Franz Oppenheimer. Gesammelte Schriften. Band II Politische Schriften: Erster Teil: Die Utopie des "Liberalen Sozialismus". Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie 9783050072036, 9783050028767


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German Pages 585 [588] Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus“
Die „Utopie als Tatsache“ [1899]
Sozialliberalismus oder Kollektivismus? [1900]
Sozialismus oder Liberalismus? [1918]
Der Ausweg. Notfragen der Zeit [1919]
Die soziale Forderung der Stunde. Gedanken und Vorschläge [1919]
Weder so - noch so. Der Dritte Weg [1933]
Sprung über ein Jahrhundert [1934]
Wie der Frieden aussehen sollte [1937/38]
Pax Americana [1941/42]
Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie
Das Gesetz der zyklischen Katastrophen [1897]
Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung [1903]
Der Staat [1907]
Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie [1913]
Demokratie [1914]
Wir - und die Anderen. Gedanken zur Völkerpsychologie [1915]
Nationale Autonomie [1917]
Zur Tendenz der europäischen Entwicklung [1917]
Staat und Gesellschaft [1924]
Der Staat und die Sünde [1926]
Der Staat in nationalökonomischer Hinsicht [1926]
Die List der Idee [1927]
The Idolatry of the State [1927]
Rassenprobleme [1930]
Macht Verhältnis [1931]
Staat und Nationalismus [1932/33]
Quellen Verzeichnis
Namenverzeichnis
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Franz Oppenheimer. Gesammelte Schriften. Band II Politische Schriften: Erster Teil: Die Utopie des "Liberalen Sozialismus". Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie
 9783050072036, 9783050028767

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Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften

Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften Schriften zur Demokratie und sozialen Marktwirtschaft

Im Auftrag des Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Universität Potsdam in Verbindung mit Ludwig-Erhard-Stiftung e.V., Bonn Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf herausgegeben von Julius H. Schoeps Alphons Silbermann Hans Süssmuth

Franz Oppenheimer Gesammelte Schriften Band II Politische Schriften Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus" Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Herausgegeben von Julius H. Schoeps, Alphons Silbermann, Hans Süssmuth in Verbindung mit Bernhard Vogt Bearbeitet von Elke-Vera Kotowski

Akademie Verlag

Der Druck dieses Bandes erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Landesbank Berlin (LBB).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Oppenheimer, Franz: Gesammelte Schriften / Franz Oppenheimer. - Berlin : Akad. Verl. Schriften zur Demokratie und sozialen Marktwirtschaft / im Auftr. des Moses-Mendelssohn-Zentrum Europäisch-Jüdische Studien, Universität Potsdam. In Verbindung mit LudwigErhard-Stiftung e.V., Bonn ; Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. Hrsg. von Julius H. Schoeps ... ISBN 3-05-002675-8 NE: Schoeps, Julius H. [Hrsg.]; Oppenheimer, Franz: [Sammlung] Bd. 2. Politische Schriften / bearb. von Elke-Vera Kotowski. 1996 ISBN 3-05-002876-9

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1996 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, M i k r o v e r f i l m u n g oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Texterfassung: Kathrin Finke, Barbara Geldermann, Veronika Lipperdt, Universität Potsdam Satz: Elke-Vera Kotowski, Potsdam Druck: G A M - M e d i a GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

VII

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus" Die „Utopie als Tatsache" [1899]

3

Sozialliberalismus oder Kollektivismus? [1900]

15

Sozialismus oder Liberalismus? [1918]

26

Der Ausweg. Notfragen der Zeit [1919]

43

Die soziale Forderung der Stunde. Gedanken und Vorschläge [1919]

85

Weder so - noch so. Der Dritte Weg [1933]

109

Sprung über ein Jahrhundert [1934]

161

Wie der Frieden aussehen sollte [1937/38]

238

Pax Americana [1941/42]

243

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie Das Gesetz der zyklischen Katastrophen [1897]

253

Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung [1903]

267

Der Staat [1907]

309

VI

Inhalt

Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie [1913]

387

Demokratie [1914]

414

Wir - und die Anderen. Gedanken zur Völkerpsychologie [1915]

431

Nationale Autonomie [1917]

445

Zur Tendenz der europäischen Entwicklung [1917]

457

Staat und Gesellschaft [1924]

461

Der Staat und die Sünde [1926]

474

Der Staat in nationalökonomischer Hinsicht [1926]

485

Die List der Idee [1927]

517

The Idolatry of the State [1927]

527

Rassenprobleme [1930]

536

Machtverhältnis [1931]

546

Staat und Nationalismus [1932/33]

561

Quellenverzeichnis

567

Namenverzeichnis

571

Vorwort

Der vorliegende zweite Band der „Gesammelten Schriften" macht das politische Denken Franz Oppenheimers für eine breite Öffentlichkeit neu zugänglich. Er war ein politischer Wissenschaftler mit der Fähigkeit zum utopischen Entwurf. „Nichts ist praktischer als die Theorie" war einer seiner Leitsätze. Als Soziologe und Nationalökonom formulierte Oppenheimer praktische Vorschläge, die sein Ideal, eine „Gesellschaft der Freien und Gleichen", eine Gesellschaft des „liberalen Sozialismus", in der Realität verwirklichen sollten. Er glaubte, sein Programm stelle eine wissenschaftlich begründete Synthese von Sozialismus und Liberalismus dar (vgl. Band I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995). Seine politische Publizistik sollte Anhänger und Unterstützung für seine Pläne gewinnen. In zahlreichen Schriften entwickelte er Vorschläge zur Gestaltung der damaligen Wirtschaftsund Sozialpolitik, die insbesondere zu Beginn der Weimarer Republik eine beachtliche Resonanz erzielten. Viele seiner Bücher erreichten vergleichsweise hohe Auflagen von mehreren tausend Exemplaren, so etwa „Der Ausweg" (1919) oder „Die soziale Forderung der Stunde" (1919). Im Mittelpunkt des Ersten Teiles steht Oppenheimers Versuch, eine ideale „Wirtschaftsgesellschaft" zu konstruieren: Siedlungsgenossenschaften sollten einen „friedlichen Wettbewerb" führen, der Freiheit und allgemeinen Wohlstand gewährleiste. „Genossenschaft" verkörperte für Oppenheimer das Gegenstück zur „Herrschaft" in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der soziale und ökonomische Krisen durch die politisch bedingte Existenz von Monopolen verursacht seien. Im Zweiten Teil sind seine Schriften zur Staatslehre in einem repräsentativen zeitlichen Querschnitt versammelt. Von zentraler Bedeutung ist sein wohl bekanntestes Werk „Der Staat" (1907), das vielfach aufgelegt und übersetzt wurde (unter anderem ins Englische, Französische, Serbische, Ungarische, Japanische, Russische, Hebräische und Chinesische). Die breite Rezeption von Oppenheimers Staatstheorie dokumentiert sich auch in den ausgewählten Zeitschriftenbeiträgen und Handbuchartikeln, die das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Oppenheimer vertrat eine „soziologische Staatsidee", die sogenannte Überlagerungstheorie, die von Friedrich Ratzel, Julius Lippert und Ludwig Gumplowicz begründet worden war und in der soziologischen Diskussion der Jahrhundertwende großen Raum einnahm. Die Überlagerungstheorie, die in der bundesdeutschen Nachkriegssoziologie noch bis in die 50er Jahre unter anderem von Alexander Rüstow vertreten wurde, stützte sich auf die plausible Annahme, der Staat sei aus der gewaltsamen Unterdrückung ursprünglich freier Bauern entstanden. Oppenheimer vertrat die Ansicht, der Staat bestehe trotz aller rechtsstaatlichen Errungenschaften in einer Unterdrückungsfunktion fort. Staatliche Herrschaft sei daher immer gleichbedeutend mit „Klassenherrschaft", die für die Existenz von Monopolen verantwortlich zeichne. Oppenheimer forderte daher, das „politische Mittel" durch das „ökonomische Mittel" abzulösen, das allein zu einer Harmonie der Interessen führe. Er setzte sich deshalb vehement für die Gründung von landwirtschaftlichen Kooperativen vor allem in der deutschen und zionistischen Siedlungsbewegung ein, die das Großgrundeigentum und schließlich alle Monopole beseitigen sollten. Oppenheimer vertrat also ein Reformmodell, das durch die schrittweise Veränderung der Ökonomie eine „neue" Gesellschaft zu schaffen versprach.

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Vorwort

In den ausgewählten Schriften „Die rassentheoretische Geschichtsauffassung", „Wir und die Anderen", „Nationale Autonomie" und „Zur Tendenz der europäischen Entwicklung", die alle unmittelbar vor und während des Ersten Weltkrieges erschienen, wird deutlich, daß Oppenheimer Staatsgläubigkeit, zunehmenden Nationalismus und Rassismus als Haupthindernisse einer stabilen und freiheitlichen europäischen Ordnung kritisierte. Mit der politischen Radikalisierung gegen Ende der Weimarer Republik verschärfte er seine Ideologiekritik, etwa in „Rassenprobleme" (1930). Mit seiner Schrift „Weder so noch so" (1933) versuchte Oppenheimer dann, Kommunisten und Nationalsozialisten als „antikapitalistische Mehrheit" für seine Pläne zu gewinnen. Dieses aus heutiger Sicht vielleicht „utopisch" anmutende Vorhaben war für die Nationalsozialisten „bedrohlich" genug, das Buch unmittelbar nach der sogenannten Machtübernahme zu verbieten - später wurden auch seine übrigen Schriften eingezogen. Oppenheimer gab nicht auf, der deutschen Öffentlichkeit seine Gesellschaftskritik und Vision einer idealen Zukunft zu präsentieren. Unter dem Pseudonym Francis D. Pelton veröffentlichte er in dem Schweizer Gotthelf-Verlag im Jahre 1934 den utopischen Roman „Sprung über ein Jahrhundert". Geschildert wird die Zeitreise des schwäbischen Ingenieurs Hans Bachmüller, der eine Gesellschaft des „liberalen Sozialismus" vorfindet. Das Spezifikum des Romans besteht darin, daß Oppenheimer völkische oder nationalistische Schlagworte, wie das Führeridol oder den Mythos „Gemeinnutz geht vor Eigennutz", in aufklärerischer Absicht aufgriff. Der Roman erzielte im nationalsozialistischen Deutschland sogar eine gewisse Resonanz und wurde vereinzelt besprochen, ehe er nach der Aufdeckung des Pseudonyms ebenfalls der Zensur zum Opfer fiel. Oppenheimer grenzte sich mit seiner politischen Publizistik von der Mehrheit der deutschen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern ab, die sich dem menschenverachtenden nationalsozialistischen Regime kritiklos anpaßten oder es gar unterstützten. Den Abschluß des Ersten Teiles bilden zwei bisher unveröffentlichte Denkschriften Oppenheimers aus den Jahren 1937/38 und 1941/42, die sein visionäres Engagement für eine europäische Friedensordnung dokumentieren. In „Wie der Frieden aussehen sollte" steht die Konstitution der Europäischen Union im Mittelpunkt, deren Zentrum eine deutsch-französische Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft bilden sollte. Die Denkschrift „Pax Americana", die dem US-amerikanischen Präsidenten überreicht wurde, nahm zu der veränderten weltpolitischen Lage nach Kriegsausbruch Stellung. Oppenheimer kommentierte die Atlantik-Charta, die am 14. August 1941 von Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill als offizielle Definition der alliierten Kriegsziele vereinbart wurde und deren acht Punkte später die Grundlage für die Konstitution der Vereinten Nationen bildete. Er empfahl den USA, Großbritannien und Rußland eine militärische Allianz zur Sicherung des Weltfriedens und skizzierte die Idee einer Weltorganisation mit gemeinsamen Streitkräften, Minderheitenrechten und Märkten unter Führung der USA. Oppenheimer forderte eine radikale föderale Verfassung, die eine Verbindung von ökonomischer und politischer Demokratie herstellte und die auch heute noch diskussionswürdig erscheint. Insgesamt umfaßt der vorliegende Band sechs eigenständige Publikationen, 17 Aufsätze in Zeitschriften, Handbüchern und Sammelwerken sowie zwei unveröffentlichte Denkschriften Oppenheimers von 1897 bis 1941. Der lange Publikationszeitraum und die vorhandenen Rahmenbedingungen ermöglichten es nicht, die einzelnen Schriften in nuce vorzustellen oder zu kommentieren. Die ausgewählten Texte sprechen jedoch für sich. Oppenheimer nahm zu wichtigen Problemen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Stellung und formulierte anhand seiner Theorie konstruktive Lösungsvorschläge. Dem Leser erschließt sich nicht nur das politische Denken Oppenheimers in seiner zeitlichen und systematischen Entwicklung, sondern er erhält auch eine historische Einführung in eine bewegte Epoche. Aufsätze, die mehr als 20 Seiten umfassen, wurden mit einem Zwischentitel versehen. Zu Beginn der jeweiligen Schrift verweist eine Fußnote auf die Ursprungsquelle; sofern es sich um eine eigen-

Vorwort

IX

ständige Publikation handelt, wird auf die Erstausgabe verwiesen; bei Zeitschriften werden die bibliographischen Angaben der Ersterscheinung angegeben. Die editorischen Eingriffe beschränken sich auf ein Mindestmaß: Die Orthographie wurde weitestgehend der modernen Schreibweise angeglichen. Allerdings blieben Eigenheiten erhalten, wie beispielsweise Faszismus (statt Faschismus), Bastardierung oder Oligokratie. Oppenheimers Schreibweise war im Laufe seiner Schaffensperiode nicht einheitlich, deshalb wurde die Rechtschreibung seiner frühen Schriften der seiner späteren angepaßt (tun statt thun, Kodex statt Codex, Bankrott statt Bankerott). Die Interpunktion wurde in der Originalform belassen, um die „Betonung" des Autors innerhalb seines Satzbaus zu erhalten. Erschien es darüber hinaus notwendig, Korrekturen vorzunehmen, so sind diese durch den Zusatz [A.d.R.] = Anmerkung der Redaktion kenntlich gemacht. Bei den von Oppenheimer benutzten Zitaten anderer Autoren wurde generell darauf verzichtet, redaktionell in die Texte einzugreifen, selbst dann, wenn orthographische Fehler vorlagen. Dieser Entschluß erwuchs aus der Tatsache, daß es nicht möglich war, alle Quellen zu beschaffen; dies galt besonders für im Ausland erschienene Erstausgaben. Innerhalb der deutschsprachigen Texte wurde lediglich das „ss" durch das „ß" ersetzt. Die Vereinheitlichung der Quellenangaben durch die Festlegung auf eine eventuell vorhandene neueste Ausgabe eines Werkes hätte nicht nur einen unvertretbar hohen Aufwand, sondern auch einen unzulässigen, teilweise verfälschenden Eingriff in das Werk Franz Oppenheimers bedeutet. Hervorhebungen innerhalb der Zitate anderer Autoren sind - entgegen den Vorlagen, die Hervorhebungen gesperrt auszeichnen - durch ein kursives Schriftbild kenntlich gemacht. Die zugehörigen Quellenangaben wurden in den Fußnoten vereinheitlicht. Im Anhang dieser Ausgabe befindet sich ein Verzeichnis der von Oppenheimer benutzten Quellen, die jedoch nicht den einzelnen Werken zugeordnet wurden, sondern in alphabetischer Reihenfolge erscheinen. Ein Namenregister erfaßt alle von ihm erwähnten Personen. Sofern Oppenheimer auf eigene, in dieser Edition enthaltene Schriften verweist bzw. diese zitiert, finden sich in den Fußnoten, neben den Seitenangaben der Originalausgaben, die Verweise auf den vorliegenden Band bzw. den bereits erschienenen I. Band: Theoretische Grundlegung. August 1996

Elke-Vera Kotowski/Bernhard Vogt

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

Die „Utopie als Tatsache"1 [1899J

Was ich als die „reine Wirtschaft" bezeichne, ist zunächst - und das ist selten verstanden worden nichts als eine Methode. Ich versuche, die Normalität der Gesellschaftswirtschaft, die wir nicht unmittelbar beobachten können, zu errechnen, indem ich nach der von Adam Smith angegebenen und von Dühring ausgebauten Methode eine Gesellschaft fingiere, die entstanden und zur Höhe der vollen Kooperation erwachsen ist, ohne daß das „politische Mittel", die außerökonomische Gewalt, in den Ablauf eingegriffen hat. Auf diese Weise ergibt sich, daß der Ausgangspunkt aller „bürgerlichen" Soziologie, das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", falsch ist: die Klassen sind nicht aus rein-ökonomischen Beziehungen der Menschen zueinander entstanden. Und von den großen Phänomenen der uns umgebenden „kapitalistischen Wirtschaft" ist die „Bodensperre" in der Rechtsform massenhaften Großgrundeigentums mit allen ihren Folgen, zu denen auch der Kapitalismus selbst gehört, (der mit ihr steht und fällt) Wirkung außerökonomischer Gewalt. Mit dieser Erkenntnis wird die Konstruktion der reinen Ökonomie aus einer bloßen Methode zu einem praktischen Ideal, zu einem Ziel der staatsmännischen Kunst. Denn die Bodensperre ist eine Institution, die aufgehoben werden kann und natürlich aufgehoben werden muß und soll, wenn sie wirklich die Wurzel aller der Übel ist, an denen die europäische Menschheit jetzt zugrunde zu gehen droht. Nun hat die „rein-ökonomische Methode" recht weit geführt. Es ist mit ihrer Hilfe gelungen, die Erscheinungen der realen Gesellschaftswirtschaft viel einfacher und viel vollkommener zu erklären, als es bisher möglich war, und eine Anzahl bisher hoffnungsloser, jeder Erklärung spottender Probleme fanden auf diesem Wege ihre einfache und elegante Lösung. Dennoch widerstrebt die eingewurzelte Skepsis unserer durch allzu viele Enttäuschungen erkälteten Zeit, und widerstrebt vor allem das Klassenvorurteil unserer großen Parteien der von uns gebotenen theoretischen Lösung, eben weil sie dazu zwingen würde, auch die Praxis, das Ideal oder Ziel, anzunehmen. Es erscheint so sehr als hoffnungslose Utopie, daß das dagegen wachgerufene Mißtrauen auch die Theorie mit ablehnt, trotz ihrer unleugbaren Ergebnisse. Aus diesem Grunde wird man die stärksten Zweifel daran haben müssen, ob selbst die bis in die letzte Feinheit ausgeschliffene Theorie die Überzeugungskraft besitzen wird, um die großen Partei-

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Unter diesem Titel ließ ich im II. Jahrgang der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft", S. 190ff., eine Arbeit erscheinen, die den unten folgenden Aufsatz von William A . Smythe enthielt und vom Standpunkt meiner beiden damals schon erschienenen größeren Werke „Die Siedlungsgenossenschaft" und „Großgrundeigentum und soziale Frage" kommentierte. Meine Gesamtauffassung hat sich in den seither vergangenen 25 Jahren nicht grundsätzlich geändert, wohl aber vielfach geklärt und vertieft und vor allem neu formuliert. Ich sehe mich deshalb veranlaßt, meinen Kommentar zu dem Smytheschen Aufsatz in anderer Form als damals zu geben. Ich füge ihm eine neue Bestätigung meiner Anschauungen durch die Praxis, eine neue „Utopie als Tatsache" hinzu: eine kurze Darstellung des Lebenslaufes der ersten, aufgrund meiner Arbeiten begründeten deutschen Siedlungsgenossenschaft, der „Obstbausiedlung Eden" bei Oranienburg-Berlin.

2

[Die Fassung des vorliegenden Aufsatzes erschien ursprünglich in: Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 1, München 1924; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

en zu der notwendigen Umstellung ihrer Programme und ihrer Politik zu bringen. Viel mehr Wirkung läßt sich von der Darstellung solcher Erfahrungen der Wirtschaftsgeschichte erhoffen, die die „Utopie" als Tatsache beweisen. Solche Tatsachen zu schaffen, war vom Anbeginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit an mein unausgesetztes Bemühen, und ich bin, nach dem ersten starken Erfolge in Eden und dem ersten starken Mißerfolge in Wenigen-Lupnitz, von dem oben berichtet wurde, jetzt seit fast vier Jahren, und bisher mit gutem Erfolge, am Werke, in der von mir begründeten ersten deutschen „Anteilswirtschaft" in Bärenklau bei Velten in der Mark die Utopie zu verwirklichen. Wenn ihr der volle Erfolg beschieden sein sollte, den ich erhoffe, so wird sie weit stärker propagandistisch und unmittelbar praktisch zur Nachahmung zwingend wirken als alle meine Bücher. Bis dahin wird es immerhin nützlich sein, ältere Erfahrungen der wirtschaftlichen Praxis, die als Beweise unserer theoretischen Meinung erscheinen, darzustellen und unseren Herren Gegnern und allen Skeptikern quand meme als „Problemata" hinzustellen, die sie aus ihren Grundvoraussetzungen zu erklären haben werden, wenn sie nicht mit der Redensart von den „Ausnahmen von der Regel" ihren Bankrott eingestehen wollen. Ein erster seltsamer Fall der Art ist bereits in unserer „Siedlungsgenossenschaft" von 1896 von uns angezogen und als „Rocher de bronze" stabilisiert worden: Vineland in New Jersey. Meine grundlegende These ist, wie der Leser dieses Bandes weiß, die aller großen Theorie gemeinsame, daß nirgend eine Klasse freier Arbeiter entstehen, und daher nirgend Kapitalismus aufkommen kann, wo jedermann leichten Zugang zu Grund und Boden als seinem Eigentum und Produktionsmittel hat. Diese Grundbedingung war in Vineland Jahrzehnte hindurch verwirklicht, und solange stand auf dieser Grundlage in der Tat die „reine Ökonomie". Im Jahre 1861 kaufte Herr Charles K. Landis im Süden von New Jersey 30.000 Acres Land, denen er 1874 weitere 23.000 Acres zufügte, gelegen in einem „The barrens" (Ödland) genannten Landstriche, dessen Boden bis dahin als für den Ackerbau zu gering betrachtet worden war, so daß der Strom der Einwanderer auf beiden Seiten daran vorbeigeflossen war. Er entwarf einen Bebauungsplan, legte die nötigen Erschließungswege usw. an, und erklärte, er werde jeden Acre, den ersten wie den letzten, für 25 Dollar verkaufen. Mehr brauchte es nicht, um dieses Gebiet in ein „Minimum" zu verwandeln, dem die Massen der Wanderer zuströmten. Denn, als erst die ersten Kolonisten dort ansässig geworden waren, ergab sich aus den Vorteilen steigender Kooperation ein immer größer werdendes Einkommen pro Acre, oder, mit anderen Worten: der Boden wurde verhältnismäßig immer billiger, und der Zustrom immer schneller. Binnen zwölf Jahren war Vineland von 11.000 Menschen besiedelt, die sich eines ungemein großen und schnell wachsenden Wohlstandes erfreuten; die Kolonie hatte zwanzig Schulen, zehn Kirchen, 178 englische Meilen ausgezeichnete Straßen, 17 Meilen Eisenbahnen mit sechs Stationen, 15 Fabriken und die besten Läden in ganz New Jersey. Der Stadtkreis rangierte von 77 Kreisen des Staates als vierter nach dem Werte seiner Ackerproduktion. Von einheimischer Armut war keine Rede: die Armentaxe betrug pro Jahr und Kopf 5 Cents, während sie in dem gleich großen und von ganz derselben Bevölkerung bewohnten Orte Perth Amboy zwei Dollar betrug, d. h. das Vierzigfache. Vergehen und Verbrechen kamen nach dem Zeugnis des Polizeivorstehers nicht vor. Von genossenschaftlicher Organisation weiß Nordhoff, dem ich diese Daten1 verdanke nichts zu berichten, nennt aber das System geradezu ein „moralischgenossenschaftliches" . Besonders interessant an dieser Siedlung ist die Tatsache, daß ihre Bevölkerung nicht im mindesten „ausgesucht" war, insbesondere, daß sie durch keine gemeinsame religiöse Überzeugung ver-

1

Vgl. The Communistic Societies of the United States, London 1875, S. 366ff.

