbom, Schöningh, 1933.

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Herrschaft und Freiheit, das Eintreten für die individuelle Freiheit des Menschseins innerhalb der sozialen Bindung", die Thomas aus Aristoteles herausliest. 7

*** Um von allen anderen denkbaren rechts geschichtlichen Reminiszenzen abzusehen, zeigt sich im deutschen Staate des Mittelalters neben der ständestaatlichen Konkurrenz zwischen zentraler Staatsgewalt und lokalen, aber auch personal ständischen Teilgewalten der Persönlichkeitsgedanke, indem nicht bloß rechtlichen Gemeinschaften, namentlich Städten und Ständen, sondern auch nach generischen Momenten gekennzeichneten Individuen Freiheit von bestimmten Leistungen und obrigkeitlichen Ansprüchen verbürgt wird. Dieses gesatzte Individualrecht ist strukturell ganz dem Gewohnheitsrecht gleichgestellt, dessen objektive Ordnung sich nach der herrschenden Vorstellung aus einer schier unübersehbaren Summe subjektiver Rechte zusammensetzt. Es bleibe dahingestellt, welchen Anteil an diesem Rechtsbilde die profane nationale und die religiös-kirchliche Komponente hat. Denn sowohl die germanische Rechtstradition als auch das erwähnte religiöse Gesellschaftsbild wirken zusammen in der Richtung einer Auflockerung des Staatsgefüges zu einem buntscheckigen Mosaik verschiedenartigster Herrschaftskreise, neben denen auch das rechtlich autonome Individuum immer mehr Bedeutung gewinnt. Die Einwirkung der Freiheitsidee auf die germanisch-deutsche Herrschaftsordnung ist nicht bloß in der antiautoritären Tendenzzeichnung des Tacitus erkennbar, sondern tritt uns in der ganzen Literatur der deutschen Rechtsgeschichte, beispielsweise bei Freiherm von Schwerin, Otto Brunner und vielen anderen, entgegen. Die christliche Kirche hat diese, zunächst gewiß ethisch fundierte Freiheitsideologie auch politisch im Zuge ihrer großen Auseinandersetzung mit der Kaisermacht gefördert. 8 Das theologische Schrifttum im 7 Theodor Steinbüchel, Christliches Mittelalter, Leipzig 1895, S. 208. - Die christliche Vorstellung vom richtigen Verhältnis zwischen Staat und Untertan wird auf die Formel gebracht: Freie Herrschaft über freie Untertanen. 8 Von der Symbiose nationaler und religiöser gegen jegliche politische Autorität gerichteter Freiheitsvorstellungen und -forderungen gibt uns namentlich die glänzende Schrift des Germanisten Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, Verlag K.F. Koehler, Leipzig 1914, Aufschluß. Die weitere Entwicklung der Freiheitsidee

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deutschen Mittelalter hat der Idee der persönlichen Freiheit namentlich durch die selbständige Entwicklung einer Lehre von der Volkssouveränität, wonach der Herrscher nur Beauftragter des Volkes ist, und der Lehre vom Widerstandsrecht als Garantie der individuellen und kollektiven Freiheiten gedient. Die entschiedensten Rufer gegen den Herrscher, und zwar nicht bloß gegen den mit dem Papst im Kampf liegenden deutschen Kaiser, sondern gegen die Institution der Monarchie, waren unter anderm auch Kleriker. Der deutsche Mönch Manegold von Lautenbach versteigt sich zu den drastischesten Vergleichen, um den Herrscher als den widerruflichen Diener der Gesamtheit zu zeichnen. "Vt enim de rebus vilioribus exemplum trahamus, si quis alicui digne mercede porcos suos pascendos committeret, ipsumque postmodo eos non pascere sed ju ra ri, mactare et perdere cognosceret, nonne, promissa mercede etiam sibi retenta, a porcis pascendis cum contumelia illum amoveret?,,9 Der Mönch Manegold ist augenscheinlich vom Gottesgnadentum des deutschen Königs wenig beeindruckt, wenn er ihn gegebenenfalls so behandeln möchte, wie der Bauer seinen ungetreuen Schweinehirten, indem er ihn vom Hofe jagt. Und der spanische Mönch Mariana widmet dem Gedanken ein ganzes Buch, daß der seine Macht überschreitende Herrscher des Thrones entsetzt werden könne. ("Certe a re publica, unde ortum habet regia potestas, rebus exigentibus Regem in ius vocari posse, et si sanitate respuat principatu spoliari. ,,)10 Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß derartige Äußerungen, sofern sie nicht die bestehende Rechtslage wiedergeben, sondern ein Naturrecht auf Vertreibung und Tötung des Herrschers von Seite der Untertanen behaupten, der kirchlichen Ordnung auch ihrer Zeit nicht entsprechen; geradezu eine Welt trennt sie von der damals wie heute gültigen religiös-kirchlichen Forderung, daß selbst der unerträglichen Herrschaft (nicht bloß übrigens eines Monarchen, im öffentlichen Recht der Deutschen schildert Kurt Wolzendorff in seiner monumentalen Schrift "Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt", Breslau 1916, Verlag Marcus. 9 Zitiert nach Fritz Kern, a.a.O., S. 256. - Vgl. auch G. Koch, Manegold von Lautenbach und die Lehre von der Volkssouveränität unter Heinrich IV., Historische Studien, Heft 34, Berlin 1902. 10 Zitiert aus "Joannis Marianae Hispani e Societate Jesu", "De Rege et regis institutione libri I1I", Mainz 1605, nach Kurt Wolzendorff, a.a.O., S. 117. - Vgl. auch M. Lossen, Die Lehre vom Tyrannenmord in der christlichen Zeit. Festrede, gehalten in der öffentlichen Sitzung der k.b. Akademie der Wissenschaften zu München, München 1894.

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sondern jeder weltlichen Obrigkeit), soweit sie nicht eindeutig Sittenwidriges fordert, nur mit christlicher Geduld und inständigem Gebet ("Patientia christiana et precibus instantibus") zu begegnen sei (Enzyklika "Quod apostolici muneris" vom 28. Dezember 1878). Jedenfalls war aber eine derartige Haltung kirchlicher Kreise geeignet, die herrschaftsfeindlichen Strömungen ihrer Zeit zu verstärken und das Streben nach Sicherstellung von Freiheiten für Einzelpersonen und Gemeinschaften zu stützen. So sind zwei mächtige Strömungen, ein profanes nationales Freiheitsstreben und der religiös fundierte Antietatismus kirchlicher Kreise, sozusagen in ein Strombett zusammengeflossen und haben einen ganzen Wall von Freiheiten aufgeworfen. Die ständischen Einrichtungen des Mittelalters, die sich als Erfüllung dieses antietatistischen Freiheitsstrebens darstellen, liegen uns heute gewiß ferner, denn die ständischen Einrichtungen, die die jüngste Rechtsentwicklung in Österreich gebracht hat, aber auch ihre Endgestalt, die von der päpstlichen Enzyklika "Quadragesimo anno" vorgezeichnet ist, stehen sachlich ebenso weit wie zeitlich von den ständischen Einrichtungen des Mittelalters ab. Besonders bemerkenswert ist aber, daß auch echte Freiheitsverbürgungen im Sinne eines Nichthandelns staatlicher und ständischer Autoritäten von der Art der so modem anmutenden Freiheitsrechte im deutschen Mittelalter in bunter Fülle ausgebildet worden sind. An solchen Freiheitsverbürgungen finden wir unter anderrn die Befreiung vom Zweikampf und Gottesurteil, die Freiheit vom Heiratszwang, die Freiheit von der Heerzugspflicht und von der Gastung, die Abgabenfreiheit einerseits in Form der Steuerfreiheit, andererseits der Zollfreiheit, die Freiheit von Tortur, die Freiheit von der Übernahme von Ämtern, die Freiheit vor Verhaftung, vor Haussuchung, die verschiedensten Formen der Freizügigkeit, nicht zuletzt die freie Herrenwahl. Inhaltlich sind dergleichen Freiheiten gewiß zum großen Teil veraltet, weil an die Sozial verfassung und Rechtsordnung des Mittelalters gebunden. Zum andern Teil sind sie aber nicht zeitgebunden. Bemerkenswert ist, daß sich wirtschaftliche und ideelle Freiheiten die Waage halten, und daß neben der allerdings überwiegenden Freiheit vor Eingriffen der Obrigkeit - Freiheit vom Staat wäre zu enge, denn die Gewährleistungen richten sich gegen alle Arten von Obrigkeiten - auch ein Anklang an die demokratische Freiheitsidee in Gestalt der Verbürgung freier Herrenwahl anzutreffen ist. Damit ist in unwiderleglicher Weise erwiesen, daß dem deutschen Mittelalter der sogenannte, modeme, der "Aufklärung" zugeschriebene Freiheitsbegriff

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schon wohlbekannt war und zu Rechtsbildungen geführt hat, die ihrer Struktur und ihrem Inhalt nach den modemen Freiheitsrechten völlig gleichartig sind. Unleugbar ist der Unterschied, daß diese Freiheitsgarantien des Mittelalters, die auf unzählige Rechtsquellen verstreut sind, nicht jene gleichartige Allgemeingeltung haben, wie die verfassungsförmigen Grundrechtskataloge des 19. bis 20. Jahrhunderts, und daß die einzelnen Freiheitsverbürgungen inhaltlich außerordentlich wechseln. Es wäre allerdings die denkbar willkürlichste Deutung, diese Buntheit der Freiheitsverbürgungen in der typisch idealisierenden Weise der universalistischen Gesellschaftslehre durch die Erwägung zu rationalisieren, daß jene mittelalterlichen Rechtsquellen zum Unterschied von den schablonisierenden modemen Verfassungen für die ungleichen Menschen ungleiches Recht geschaffen hätten. Der Hauptgrund der Rechtsunterschiede mag in der unterschiedlichen Machtlage und Interessenrichtungjener Schichten gelegen sein, denen die Freiheitsgewährungen zugute kamen. Wenn der eine Stand und die eine Stadt Freiheit vom Gottesurteil und Freiheit von der Heerzugspflicht erlangt hat und die anderen nicht, so darf man sich dies bei objektiv-realistischer Betrachtung aus nichts anderem erklären als daraus, daß der jeweilige Inhaber dieses Freiheitsrechtes ein besonderes Interesse gehabt hat, von seinem herrschaftlichen Gegenspieler diese Freiheit zu fordern, und die nötige Macht gehabt hat, sie durchzusetzen. Also ungleiches Recht, aber nicht nach irgend einer idealen Maxime, sondern nach der Wirksamkeit ungleicher tatsächlicher Verhältnisse. Es bleibe dahingestellt, ob dieser Einschlag der mittelalterlichen Rechtsordnung gleich dem ständischen als Ausdruck eines politischen Universalismus zu deuten ist, oder ob wir in ihm nicht vielmehr ein individualistisches Gegenstück universalistischer Rechtseinrichtungen zu erkennen haben, - gemäß der rechtsgeschichtlich unendlich oft erprobten Erfahrungstatsache, daß sich in den einzelnen Rechtsordnungen Einrichtungen individualistischen und universalistischen Ursprungs begegnen und selbst Rechtseinrichtungen finden, auf die gleichzeitig individualistisches und universalistisches Denken eingewirkt hat. 11 Man kann Freiheitsgarantien sehr wohl als universalistisch motivierte Schrankenziehung für die vom universalistischen Standpunkt aus nicht notwendige Omnipotenz der Kollektiven ansehen, man müßte dann aber viel eher die

11 Vgl. meinen Aufsatz "Individualismus und Universalismus als staatliche Baugesetze" , Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1934, S. 243-265.

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aus einem gewissen Doktrinarismus heraus allgemeingültig in den Verfassungen der Neuzeit verkündete Freiheit des Individuums dem Universalismus zuschreiben, als jene kasuistischen Freiheitsverbürgungen des Mittelalters, die offensichtlich in hartem Handel zu egoistischen Zwecken der jeweiligen Autorität abgerungen worden sind; es wäre denn, daß man alle Rechtseinrichtungen des Mittelalters als Schöpfungen des Universalismus und alles nachrevolutionäre neuzeitliche Recht, das bis zur Konterrevolution entstanden ist, als Frucht des Individualismus deutet. Damit wäre aber die Kennzeichnung von individualistischem und universalistischem Rechtsgut als politische Tendenzzeichnung, das modeme Klischee des Mittelalters als Wunschtraum erwiesen. Wenn ein wesenhafter Unterschied zwischen den mittelalterlichen und den nachrevolutionär-neuzeitlichen Freiheitsgewährleistungen besteht, so liegt er am ehesten in deren etatistischer Abschwächung durch die modemen Verfassungen. Die rechts geschichtliche Forschung ist zu dem Ergebnis gelangt, daß Eingriffe in die verbürgten Freiheiten der ständischen Staatsepoche mit dem Stigma der Nichtigkeit des Eingriffes versehen waren. 12 Man stellte sich vor, daß im rechtswidrigen Akt überhaupt nicht die legitime Obrigkeit, sondern eine Scheinautorität auftrete, der man insoweit passiven und selbst aktiven Widerstand entgegensetzen könne. Als Sanktion der Freiheitsverletzung galt also das berühmte Widerstandsrecht, mochte es nun positivrechtlichen Ursprungs gewesen sein, was namentlich dann zutraf, wenn es neben den anderen Freiheitsrechten ausbedungen und gewährt worden war, oder mochte es eine naturrechtliche Konstruktion sein. Die modemen Verfassungen mit ihren Grundrechtskatalogen denken insoferne etatistischer, als das relativ anarchische Mittelalter, als sie einem Widerstandsrechte, was soviel bedeutet, wie ein Recht auf Revolution, keinen Raum geben, sondern die Selbsthilfe durch Staatshilfe, die Revolution durch prozessuale Rechtsschutzgarantien ersetzen. Dieser Wandel der Sanktion der Freiheitsgewährleistung hat die juristische Bedeutung, daß der rechtswidrige Eingriff in die Freiheit aus einem absolut nichtigen zu einem bloß anfechtbaren Akt wird. Die in der Literatur behauptete theoretische Über-

12 Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter, Heidelberg 1933, S. 249, 289 f. - Das Buch ist die wertvollste und verständnisvollste Materialsammlung für das Problem "Das Individuum im mittelalterlichen Recht".

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einstimmung zwischen den Freiheitsgewährleistungen des Mittelalters und der Neuzeit in dem Punkte, daß sie beide Beschränkungen des obrigkeitlichen Könnens zum Unterschied vom Dürfen bedeuten, besteht demnach nicht. \3 Die Obrigkeit des modemen, wegen seiner Freiheitsgarantien als liberal abgestempelten Staates daif zwar nicht in die rechtlich geschützte Freiheitssphäre des Individuums eingreifen, kann dies aber rechtswirksam tun, wobei die Rechtswirksamkeit des obrigkeitlichen Aktes dadurch resolutiv bedingt ist, daß er mittels der verfassungsmäßigen Rechtsschutzeinrichtungen angefochten wird und dieser Angriff zum Ziele führt. Eine derart durch einen kassatorischen Staatsakt garantierte Freiheitsgewährleistung ist selbstverständlich ihrer Idee nach schwächer als eine Freiheitsgewährleistung, deren Verletzung von Seite der Obrigkeit von vornherein unwirksam ist und in keiner Weise respektiert zu werden braucht. Auch darin liegt eine Abschwächung der modemen Freiheitsgarantien im Vergleiche zu ihren mittelalterlichen Vorläufern, daß diese als absolut starr anzusehen sind, nämlich in Anbetracht ihres vertragsmäßigen Ursprunges nur mit Zustimmung der Adressaten der Garantie rechtsgültig beseitigt werden konnten, wogegen die modemen Freiheitsgarantien der Disposition ihrer Nutznießer entzogen sind und selbst, sofern sie verfassungsfest sind, von jener Autorität, die sie gegeben hat, einseitig wiederum zurückgenommen werden können, soweit sie aber bloß Schranken für die Vollziehung sind, durch Gesetz beliebig eingeschränkt werden können. Wenn diese geschichtliche Abschwächung der Freiheitsgarantien ideologisch gedeutet werden kann, so nur in dem Sinne, daß der angeblich individualistische Staat der Neuzeit im universalistischen Sinne umgebogen hat, was der sogenannte universalistisehe Staat des Mittelalters durch die Form der die Obrigkeit unbedingt bindenden Vereinbarung mit dem Untertanen im individualistischen Sinne gestaltet hatte. Im mittelalterlichen deutschen Staat tritt also der Freiheitsgedanke in jenen beiden Erscheinungsformen zutage, die man zeitlich verengend als die moderne und die antike Freiheit bezeichnet: Die Freiheit in Gestalt der Teilnahme der Untertanen an der Staatswillensbildung derart, daß die Reichsstände den Kaiser, die Landstände den Landesherm in der Staatsführung ergänzen, so daß sich in der Staatswillensbildung ein autoritäres 13 Keller, a.a.O., S. 290 ff. 15 A. J. Merk!