Die Utopie als Tatsache

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bunden und domestiziert war; hier entfällt also die „Erklärung", mit der unsere Skeptiker eine Anzahl anderer genossenschaftlicher Erfolge als Ausnahmen von der Regel darzustellen belieben, ganz und gar. Es waren ganz gewöhnliche Leute, die hier siedelten, genau dieselben Iren, Engländer und Deutschen, die überall sonst in dieser Zeit sich ansetzten und überall sonst Gemeinwesen mit Bodensperre, freier Arbeiterschaft, Kapitalismus, Pauperismus und Kriminalität, schufen. Die zweite „Utopie als Tatsache" wird dargestellt durch das irische Gut Rahaline, allen Kennern der Genossenschaftsgeschichte wohlbekannt als die eine unerklärliche Ausnahme von der Regel, daß alle Produktivgenossenschaften entweder schnell zugrunde gehen oder sich in kapitalistischparasitäre Formen umwandeln. Es ist uns gelungen, diese auffällige Ausnahme vollkommen zu erklären: jene Regel betrifft nur die industriellen, aber nicht die landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften, und von diesen ist Rahaline das erste und bisher erfolgreichste Beispiel der gesamten Wirtschaftsgeschichte. Wir konnten das Gesetz aufzeigen, das jede industrielle Genossenschaft dieser Art notwendig zerstört oder verwandelt, und den Beweis führen, daß dieses Gesetz für die landwirtschaftliche Namensschwester nicht gilt, weil die psychologische und ökonomische Lagerung der Genossen untereinander, und ihres Verbandes zu der Umwelt, in beiden Fällen sich geradezu entgegengesetzt verhält. Rahalines Geschichte ist in äußerster Kürze die folgende: ein englischer Großgrundbesitzer, Vandeleur, angeregt durch Owensche Ideen, übergibt seinen Pächtern, verschnapsten, verbrecherischen Gesellen, notorischen Mördern, das Gut in Kollektivpacht mit dem Versprechen, es ihnen später für den kapitalisierten Pachtwert zu verkaufen. Damit sind diese armen Proletarier zum eigenbesessenen Produktionsmittel gelangt: aller Zuwachs der gesellschaftlichen Kooperation und des individuellen Gutsertrages fließt fortan nicht mehr dem Eigentümer, sondern ihnen selbst zu. Und was ist die Folge? Ein kaum glaublicher Aufschwung des Wohstandes und ein ganz und gar unglaublicher Aufschwung der Moral. Wäre die von William Pare in seiner „Cooperative Agriculture" gegebene Darstellung nicht verbürgt, man würde an ein philanthropisches Märchen glauben, an ein phantastisches „looking backwards". Rahaline hatte keinen langen Bestand. Aber es ging nicht an einer inneren Schwäche zugrunde, sondern an einem äußeren Unglück, das es mitten im besten Gedeihen zermalmte. Vandeleur spielte, verlor sein Vermögen, der von ihm mit seinen Pächtern abgeschlossene Vertrag wurde von den Gerichten nicht als gültig anerkannt1, das Gut wurde subhastiert, und die Leute wurden ausgetrieben. So wurde auch der Jesuitenstaat in Paraguay von außen her zerstört, dessen große Blüte zum Teil ganz sicher ebenfalls auf der gesunden Bodenordnung beruhte: es scheint, daß diese Welt um uns herum keine Oase menschlichen Glücks und Friedens dulden kann, als ein allzu verführerisches Beispiel! Die dritte Tatsache, auf die ich mich schon 1899 beziehen konnte, ist von anderem Umfang, längerer Dauer und daher von ungleich größerem Gewicht. Hier handelt es sich um vierhundert Jahre deutscher Wirtschaft, vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Ich habe im zweiten, historischen, Teil meines „Großgrundeigentum" zeigen können, daß diese ganze Zeit hindurch die deutsche Wirtschaft in der Tat eine in fast allen Zügen „reine Ökonomie" gewesen ist. Sie beginnt um das Jahr 1000 mit der Verwandlung des primitiven feudalen Großgrundbesitzes in die „Großgrundherrschaft", die ökonomisch dadurch von ihrer Vorgängerin (und ebenso von ihrer Nachfolgerin, dem modernen Rittergutsbetriebe) unterschieden ist, daß der Titulareigentümer auf ein bescheidenes, nicht steigerungsfähiges Fixum gesetzt ist, während alle Vorteile der wachsenden gesellschaftlichen Kooperation den Bebauern verbleiben. Die Ursache dieser erfreulichen Wandlung war die Erschließung ungeheurer neuer Flächen Siedellandes nicht nur in dem um diese Zeit eröffneten slawischen Osten, 1

Es gab damals (1830) noch kein Genossenschaftsgesetz in Großbritannien. Vgl. Oppenheimer, Wege zur Gemeinschaft, München 1924.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

sondern auch im Mutterlande selbst. Die Grundherren konkurrierten heftig um die in den Wirren der Zeit selten gewordenen Bauern und waren daher gezwungen, ihnen das Land gegen einen bloßen „Rekognitionszins" zu überlassen und ihnen alle nur denkbaren Rechte der Selbstverwaltung einzuräumen. Von einer Bodensperre war also keine Rede; jeder arbeitsame Mann fand Zugang zu einem Stück Boden als seinem Eigentum und Produktionsmittel - und so mußte sich auf dieser gesunden Grundlage die reine Ökonomie ohne freie Arbeiter, Kapitalismus, Pauperismus usw. bei gewaltig wachsendem Wohlstande aufbauen. Und das war denn auch der Fall! Die Periode zeigt nach der negativen Seite hin das Fehlen aller wirtschaftlichen Ausbeutung, daher jeder durch die allgemeine Wirtschaftslage verschuldeten Armut, und das Fehlen jeder „Krise", weil Produktion und Verbrauch sich jederzeit im Gleichgewicht befanden; nach der positiven Seite hin zeigt sich ein uns unbegreiflicher Wohlstand, ein außerordentlicher Aufschwung aller Reichtum schaffenden Kräfte, und eine in allem wesentlichen genossenschaftliche Organisation des wirtschaftlichen Lebens: auf dem Lande die Mark, in den Städten die Zunft. Wie diese Periode mit dem Verschwinden des alten Großgrundeigentums der Karolingerzeit entstand, so verschwand sie auch wieder mit dem Neuentstehen des modernen Großgrundeigentums, zuerst im Slawenlande: hier wurde das „politische Mittel" gegen eine neu unterworfene Bevölkerung angewendet! Diese geschichtliche Erklärung einer großen und in allen Dingen der Kultur vorbildlichen Zeit, weil einer Zeit, in der der „Consensus" kaum getrübt das Volk zu einer echten „Gemeinschaft" verband, bedarf freilich noch der Bestätigung durch die Historiker. Bisher liegt eine offizielle Kritik der Berufenen nicht vor - seit sechsundzwanzig Jahren. Nur eine Privatäußerung kann ich für mich anführen. Ich habe in der zweiten Auflage meines „Großgrundeigentum und soziale Frage" einen Brief Karl Lamprechts abgedruckt, in dem der folgende Satz steht: „Für die Erklärung dieses Umschwungs habe ich ganz außerordentlich viel von Ihnen gelernt. Der von Ihnen hergestellte Zusammenhang zwischen städtischer und ländlicher Bewegung in dieser Zeit scheint mir evident."1 Vielleicht entschließt sich die Schule Schmollers doch endlich zu einer Nachprüfung der hier versuchten Erklärung, die mit ihrer eigenen Auffassimg in unversöhnlichem Gegensatz steht. Die vierte Utopie als Tatsache ist die Obstbausiedlung „Eden". Sie wurde im Jahre 1893 von einer Anzahl von Männern begründet, die zu dem Kreise des Verfassers gehörten. An der Zielsetzung und der Ausarbeitung der Satzungen hat er zusammen mit dem verstorbenen Landgerichtsrat Krekke, einem der edelsten Vorkämpfer der Genossenschaft im allgemeinen und der Siedlung im besonderen, einen erheblichen Anteil gehabt. Er konnte der Siedlung nicht beitreten, weil sie das Bekenntnis zum Vegetarismus forderte, aber er ist ihr durch all die Jahre ein guter Freund geblieben; für die neue Siedlung Bärenklau hat Eden den größten Teil der Geldmittel und den besten Teil der persönlichen Kräfte beigesteuert. Freilich hat [der] Verfasser auch von vornherein die Grenzen der Wirksamkeit der Unternehmung erkannt und bezeichnet: sie begann auf allzu kleinem Gelände mit der intensivsten Bodenkultur, dem Obstbau, und so war es ausgeschlossen, daß sie, durch starke Verdichtung ihrer Bevölkerung bei ebenso starker Intensivierung des Betriebes, die sozialpolitische Fernwirkung ausüben konnte, die die echte agrarische Siedlungsgenossenschaft nach der Hoffnung ihrer Freunde auszuüben imstande ist. Die kleine Gruppe von Idealisten begann fast ohne Geldmittel und fast ohne fachmännische Kenntnisse auf einer Fläche sehr geringen Sandbodens von 160 Morgen (40 ha) im Urstrombett der Havel. Man mußte schmerzlich Lehrgeld zahlen; so ζ. B. ließen sich die unerfahrenen Leutchen dazu verführen, in ihren Sand auch noch gemahlenen Granit als Dünger zu werfen. Weitere Mißerfolge und Verluste brachte der Versuch, Industrien und vor allem Hausfleiß in der Kolonie zu entwickeln. Dazu kamen allerhand andere Schwierigkeiten, die sich aus der Zusammensetzung der 1

[Vgl. Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1995, S. 6; A.d.R.]

Die Utopie als Tatsache

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Siedler erklärten. Es waren schließlich doch alles „pflastermüde" Städter, Sonderlinge, „cranks" im Sinne des Philisters, die alle Torheiten der Stadt, allen Glauben an eine uferlose Demokratie, alle Verachtung fachmännischen Wissens und Könnens mit einbrachten! Und dennoch volles Gedeihen, wirtschaftlich, moralisch und hygienisch! In der Festschrift „Fünfundzwanzig Jahre Obstbausiedlung" heißt es: „Die wirtschaftlichen Verhältnisse, sowohl der Siedlung wie der einzelnen Genossen, befestigten sich mehr und mehr, die Pflanzungen wurden immer ertragreicher, die Einnahmen stiegen, und in demselben Maße wuchs auch die Zufriedenheit der Siedler und das Vertrauen zu ihrem Werk. Bereits im Jahre 1912 überschritt die Endsumme der Jahresschlußrechnung der Genossenschaft die erste Million. Die Zahl der Genossen war auf 202, die ständige Bevölkerung Edens auf etwa 350 Köpfe angewachsen." Dabei war das ganze Areal zu dieser Zeit nicht größer als rund 50 ha, auf die es durch Zukäufe gebracht war: also eine Bevölkerung von 700 Köpfen auf den Quadratkilometer, das Sechsfache des deutschen Durchschnitts, eine Bevölkerung, die zum größten Teile von Bodenkultur lebte, und zwar auf dem ärmsten, dabei noch kalten und nassen Boden, der sich denken läßt! Der Gesundheitszustand ist unwahrscheinlich gut. Eden hält den Weltrekord der Säuglingssterblichkeit. Die deutsche Durchschnittsziffer betrug in den neunziger Jahren etwa 24% und sank vor dem Weltkriege langsam auf 18%. Eden aber hatte im Durchschnitt nur 3,8%, also den etwa fünften Teil, und hat damit wahrscheinlich das absolute Minimum nahezu erreicht: denn einige Kinder werden immer lebensschwach geboren oder in der Geburt vernichtend geschädigt werden. Ja, Eden übertraf sogar alle anderen Gartenstädte: Hellerau bei Dresden hatte 9%, Hampstead bei London 6,6%, und sogar Letchworth 5,5% Säuglingssterblichkeit. Ebenso günstig ist die Gesundheit der älteren Kinder: in der ganzen Zeit ist nicht ein einziges der mehr als dreihundert Kinder gestorben, die die Edener Schule besuchten. So sind denn auch die Nöte des großen Krieges hier gar nicht oder nur sehr wenig verspürt worden. Gerade so fabelhaft ist die moralische Haltung der Siedlerschaft. Es will „in der Tat etwas bedeuten, wenn während des 25jährigen Bestehens der Edener Gemeinde noch kein Mitglied derselben in einen Strafprozeß verwickelt wurde, und wenn die zur Hebung und Rettung verelendeter, sittlich gesunkener Menschen bestehenden öffentlichen Einrichtungen bisher noch in keinem einzigen Falle von Eden aus in Anspruch genommen zu werden brauchten. Für die Umgangssitten bezeichnend ist auch ζ. B. die Tatsache, daß man Jahre lang als Mann auf Eden leben und vorzugsweise in Männergesellschaft verkehren kann, ohne auch nur eine einzige Zote zu hören, und daß der vielbeklagte über die Maßen rüde Ton der städtischen Jugend sich bei den Edener Kindern trotz mancher unvermeidlichen Berührung mit der Außenwelt nicht einzubürgern vermocht hat". Der Oranienburger Gensdarm hat in volkstümlicher Sprache das Fazit gezogen: „Ich komme nur nach Eden, wenn ich Äpfel kaufen will." Nicht einmal eine einzige Zwangsvollstrekkung ist in Eden nötig geworden, und niemals ist eine Zinszahlung ausgeblieben! Der Vegetarismus hat sich nicht als Ausleseprinzip halten lassen, wenn auch noch viele Edener zu ihm schwören; politisch finden sich alle Weltanschauungen vom extremen Kommunismus bis zum extrem völkischen Bekenntnis, religiös alle möglichen Sekten: also ist es nicht ein vorher geschaffener Consensus, der das Gedeihen bedingt, sondern die wirtschaftlich-soziale Grundlage, der genossenschaftliche Bodenbesitz, die Ausschaltung allen Schachers mit der Mutter Erde, die auch hier, wie in den anderen Fällen, diese erstaunlichen Erfolge gezeitigt haben. Wir fordern jeden Gegner unserer Auffassung auch hier wieder dazu heraus, vom Standpunkte seiner überlegenen Skepsis und seines Glaubens an die angeborene, nicht zu bändigende Bosheit der Menschennatur diese Tatsachen anders zu erklären. Und nun wird der geneigte Leser vorbereitet genug sein, um den fünften Fall der Utopie als Tatsache aufzunehmen und zu würdigen, der wieder eine größere menschliche Ansiedlung betrifft, einen ganzen, wenn auch kleineren Staat der Union, Utah, die Gründung Brigham Youngs von 1848.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Utah als nationalökonomisches Vorbild von William A. Smythe1 Das amerikanische Volk kann viel lernen aus dem wirtschaftlichen System, das Utah aus dem Boden der Wüste entwickelte. Die Tatsachen sprechen eine beredte Sprache von dem, was ein organisiertes und genossenschaftlich geschlossenes Volk leisten kann. Sie zeigen, wie arme Leute zu hohem Wohlstand kommen können, ohne andere Werkzeuge zu besitzen als ihre Arbeitskraft und Grund und Boden, und ohne anderes Kapital als eine geniale Führerschaft. Die Lehre, die sie geben, kommt zu rechter Zeit für eine Periode, in der die Bevölkerung unwiderstehlich den schon jetzt gefährlich großen Städten zuströmt, in der Gewerbe und Handwerke überfüllt sind, und in der der kleine Händler und Handwerker dahinschwindet vor dem überlegenen Wettbewerb der großen Warenhäuser und Fabriken. Die wirtschaftlichen Einrichtungen Utahs sind das Ergebnis eines neuen Milieus, denn sie sind entstanden im Herzen der amerikanischen Zentralwüste, dem letzten für eine Massenansiedlung freien Gebiete der Vereinigten Staaten, der zukünftigen Heimat einer zahlreichen Bevölkerung. Das Studium der mormonischen Staatsbildung wird die wirtschaftliche Methode und die gesellschaftlichen Gewohnheiten enthüllen, die sich in Anpassung an jenes Milieu entwickelt haben. Hier liegt der Schlüssel für eine neue Kultur der Zukunft, die der amerikanischen Nation beschieden ist. Brigham Young war in Vermont gebürtig und hatte in Ohio, Missouri und Illinois gelebt. Er so wenig wie seine Jünger hatten vor ihrer Niederlassung in Utah jemals ein Land gesehen, wo der Regenfall für den Ackerbau nicht hinreichte. Aber sie begriffen bald, daß sie ihre Zukunft einem Lande anvertraut hatten, das ohne geschickte Bewässerung keinen Grashalm, keine Roggenähre, kein Weizenkorn hervorbringen konnte - und von der Kunst der Bewässerung besaßen sie nicht die leiseste Vorstellung. Aber die Not drängte, denn ihre Lebensmittelvorräte reichten nicht weit, und sie bauten den ersten Bewässerungskanal, den weiße Männer je in Nordamerika fertiggestellt haben. Die mormonische Überlieferung führt den Gedanken auf göttliche Eingebung zurück, andere auf den Rat befreundeter Indianer oder lediglich auf den praktischen, in vielen Abenteuern erprobten Scharfsinn des Führers: jedenfalls leiteten sie das Wasser des City Creek durch einen gewaltigen Dammbau ab und pflügten den Boden von Utahs erstem Feldstück. Das klare Wasser versorgt heute eine Stadt von 60.000 Einwohnern. Der Präsident Wilford Woodruff, einer jener ersten Deichbauer, erzählt, der Boden sei so hart gewesen, daß die Pflugschar ihn kaum aufreißen konnte, und es habe viel weißes Salz auf ihm zutage gelegen. Die Pioniere hatten denn auch kein volles Vertrauen zu ihrer jungen Pflanzung, der sie ihren letzten Rest von Kartoffeln anvertrauten, aber die Ernte gedieh trotz aller Hindernisse und bewies, daß sogar dem feindlichen Boden der Wüste Nahrung zu entreißen ist, wenn der Mensch sich ihren außerordentlichen Bedingungen anzupassen lernt. So winzig war der Anfang der Landeskultur in der Wüste. Utah ist seither das Mutterland für Bewässerungsanlagen geworden. Die Ansiedler hatten noch mancherlei Widerwärtigkeiten zu überwinden, unter anderem die Verwüstung ihrer Saaten durch Schwärme von Grillen, ehe sie ihr erstes Erntefest feiern und gesichert in die Zukunft sehen durften. Dann begann die lange Ära des Wohlstandes, die nicht eher vergehen kann, als bis das Volk das wirtschaftliche System aufgibt, das Brigham Young ihm verliehen hat. Es ist dieses Wirtschaftssystem, das die Mormonenansiedlung so merkwürdig macht. Es hat nirgends seinesgleichen, wenigstens nicht in irgendwelcher bedeutenden Ausdehnung: und dennoch ist der Grundgedanke jedenfalls allgemeiner Anwendung fähig. Die Mormonen betrachten es ebenfalls als

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[Der von Oppenheimer hier ins Deutsche übersetzte Aufsatz von William A . Smythe erschien im Original in: Atlantic Monthly, November 1896; A.d.R.]

Die Utopie als Tatsache

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unmittelbares Geschenk des Himmels, als „Offenbarung", aber es ist ganz augenscheinlich das notwendige Produkt des Wüstenmilieus. Das Wirtschaftssystem von Utah beruht auf dem allgemeinen Besitz von Grund und Boden, d. h. es gibt nur Eigentümer, aber keine Pächter. Eine Monopolisierung des Bodens wurde von Anfang an nicht geduldet. Jeder durfte soviel Land für sich nehmen, wie er für einen vernünftigen Zweck gebrauchen konnte, aber niemand durfte Land in Besitz nehmen, um es zu spekulativen Zwecken auszusperren. Der Eckstein des ganzen Systems war der „Industrialismus", die Theorie, wonach jeder arbeiten sollte für das, was er haben wollte - und jeder haben sollte, wofür er gearbeitet hatte. Dafür mußte jeder Familie soviel Eigentum zu Land zu eigen gehören, als die mit Vorteil nutzen konnte, aber nicht mehr! Daß der Prophet dieses System einführte, erklärt sich ohne weiteres aus den Lebensbedingungen der Kolonie. Es war viel mehr Land als Wasser vorhanden, der Wert der Grundfläche war bedingt durch das verfügbare Wasser, das nur mit großen Kosten beschafft und verteilt werden konnte. Dieser Umstand zwang ihn, den Umfang jeder Familienbesitzung so zu beschränken, daß sie gerade für die Lebensmittelerzeugung ausreichte. Hätte er seinen ersten Anhängern gestattet, beliebig viel Land zu okkupieren, so hätte er für die Tausenden, die seines Rufes harrten, keinen Raum mehr gehabt. Darum wies er die einzelnen Höfe viel kleiner aus, als es in den Oststaaten Brauch war, wo 200 bis 400 Acres eine Durchschnittsfarm bildeten; und konnte auch das nur, weil er sich offenbar schon darüber klar war, was intensiver Ackerbau mit Hilfe einer guten Bewässerung leisten könne. Die erste Ansiedlung, Salzseestadt, wurde das Vorbild aller anderen. Der Stadtplan suchte die Absicht einer gerechten Landverteilung an alle Bewohner zu verwirklichen. Die innere Stadt wurde in Blocks von je zehn Acres eingeteilt, die in Losen von je 1 1/4 Acres an Geschäftsleute und Beamte ausgetan wurden; daherum erstreckte sich eine Reihe von Blocks von je fünf Acres, die an Handwerker verteilt wurden, und daran wieder schlossen sich Reihen von 10- und 20-Acres-Losen, die, je nach der Größe ihrer Familie, an Bauern fielen. So war jeder Kolonist ein kleiner Grundeigentümer im Besitz eines Stückes bewässerten Landes, das ihn zu ernähren vermochte. Die Verteilung war wunderbar gerecht: was der Besitzer an Umfang seines Landes verlor, ersetzte ihm die Verkehrslage, denn die kleineren Stellen lagen dicht am Geschäfts viertel. Als der Ort im Laufe der Jahre von einem Auswandererlager zur volkreichen Stadt heranwuchs, mit Trottoirs, Wasserleitung, elektrischem Licht und Eisenbahn, da verteilte sich der unvermeidliche Wertzuwachs sehr gleichmäßig. Keine einzige Familie, kein einzelner ging leer aus bei der Verteilung dieses Wertzuwachses, den die steigende Dichte der Bevölkerung und der wachsende Vorteil der Lage mit sich brachten. Dieser Grundsatz des allgemeinen Eigentums an Grund und Boden, der sorgfältigen Abstufung der Größe nach der Verkehrslage und den Bedürfnissen der Familien ist in allen Mormonenkolonien in Utah selbst und den Nachbarstaaten durchgeführt worden und wird noch heute in den jüngsten Ansiedlungen in den Utahbergen angewendet. Es ist festzuhalten, daß das mormonische Bodenbesitzrecht auf Einzelbesitz beruht. Niemals wurde ein Versuch zur Einführung von Gemeineigentum gemacht. Das Einheitselement des Staates war die Familie und der Familienbesitz. Aber, sobald man die Sphäre der individuellen Arbeit verläßt, stößt man auf ein höheres Prinzip, das die öffentlichen Nutzungen regelt, ein Prinzip, das allezeit hochgehalten worden ist, wenn auch die speziellen Methoden dem Wechsel unterlagen. Es ist dies das Prinzip des Gemeineigentums und der öffentlichen Kontrolle (man könnte es mit „Obereigentum" übersetzen)1. Wenn die Mormonen ihr wirtschaftliches Leben in der Absicht hätten organisieren wollen, große Privatvermögen anzuhäufen, so hätte sich kein besseres Spekulationsobjekt dargeboten als die Wasserversorgung. Es wäre

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[ A n m e r k u n g des Ubersetzers; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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gesetzlich durchaus zulässig gewesen, wenn Privatleute oder Gesellschaften die Wasserläufe mit Beschlag belegt, Kanäle gebaut und Wasserrechte verkauft hätten, um sich eine jährliche Rente zu sichern. Mit einem solchen Verfahren, das in den anderen Bewässerungsstaaten das verbreitetste ist, hätten sie jedes Feld und jeden Garten, jedes Individuum und jede Familie zur ewigen Tributzahlung an sich und ihre Nachkommen gezwungen. Es ist weder vor dem Gesetz noch vor der gewöhnlichen Wirtschaftsauffassung ein größeres Unrecht, den natürlichen Schatz der Bergströme mit Beschlag zu belegen und der öffentlichen Benutzimg zu entziehen, als die Beschlagnahme und Sperrung von Mineralschätzen auf Regierungsland. Wahrscheinlich haben es die Mormonen nur dem Umstände zu danken, daß keiner der Genossen anfangs für derartig kostspielige Unternehmungen reich genug war, wenn sie dem Unglück entgingen, daß ihr Bewässerungssystem in die Hände von Privatpersonen geriet. Sie gingen von einem Zustand wirtschaftlicher Gleichheit aus: denn sie waren alle gleich arm, und sie konnten Wasserrechte mit nichts anderem erwerben als mit ihrer Arbeit. Diese Arbeit leisteten sie daher genossenschaftlich, und das Kanalkapital wurde auch jedem nach Maßgabe seiner Leistung ausgefolgt, nämlich entsprechend der Größe seines Landloses. Wer zwanzig Acres eignete, hatte doppelt so viel Arbeit am Kanal zu leisten wie der Besitzer von zehn Acres. So erzwang die Dürre des Landes geradezu die genossenschaftliche Unternehmung, gerade, wie der notwendige Kampf gegen die See sie in Holland erzwang; und in beiden Fällen erwies sich die Notwendigkeit eines genossenschaftlich organisierten Wirtschaftsanfangs als der mächtigste Bildner wirtschaftlicher Einrichtungen und gesellschaftlicher Bräuche. Brigham Young hatte die Farm von zwanzig Acres als Maximalgröße in der Salzseeansiedlung festgesetzt, und er entwickelte eine Grundauffassung, die sich von der in seinen heimatlichen Roggen· und Weizenländern mit ihren großen Gütern herrschenden sehr wesentlich unterschied. Er wollte, daß jede Familie soweit wie irgend möglich sich innerhalb ihres eigenen kleinen Besitzes vom Markte unabhängig halten solle. Seine Predigten im Tabernakel hatten weniger theologischen als praktischen Inhalt, und das Ergebnis war ein ganz besonderes System der Ackerwirtschaft. Wie in Texas die Baumwollzone, in Nebraska die Roggenzone, in Dakota die Weizenzone, in Kalifornien die Apfelsinenzone, so haben wir in Utah das Land der Mannigfaltigkeit des Feldbaus. Das ist die erste und vielleicht die kostbarste Frucht des Wirtschaftssystems, das so fest in der Allgemeinheit des Landbesitzes wurzelt. Einen großen Teil des Mißgeschicks, das die Ansiedler am Mississippi während des letzten Jahrzehntes getroffen hat, danken sie dem Umstände, daß sie ihr Wirtschaftssystem auf Spekulation aufgebaut hatten. Sie erwarben große Farmen, um sie später mit Gewinn wieder verkaufen zu können. Sie beschränkten sich auf den Anbau einzelner Früchte, weil sie auf hohe Preise spekulierten, und nahmen hohe Hypotheken für kostspielige Meliorationen auf, weil sie auf ein starkes Steigen des Landwertes und der Ackerprodukte vertrauten. Wie sehr das System von Utah überlegen ist, erkennt man leicht aus einem Vergleiche. Hier die kleine, aber unverschuldete Farm, deren Ernten durch die Bewässerung verbürgt sind, und die systemvoll bestellt wird, um alles zu erzeugen, was die Familie braucht, so daß der Familienvorstand die Seinen reichlich ernähren kann: dort eine einzelne Frucht, allen Unbilden des Wetters und der Konjunktur ausgesetzt, der Eigentümer in der Notlage, viel Lohnarbeiter zu bezahlen und in der Stadt gegen Bargeld beinahe alles zu kaufen, was seine Familie und seine Arbeiter brauchen! Das System von Utah war offenbar eine Folge seiner eigentümlichen Daseinsbedingungen. Die Mormonen waren so weit von jedem Mittelpunkt der Warenerzeugung entfernt, daß ihnen die Unabhängigkeit der Naturalwirtschaft gebieterisch vorgeschrieben war. Die Not predigte ihnen das Evangelium der wirtschaftlichen Unabhängigkeit in seiner reinsten und naivsten Form. Und noch heute ist sie der Charakterzug der Mormonenwirtschaft. Kriege und Krisen sind über das Land hingefegt, seit die Pioniere Salzseestadt erbauten: aber sie und die Ihren haben noch keinen Tag Hunger gelitten, und sie werden es auch nicht, solange das Wasser noch von den Hügeln strömt und die Erde Ernten trägt.

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Die Eroberung Utahs begann mit dem Ackerbau, der Grundlage aller Kultur. Brigham Young wußte genau, daß kein Wohlstand bestehen kann, wenn der Ackerbau leidet. Er wußte, daß der zukünftige Besitz der Gemeinschaft an Fabriken, Läden, Banken, Kirchen, Tempeln und Tabernakeln nur den Uberschüssen der Bauern entspringen könne. Sobald er sein Volk mit Nahrung und Obdach versehen wußte, ging er an die Gründung von Werkstätten, Laden- und Bankgeschäften. Alle diese Unternehmungen wurden auf dem Wege der Genossenschaft ins Leben gerufen, und zwar in der Form der Aktiengesellschaft. Diejenigen, die daran nicht teilnehmen wollten, verließen gewöhnlich die „Kirche" und ließen sich auf eigene Faust nieder. Da im Anfang keinerlei Kapital vorhanden war, als das in Land und Arbeitskraft jedes einzelnen steckende, da alle in gleicher wirtschaftlicher Lage die Existenz begonnen hatten, so wurde auch allen die gleiche Möglichkeit geboten, sich an den neuen industriellen, kaufmännischen und finanziellen Unternehmungen zu beteiligen. So oft eine Fabrik oder ein Handelsgeschäft gegründet werden sollte, wurde jedermann zur Subskription auf das Aktienkapital aufgefordert. Die Einzahlung geschah zuweilen bar, meist in Produkten, gar nicht selten auch in Arbeit. Ein Ding hat in Utah nie gemangelt: Arbeitsgelegenheit! Arbeit konnte immer gegen andere Güter, sogar gegen Bank- und Industrieaktien, ausgetauscht werden; nur auf diese Weise ist die gleichmäßige Verbreitung dieser Kapitalien erklärlich, die heute noch existiert. Im Anfangsstadium waren die Gewerbe niedrigster Art. Alle Waren mußten in Ochsenwagen 1.000 Meilen weit über Wüsten, Steppen und Gebirge herangeschleppt werden. Das Volk hatte kaum Geld und benutzte als Tauschmittel ein Papiergeld, die „Zehntenscheine". Dies erfüllte seinen Zweck als lokales Umlaufmittel vollkommen, da die Preise der Güter durch die Weltmarktpreise bestimmt waren, aber es galt nicht im „Auslande", und sie konnten namentlich keine Maschinen dafür einkaufen. Daher ging es langsam voran mit der Ausstattung ihrer Fabriken, aber sie entwikkelten schnell eine Schar geschulter Handwerker, deren Reihen außerdem durch Einwanderung fortwährend ergänzt wurden. Aber auch so war der gewerbliche, wirtschaftliche Fortschritt staunenswert, obgleich Brigham Young es verhinderte, daß die Bergschätze der Nachbarschaft ausgebeutet wurden. Dennoch entwickelten sich schnell alle für ein kompliziertes und gleichgewichtiges Wirtschaftsleben nötigen Gewerbe. Jede bedeutende Ansiedlung hat ihren Konsumverein und ihre Volksbank auf genossenschaftlicher Grundlage. Von der großartigen Rübenzuckerfabrik in Lehi an bis herab zum kleinsten kaufmännischen Geschäft in dem letzten Dörfchen gehört das Unternehmen einer großen Anzahl von Aktionären. Das Kapital wird durch die Überschüsse der Volksmasse gebildet. Dies System hat keine Ähnlichkeit mit dem Kollektivismus:1 nichts fließt den Einwohnern in ihrer Eigenschaft als Angehörigen der Gemeinde oder der Kirche zu: jeder Dollar Aktienkapital hat bezahlt und verdient werden müssen. Das System ist nichts anderes als die Aktiengesellschaft mit einer sozusagen brüderlichen Absicht. (Es ist tatsächlich eine Genossenschaft unter der Maske der Aktiengesellschaft.)2 Das soll sagen, daß tatsächlich der Wunsch besteht, daß alle Genossen ein Interesse an den Unternehmungen haben und an ihren Erträgen teilnehmen sollen. Die Absicht, die Anteile für einige wenige zu monopolisieren, würde fast für unmoralisch gelten. Damit soll aber nicht etwa gesagt sein, daß alle gleichen Anteil an den verschiedenen Betrieben haben, denn auch das Mormonensystem hat das Kunststück nicht fertig bekommen, die Menschen in Erfolgen und Leistungen gleichzumachen. Aber alle haben gleiche Chancen gehabt und die Starken haben die Schwachen unterstützt und behütet. Diese Erscheinung ist eine der wenigen guten Dinge, die man der Einmischung der kirchlichen Autorität in weltliche Dinge zuschreiben darf.

1 Im Urtext steht Sozialismus. 2 Anmerkung des Ubersetzers; vgl. Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Leipzig 1896, S. 356ff. über Tanna und Wieda.

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Es ist ganz unmöglich auch nur von einem größeren Bruchteil der vielen genossenschaftlichen Unternehmungen Utahs die Geschichte zu geben, und statistisch sind sie nicht zu fassen. Aber das ganze System wird in typischer Weise dargestellt durch ein einziges monumentales Unternehmen, Zions genossenschaftliches Kaufhaus. Dieser große Konsumverein ist Mutter- und Musterhaus aller Ladengeschäfte in Utah selbst und den Nachbarstaaten geworden. Ich zitiere aus einem Briefe des erfolgreichen Direktors von „Z. C. Μ. I." (Zions Cooperative Mercantile Institution): „Der Konsumverein wurde am 16. Oktober 1868 begründet, begann seine Tätigkeit am 1. März 1869 mit einem Kapital von 220.000 Dollar und wurde am 5. Oktober auf eine vorläufige Dauer von 25 Jahren eingetragen. Am 30. September 1895 wurde er wieder auf 50 Jahre eingetragen mit einem Kapital von 1.077.000 Dollar. Während der ersten Periode haben wir für 76.352.686 Millionen Dollar Waren abgesetzt und allein an Eisenbahn und Post rund 7 Millionen Dollar Frachtkosten ausgezahlt. Wir haben fast 2 Millionen Dollar als Einkaufsdividende und fast 415.000 Dollar als Kapitaldividende ausgezahlt. Während der Panik von 1873 bis zum Jahre 1877 haben wir aus Zweckmäßigkeitsrücksichten keinerlei Dividende gezahlt, aber unser Geschäftsbetrieb war in diesen 27 Jahren nicht einen Tag unterbrochen, und trotzdem fiel auf jedes einzige Jahr der Periode eine durchschnittliche Kapitaldividende von 8 1/3% und von 243% im ganzen. 1.000 Dollar, die am ersten März 1869 uns auf Aktien gegeben waren, hatten sich nach Ablauf der Geschäftsdauer am 30. September 1895 auf 2.014,30 Dollar vermehrt, und doch hatten wir darüber hinaus auf je 1.000 Dollar im ganzen 4.118,95 Dollar Einkaufsdividende verteilt." Das ist ein Teil aus der Geschichte des größten genossenschaftlichen Unternehmens in Utah. Sie beweist, daß ein großes Geschäft ebensogut im Interesse der Volksmasse wie in dem Weniger verwaltet werden kann [sie]. Die jüngste und größte gewerbliche Unternehmung der Mormonen ist die Rübenzuckerfabrik, das Eigentum von 700 Aktionären, in der im Jahre 1895 bedeutend über 7 Millionen Pfund Zucker hergestellt wurden, und die eine Dividende von 10% verteilte. Gleichzeitig gewährte sie den Produkten der bewässerten Felder guten Absatz. Zwar sind die schönsten Erfolge der genossenschaftlichen Arbeit erst in den letzten 20 Jahren erzielt worden, aber doch haben auch die ersten Jahre schöne Früchte gezeitigt. Schon 1850, wenige Jahre nach der Gründung von Salzseestadt, erreichte die gewerbliche Produktion einen Wert von fast 300.000 Dollar; 10 Jahre später war die Million fast erreicht, und 1870 belief sich der Gesamtwert auf stark über 2 1/4 Millionen, während er 1895 dicht an 6 Millionen heranreichte. Natürlich erfreuen sich diese hart gewonnenen Gewerbe einer großen Beliebtheit. In einer Enquete des Geschichtsschreibers der Kirche, Mr. A. Milton Musser, die er auf meine Bitten angestellt hat, wurde der Versuch gemacht, den Gesamtwert der Aufwendungen zu ermitteln, die das Gemeinwesen gemacht hat. Da die Mormonen ganz arm begannen, so ist alles, was sie in fast 50 Jahren an Aufwendungen gemacht haben, dem Boden entrissen worden. Er berechnet die Kosten für Schulen, Straßen, Brücken und Indianerkriege, für religiöse und Handelsunternehmungen, für die Errichtung von 10.000 Farmen und den Lebensunterhalt des ganzen Volkes. Dazu kommen große Summen, die in früheren Versuchen zur Herstellung von Eisen, Zucker, Papier, Nägeln, Leder und Baumwolle verloren gegangen sind, ferner 3 Millionen als Ausgabe für „die Abwehr antipolygamischer Gesetze" und, bezeichnend für das wunderbare Kolonisationssystem, 8 Millionen Reiseunterstützung für arme Einwanderer. Alles in allem kommt die Rechnung, die die höchstgestellten Autoritäten der Kirche mit ihrem Plazet versehen haben, auf eine Gesamtausgabe von 563 Millionen Dollar, die, mit Ausnahme von ca. 20 Millionen hereingebrachten Kapitals, ganz und gar dem dürren Wüstenlande durch Fleiß und Geduld abgerungen worden sind. Daraus ergibt sich, daß jeder mormonische Bauer in diesen 40 Jahren durchschnittlich 482 Dollar mehr als die Unterhaltskosten vereinnahmte, beträchtlich mehr als der Bruttoverdienst der Lohnarbei-

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ter im übrigen AmerikaDie ganze Aufstellung scheint geeignet, den Eindruck breitesten Wohlstandes zu befestigen, den jedermann bei einem Besuche Utahs empfängt. Für unseren Zweck sind jedoch die exakten Ziffern von geringerem Werte als die Prinzipien, die dieses nach allgemeiner Übereinstimmung staunenswerte Ergebnis hervorgebracht haben. Dies sind: 1. Allgemeiner Landbesitz von einem Umfang, wie ihn Familien oder Individuen zu vernünftigen Zwecken nutzen können. 2. Selbstversorgung im Ackerbau mit der Absicht möglichster Unabhängigkeit vom Markte. 3. Gemeineigentum an allen nützlichen öffentlichen Einrichtungen, ζ. B. an Wasser für Berieselung und Hausgebrauch. 4. Genossenschaftliches Eigentum an Kaufläden, Fabriken und Bankgeschäften in der Form der Aktiengesellschaften. Das sind die Grundprinzipien des mormonischen Gemeinwohls. Sie sind durch die glückliche Geschichte eines halben Jahrhunderts legitimiert. Nirgendwo anders ist ein so großer Prozentsatz des Volkes frei von jeder Hypothekarverschuldung; an keinem anderen Orte der Welt hat die Arbeit einen so reichen Anteil an dem erhalten, was sie hervorgebracht hat, nirgend ist der Volkswohlstand auf festere Grundlagen gebaut, nirgend stehen öffentliche Einrichtungen mächtiger gestützt, sicher vor jeder wirtschaftlichen Umwälzung. Das Krisengewitter von 1893, das vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean eine Bahn der Bankrotte brach, war ohnmächtig gegen die sämtlichen Kaufläden, Fabriken und Banken der Mormonen. Die Solvenz dieser Geschäfte ist aber kaum weniger wunderbar als die Solvenz der Bauern, von denen sie ihre Kraft ziehen. Kein anderer Gouverneur, eines Ost- oder Weststaates kann sich rühmen, wie der Hon. Hebe M. Wells, als er im Januar 1896 sein Amt antrat: „Wir haben 19.916 Farmen in Utah, und davon sind 17.684 von jeder Verschuldung frei." Kein Staat der Union, Massachusetts nicht ausgenommen, hat eine höhere Schulbesuchsziffer und weniger Analphabeten: auch hier hält Utah den Rekord. (Nach einer nicht hierher gehörigen Schilderung und Verteidigung der kirchlichen Zehnten fährt unser Autor fort:) Diejenigen, die den sozialökonomischen Wert der mormonischen Versuche nicht anerkennen wollen, pflegen zu behaupten, diese Erfolge seien lediglich dem religiösen Fanatismus zu danken und wären ohne die großartige kirchliche Organisation nicht möglich gewesen. Ich lege gegen diese Meinung mit allem Nachdruck Verwahrung ein. Es scheint mir zweifellos, daß nicht die Kirche das Wirtschaftssystem, sondern umgekehrt das Wirtschaftssystem die Kirche aufrecht erhielt. Brigham Young errang sich die unvergängliebe Liebe und Treue seiner Jünger nicht, weil er sie beten lehrte, sondern weil er sie arbeiten und wirtschaften lehrte. Er lebt in ihrem Gedächtnis nicht als der Prophet und Religionsstifter, sondern als der glorreiche Organisator des Wohlstandes fort. Und ebenso hat ihn die Außenwelt zu werten, als Strategen der Wirtschaft, als Baumeister des Volkswohlstandes. Aus dem Mitgeteilten darf übrigens nicht etwa der Schluß gezogen werden, daß im Mormonenlande nun auch gar nichts auszusetzen sei. Im Gegenteil, die Leute haben ihre Fähigkeiten längst nicht bis zum höchsten Grade entwickelt. Utah besitzt weder die besten Musterwirtschaften noch die leistungsfähigsten Bewässerungsanlagen. Wir finden alle Unreife, die man in einem ohne alle baren Kapitalien durch einen einfachen und phantasiearmen Menschenschlag erschlossenen Lande erwarten kann. In den größeren Städten freilich, wie Salzseestadt und Ogden, werden die besten

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Ein dem Umfang nach kleines, aber auf den gleichen Grundlagen zu erstaunlichem Wohlstand gelangtes, gleichfalls von ganz kapitallosen Menschen gegründetes Gemeinwesen, Zagarolo, beschreibt Sismondi in seinen „Neuen Studien". Vgl. Franz Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, 5. Aufl. [o. J.], S. 599. Für die herrschende Kapitaltheorie unerklärliche Ausnahme von der Regel!

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Muster des Ostens völlig erreicht, aber in Dutzenden von kleinen Ansiedlungen liegt es doch ganz anders - und diese machen gerade das eigentliche Utah aus. Die Farmen sind oft schlecht gehalten und unsauber, die Baumgärten werden nicht immer vor den gewöhnlichsten Schädlingen bewahrt, die Früchte werden nicht geschmackvoll sortiert und verpackt. Diese Städtchen und ihre Häuser könnten hübsch sein, Denkmäler eines mit Geschmack gepaarten Wohlstandes. Wenn dem nicht so ist, so liegt es an dem Volke selbst, das sich seiner gesicherten Lage in grobem Behagen und ohne Trieb nach feineren Genüssen erfreut.1 Soweit unser Gewährsmann. Ich müßte meine ganze Theorie ausschreiben, um alle die unerwarteten Bestätigungen ins Licht zu stellen, die sein Bericht ihr zuteil werden läßt. Ich will mich aber auf einige wenige Bemerkungen beschränken: Zunächst ist klar, daß das Bodeneigentumssystem, das Young geschaffen hat, die Bodensperre ausschließt und das Ideal verwirklicht, daß jedermann ein Stück Boden „in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann" (Marx). Die einzelnen Höfe sind zu klein, um Lohnarbeiter beschäftigen zu können, und auf der anderen Seite gibt es hier keine freien Arbeiter, die auf Lohnarbeit angewiesen sind. Die notwendige Folge dieser Grundlage der ganzen Gesellschaftswirtschaft ist der genossenschaftliche Oberbau. Die Kirche hat - und das ist der einzige Punkt, in dem ich von dem Berichterstatter abweiche - mit dem Blühen des „genossenschaftlichen Geistes" nichts zu tun, sondern er ist nur die notwendige Erscheinung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem alle Interessen parallel laufen. Und da ist es sehr merkwürdig, daß der Geist genossenschaftlich blieb, trotzdem das Fleisch, die wahrscheinlich aus Unkenntnis gewählte Form des Zusammenschlusses, nicht die kooperative, sondern die kapitalistische par excellence war, die Aktiengesellschaft. Eine glänzende Bestätigung der von mir vertretenen Ansicht, daß die Form nichts, der wirtschaftliche Inhalt aber alles bedeutet! „Ausbeutung" fehlt ganz; „Krisen" prallen ohnmächtig an der Organisation ab, die „immun" bleibt, wie eine sanierte Stadt mitten im Herzen eines Seuchenherdes; und die reichtumschaffenden Kräfte entfalten sich in einem Maße, für das uns der Maßstab fehlt. Mögen die oben angeführten Daten noch so schön gefärbt sein, so bleibt doch immerhin, selbst nach den Subtraktionen der größten Skepsis, so viel übrig, daß die geltenden wirtschaftlichen Grundbegriffe revidiert werden müssen. Der Kapitalbesitz, die Bevölkerungsdichte und die Arbeitsteilung begannen bei Null: wie hoch, so muß man sich fragen, wäre der Wohlstand in diesen 40 Jahren gestiegen, wenn die etwa 20 Quadratmeilen Ackerland, statt in der Salzwüste weit außer dem Bereich jeder Kultur, im Herzen des alten Europa mit seiner Kapitalanhäufung und Arbeitsteilung nach demselben System bestellt worden wären?! Dann hätte der Anfangspunkt der Entwicklung ungefähr dort gelegen, wo Utah stand, als die „Heiden" es der Kirche entrissen - und wie hoch wäre die Endziffer gewesen?! Wer davon weiß, daß im hohen Mittelalter in Westeuropa grundsätzlich das gleiche, die Sperrung ausschließende Bodenrecht bestanden hat wie hier in Utah, der versteht nach diesen Daten über den wachsenden Reichtum der Mormonen, daß zu jener Zeit die kleinsten Städte Kathedralen und Rathäuser bauen konnten, die die Finanzkraft heutiger Großmächte sich nicht leisten kann. Und er fängt an zu ahnen, wie unendlich reich unsere Zeit sein könnte, die die Elemente in den Dienst ihrer Gütererzeugung zu zwingen gelernt hat - wenn das unselige Hindernis beseitigt würde, das auf dem Wege der Menschheit zu Glück, Freiheit und wahrer Kultur aufgetürmt ist.

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Hier ist anzumerken, daß es in den kleinen Städten nicht nur Utahs, sondern der ganzen U n i o n ganz ebenso nicht nur aussah, sondern noch heute aussieht. Sinclair Lewis hat das in seinem zu sensationellem Erfolge gelangten R o m a n : „Main-Street" (Hauptstraße) auf das deutlichste dargestellt. [Hier endet der von Oppenheimer eingefügte Aufsatz von William A. Smythe; A.d.R.]

Sozialliberalismus oder Kollektivismus?

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Mein verehrter Freund Ladislaus2 Gumplowicz erweist mir die Ehre, sich in dieser Zeitschrift mit meiner Theorie zu beschäftigen.3 Ich komme dabei nicht gerade gut fort. Meine Theorie soll einige „ganz bösartige Unklarheiten" enthalten, ich soll mich zu den „tollsten Übertreibungen" hinreißen lassen, die mein ganzes System verstümmeln und zu „halbem Unsinn" verzerren. Das sind so schwerwiegende Vorwürfe, daß ich sie nicht unbeantwortet lassen möchte. Gegen einen Teil seiner Einwände hat mich mittlerweile Eduard Bernstein in seinem Aufsatze im vorigen Hefte verteidigt, hat festgestellt, daß Gumplowicz „an mir vorbeidefiniert" und mich teilweise mißverstanden hat. Ich kann also, da es sich ja in der ganzen Streitfrage nicht um eine Grenzbestimmung zwischen Gumplowicz und mir, sondern nur um eine solche zwischen Bernstein und mir handelt, an dieser Stelle den größten Teil der Gumplowiczschen Ausführungen beiseite lassen. Nur auf zwei Punkte muß ich eingehen, indem ich mir vorbehalte, dieselben später ausführlich zu behandeln. Der Kernpunkt aller seiner Mißverständnisse ist der, daß mich Gumplowicz für einen „Utopisten" im wissenschaftlichen Sinne des Wortes hält, d. h. für einen Erfinder, der eine neue Gesellschaftsform aufbauen will, während ich nichts bin, als ein Forscher, der die Theorie der Gesellschaft festzustellen bemüht ist. Ich will ihre Gesetze (Kausalgesetze) finden, nicht etwa ihr Gesetze (Normativgesetze) geben. Und darum ist es so falsch, wie möglich, zu sagen: „Oppenheimer will die Überführung der industriellen Produktivmittel ins Gemeineigentum dagegen nicht, sondern er will einen faulen Kompromiß zwischen agrarischein Sozialismus und industriellem Kapitalismus"; es ist so falsch, wie möglich, das zu sagen, denn Oppenheimer will überhaupt nichts, nämlich herbeiführen, - dies Wort ist ja wohl bei Gumplowicz zu ergänzen? Oppenheimer „will" lediglich etwas ergründen. Er ist ausschließlich Theoretiker, und weder Taktiker, noch Praktiker. Ganz nebenbei, und ganz unabhängig von seinen theoretischen Gedanken und Erwartungen, „will" er allerdings auch noch eine einzige lumpige „Wirtschafts- und Erwerbsgenossenschaft" gründen. Darüber werde ich unten gegen Bernstein noch einiges zu bemerken haben. Gumplowicz hat einfach eine Denkmethode mit einer Absicht verwechselt. Mein Standpunkt ist nämlich der, daß nur die Anwesenheit eines massenhaften Großgrundbesitzes in unserem Wirtschaftskreise die Verzerrung der Verteilung und damit des wirtschaftlichen Wettbewerbes, den Pauperismus, die Krisen usw. erklären kann. Daraus stellte sich die Aufgabe, zu untersuchen, wie umgekehrt in einer von Großgrundeigentum freien hochentwickelten Wirtschaftsgesellschaft sich die Verteilung gestalten würde.

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[Dieser Aufsatz erschien erstmals in: Socialistische Monatshefte, N r . 4 (1900), S. 2 7 4 - 2 8 6 . ]

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[Oppenheimer benutzt hier zum einzigen Male Ladislaus statt Ludwig; A.d.R.]

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Gumplowicz, Sozialliberalismus oder Kollektivismus? In: Socialistische Monatshefte, N r . 1 (1900), S. 14ff.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Dabei handelte es sich in erster Linie natürlich darum, wie in einer solchen vom letzten Reste des Feudalismus gereinigten Wirtschaftsgesellschaft das Großkapital auf die Verteilung, d. h. auf Einkommen und soziale Lage der Arbeiter und Handwerker einwirken würde. Solche Fragen löst man methodisch am besten, indem man den ungünstigsten Grenzfall als gegeben annimmt. Das habe ich getan, habe mir vorgestellt, daß in einer auf genossenschaftlichem Grundeigentum angesessenen Gesellschaft große Privatkapitalien sich in den Händen einzelner Personen befänden und von diesen wirtschaftlich exploitiert würden. Sobald sich mir aus der Betrachtung dieses ungünstigsten Grenzfalles ergab, daß hier keine weitere Störung der gerechten wirtschaftlichen Distribution und der politischen sozialen Gleichheit eintreten konnte, war für mich jeder günstiger liegende Fall erledigt. Es war dies also lediglich ein Rechnen mit dem Grenzfall, wie es die Mathematik fortwährend übt, um zu allgemeingültigen Formeln zu gelangen. Nun ergab sich mir in der Tat, daß selbst in diesem ungünstigsten Grenzfalle eine Störung des wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichts nicht eintreten könnte. Das mag man bestreiten, aber man soll nicht so tun, als hätte ich für meine Auffassung keine Beweise geliefert. Gumplowicz versucht aber gar keinen Gegenbeweis, sondern er versteht mich so, als wollte ich unter allen Umständen den privatkapitalistischen Großbetrieb erhalten. Und das ist grundfalsch! Ich habe nicht darüber zu bestimmen, ob er erhalten bleiben soll oder nicht, sondern ich habe nur zu untersuchen, ob er Schaden stiften kann, wenn er bestehen bleibt. Und mit der Verneinung dieser Frage ist jedes Problem erledigt, das sich der Sozialforscher stellen darf, alles weitere gehört in den Bereich des utopistischen Gesetzgebers\ Hier hat Gumplowicz nur mich mißverstanden. In einem anderen Punkt aber hat er die nationalökonomische Theorie mißverstanden, und zwar in bezug auf die expropriierende Wirkung des Kapitals: alle bourgeois-ökonomische und sozialistische Wissenschaft ist darin einig, daß das Kapital nur da materiell expropriierend und sozial deklassierend wirken kann, wo eine starke Reservearmee besteht. Ihre Entstehung erklärt die Universitätsökonomie aus dem angeblichen Bevölkerungsgesetz, Marx aus der angeblichen „Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine". Beide Erklärungen sind unzweifelhaft falsch. Ich habe eine neue beigebracht, die mir richtig erscheint. Es ist das Großgrundeigentum, das die Menschenmassen in die Industriebezirke treibt. Wo es nicht besteht, gibt es keine Reservearmee, also auch keine Expropriierung und Deklassierung. Diese meine Ansicht mag falsch sein, aber wer sie widerlegen will, muß seinerseits die Quelle der Reservearmee aufdecken, nicht aber, wie Gumplowicz, so argumentieren, als wenn das Kapital an sich ohne Mitwirkung der Reservearmee seine verderblichen Wirkungen ausüben könne. Der Satz: das Kapital expropriiert, war immer ein elliptischer mit der stillschweigenden Ergänzimg: wenn eine Reservearmee vorhanden ist; und er durfte so lange unbedenklich in dieser gekürzten Form angewendet werden, als ein communis consensus bestand, daß mindestens in jeder hochentwickelten Gesellschaft von Warenproduzenten die Reservearmee zu den notwendigen Erscheinungen gehöre. Von dem Augenblikke an aber, wo ich gerade das bestreite, darf man mir nicht jenen elliptischen Satz entgegenhalten, der nichts anderes enthält, als die von mir bestrittene Behauptung. Das nennt man eine petitio principal Hier allein kann meine Theorie tödlich getroffen werden. Die Beantwortung der Frage: Woher stammt die Reservearmee? entscheidet zwischen Marx und meiner Theorie. Wenn Gumplowicz sich zum Kämpen berufen fühlt, mag er auf diesem Felde gegen mich antreten. Was er aber jetzt gegen mich vorgebracht hat, schlägt nicht im mindesten durch. In dem einen Hauptpunkt hat mich Bernstein schon genügend gerechtfertigt; Gumplowicz bleibt, wenn er die soziale Lage großgrundeigentumsfreier Länder gegen mich ausspielt, in der nationalwirtschaftlichen Auffassung stecken, während wir uns schon mitten in der Internationalwirtschaft befinden. Und sein Einwand aus der Zunftentwicklung ist womöglich noch unglücklicher. Hier verwechselt er die Zunft der ersten Periode, in welcher eine ausbeutungsfreie Wirtschaft bestand, mit der Zunft der

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zweiten Periode, wie sie unter der Einwirkung der agrarischen Revolution bereits degeneriert war. In der Blütezeit der Zunft war von einer Beschränkung der freien Konkurrenz überhaupt keine Rede; es konnte sich vor allem jeder, auch jeder Ungelernte, als Meister niederlassen; es bestand also volle Gewerbefreiheit, und das bißchen behördliche Eingreifen, das sich findet, sind lediglich wohlfahrtspolizeiliche und steuerpolitische Maßnahmen. Wenn Gumplowicz also beweisen will, daß eine ausbeutungsfreie Wirtschaft bei freier Konkurrenz nicht bestehen könne, so hat er sich hier gerade das allerungünstigste Argument ausgesucht, das er irgend finden konnte. Das hätte ich sachlich zu bemerken. Persönlich möchte ich den heftigen Ton, in dem manche Sätze der Kritik gehalten sind, bedauern. Ich habe Gumplowicz selbst dazu jedenfalls keine Ursache gegeben. Wenn er sich zum Ritter für Herrn Dr. Franz Stahl aufwirft, indem er meine Polemik gegen ihn „als durchaus undemokratische Intoleranz" bezeichnet, so muß ich bekennen, mich durchaus nicht schuldig zu fühlen, weder einer Intoleranz, noch einer undemokratischen Handlungsweise. Inwiefern es undemokratisch sein soll, einem ganz besonders selbstgefälligen und ganz besonders schwächlichen Angreifer das „Schuster bleib' bei Deinem Leisten!" zuzurufen, kann ich nicht begreifen. Ich persönlich müßte für eine Demokratie höflichst danken, in der man verpflichtet sein sollte, jedermann liebenswürdig Rede und Antwort zu stehen. Daß mich Stahl ganz und gar nicht verstanden hat, und ich gegen ihn im Rechte bin, hat mir Gumplowicz ja selbst bestätigt. Nach diesem Vorpostengefecht die Hauptschlacht! Eduard Bernstein nimmt selbst das Wort. 1 Er kommt mir so vielfach in wichtigen theoretischen Punkten zu Hilfe, wo mich Gumplowicz entschieden falsch verstanden hat, und er wird meiner wissenschaftlichen Gesamtpersönlichkeit in einer so ehrenvollen, nach meinem Gefühl übertrieben gütigen Weise gerecht, daß es mir schwer wird, meinen Standpunkt ihm gegenüber mit der erforderlichen Entschiedenheit zu vertreten. Käme nur meine Person in Frage, so würde ich schweigen; da es sich aber um meine Sache handelt, so halte ich mich für sittlich verpflichtet, selbst einem so hochverehrten Manne gegenüber - fortiter in re, suaviter in modo - meine Antikritik zu führen. Ich will auf das Terminologische nicht eingehen, da es ja niemals einen Streitpunkt darstellen kann; handelt es sich doch lediglich um willkürliche Wortwahl, über die man nur aus Zweckmäßigkeitsgründen anderer Meinung sein kann. Sondern ich komme sofort zum Sachlichen! Bernstein rühmt meine dialektische Kunst, aber er sieht den tiefen Schatten ihrer angeblichen Lichtseite: „(...) wer sich nicht völlig von dieser bestrickenden Dialektik einnehmen läßt, findet doch Glieder in der Kette, deren Metall einen bedenklichen Riß zeigt".2 Das ist ein allgemeiner Vorwurf gegen meine Methode, und er wird belegt durch ein charakteristisches Beispiel. Ich bin der letzte, der glauben möchte, daß sich in meinen sämtlichen Deduktionen nicht irgendwo eine schwache Stelle, eine gutgläubige Erschleichung finden wird. Es hat noch nie einen Denker gegeben, dem derartiges nicht geschehen ist, und ich werde keine Ausnahme davon machen. Aber das eine Beispiel Bernsteins ist außerordentlich unglücklich gewählt. Er hat sich da in einer mir fast unbegreiflichen Weise vergriffen. Es ist unumgänglich, auf die betreffende Stelle eindringlich einzugehen. Ich schreibe in meinem Großgrundeigentum und soziale Frage·. „Die Menschen sind, wirtschaftlich betrachtet, so gleich wie Tropfen eines Stromes oder Moleküle einer Gasmasse (...) Sie alle haben bei aller Verschiedenheit doch ein Gemeinsames: das Strömen zum Gleichgewicht, und dies Gemeinsame entscheidet allein; weil sich alle Verschiedenheiten gegenseitig aufheben, erscheint als Diagonale aus dem Parallelogramm der Millionen