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(immerhin selbst durch die Form der Wahlmonarchie abgeschwächtes), ein aristokratisches und in den seltenen Fällen der Erweiterung der Landstandschaft auf die Masse der freien Untertanen selbst ein demokratisches Element begegnen. Aber auch die Freiheit im modernen Sinn, indem den verschiedensten Gruppen von Untertanen und auch bestimmten Einzelpersonen, also in kasuistischer Rechtstechnik und im Gesamteffekt wohl nur einem kleinen Ausschnitt der Untertanen, individuelle Freiheiten gegen bestimmte Herrschaftsträger, also freilich nicht in universeller Weise gegenüber jedwedem Herrschaftskreise, verbürgt sind.

*** Wenn die gegen den absoluten Staat der Neuzeit gerichteten Revolutionen zugleich Freiheit vom Staat und Teilnahme an der Staatswillensbildung gefordert und durchgesetzt haben, so sind sie bewußt oder unbewußt in die Fußstapfen von Staatsepochen getreten, deren Freiheitseinrichtungen beider Art von der absolutistischen Zwischenzeit zum Teil bis zur völligen Unkenntlichkeit verschüttet worden waren. Die Freiheitsidee ist im Laufe der Generationen lebendig geblieben, die Rechtsformen ihrer Verwirklichung aber mußten vielfach von neuem konstruiert werden, denn erst nachträglich hat hier rechtsgeschichtliche Forschung die Wiederkehr des gleichen nachgewiesen. Dabei soll gewiß nicht der Wandel in Motiv und Ton des Freiheitsideals verkannt werden. In den Kodifikationen der Aufklärungszeit und in deren Nachahmungen des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Freiheitsidee in der Regel nicht mehr religiös motiviert oder wenigstens influenziert, sondern ganz säkularisiert. Das gilt namentlich von den Katalogen der Menschen- und Bürgerrechte, welche die Französische Revolution aufgestellt und für Kontinentaleuropa vorbildlich gemacht hatte. Wenn freilich die revolutionär-französischen Freiheitsverbürgungen lange Zeit für die geschichtliche Wurzel gehalten und die ihr geschichtlich folgenden Grundrechtskataloge samt und sonders als deren Nachahmungen ausgegeben worden sind, so hat seither die Quellenforschung eindeutig nachgewiesen, daß dieser vermeintliche Ursprung der Freiheitsgarantien die unoriginellste und vollbewußte Kopie amerikanischer Vorbilder l4 und somit letzten Endes die Rezeption mittelalterlich-germanischer Rechtsgedanken und Rechtsein14 Dieser Nachweis ist besonders das Verdienst Georg Jellineks, Der Ursprung der Menschen- und Bürgerrechte.

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richtungen gewesen ist. Wie so häufig, wurde auch in diesem Falle die Kopie für das Original gehalten. Und wenn auch die deutschen Verfassungen, namentlich die der Frankfurter Paulskirche, nicht zuletzt auch der dem Frankfurter Vorbild so nahe verwandte Entwurf des Kremsierer Reichstages (1849) und das österreichische Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 rechtstechnisch bei der französischen Fassung der Freiheitsrechte oder deren unmittelbaren Kopien Anlehnung gesucht haben, so tritt doch in dieser fremden rechtstechnischen Hülse von den eigenen Altvordern ererbtes Gedankengut, christlich beeinflußter mittelalterlicher Rechtsstoff zutage. Und zumindest die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 hat sich bewußt selbst von der rechtstechnischen Form "westierischer" Grundrechtskataloge freigemacht und ihre reichliche Liste von "Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen" vielfach in eine (der Auslegung gewiß nicht immer entgegenkommende) Sprache gegossen, die alten deutschen Rechtssprüchen und sonstigen ehrwürdigen Rechtsquellen entnommen ist. Gerade eine am nationalen Ideal ausgerichtete Kritik müßte sich hüten, die deutschen Rechtsschöpfungen des letzten Jahrhunderts, die nicht nur in der Weltanschauung des gewiß nicht undeutschen "klassischen Idealismus" verankert, sondern sogar mit der Patina des deutschen Mittelalters bedeckt sind, in Bausch und Bogen als fremdnationale Importware abzutun, während das zum überwiegenden Teil unleugbar importierte anationale (darum gewiß noch nicht unbedingt schlechte) Privatrecht im großen und ganzen intakt und unangefochten ist. Geschichtlich gesehen ist viel eher überbetonte Staatlichkeit als politische Freiheit undeutschen Ursprungs. Und so hatte für das deutsche Rechtsbild viel eher earl Schmitt recht, wenn er die Freiheitsgewährleistungen als den Kern der deutschen Verfassung bezeichnet hat, als Otto Koellreuter, wenn er die Freiheitsrechte in Bausch und Bogen als "Aufmarsch des Eigennutzes" und damit wohl nach seiner Ansicht als undeutsch verwirft. Auch von anderer konservativ eingestellter Seite haben die Grundrechte überhaupt und namentlich der Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung Anerkennung gefunden. Hans Gerber sagt in seiner knappen, aber um so tieferen Schrift "Minderheitenrecht im Deutschen Reich": "Die Grundreche sind rechtssatzmäßig ausgestaltete Gerechtigkeitsgrundsätze, dazu bestimmt, in einer weltanschaulich zerrissenen Zeit einer Rechtsordnung die notwendige Einheit der Wertungs grundlage möglichst zu sichern. Wir nun leben heute in einer weltanschaulich aufs höchste zerrissenen Welt; unser 15'

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Rechtsleben kann deswegen ohne Grundrechte überhaupt nicht mehr auskommen. Daraus erklärt sich auch, daß, wenn schon der Gedanke eines verfassungsmäßigen Grundrechtskatalogs den Kämpfen um Anerkennung einer Reihe liberal-individualistischer Weltanschauungsgrundsätze im Rechtsleben entsprungen ist, die heute in unserer R. V. enthaltenen Grundrechte keineswegs nur Niederschlag dieser Weltanschauung sind, sondern der verschiedenen, die heute gegen- und miteinander um Geltung und daher um bestimmenden Einfluß auf das Rechtsleben ringen.,,15 Diese treffenden Ausführungen sind für die Einstellung gerade konservativer Kreise gegenüber den Freiheitsrechten der Weimarer Verfassung kennzeichnend. Die Freiheitsrechte mit ihren Garantien vor Eingriffen des Staates, desgleichen auch die Einrichtung der Trennung der Gewalten und die richterliche Unabhängigkeit, erfüllen nämlich im Systeme einer grundsätzlich demokratischen Verfassung die Funktion, einer adernokratischen Minderheit Sicherheit und Aktionsmöglichkeit gegen das von ihr abgelehnte Regime zu bieten. Die Geschichte lehrt immer wiederum, daß liberale und demokratische Staatseinrichtungen bei ihren Gegnern dann bedingte Anerkennung finden, wenn diese nicht selbst Träger des Regimes sein können. An den wiedergegebenen Ausführungen Gerbers ist namentlich bemerkenswert, wie er die kompromissarische Natur des Grundrechtskatalogs rühmt und selbstverständlich findet, daß einer Mehrzahl von Weltanschauungen in der politischen Sphäre Raum gegeben ist. Damit sind insbesondere auch vom Standpunkte des Verfassers die individualistischen Freiheitsrechte des Grundrechtskatalogs gerechtfertigt, deren teilweise mittelalterlicher Ursprung dem Verfasser vermutlich nicht bewußt ist. Fragen wir uns nun in Kürze, ob und inwieweit die geltende österreiehisehe Verfassung individuellen Freiheitsrechten Raum gegeben hat, so ist von der im vorstehenden gewonnenen Erkenntnis auszugehen, daß das Bekenntnis einer Verfassung zum Autoritätsprinzip die verfassungsmäßige Anerkennung der persönlichen Freiheit nicht ausschließt und daß das Bekenntnis zum ständischen Prinzip zwar nicht eine ausdrückliche Anerkennung der individuellen Freiheit bedingt, aber nach der geschichtlichen Erfahrung geradezu nahelegt. Die scheinbare Paradoxie, daß eine autoritäre und ständische Verfassung geradezu die Summe jener Rechtseinrichtungen, die der 15 A.a.O., S. 44. - Der von mir hochgeschätzte Verfasser ist derzeit Dekan der Leipziger Rechtsfakultät.

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individuellen Freiheit dienen, von ihren in diesen Punkten übereinstimmenden Vorgängern - der konstitutionell-monarchischen und der demokratischrepublikanischen Verfassung - übernommen hat, wird dann um vieles begreiflicher, wenn man sich des Ursprungs dieser Einrichtungen bewußt ist. Denn wenn auch sozusagen aus zweiter Hand, nämlich aus dem unmittelbaren Vorbild liberaler Verfassungen, hat die gegenwärtige Verfassung instinktiv Rechtsstoff aus einer Ära übernommen, die dem eigenen politischen Ideale der Verfassungskonstrukteure näherliegt als die politische Ideologie, die den österreichischen Verfassungen seit dem Jahre 1848 ihren Inhalt gegeben hat. Es zeigt sich eben auch an diesem Verfassungsinhalt, daß politischer Individualismus einem nicht auf den Staat als höchsten Wert bezogenen Universalismus mitunter nähersteht als einem auf den Staat bezogenen Universalismus. Der Universalismus der katholischen Kirche begegnet sich immer wieder mit dem profanen politischen Individualismus in einem antitotalitären politischen Programm, das das Sonderleben des Individuums und der Gesellschaft gegen einen den ganzen Menschen und alle Menschen usurpierenden Staat verteidigen und sicherstellen will. Der Kern jener Verfassungseinrichtungen, die der individuellen Freiheit dienen, ist im 2. Hauptstück der Verfassung 1934 enthalten. An dieser Regelung fallt vor allem auf, daß die Verfassung der Regelung der Staatsorganisation das Recht der individuellen Freiheit voranstellt, daß also das Verfassungssystem eine Reihung der Probleme vornimmt, wie sie der Bewertung des Rechtsinhaltes von Seite eines radikalen Individualismus entspricht. 16 An dem Katalog der Freiheitsrechte fällt vor allem auf, daß er sich streng an das System des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger anschließt, also aus dem schätzungsweisen halben Tausend Grundrechtskatalogen der Geschichte und Gegenwart jenes Vorbild wählt, das zwar vom Standpunkt der österreichischen Rechtstradition am nächsten gelegen haben mochte, ideologisch aber deshalb ferner stand, weil das genannte Staatsgrundgesetz bekanntlich ein Erzeugnis der Blütezeit des Liberalismus war. Die traditionell liberalen negativen Grundrechte (Freiheitsrechte) wurden zwar vereinzelt von positiven Grundrechten, namentlich dem originellen Anspruch der Bundesbürger auf Schutz gegenüber dem Ausland (Art. 18), unterbrochen, doch hat die österreichische Verfas16 Eine solche Reihung ist namentlich bei earl Schmitt der Ausdruck einer abgestuften Bewertung dieser bei den Teile der Verfassung.

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sung auf die (einem autoritären Staat kongeniale) Aufnahme von Grundpflichten verzichtet, wie sie beispielsweise bereits die Weimarer Verfassung mit einer höchst beachtlichen kollektivistischen Wendung ihres Ideengehaltes aufgestellt hat. Das Vorbild des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger erklärt es, daß ideelle Freiheiten, wie namentlich die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre, einen verhältnismäßig breiten Raum einnehmen, während die aus dem geschichtlichen Ständestaat überlieferten Freiheitsverbürgungen bei weitem überwiegend auf die Freiheit von Leistungen gegenüber der Obrigkeit (Steuerleistung, Heeresdienstleistung usw.) abgestellt waren. Im Vergleiche mit den mittelalterlichen Freiheitsverbürgungen muten auch die Gewährleistungen korporativen Lebens als modern an. Die Vereins- und Versammlungsfreiheit zumal sind Neuschöpfungen der liberalen Ära, in denen sich die positive Einstellung des Liberalismus gegen das Organisationswesen bei gleichzeitiger Ablehnung eines Organisationszwanges kundgibt. (Die regelmäßige Behauptung der Organisatonsfeindlichkeit des Liberalismus kann sich bei verfassungsmäßiger Anerkennung der Vereins- und Versammlungsfreiheit sinnvollerweise nur auf die Ablehnung des Organisationszwanges beziehen, der bekanntlich von so entgegengesetzten Staatstypen wie dem ständischen und sozialistischen Staat gutgeheißen wird.) Die der politischen Zeitlage gemäßen, gewissermaßen geschichtsnotwendigen Einschränkungen der individuellen Freiheit in der österreichischen Verfassung äußern sich sonach nicht im System der Freiheitsrechte, wohl aber in deren rechtlicher Kraft. Bekanntlich können Freiheitsrechte in der Weise abgestuft sein, daß sie entweder eine Schranke für sämtliche Erscheinungsformen der Staatstätigkeit, also nicht nur für die Justiz und die Verwaltung als die bei den Varianten der Vollziehung, sondern auch für die formelle Gesetzgebung darstellen. Ein solches "absolutes", "echtes", "verfassungsfestes" Grundrecht (im System der österreichischen Verfassung beispielsweise die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und - für einen Ständestaat paradoxerweise - der Gleichheit ohne Unterschied des Standes und der Klasse) darf also durch keinen gesetzgeberischen, justizförmigen und administrativen Staatsakt durchbrachen, sondern kann nur im Wege der Verfassungsänderung aufgehoben oder eingeschränkt werden. Zum Unterschied von solchen unübersteiglichen Schranken staatlicher Eingriffe haben die "relativen", "unech-

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ten", bloß gesetzesfesten Grundrechte die Bedeutung, daß sie durch einfaches Gesetz durchbrochen werden und auf Grund gesetzlicher Ermächtigung auch durch Justiz- und Verwaltungsakt im Einzelfalle unwirksam gemacht werden können. Der Sinn der Freiheitsverbürgung ist in diesem Falle lediglich der, daß der immerhin zulässige Eingriff des Staates in die Freiheitssphäre nur in den Fällen und unter den Voraussetzungen, die das Gesetz vorhergesehen hat, statthaft ist. Die Beschränkung des Freiheitsschutzes besteht nun darin, daß die Verfassung 1934 eine Reihe verfassungsfester Freiheitsrechte des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zu bloß gesetzesfesten Freiheitsrechten herabgemindert hat, womit zumal in Anbetracht der außerordentlichen Vereinfachung des Weges der Gesetzgebung die Eingriffsmöglichkeiten bedeutend zugenommen haben. Die Verfassung 1934 hat bekanntlich außer der kasuistischen Freiheitsverbürgung in Form des Grundrechtskatalogs nach dem Muster des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger auch die generelle Freiheitsgewährleistung in Form des Verfassungsrechtssatzes aufgenommen, der die gesamte staatliche Verwaltung von formell-gesetzlicher Ermächtigung abhängig macht (Art. 9, Abs. 2). Die Funktion dieses Verfassungsrechtssatzes als Freiheitsgarantie erklärt sich daraus, daß er alle Verwaltungshandlungen und somit insbesondere auch die Akte der Hoheitsverwaltung, die sich als Eingriffe in die Freiheit darstellen, von einer gesetzlichen Ermächtigung abhängig macht. Diese gesetzliche Ermächtigung hat den doppelten Sinn, den Eingriff in seinem möglichen Umfang für den Untertan vorhersehbar und kalkulierbar zu machen und ihn zugleich durch die Gesetzesform, an der der Untertan im Rechtsstaate beteiligt ist, inhaltlich annehmbar zu machen. Die Auslegungsfragen, die sich aus der doppelten Freiheitsverbürgung in Form des generellen Gesetzesvorbehaltes des Art. 9 der Verfassung und der speziellen Gesetzesvorbehalte des Grundrechtskataloges ergeben, können hier nicht aufgerollt werden. Es muß die Andeutung genügen, daß die doppelte Freiheitsbürgschaft der Auslegungsregel, daß sich ein Gesetz nicht einfach wiederholt, sondern mit einer neuen Normierung im Zweifel auch einen neuen materiellrechtlichen Inhalt schafft, eine Steigerung der Freiheitsgarantie annehmen läßt, und zwar in dem Sinne, daß, wenn dem allgemeinen Gesetzesvorbehalte immerhin auch die verfassungsmäßigen Surrogate der Gesetzgebung, namentlich Staatsverträge und gesetzeskräftige Verordnungen, genügen, die besonderen Gesetzesvorbe-