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Bernstein, Zum Thema Sozialliberalismus und Kollektivismus. In: Socialistische Monatshefte, Nr. 4 (1900), S. 173 ff. Ebd., S. 177.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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einzelner Kräfte nur die eine gemeinsame Richtung: bergab ins Minimum (nämlich des Drucks). Die abstrakte Menschennatur ist trotz alledem der Ausgangspunkt der Nationalökonomie."1 Hierzu bemerkt Bernstein kritisierend: „,Weil sich alle Verschiedenheiten aufheben.' Mit der unbefangensten Miene schleicht sich dieses noch gar nicht geprüfte Sätzchen in die Gesellschaft wohlbegründeter Satzglieder und geb[ä]rdet sich, als sei es ihresgleichen." Ja, dieses „noch gar nicht geprüfte Sätzchen" ist aber tatsächlich der Gewinn von 135 Druckseiten mathematischer Deduktion! Es ist der letzte Schluß aus einer ungeheuren syllogistischen Kette, ein Schluß, den ich auf derselben Seite erst mit einem gewissen Triumphgesange gezogen hatte. Für diejenigen Leser dieses Aufsatzes, die mein zitiertes Werk weder gelesen haben noch lesen werden, d. h. für die ungeheuere Mehrzahl, wird es nötig sein, diesen Syllogismus wenigstens in seinen Anfangs- und Schlußgliedern darzustellen. Auf Seite 46 meines Buches schreibe ich: „Die Grundvoraussetzung der Naturlehre, die ich also für jetzt akzeptiere, ist folgende: Die Menschen sind vor dem Grundgesetz der Wirtschaft gleich. .Alle individuellen Unterschiede' der Begabung und Leistungsfähigkeit, des Temperaments und der Moral verschwinden vor dem Gesetz, haben nur untergeordnete Bedeutung innerhalb des Gesetzes. Um ein Beispiel zu wählen: wie alle Gase, Elemente und Verbindungen, reine und gemischte, leichte und schwere, giftige und harmlose, den Gasgesetzen Avogadros und Gay-Lussacs unterliegen; wie ihre Elementarteilchen vor diesen Gesetzen trotz aller Verschiedenheit ihrer chemischen Natur als gleich betrachtet werden dürfen: so unterliegt nach der hier gewählten Voraussetzung jede menschliche Wirtschaft der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in jeder Rasse und jeder Verfassung dem Gesetz der Wirtschaft; und so dürfen ihre Elementarteilchen, die wirtschaftlichen Subjekte, vor diesem Gesetze trotz aller Verschiedenheit ihrer individuellen Natur als gleich betrachtet werden. Ich gehe also von dem aus, was Schmoller die ,abstrakte Menschennatur' genannt hat. Jenes Grundgesetz der Naturlehre, von dem ich ausgehe, formuliere ich folgendermaßen: Die Menschen strömen vom Orte höheren wirtschaftlichen Druckes zum Orte geringeren wirtschaftlichen Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes."2 Ich verfolge hier die Methode des indirekten Beweises. Während beim direkten Beweise aus einer unbestrittenen Voraussetzung deduziert und dann der gewonnene Schlußsatz als richtig betrachtet wird, deduziert man beim indirekten Beweise aus einer willkürlich gewählten Voraussetzung, um aus dem erhaltenen Schlußsatz, je nachdem er mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Voraussetzung festzustellen. Ich deduziere nun zuerst ein ganzes Kapitel lang aus der willkürlich gewählten Voraussetzung die von mir sogenannte „reine" Wirtschaft und erhalte auf diese Weise das Bild einer Wirtschaft, die von der uns geläufigen außerordentlich weit verschieden ist; die statt der Disharmonie aller Interessen, die wir um uns her erblicken, eine paradiesische Harmonie aller Interessen aufweist. Dann führe ich im nächsten Kapitel das Großgrundeigentum als eine Schöpfung des Nomadenrechts, die der Tauschwirtschaft fremd ist, in die Rechnung ein, entwickle die Theorie des einseitig wachsenden Druckes und komme nun zu Ergebnissen, die mit der Wirklichkeit nicht nur in den großen Zügen, sondern sowohl in der zeitlichen Aufeinanderfolge, als in der räumlichen Nebeneinanderordnung bis in die letzten Einzelheiten übereinstimmen. So kann ich auf Seite 175 folgendes niederschreiben:

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[Siehe in vorliegender Edition: Franz Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 1-280; A.d.R.] [Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1995, S. 31, A.d.R.]

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„Damit ist unsere Deduktion aus dem Gesetz der Strömung beendet. Wir lassen jetzt jeden Rest der Abstraktion fallen und tragen die gewonnenen Ergebnisse in ein reales, geographisches Gebiet ein. Aus erklärlichen Gründen wählen wir Westeuropa. (...) Wir haben, alles beherrschend, eine Anzahl von Riesenstädten, welche durch eine enorme Abwanderung von Jahr zu Jahr gewaltiger anschwellen; und auf der anderen Seite eine ebenso enorme Auswanderung, welche das nächst zugängliche noch nicht bebaute kulturfähige Land, für Westeuropa also Amerika, in ungeheurerer Uberdehnung des Anbaukreises unter den Pflug gebracht hat. Der weitaus größte Teil dieser Völkerwanderung strömt von den Großgrundeigentumsbezirken aus; die Wanderung aus den einzelnen Ländern resp. Landesteilen ist (cum grano salis) proportional dem Quadrate ihres Gehaltes an Großgrundeigentum. Die Bevölkerung ist äußerst ungleich verteilt. Wo das Großgrundeigentum vorherrscht, ist sie dünn, wo Bauernbesitz vorherrscht, dicht gesät. Die Städte dort sind klein, wachsen wenig, haben eine wenig entwickelte Industrie und geringe Kaufkraft; hier sind sie groß, wachsen stark, haben hochentwickelte Industrie und große Kaufkraft. Weil das Land dichter besiedelt ist, stärkere Eigenmärkte in der Nähe hat und schließlich von Eigentümern im Selbstinteresse bewirtschaftet wird, ist der Stand der Landeskultur im Bauernbezirke viel höher, als im Großgrundbezirke. Überall, im ganzen Binnenlande und im Auswanderungsgebiet, ist der nicht landbesitzende, weitaus größte Teil der Bevölkerung auf das Einkommen der ländlichen Tagelöhnerklasse reduziert (wobei das Einkommen in materiellen Gütern da noch niedriger ist, wo die immateriellen Güter der Freiheit und Hoffnung mitgewogen werden, also in der Stadt und im Auswanderungsgebiet); jede «nierdurchschnittliche Arbeitskraft bleibt auch unter dem Durchschnittseinkommen und lebt also im Elend, wenn die konzessionierte Komfortbreite zum notwendigen Standard geworden ist, wie das natürlich der Fall ist. Die landbesitzende Bevölkerung zieht den gesamten Zuwachs der Produktivität, die Zuwachsrente, und zwar in dem Großgrundbesitzbezirk die Gutsherren, im Bauernbezirk die Großbauern resp. Mitglieder der Realgemeinden, in den Städten die Hausbesitzer. Fast aller Grundbesitz ist infolge rein ökonomischer Vorgänge bis an und über die Ertragsgrenze verschuldet und durch die ,Spekulationsrate' überbewertet. Aus den Nutznießern und Anteilsberechtigten der Zuwachsrente hat sich in den Städten der Stand der kapitalistischen Unternehmer gebildet, welche als Mehrwertbezieher zu einem verzerrten Wettbewerbe, zum Konkurrenzkampf getrieben werden; die Folgen sind die Krisen, die Spekulation und der Export-Industrialismus. Die Krisen drücken den freien Arbeiter noch unter die konzessionierte Komfortbreite und zermalmen den produktiven Mittelstand; sie treten um so häufiger und schwerer auf, je mehr die produktiven Kräfte mit der Bevölkerung wachsen, und wirken mit zu dem Ziele der Anhäufung des Kapitalreichtums um immer weniger vorhandene Kerne: Pauperismus, Kriminalität, Prostitution, schwere hygienische Mißstände, Kinder- und Arbeitersterblichkeit, Anschwellen der Wahnsinnsstatistik sind die Folgen. Das ist das Bild Westeuropas, wie es sich aus dem Gesetz der Strömung ergibt, wenn die Gesellschaft Großgrundeigentum bei voller Freizügigkeit enthält. Dieser Zustand, und nicht die Harmonie der Interessen, folgt aus den Voraussetzungen der Naturlehre. Adam Smith und seine sämtlichen Nachfolger haben falsch deduziert; hier ist durch ein richtiges Schlußverfahren ein Ergebnis gewonnen, welches Punkt für Punkt mit der Wirklichkeit übereinstimmt: folglich ist die Voraussetzung richtig. Die Menschen unterliegen, wie Gase und Flüssigkeiten, dem Gesetze der Strömung. Vor dem Gesetze der Strömung verschwinden alte Verschiedenheiten ihrer individuellen Begabung und Leistungsfähigkeit als quantite negligeable. Die Menschen sind, wirtschaftlich betrachtet, so gleich, wie Tropfen eines Stromes oder Moleküle einer Gasmasse. Wie es für das Fließen eines Stromes ohne Bedeutung ist, daß einer seiner Tropfen Eisen, der andere Kalk enthält, dieser mit Amöben, jener mit Bakterien, der dritte mit Schlamm erfüllt ist: so wenig wird der maje-

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stätische Strom der Wirtschaft dadurch in seinem Laufe und in seiner Wirkung verändert, daß seine Menschentropfen ein wenig innere Verschiedenheiten haben. Sie alle haben bei aller Verschiedenheit doch ein Gemeinsames: das Strömen zum Gleichgewicht; und dieses Gemeinsame entscheidet allein: weil sich alle Verschiedenheiten gegenseitig aufheben, erscheint als Diagonale aus dem Parallelogramm der Millionen einzelner Kräfte nur die eine gemeinsame Richtung, bergab ins Minimum! Die .abstrakte Menschennatur' ist trotz alledem der Ausgangspunkt der Nationalökonomie."1 Ich will, wie gesagt, nicht behaupten, daß es ganz unmöglich sein sollte, mir auf diesen 135 Seiten mathematischer Rechnung einen Fehler nachzuweisen. Bis jetzt hat diesen Nachweis noch niemand versucht, auch Bernstein nicht. Und ehe dieser Nachweis geführt ist, bin ich berechtigt, das Ergebnis der Schlußkette als richtig anzunehmen. Das habe ich hier getan. Das „noch gar nicht geprüfte Sätzchen" ist der „Gesellschaft wohlbegründeter Satzglieder" durchaus ebenbürtig, von einem „Riß im Metall" kann nicht eher die Rede sein, als bis meine Rechnung als falsch nachgewiesen ist. Ich will an diese Aufklärung keine kritische Auseinandersetzung knüpfen; aber eine persönliche Bemerkung wird mir gestattet sein. Ich habe es hier mit zwei Männern zu tun, die mir mehr Verständnis und Wohlwollen entgegengebracht haben, als irgend ein anderer meiner Kritiker, Männer, deren persönliche Unbefangenheit, deren wissenschaftliche Intelligenz über jeden Zweifel erhaben sind. Wenn ich mich solchen Männern gegenüber gegen so außergewöhnliche Mißverständnisse meiner Ideen verteidigen muß, was habe ich dann von der Mehrzahl meiner Kritiker zu erwarten, die ohne Intelligenz und Wohlwollen meine Schriften anfassen?! Und hier liegt der Fall Bernstein noch trauriger für mich, als der Gumplowicz; denn diese ganze Deduktion, deren Schlußergebnis ich soeben ausgeführt habe, bildet geradezu den Kern und das Rückgrat meiner gesamten Lebensarbeit. Es erschien mir als das wichtigste Ergebnis meines Nachdenkens, daß es mir gelungen war, das Gesetz der Naturlehre von Adam Smith und seinen Schülern wieder in seine alte beherrschende Stelle als suprema lex der ganzen Soziologie einzusetzen: und jetzt muß ich erfahren, daß diese gesamte Deduktion, der Triumph meiner Arbeit, an dem Geiste eines Mannes, wie Eduard Bernstein, spurlos vorübergegangen ist! Auch an anderer Stelle wirft mir Bernstein, meines Erachtens auch wieder mit Unrecht, eine logische Erschleichung vor. Er sagt: „Oppenheimer sagt in einer Stelle: ,1m Augenblicke aber, wo es sich herausstellte, daß unter der Einwirkung des in allem wesentlichen ja immer noch herrschenden freien Konkurrenzsystems (...) eine Besserung der sozialen Beziehungen eintrat (...).' Wer diesen Satz ruhig hinnimmt, der ist unrettbar in der Gewalt unseres Freundes, er hat ihn mit eisernem Griff beim Kragen. Aber es braucht nur einen flüchtigen Blick, um zu erkennen, wo hier das Fangeisen liegt. Das in allem wesentlichen ist eine ebenso verschlagene Partikel, wie die berühmte letzte Instanz oder das heimtückischste aller Worte unseres Straflexikons: also. In allem wesentlichen heißt faktisch: nicht in allen Punkten. Die freie Konkurrenz ist heute verschiedentlich eingeschränkt: durch die Volksschule, durch Fabrikgesetze, durch sanitäre Vorschriften, durch öffentliche Dienste aller Art, durch die Koalitionen der Arbeiter und das Gewicht der sich unter dem Einfluß des allgemeinen Wahlrechts ihnen immer stärker zuwendenden öffentlichen Meinung. Es ist also der Beweis zu erbringen, daß die langsame Besserung nicht gerade diesen Einschränkungen der freien Konkurrenz zu danken ist. Kann er nicht erbracht werden, so schwebt die Theorie, daß die freie Konkurrenz aus sich selbst heraus die Besserung bringe, in der Luft. Selbst wenn wir die Koalitionen 1

[Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 100; A.d.R.]

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der Konkurrenz zurechnen, blieben noch genug Faktoren politischer und sozialer Natur übrig, um die Anschauung, es sei lediglich die freie Konkurrenz, die hier als heilender Engel wirke, als unbewiesen und unbeweisbar erscheinen zu lassen." 1 Ich muß leider sagen, daß die gutgläubige „Erschleichung" hier nicht mir zur Last fällt, sondern Bernstein selbst, und zwar, weil er nicht zu Ende zitiert. Der von ihm angeführte Satz schließt folgendermaßen: „In diesem Augenblick war die neue Tatsache gegeben, welche zur Wiederaufnahme des Prozesses gegen den verurteilten Liberalismus ausreichte, und ihm erstanden neue Anhänger und Verteidiger." Wiederaufnahme des Prozesses ist noch lange nicht Freisprechung! Hätte ich gesagt: „In diesem Augenblick war der Liberalismus und die freie Konkurrenz als unschuldsreiner Engel dargestellt", so hätte Bernstein mit seinem Einwurf gegen mich recht. Ich habe aber nur behauptet, daß das Problem in einem neuen Licht erschiene und wieder anfinge, Problem zu werden, nachdem es eine Zeitlang als definitiv erledigt erschienen war. U n d das wird Bernstein zu allerletzt leugnen können. Im übrigen habe ich in dem Aufsatz Bernstein-Kautsky doch etwas mehr zugunsten meiner Anschauung über diesen Punkt beigebracht, als diese kurzen Andeutungen. 2 Andere Einwände gegen meine theoretische Stellungnahme sind geringeren Ranges, und ich will auf Details nicht eingehen; sondern ich möchte den mir zur Verfügung gestellten Raum dazu benutzen, u m meine Stellung zu Bernstein von meinem Standpunkt aus festzulegen. Wie fast alle Irrtümer von Gumplowicz aus der einen Quelle flössen, daß er mich nicht als Theoretiker wertete, sondern als Utopisten, nicht als einen Denker, der allenfalls den Ehrgeiz hat, der Newton der Wirtschaft zu werden, sondern als einen Praktiker, der den Ehrgeiz hat, der Lykurg der Wirtschaft zu werden; so fließen Bernsteins Irrtümer ausschließlich aus der einen Ursache, daß er mich nicht als Theoretiker allein wertet, sondern als Politiker. N u r in diesem Sinne kann er es ablehnen, Sozialliberaler genannt zu werden. Ich habe ihn lediglich als Theoretiker rubriziert; und als solcher gehört er zweifellos in die Klasse der Sozialliberalen. Denn er hält die konzentrierte Naturalwirtschaft des kollektivistisch-kommunistischen Staates für unmöglich; und er hält es für ausgeschlossen, jemals die Kraft der wirtschaftlichen Selbstverantwortung aus dem menschlichen Gemeinleben auszuschalten. Das sind vollkommen genügende Kennzeichen, um sein „Genus" zu bestimmen; nur noch um die Subspezies oder Variation kann es sich weiterhin handeln. In welchem Maße und Umfange er neben der Individual-Produktion die Produktion der Staaten, Provinzen, Kommunen, Genossenschaften für nötig oder wünschenswert hält, das gibt seiner theoretischen Stellungnahme die Färbung, aber nicht die Richtung. Er würde auch nicht im geringsten gegen die von mir gewählte Rubrizierung etwas einzuwenden gehabt haben, wenn sich nicht für ihn mit der Bezeichnung sozialliberal durch eine eingewurzelte Gedankenassoziation der Gedanke an eine politische Parteistellung verbände. Daran habe ich aber nie gedacht. Es gibt keine sozialliberale Partei sui generis und wird sobald keine geben. Ihre Aufgaben werden, soweit menschliche Unvollkommenheit das überhaupt zuläßt, in vollkommener Weise von der sozialdemokratischen Partei durchgeführt. Ich selbst bin parteilos, eine „Freilanze", wie mich Bernstein selbst genannt hat, und habe als solche bis jetzt keine Veranlassung gesehen, mein Rößlein in

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Bernstein, Zum Thema Sozialliberalismus und Kollektivismus. In: Socialistische Monatshefte, N r . 4 (1900), S. 182f. Siehe Socialistische Monatshefte, 1899, S. 205f. Vgl. auch meinen Aufsatz: Das soziale Wachstum (Neue Deutsche Rundschau, 1899, S. 1144ff.) wo ich gezeigt habe, durch welchen Mechanismus jetzt die „freie Konkurrenz" die Industriearbeiter hebt!

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einem anderen Lager zu satteln, als in dem der sozialdemokratischen Partei; es hat mir also nie einfallen können, Bernstein als Politiker für mich in Anspruch nehmen zu wollen. Aus derselben fundamentalen Verkennung dessen, was ich eigentlich will, fließt es, wenn Bernstein mich scharf katechisiert, wie ich mich denn zu den Fragen des Arbeiterschutzes, des Staatsbetriebs, der Gemeindeverwaltung usw. stelle. Eine solche Frage kann er nur an den Parteimann richten, nicht aber an den soziologischen Theoretiker. Soweit ich Theoretiker bin, stehe ich auf dem Standpunkt, daß im Beharrungszustande der „reinen Wirtschaft", d. h. nach endgültiger Beseitigung aller feudalen Machtpositionen und nach endgültiger Selbstheilung des Wirtschaftsorganismus, der Staat sich tatsächlich auf die „Nachtwächterrolle" beschränken darf, die ihm seinerzeit der Manchester-Liberalismus angesonnen hat. Als praktischer Politiker, soweit ich das bin, bin ich aber natürlich der Uberzeugung, daß jedes geeignete Mittel angewendet werden muß, um jene Machtpositionen so schnell wie möglich zu beseitigen, und daß, bis der Beharrungszustand der „reinen Wirtschaft" erreicht ist, der Staat gegen den Staat ausgespielt werden muß, der Staat, soweit er Wohlfahrtseinrichtung ist, gegen den Staat, soweit er Klasseneinrichtung ist. Ich bin also als praktischer Politiker selbstverständlich ein unbedingter Anhänger der Arbeiterschutzgesetzgebung, ein Verfechter zunächst des Achtstundentages und fordere mit mindestens derselben Energie, wie der entschlossenste Marxist, die Durchführung einer großartigen sozialen Hygiene, eine Hebung der Volksbildung usw. usw. In welchem Maße sich in der Gesellschaft der Zukunft neben die individualistischen Betriebe Staats-, Gemeinde-, Genossenschaftsbetriebe stellen werden, darüber muß ich jede Prognose ablehnen, da ich es ein für allemal nicht für die Aufgabe der Wissenschaft halte, über die nächstliegenden Ereignisse hinaus zu prophezeien. Wenn aber meinen Kritikern daran liegt, meine unmaßgebliche Meinung zu hören, so glaube ich, daß Eisenbahnen, Post, Telegraph usw., vielleicht auch ein Hauptteil der Forstverwaltung, den großen, gemeinsamen gesellschaftlichen Organisationen zufallen werden; daß die Gemeinden ζ. B. Straßenbahnen, Telefon, Wasserversorgung und Beleuchtung, vielleicht auch einen Teil der Forstverwaltung übernehmen werden; daß die Großindustrie fast ohne Ausnahme von Produktivgenossenschaften resp. von Verbänden von Konsumvereinen betrieben werden wird; und daß für den individualistischen Privatbetrieb im wesentlichen nur die freien Berufe und das ihnen nahe verwandte Kunsthandwerk übrig bleiben werden. Weiter läßt sich meiner Meinung nach mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht blicken. Ob ζ. B. neben den ZentralVerrechnungsstellen der Genossenschaften und ihrer Verbände noch private Bankiers und Arbitrageure sich werden halten können, ob die Großhandelsgenossenschaften der Zukunft ihre Einkäufe durch Angestellte oder durch freie Kommissionäre ausführen werden, über alle derartigen Fragen entscheidet nicht der deduzierende Verstand, sondern lediglich die Entwicklung. Damit erledigt sich auch das Erstaunen Bernsteins darüber, daß ich ihn angeblich zum Gegner jeder Staatsintervention mache.1 Ich sprach vom Theoretiker Bernstein, und nicht vom Parteimann. Ich glaube noch jetzt annehmen zu dürfen, daß er eine direkte Staatsintervention in die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen von dem Augenblick an für überflüssig halten wird, wo seine „volle Demokratie" erkämpft ist, natürlich immer abgesehen von der freien Konkurrenz einiger Staatsbetriebe mit anderen Betrieben und abgesehen von der kleinen Reibung, mit der jeder Organismus schließlich arbeitet, und der Ölung, die für seinen ungestörten Gang unentbehrlich ist. Wie sehr Bernstein meine Stellungnahme in der angedeuteten Richtung verkennt, geht nun aber mit aller Deutlichkeit daraus hervor, daß er mir an verschiedenen Stellen seiner Arbeit vorwirft, meine Siedlungsgenossenschaft als Allheilmittel der sozialen Frage auszuschreien mit dem bekann-

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Bernstein, Zum Thema Sozialliberalismus und Kollektivismus. In: Socialistische Monatshefte, N r . 4 (1900), S. 181.

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ten Fanatismus des „Erfinders", der unaufhörlich sein „Prenez mon ours!" auf den Markt hinausbrüllt. Es mag sein, daß meine Stellung im Jahre 1896, als ich meine Siedlungsgenossenschaft schrieb, auf den unbefangenen Beobachter diesen Eindruck machen konnte, als hielte ich die von mir empfohlene Genossenschaftsform für den einzigen Weg zur Lösung der sozialen Frage. Ich könnte auf Stellen hinweisen, die das Gegenteil beweisen würden; aber ich will zugeben, daß dieses ganz auf das eine praktische Ziel konzentrierte Werk einen derartigen Eindruck hinterlassen konnte. Aber seit mein Buch: Großgrundeigentum und soziale Frage erschienen ist, sollte ein solches Mißverständnis nicht mehr möglich sein, namentlich seitdem ich in der Öffentlichkeit mehrfach dagegen protestiert habe. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als im folgenden zu wiederholen, was ich auf Seite 490 des eben aufgeführten Werkes gesagt und an einleitender Stelle meiner Schrift: Die soziale Bedeutung der Genossenschaft mit aller Energie wiederholt habe: „Dazu könnte die landwirtschaftliche Arbeiterproduktivgenossenschaft helfen, als das bequemste und schnellste Mittel zum Zwecke. Nötig ist sie nicht! Es brauchte kein glücklicher Entdecker zu kommen, um die ,soziale Frage zu lösen'. Sie ist kein Problem für einen ,Heros' des Witzes, sondern die Krankheit eines gewaltigen Körpers. Der heilt sich selbst, ohne Arzt, ohne ,Heros'. Wenn der faule Zahn Großgrundeigentum nicht bald von selbst ausfällt, dann wird des Volk mit ruhiger Kraft zur Zange greifen und ihn sich ausziehen, wenn es auch etwas schmerzt und ein bißchen Blut kostet." 1 Es ist in diesem Werke überhaupt nur im Anhang auf ein paar Seiten von der Siedlungsgenossenschaft die Rede. Es ist rein theoretischen Inhalts. Wie Marx glaubte, im Kapital den Schädling des wirtschaftlichen Lebens entdeckt zu haben. Wie Marx glaubte, daß ein Selbstheilungsprozeß den Fremdkörper ausstoßen würde, so glaube auch ich es. Vor unseren Augen vollzieht sich die ökonomische Expropriation des europäischen Großgrundeigentums: seine Rente ist in England fast auf den Nullpunkt gesunken, wird in Deutschland nur noch durch eine fieberhafte Staatstätigkeit im Klasseninteresse auf ihrem ungefähren Niveau gehalten und wird auch hier in Bälde auf den Nullpunkt sinken: dasselbe vollzieht sich überall da, wo die großindustrielle Entwicklung in einem agrarischen Lande um sich greift. Das sind Tatsachen, die weniger zweifelhaft sind, als die „Konzentration des Kapitals", das „Verschwinden der Mittelstände" und „Verelendung der Massen". In diesem gewaltigen Prozesse der Expropriation der Grundrente könnte, so ist meine Meinung, die Siedlungsgenossenschaft beschleunigend und, was wichtiger ist, unter Vermeidung eines gar zu krassen plötzlichen Zusammenbruches mit seinen möglichen erschütternden Folgen, eingreifen. Aber ich habe es mit besonderem Nachdruck ausgesprochen und wiederhole es hier: „Nötig ist sie nicht!" Ich muß es also auf das entschiedenste ablehnen, wenn man mich, statt als den nationalökonomischen und soziologischen Theoretiker, als den bloßen Erfinder einer neuen sozialen Maschinerie hinstellt. Es ist ja selbstverständlich, daß sich eine gewisse Erweiterung der Parteitaktik begründen ließe, wenn meine Theorie angenommen werden würde. Ich habe mich damit nur ganz vorübergehend beschäftigt. Ich bin eben kein Taktiker und habe außerdem eine mehr als geringe Meinung von der Bedeutung des theoretischen Bekenntnisses für die taktischen Maßnahmen einer Partei. Ich habe mich darüber in meinem Aufsatz: Das soziale Wachstum2, sehr ausführlich verbreitet. Ich meine, daß eine politische Partei unter dem Einfluß des auf ihr von allen Seiten lastenden Druckes nach einer gewissen Richtung hin naturnotwendig gedrängt wird, und daß sie immer diejenige Theorie als Fahne vor sich herträgt, die ihr diese notwendige Richtung auch als theoretisch richtig darstellt. In

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[Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, in: Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 272f.; A.d.R.] [Erstmals erschienen in: Neue Deutsche Rundschau, 1899, S. 1121ff.; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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diesem Sinne ist für mich alles das, was ist, auch vernünftig; und ich halte mich durchaus nicht für berufen, den Strategen des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes ins Handwerk zu pfuschen. Als Parteimann fühle ich mich einfach als Soldat in Reih und Glied und halte strenge Disziplin. So ζ. B. hält mich meine ketzerische Stellung in bezug auf die angebliche soziale Wirkung der Gewerkvereine, die nach meiner Meinung stark überschätzt wird, durchaus nicht ab, in der Praxis ein warmer Freund der Gewerkvereine und natürlich ein erbitterter Gegner jeder Koalitionsbeschränkung zu sein. Aber es heißt, mich auf einem Felde bekämpfen, auf das ich nie getreten bin, wenn man mich, wie Bernstein, als praktischen Parteimann einschätzt. Ich bin nichts anderes und will nichts anderes sein, als der theoretisierende Gelehrte. Und als solchem seien mir noch ein paar kräftige Worte zum Schluß gestattet. Der Eklektizismus im politischen Kampfe ist gewiß eine unumgängliche Notwendigkeit. Politik machen heißt segeln, und man hat selten den Wind direkt hinter sich; man muß Schlag auf Schlag aufkreuzen. Man muß durch Kompromisse mit entgegengesetzten Richtungen, durch vorübergehende Bündnisse mit prinzipiellen Gegnern Schritt für Schritt sein Terrain erobern; man muß vielleicht sogar - obgleich ich mich über diesen Punkt nicht endgültig äußern möchte - „mit dem Pöbel listen", wie Lassalle sich ausdrückte. Auch in der Wissenschaft mag ein gewisser Eklektizismus seinen Vorteil haben. Die Erkenntnis schreitet in Pendelschlägen vorwärts. Der Ubertreibung eines „Erfinders" setzt sich die entgegengesetzte Ubertreibung eines minderen Erfinders entgegen. Die Wahrheit liegt fast immer in der Mitte, und der besonnene Forscher wird immer am weitesten kommen, wenn er aus den extremen Erscheinungen den gemeinsamen richtigen Grundkern herausschält. Aber es gibt einen anderen Eklektizismus, der nicht aus der Besonnenheit wächst, sondern aus Denkträgheit oder Denkschwäche. Das ist der Eklektizismus, der darauf verzichtet, eine in sich zusammenhängende Gesetzmäßigkeit, eine „wissenschaftliche Wahrheit", zu entdecken, der es für möglich hält, die Bestandteile der verschiedensten, einander widersprechenden Theorien nebeneinander als Bausteine zu benutzen, ohne daß es möglich wäre, sie in einen organischen, in sich geschlossenen Zusammenhang zu bringen. Diese Art des wissenschaftlichen Arbeitens ist der Tod der freien Forschung. Bernstein hat die Güte, mir zuzugeben, daß ich in vielen Punkten recht habe. Nun, meine Theorie kann falsch sein, aber sie ist jedenfalls ein in sich geschlossenes Ganzes. Jeder Satz meiner Theorie wird von einem anderen getragen und trägt wieder andere. Wenn ich daher in mehreren wesentlichen Punkten die Wahrheit getroffen habe, so ist es unmöglich, daß andere Theorien von ebenso geschlossenem logischen Bau, die in diesen Punkten anders lehren, richtig sind. Mein Verhältnis zur Kapitaltheorie von Karl Marx will demgemäß beurteilt sein. Meine Theorie weicht in jedem einzigen Punkte von jener ab, in der historischen Erklärung, in der kausalen Verknüpfung der gegenwärtigen Erscheinungen, in der statistischen Schätzung, in der Beurteilung der vorliegenden Entwicklungstendenzen, in der Prognose. In jedem Punkt, in dem ich recht habe, muß Marx im Unrecht sein: in jedem Punkt, in dem Marx recht hat, muß ich im Unrecht sein; und die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, daß die Herausnahme eines einzigen Steines aus einem dieser beiden theoretischen Gebäude das ganze zum Einsturz bringt. Hier kann kein Eklektizismus mehr helfen! Hier heißt es entschlossen Partei nehmen. Wer Marx' theoretisches Gebäude in seinen wesentlichen Bestandteilen erhalten will, muß mich widerlegen: darauf habe ich als der zuletzt gekommene den Anspruch. Er muß mich widerlegen, indem er meine Rechnung als falsch nachweist. Ich habe nicht umsonst die mathematische Form der Beweisführung gewählt: es war meine wohlerwogene Absicht, „den Gegner zu zernieren", ihm keinen Ausweg zu lassen. Zu dem Zweck habe ich jeden meiner Sätze nach Kräften in eine Form gegossen, die jeden Zweifel über das ausschließt, was ich sagen wollte; zu dem Zweck habe ich die logische Ableitung vor den Augen meines Lesers

Sozialliberalismus

oder Kollektivismus f

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in methodischer Langsamkeit aufgebaut. Wenn sich in der ehernen Rüstung der mathematischen Abstraktion die verhängnisvolle Lücke findet, nun wohl, so harre ich als Hektor meines Achilleus, der mir den kritischen Speer in die Gurgel stößt. Aber wer mich bekämpfen will, der soll auch Waffen führen, die meiner würdig sind. Gewisse „Argumente" ex consequentibus sollten logischen Kindern überlassen bleiben. Der Mathematiker, der die Bahn eines Wurfgeschosses berechnet hat, wird auch nicht dadurch widerlegt, daß die Aufschlagstelle einige Meter von dem berechneten Punkte entfernt ist. Das beweist nicht, daß die Theorie falsch ist, sondern es beweist nur, daß man noch nachträglich gewisse andere Faktoren in die Rechnung einzuführen hat: die Reibung in der Luft, die Windrichtung, die Eigenschwingungen des Geschützrohres. So läßt sich auch eine soziologische Theorie nicht dadurch widerlegen, daß in irgendeinem kleinen Nebenpunkte die gefundene Wirklichkeit von der berechneten um ein geringes abweicht. Die von mir gefundene Theorie erklärt alle Grunderscheinungen des wirtschaftlichen und politischen Lebens, wie aus dem oben abgedruckten Zitat hervorgeht. Alle Massenerscheinungen lassen sich ohne Zwang aus ihr ableiten. Wer aber von einer Theorie der Massenbewegung verlangt, daß sie nun auch in jedem einzelnen Fall jedes Detail der Einzelbewegung erklärt, der verlangt Unmögliches. Keine Theorie gelangt weiter, als bis zum Typus! Aber ich gerate hier in die Abgründe der Methodenlehre, und das ist ein Gebiet, das man nicht anhangsweise behandeln soll. Und jetzt erwarte ich Eduard Bernstein zum ernsten Waffengang auf dem Gebiet der Theorie.

Sozialismus oder Liberalismus? [1918]1

1. Der einzige Schuldige dieses Krieges ist der Kapitalismus - darüber sind sich alle Denkenden einig; die Patrioten der einzelnen Länder mögen sich mit dem Gedanken trösten, daß es der fremde Kapitalismus ist, der diesen Weltbrand angelegt hat: aber grundsätzlich sind sie alle einig. Und so ist es denn auch dieser ungeheuerste aller Weltverbrecher, der die Kriegskosten zu zahlen haben wird. Er ist verurteilt, und zwar ohne Berufung, vor dem Tribunal, vor dem er selbst Recht nehmen zu wollen erklärt hat. Der einzige Rechtstitel des Emporkömmlings, der sich auf kein historisches Recht berufen kann, war die Vermehrung des materiellen Reichtums der Nationen. Nur weil er diese Leistung in der Tat vollbrachte, hat man ihm ungern nachgesehen, was er sonst noch den Völkern als übles Geschenk brachte, den Pauperismus der Unterklasse mit seinem Gefolge von apokalyptischen Reitern: Tod, Seuchen, Hunger, Revolution, und die Wirtschaftskrisen, die wie Hagelwetter über die Ahrenfelder der Arbeit hinfuhren. Jetzt aber hat sich unzweifelhaft herausgestellt, daß er auch zu den furchtbarsten internationalen Kriegskrisen führt und führen muß, die in wenigen Monaten mehr an Gut und Glück zerstören, als Jahrzehnte rücksichtsloser Anspannung und Ausbeutung der Millionen hatten erschaffen können - und damit ist sein einziger Rechtstitel aufgehoben. Einen Kapitalismus, der auch noch Armut schafft, nicht nur die Armut der Unterklasse, sondern Armut aller, der ganzen Völker, der ganzen Menschheit, einen Kapitalismus, der wie Saturn seine eigenen Kinder frißt, die mit „Menschenopfern unerhört" mühsam geschaffenen Reichtümer - den kann kein Mensch mehr zu verteidigen suchen. Wohin wird die Entwicklung einmünden? Die Frage wird verschieden beantwortet werden, je nach dem Standpunkt, auf dem der Prophet steht.

2. Der Standpunkte gibt es viele und daher ebensoviele Voraussagen und Rezeptformulare für das praktische Handeln des Staatsmannes der Zukunft. Die meisten sind alt. Denn seit Jahrtausenden steht die Menschheit vor der Qual der Wahl, welches von zwei gleich unentbehrlichen Gütern sie erwählen soll: die Freiheit oder die Eintracht. Beide zugleich scheinen unerreichbar zu sein; die Freiheit scheint die Eintracht auszuschließen; die Eintracht kann, scheint es, nur unter Verzicht auf die Freiheit erlangt werden. Freiheit nämlich bedeutet verderbliche Verschiedenheit von Reichtum und Rang und daher die Zwietracht des Klassenkampfes, Eintracht aber kann nur durch den Zwang aufrecht erhalten werden, der den Starken hindert, den Schwachen zu überflügeln. Alle Systeme der

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[Erstmals erschienen in: Neue Rundschau, September 1918.]

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Staats- und Wirtschaftslehre, alle Utopien des Altertums und der Neuzeit sind nichts als Versuche, aus diesem Dilemma herauszukommen. Und alle diese Versuche treten heute neu auf den Plan. Der Sozialismus als System des Zwanges kämpft wieder seinen welthistorischen Kampf mit dem Liberalismus als System der Freiheit. Und zwar erscheinen diese beiden Ideen in allen geschichtlichen Masken, die sie während der Jahrtausende getragen haben. Da ist zuerst der Sozialismus von oben, der konservative, aristokratische Sozialismus der alten Oberklasse, des „landed interest". Er erwächst überall aus den gleichen Wurzeln, dem Widerwillen gegen reiche, aller Kultur und Tradition entbehrende Emporkömmlinge, die die alten Herren beiseite drängen, und aus dem Bangen um Staat und Volk, die in der Säure des freien Wettbewerbs zerfressen werden. Sein erster großer Vertreter war Piaton in seiner „Politeia", unerreicht an Größe des Blickpunkts und Folgerichtigkeit des Gedankenbaus; er lebt immer wieder auf: in Thomas Morus, in Rodbertus, und jetzt in Wichard von Möllendorf, der mit einem an Arnos und Jesaja gemahnenden Pathos der tiefsten Sittlichkeit die deutsche „Gemeinwirtschaft" fordert und die großen Merkantilisten der Vergangenheit, vom Alten Fritz über Fichte, den Freiherrn von Stein und List, bis zu Otto von Bismarck und Paul de Lagarde als Schwurzeugen aufruft. Der platonische Sozialismus von oben mischte sich während des Mittelalters mit etwas Sozialismus von unten; Erinnerungen an den legendären Liebeskommunismus der apostolischen Urgemeinden salbten ihn mit einigen Tropfen demokratischen Öles. So geht er in die Neuzeit über. Campanellas „Sonnenstaat" ist sein größter Wurf: Ableger des alten Stammes sind in verschiedenen Konzeptionen des christlichen Sozialismus, wie ihn im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich Buchez und Lamennais, in England Morris und Neales, in Deutschland Victor Aime Huber und Bischof Ketteier, in Rußland Tolstoi vertraten. Und jetzt präsentiert er wieder in Professor Plenges „Revolutionierung der Revolutionäre" sein altes, wundertätiges Rezept. Der gleiche Sozialismus der Oberklasse hüllte sich in ein wieder neues Gewand in der Zeit, wo mit der Entwicklung der Maschine und der Großindustrie die Gesellschaftswirtschaften aus dem engen Räume des Kleinbürgertums in den weiten Raum der Volks- und Weltwirtschaft eintraten. Der Graf Saint-Simon ist sein genialster Denker und Verkünder, der Schöpfer eines großartigen Gedankensystems des aristokratisch geleiteten Industrialismus. Und dieser Saint-Simonismus meldet sich heute wieder in Walther Rathenaus „Neuer Wirtschaft" als Arzt der kranken Menschheit. Diesem Sozialismus von oben stellt sich entgegen - und rückt ihm dabei immer näher - der Sozialismus von unten. Bei uns in Deutschland erleben wir von seinen verschiedenen Spielarten nur eine einzige: den Sozialismus der gewerblichen Unterklasse, des städtischen Proletariats. Aber wir brauchen nur über unsere Ostgrenze zu sehen, um die übrigen Spielarten, vor allem den extremen Sozialismus der agrarischen Unterklasse, den Anarchismus, am Werke zu sehen, tabula rasa für eine neue Welt zu schaffen. Und wer weiß, ob nicht auch in Rumänien und Italien bald dieselbe furchtbare Sturm-Melodie erklingen wird. Dieser Sozialismus von unten ist in einem Wesenszuge dem aristokratischen aufs nächste verwandt: er strebt gleich ihm auf den Zustand einer marktlosen Wirtschaft, weil der städtische Proletarier seiner ganzen Klassenlage nach, ebenso wie der malkontente agrarische Lord, in der freien Konkurrenz das Übel aller Übel erblicken muß. In einem anderen Zuge ist er ihm polar entgegengesetzt: er strebt selbstverständlich nicht die Herrschaft der „Besten" an, seien das nun geborene Herren oder auserlesene „Philosophen", wie bei Piaton, sondern die Herrschaft der Masse über sich selbst, die Demokratie. So sind die beiden Richtungen wirtschaftlich Verbündete - und das gibt ihnen jetzt eine bedeutende Stärke - aber politisch Gegner. Gegen allen Sozialismus als System des Zwangs erhebt sich nun der Liberalismus, auch er in allen Masken der Vergangenheit. Wo er als Manchestertum auftritt, als Lakai des Kapitalismus, ist er mit ihm gerichtet, mit ihm ohne Berufung verurteilt. Wo er aber als Kultur-Liberalismus auftritt, hat er das Recht, gehört zu werden, wie zur Zeit eines Hume, Adam Smith und Voltaire. Er mahnt, über

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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dem Drang nach Eintracht, Frieden, Ordnung doch nicht zu vergessen, daß höchstes Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit ist, und fragt, ob unter so viel Zwang für sie noch Raum sein werde. So steht der Kampf der Geister auch heute noch grundsätzlich auf dem gleichen Punkte, wie von je in allen Gesellschaften, in denen die Entfaltung des Kapitalismus zu Krisen geführt hatte. Alles wie immer! Die Menschheit noch immer vor der Qual der gleichen Wahl! Gibt es keinen Weg zu dem Doppelziel, zu Freiheit und Eintracht?

3. Wie sozialistische Systeme zu beurteilen sind, hat Karl Marx uns ein für alle Male gelehrt. Nur der „wissenschaftliche Sozialismus" hat das Recht auf das kritische Schwert, nur derjenige, der den Sozialismus mittels des Kopfes als das Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftstendenzen selbst entdeckt, aber nicht der „utopische Sozialismus", der den neuen Gesellschaftszustand aus dem Kopfe erfindet. Vor diesem Kriterium scheidet alles, was der Sozialismus von oben heute wie je produziert hat, a limine aus. Er postuliert als Axiom eine marktlose Wirtschaft und versucht, sie zu konstruieren. Das ist barer und blanker Utopismus, den kein ernsthafter Staatsmann mitmachen kann. Dieses Urteil gilt sogar von dem außerordentlich durchdachten System Walther Rathenaus, dem reifsten Entwurf der Art, der bisher erschienen ist: einem System ineinandergreifender Zwangssyndikate unter Staatsaufsicht, respektive Kommunalaufsicht. Denn zwar besteht zweifellos eine starke „Tendenz" zu fortschreitender Syndizierung, Kartellierung und Vertrustung, aber es bestehen auch starke Gegentendenzen immer neu erwachsender Konkurrenz, und nichts beweist, daß diese Gegentendenzen verschwinden wollen. Und darum bedeutet der konstruierte Endzustand der neuen Wirtschaft keine logische Notwendigkeit und der Einwand läßt sich nicht abweisen, daß ein Mechanismus von solcher gigantischen Größe allzu schwerfällig sein würde; er würde vielleicht (?) funktionieren, aber er würde sehr wahrscheinlich mehr Kraft durch innere Reibimg verbrauchen, als er auf der anderen Seite ersparen könnte. Und nur um dieser Ersparnis willen will Rathenau ihn ja einführen. Da war der Marxsche Sozialismus denn doch wesentlich sicherer fundiert. Sein Ausgangspunkt war, daß durch die Konkurrenz alle Mittelstände in Stadt und Land zum Verschwinden gebracht werden würden; dann würde das große Kapital das kleine niederkonkurrieren, und der Endzustand würde sein, daß nur ganz wenige Riesenbetriebe die gesamte Produktion in der Hand haben würden, die auf diese Weise automatisch durchaus „vergesellschaftet" sein würde. Es bliebe dann der ungeheuren Mehrheit des Volkes, das fast ohne Rest in Proletarier verwandelt wäre, nur die leichte Aufgabe, auch die volkswirtschaftliche Verteilung zu vergesellschaften, indem es die Expropriateure expropriiere. Es hätte nur den im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft selbst voll ausgereiften Produktionsmechanismus fertig zu übernehmen. Man sieht, hier ist von irgendeiner „Konstruktion" nicht mehr die Rede und daher war der Marxismus durchaus berechtigt, jede Frage nach den Einzelheiten des „Zukunftsstaates" abzulehnen. Wenn die Voraussetzung zugegeben werden mußte, war der Schluß unentrinnbar. Es ist heute kaum noch erforderlich, zu wiederholen, daß die Voraussetzung nicht zugegeben werden kann. Es konnte niemals davon die Rede sein, daß der ländliche Mittelstand niederkonkurriert würde: es gibt keine Konkurrenz durch Unterbietung auf dem Markte der landwirtschaftlichen Produkte und der Bauernstand zeigt denn auch in allen halbwegs anständig verwalteten Staatswesen das freudigste Gedeihen, im Frieden und sogar im Kriege, während das agrarische

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„Großkapital" überall ein hippokratisches Gesicht aufgesetzt hat. Und schon diese eine Tatsache, um von anderen programmwidrigen Fakten der geschichtlichen Entwicklung zu schweigen, erschüttert die Marxsche Schlußfolgerung sehr bedenklich, nimmt ihr wenigstens die zwingende Kraft, die der Stolz der Lehre und die Waffe ihrer Anhänger war. Aber darauf kommt es hier nicht an, auf die Anwendung der Methode, sondern auf die Methode selbst. Und die ist von Marx ein für allemal grundsätzlich festgelegt worden. Nur ein „wissenschaftlicher" Sozialismus kann Beachtung fordern, eine vollständige Theorie des Kapitalismus also, die aus seiner Geschichte und seinem Wesen die Tendenz seiner Entwicklung und den aus dieser Tendenz mit Notwendigkeit sich ergebenden Endzustand bestimmt. Einen in seiner Art großartigen Versuch mit dieser Methode macht Paul Lensch in seinem Buche: „Drei Jahre Weltrevolution"1. Er steht auf dem Standpunkt der von Rudolf Hilferding in seinem „Finanzkapital" vorgenommenen wissenschaftlichen Fortbildung des Marxismus - der einzigen Fortbildung: alles andere ist nur Theologie, Apologetik. Lensch sieht in dem Kriege eine Revolution im Marxschen Sinne, eine Umwälzung des wirtschaftlichen Unterbaues, die auch den Oberbau umwälzen muß. Und zwar ist der Revolutionär der Schutzzoll, und als sein Träger: Deutschland. Es hat hinter dem Wall des Schutzzolls einen „neuen jungkapitalistischen Typus, den eigentlichen Repräsentanten einer höheren Form der kapitalistischen Entfaltung" ausgebildet, indem es die Verbindung von Industrie und Bankkapital zum „Finanzkapital" vollzog. Von da an datiert das ungeheure Tempo der kapitalistischen Entwicklung, mit dem der Vertreter des alten Typus, England, auf die Dauer nicht Schritt halten konnte. Die immer mehr vereinheitlichte Industrie verwandelte den Zoll aus einer Schutz- in eine Trutzwaffe und griff den Konkurrenten auf allen Weltmärkten an, und zwar nicht nur durch den Export von Waren, die sie zu Schleuderpreisen abgeben konnte, weil sie sich aus den Monopolgewinnen ihres Binnenmarktes selbst Ausfuhrprämien zahlte (Dumping), sondern auch durch den Export von Kapital und durch die Hilfe ihrer Staatsgewalt: die Kolonialpolitik wurde immer wichtiger, „der Kampf der Kapitalien wurde immer mehr ein Kampf der kapitalistischen Staaten und um so häufiger und drohender erhob sich über den Völkern die Gefahr des Krieges". Dieser Kampf begann 1879 mit der Zollpolitik. „Damit setzte Bismarck die deutsche Lokomotive auf ein Gleis, auf dem sie mit unentrinnbarer Notwendigkeit einmal mit der englischen zusammenstoßen mußte." Damit schlug auch die Ideologie der Klassen um. Zunächst schwand der alte Liberalismus vor dem neuen Imperialismus; statt eines möglichst schwachen, wurde ein möglichst starker Staat das Ideal der Bourgeoisie: für den Kampf um den Weltmarkt nach außen, für den Kampf gegen die erstarkende Arbeiterschaft nach innen. Der Klassengegensatz zwischen Kapital und Bourgeoisie steigerte sich bis zur katastrophalen Spannung. Wirtschaftlich gesehen, bedeutete die Entwicklung einen gewaltigen Schritt vorwärts zur Uberwindung der sogenannten „Anarchie der Produktion". Der Jungkapitalismus ist seiner Tendenz nach Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion: er ist der erste großartige Versuch der kapitalistischen Gesellschaft, hinter das Geheimnis ihrer eigenen Produktionsweise zu kommen. Damit stellte sich der Sozialdemokratie die Aufgabe, die gesellschaftliche Kontrolle über die nationale Arbeit, die hier schon erreicht war, von ihrer widerspruchsvollen Hülle zu befreien, den ungeheuren Mehrwert der Masse selbst zuzuführen. Sie wurde mehr und mehr an diesem Staate interessiert; wenn sie ihn erobern wollte, mußte sie ihn zugleich erhalten wollen. Darum stand sie zum Staate, als der Krieg losbrach. Dieses Geschehen wird nun höchst reizvoll und geistvoll in einen gewaltigen historischen Zusammenhang gestellt. Bis zum sechzehnten Jahrhundert beherrschte Mitteleuropa den Rest der 1

Erschienen im S. Fischer Verlag, Berlin 1917, 221 Seiten. [Die nachfolgenden Zitate entstammen diesem Werk; A.d.R.]