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halte ausschließlich durch Gesetze im formellen Sinn aktualisiert werden müssen. Bei der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage kommen freilich weder der allgemeine Gesetzesvorbehalt des verfassungsmäßigen Legalitätsprinzips noch die besonderen Gesetzesvorbehalte des Grundrechtskataloges zu ihrer bestimmungsmäßigen Wirksamkeit. Da das Verfassungsübergangsgesetz den Art. III des Ermächtigungsgesetzes vom 30. April 1934 aufrechterhalten hat, können Bundesgese~ze vorläufig nicht bloß auf dem Wege der in den Verfassungsartikeln 61 bis 67 geregelten "konstitutionellen" Gesetzgebung, sondern nach Ermessen der Bundesregierung auch auf rein autoritärem Wege, durch bloßen als Gesetz verlautbarten Beschluß der Bundesregierung zustande kommen. Da diese Akte als vollwertige formelle Gesetze gelten, können sie auch als verfassungsmäßige Grundlage für Eingriffe der Verwaltung in die Freiheitsrechte dienen. Im Falle eines solchen Regierungsgesetzes erfüllt sich aber offenbar nicht der rechtspolitische Sinn des sogenannten verfassungsmäßigen Gesetzesvorbehaltes, der darin gelegen ist, daß eine andere, organisatorisch verschiedene, Autorität der Verwaltung die Ermächtigung für Eingriffe in die Freiheitsrechte geben soll; da sich ein autoritäres Regierungsgesetz nur durch den Namen Gesetz und nicht durch seine rechtliche Kraft von einem anderen Akt derselben Stelle, einer selbständigen Regierungsverordnung, unterscheidet, ist die Sachlage im Falle solcher gesetzlicher Eingriffsermächtigungen dieselbe, als ob sich die Verwaltung selbst die Ermächtigung zu ihren Eingriffen in die Freiheitssphäre erteilen würde, d.h. aber, als ob die Verwaltung ohne gesetzliche Ermächtigung nach ihrem Ermessen in die Freiheitsrechte eingreifen dürfte. Den vollen Sinn einer Freiheitsgarantie empfangen die Freiheitsgewährleistungen einer Verfassung erst durch Sanktionen, die auf verfassungswidrige Eingriffe gesetzt sind. Diese Sanktionen liegen in der Einrichtung der Bundesgerichtsbarkeit, namentlich in den Verfahrensnormen, daß Verordnungen, die die verfassungsgesetzlich verbürgte Freiheit verletzen, von qualifizierten Antragsberechtigten, und verfassungswidrige Entscheidungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörde vom Verletzten bei einem Gerichte mit der Wirkung der Außerkraftsetzung des verfassungswidrigen Aktes angefochten werden können. Daraus erklärt sich die Funktion des Bundesgerichtshofes, wie überhaupt der aus dem liberalen Staat übernommenen Verfassungseinrichtung der richterlichen Unabhängigkeit als Frei-

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heitsgarantie. Es mag auffallen, daß die Verfassung das Schwergewicht des Freiheitsschutzes in die Verwaltungsgerichtsbarkeit verlegt und diese sogar im Vergleiche mit dem Stand im demokratisch-parlamentarischen Staat in liebevoller Weise ausgebaut, insbesondere die Beschwerdemöglichkeiten auf den Fall behördlicher Untätigkeit in nichts weniger als engherziger Weise erweitert hat; die prozessuale richterliche Garantie ist nämlich die Rechtseinrichtung, die im liberalen Staat an Stelle der heutzutage geradezu anarchisch anmutenden Sanktion für die Freiheitsverletzungen im Ständestaat, nämlich das Widerstandsrecht, getreten ist. Dieser Übergang von chaotischer Selbsthilfe zu prozessualer Staatshilfe für den in seiner Freiheit vom Staat Verletzten bedeutet allerdings eine etatistische Wendung des liberalen Staates, die eben darum für einen autoritären Staat annehmbar sein konnte. Den Sinn einer Freiheitsgarantie können außerdem die verfassungsmäßige Ministerverantwortlichkeit und die Haftpflicht für rechtswidrige Vollziehung erfüllen. Beide Rechtsinstitute sind freilich insofern bloß von akademischem Charakter, weil das erste Rechtsinstitut nach jahrzehntelangen Erfahrungen kaum aktualisiert werden kann und das zweite Rechtsinstitut mangels eines Ausführungsgesetzes überhaupt noch nicht anwendbar ist. Bekanntlich ist es das Programm der Verfassung, der Mitbestimmung des Volkes, soweit es ständisch organisiert ist, durch die Zusammensetzung des Bundeswirtschaftsrates, der Landtage, der Wiener Bürgerschaft und der Gemeindetage Raum zu geben. Sobald diese Vertretungskörper wahlweise berufen sein werden, wird auch die Freiheit in Form der Mitbestimmung des Staatsbürgers an der Staatswillensbildung wieder zur Geltung kommen. Bis dahin wird die Freiheit in der oben geschilderten Gestalt um so größere Bedeutung haben. Die verfügbaren verfassungsrechtlichen Handhaben bieten in ihrer Gesamtheit einen Schutz der persönlichen Freiheit, der zwar nicht dem Stand der beiden jüngstvergangenen Verfassungsepochen gleichkommt, dagegen für einen autoritären Staat ein ungewöhnliches Maß erreicht. In dem gegebenen Umfang ist der Freiheitsschutz nicht als systemwidrige Anleihe bei gegensätzlichen Staatsideen der jüngsten Vergangenheit in Frage gestellt, sondern als wenn auch unbewußte Rezeption aus ideologisch verwandten Verfassungsepochen der Vorvergangenheit vollauf gerechtfertigt. Die Verfassungsgeschichte rechtfertigt unseren Freiheitsschutz als bescheidenes Erbe des mittelalterlichen christlich-deutschen Staates.

Autoritär, demokratisch und ständisch Unser Titel nennt die drei heutzutage am häufigsten verwendeten Ausdrücke des politischen und juristischen Sprachgebrauches. Indes gibt es wenige Ausdrücke, deren Begriffe in so vielen Farben schillern. Man darf von dem ganz und gar zweckgebundenen politischen Sprachgebrauch nicht erwarten, daß er sich auf bestimmte Begriffsinhalte seiner Schlagworte unwandelbar festlege. So ist es nicht einmal befremdlich, wenn im politischen Sprachgebrauch unsere drei Wörter bald als Zeichen für unvereinbarliche Gegensätze, bald sogar als Synonym verwendet werden. Doch handelt es sich um Wörter, die in einer unausschöpflichen, zum überwiegenden Teil fachwissenschaftlichen Literatur eine annähernd feststehende Bedeutung erlangt haben. Diese fachwissenschaftliche Bedeutung der in Rede stehenden Ausdrücke soll im folgenden skizziert werden. Demokratisch ist der älteste der drei genannten Ausdrücke und der mit diesen Ausdrücken bezeichneten Begriffe. Die Staatenpraxis des antiken Hellas hat bekanntlich das Wort geprägt, die Staatsphilosophie der Hellenen hat die Bedeutung dieses Wortes analysiert, die Politik derselben Hellenen die Demokratie teils als ideale Staatsform dargestellt, teils vernichtend kritisiert, und eine Weltliteratur hat das Wesen der Demokratie zum Gemeingut des Sprachgebrauches fast aller Kulturnationen gemacht. Diese Geschichte des Wortes und des Begriffes der Demokratie ist wohl der Erklärungsgrund dafür, daß auch die Gegnerschaft gegen die Demokratie in diesem international überlieferten Sinne des Wortes für ihr eigenes Staatsideal demokratischen Charakter oder demokratischen Einschlag in Anspruch nimmt. In diesem überkommenen Sinne des Wortes bedeutet Demokratie eine Staatsform, wo die Summe der willensfahigen Staatsbürger, sei es persönlich oder sei es durch Vertreter, die vom Vertrauen des Volkes abhängig sind, die Staatsherrschaft ausübt, anders ausgedrückt, wo die Kreise der Herrschenden und der Beherrschten möglichst kongruent sind. Schon diese Neue Freie Presse vom 8. November 1936, S. 4.

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andeutende Erhellung des Begriffes der Demokratie hebt ihn deutlich genug von der politischen Ideenrichtung des Liberalismus und von der Organisationstechnik des Parlamentarismus ab. Die Verwechslung der zuletzt genannten Begriffe ist allerdings dadurch nahegelegt worden, daß die Vertreter des liberalen und des demokratischen Prinzipes häufig Bündnisse eingegangen sind, und daß Parteiprogramme demokratische und liberale Forderungen nebeneinander sich zu eigen gemacht haben. Diese geschichtlich bedingte "Symbiose" zweier Ideologien hebt aber nicht ihre begriffliche Eigenart und ihre Fähigkeit auf, auf sich allein gestellt in Erscheinung zu treten. Wenn auch Demokratismus und Liberalismus die Forderung der politischen Freiheit gemeinsam haben, so verwirklicht sich ihnen dieses Freiheitsideal doch in gegensätzlicher Weise; dem Demokratismus durch gleiche Teilnahme aller Staatsbürger am Staatsleben, dem Liberalismus dagegen durch möglichste Distanzierung des Individuums vom Staate und durch möglichste Beschränkung der Staatsgewalt im Interesse des Individuums. Somit ist der Grundzug der Einstellung des Demokraten zum Staat Optimismus, der Grundzug des Liberalen Staats skepsis. Die geschichtliche Vereinigung der bei den Ideologien führt zu Kompromissen, die bald die eine, bald die andere Quelle stärker zum Durchbruch kommen lassen, aber beide Quellen trüben. Jedenfalls ist daran festzuhalten, daß die Demokratie auch eine ganz unliberale Gestalt annehmen kann, indem sie die individuelle Freiheit - das höchste Ideal des Liberalen - einer schrankenlosen Volksherrschaft, ja einer geradezu despotischen Pöbelherrschaft zum Opfer bringt, wie etwa die, abgesehen von einigen Schlagworten ungeahnt unoriginelle französische Revolution, und daß der Liberalismus gerade in Zeiten und Staaten, die nicht demokratisch genannt werden können, seine höchste Blüte erlebt hat; war ja doch der günstigste Boden für den Liberalismus die konstitutionelle Monarchie und eine Organisation des Parlaments, die dem wohlhabenden und gebildeten Bürgertum die Führung gesichert hat. Ebenso ungeschichtlich wie die beliebte Gleichsetzung von liberal und demokratisch ist die Gleichsetzung von parlamentarisch und demokratisch. In diesem Falle werden nicht etwa zwei trotz tiefer Gegensätze verwandte Grundrichtungen politischen Denkens miteinander verwechselt, sondern wird eine Ideologie, der kein Gegner ihre weltgeschichtliche Rolle bestreiten kann, mit einer örtlich und zeitlich bedingten Organisationstechnik gleichgesetzt, die sich die Demokratie in unvermeidlichem Widerspruch mit der Idee der Volksherrschaft angeeignet hat. Demokratien hat es bekanntlich

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um weit mehr als anderthalb Jahrtausend früher gegeben, als das Parlament erfunden war. Und das Parlament war während der längsten Zeit seiner Geschichte ein Instrument der Aristokratie, bis es durch Ausweitung des Wahlrechtes zu einem Instrument der Demokratie geworden ist. Vollends jene einzigartige Rechtsstellung des Parlaments, die man parlamentarische Regierungsweise nennt, ist noch heute unverfälschten Demokratien fremd, wie die Beispiele der Schweiz und der Vereinigten Staaten Amerikas zeigen. Man kann geradezu den Erfahrungssatz aufstellen, daß die Überspitzung des Parlamentarismus von seiten jener Demokraten, die in ungeschichtlicher Weise die Idee der Demokratie mit der Technik des Parlamentarismus auf Gedeih und Verderben verknüpft haben, in einer Reihe von Staaten zum Grab der Demokratie geworden ist.

Autoritär ist ein neuer Name für einen alten politischen und rechtlichen Begriff. Im ursprünglichen Sprachsinn bedeutet Autorität eine geistige Macht. Wenn eine römische Quelle von einer Persönlichkeit sagt, daß ihre "auctoritas ... apud plebem plurimum valet", so besagt dies, daß diese Persönlichkeit auf das Volk eine starke psychische Wirkung übt. Ein Staat hat oder übt in diesem Sinne Autorität, wenn er ohne Aufgebot seiner Herrschaftsmittel bei den Untertanen bereitwillige Gefolgschaft findet. Es ist ein Zeichen von Staatsautorität in diesem ursprünglichen Sinne des Wortes, wenn ein englischer Richter vor einiger Zeit einen vom Hochverrat freigesprochenen Angeklagten mit den Worten entlassen konnte: "Gehen Sie hinaus, junger Mann, und versuchen Sie, die Verfassung Großbritanniens zu stürzen." In dem jüngst gebräuchlich gewordenen gewandelten Sinne des Wortes bedeutet autoritär eine Herrschaftsform, derzufolge die Staatsführung weder von den Geführten berufen noch auch von der periodischen Vertrauenskundgebung der Geführten abhängig ist. Der autoritäre Staat ist also durch eine von den Untertanen unabhängige, nur sich selbst verantwortliche Staatsführung gekennzeichnet. Es wäre selbstverständlich ein völliges Mißverständnis des Autoritätssystems, wenn man es einfach mit dem Despotismus gleichsetzte. Hegel, der in der politischen Sphäre reichlich autoritär gedacht hat, hat zugleich den Despotismus als orientalisch und damit für europäische Kulturnationen unbrauchbar verworfen. Wert und Unwert des Autoritätsprinzips hängt von dem besonderen Inhalt ab, dem es dienstbar gemacht wird. Wenn man bedenkt, daß in der Geschichte beispielsweise das mariatheresianische und josefinische Österreich, das friedericianische Preußen und das Ancien regime der französischen Ludwige Verwirklichun-