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damaligen „Welt". Dann folgte eine Periode des Niederganges, hauptsächlich (nach Lensch, wir kommen noch darauf zurück) verursacht durch die Sperrung der Handelswege nach dem Osten und Südosten infolge der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. Diese politisch-wirtschaftliche Umwälzung traf besonders hart den Süden Deutschlands, der nach dem Mittelmeer hin tendierte, während der Norden, der nach der Ostsee und dem Atlantik hinneigt, seit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien neue Entfaltungsmöglichkeiten erhielt. „So stockte Osterreich und so siegte Preußen." Vor allem aber kam diese Wandlung dem Nordwesten Europas zugute; Frankreich und Holland, dann England teilten sich nach dem Sturze Spaniens in die Herrschaft der Welt. Der Dreißigjährige Krieg vollendete den Niedergang Mitteleuropas und den Sieg der Westmächte. Aber die Weltgeschichte hat ihren gewaltigen Rhythmus. Von cirka 1740 an beginnt Mitteleuropa, geführt von Preußen, wieder emporzusteigen. Damit mußte das System des Gleichgewichts der Mächte, das nur auf einem schwachen Mitteleuropa aufgebaut war, zusammenbrechen, trotzdem England alles tat, um es aufrecht zu erhalten, indem es dem erstarkten Deutschland womöglich alle Kolonialmärkte sperrte, und die wirtschaftlich schwachen Staaten, ζ. B. Frankreich, Rußland und Italien, ermächtigte, sich ihrerseits mit Kolonialeigentum zu versorgen. Bei Beginn des Krieges war ein Fünftel der Welt englisch, ein Sechstel russisch, ein Zwölftel französisch, aber Deutschland besaß nur ein Vierzigstel. Das mußte den Kampf um den Weltmarkt schließlich bis zur Katastrophe steigern. Die langsame Evolution Mitteleuropas wurde schließlich zur Weltrevolution. Und wieder ist es ein gewaltiger Krieg aller Weltmächte, der das Siegel unter den Abschluß der Entwicklung setzte; der Krieg von 1914 vollendet den Aufstieg Deutschlands, wie der Dreißigjährige Krieg seinen Niedergang abgeschlossen hatte. Auch hier war Deutschland notgedrungen der große Revolutionär, der das alte Herrschaftssystem angreifen mußte. Auf seiner Weltdienstbarkeit hatte Englands Weltmacht beruht und geriet mit seinem Aufstieg ins Wanken. Auch hier dient Deutschland der großen Tendenz der Entwicklung. Denn Englands Weltherrschaft war nach einem heute ganz veralteten Modell gebaut, das zuerst Venedig eingeführt hatte: seine Macht stand auf einem europäischen Gleichgewicht; jetzt aber handelt es sich darum, eine neue Form der Politik zu gestalten, ein planetarisches Gleichgewicht, in dem nicht mehr nur eine einzige Macht wird den Ausschlag geben können. Auf dem Meere ist Platz für mehrere Weltmächte, neben England stehen schon heute nicht nur Deutschland, sondern auch Amerika und Japan in gleichem Recht. Die treibende Kraft auch dieser weltpolitischen, wie der vorher gezeichneten weltwirtschaftlichen Entwicklung ist der Kapitalismus gewesen. Nun hat die Sozialdemokratie die Erfüllung ihrer Hoffnungen nur von der Entwicklung des Kapitalismus zu seinem Endzustande zu erwarten. Im Dienste dieser Aufgabe hat sie bisher schon den Sieg der vorgeschritteneren Formen gegenüber den rückständigen gefördert. Aber sie hat bisher diese Aufgabe immer nur national gesehen, während sie sie international hätte anschauen müssen. Das war ihr Fehler. Sie hätte überall gegen die rückständigen Formen kämpfen müssen, um dem vorgeschrittenen deutschen Kapitalismus den Sieg zu erringen. Aber sie verstand den Konflikt nicht und wurde „zu einer geschlechtslosen Vaterlandsrettungspartei sans phrase und näherte sich bedenklich dem Pazifismus". Namentlich gegenüber Frankreich hätte ihre Stellung klar sein müssen. Das Land ist noch heute fast kleinbürgerlich und so mußte es im Zusammenstoß mit dem deutschen Jungkapitalismus niederbrechen. Seine Stagnation wurde zur Katastrophe durch den deutschen Aufstieg, der das Kräfteverhältnis unheilbar verschob. Hier liegt auch das Geheimnis der elsaß-lothringischen Frage: Das Grenzland hat immer dem aufsteigenden Volke gehört. Mit gewaltiger Wucht hat die Revolution England ergriffen: es hat in den drei Jahren des Krieges die ungeheuerste Umwälzung seiner Verfassung gemacht. Es ist aus mit dem Freihandel: denn er bedeutete zwar auf dem inneren Markte die Konkurrenz, aber auf dem Weltmarkte das Monopol,

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solange England das dreifache Monopol von Handel, Schiffahrt und Kolonialbesitz hatte: jetzt ist er besiegt durch den deutschen Schutzzoll, der umgekehrt auf dem Binnenmarkte das Monopol und auf dem Weltmarkt die Konkurrenz herstellt. Und es ist aus mit dem Liberalismus. Das Land hat den anarchisch-individualistischen Kapitalismus durch eine fast überstramme, vom Staate geleitete und kontrollierte Organisation der gesellschaftlichen Arbeit ersetzt, hat die Theorie vom schwachen Staat in die Luft geblasen und durch die Praxis des allmächtigen Staates ersetzt, hat die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Gewerkschaften über den Haufen gerannt. Solange England das Weltmonopol besaß, war die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft seine Mitnutznießerin gewesen. Mit dem Augenblicke aber, wo das Monopol zu wanken begann, verschwanden auch die Grundlagen des Sozietätsverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und den Gewerkschaften Englands und die ehemaligen Verbündeten sahen sich in eine immer drohendere Kampfstellung gegeneinander gedrängt. Die englische Bourgeoisie hat den Krieg entfesselt, um dem Sozialismus zu entrinnen. Bleibt sie sieglos, so stehen schwere soziale Kämpfe bevor. So ist denn auch England der Weltrevolution verfallen, d. h. - auch hier hat der Kapitalismus jene Stufe höherer Reife erlangt, wie in Deutschland, die Organisation der Gesamtindustrie, die Vervollkommnung der Produktion, und die siegreiche Institution des Finanzkapitals hat mit der Gründung der British Trade Corporation mit einem Kapital von 200 Millionen Mark bereits eingesetzt. Der Bergbau ist wahrscheinlich auf die Dauer verstaatlicht, die Eisenindustrie völlig vereinheitlicht, das ländliche Feudalsystem gebrochen. Wenn Deutschland durch seinen Aufstieg auf diese Weise den einen gewaltigen Konterrevolutionär revolutioniert hat, so hat es die gleiche Aufgabe dem alten Verbündeten Englands gegenüber erfüllt, Rußland, und hat damit Europa aus seiner unheilvollen „Doppelsklaverei" erlöst, wie Marx das welthistorische Bündnis zwischen England und Rußland mit Recht bezeichnete. Deutschlands Aufgabe als Revolutionär der Welt geht aus nichts klarer hervor, als aus der Tatsache, daß seine Waffen es waren, die die russische Revolution ermöglichten und durch sie die Zwingburg der Gewaltherrschaft im Osten brachen. Damit hat es nicht nur Rußland selbst erlöst, sondern auch für sich und für Osterreich die Bedingungen freiheitlicher Entfaltung geschaffen. Die Doppelmonarchie braucht nicht mehr die Wächterin der Kultur gegen Osten zu sein und kann sich ihrer inneren Festigung, der Versöhnung ihrer Völker und dem Handelsverkehr mit dem neuerschlossenen Osten - damit schließt sich der Ring! - widmen, und in Preußen-Deutschland ist die Junkerherrschaft vorbei. Jetzt wird sich der Kapitalismus, der unter Englands Führung die Welt schon politisch vereint hat, auch wirtschaftlich des ganzen Ostens und Südostens bemächtigen, wird ÖsterreichUngarn, Rußland, den Balkan und die Türkei erschließen und für den Weltsozialismus vorbereiten. Was ist nun Deutschland in diesen Jahren geworden? Lensch antwortet: das Bollwerk der Freiheit. Mitteleuropa steht als unzerstörbarer Block wieder aufrecht und das bedeutet das Ende der englischen Weltherrschaft, der Weltknechtschaft. Indem Deutschland England besiegt - und England ist schon besiegt, wenn es nicht siegt! - , führt es den Kampf für die ganze Welt mit der ganzen Welt. Das ist seine welthistorische Aufgabe. Aber es darf nicht daran denken, seine eigene Hegemonie an Stelle der englischen setzen zu wollen. Das liegt in der Formel: keine Annexionen, die ihre Spitze nur gegen England richtet, das, wenn es seine Eroberungen in Ägypten und in Vorderasien und in den Kolonien in Afrika behalten kann, in der Tat so vollkommen Herr des Planeten sein wird, daß alle anderen Völker bei ihm nur als Mieter und Aftermieter wohnen werden. Hier tritt die große, völkerbefreiende Aufgabe Deutschlands in ihr vollstes Licht. Hier ist eine Idee, die Deutschland für sich streiten lassen muß und die seiner Sache dieselben Dienste leisten könnte, wie 1789 die „Freiheit" und „Gleichheit" der französischen Revolution. Diese Idee wird siegen, und nur mit dieser Idee wird Deutschland siegen. Es muß sich seiner revolutionären und völkerbefreienden Rolle klar werden. Ein Friede ohne Annexionen läßt England geschwächt und ohne Bundesgenossen, die es im Stiche hat lassen müssen, ein Friede ohne Annexionen aber läßt Deutschland im Bun-

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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de mit Österreich-Ungarn in verstärkter Macht und schafft einen gewaltigen Anziehungskörper, an den die kleineren Nationen nach dem Gesetz der politischen Gravitation sich werden anlehnen müssen. Wie wird sich nun in dieser äußeren politischen Ordnung die innere, soziale und wirtschaftliche Ordnung gestalten? Der Kapitalismus wird einmünden in den Sozialismus, und zwar den Staatssozialismus. Er wird in irgendeiner Form die Wirtschaftsverfassung der Zukunft sein, nicht bloß in den Kolonien, auch in Europa, besonders aber im Deutschen Reiche. Man kann sagen, daß der Kapitalismus, der am 4. August 1914 in die Weltrevolution als Triumphator über den Sozialismus eintrat, als ein Gefangener aus ihr herauskommen wird. Damit hat Lensch das vorher gesteckte Ziel mit seiner in vielen Beziehungen bewundernswerten Erörterung erreicht: den Beweis, daß die kapitalistische Wirtschaft in den Sozialismus umschlagen wird, wie er ihn versteht, in den vom Staat gelenkten und beherrschten Sozialismus. Schon vor dem Kriege zeigte der deutsche Kapitalismus in seiner gewaltigen Durchorganisation, in seiner Beherrschung der anarchischen Züge der kapitalistischen Wirtschaft, stark sozialistische Elemente. Diese Elemente hat der Krieg bei weitem verstärkt, namentlich auch durch Beteiligung der Staatsgewalt und Staatsaufsicht. Auf diesem Wege wird man weiter gehen. Zu diesem Ziele treibt auch die Finanznot, die ohne die Schaffung starker Monopole als Einnahmequelle für den Staat gar nicht zu bekämpfen ist. Der Zwang, überall zu sparen und möglichst viel Güter zu produzieren, wird die weitere Durchorganisierung der Wirtschaft, die Ersparung aller unnützen Ausgaben an Arbeit und Material erzwingen; ob die Organisation plutokratischen oder sozialistischen Charakter tragen wird, das wird nur davon abhängen, welche Macht die Arbeiterklasse im neuen Deutschland haben wird; und Lensch ist der wohl berechtigten Ansicht, daß ihre Macht groß genug sein wird, um eine Ordnung nach ihrem Sinne zu erzwingen. Und zwar nicht aufgrund der brutalen Majorität oder erpresserischer Drohung mit Streiks oder Revolutionen, sondern weil sich unter der Wirkung der Entwicklung, namentlich des allgemeinen Wahlrechtes, im Reiche und der Arbeiterversicherungsgesetzgebung eine tiefgreifende Veränderung sowohl im Staat wie in der Arbeiterklasse durchgesetzt hat, die sie einander genähert hat. Die Arbeiterpartei ist nationalisiert und das Deutsche Reich ist sozialisiert worden.1 Diese Sozialisierung der Staatsgewalt ist den „demokratischen" Westmächten stets fremd geblieben. Weder der englischen, noch der französischen Arbeiterklasse ist es gelungen, das allgemeine Wahlrecht aus einem Werkzeug der Prellerei in ein Instrument des sozialen Aufstiegs zu verwandeln. Was sich französische Sozialdemokratie nannte, war nur ein Haufen sich wichtig dünkender Kleinbürger, und die englischen Arbeiterorganisationen besaßen zwar das Wahlrecht, wollten es aber nicht mit dem unorganisierten Pöbel teilen. Sie blieben aristokratische Verbände, die nur Vorrechte für ihre Mitglieder vom Staate verlangten. So blieb im Westen die Arbeiterklasse in den Vorstellungen der bürgerlichen Schichten stecken, und so konnte die rein mechanische Demokratie sich nicht zu einer organischen, das ganze Volk ergreifenden, umfassenden entwickeln. Diese organische Demokratie aber ist in Deutschland durch die allgemeine Schulpflicht und Wehrpflicht und das allgemeine Wahlrecht längst vorbereitet und weit entwickelt worden. In ihr ist die Disziplin und Organisation die Voraussetzung, die die stärksten Triebkräfte zur Entfaltung erhöhter Leistungsfähigkeit und damit gesicherter Freiheit entbindet. In Deutschland-Preußen blieb im Gegensatz zum Westen der Staat stark; das verhinderte die allzu starken plutokratischen Ausschreitungen der Oberklasse. Lensch geht soweit, daß er es als ein Glück betrachtet, daß das parlamentarische System im Jahre 1848 nicht durchgesetzt worden ist. Worauf es jetzt aber ankommt, ist, die endgültige Uberwindung des Obrigkeitssystems auch gesetzlich festzulegen, dem Reichstage die entscheidende Kontrol-

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[Lensch, Drei Jahre Weltrevolution, Berlin 1917, S. 211; A.d.R.]

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le der Beamtenregierung zu sichern und durch den Ausbau der Selbstverwaltung die Fundamente der inneren Demokratie zu festigen. So stellt sich Deutschland als zweite große Aufgabe, als innerpolitische, diejenige, die Ubereinstimmung von Staat und Volk zum erstenmal in der Geschichte durchzufahren. Fast könnte es aussehen, als wenn in diesem Kriege mit Deutschland die Autokratie über die Demokratie gesiegt habe. Allein so irrsinnig ist die Weltgeschichte nicht. Die Niederlage der Entente ist nicht die der Demokratie, sondern die Niederlage der unter Englands Leitving stehenden Weltreaktion. Mit Deutschland siegt nicht die Selbstherrschaft, sondern der historische Fortschritt, die Revolution und die Freiheit. Was Deutschland noch fehlt, das ist in der Hauptsache die volle Erkenntnis seiner geschichtlichen Sendung. Und damit bricht eine neue Epoche der Menschheit an. Eine Kritik dieser, wir wiederholen es, großartigen Auffassung zu geben, würde einen Band erfordern. Der historisch und nationalökonomisch nicht durchaus sattelfeste Leser wird, wenn er kritisch veranlagt ist, das Gefühl haben, daß das Exempel gar zu glatt aufgeht. Das Buch ist ein fulminantes Verteidigungsplädoyer für die „abhängige" Sozialdemokratie und ihre Haltung während des Krieges, eine Rechtfertigung vor dem Obertribunal der marxistischen Theorie. Aber es ist bekannt, daß man mit und aus Marx und Engels ungefähr alles beweisen kann und schon bewiesen hat, und Lensch ist der letzte, der nicht wüßte, daß ein „unabhängiger" Sozialdemokrat sich durch seine blendenden Argumente durchaus nicht überzeugen lassen wird, und daß er, wenn er ihm an Geist und Wissen ebenbürtig ist, ein Buch genau entgegengesetzten Inhaltes schreiben kann, dessen Exempel gerade so glatt aufgeht. Wir können uns in diesen häuslichen Streit nicht mischen, haben es auch nicht nötig. Denn die Prognose der Entwicklung steht und fällt mit den unbestrittenen Grundzügen der Marxschen Lehre, wie wir sie anfangs kurz dargestellt haben. Wir haben den Hauptgrund bereits angegeben, warum diese Lehre von der Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft keine zwingende Kraft mehr hat. Auf eine weitere Kritik, die wir an anderer Stelle ausführlich geleistet haben, wollen und können wir uns hier nicht einlassen. Die Darstellung unserer eigenen Auffassung, die wir zum Schlüsse in äußerster Kürze geben werden, mag im Positiven ergänzen, was man im Negativen vermissen möchte. Zuvor soll aber noch betrachtet werden, was ein Vertreter des Kulturliberalismus heute den Mut gefunden hat zu sagen.

4. Leopold von Wiese 1 geht aus von dem gleichen Gegensatz zwischen der Demokratie und dem Liberalismus, mit dem Lensch schließt. Lensch sagt: „Das Freiheitsideal des Sozialismus ist ein im Wesen anderes als das des Individualismus. Jenes hat die Ungebundenheit der Einzelpersonen, ihr ,Ausleben' zum Inhalt, und ist deshalb von vornherein geneigt, die Schranken der Disziplin und Organisation als Fessel zu empfinden. Dieses hat umgekehrt die Disziplin und Organisation zur Voraussetzung, weil es in ihnen die stärksten Triebkräfte zur Entfaltung erhöhter Leistungsfähigkeit und damit gesicherter Freiheit erblickt." Das ist ungefähr die gleiche Auffassung, der Ernst Troeltsch Ausdruck gegeben hat, wonach Freiheit Dienst in einer Organstellung ist. Wiese glaubt, daß hier eine Ubertreibung vorliegt: „Brachte das Jahr 1789 einen Rausch der Empörung gegen den Staatswillen, so stehen wir 1916 unter den Wirkungen eines Rausches der freigewollten Unterwerfung unter ihn. Diese beiden Gesinnungen müssen sich mißverstehen." 2 1 von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917, 248 Seiten. 2 [Ebenda, S. 31; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

Was begrifflich zu scheiden ist, wenn es auch in der Realität häufig miteinander verwoben sein wird, ist der Liberalismus, der Befreiung des Individuums, und die Demokratie, die die Herrschaft der Masse ins Auge faßt. Diese Scheidung ist auch historisch nicht ohne Bedeutung. So ζ. B. hat man dem Liberalismus die Ausschreitungen der französischen Revolution in die Schuhe geschoben, während sie gerade der demokratisch-jakobinischen Umwälzung zuzuschreiben sind, die den ersten Liberalismus von 1789 abgelöst hat. Die Erklärung der Menschenrechte war vorwiegend liberal; die spätere Verfassung von 1793 wesentlich demokratisch. Die amerikanischen Freistaaten, die unter einer Verfassung, sehr ähnlich der von 1789, lebten, haben sich ruhig und blühend weiterentwikkelt, während in Frankreich die Bewegung auf jene schiefe Ebene geriet, die bis zum Despotismus eines Säbelprätendenten führen mußte. Die Erklärung liegt natürlich in dem vollkommen anderen Milieu, auf dem jene beiden Verfassungen standen. In Amerika garantierte sie den Einwohnern nur das, was sie eigentlich schon besaßen, in Frankreich aber, wo eine altfeudale Verfassung zu überwinden war, versprach der Staat den Bürgern mit der Erklärung der Menschenrechte Dinge, die erst erkämpft werden sollten. Der Hauptunterschied zwischen Liberalismus und Demokratie wurzelt in der Stellung des Menschen zum Staate. Der Liberalismus braucht einen nicht starken Staat, dem Demokraten kann der Staat nicht stark genug sein. Rousseau war Demokrat; sein sozialer Kontrakt zerbricht den Feudalismus, errichtet aber eine neue furchtbare Tyrannei, die der abstrakten und damit um so gefährlicheren volonte generale1. Seine Lehre zeigt den auch bei Piaton auffälligen Zug der Unduldsamkeit: bei ihm wird (wie bei Piaton) sogar mit dem Tode bestraft, wer sich der Asebie, d. h. des Unglaubens an die eingeführte Staats- und Religionsordnung schuldig macht. So wird ein entsetzlicher Götze aufgerichtet: die Gesellschaft. Ihre Tyrannei ist um so unerträglicher, als sie nicht auf Willkür und menschlicher Unvollkommenheit beruht, sondern mit dem Ansprüche höchster sittlicher Vollkommenheit und wahrer Freiheit auftritt, also das Gewissen aufs fürchterlichste knebelt. Diese Auffassung steht mit den Menschenrechten, betrachtet als Recht des Einzelmenschen auf freies Ausleben, allerdings in krassem Gegensatz. Und gerade für dieses Recht des Einzelmenschen tritt Wiese ein. Man muß wissen, „daß eben die menschliche Gesellschaft ein ebenso gleichgültiger und schäbiger Gegenstand ist und bleiben wird, wie der Mensch und die Menschheit etwas Heiliges ist". Die zu Ende gedachte Demokratie ist ein System der Macht, maskiert als System der Freiheit. Diese Unterscheidung, die die Zeit von 1789 selbst noch nicht machte und die wir nur rückschauend jetzt machen können, ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch von hoher Bedeutung. Wer sie nicht macht, kann sehr leicht dahin kommen, den Liberalismus der Sünden wegen zu verwerfen, die die Demokratie beging. Ebenso leicht kann der wirklich liberale Mensch dahin gelangen, die Demokratie deswegen zu wollen, weil er sie mit dem Liberalismus verwechselt. Das erste führt zum Staatsautokratismus, das zweite zum Staatsdemokratismus, beides zu einer Staatsomnipotenz, die mit den Interessen des Individuums unvereinbar ist. Es gilt, einen harmonischen Ausgleich zwischen Freiheit und Macht zu finden.2 Zunächst, was ist Liberalismus? Liberalismus und Individualismus sind nicht identisch. Sie haben viele verwandte Züge, ein Liberaler wird immer einen größeren oder geringeren Gehalt an individualistischen Elementen aufweisen, es gibt aber auch Liberalismus von nicht-individualistischer Herkunft. Allem Liberalismus liegt allgemeine Norm zugrunde, daß sich soziale und persönliche Kräfte möglichst wenig zwangsläufig, sondern in irgendeiner Beziehung frei bewegen sollen. In politischer Beziehung handelt es sich stets um Begrenzung irgendeiner Autorität öffentlichrechtlichen Charakters (negativ bestimmt: Freiheit wovon) und um Emanzipation von Begabungen, Tüchtigkeiten, wertvollen Qualitäten zur Vervollkommnung des persönlichen und sozialen Lebens 1 2

[Vgl. von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, S. 41; A.d.R.] [Vgl. ebenda, S. 57; A.d.R.]

Sozialismus oder Liberalismus?

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(positiv bestimmt: Freiheit wozu). 1 Daraus ergeben sich folgende Kriterien: erstens die besonders ausgeprägte Beziehung zum allgemein Menschlichen. Mehr als andere politischen Richtungen wird der Liberalismus vom Streben nach Menschenwert und Menschenwürde getragen. Das gibt dem politischen Liberalismus allerdings eine Art metapolitischer Färbung, die ihn in den Augen des politischen Zünftlers fast als unpolitisch erscheinen läßt. Die Politik kann dem Liberalen nicht zum metaphysischen Selbstzweck werden, sondern immer nur zum Mittel zum Zwecke eines lebenden Geistes. Aber er darf nicht unpolitisch sein, sonst gibt er damit den unliberalen Gewalten die Möglichkeit, ihn zu unterdrücken. Daraus ergibt sich nun seine Stellung zur Regierungsfrage. Während die Demokratie die Souveränität dem Volke als Ganzes zu geben bestrebt ist, will der Liberalismus, daß ein Typus von Menschen regiert, der dazu besonders befähigt ist und der sich jedesmal dazu eigens qualifiziert. Auch er ist also gegen die Herrschaft einer von jeher regierenden Person oder Kaste oder Klasse, und das macht ihn auf eine große Strecke zum Bundesgenossen der Demokratie. Und in dieser Bundesgenossenschaft hat er vielfach vieles verloren. Aus dem Liberalismus wurde die Vertretung des Bürgertums. Damit bekam aber der Liberalismus einen ganz anderen, ideenärmeren Gehalt; ja, sein Freiheitsprinzip kam in Verdacht, nichts anderes als ein recht grobes Geldsackinteresse zu sein.2 Jetzt ist das, was sich Liberalismus nennt, nahezu mit Kapitalismus identisch geworden und ist durch demokratische und auch durch antidemokratische autoritäre Dinge so verpfuscht und verdorben, daß man von dem alten Bilde eigentlich keinen Zug mehr erkennen kann. Was noch Linke geblieben ist, war noch demokratisch, aber immer weniger liberal; es hat die überzeugte Hingabe an den Freisinn verloren. Wer heute vom Liberalismus als einer politischen Macht oder einer politischen Idee, was doch ungefähr das gleiche ist, sprechen will, der muß sein reines Bild erst wieder herstellen, das vollkommen verzerrt oder durch Massen fremder Ideen ersetzt worden ist. Zu dem Zwecke muß man zurückgehen aus der Gegenwart auf die Vergangenheit, auf die Grundgedanken über Gesellschaft und Staat, wie sie in der Zeit von 1780 bis 1880 auf dem Boden des Liberalismus entstanden sind. Nach liberaler Auffassung ist der Mensch das Maß aller gesellschaftlichen Dinge; insofern ist sie individualistisch. Der leiblich beseelte Mensch ist ihm Einheit und Zweck des Staates und aller gesellschaftlichen Einrichtungen. Diese sind ihm niemals Selbstzweck. Aber sie ist nicht einseitig individualistisch. Der Liberalismus ist nicht Manchestertum seiner Essenz nach: er hat nämlich nicht die Auffassung, daß die Interessen der gerade gegenwärtig lebenden Menschen allein maßgebend seien. Die Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft von der Gegenwart, damit die Pflicht, in der Gegenwart den kommenden Generationen den Weg zu ebnen, wird anerkannt. Damit kommt die universalistische Geschichtsauffassung zu ihrem Rechte. Ebensowenig ist der Liberalismus, wie man ihm lächerlicherweise vorgeworfen hat, für die absolute Atomisierung der Gesellschaft. Der Genossenschaftsgedanke ist gerade auf liberalem Boden erwachsen. Dennoch bestehen auch gegenüber dem Universalismus beträchtliche Unterschiede. Der erste und wichtigste davon ist die universalistische Auffassung, daß man nicht von dem Willen des einzelnen Menschen aus Reformen herbeiführen könne, sondern daß man die Gruppe als solche anders lagern müsse, um im Individuum neue Vorstellungen und Willensrichtungen zu erzielen. Der Liberalismus aber wendet sich an die Vorstellungen, die Ideale und den Willen des einzelnen und will von hier aus die Welt bewegen. Er lehnt deswegen alle Konstruktionen der materialistischen Geschichtsauffassung usw. als mindestens übertrieben ab.

1 [Vgl. von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, S. 65; A.d.R.] 2 [Vgl. ebenda, S. 68; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Der zweite Charakterzug des Liberalismus ist der, daß er den Staat auf die unentbehrlichsten Funktionen beschränken will, weil kein Staatsmann und Politiker in der Lage ist, das bunte Kräftespiel dieses gewaltigen Organismus (er ist kein Mechanismus!) zu übersehen und infolgedessen auch nicht imstande ist, ihn zu dirigieren. Diese Auffassung wird heute vielfach belächelt, ist aber durch Erfahrungen tausendfach bestätigt worden. Dabei darf man allerdings das Prinzip des laissez aller nicht übertreiben. Ebensowenig will er den Staat unter die Kontrolle der Masse stellen. Es soll nur wenige und klare Gesetze geben, der Zwang ist immer vom Übel. Der Staat soll nicht der Nachtwächter sein, der schlafende Philister bewacht, sondern der Liberalismus verlangt von seinen Bürgern Wachheit. Er ist kein Freund, aber auch kein Feind des Staates. Der Staat hat die Aufgabe, sich gerade durch sein Wirken immer mehr selbst überflüssig zu machen. Der Weg dazu ist Vertrauen zu den Bürgern und freies Spiel für die Selbstverwaltung. Und das Ziel ist Reichtum und Fülle der gesellschaftlichen Lebensformen und Mannigfaltigkeit in der Entfaltung persönlicher Anlagen. Ein freier, stets wieder anlockender Wettbewerb allein kann den Mechanismus regeln. Er will keine Uniformierung und Zentralisierung, die nur dort aufkommen kann und praktisch gerechtfertigt ist, wo Staaten fortwährend auf Kriege vorbereitet sein müssen. Er will dem Staat geben, was der Staat zum Zweck der Menschen braucht, aber er will den Menschen nicht zum bloßen Mittel für seinen Zweck machen. Er hält daran fest, daß der Staat wächst und erstarkt mit seinen freien Bürgern. Jede Förderung persönlicher Kräfte, jede Möglichkeit zu mannigfaltiger und den Menschen angemessener Betätigung wirkt segensreich auf den Staat zurück. Das wird heute vielfach als Sentimentalität oder nackte Ichsucht gebrandmarkt, aber man muß sich darüber klar sein, daß heute dasjenige am Menschen leidet, womit der Staat eigentlich von Rechts wegen gar nichts zu tun hat, das Allerpersönlichste. Der moderne Mensch ist vierfach geknebelt: weltanschauungsgemäß durch die Entwicklungslehre, die zeigt, daß der einzelne nur ein Durchgangsstadium für den allein wichtigen Entfaltungsprozeß der Gattung sei; zweitens politisch: durch die ständig wachsende Staatsmacht; drittens sozial: durch die das Individuum beherrschende Klassenzugehörigkeit; viertens wirtschaftlich: durch die Abhängigkeit, entweder vom Kapitalismus oder vom Sozialismus, die beide vom Übel sind. Aber weder Staat, noch Rasse, noch Klasse sind das wahrhaft Überpersönliche. Nur die alten geisterfüllten Ideen des Liberalismus können es sein, die die Persönlichkeit zu retten imstande sind. Auf die zahlreichen Einwände gegen den Liberalismus, die häufig entweder darauf beruhen, daß man den Liberalismus mit einer seiner groben Verwirklichungen verwechselt hat, oder daß man ihn mit der Demokratie zusammenwirft, erwidert Wiese folgendermaßen: Der Liberalismus ist eine Weltanschauung und sicherlich ein Glückseligkeitsstreben; aber er braucht durchaus nicht utilitarisch auf den errechenbaren Vorteil hinaus zu sein, wie es der Liberalismus der Benthamschen Färbung gewesen ist. Auch mit der Aufklärung ist der Liberalismus nicht identisch. Er wird Duldungen üben, nur nicht gegen die Unduldsamen. Gegen den Vorwurf, daß der Liberalismus unpolitisch und kosmopolitisch sei, antwortet Wiese: Wahrer Liberalismus kann in einer rein politischen und in einer nur nationalen Gesinnung nicht aufgehen; er wird über sie hinaus müssen, ohne sie zu verwerfen. Von hier aus kommt Wiese selbstverständlich zu einer ziemlich energischen Ablehnung der Überorganisation im staatssozialistischen Sinne, die uns der Krieg gebracht hat und deren Erfolge er gleich uns nicht gerade sehr günstig beurteilt. Die Gefahr der Gegenwart scheint ihm in einem zu weit getriebenen Verzicht auf persönliche Selbstbestimmung zu liegen. Wertvolle Eigenschaften und Eigentümlichkeiten der feineren Menschen werden von der Riesenmühle der Konzentration zermahlen. Was ist also zu tun, um den Liberalismus wieder lebensfähig zu machen? Wiese entwirft liberale Leitgedanken der äußeren und der inneren Politik. Das Hauptproblem ist, den Ausgleich zwischen

Sozialismus

oder Liberalismus f

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Freiheit und Macht herbeizuführen, denn der ältere Liberalismus zerbrach am Problem der Macht. 1 Außenpolitisch ergibt sich daraus der Verzicht auf ein illiberales, auf Macht und Eroberungspolitik eingestelltes Herrschaftssystem, das immer wieder zu neuen furchtbaren Kriegen führen muß, an deren Ende der Untergang Europas steht. Da die Beziehungen zum Ausland das Primäre und Wichtige sind, so werden dadurch auch die inneren politischen Verhältnisse derartig umgeformt werden, daß für liberale Innenpolitik Raum geschaffen wird. Deshalb ist die wichtigste Forderung die, ein möglichst harmonisches Verhältnis zu anderen Völkern herbeizuführen. Die Hauptforderung des Liberalismus ist also freie Entwicklung aller Staaten, der großen und der kleinen, ihrer nationalen Eigenart gemäß, und das Streben nach friedlicher Harmonie unter ihnen in Anerkennung ihrer Gleichberechtigung. Eine solche liberale Politik hat es bisher in Europa nicht gegeben; höchstens in der Handelspolitik haben sich hier und da einmal wirtschaftsliberale Anwandlungen gezeigt. Wir brauchen ein neues System des Völkerverkehrs, den Verzicht auf die hergekommene Geheimdiplomatie und mehr Möglichkeiten friedlichen Ausgleichs von Gegensätzen zwischen den Staaten. Dazu ist der erste Schritt eine bessere politische Erziehung der Massen. Und dazu gibt es nur zwei Mittel, ein praktisches: hinaus in die Welt zu Handel, Verkehr und gegenseitiger Förderung, und ein geistiges, das damit zusammenhängt: sehen, beobachten und auf einem weiten Erfahrungsfelde richtig messen. Das gilt für die Dauer, auch für den kommenden Friedenszustand. Für die Gegenwart des Krieges aber gilt, daß der künftige Frieden, selbst wenn er mit einem vollkommenen Siege beschlossen werden sollte, nicht darauf hinausgehen kann, in maßloser Machtgier die Grenzen des Reiches zu erweitern. „Durch Eroberungen schafft man nicht Ruhe und Sicherheit, sondern Η aß, Rache und neue feindliche Bündnisse." Nationales Selbstbewußtsein - besonders den Angelsachsen gegenüber - wird hier ebenso gefordert, wie von den Einsichtigeren unter den sogenannten Alldeutschen, aber blinde Gier oder kurzsichtige Ausnutzung scheinbarer augenblicklicher Vorteile abgelehnt. Auch hier muß Macht mit Recht versöhnt werden, mit dem Recht der kommenden europäischen Völkergemeinschaft. Es muß der Weg gefunden werden zwischen dem blinden Machtstreben der lediglich an der Macht orientierten Realpolitiker und den leeren Formeln der ausschweifenden Pazifisten des älteren Schlages: der heutige Pazifismus ist eine nach Wiese durchaus ernst zu nehmende Erscheinung, die sich von allem Utopismus fern hält. „Es muß ein internationales Rechtsverhältnis angebahnt werden, das nicht in starren Paragraphen besteht, sondern ein lebensvolles Kunstwerk ist, nicht ein kraft- und saftloser Mechanismus. Mag es zuerst als Mechanismus beginnen: allmählich werden sich die Paragraphen mit frischem Leben füllen." Gelingt es nicht, zu einem solchen Zustande zu kommen, so kann es, wie gesagt, keine Freiheit und keinen Liberalismus geben. Ein völlig militarisiertes Volk hat keine ungezwungene Lebenskraft mehr für eine Daseinsführung übrig, die ich mit dem Ausdruck Menschlichkeit zu umschreiben versucht habe. Das Leben ist dann nur noch eine Last. Die scheinbar klaffenden Antithesen versöhnen sich zu Synthesen: „Ein recht verstandener Internationalismus steht in keinem inneren Widerspruch zum Nationalismus und der Krieg muß gerade dadurch, daß er aus einer Vertiefung des Nationalbewußtseins entspringt, auch eine Neubelebung des Internationalismus zur Folge haben."2 Unter dieser Voraussetzung allein ist also eine liberale Innenpolitik möglich. Es handelt sich darum, die Totalität des einzelnen Menschen für ihn selbst, seine Mitmenschen und die Nachwelt fruchtbarer zu verwerten als bisher. Der Mensch ist mehr als Soldat, Beamter, Bourgeois, Arbeiter. Er ist nur dann glücklich, wenn er in seinem privaten oder in seinem Berufsleben, am besten in beiden, möglichst die ganze Kraft seiner Anlagen entfalten und objektivieren kann. Zu dem Zwecke müssen sich die großen Institutionen der Gesellschaft, Familie, Kirche, Staat, Verein, Unterneh-

1 [Vgl. von Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, S. 183; A.d.R.] 2 [Ebenda, S. 225; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

mung immer mehr verfeinern. Ihre bisherige Starrheit und Einseitigkeit machte nur denjenigen Menschen das Dasein erträglich, die in ihrem Begehren, Denken und Fühlen gerade dem jeweilig obwaltenden Status angepaßt waren. Der Krieg brachte eine nicht vorherzusehende Annäherung des Menschen an den Staat, möge er nun auch die Annäherung des Staates an den Menschen bringen. Das ist das Hauptprogramm des neuen Liberalismus. Er hat bisher noch niemals existiert, er ist ein Ideal der Zukunft, das erst verwirklicht werden soll. Und zu dem Zwecke muß die Gemeinde der Liberalen erst geschaffen und erzogen werden. Das ist das große Ziel; alles andere sind nur Zweckmäßigkeitserwägungen, namentlich die Fragen, wie weit die Staatsmacht gespannt werden soll, - sogar ein gewisser Staatssozialismus könnte mit dem Ideal verträglich sein - oder wieviel der Staat demokratisiert werden soll. Es gibt eine Demokratie, mit der sich der Liberalismus verträgt, es gibt eine andere, die des materialistischen Neides, die er zu bekämpfen hat. Der neue Liberalismus fordert erstens mehr Mitwirkung aller Bürger und Bürgerinnen am öffentlichen Leben als der alte; er erkennt im Gegensatz zu ihm ferner den Primat der äußeren Politik über die innere an, und er ist schließlich in ganz anderem Maße sozialpolitisch orientiert.

5. Kein Verständiger wird bestreiten wollen, daß die Forderungen und Ideale, die Wiese im Namen eines zu verwirklichenden Liberalismus aufstellt, von der höchsten Kulturbedeutung sind. Und ebensowenig wird ein Verständiger sich der schwersten Bedenken entschlagen können, wenn er sich die Frage vorlegt, ob und wie es möglich sein kann, diese hohen Persönlichkeitswerte auch dann noch ungekränkt zu erhalten, wenn eine der sozialistischen Konstruktionen Wirklichkeit wird. Wie oben gesagt, die Menschheit steht immer noch vor der Qual der Wahl zwischen der Eintracht und der Freiheit. Nun stehe ich, wie ich schon oben angedeutet habe, auf dem Standpunkt, daß die uralte Antithese zwischen Sozialismus und Liberalismus, oder, wenn man will, zwischen Freiheit und Gleichheit, oder Freiheit und Eintracht, theoretisch und praktisch in einer neuen Synthese versöhnt werden kann. Ich bin nicht der erste, der diese kühne Behauptung aufstellt: die ganze Kette der sozialen Liberalen und der ihnen auf das nächste verwandten liberalen Sozialisten glaubten das gleiche. An ihrem Anfang stehen Namen wie Quesnay, und Adam Smith; die Linie geht einerseits über Carey und Dühring, andererseits über Mill und Henry George bis vorläufig zu meiner Theorie, die ihre Grundgedanken in neuer Verbindung verschweißt hat. Ich sagte oben, daß nur aus einer vollständigen Theorie des Kapitalismus der wissenschaftliche Sozialismus entstehen könne. Diese Theorie glaube ich in der Arbeit eines Vierteljahrhunderts nunmehr völlig ausgebaut und gesichert zu haben. Ich setze in kürzesten Worten ihren Inhalt hierher und glaube damit gleichzeitig die positive Kritik des konstruktiven Sozialismus von oben und unten zu geben. Die Lehre vom Kapital laboriert von Anfang an an einer Wortverwirrung, deren Beseitigung erst die neuere Zeit durch eine terminologische Scheidung angebahnt, aber bei weitem noch nicht vollendet hat. Kapital bedeutet „im volkswirtschaftlichen Sinne" produzierte Produktionsmittel, d. h. Rohstoffe, Hilfsstoffe, Werkzeuge (Maschinen) und Geld; - und „im privatwirtschaftlichen Sinne" einen rentierenden Eigentumstitel, der Profit oder Zins abwirft. Man hat lange geglaubt, daß es sich hier nur um eine verschiedene Ansicht derselben Sache handle, die das eine Mal von der Seite der Volkswirtschaft, das andere Mal von der Seite der Privatwirtschaft angesehen werde. Auch das ist unrichtig: es gibt volkswirtschaftliches Kapital, das keinen Zins oder Profit bringt, und rentierende

Sozialismus oder Liberalismusf

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Titel, die nicht auf produzierte Produktionsmittel radiziert sind. Aber darauf kann nicht näher eingegangen werden. Was uns hier interessiert, ist, daß man auch zwischen dem Kapitalismus im volkswirtschaftlichen und im privatwirtschaftlichen Sinne unterscheiden muß. Der erstere kann definiert werden als ein gesellschaftswirtschaftliches System hochgestaffelter, mit stark entwickelter Maschinerie arbeitender Gütererzeugung; der Kapitalismus im privatwirtschaftlichen Sinne kann definiert werden als das System einer starken Exploitation der Volksmasse durch eine Minderheit von Besitzern rentierender Eigentumstitel, oder kurz: als eine Mehrwertpresse großen Stils. Nun sind diese beiden Kapitalismen heute zweifellos auf das engste miteinander verflochten: aber nichts zwingt dazu, sie logisch zu identifizieren. Wir kennen Fälle genug einer großartigen Mehrwertpresse in relativ kleinen Gesellschaften mit geringer werkzeugmäßiger Ausstattung - und wir können uns andererseits ein System höchst entwickelter Gesellschaftsarbeit ohne Mehrwertpresse vorstellen. Das tut ja auch der konstruktive Sozialismus. Der Unterschied ist nur, daß er dieses Ziel auf keine andere Weise erreichbar glaubt, als durch Ausschaltung des Marktes und der Konkurrenz, während das für uns gerade das Problem darstellt. Offenbar interessiert uns von unserem Standpunkte aus nur das Kapital im privatwirtschaftlichen Sinne. Was ist das? Wir antworten mit Marx: Mehrwert heckender Wert. Unter welchen Umständen kann Mehrwert entstehen? An diesem Problem quält sich die nationalökonomische Theorie seit mehr als anderthalb Jahrhunderten. Vor einiger Zeit hat v. Böhm-Bawerk in einem starken Bande die zahllosen Erklärungsversuche kritisch untersucht und sämtlich als falsch erwiesen. Seine eigene „Agio-Theorie" ist von der Kritik so gut wie einstimmig abgelehnt worden und ist auch in der Tat unhaltbar. Beides gilt auch von dem neuesten Versuch, von Schumpeters „Friktionstheorie". Wir stehen also diesem wichtigsten unserer Probleme gegenüber ratlos da. Meine eigene Auffassung ist überaus einfach. Wo unter freier Konkurrenz getauscht wird, kann in der „Statik" der Wirtschaft, d. h. auf die Dauer und im Durchschnitt, kein Mehrwert entstehen; die Konkurrenz fixiert alle Preise auf den „Kostenpunkt"; d. h. denjenigen Preis, der dem Produzenten außer seinen baren Auslagen nur noch den Lohn seiner speziellen Qualifikation abwirft. Wo aber unter irgendeiner Beschränkung der freien Konkurrenz getauscht wird, d. h. wo ein Monopol besteht, weil (nach der Wagnerischen Formel) „nicht jeder, der sich an der Produktion beteiligen will, es auch kann und darf"; - wo, nach meinem Ausdruck, unter einem Monopolverhältnis getauscht wird, entsteht ohne weiteres Mehrwert. Man erkennt das ohne Schwierigkeit, wenn man sich am Kauf eines Patentartikels orientiert: hier steht der Preis auch in der Statik über dem Kostenpunkt und man sieht leicht, daß sich ζ. B. zehn Stunden durchschnittlicher Arbeit gegen fünf tauschen. Der Monopolist streicht einen Mehrwert ein, sein Kontrahent tritt ihn ab. Daß dieser einfache Sachverhalt den Augen der Theoretiker bisher entgangen ist, ist sehr merkwürdig und mir daraus zu erklären, daß die großbürgerliche Theorie seit Ricardo das heiße Eisen des Monopolbegriffes anzufassen sich wohl gehütet hat, und daß Marx auch hierin seinem Meister gefolgt ist. Das Problem des gesellschaftlichen „Mehrwerts", d. h. des Kapitalprofits, stellt nun aber gerade die Frage, wie es möglich ist, daß der durchschnittliche Arbeiter vom durchschnittlichen Kapitalisten für sage zehn Stunden durchschnittlicher Arbeit nur sage fünf Stunden zurückerhält, d. h. einen Lohn, mit dem er das Erzeugnis von fünf Stunden kaufen kann. Wir haben Marx' grundsätzliche Lösung schon zu Anfang gezeichnet: es ist nur möglich, wenn das gesellschaftliche Kapitalverhältnis besteht, d. h., um es zu wiederholen, wenn am einen Pole der gesellschaftlichen Stufenleiter eine kleine Minderheit sich im Besitze aller Produktionsmittel und am anderen Pole die große Volksmasse als besitzlose, als „freie" Arbeiterschaft sich befindet. Ich erkläre mich mit dieser Formel durchaus einverstanden und knüpfe sie nur dadurch an einen Elementarbegriff der National-

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Ökonomie an, daß ich das Kapitalverhältnis als einen besonders interessanten Fall von Monopolverhältnis, und zwar als ein Klassenmonopolverhältnis bezeichne. Bei Marx fehlt nichts als dieser Ausdruck, aber ganz ohne Zweifel enthält sein Gedanke den Inhalt des Begriffs, die „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die den Kontrahenten des Monopolisten zwingt, die Monopolware über ihrem Wert zu bezahlen, oder seine eigene Ware, in diesem Fall seine Arbeitsleistung, unter ihrem Wert abzutreten. Wenn es sich zeigen läßt, daß in der Tat die Klasse der Besitzenden als Ganzes der Arbeiterschaft als Ganzem in der Stellung eines Monopolisten gegenübersteht, so ist das Problem des Kapitalprofits völlig gelöst. Und dieser Nachweis läßt sich ohne Schwierigkeit führen. Das Monopol, über das die Oberklasse verfügt, ist das Monopol des Grund und Bodens. In allen Ländern der Erde befindet sich ein Teil der Bevölkerung, fast überall eine geringe Minderheit, im Besitze allen Bodens, ein anderer Teil, in der Regel die große Mehrheit, hat keinen Grundbesitz. Nun braucht jedermann Grund und Boden, schlechthin alle als „Standort", alle Urproduzenten auch als Produktionsmittel. Es ist klar, daß sich die Nichtbesitzer den Besitzern gegenüber auch auf die Dauer und im Durchschnitt im Zustande einer größeren Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses befinden, d. h. unter einem Monopolverhältnis stehen. Der Monopoltribut, der „Mehrwert", den sie abzutreten haben, ist nicht (wie man bisher immer geglaubt hat) die sogenannte Grundrente: diese ist nur der Nebengewinn der begünstigten Böden. Sondern der Monopoltribut ist der Profit, der, wie Ricardo ganz richtig gesehen hat, dem Besitzer auch auf dem wenigstbegünstigten, dem sogenannten „Grenzboden", zufließt. Dieser Tatbestand ist bisher dadurch verschleiert worden, daß man den Monopoltribut des Mehrwerts nicht dem Rechtstitel des Grundeigentümers, sondern dem zur Bewirtschaftung des Grenzbodens nötigen „Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne", den Gebäuden, Geräten, Arbeitsund Nutztieren, dem Saatgut, dem Lohngelde usw., „zugerechnet" hat. Diese privatwirtschaftliche Gepflogenheit hat bisher alle volkswirtschaftliche Theorie verwirrt und in jene unlösbaren Schwierigkeiten gestürzt, von denen vorhin die Rede war. Meine eben skizzierte Erklärung beseitigt alle diese Schwierigkeiten ohne weiteres und sie löst gleichzeitig ein Problem, das ohne sie schlechthin unverständlich bleiben muß: wenn unzweifelhaft zwischen Bodenbesitzern und Nichtbodenbesitzern ein Monopolverhältnis besteht, muß jenen auch ein Monopolgewinn zufließen. Dieser Gewinn kann nichts anderes sein als der Profit, das einzige bisher seinem Ursprung und Wesen nach unerklärte Einkommen. Oder mit anderen Worten: wir haben auf der einen Seite unzweifelhaft ein Monopolverhältnis, zu dem das Monopoleinkommen gesucht wird, und auf der anderen Seite ein, und zwar nur ein Einkommen, dessen Quelle strittig ist: es bleibt gar nichts anderes übrig, als diese beiden Dinge miteinander zu verbinden. Damit sind die theoretischen Probleme völlig aufgeklärt. Das praktische Problem stellt die Frage, ob es sich um ein natürliches oder ein rechtliches Monopol handelt, d. h. hier, ob für den menschlichen Bedarf zu wenig Boden vorhanden ist, oder ob der vorhandene Vorrat zwar an sich genügt, aber unzweckmäßig verteilt, d. h. durch eine Minderheit gegen die Mehrheit gesperrt ist. Ist das erste der Fall, so können wir dem konstruktiven Sozialismus nicht entrinnen; der Grund und Boden und seine Nutzung müssen irgendwie verstaatlicht oder vergesellschaftet werden. Ist aber das zweite der Fall, so ist weiter nichts erforderlich, als die Bodensperre aufzuheben. Nun ist zum Glück der zweite Fall Wirklichkeit. Der vorhandene Vorrat an Boden ist überall so groß, daß er bei rationeller Verteilung für alle Bedürfenden vollauf ausreichen würde. Es ist also weiter nichts nötig, als den vorhandenen Vorrat an Boden zweckmäßig zu verteilen, und mit dem Monopol entfällt der Monopoltribut: das Kapitalverhältnis ist aufgehoben, Geld und Maschine usw. sind nicht mehr Mehrwert heckender Wert, und der Kapitalismus im volkswirtschaftlichen Sinne kann sich bis zur höchstmöglichen Vollkommenheit entfalten, ohne daß vom Kapitalismus im privatwirtschaftlichen Sinne noch weiter die Rede sein kann.

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Hier haben wir die versprochene Synthese zwischen Sozialismus und Liberalismus. Der konstruktive Sozialismus war die Flucht vor der „freien" Konkurrenz. Wir haben jetzt gezeigt, daß sie niemals „frei" gewesen ist. Denn die Bodensperrung ist ein ungeheures Monopol, und wo ein Monopol besteht, besteht keine freie Konkurrenz. Die Begriffe schließen sich logisch aus. Der Sozialismus ist zu erreichen nicht durch Beseitigung, sondern durch Herstellung der freien Konkurrenz. Ich habe in dieser Zeitschrift (August 1915) unter dem Titel „Die Hauptwurzel des Krieges" die von mir entdeckte Theorie der zweifachen Konkurrenz ausführlich dargestellt und muß die Leser auf diese Arbeit oder auf mein Lehrbuch1 verweisen. Hier kann ich nur wiederholend folgendes ausführen: der Beweis ist nicht nur mit allen Mitteln der theoretischen Rechnung, sondern auch historisch an einer jahrhundertelangen Epoche der mittelalterlichen Geschichte erbracht, daß bei Nichtvorhandensein einer Bodensperrung die Konkurrenz den Charakter des von mir so genannten „friedlichen Wettbewerbs" hat. Hier ist sie lediglich eine Kraft des Segens, die alle personellen Kräfte zur höchsten Leistung spornt, aber nicht im mindesten die Kraft des Fluches, die den Schwächeren oder Besseren zum Opfer und Ausbeutungsobjekt des Stärkeren oder Schlechteren macht. Oder: wir haben hier eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Gleichheit, d. h. Eintracht, auf die Dauer nebeneinander bestehen können. Lensch hat seine Beweisführung auch auf eine historische Darlegung basiert, die wir ausführlich dargestellt haben. Danach beginnt der deutsche Niedergang um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und hat seine erste Wurzel in der Eroberung von Konstantinopel 1453. Die Datierung ist die der deutschen historischen Schule, aber sie ist bestimmt falsch. Der Niedergang Deutschlands beginnt um 1370, kann also offenbar mit der Sperrung der Handelswege nach dem Orient nichts zu tun haben. Und zwar beginnt er mit der Sperrung des gesamten, im Stammlande und vor allen Dingen im ostelbischen Kolonisationsgebiete vorhandenen, noch unbesetzten Siedlungslandes durch den Adel und die Fürsten. Das habe ich in meinem „Großgrundeigentum und soziale Frage"2 über jeden Zweifel hinaus feststellen können, und kein Geringerer als Lamprecht hat meine Ergebnisse in einem Privatbriefe bestätigt, den ich besitze. Ich zitiere aus dem genannten Buche: „Um diese Zeit herum treten folgende Erscheinungen im deutschen Volksleben scharf ausgeprägt hervor: In der allgemein-politischen Gestaltung: das Aus- und Pfahlbürgerrecht verfällt, der Bauer stürzt in seiner sozialen Stellung tief unter den Bürger; der Siegesgang der Handwerker gegen die Geschlechter hat ein plötzliches Ende, selbst in den Zunftstädten dringt die Reaktion siegreich vor; die süddeutschen Städtebünde erliegen und zerfallen, während die Hansa jetzt erst den glänzenden Aufschwung nimmt. Die Territorialfürsten gewinnen die Obmacht, die adligen ,Stände' erringen in den Fürstentümern den hauptsächlichen Einfluß, das römische Recht dringt siegreich vor. Auf dem platten Lande: Verfall der bäuerlichen Ständesfreiheit und des Hofrechts, Häufung eines landlosen Proletariats, Auftauchen von Beisassen und Kossäten in Gerechtsamegemeinden, Verschuldung der Bauern, Zersplitterung der Betriebseinheiten in Zwergwirtschaften, Untergang neuangelegter Dorfschaften, die sich als ,unrentabel' herausstellen, Usurpation der Allmenden, Entstehung von Großgütern oder wenigstens einer Großherdenhaltung der Grundherren auf den Allmenden.

1

Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ö k o n o m i e , 2. Auflage, Berlin 1911.

2

Derselbe, Großgrundeigentum und soziale Frage, Berlin 1898. [Siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

In den Städten: Entstehung eines vierten Standes, bestehend erstens aus Gesellen, die sich als Klasse gegen die Meister stellen und mit Koalitionsverboten beschränkt werden, zweitens aus einem massenhaften nichtshäbigen Proletariat unqualifizierter .Arbeiter'; - Vernichtung der Zünfte der ungelernten Arbeit; Entartung der Zünfte der gelernten Arbeit; Anfänge des ,Zunftgeistes' (Meisterstück, Meisteressen, Wanderzwang, Lehrzwang, Mutjahre, Bannmeile usw.); Lohnregulierungen, Gewerkvereine und Streiks erscheinen; Akkordlohn und Heimindustrie nehmen ausbeuterischen Charakter an; die Produktionsrichtung macht eine deutliche Schwenkung zur Luxusproduktion und zum Exportindustrialismus; die Kleinstädte bleiben stehen oder verfallen, die Großstädte wachsen ungesund. Große Kapitalvermögen bilden sich, die Kreditwirtschaft im eigentlichen Sinne beginnt mit produktiven Anlagen' und Spekulation; der Zinsfuß fällt und wird bald stationär, großindustrielle Anlagen entstehen, der ,Gradient' wächst enorm." Damit ist der Ring der Beweise geschlossen. Wir leben in einer furchtbar ernsten und kritischen Zeit. Die Bestrebungen des schlecht beratenen konstruktiven Sozialismus haben bereits die russische Revolution total verpfuscht, das Land in die schwerste Anarchie geworfen und vielleicht den Boden für die schlimmste Reaktion bereitet. Uns selbst drohen sie wenigstens mit unerträglichem Zwang, mit erdrückender Armut, mit kolossaler Demoralisation. Wir wissen heute, was die Psychologie eines Volkes von Schleichhändlern und Schmugglern zu bedeuten hat! Da ist es an der Zeit, daß jedermann sage, was er zu sagen hat.

Der Ausweg Notfragen der Zeit [1919]

Inhalt

Vorwort

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I.

Sozialismus und Liberalismus

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Π.

Freie und beschränkte Konkurrenz

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ΙΠ.

Das Bodenmonopol

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IV.

Die Entstehung des Bodenmonopols

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V.

Das Kapital

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VI.

Die Wanderung

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VII. Die „reine Wirtschaft"

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VHI. Der Untergang der reinen Wirtschaft

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IX.

Bestätigung durch Karl Marx

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X.

Deutschland als „freie Kolonie"

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XI.

Die Götzendämmerung des Unternehmerprofits

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ΧΠ. Die galoppierende Schwindsucht der großen Vermögen

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ΧΙΠ. Die Agrarreform

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XIV. Die Zukunft der Großlandwirtschaft

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XV. Die Anteilswirtschaft

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XVI. Die landwirtschaftliche Arbeiter-Produktiv-Genossenschaft

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[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation, Berlin 1919, A.d.R.]