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gen der Autoritätsidee gewesen sind, und daß in der Gegenwart das Autoritätsprinzip die Dominante der Verfassungen Österreichs, des Deutschen Reiches und unter anderm auch Rußlands ist, so zeigt sich die inhaltliche Wandelbarkeit dieser politischen Form, ihre Fassungskraft für die entgegengesetztesten politischen Ideale. Die Personen, die sich des Autoritätsprinzips als eines Herrschaftsinstrumentes bedienen, und die kulturelle Grundrichtung, die das Autoritätsprinzip verfolgt und in der Regel viel wirksamer verfolgen kann als eine vielköpfige, von der Volks gunst abhängige Herrschaftsform, geben dem autoritären Staat die besondere Note und je nach der Weltanschauung des Beurteilers der einen Verwirklichung des Autoritätsprinzips höchsten Wert, der anderen völligen Unwert. Keine politische Zielsetzung ist so wie im Autoritätsstaat gesichert, wenn sie dem Ideal der Herrschenden entspricht, keine freilich auch so hoffnungslos, wenn sie der monopolistischen Staatsideologie widerspricht. So erklärt es sich denn auch, daß sich die Vertreter einer nicht offiziell anerkannten politischen Forderung selbst aus der ihnen sonst kongenialen autoritären mitunter in die demokratische Position flüchten, die ihnen, wenn auch nicht die Herrschaft, so doch die Chance der Mitherrschaft oder wenigstens die Sicherheit eines Modus vivendi bietet. Übrigens zieht auch der in bezug auf die Staatsform grundsätzlich neutrale Katholizismus die radikale Demokratie einer antireligiösen Autoritätsherrschaft unbedingt vor, weil jene zum Unterschied von dieser auch einer konfessionellen Minderheit unbeschränkte Wirkungsmöglichkeit sichert. Und bezeichnend in dieser Richtung war es, daß die Schweiz, der demokratischeste Staat der Erde, die wenn auch nicht ausdrückliche, so doch stillschweigende Zustimmung autoritär geführter Staaten gefunden hat, als sie sich dagegen verwahrte, mit Rußland, ihrem erklärten politischen Antipoden, dem Völkerbund anzugehören. Unsere oberflächliche Charakteristik hat begreiflicherweise bloß Idealtypen miteinander konfrontiert. Die Wirklichkeit bietet nur Annäherungen an diese Typen. Ein Staat gilt schon als Repräsentant des Typus, wenn eine bestimmte Ideologie in der Verfassungskonstruktion den Grundton abgibt. Es wird übrigens meist übersehen, daß sich die demokratische Wirklichkeit von der reinen Idee durch die unvermeidlichen Fiktionen der demokratischen Staatspraxis mehr oder weniger weit entfernt. Die Demokratie fingiert mittels ihrer Repräsentatividee die Identität der Repräsentativersammlung mit dem Volk, das sie berufen hat, und fingiert den Mehrheitsbeschluß des Parlaments als Willen der gesamten Volksvertretung, ja schließlich des

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gesamten Volkes. Eine ehrliche Tatsachenwürdigung kann nicht leugnen, daß man auch in der Demokratie von einem fremden Willen beherrscht werden kann. Im besonderen weist die Spielart der monarchischen Demokratie in der Gestalt des Erbrnonarchen einen ganz offenkundigen autokratischen Einschlag auf, der freilich nach den jüngsten Erfahrungen der Demokratie eine wunderbare Stabilität gegeben hat: Während republikanische Demokratien widerstandslos dem Autoritätsprinzip gewichen sind, hat beispielsweise in Großbritannien und Skandinavien die schwache, weil kompetenzarme, aber von der demokratischen Tradition gestützte Krone ihrerseits wiederum dem demokratischen Prinzipe Halt gegeben. Während so einerseits die Demokratie ein mehr oder minder großes Stück Autoritätsprinzip an sich trägt, ist anderseits, zumindest gegenwärtig, der Autoritätsstaat ohne plebiszitäre Unterbauung, ohne den Konsens der Untertanen, der freilich von begeisterter Hingabe bis zu passivem Gewährenlassen abgestuft sein kann, undenkbar. Ja, die besondere Form des Autoritätsstaates, der durch Überwindung des demokratischen Mehrparteienstaates entstanden ist, trägt in der Gestalt des Einparteienstaates geradezu noch eine demokratische Eierschale. Um so mehr verstärkt sich der demokratische Einschlag im autoritären System, wenn die Verfassung bewußt demokratische Einrichtungen rezipiert, wie etwa die österreichische Verfassung 1934, indem sie der charakteristischen Forderung der Demokratie, dem Gleichheitsrechtssatz, sogar in der radikalen Fassung der Ablehnung von Standesunterschieden, und außerdem der Einrichtung der Volksabstimmung Raum gegeben hat. Jeder Autoritätsstaat, der eine größere liberale Geschichte aufweist, gibt in seiner Rechtsordnung bewußt oder versteckt auch einem mehr oder minder großen Rest liberaler Einrichtungen Raum, die selbst, wenn die liberale Ideologie überwunden ist, von der Bevölkerung als Selbstverständlichkeit eines jeden Staates angesehen werden. Die beträchtliche Liste von Rechtseinrichtungen liberalen Ursprungs im System der österreichischen Verfassung, die ich in meinem "Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" (Julius Springer, Wien 1935) nachweisen konnte, wie das Festhalten an der Rechtsfigur des Rechtsstaates, der umfangreiche Katalog von Freiheitsrechten, die richterliche Unabhängigkeit, die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Ministerverantwortlichkeit, die Haftung von Verwaltungsorganen usw., dürfen zwar nicht, wie oben ausgeführt, als demokratisches Gedankengut mißdeutet werden, bedeuten aber auch als unverfälscht liberale Rechtseinrichtungen eine starke Auflockerung der Autori-

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tätsidee. Es ist das Verdienst der gennanistischen Forschung, nachgewiesen zu haben, daß der Kern dieser Rechtseinrichtungen, mögen sie uns vom Liberalismus auch in fremder Fassung wiedergegeben worden sein, doch heimischen Ursprungs ist. Der Schutz der Persönlichkeit ist übrigens gerade in einer zugleich an der christlichen Staatsidee orientierten Verfassung psychologisch voll begreiflich, da die christliche Staatsidee mit ihrer Ablehnung des Totalitätsprinzips und ihrer Forderung einer staatsfreien Sphäre für das Individuum bei allem weltanschaulichen Gegensatz manche inhaltliche Übereinstimmungen mit liberalen Vorstellungen und Forderungen aufweist. Von unbefangener liberaler Seite wird denn auch der große geschichtliche Dienst, den insbesondere die katholische Kirche aus ihren eigensten geistigen Wurzeln heraus für die politische Idee der Freiheit geleistet hat, uneingeschränkt anerkannt, so namentlich von Guido de Ruggiero in seiner monumentalen "Storia delliberalismo europeo". Wenn man sich der hier nur angedeuteten Konkurrenz der entgegengesetzten politischen Ideologien, Autoritätsprinzip und Freiheitsprinzip, und ihrer geschichtlichen Variationen und Kombinationen bewußt ist, so drängt sich die Einsicht auf, daß, gleichviel, ob erwünschtennaßen oder nicht, jegliche politische Gleichschaltung an den Grenzen eines Staates ihre Schranken findet, daß vielmehr das politische Bild auch nur unseres kleinen europäischen Kontinents, mag nun die geschichtliche Pendel bewegung im großen und ganzen mehr in der Richtung des einen oder andern Prinzips ausschlagen, doch von einer Gleichschaltung heute um vieles weiter entfernt ist als vor Jahrhunderten. Dieses Bild politischer Buntheit ergänzt sich noch durch die eigentümliche Erscheinung solcher Staaten, die bewußt Staatseinrichtungen autoritären und demokratischen Gepräges kombinieren. Solche Mischfonnen waren die konstitutionellen Monarchien, die das autokratische und demokratische Element geradezu sorgfaltig ausbalanciert hatten: das konstitutionelle Österreich ist hiefür als nächstliegendes Beispiel zu nennen, wenngleich es dem autoritären Prinzip ein kleines Übergewicht gegeben hatte. Aber auch das berufsständische Prinzip spielt die Rolle einer solchen Brücke zwischen entgegengesetzten politischen Ideologien, wenn es sich von dem trügerischen Vorbild des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen "Ständestaates", der in seiner Hochblüte ein aristokratisch-autoritärer Klassenstaat gewesen ist, fernhält, und nach dem Programme der österreichischen Verfassung

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allen werktätigen Staatsbürgern durch das Medium ihrer Standeskorporationen wesentlichen Anteil an der Staatswillensbildung einräumt. Die Staatsführung soll nach wie vor das autoritäre Element in der Staatskonstruktion darstellen; die allgemeinen Vertretungskörper, Bundestag, Landtage, Gemeindetage, werden aber je nach der Gestaltung des Wahlrechtes und des Wirkungskreises ein mehr oder minder ausgeprägtes und gewichtiges demokratisches Gegengewicht gegen das Autoritätsprinzip abgeben. Im Falle eines paritätischen Ausgleiches zwischen den beiden grundlegenden Baugesetzen - autoritär und demokratisch - wird die Verfassung der Lehre der Geschichte gerecht werden: In medio veritas.

16A. J. Merkl

Staatskompetenz, Berufstand und politische Freiheit Die grundsätzlichen Staatsverneiner haben in der Voraussetzung ihres Werturteils unbestreitbar recht, daß der Staat in jeder denkbaren Gestalt, in welcher Staatsfonn und mit welchem Staatszweck immer, eine Zwangsordnung sei. Bei dieser Erkenntnis schieden sich aber die Wege: die Anarchisten folgern aus der Erkenntnis der Zwangsnatur des Staates die Forderung seiner Abschaffung; die Etatisten dagegen bejahen aus der Einsicht heraus. daß der Zwang nicht zu venneiden und darum nicht zu verurteilen sei, den Staat und suchen ihr Werturteil über den Staat nur durch eine bestimmte Einrichtung des Staates zur Geltung zu bringen. Wem der mit dem Staat begrifflich verbundene Zwang keine Beschwernis verursacht, dem wird die begriffsnotwendige Zwangsnatur des Staates

überhaupt in keiner Weise zum Problem. Anders ist die Lage dessen, der, in der Erfahrungstatsache des vorgeschichtlichen Ursprunges und des ausnahmslosen Bestandes des Staates eine hinlängliche Legitimation der staatlichen Existenz erkennt, darüber hinaus sogar die Funktion des Staates als Hebel der Zivilisation und Kultur anerkennt, dabei aber doch am Ideal der persönlichen Freiheit - im Hinblick auf den Staat gesehen: der politischen Freiheit - festhält. Bekanntlich ist eine Weltliteratur über die Frage entstanden, wie die Existenz des Staates mit der Idee der individuellen Freiheit zu vereinbaren sei, und die Größten der Staatsphilosophie, ein Plato und Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin, Kant und Fichte usw., haben sich in ihrer Art mit diesem Kardinalproblem der Staatsphilosophie auseinandergesetzt.

Der österreichische Volkswirt, 1937, S. 957-959. 16"

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So viel steht fest, daß die begriffsnotwendige Zwangsnatur des Staates nicht für eine absolute, sondern nur für eine relative Freiheit Raum läßt, eine Freiheit, die an Zwangsnonnen und Zwangsakten von Recht und Staat ihre wenn auch noch so weit zurückweichende, so doch unausweichliche Schranke findet. Gleichbleibend und unentrinnbar ist die Tatsache des staatlichen Zwanges. Geschichtlichem Wandel sind aber die Träger und die Zwecke des staatlichen Zwanges unterworfen. Die großen Gegensätze zwischen den politischen Grundrichtungen, die die Staatsentwicklung bestimmen, wie etwa, um nur die Hauptströmungen im neuzeitlichen Europa zu nennen, des Konservativismus, Liberalismus, Demokratismus (den man jedenfalls als eine vom Liberalismus verschiedene Strömung deuten kann), Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalismus, desgleichen alle grundsätzlichen Gegensätze zwischen politischen Parteien lassen sich auf Unterschiede in bezug auf Träger und Zwecke der Staatsgewalt, in juristischen Kategorien gesprochen: Unterschiede in bezug auf Organisation und Funktionen des Staates zurückführen. Die beiden Freiheitsideen

Auch die politische Freiheit - das ist die Freiheit in der staatlichen Sphäre - erachtet man davon abhängig, wer über den staatlichen Zwangsapparat verfügt und welchen Zwecken der Zwangsapparat dienstbar ist. Kein Zweifel, daß es für das subjektive Bewußtsein den größten Unterschied ausmacht, ob A oder B, ein Einzelner, eine Gruppe oder die anonyme Masse über den staatlichen Zwangsapparat verfügt, und daß sich die Staatsgewalt sehr verschieden bemerkbar macht, je nachdem ob sie den Geltungsbedürfnissen eines Diktators oder wenigstens überwiegend anerkannten Gemeininteressen dienstbar gemacht wird. Wer immer die persönliche Freiheit mit der Zwangsnatur für vereinbar erachtet - und eine relative Freiheit ist jedenfalls vereinbar -, der sucht nun eben Antwort auf die im Staat angelegte Alternative Freiheit oder Unfreiheit in der rechtlichen Lösung der Frage, wer die Staatsgewalt innehat oder welchen Zwecken sie dient - allenfalls auch in der Antwort auf diese heiden rechtspolitischen Probleme. Auf den kürzesten Nenner gebracht, besteht der Unterschied zwischen dem demokratischen und liberalen Freiheitsideal darin, daß der Demokratismus in der Fonn, der Liberalismus im Inhalt der Staatsgewalt die Möglichkeit der politischen Freiheit beschlossen sieht. Der Demokratismus sucht nämlich politische Freiheit durch eine bestimmte Antwort auf die Frage, wer die

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Staatsgewalt innehat. Wenn die Gesamtheit der willensfahigen Untertanen entweder persönlich oder durch Repräsentanten die Staatsgewalt ausübt nicht freilich schon dann, wenn sie nur als mitbestimmender Faktor neben einer von den Untertanen unabhängigen Autorität an der Staatsgewalt teilhat -, sei annähernd Identität zwischen den Herrschern und Beherrschten hergestellt und damit der Herrschaftscharakter der Staatsgewalt aufgehoben, die Freiheit im Staate begründet. Der Liberalismus dagegen sucht die politische Freiheit, indem er die Staatsgewalt darauf verweist, der Sicherheit der Untertanen zu dienen, die freie Entfaltung der autarken Individuen sicherzustellen. Die demokratische und liberale Freiheitsidee stimmen also in der Forderung von Schranken für den Staat überein, unterscheiden sich aber insofern, als der Demokrat den Staat im organisatorischen Bereich beschränkt, die breiteste Trägerschaft der Staatsgewalt erzwingt, der Liberale den Staat im funktionellen Bereich beschränkt, nämlich die Staatsgewalt auf ein Mindestmaß an Funktionen, auf die Sicherstellung einer Friedensordnung festlegt. Der bürgerliche Rechtsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts hat bekanntlich die beiden Freiheitsideen bewußt oder unbewußt in einem (freilich zeitlich und örtlich schwankenden) Mischungsverhältnis vereinigt, indem die Staatsverfassungen in einem organisatorischen Teil die politische Selbstbestimmung des Volkes oder die Mitbestimmung des Volkes an der Staatsführung einrichten, und in einem sogenannten Grundrechtsteil, der in der Hauptsache in einem Katalog von Freiheitsrechten zu bestehen pflegt, eine staatsfreie Sphäre gewährleisten. Diese Zusammenfassung der beiden heterogenen Freiheitsideologien, die in typischer Weise die Symbiose von Liberalismus und Demokratie mit sich gebracht hat, ist insofern in sich widerspruchsvoll, als der Liberalismus in der Demokratie bedeutet, daß der Bürger durch Freiheit vom Staat vor der Freiheit im Staat, anders gesehen, daß der Bürger nicht vor einer ihm wesensfremden Autorität, sondern vor sich und seinesgleichen geschützt werden soll. Doch ist dies bekanntlich nicht der einzige logische Sprung, den die Politik gemacht hat. Die geschichtliche Haltung der Religionen zum Staat

ist völlig nur unter der Voraussetzung der Unterscheidung zwischen den bei den skizzierten Freiheitsideen verständlich. Die folgenden Feststellungen haben freilich nur für organisierte Religionen, die sich aber nicht mit

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dem Staat identifizieren, d.h. nicht Staatskirchen bilden, uneingeschränkte Gültigkeit. In dieser Lage ist insbesondere in der großen Mehrzahl der geschichtlichen Staaten der Katholizismus. Für jede Konfession, die nicht selbst einen Staat von der Art des Kirchenstaates bildet, wo der kirchliche Organ apparat zugleich den weltlichen Staatsapparat darstellt, ist eine gewisse Distanzierung vom Staat Lebensbedingung. Dieses Gebot der Selbsterhaltung mag in geschichtlichen Situationen vergessen werden, wo sich die Kirche beim Staat geborgen weiß. Doch die Staatsführung wechselt, und ein solcher Wechsel kann für die Konfession, die sich nicht rechtzeitig grundsätzlich vom Staat distanziert hat, verhängnisvoll werden. Der Katholizismus hat sich bei allen Konzessionen im einzelnen, trotz religiöser Sanktionierung des Staates, in seinen obersten Manifestationen immer grundsätzlich vom Staat unterschieden und die Idee der politischen Freiheit verfochten; Freiheit nicht bloß für die religiöse Gemeinschaft, sondern auch für die Individuen, die erst durch ihr freies Bekenntnis in ihrer Gesamtheit die religiöse Gemeinschaft begründen. Die wahre Katholizität hat nur in einem Minimum von politischer Freiheit, die der religiösen Gemeinschaft und deren Mitgliedern die Freiheit religiöser Betätigung sichert, ihren Nährboden, ja ihre Existenzgrundlage. Der Bestand der Konfession ohne rechtliche Existenzsicherung, im ständigen Widerstreit mit der Staatsgewalt, ist zwar unter Umständen eine wertvolle Schule des religiösen Lebens, kann aber nicht Regel und gar Maxime der religiösen Gemeinschaften werden. Kirche und Staatsform

Unter diesen Umständen fragt es sich, welche Art politischer Freiheit die erwünschte Existenzsicherung bietet, welches Freiheitsprinzip daher dem konfessionellen Prinzip kongenial ist. Es ist durchaus begreiflich, daß, insbesondere mangels einer Dogmatisierung der konfessionellen Lösung dieser Frage, die Meinungsäußerungen im religiösen Lager geschwankt haben und heute noch schwanken. Die denkbaren Möglichkeiten, die sämtlich durch literarische Äußerungen belegt werden können, sind im einzelnen folgende: Es wird im Interesse oder als Gebot der Religion eine bestimmte Organisation des Staates, im besonderen eine bestimmte Staatsform gefordert; es wird vom Staat die Erfüllung oder die Vermeidung bestimmter Staatsaufgaben gefordert; endlich: die konfessionellen Forderungen beziehen sich auf beide Kardinalfragen aller Politik, auf die Form (die Organisation) und den Inhalt (die Zwecke) des Staates. Doch handelt es sich, ob nun diese Meinungsäußerungen aus hierarchischer oder theologischer Quelle stammen mögen, um private, unmaßgebliche Bekenntnisse.

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Von höchster katholisch-kirchlicher Seite ist das aufgeworfene Problem eindeutig im Sinne eines weitgehenden Desinteressements der Kirche in bezug auf die Form des Staates und einer ebenso weitgehenden Interessiertheit für den Inhalt des Staatslebens geklärt. Insbesondere hat das päpstliche Rundschreiben "Immortale Dei" vom 1. September 1885 die kirchliche Neutralität gegenüber der Staatsform erklärt, freilich mit dem wichtigen Vorbehalt, daß die Staatsform dem Gemeinwohl nicht widerspreche. Jedenfalls fehlt aber ein Anhaltspunkt dafür, daß in dieser verklausulierten Form doch wiederum bestimmte Staatsformen schlechthin als kirchenfeindlich oder sonst moralwidrig stigmatisiert werden sollen. Der Vorbehalt ist vielmehr so auszulegen, daß es von den Taten des einzelnen Staates abhängt, ob er dem Gemeinwohl gerecht wird, so daß sich der fragliche Vorbehalt gar nicht auf eine bestimmte Form des Staates, sondern auf einen bestimmten Inhalt des Staatslebens bezieht. Die erwähnte, in einer Reihe päpstlicher Enzykliken wiederholte Neutralitätserklärung gegenüber der Staatsform desavouiert alle jene gutgemeinten Stimmen katholischer Schriftsteller, die, wie etwa eine Reihe mittelalterlicher Theologen, im Kampf zwischen Kaiser und Papst das die gegebene weltliche Autorität ideologisch entwurzelnde Prinzip der Volkssouveränität oder das entgegengesetzte Prinzip der Fürstensouveränität vertreten haben. Doch selbst solche politische Werturteile, die einzelne Merkmale bestimmter Staatsformen als religiös-moralisch geboten auszeichnen, etwa die Unverantwortlichkeit des Staatsführers (in kurzsichtiger Verallgemeinerung günstiger geschichtlicher Erfahrungen) als gottgewollt hinstellen, erweisen sich am klaren Spruch Roms als höchst persönliche Wünsche des Schreibers oder Redners.

Die Neutralitätserklärung der Kirche in bezug auf die Staatsform hat auch einen tiefen kirchenpolitischen Sinn, der freilich jenen positiven oder negativen Kritikern an der Staatsform nicht bewußt wird. Mit einer wertenden Stellungnahme in dieser Hinsicht würde sich nämlich die Kirche in den Streit der Parteien mischen und sich und insbesondere ihren Gläubigen von vornherein die Feindschaft und die Verfolgung jener Staaten auflasten, die einem kirchlichen Werturteil über die Staatsform nicht gerecht würden, etwa von dem allfälligen Urteil des Unwerts des autoritären oder des demokratischen Prinzips getroffen würden. Es steckt also tiefste Weisheit in dem Standpunkt: Jeder Staat kann den religiösen Anforderungen ohne Rücksicht auf seine Staatsform voll gerecht werden, wenn er sich durch seine Taten bewährt. Selbstverständlich konnte aber dieser kirchliche Standpunkt der Neutralität nicht auf der ganzen Linie des Staatslebens durchgehalten werden. Im Gegenteil: so tolerant, wie die Kirche gegenüber der staatlichen Organisation in ihren Grundlagen und Einzelheiten ist, so rigoros ist sie naturgemäß gegenüber dem Inhalt des Staatslebens. Es werden nicht nur alle Handlungen verpönt, die gegen religiös-moralische Normen verstoßen, es wird darüber hinaus auch durch positive Anforderungen ein deutlicher Rahmen der Staatsaufgaben abgesteckt. Diese Umgrenzung der Staatsaufgaben ist

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der typische Ausdruck der Idee politischer Freiheit, wie sie sich die Kirche zu eigen gemacht hat. Indem sich die Kirche durch eine entschiedene Schrankenziehung gegenüber dem Staat zu einer Forderung bekennt, die der Idee politischer Freiheit entspringt und entspricht, und diese Schrankenziehung eindeutig den Inhalt der Staatstätigkeit, die Staatszwecke betrifft, zeigt sich die vielleicht paradoxe Erscheinung einer sachlichen Berührung der katholischen mit der liberalen Staatsauffassung, denn auch dieser ist, wie oben gezeigt wurde, eigentümlich, daß sie die politische Freiheit in einer inhaltlichen Schrankenziehung des Staates, in einer staatsfreien Sphäre des Individuums und der Gesellschaft, zu finden meint. Wenn die katholische Kritik dem liberalen Staat der jüngsten Zeit vorwirft, daß er sich übernommen, mit der Staatsidee widersprechender Aufgaben belastet habe, so trifft diese Kritik in Wirklichkeit nicht den liberalen Staat, sondern einen Staat, der sich im Widerspruch zur liberalen Idee durch vielseitigen Interventionismus stark dem sozialistischen Prinzip angenähert hat. Keine sachliche Berührung kann freilich den ideologischen Gegensatz zwischen Katholizismus und Liberalismus überbrücken, einen Gegensatz, der bei näherem Zusehen auch in der beiderseitigen Umschreibung der Staatszwecke durchbricht. Die spezifisch katholische Formel für den gebotenen und zulässigen Kreis von Staatsaufgaben ist das Subsidiaritätsprinzip, das in klassischer Weise zuletzt in der Enzyklika "Quadragesimo anno" formuliert worden ist. Es besagt bekanntlich, daß sich der Staat nur jene gesellschaftlichen Funktionen zu eigen machen dürfe, die weder das Individuum noch engere innerstaatliche Gemeinschaften erfüllen können. Nicht bloß dem Wort nach, sondern auch dem Inhalt nach ist eine solche Fassung des Staatszweckes im System der Lehren vom Staatszweck den sogenannten limitierenden Lehren vom Staatszweck zu subsumieren. Auch durch diese (an oberflächlichen quantitativen Merkmalen orientierte) Deutung gerät die katholische Bestimmung des Staatszweckes in Gegensatz zu den expansiven Lehren, wie sie unter anderem für den absoluten Polizeistaat bestimmend waren, aber auch für den totalen Staat der Gegenwart bestimmend sind,

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dagegen in unfreiwilliger Nachbarschaft zu der altliberalen Lehre vom Rechtsstaat - Rechtsstaat in jenem Sinne, wie ihn Kant geprägt hat. Berufsstände als Mittler

Mag nun aber auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips modern gesprochen, die Vermutung für die Autarkie des Individuums und der innerstaatlichen Gemeinschaft sprechen, so billigt und mutet die katholische Staatsauffassung dem Staat trotzdem mehr gesellschaftliche Funktionen zu als der wahre - zum Unterschied vom mißverstandenen -liberale Staat. Der empirische, vom liberalen in der Richtung des Staatssozialismus angewachsene Staat der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart würde in Nutzanwendung des Subsidiaritätsprinzips einen mehr oder minder großen Teil seiner Aufgaben an andere Faktoren abzugeben haben, sich aber seines Wohlfahrtszweckes weder entäußern müssen noch entäußern dürfen. Und im Sinn desselben Subsidiaritätsprinzips haben in die enteigneten Staatsaufgaben durchaus nicht, wie es dem reinen Liberalismus entspräche, restlos die Einzelmenschen und willkürlichen Personengemeinschaften, sondern - als Mittler zwischen Individuum und Staat - zum guten Teil die Berufsstände einzutreten. Diese haben sonach - was unser Gedankengang freilich nur andeutend skizzieren konnte - im Sinn der katholischen Gesellschafts- und Staatsauffassung unter anderm auch dank ihrer Aufgabe, den Staat zu entlasten, als Instrumente politischer Freiheit zu dienen. Es zeigt sich auch hier eine sachliche Berührung mit dem Liberalismus, der die Aufspaltung der Staatsautorität in mehrere voneinander möglichst unabhängige "Staatsgewalten" und die Zwischenschaltung von Selbstverwaltungskörpern zwischen Staat und Individuum als Mittel der politischen Freiheit betrachtet und behandelt hat. Voraussetzung einer solchen gesellschaftlichen Funktion der Berufsstände ist freilich, daß mit ihrem Inslebentreten die öffentlichen Aufgaben und Lasten nicht redupliziert, sondern nach einem strengen Schlüssel aufgeteilt werden.

Zur Pflege des Volksgruppenrechtes Professor K. G. Hugelmann der Universität in Münster hat in der letzten Folge der "Mitteilungen" eine intensivere wissenschaftliche Befassung mit den Fragen der auslands-deutschen Volksgruppen und im besonderen den Ausbau der von ihm auf österreichischem Boden geschaffenen bezüglichen Einrichtungen angeregt. Als Fachgenosse Hugelmann's an der Universität in Wien und als altes Mitglied der Österreichisch-Deutschen Arbeitsgemeinschaft begrüße ich selbstverständlich mit Entschiedenheit jede Veranstaltung, die der Erkenntnis der Lage und im besonderen der rechtlichen Stellung nationaler, vor allem der deutschen Minderheiten, wirklich dienlich ist, zumal wenn diese Wissenschafts pflege letzten Endes zu einer Verbesserung des jedenfalls beklagenswerten und meist an sich unabwendbaren Loses als nationale Minderheit beizutragen vermag. Die Tatsache, daß kein europäisches Volkstum in dem Ausmaße wie das deutsche das Schicksal der nationalen Minderheit zu tragen und politisch Herrenvölkern zu dienen hat, die ihm fast ausnahmslos kulturell unterlegen sind, läßt es mir sogar als die höchste Aufgabe der Innen- und Außenpolitik der deutschen Staaten erscheinen, die deutschen Minderheiten zu einer kulturellen Einheit mit dem Kern des Volkes zusammenzuschweißen und ihr politisches Los der Stellung der Herrennationen in deren Wirtsstaaten anzugleichen. Einem solchen Ziele hat aber die Wissenschaft unter Umständen Opfer zu bringen; sogar das Opfer des Schweigens. Untragbar schiene mir allerdings vom Standpunkt einer aufrechten deutschen Wissenschaft, die Wahrheit in Bezug auf die Stellung irgend einer deutschen Volksgruppe zu unterdrücken oder zu bemänteln, oder auch nur bei der notwendigen rechts vergleichenden Darstellung des Minderheitenrechtes Licht und Schatten ungleich zu verteilen. Diese Wahrheitspflicht kommt aber mit außenpolitischen Rücksichten, die oft gerade im Hinblick auf die Minderheiten zu nehmen sind, unter Umständen in unlösbaren Konflikt. Dem natürlichen, Mitteilungen der Deutsch-Österreichischen Arbeitsgemeinschaft, November 1937, S. 3-4.

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primitiven Anspruch einer Minderheit auf Pflege ihres Volkstumes und als Voraussetzung hiefür auf den Unterricht in der deutschen Muttersprache wäre unter Umständen kaum gedient, wenn die wissenschaftliche Forschung in Rede und Schrift den ungeheuren Abstand beleuchten würde, der in der Rechtsstellung deutscher Minderheiten in ältesten Siedlungsgebieten einerseits, in jungem Kolonialland inmitten eines kulturell viel primitiveren Herrenvolkes andererseits besteht. Die Wissenschaft dient unter diesen Umständen dem nationalen Ziele besser durch Schweigen als durch Reden, oder gar durch eine die Tatsachen aus politischen Gründen verschleiernde oder entstellende Lehre. Sie schont dadurch auch die Empfindlichkeit der Volksgruppen, die sich durch eine nicht gleichmäßige literarische Behandlung ihrer Lage vom Muttervolk vernachlässigt oder verraten fühlen. Wir österreichischen Deutschen haben auf Gegenwart und Zukunft mehrerer uns in mehr als einer Hinsicht nahestehenden Volkssplitter Bedacht zu nehmen. Vielleicht ist es gerade die Rücksicht auf diese, wie auf die selbstverständliche wissenschaftliche Wahrheitspflicht, daß die gewiß deutschbewußten akademischen Kreise Österreichs die seinerzeitige Ankündigung des österreichischen Bundeskanzlers, ein Forschungsinstitut für Minderheitenrecht ins Leben zu rufen, bisher weder aufgegriffen noch verfolgt haben. Die reichsdeutschen Anhänger einer Pflege des Volksgruppenrechtes wie überhaupt der Volksgruppenkunde können aber in der Hinsicht beruhigt sein, daß in Österreich diese wissenschaftliche Aufgabe ebensowenig vergessen ist, wie das tausendfältige Unrecht, das die auslandsdeutschen Volksgruppen erfahren haben und erfahren. Sobald die Zeit für die Schaffung eines österreichischen Forschungsinstitutes für Nationalitätenfragen gekommen sein wird, erscheint wohl jedem österreichischen Fachmann die engste Zusammenarbeit mit den Fachleuten des Deutschen Reiches auf diesem Gebiete gemeinsamer Volkstumsfragen womöglich noch unabweislicher, als auf jedem anderen Wissensgebiet.

Der autoritäre und der totale Staat Die mit dem Weltkrieg über Europa hereingebrochene Flut politischen Geschehens, die bis heute noch nicht verebbt, hat unter anderm zwei, nach Ansicht einzelner ihrer repräsentativsten Vertreter, völlig neue politische und rechtliche Erscheinungen mit sich gebracht: den sogenannten autoritären und den sogenannten totalen Staat. Der Kenner des Staatsrechtes erkennt freilich unter diesen neuen Worten altvertraute Begriffe. Originell ist außer der Namensgebung nur die Ideologie, mittels derer diese modernen Realisierungen überkommener politischer und rechtlicher Ideen ihre Sinngebung erfahren. Diese Tatsache darf man selbstverständlich nicht mit mangelndem Originalitätssinn erklären, sondern lediglich damit, daß die Fülle der staatsgeschichtlichen Erfahrung kaum die Möglichkeit grundlegend neuer politischer Erfindungen gelassen hat, sondern die neuen Staatsgründer nötigt, sich bewußt oder unbewußt bei ihrer Gestaltung des Staates mit der Kopierung des Erfahrungsschatzes der Geschichte oder mit der Kombinierung einzelner Bausteine verschiedener geschichtlicher Staaten zu begnügen. Allerdings sind die Ausdrücke "autoritär" und "total" als Attribute des Wortes Staat vieldeutig. Es muß daher vorerst der Sinn festgestellt werden, der mit ihnen vorzugsweise im politischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch verbunden wird und außer Zweifel gestellt werden, in welchem Sinn die beiden Ausdrücke in den folgenden Ausführungen verstanden werden, ehe es sich erweisen kann, daß die Gegenwart auch mit diesen politischen und rechtlichen Gebilden von der Vergangenheit zehrt. Erich Voegelin bemerkt in seinem geistreichen Buche "Der autoritäre Staat", daß Akte sprachlicher Gestaltung (wie es die Prägung der Schlagworte "autoritärer" und "totaler" Staat ist) ebenso politische Kampfhandlungen seien, wie etwa die Akte der politischen Willensbildung. Nur möchte ich aus dieser zutreffenden Feststellung nicht mit dem genannten Schriftsteller die Notwendigkeit des Verzichtes auf die Begriffsbestimmung dieser flüssigen Neue Freie Presse vom 29. August 1937, S. 1-3.

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Begriffe folgern. Aus dem Kampfcharakter der Wortprägung erklärt sich nur die Situationsgebundenheit und die Wandelbarkeit des mit dem Wort verbundenen Sinnes, nicht aber die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Sinndeutung. Dem ausübenden Politiker welcher Richtung immer mag es nicht unsympathisch sein, sich beim Gebrauch der politischen Kampfworte auf einen bestimmten Sinn festzulegen und in diesem Sinn "beim Wort" genommen zu werden. Diese subjektive Einstellung hindert aber die theoretische Politik als objektive Wissenschaft doch nicht, diese filmartig auf der politischen Bühne vorüberfliegenden Sinngebungen eines Ausdruckes festzuhalten und in aller Fülle der Nuancierungen vielleicht einen feststehenden Bedeutungskern oder doch wenigstens eine überwiegende Sinngebung zu ermitteln. Unsere Begriffsentwicklung muß sich allerdings im Rahmen eines Zeitungsaufsatzes auf Andeutungen beschränken. Autoritär und total wollen in jedem gangbaren Sinne nicht Wesensmerkmale des Staatsbegriffes schlechthin, sondern Eigenschaften bestimmter Staaten sein, unbeschadet des Werturteiles, daß der richtige, der wahre Staat je nach dem Wertmaßstabe des Beurteilers der autoritäre oder totale Staat ist. Anders ausgedrückt: der Staat soll je nach dem Staatsideal des Beurteilers autoritärer oder totaler Staat sein, muß es aber seinem Wesen nach nicht sein. Im Sinne der meisten in der Literatur anzutreffenden Bedeutungen unserer Worte sollen diese weder kongruente noch konträr einander entgegengesetzte, sondern einander schneidende Begriffe bezeichnen. Das heißt, der autoritäre Staat kann totaler Staat sein, muß es aber nicht sein, und umgekehrt. Insbesondere die politischen Anhänger des autoritären Staates betonen, daß sich ihr Staatsideal vom totalen Staat unterscheide, die Denkmöglichkeit des autoritären Staates, der nicht zugleich totaler Staat ist, sicherzustellen. Der autoritäre Staat im besonderen soll durch Eigentümlichkeiten der Organisation oder, was auf dasselbe hinausläuft, durch formelle Eigenschaften seiner Willensbildung erkennbar sein. Er ist demnach - im juristischen Sprachgebrauch - eine bestimmte Staatsform. Auf den kürzesten, mehr minder deutlich in allen Forderungen und Formulierungen des autoritären Staates wiederkehrenden Nenner gebracht, ist der autoritäre Staat ein Staat, dessen Staatsführung in ihrem Bestande und in ihrer Geschäftsführung von den Geführten unabhängig ist, also weder der Einsetzung noch der Bestätigung durch die Untertanen, noch auch in seinem Wirken der Zustimmung der Untertanen bedarf. Das schließt natürlich nicht aus, daß tatsächlich - man denke etwa an einen patriarchalischen Absolutismus - zwischen Staatsführung und

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Staatsvolk ein enges Vertrauensverhältnis besteht. Die rechtliche Unerheblichkeit und die mangelnde rechtliche Gewähr eines solchen Konsenses ist für den autoritären Staat das Entscheidende. Der Begriff des autoritären Staates wird dadurch deutlicher umrissen, daß man ihn von benachbarten politischen und rechtlichen Begriffen abzugrenzen versucht. Das kann freilich in diesem Rahmen nur mit je einigen Strichen geschehen. Ein solcher Nachbarbegriff ist vor allem der des Führerstaates. Die Begriffe des autoritären Staates und des Führerstaates sind, wie immer sie bestimmt werden,jedenfalls nächst verwandt, soweit sie nicht völlig identifiziert werden. Die populäre Sprachbildung und um so gewisser die wissenschaftliche Begriffsbestimmung sind zwar souverän, und keinesfalls könnte daher die Gleichsetzung der beiden Ausdrücke als falsch erwiesen werden; jedoch ist die fragliche Gleichsetzung denkökonomisch unzweckmäßig, weil es in der Staatenwelt zwei verschiedene Sachverhalte gibt, von denen der eine sprachrichtig als autoritärer, der andere als Führerstaat bezeichnet wird. Das Führerprinzip erfüllt sich dem Sprachsinne nach in der individuellen Spitze eines Organkreises, von der die übrigen Angehörigen dieses Kreises durch Gehorsamspflicht und Verantwortlichkeit abhängen; beispielsweise ist das Ministerium, wie überhaupt jedes sogenannte Büro, nach dem Führerprinzip eingerichtet, weil der Minister der oberste Chef, die Ministerialbeamtenschaft seine Untergebenen sind. Ist die Staatsführung nach dieser Maxime, also mit einer alle anderen Organe überragenden einheitlichen Spitze eingerichtet, so wird der Staat dadurch zum Führerstaat. Beispielsweise ist das Deutsche Reich durch seine Verfassung eindeutig zum Führerstaat gestempelt, weil der ganze Organapparat in der Person des Reichskanzlers und Führers gipfelt und sogar der übliche Dualismus von Staatschef und Regierungschef aufgehoben ist. In Italien ist das Führerprinzip infolge des Nebeneinanderbestehens von Duce und König nicht mehr so rein ausgeprägt, in der österreichischen Verfassung, wie ich in meiner Abhandlung "Die FührersteIlung des Bundeskanzlers" (Juristische Blätter 1936, S. 177-183) ausgeführt habe, noch stärker abgeschwächt. Und doch sind die genannten Staaten in dem hergebrachten Sinn eindeutig als autoritäre Staaten zu erkennen, denn das Wesen des autoritären Staates bedingt in dem vorherrschenden Sinne des Wortes nicht eine einheitliche Spitze, sondern nur die Unabhängigkeit der möglicherweise mehreren konkurrierenden Spitzenorgane nach unten, gegenüber den Untertanen.

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Hält man streng an dieser Bedeutung des autoritären Staates fest, dann bedingt er ebensowenig wie das Führerprinzip in der Gestaltung der Spitzenorgane das unitarische Prinzip in der Regierung der einzelnen Staatsteile. In der Tat sehen wir, daß Österreich als autoritärer Staat nicht nur in seinem Namen: Bundesstaat, sondern auch in seinen Einrichtungen (Landtage, Landesregierungen, Länderrat) dem föderalistischen Prinzip weitgehend Raum gegeben hat. Das Autoritätsprinzip als solches wäre nicht einmal ein Hindernis gewesen, den Föderalismus um vieles weiter zu treiben, das Autoritätsprinzip bedingt eben keineswegs, wie man vielfach meint, einen einheitlichen (unitarischen) Aufbau des Staates, sondern nur, daß die verschiedenen, mit Selbstbestimmung ausgestatteten Staatsteile selbst wieder mit je einer autoritären Spitze ausgestattet werden. Weitgehend föderalistisch aufgelockerte autoritäre Staaten sind ebensogut denkbar, wie anderseits radikal zentralisierte nicht-autoritäre Staaten (zum Beispiel Frankreich) bestehen, ohne daß von deren weitgehender Zentralisation auf die Herrschaft des Autoritätsprinzips geschlossen werden dürfte. Mit der Wortverbindung "autoritärer Bundesstaat" ist über das Maß des Unitarismus und Föderalismus in der Gestaltung des betreffenden Bundesstaates begrifflich nicht das geringste ausgemacht, weil nur die Begriffe unitarisch und föderalistisch, nicht aber autoritär und föderalistisch einander ausschließen. Ähnliches gilt vom Verhältnis der Begriffe autoritär und ständisch. Es sind, soviel ich sehe, überhaupt nur österreichische Schriftsteller, die, offenbar unter dem Eindruck der österreichischen Verfassung, autoritär und ständisch miteinander gleichsetzen. Dabei unterläuft das Mißverständnis, daß zwei Eigenschaften, die an demselben Subjekt begegnen, darum identisch seien. Das Verfahren ist das gleiche, wie wenn man etwa die Eigenschaften intelligent oder sentimental identifizierte, weil man sie zufällig an demselben Menschen beobachtet. Wie ein Mensch die verschiedenartigsten Eigenschaften, so kann ein Staat die buntesten Baugesetze in sich vereinigen. Eine solche Eklektik ist kein Makel, sondern ein Vorzug, weil für das Rechtsleben nicht das Gebot der Einheitlichkeit des Baustils gilt. Das nächstliegende Beispiel ist wiederum die österreichische Verfassung mit ihrer, wie ich in meinem Buch "Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs" (Julius Springer, 1935) nachgewiesen habe, kunstvollen Synthese von autoritären und demokratischen, religiös-katholischen und profan-liberalen Bausteinen. Das Ständische ist nicht das Wesen des Autoritären, sondern im Gegenteil ein Mittel seiner Einengung und Abschwächung. Der

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Ständestaat bietet ja gewissen Untertanen die Möglichkeit der Teilnahme an der Staatswillensbildung, die das Autoritätsprinzip in reiner Durchbildung versagt. Der sozusagen autoritätslose mittelalterliche Ständestaat beweist, daß das autoritäre Prinzip durch das ständische überkompensiert, ja sogar aufgehoben werden kann. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen autoritärem und demokratischem Prinzip. Offenbar aus der Vorstellung heraus, daß der demokratische Charakter eines Staates wertvoll und wünschenswert sei, wird mitunter der Autoritätsstaat als die wahre Demokratie bezeichnet. Es kann niemandem verwehrt werden, autoritär und demokratisch als synonyme Ausdrücke zu verwenden, nur sollte man darüber nicht im unklaren sein, daß eine solche Nomenklatur weder dem fremdsprachigen noch auch dem überkommenen deutschen Sprachgebrauch entspricht. Beispielsweise definiert der konservative deutsche Rechtslehrer Richard Schmidt im ersten Band seiner "Allgemeinen Staatslehre" (1901) die repräsentative Demokratie als die Regierungsform, in welcher "die wahlberechtigten Bürger des Gesamtvolkes die Volksvertretung als einen periodischen Ausschuß mit der Regierung betrauen". Im Sinne einer solchen (für die Fachliteratur durchaus typischen) Begriffsbestimmung genügt also zur Erfüllung der demokratischen Regierungsform nicht irgendeine Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung neben einer autoritären Staatsführung, sondern ist die Ausübung der Regierung durch eine Volksrepräsentation wesentlich. In diesem Sinne ist das demokratische Prinzip mit dem autoritären Prinzip nicht identisch, sondern ihm konträr entgegengesetzt. Bei Zugrundelegung einer solchen fachwissenschaftlichen Begriffsbestimmung ist es unmöglich, zwischen dem autoritären und dem demokratischen Prinzip theoretisch, sondern nur möglich, praktisch Brücken zu schlagen, das heißt, es können bestimmte Bereiche der Staatsorganisation nach dem Autoritätsprinzip, andere wiederum nach dem demokratischen Prinzip eingerichtet werden, wie es etwa für die konstitutionelle Monarchie charakteristisch ist, aber bekanntlich auch die neue österreichische Verfassung in interessanter Weise unternommen hat. Je nach dem Überwiegen des einen oder anderen Baugesetzes wird man dann eine Verfassung a potiori als Demokratie oder als Autoritätsstaat bestimmen. Um das Wesen des totalen Staates haben sich unter anderen namentlich die Staats- oder Gesellschaftstheoretiker Karl Schmitt, Otto Ziegler, Ernst 17 A. J. Merkl

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1.8. Staatslehre und politische Theorie

Jünger bemüht. Ausgangspunkt der Begriffsentwicklung, die hier nicht einmal skizziert werden kann, ist ein organisatorisches Moment, nämlich die Tatsache, daß ein Staat von einer einzigen - monopolistisch privilegierten - Partei beherrscht wird. Am Endpunkt der Begriffsentwicklung steht dagegen die geradezu vorherrschend gewordene Definition, daß der totale Staat ein wenigstens virtuell in seinen Zwecken unbegrenzter Staat sei, der jedwede Schrankenziehung zugunsten des Individuums oder der Gesellschaft ablehnt, der sich in irgendeinem meist sehr verschwommen dargestellten Sinne mit der Gesellschaft kongruenziert. In diesem Sinne ist der totale Staat ein durch ein inhaltliches Moment gekennzeichneter Staatstypus. Macht eine (durch Organisation) bestimmte Methode der Staatswillensbildung einen Staat zum autoritären, so macht ihn eine bestimmte Haltung in der Frage des Inhaltes der Staatsfunktionen zum totalen Staat. Das Autoritätsprinzip lehnt Schranken organisatorischer Natur, das Totalitätsprinzip dagegen Schranken inhaltlicher Natur für die Staatsführung ab; das Autoritätsprinzip wendet sich gegen den Gedanken, daß der Staat eine Domäne der Regierten sei, praktisch also gegen die (formale) Demokratie. Das Totalitätsprinzip wendet sich gegen den Gedanken, daß eine Individualoder Gesellschaftssphäre der staatlichen Intervention entzogen sei, praktisch also gegen den Liberalismus. Je nachdem, ob eine staatliche Rechtsordnung beide skizzierte Fronten bezieht oder nur eine der beiden, ist er als zugleich autoritär und total zu erkennen - beispielsweise, um eine große Zeitspanne zu umfassen, Sparta im Sinne der Verfassung Lykurgs und das platonische Staatsideal, aber auch das heutige Deutsche Reich - oder als bloß autoritär oder totalitär. Das letzte traf von radikalen Demokratien zu, etwa jener der Französischen Revolution. Bloß autoritär - nicht totalitär! ist insbesondere wiederum das Programm der österreichischen Verfassung. Die kirchliche Neutralitätserklärung bezüglich der Staatsform, wie sie insbesondere in der Enzyklika "Immortale Dei" (1885) enthalten ist, deckt den autoritären Staat - als eine bestimmte Staatsform -, ohne ihn freilich als den allein wahren Staat erkennen zu lassen. Das Totalitätsprinzip steht dagegen zum kirchlich verkündeten Subsidiaritätsprinzip in gedanklichem Widerspruch. Hiemit sind die geistigen Wurzeln der Haltung der Kirche zum autoritären und totalen Staat angedeutet, einerseits der Disposition einer Konkordanz der Kirche mit dem autoritären Staat, anderseits der Gefahr eines Konflikts mit dem totalen Staat, der aus dem Totalitätsprinzip gegenüber der Kirche praktische Folgerungen zieht.

Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens Zum Begriff des Rechtsstaates Unter den wichtigsten Problemen, die Adolf Menzel mit seinen Forschungen aus der Geschichte der Staatslehre aufzuhellen beigetragen hat, befindet sich auch das des Rechtsstaates. Oft ist die Idee und Wirklichkeit des Rechtsstaates in der Staatengeschichte verdunkelt gewesen, phönixgleich ist aber doch auch immer wieder dieses Ideal des Staates emporgestiegen und Wirklichkeit geworden. Daß Recht und Staat verwandt sind und eine wesenhafte Einheit bilden, erscheint jedem als selbstverständlich, der Erscheinung und Wesen von Recht und Staat zum Gegenstand von Überlegungen macht. Und so bezeichnet die Wortverbindung Rechtsstaat einen Begriff, in dem sich das Denken über Recht und Staat zu einer beiden Denkbereichen gemeinsamen Erscheinung zusammenfinden. Doch haben die Wissenschaften von Staat und Recht bis heute noch keine auch nur annähernd allgemein anerkannte Begriffsbestimmung des Rechtsstaates aufgestellt. Offenbar, weil diese Begriffsbestimmung in ungeahntem Maße von politischen Werturteilen, im besonderen von der subjektiven Meinung abhängig ist, wie das Recht, insbesondere aber, wie der Staat beschaffen sein soll. Dieses Schwanken der Meinungen berührt in doppeltem Ausmaß einen Begriff, der aus zwei so umstrittenen Komponenten, wie es schon das Recht und der Staat für sich allein sind, zusammengesetzt ist. Die unübersehbare Fülle der in der Geschichte der Staats- und Rechtslehre ausgebildeten Begriffe des Rechtsstaats weist immerhin, wenn auch nicht ausnahmslos, in Bezug auf zwei Momente Übereinstimmung auf: Der Begriff des Rechtsstaats wird in der Regel nicht mit dem Staatsbegriff gleichgesetzt, sondern in einer Weise bestimmt, daß der Rechtsstaat als ein durch bestimmte ergänzende Merkmale gekennzeichneÖsterreichisches Verwaltungsblatt, 8. Jg. (1937), S. 174-181. Wiederabgedruckt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 2, S. 1953-1970. 17*

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ter Staat, daß also der Begriff des Rechtstaates als Artbegriff des Gattungsbegriffes Staat erscheint. Es ist nur eine Besonderheit der als "Reine Rechtslehre" bekannten Wiener Juristenschule, daß sie der Vielzahl von Rechtsstaatsbegriffen, die zwischen Staat und Rechtsstaat unterscheiden, einen Rechtsstaatsbegriff gegenübergestellt hat, der sich mit dem Staatsbegriffe deckt.] Die Gleichsetzung von Staat mit Rechtsstaat ist nämlich die unentrinnbare Folge einer Lehrmeinung, die Staat und Recht in dem Sinne einander gleichsetzt, daß Recht und Staat zwei verschiedene Namen für dieselbe Sache seien. Unter dieser Voraussetzung ist das Wort Rechtsstaat eine überflüssige Verdopplung zweier Ausdrücke für denselben Begriff, der ebensogut durch das Wort Recht oder Staat für sich allein ausgedrückt werden könnte. Nichtsdestoweniger behält auch diese rechtswissenschaftliche Schule im Anschluß an die herrschende Methode der Bestimmung des Rechtsstaates einen Begriff des Rechtsstaates bei, der enger ist, als der des Staates schlechthin, nämlich einen Staat bestimmten Inhaltes bedeutet. So kommt es zur Unterscheidung zwischen einem weiteren und engeren Begriff des Rechtstaates, wobei der weitere Begriff jeden Staat umfaßt, der engere Begriff jedoch nur Staaten von bestimmter Beschaffenheit. Mit dem Lieblingswortpaar des Juristen, formell und materiell, werden die beiden angedeuteten Begriffe des Rechtsstaates in dieser rechtswissenschaftlichen Schule auch als der formale und der materielle Rechtsstaatsbegriff auseinandergehalten: Als formal gilt jener Begriff des Rechtstaates, der nur durch die Staatsnatur einer Gemeinschaftsordnung, als materiell dagegen jener Begriff des Rechtsstaates, der durch bestimmte Eigenschaften des Staates bedingt ist. Die zweite Übereinstimmung zwischen den inhaltlich so reich nuancierten Auffassungen vom Wesen des Rechtsstaates bezieht sich darauf, daß die auszeichnende Eigenschaft des Rechtsstaates im Vergleich mit dem Staat schlechthin die Identität mit dem subjektiv wechselnden Staats ideal ist. Jede rechtswissenschaftliche Richtung in der Geschichte, die überhaupt einen Rechtsstaatsbegriff ausgeprägt hat, bezeichnet den Staat ihrer Wahl als Rechtsstaat. Die wissenschaftliche Begriffsbestimmung des Rechtsstaates ist also, vermutlich meistens unbewußt, an einem politischen Werturteil orientiert. Mit dem Wechsel dieses Werturteils, je nach Weltanschauung und politischer Grundeinstellung, wechselt dann auch folgerichtig die Begriffs1 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 90 f.

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bestimmung des Rechtsstaates, womit zwanglos die mannigfachen geschichtlichen Wandlungen und literarischen Gegensätze der Rechtsstaatsidee und der Rechtsstaatslehre erklärt sind. Den Staatstypus seines Ideals als Rechtsstaat auszuzeichnen, fällt natürlich nur einem Wort- und Begriffsbildner ein, der auf das Wort Recht einen Gefühlston legt, und der somit in der Verknüpfung des Staates mit dem Recht eine Werterhöhung des Staates sieht. Indes genügt für jene fast ausnahmslos herrschenden Richtungen, die im Rechtsstaat eine qualifizierte Erscheinung des Staates, den Staat ihres Ideals sehen, wiederum nicht jede Verbindung von Staat und Recht, um den Staat als Rechtsstaat erscheinen zu lassen, sondern ist nur eine bestimmte Beschaffenheit des Rechtes wie des Staates geeignet, den Staat zum Rechtsstaat zu machen. Wäre jeder irgendwie dem Recht verhaftete Staat Rechtsstaat, dann wäre ja jeder Staat der Geschichte, jeder Staat ohne Rücksicht auf seinen Inhalt als Rechtsstaat zu erkennen, weil das Recht vom Staate nicht wegzudenken ist, sondern der Staat unvermeidlich mit dem Rechte irgendeine Verbindung eingeht. Es begründet sonach im Sinne aller Auffassungen vom Rechtsstaat, die nur Staaten bestimmter Eigenschaften als Rechtsstaaten anerkennen, auch nur ein bestimmter Inhalt des Rechtes und nicht schon jedwede Verbindung des Rechtes mit dem Staat den Charakter des Rechtsstaates. Rechtsstaat ist also bei allem Wechsel des Inhaltes im Laufe seiner Geschichte ein Staat, der dem jeweiligen Ideal von Recht und Staat entspricht. Es kann natürlich nicht Aufgabe dieses Aufsatzes sein, sämtliche geschichtlich in Erscheinung getretenen Rechtsstaatsideen Revue passieren zu lassen und sie auf ihren wechselnden,jedenfalls aber normativen, will sagen, an einem politischen Ideal orientierten Inhalt zu untersuchen. Eine solche literarische Aufgabe ist überhaupt noch nicht einmal versucht, geschweige denn gelöst worden. Die umfangreiche Literatur des Rechtsstaates ist selbst so weit politisch befangen, daß sie nicht wandelnde Bedeutungen des Rechtsstaates gelten lassen will, sondern jeweils einen einzigen Begriff des Rechtsstaates anerkennt. Indes sollen im folgenden im eklektischen Verfahren einige, für das althellenische und das deutsche Rechtsdenken und damit auch die Staatsgestaltung mehr oder weniger bedeutsam gewordene Begriffe des Rechtsstaates skizziert werden. Nicht um einen dieser Begriffe als den wahren Rechtsstaat auszuzeichnen, sondern um in rein theoretischer Absicht die Wandelbarkeit des Rechtsstaatsbegriffes und als Bestimmgrund dieser Wandlungen das wechselnde politische Ideal vom Staate darzutun.

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Im einzelnen sollen, wenn auch nur in größten, vereinfachenden Umrissen die Charakterbilder des Rechtsstaates der altgriechischen Staatsphilosophie, des deutschen klassischen Idealismus, der Rechtsstaatsdoktrin des deutschen Konstitutionalismus und die eben erst im Werden begriffene Rechtsstaatsdoktrin des autoritären und des totalen Staates in deutschen Landen dargestellt werden. Selbst diese bunten Lehren haben bei aller Differenzierung das gemeinsam, daß sie den Staatstypus jener geschichtlichen Situation, der sie entwachsen sind, als den wahren Staat und eben darum Rechtsstaat dem Staat anderer Länder und anderer Zeiten gegenüberstellen. Der Rechtsstaat der Antike

Die Tatsache, daß die Antike dem Mittelalter und der Neuzeit im Bereich des Rechts- und Staatslebens nur den geringsten Spielraum für Neuschöpfungen gelassen hat, weil die extrem politische Einstellung und Begabung, namentlich der alten Hellenen, unerhört erfindungsreich gewesen ist, und die altgriechische Vielstaaterei ein unerschöpfliches Experimentierfeld für politische Konstruktionen abgegeben hat, bestätigt sich auch an der Erscheinung des Rechtsstaates. Die Idee des Rechtsstaates ist fast in allen ihren in der Neuzeit anzutreffenden Schattierungen bereits in der Antike erdacht und durchdacht worden, aber, was noch mehr wundernimmt, auch die staatsrechtliche Wirklichkeit des Rechtsstaates ist schon in manchem althellenischen Staat in reiner Durchführung anzutreffen. Das Verdienst des Nachweises dieser Priorität der Antike vor der nachchristlichen Zeit gebührt, ohne daß das Verdienst der Altertumswissenschaft im allgemeinen geschmälert werden soll, vor allem Adolf Menzel; begreiflicherweise ist vor allem der vollendete Kenner des modemen Rechtsstaates in der Lage, aus dem reichen Material der Überlieferung jene literarischen Zeugnisse herauszuheben, die für Idee und Wirklichkeit des Rechtsstaates in der Antike am charakteristischesten sind. An dieser Stelle können nur einige Proben der Menzelschen Forschungen aus dem Problemkreise des altgriechischen Rechtsstaates wiedergegeben werden. Sie finden sich vornehmlich in dem von der Akademie der Wissenschaften in Wien herausgegebenen Sammelwerk Adolf Menzels: "Beiträge zur Geschichte der Staatslehre" (1929). Daß die fraglichen Quellen vielfach den Rechtsstaat mit der Demokratie identifizieren oder wenigstens nur in

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der Demokratie suchen, ist ein Mißverständnis, das sich aber auf naheliegende Weise daraus erklärt, daß vor allem die athenische Demokratie jene Rechtseinrichtungen ausgebildet hat, die für den Rechtsstaat charakteristisch sind. Die Demokratie allein, so behaupten die Quellen, "sei aber auch der wahre Rechtsstaat; das Volk unterwirft sich den von ihm selbst geschaffenen Gesetzen. Diese seien die eigentlichen Herrscher in der Demokratie" (a.a.O., S. 139). Namentlich Herodot drückt den Gedanken aus, daß sich in der Demokratie neben der Idee der Gleichheit und der Freiheit als drittes Merkmal "die Herrschaft des Gesetzes verwirklicht finde". Wie Menzel feststellt, ist in Herodot fast wörtlich die Formulierung von Rousseaus "Contrat socia/" vorweggenommen, wonach Freiheit der Gehorsam gegenüber dem Gesetze sei, welches man sich selbst vorgeschrieben hat. Indem Menzel den Maßstab des modemen Rechtsstaates an das perikleische Athen anlegt, kommt er zu folgenden Feststellungen: "Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Zustände in Athen betrachten, so muß man feststellen, daß die individuelle Freiheit weniger eingeschränkt war, als in den meisten modemen Rechtsstaaten, indem Z.B. die Vereinsbildung und beliebige gewerbliche Betätigung, vollkommen frei waren. So war es also keine Phrase, wenn Perikles in seiner Grabrede von den Athenem sagen konnte, daß sie als freie Bürger dem Staate gegenüberstehen." Aber auch das zweite Merkmal des modernen Rechtsstaates - die Bindung aller Staatsorgane, auch der höchsten, durch das Gesetz - war in der Verfassung Athens nicht nur theoretisch festgelegt, sondern praktisch durch gerichtlichen Schutz geWährleistet. "Es war nicht nur anerkannt gegenüber ungesetzlichen Verwaltungsakten, z.B. hinsichtlich der Besteuerung eines Bürgers, oder der Zu- oder Aberkennung des Bürgerrechtes, sondern selbst gegenüber Gesetzesbeschlüssen der Volksversammlung. Die letzteren konnten mit einer besonderen Klage ... angefochten werden; schon die Anmeldung einer solchen Klage hatte suspensive Wirkung. Das Gericht entschied dann endgültig über die Verfassungsmäßigkeit eines beantragten oder schon beschlossenen Gesetzes. Es handelt sich also um eine Einrichtung der Rechtskontrolle, wie sie erst in der neuesten Zeit in einigen Verfassungen zur Geltung gekommen ist (a.a.O., S. 159). Übrigens hat auch schon Wilamowitz in seiner berühmten Schrift: "Von des attischen Reiches Herrlichkeit" für den Staat der Athener die Eigenschaft des Rechtsstaates in Anspruch genommen, ähnlich

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auch L. Wenger in seinem tiefschürfenden Werke "Die Verfassung und Verwaltung des europäischen Altertums". Wenn aber sonstige Beurteiler des athenischen Justizstaates, so etwa der Altertumsforcher Pöhlmann die Willkürlichkeit dieser Justiz und damit die Problematik des attischen Rechtsstaates behaupten, so hat Menzel namentlich in seinen "Untersuchungen zum Sokratesprozeß" den Nachweis versucht, daß diese Justiz, wenngleich in manchem religiösen Vorurteil befangen, im allgemeinen optima fide die generelle Norm des gesatzten Rechtes zu verwirklichen bestrebt war. Daß dieser Rechtsstaat im besondern als Vertragsstaat gedacht war, tut hier nichts weiter zur Sache. Wohl der entschiedenste Bekenner zum Rechtsstaat in der antiken Staatsliteratur ist der von Menzel erforschte Anonymus Jamblichi. So, wenn dieser sagt: "Ferner darf man nicht nach Bevorrechtung streben und die darauf begründete Macht für ehrenden Vorzug, den Gehorsam gegen die Gesetze für elende Feigheit halten, ... denn, da die Menschen von Natur nicht imstande sind, einzeln für sich zu leben ... ein Zusammenleben im gesetzlosen Zustand aber für sie undenkbar ist, ... so führten denn also aus diesen zwingenden Gründen das Recht und das Gesetz ihr königliches Zepter über den Menschen und unmöglich könnten sich beide ihrer Herrschaft entäußern." In einem Fragment der Schriften Heraklits wird der Wert der Gesetzesherrschaft in dem schönen Bilde ausgedrückt, daß das Volk um seine Gesetze kämpfen müsse wie um seine Stadtmauern. Übrigens hat Menzel auch dargetan, wie weitgehend Plato, bekanntlich der rigoroseste Beurteiler des Volks- und Rechtsstaates seiner Zeit, doch stark unter dem Banne der Rechtsstaatsidee gestanden ist. Dies gilt namentlich von der Jugend Platos, wo er die sokratische Identifikation von gerecht und gesetzmäßig widerspruchslos hinnimmt, und vom alternden Plato, der vom utopischen Exkurs zum Richterkönigtum resignierend wiederum zum Ideal des Gesetzesstaates zurückkehrt. Sagt er doch in seinen Nomoi: "Denn dem Staate, in dem das Gesetz abhängig ist von der Macht des Herrschers und nicht selbst Herr ist, dem sage ich kühn sein Ende voraus; demjenigen dagegen, in dem das Gesetz Herr ist über die Herrscher und die Obrigkeiten dem Gesetz untertan sind, dem sehe ich im Geiste Heil beschieden und alles Gute, was die Götter für Staaten bereitet haben." Auch Aristoteles läßt die Idee der Gesetzesherrschaft unter gewissen Vorbehalten gelten, "nämlich, daß die Gesetze gut sind und daß der Herrscher doch einen gewissen

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Spielraum für selbständige Entscheidungen behält, so weit eine abstrakte Regel untunlich erscheint" (a.a.O., S. 170). Der Rechtsstaat der klassischen deutschen Philosophie Der Rechtsstaatsbegriff der klassischen deutschen Philosophie ist geschichtlich die Reaktion gegen die Praxis und Theorie des deutschen Polizeistaates. Ebensowenig wie dieser auf Deutschland beschränkt war - hat er ja doch im Ancien regime der französischen Ludwige und vordem, vor Cromwell, in den englischen Autokratien eine weltgeschichtlich noch bedeutsamere Verwirklichung erfahren - ist die vom klassischen Idealismus vertretene Theorie des Rechtsstaates auf Deutschland beschränkt geblieben. Besteht zwischen den Dogmatikern der polizei staatlichen Autokratien, etwa zwischen Thomas Hobbes und Christian Wolff eine nicht zu übersehende inhaltliche Parallele, so kann nicht verkannt werden, daß die vom klassischen Idealismus, allen voran von Immanuel Kant vertretene Lehre vom Rechtsstaat stark unter dem Einfluß der Staatsphilosophie der englisch-französischen Aufklärungsära, etwa dem Staatsdenken eines lohn Locke steht. Hatte Christian Wolffunter weitgehendem Einfluß englischer Staatsauffassung, so etwa des extrem patriarchalisch denkenden Filmer, sein Staatsideal (das war eben der Staat seiner Zeit) nach Art einer durch unbeschränkte väterliche Gewalt zusammengehaltenen Familie konstruiert und in seinem einschlägigen Hauptwerk "Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen" (1725) die Gleichung aufgestellt "Regierende Personen verhalten sich zu Untertanen wie Väter zu den Kindern", so sieht Kant in ebenso einseitiger Weise im Staat eine Gemeinschaft gleicher, freier, sittlicher Persönlichkeiten unter der Herrschft von Rechtsgesetzen. Er läßt den Staat, wie alle Staatsphilosophen der Aufklärungszeit, bekanntlich aus einem Vertrag hervorgehen, der freilich von Kant ebensowenig wie von Rousseau als geschichtliches Ereignis mißverstanden, sondern nur als gedankliche Konstruktion zur Erklärung eines bestimmten Inhaltes des Staates gedeutet wird, gibt aber unter diesen Umständen um so eher dem Staatsvertrage einen Inhalt, der seiner Überschätzung und Übersteigerung des Individuums entspricht. Denn in diesem Vertrage entäußern sich die Menschen der ihrer sittlichen Persönlichkeit eigentümlichen Freiheit nur insoweit, als es die Freiheit des Nebenmenschen unvermeidlich macht. Mit diese Auffassung vom Menschen und seiner naturgemäßen Freiheit war über die Theorie und Praxis des absoluten Polizeistaates der Stab gebrochen; über die Theorie

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des Eudämonismus, derzufolge der Staat die Untertanen glücklich zu machen und allenfalls gegen ihre mangelhafte Einsicht zu ihrem Glück zu zwingen habe, und über den durch seine Unberechenbarkeit verhaßten Interventionismus des Polizeistaates. Ist nach Kant der Staat nichts anderes als "eine Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen" , so erschöpft sich der Sinn dieser Rechtsgesetze darin, das Zusammenleben der Menschen sicherzustellen. Folgerichtig ist der dem Staat in allen seinen Erscheinungsformen immanente Zwang nur als "Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit" gerechtfertigt. In dieser anthropozentrischen Rolle erscheint unserem Philosophen das Recht als "das Heiligste in der Welt" - worunter freilich nur an ein Recht gedacht ist, das sich auf die Herstellung und Sicherung einer Friedensordnung unter den Menschen beschränkt: Im Vergleich mit der Staatsideologie, die den Polizeistaat legitimiert hat, eine völlige Abkehr vom Totalitätsprinzip des Wohlfahrtsstaates, eine radikale Beschränkung des Staatszweckes, verbunden mit einer völligen Wertverschiebung vom Staat zum Recht als dem einzigen sittlich erlaubten Zweck des Staates. - Der gleichen Staatsauffassung hat, um einen poetischen Zeugen zu zitieren, Friedrich Schiller im zehnten Auftritt des dritten Aktes von "Don Carlos" mit den Worten des Marquis Posa folgendermaßen Ausdruck gegeben: "Der Bürger sei wiederum, was er zuvor gewesen, der Krone Zweck - ihn binde keine Pflicht als seine Brüder gleich ehrwürdige Rechte!" - An Humboldts Bekenntnisschrift "Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" und an Fichtes individualistischer Lebensperiode die Deutung des Rechtsstaates als die Freiheit des Individuums und nichts sonst prästierender Staat aufzuzeigen, würde im Rahmen dieses Zeitschriftaufsatzes zu weit führen. Der Rechtsstaat der konstitutionellen Staatsdoktrin

Die Jurisprudenz der konstitutionellen Monarchie stand von Anbeginn stark unter dem Einfluß des klassischen Idealismus und übernimmt von dessen Rechtslehre das Ideal des Rechtsstaates als eigenes, mit wenigen Ausnahmen anerkanntes Staatsideal. Indes wurde doch, bewußt oder unbewußt, der Inhalt des Begriffes gewandelt. Lag ja doch zwischen den bei den Epochen der Staatslehre die Revolution, die in der Verfassungssphäre den Absolutismus durch den Konstitutionalismus ersetzt, die sich aber zugleich auch anheischig gemacht hat, das politische Ideal des Rechtsstaates zu

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verwirklichen. Der Verfasssungsstaat war nun aber in einem anderen Sinne Rechtsstaat geworden, als das wirklichkeitsfremde Programm der Rechtsphilosophie im absoluten Polizeistaat vorgesehen hatte. Die Rechts- und Staatslehre des konstitutionellen Staates, die zum Unterschied von ihrer unmittelbaren Vorgängerin oder wenigstens von der individualistischen Kritik des absoluten Polizeistaates den Staat ihrer Zeit positiv bewertet hat, gab dem Rechtsstaate die Einrichtungen der konstitutionellen Monarchie als Wesensmerkmale. Der Bedeutungswandel, der zwischen dem vorrevolutionären und nachrevolutionären Begriffe des Rechtsstaates - um zwei schablonenhafte Typen einander gegenüberzustellen - zu beobachten ist, kann auf die Formel formeller/materieller Rechtsstaatsbegriff gebracht werden.

Die Beschränkung des Staates auf den sogenannten Rechtszweck war eine ideale Forderung, die ein Staat mit Selbsterhaltungstrieb nur in asymptotischer Annäherung verwirklichen kann. Lassalles bekanntes Spottwort vom Nachtwächterstaat, das gewiß die Idee des Rechtsstaates vollendet trifft, zeichnete von der Wirklichkeit zumindest des kontinental europäischen Staates ein durch die Parteibrille verzerrtes Bild. Mit der Regierungsübernahme durch liberale Parteien, wofür die Revolution die verfassungsmäßigen Voraussetzungen geschaffen hatte, bewährte sich die Erfahrungstatsache, daß die Forderung, die aus der Opposition erhoben wird, wesentlich abgeschwächt oder abgebogen wird, wenn sie sich gegen die zur Herrschaft gelangte vormalige Opposition richtet? Der Doktrinarismus des englischen Liberalismus, der sich bekanntlich beispielsweise noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gegen die Statuierung der gesetzlichen Schulpflicht oder gegen die staatliche Armenfürsorge gekehrt hatte, wurde von den Parteiführern des kontinentalen Liberalismus kaum irgendwo erreicht. Der Liberalismus lehnte, zur Regierung gekommen, die extreme Begrenzung des Staatszweckes, die in der bloßen Ordnungsbewahrung gelegen ist, ab und gab einem gemäßigten Interventionismus Raum. Der Staat übernimmt Aufgaben des Wohlfahrts- und Kulturzweckes, ungeachtet der Gefahr, aus einem absolutistischen zu einem konstitutionellen Wohlfahrtsstaat zu werden; wofern man sich der bedenklichen sachlichen Annäherung an den absolutistischen Wohfahrtsstaat bewußt wird, etwa mit der 2 Der sowjetrussische Marxismus ist nichts weniger als geneigt, die Prophezeiung Marxens wahr zu machen, daß nach der Machtergreifung des Proletariates der Staat neben dem Spinnrad ins Museum der Altertümer versetzt werden würde.

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rechtfertigenden Erwägung, daß, wenn zwei dasselbe tun, es doch nicht dasselbe sei. Namentlich Kulturpolitik wird im größten Maßstab betrieben, dem Staat die Aufsicht über das ganze Schul- und Erziehungswesen vorbehalten und, bei grundsätzlicher Ablehnung eines Staatsmonopols auch auf diesem Gebiete, ein System von Staatsschulen aufgebaut und für dieses im Grunde prinzipwidrige Verhalten das Alibi der verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheit des Unterrichtes für jedermann geschaffen. Selbst das Bereich der Wirtschaft, dessen staatliche Reglementierung für den Manchester-Liberalismus sozusagen tabu gewesen war, wird in ein Netz von Vorschriften eingefangen, dessen Systemwidrigkeit wiederum durch die grundsätzliche Anerkennung der freien Konkurrenz und durch die sachlich im allgemeinen zutreffende Behauptung legitimiert wird, daß die staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben letztlich der Aufrechterhaltung der privatkapitalistischen Wirtschaftsweise dienen. Wenn dieser Rechtszustand noch der Idee des Rechtsstaates entsprechen soll, dann muß der Begriff des Rechtsstaates einer solchen Rechtsentwicklung gemäß modifiziert werden. In der Tat geben die liberalen Dogmatiker des Rechtsstaates aus der Zeit des regierungsfahig gewordenen Liberalismus diesem Begriffe einen Inhalt, wie ihn Dogmatiker des absoluten Polizeistaates gegeben hätten, ja tatsächlich gegeben haben. Hatte doch schon Julius von Stahl, der Vollender der konservativen deutschen Staatsideologie, das vom politischen Individualismus vor ihm geformte Rechtsstaatsprinzip für den Staat seiner Wahl rezipiert, diesem Prinzipe aber dabei folgenden, durch sein Staatsideal bedingten Sinn gegeben: "Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit. Er soll die Bahnen und Grenzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechtes genau bestimmen und unverbrüchlich sichern, und soll die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört. Dies ist der Begriff des 'Rechtsstaats', nicht etwa, daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze. Er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staats, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen. ,,3 Mit Recht sagt Rudolf Gneist in seiner berühmt gewordenen Monographie: "Der Rechtsstaat und die Verwaltungs gerichte in 3 Staats- und Rechtslehre 11, S. 137.

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Deutschland": "Was Stahl als Rechtsstaat bezeichnete, konnte jeder seiner Gegner wörtlich unterschreiben." (A.a.O., S. 33) Selbstverständlich ist allen voran unser Autor dazu bereit. Doch dieser Begriff des Rechtsstaates, der ebensowohl den Gefallen des Liberalen wie des Konservativen finden konnte, ist eben nicht mehr der Rechtsstaatsbegriff des klassischen Idealismus, sondern ein Rechtsstaatsbegriff, der des spezifischen vormaligen Inhaltes entkleidet ist, eine leere Hülse, die dem Konservativen und dem Liberalen recht sein kann, weil er sie mit dem ihm zusagenden Rechtsinhalt erfüllt denken kann. Die Beschränkung der Staatszwecke wirkt in der von Stahl vollzogenen Adaptierung des liberalen Rechtsstaatsbegriffes für das konservative Staatsdenken noch in der Weise nach, daß der Staat "die sittlichen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen)" solle, "als es der Rechtssphäre angehört". Also doch eine Beschränkung des Staatszweckes, d.h. des Inhaltes der Staatstätigkeit, aus Einsicht des Unvermögens des Staates, alle gesellschaftlichen Aufgaben mit den Mitteln des Rechtes erreichen zu können. Doch diese sachliche Anlehnung Stahls an den Rechts staats begriff des klassischen Idealismus will nicht zuviel besagen, denn die Frage, ob eine sittliche Idee der Rechtssphäre angehört, duldet verschiedene Antworten. Das Entscheidende ist, daß das Recht nicht mehr als Ziel oder Inhalt des Staates, sondern als Methode oder Mittel gilt, die anderweitigen Ziele des Staates zu verwirklichen. Wie ich es ausgedrückt habe, ist in der Doktrin des konstitutionellen Staates das Recht aus dem einzigen zulässigen Zweck des Staates zum universellen Mittel für beliebige Zwecke des Staates geworden. 4 Dem mächtig ansteigenden Kultur- und Wohlfahrts zweck des Staates ist durch diese Formulierung des Rechtsstaatsbegriffes neben dem traditionellen Ordnungs zweck und Machtzweck die Bahn freigegeben, ohne daß die Entscheidung für die eine oder andere Staatsaufgabe und die Dosierung der miteinander konkurrierenden verschiedenen Staatsaufgaben für die Beurteilung des Staates als Rechtsstaat irgendwie von Bedeutung wäre. Der Rechtsstaatscharakter eines Staatswesens ist nur dadurch bedingt, daß das Staatshandeln gänzlich oder teilweise vom Rechte determiniert, mithin Ausfluß einer allgemeinen Regel und nicht eines willkürlichen Einfalles im Einzelfalle sei. Auf die kürzeste Formel gebracht, bedeutet also in der nachrevolutionären, konstitutionellen Ära der Rechtsstaat nicht einen Staat, der auf den Rechtszweck 4 Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927. Dort entwickle ich auch die Bedeutung des modernen Rechtsstaatsbegriffes für die Verwaltung.

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im Sinne des Ordnungszweckes, praktisch also auf Justiz und Polizei beschränkt ist, sondern einen Staat, der unvorgreiflich der Wahl der Staatszwecke auf den Vollzug von rechtlichen Ermächtigungen oder Verpflichtungen beschränkt ist. Der Grad der Rechtsstaatlichkeit - denn in der Praxis gibt es Steigerungen dieses Staatstypus - bestimmt sich nicht mehr nach dem Umfang der Staatstätigkeiten, sondern nach dem Umfang und der Intensität rechtlicher Regelung des Staatshandeins. Der rechtspolitische Sinn beider moderner Gestalten des deutschen Rechtsstaates ist der einer möglichsten Freistellung des Individuums gegenüber dem Staat. Ob nun, wie in der Zeit des Absolutismus, von der Rechtsstaatsidee der Staatszweck auf ein Minimum, nämlich die Friedensbewahrung zwischen den freien Einzelmenschen, beschränkt oder die rechtliche Bindung des Staates auf ein Maximum erhöht wird, soll die möglichste Freiheit des Einzelmenschen durch das jeweilige Rechtsstaatsideal gewährleistet werden. Der Mechanismus dieser Gewährleistung ist im Falle der Rechtsstaatsidee der konstitutionellen Doktrin der, daß durch die Tatsache der rechtlichen Regelung des staatlichen Handeins an und für sich das Überraschungsmoment, die Unvorhersehbarkeit staatlichen Eingreifens beseitigt wird, und daß durch die Intensivierung der rechtlichen Regelung die Berechenbarkeit des staatlichen Einschreitens und damit die Möglichkeit für das Individuum, sich auf das staatliche Handeln einzustellen und es in seinem Sinn zu lenken, zunimmt. Die Begriffsbestimmungen des Rechtsstaates in der Rechtslehre des konstitutionellen Staates beschränken sich indes nicht auf die Feststellung des Begriffsmerkmales "rechtliche Bindung" des Staatshandeins, sondern stellen ergänzend für diese Bindung in der Regel bestimmte Formen und meistens auch bestimmte Inhalte auf. Man begnügt sich vor allem nicht mit der Regelung des Staatshandelns durch eine beliebige Erscheinungsform des Rechtes, sondern setzt für Eingriffe in Leben, Freiheit und Vermögen, kurz gesagt also, für die obrigkeitliche Tatigkeit in Justiz und Verwaltung, Ermächtigungen in Gesetzesform voraus. So wird der Grundsatz der Rechtmäßigkeit oder des Rechtsvollzugscharakters des Staatshandelns zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Staatshandlungen, die in Leben, Freiheit oder Vermögen eingreifen, verschärft. Der besondere Sinn dieses Erfordernisses des Rechtsstaates (der übrigens hiedurch zum sogenannten Gesetzesstaat wird), liegt darin, daß mittels der Gesetzesform der Rechts-

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unterworfene mittelbaren Einfluß auf den Inhalt der Eingriffe in seine Individualsphäre erlangt. Denn während das einfache Erfordernis rechtlicher Bindung des Staatsh