Die Sphinx der Weltgeschichte stellt Deutschland ihre Frage. Es bedeutet Tod, wird die Lösung verfehlt. Hier ist die Lösung! Die Lösung, gefunden auf dem einzig möglichen Wege, durch das wissenschaftliche Denken. Prüft! Und widerlegt mich, - oder geht den Weg, den ich zeige. „Genau genommen, ist nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht, eine Rasse (...). Die sozialistische Produktionsweise setzen wir uns in diesem Kampf deshalb als Ziel, weil sie bei den heute gegebenen technischen und ökonomischen Bedingungen als das einzige Mittel erscheint, unser Ziel zu erreichen. Würde uns nachgewiesen, daß wir darin irren, daß etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei, (...) dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja, wir müßten es tun, gerade im Interesse dieses Endzieles." Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, 2. Aufl., Wien 1919, S. 4.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Vorwort Einen Ausweg will dieses Büchlein weisen aus den schweren Nöten dieser Zeit, einen sicheren Weg zwischen der Skylla des Völker zerstörenden Kapitalismus hier und des nicht minder zerstörenden Bolschewismus dort. Es ist der Weg des alten echten Liberalismus und führt zum Endziel des Sozialismus. Wonach so mancher Denker der Vorzeit gerungen hat, ein Fourier, ein Proudhon, ein Henry George, das hofft der Verfasser hier erreicht zu haben: die vollausgebaute und gegen wissenschaftliche Angriffe gesicherte Theorie des liberalen Sozialismus, aus der sich die rettende Praxis von selbst ergibt. Seit gerade fünfundzwanzig Jahren kämpft meine Lehre um ihre Anerkennung. Leicht ist es ihr nicht gemacht worden. Weil sie liberal ist, wurde sie von den Sozialisten, weil sie sozialistisch ist, von den Liberalen verworfen. Nur die unvoreingenommene Jugend konnte sie sich gewinnen - und mit ihr die Zukunft! Jetzt wird man mich wohl williger hören, als je zuvor. Hat es sich doch erwiesen, was ich als unvermeidlich voraussagte, daß der Pseudoliberalismus unserer kapitalistischen Bourgeoisie in einen Sumpf von Blut und Elend führen müsse, und nicht minder, daß der zur Zeit herrschende Sozialismus der Marxisten - der nicht durchaus mit dem Marxschen gleichbedeutend ist - vor einer unersteiglichen Mauer stehen würde, sobald ihm wirklich die politische Macht in die Hände gelegt sei. Ich darf von mir sagen, daß auch ich ein Schüler Marxens bin. Vielleicht gibt es treuere Apostel, aber gewiß keinen treueren Schüler. Denn Schüler sein, d. h.: im Sinne und Geiste des Meisters weiter forschen. Und das habe ich in den Grenzen meiner Fähigkeiten getan. Offenbar nicht ohne einigen Erfolg: denn in diesem ganzen Buch ist nicht ein einziger tragender Satz, den ich nicht aus Marx belegen konnte. Daß ich trotzdem zu einer so gänzlich verschiedenen Praxis gelange, erklärt sich sehr einfach. Selbst der Gedankenriese Marx hat doch die volle und ganze Wahrheit nicht mit einem Sprunge ergreifen können. Er war, wie alle, wie auch die größten, ein Kind seiner Zeit und ein Glied seiner Klasse und konnte über die ihm dadurch gesteckten Grenzen nicht hinaus. Zwei Geschlechter mußten auf dem von ihm bereiteten granitenen Fundament weiterbauen, ehe es einem Glücklichen gelingen konnte, den goldenen Preis zu erhäschen. Zu dem Zwecke war es nötig, vorerst Marxens Werk mit Marxens Methode und in Marxens Geiste von Irrtümern und Widersprüchen zu reinigen. Dieser kritischen Aufgabe habe ich namentlich in meinen Büchern: „Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre", „Die soziale Frage und der Sozialismus" und „Theorie der reinen und politischen Ökonomie" gerecht zu werden versucht. Dort mag der tiefer interessierte Leser finden, was er sucht. Hier aber habe ich mich aller Kritik enthalten, in tiefem Dank gegen den Meister, der mir immer höher wuchs, je inbrünstiger ich mit ihm rang. Möge das Büchlein der Versöhnung und der Wiederaufrichtung unseres Vaterlandes dienen. Weihnachten 1918 Franz Oppenheimer

Der Ausweg

I.

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Sozialismus und Liberalismus

Warum schwankt das Schiff unseres Reiches heute so furchtbar im Sturm? Warum wissen die Steuerleute keinen festen Kurs zu halten? Besteht eine Meinungsverschiedenheit über das Ziel? Durchaus nicht! Alle Männer, die heute auf den Verlauf der Revolution Einfluß haben, sind darin einig: sie erstreben den Sozialismus. Aber über den Weg zu diesem Ziele können sie sich nicht einigen. Die Spartakus-Gruppe fordert die sofortige Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, und bis zur Durchführung dieses Riesenplanes die Diktatur des Proletariats, d. h. der Extremisten; die Regierungssozialisten ihrerseits erkennen mit Sicherheit, daß dieser Plan, wenn überhaupt, jedenfalls nicht jetzt und nicht mit einem Schlage, durchgeführt werden kann, ohne die deutsche Volkswirtschaft vollkommen zu desorganisieren und uns in Hungersnot, Bürgerkrieg und feindliche Invasion zu stürzen. Sie tappen daher nach irgendeinem Kompromiß zwischen der bisherigen Wirtschaft der sogenannten freien Konkurrenz und dem, was sie für Sozialismus halten. Und sind natürlich unter sich uneinig über das Maß der sofort notwendigen und möglichen Reformen. Darum wird geredet, statt gehandelt; die Regierungsmänner haben alle Hände voll zu tun, um den Acheron ruhig zu halten, - und wehe uns, wenn es nicht glückt! Wir stehen also wieder einmal vor dem uralten Dilemma: Wirtschaftsfreiheit oder Gemeinwirtschaft, Liberalismus oder Sozialismus? Der erste bedeutet Ungleichheit krassester Art, Ubermut oben, Haß unten, bürgerliche Zwietracht, auswärtige Kriege zwischen den verschiedenen nationalen Bourgeoisien um den Weltmarkt, Not, Elend, Untergang. Der zweite bedeutet unerträglichen Zwang, Bürokratismus, Verlust der Initiative des Einzelwirtes, daher Armut und, heute wenigstens, im entgüterten und demoralisierten Deutschland, ganz sicher ebenfalls Not, Elend und Untergang. Vor der gleichen Not der gleichen Wahl zwischen zwei furchtbaren Übeln stand die Menschheit schon mehrfach: alle Staaten der antiken Welt sind daran zugrunde gegangen, und jetzt windet sich seit einem Jahr das riesige Rußland auf dem Sterbebette! Uns aber droht ein noch viel entsetzlicheres Schicksal. Denn Rußland ist noch fast reiner Agrarstaat, Deutschland aber der höchst entwickelte industrielle Großstaat der Erde. Wenn in Rußland die Städte verhungern, sterben höchstens fünfzehn vom Hundert der Bevölkerung, bei uns aber fast achtzig vom Hundert. Rußland gleicht einem niederen Wurm, den man durchschneiden kann, ohne daß die Teile sterben; Deutschland ist der höchst entwickelte Organismus, den ein grober Eingriff tötet. Gibt es keinen Ausweg? Es muß ja doch einen geben, sollen wir nicht glauben, daß diese Welt die Schöpfung eines bösartigen Teufels ist! Es gibt einen Ausweg! Liberalismus und Sozialismus sind keine Gegensätze, wie die getäuschte Menschheit bisher geglaubt hat, sondern ein und dasselbe. Der zu Ende geführte Liberalismus ist der Sozialismus! Es gibt nur einen Weg zum Sozialismus: die volle Wirtschaftsfreiheit, die wirklich „freie" Konkurrenz. Was ist der Sozialismus? Die Sozialisten antworten in der Regel, es sei der Glaube an und das Streben auf eine Gesellschaft, in der die freie Konkurrenz nicht mehr die Erzeugung und Verteilung der Güter regelt, also auf eine marktlose Gesellschaft. Aber das ist offenbar nur ein Mittel zum Ziele, und nicht das Ziel selbst, - und wir fragen nach dem Ziele. Dieses Ziel ist eine Gesellschaft, in der jedermann den vollen Erfolg seiner Arbeit genießt, oder anders ausgedrückt: in der jedermann so viel an Werten aus dem Gesamterzeugnis zurückerhält, wie er durch seine Arbeit dazu beigetragen hat; eine Gesellschaft also, in der es keinerlei arbeitsloses Einkommen, keinen „Mehrwert", mehr gibt. Der Sozialismus, als Ziel betrachtet, ist die von allem Mehrwert erlöste, darum klassenlose und darum brüderlich geeinte Wirtschaft der Freien und Gleichen! Dieses Ziel aber glauben die meisten Sozialisten nicht anders erreichbar als durch die Abschaffung oder - die wahren Marxisten unter ihnen - durch das Verschwinden des Marktes mit seiner freien Konkurrenz, die nach ihrer

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

Auffassung zur krassen Ungleichheit führen muß. Und darum wird ihnen unbewußt das Zwischenziel zum Endziel, das Mittel zum Zweck, weil sie es für das einzige mögliche Mittel halten. Wenn man beweisen kann, daß die von allem Mehrwert erlöste Gesellschaft der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auf einem anderen Wege erreicht werden kann, hat niemand an der marktlosen Wirschaft mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, am Kollektivismus also, das geringste Interesse mehr. Dieser Beweis läßt sich führen! Die Menschheit hat bisher noch niemals die „freie" Konkurrenz am Werke gesehen. Was sie irrtümlich so genannt hat, ist ihr Gegenpol, ist das, was strenge Wissenschaft die „beschränkte Konkurrenz" nennt, ist eine Abart des Monopols. Und wenn sich die Nutznießer dieses Monopols, dieser beschränkten Konkurrenz „Liberale" genannt haben, so ist das nicht anders zu bewerten als wenn ein Piratenschiff unter einer ehrlichen Flagge fährt. Was ist nämlich der Liberalismus, der echte Liberalismus der klassischen Periode, in der er noch nicht die Klassentheorie des Groß- und Mastbürgertums, sondern ein großes Menschheitsziel für alle Unterdrückten und Entrechteten war, der Liberalismus eines Quesnay und Adam Smith? Es ist der Glaube an und das Streben auf eine von allem arbeitslosen Einkommen erlöste und darum brüderliche Gesellschaft der Freien und Gleichen. Das hieß damals „die Harmonie aller Interessen". Und worin sah der Liberalismus das Mittel zu diesem Ziele? In der Beseitigung aller Monopole! Er wußte und sagte, daß Privilegien und Monopole die sonst unwiderstehliche Tendenz der freien Konkurrenz ablenken und verzerren, die rationelle Gleichheit der Einkommen herbeizuführen, d. h. jedem genau so viel aus dem gemeinsamen Erzeugnis der Volkswirtschaft zu erstatten, wie er dazu beigetragen hatte; er wußte und sagte, daß daraus krasse Ungleichheit, Not, Elend und Bürgerkrieg hervorgehen müßten. Also haben Liberalismus und Sozialismus durchaus das gleiche Ziel. Nur schlägt jeder ein anderes Mittel zum Ziele vor. Wer von beiden hat recht? Die Antwort darauf ist zugleich die Antwort auf die toddrohende Schicksalsfrage der Sphinx.

II. Freie und beschränkte Konkurrenz Der Begriff der freien Konkurrenz ist wissenschaftlich unzweideutig bestimmt. Freie Konkurrenz besteht dort, „wo jeder Mann, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf". Wann will sich jemand an einer Produktion beteiligen? Wenn der Marktpreis über den Durchschnittspreis, den sogenannten „Tauschwert" emporgeschwankt ist. Was geschieht dann? Dann kommt mehr von dem begehrten und darum hochbezahlten Produkt zu Markte, und sein Preis sinkt wieder auf den Wert zurück, d. h. auf denjenigen Preis, der allen Produzenten von gleicher Qualifikation auf die Dauer und im Durchschnitt das gleiche Einkommen abwirft. Und d. h. wieder, daß jedermann gerade so viel an Wert aus dem Markte nimmt, wie er hineingelegt hat: d. h. also ferner, daß die rationelle Gleichheit aller Einkommen besteht, und daß es kein arbeitsloses Einkommen geben kann. Denn wer nichts in den Markt geliefert hat, kann unter diesen Umständen auch nichts herausnehmen. Wir beobachten diese Kraft der Konkurrenz, durch die Preise die Einkommen auszugleichen, sogar unter den heutigen völlig verzerrten Verhältnissen der kapitalistischen Wirtschaft. Wir sehen vor Augen, daß die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander immer wieder dahin führt, den Profit auszugleichen, dergestalt, daß auf die Dauer und im Durchschnitt auf gleiche Kapitale die gleichen Gewinne entfallen. Und wir sehen ebenso, daß auf den Märkten der Arbeit die Konkurrenz zwischen den Arbeitern und Angestellten immer wieder dahin führt, daß für gleiche Leistung und Anstrengung gleich qualifizierter Kräfte gleiche Löhne und Gehälter bezahlt werden.

Der Ausweg

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Was verhindert die Ausgleichung der Einkommen zwischen den Kapitalisten einerseits und den Arbeitern aller Ausbildungsgrade andererseits? Das ist das Problem des Mehrwerts, des arbeitslosen Einkommens; das ist die Schicksalsfrage unserer Zeit und der Kultur überhaupt. Der echte Liberalismus, derart befragt, würde antworten, daß hier offenbar eine Hemmung bestehen muß, die die Konkurrenz daran verhindert, ihre die Einkommen ausgleichende Kraft auszuwirken. Mit anderen Worten: ein Monopol muß die Schuld tragen. Freie Konkurrenz und Monopol sind Wechselbegriffe, die in ihrer streng wissenschaftlichen Bedeutung einander ausschließen. Freie Konkurrenz besteht nur dort, wo kein Monopol besteht; und wo ein Monopol besteht, besteht keine freie Konkurrenz. Wir sagten: freie Konkurrenz besteht dort, wo jedermann, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf. Wenn er es nicht kann oder darf, besteht ein Monopol, und zwar ein „natürliches" Monopol im ersten, und ein rechtliches im zweiten Falle. Als Beispiele für den ersten Fall werden regelmäßig genannt Weine besonderer Edellage: selbst der erfahrenste Winzer kann auf einem gewöhnlichen Weinberg keinen Rüdesheimer erzeugen. Darum kann die Konkurrenz bei Edelweinen nicht eingreifen; die Nachfrage ist immer dringender als das Angebot, und darum wirft der Preis des Gewächses auch auf die Dauer und im Durchschnitt mehr ab als das gewöhnliche Einkommen eines Weinbauern. Ein Beispiel für ein Rechtsmonopol stellt ein erfolgreicher Patentartikel dar; hier darf die Konkurrenz nicht eingreifen. Die Nachfrage ist auch hier immer dringender als das Angebot, und darum wirft der Preis des Patentgutes auch auf die Dauer und im Durchschnitt mehr ab als das Einkommen eines sonst gleich qualifizierten Produzenten. Altere Leser werden sich erinnern, daß der Preis eines der erfolgreichsten Patentartikel, die es je gegeben hat, der schwedischen Zündhölzer aus Jönköping, bis zum 31. Dezember des Jahres, in dem das Patent ablief, 25 Pfg. pro Pack von 10 Schachteln betrug, um am 1. Januar des folgenden Jahres auf 10 Pfg. zu sinken: ein Mehrwert von 150%. Aus welcher Quelle fließt der Mehrwert? Er kann aus keiner anderen Quelle stammen, als aus dem Einkommen dessen, der mit dem Monopolbesitzer tauscht. Wo kein Monopolverhältnis besteht, tauscht sich in der Ware offenbar durchschnittlich Arbeitsstunde gegen Arbeitsstunde. Wo aber ein Monopolverhältnis besteht, gibt der Monopolist in seinem Produkt weniger Arbeitsstunden her, als er in dem Produkt seiner Kontrahenten empfängt; und d. h., daß der Kontrahent mehr Arbeitsstunden gibt, als er empfängt. Die letzten Worte haben ein unendlich schweres Gewicht. Der Kontrahent eines Monopolisten gibt mehr Arbeitsstunden her als er empfängt! Das ist genau der Tatbestand, von dem aller Sozialismus ausgeht. Das ist genau der Vorwurf, den er gegen die bürgerliche Wirtschaftsordnung erhebt: daß der Arbeiter dem Kapitalisten mehr Stunden leistet, als er im Lohn zurückerhält, daß er also ζ. B. zehn Stunden durchschnittlicher gesellschaftlicher Arbeit leistet, aber dafür einen Lohn erhält, mit dem er nur Güter zurückkaufen kann, in denen fünf Stunden gleicher Arbeit verkörpert sind. Die Tatsache besteht über jeden Zweifel hinaus; der gesellschaftliche Mehrwert existiert, der Lohn des Arbeiters ist geringer als der Wert seines Produkts; aber die Erklärung der Tatsache stieß bisher auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Jetzt scheinen wir der Lösung des Rätsels nahe zu sein. Wenn sich zeigen läßt, daß der Lohnvertrag zwischen jedem Kapitalisten und jedem Arbeiter, der Tausch von Arbeitsleistung gegen Lohngeld, unter einem Monopolverhältnis stattfindet, ist das Rätsel des Mehrwerts gelöst. Dieser Beweis läßt sich führen und wird sofort geführt werden. Zu dem Zwecke müssen wir uns aber erst die wissenschaftlichen Begriffe schaffen. Es gibt mehrere Arten des Monopols, und wir müssen sie kennen und auseinander zu halten wissen, um mit Genauigkeit angeben zu können, von welcher Art das Monopol ist, das den gesellschaftlichen Mehrwert erpreßt. Die beiden Klassen des Monopols, die wir hier zu unterscheiden haben, sind das absolute Monopol und die beschränkte Konkurrenz. Ein absolutes Monopol besteht dort, wo ein Einzelner oder eine zu gemeinsamer Preispolitik verabredete Gruppe die alleinige Verfügung über ein stark begehr-

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tes und deswegen über seinen Arbeitswert bezahltes Produkt besitzt. In die erste Gruppe gehört der Besitzer des Rüdesheimer Bergs und des erfolgreichen Patents; die zweite Gruppe spielt in der kapitalistischen Welt in Gestalt der Kartelle, Syndikate und Trusts eine sehr große Rolle. Hier vereinigen sich die sämtlichen Produzenten (oder mindestens die große Mehrzahl) eines an sich beliebiger Vermehrung fähigen Erzeugnisses, ζ. B. von Schienen oder Draht, in dem Vertrage, ihre Erzeugung einzuschränken; dann kommt weniger auf den Markt, und der Preis steigt über den Arbeitswert, weil die Nachfrage ungefähr die gleiche geblieben ist. Hier ist also die vertragsmäßige Abrede zwischen den Produzenten die unerläßliche Bedingung, ohne die ein Monopol nicht zustande kommen kann. Die zweite Hauptklasse der Monopole trägt den Namen der „beschränkten" Konkurrenz. Sie ist gegeben, wenn mehrere Besitzer eines nicht beliebig vermehrbaren Gutes, das stärker begehrt als angeboten wird, untereinander konkurrieren. Hier steht auch ohne Verabredung der Monopolisten der Preis auf die Dauer und im Durchschnitt über dem Arbeitswert. Denn die Käufer überbieten sich in ihrer dringlichen Nachfrage. So sind die ungeheuren Wucherpreise für Lebensmittel während dieser Kriegszeit zustande gekommen. Butter und Speck waren nicht beliebig vermehrbare Güter, weil die Konkurrenz des Auslandes trotz der hohen deutschen Preise nicht eingreifen konnte und durfte, und so stieg ihr Preis, trotzdem die Hunderttausende von Bauern nicht untereinander verabredet waren, weil jeder Hamsterfahrer immer höhere Preise anbot. Wie innerhalb des absoluten Monopols, so sind auch innerhalb der beschränkten Konkurrenz zwei Fälle zu unterscheiden. Der erste liegt vor, wenn der Vorrat des unvermehrbaren Gutes im Verhältnis zu dem dringenden Bedarf absolut zu klein ist. Einen solchen Fall haben wir ζ. B. beim Radium. Sein Vorrat ist außerordentlich klein, der Bedarf danach, seiner heilenden Eigenschaften wegen, enorm, und darum erzielt es einen riesenhaften Monopolpreis, obgleich es von mehreren von einander unabhängigen Produzenten hergestellt wird. Der zweite Fall liegt dann vor, wenn zwar der absolute Vorrat des unvermehrbaren Gutes weit größer ist als der Bedarf, wenn aber dieser Vorrat mit Erfolg gegen die Bedürfenden gesperrt werden kann und darf. Als Beispiel sei hier genannt eine belagerte Stadt, in der sich in den Händen einer Anzahl nicht mit einander verabredeter Händler zehnmal soviel Mehl und Korn vorfindet, als höchstens gebraucht werden wird. Wenn diese Männer den traurigen Mut dazu haben, und wenn keine überlegene Macht sie hindert, so können sie die ganze Bevölkerung mit Wucherpreisen aussäckeln, trotzdem der Vorrat weit den Bedarf übersteigt. Hier entsteht das Monopol durch „Monopolierung". Dieser Fall ist es, der uns allein interessiert. Das Monopolverhältnis, das zwischen den Klassen der Kapitalisten und der Arbeiter besteht, und das bei jedem Tausch von Arbeitsleistung gegen Lohngeld diesen den Mehrwert erpreßt und jenen zuführt, beruht auf der Monopolisierung des jeden absehbaren Bedarf weit überschreitenden Vorrats an einem unentbehrlichen, daher dringend bedurften, unvermehrbaren Gut. Dieses Gut ist der Grund und Boden!

III. Das Bodenmonopol Wir sagten: die Menschen haben bisher noch nie die freie, sondern stets nur die beschränkte Konkurrenz gekannt. Diese allein sei schuldig an der Verzerrung der Gesellschaft, an Unfreiheit, Ungleichheit und Unbrüderlichkeit, die freie Konkurrenz aber unschuldig. Es gelte nicht, sie abzuschaffen, sondern im Gegenteil, sie zum ersten Male herzustellen, und zwar durch Abbau aller Privilegien und Monopole, außer den harmlosen Naturmonopolen, ζ. B. an Edelwein, und den

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sogar nützlichen des Patent- und Autorenschutzes. Und wir bezeichneten als das gewaltige, bisher als solches nicht erkannte und anerkannte Monopol, das aus dem Wege zu räumen ist, das Monopol an Grand und Boden. Wir treten jetzt den Beweis an, daß der Grund und Boden in der Tat ein Monopol ist, und zwar ein Monopol, das entstanden ist durch Sperrung eines an sich das Bedürfnis weit überragenden Vorrates an einem dringend bedurften, nicht vermehrbaren Gute durch Sperrung oder Monopolisierung. Dieser Beweis zerfällt in drei Teile: erstens, daß Grund und Boden dringender nachgefragt als angeboten wird; zweitens, daß der Vorrat daran das Bedürfnis weit überschreitet, und drittens, daß er gesperrt ist. Beim ersten können wir uns kurz fassen. Die Tatsache liegt vor aller Augen, daß überall in der Kulturwelt, bis an ihre fernste Peripherie in die Kolonialländer hinein, aller Grund und Boden in festen Händen ist. Und zwar besitzt fast überall eine kleine Minderheit alles Land, während die große Mehrheit ohne Landbesitz ist. Nun bedarf aber jedermann des Landes auf das dringendste, alle ohne Ausnahme als ihres Wohn- und Standortes, die Landwirte und Gärtner außerdem noch als ihres Produktionsmittels. Unter diesen Umständen ist es klar, daß die Nicht-Bodenbesitzer das Land in aller Regel dringender brauchen als die Besitzer den angebotenen Gegenwert. Also besteht hier auch auf die Dauer und im Durchschnitt ein Monopolverhältnis, das einen Mehrwert erpreßt. Und zwar bringt aller Boden Profit, und ertragreicherer oder dem Markte näher gelegener Boden außerdem noch die sogenannte Grundrente, von der wir aber hier absehen wollen und dürfen. Zweitens: der Vorrat an Boden überschreitet das Bedürfnis bei weitem. Zu selbständiger Bauernschaft gehören überall in primitiven Verhältnissen durchschnittlich ungefähr 30 Morgen, mehr auf schlechterem, weniger auf gutem Boden. Das macht bei dem großen Kinderreichtum primitiver Völker pro Kopf etwa 1 ha. Die Erde hat nach Ravenstein ungefähr 5,5 Milliarden Ackerland, könnte also ebensoviele Menschen ernähren, wenn es durchaus nichts anderes als selbstwirtschaftende Bauern gäbe: die gesamte Erdbevölkerang beträgt aber weniger als ein Drittel dieser Zahl! Das gleiche ergibt sich bei Betrachtung irgend eines volkreichen Kulturlandes. Hier muß die Berechnung etwas anders aufgestellt werden. Kultur ist nur dort vorhanden, wo ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung als Städter von Industrie, Gewerbe, Handel, Verkehr, als Beamte und Ausübende freier Berufe lebt. Wählen wir unser Deutschland als Beispiel. Es hatte vor dem Kriege eine städtische Bevölkerung von etwa 75% der Gesamtheit, die zum großen Teil für den Binnenmarkt, zum kleinen für ausländische Märkte Güter erzeugte, um dafür fremde Rohstoffe ins Land zu ziehen. In Deutschland ist der Bedarf an Land für bäuerliche Selbständigkeit durchschnittlich 5 ha pro Familie, 1 ha pro Kopf. Es hat 32 Millionen ha reinen Nutzlandes, kann aber aus geringeren Weiden, Ödland, Forsten und Mooren leicht noch mehrere Millionen ha dazu gewinnen. Im ganzen könnten bei Zugrundelegung der heutigen Technik und der heute geltenden Preise 35-40 Millionen Köpfe von bäuerlicher Landwirtschaft als selbständiger Mittelstand existieren. Wie groß ist aber die landwirtschaftliche Bevölkerung? Nicht einmal 17 1/4 Millionen, alles zusammengerechnet, die Besitzer, die Beamten und die Arbeiter samt ihren Angehörigen. Es könnte also im dicht bevölkerten Deutschland mehr als das Doppelte der heutigen landwirtschaftlichen Bevölkerung existieren. Der Vorrat ist doppelt so groß als der Bedarf. Drittens haben wir zu beweisen, daß dieser Vorrat gesperrt, monopolisiert ist. Das ist sehr leicht. Unter jenen 17 1/4 Millionen befanden sich nicht weniger als 9,3 Millionen landwirtschaftlicher Arbeiter samt Angehörigen, die überhaupt kein Land oder nur armselige Fetzen davon haben: sonst wären sie keine Arbeiter. Außerdem befanden sich unter den Landbesitzern noch unzählige mit unzureichendem Landbesitz. Es gab 1907: 5 3/4 Millionen landwirtschaftliche Betriebe; davon hatten weniger als 1/2 ha mehr als 2 Millionen Betriebe; 1,3 Millionen Betriebe hatten zwischen 1/2 und 2 ha und 1 Million 2-5 ha. Diese drei Klassen zusammen stellten 3/4 der Betriebe dar, hatten aber insgesamt nur 1/6 des Nutzlandes, und pro Betrieb (nicht etwa pro Kopf) wenig mehr

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als 1 ha im Durchschnitt. Dagegen besaßen die ca. 36.000 großen Großbauern mit 50-100 ha und die 23.000 Großgrundbesitzer mit mehr als 100 ha, die zusammen etwa 1/100 der Betriebe darstellen, mit 9 1/2 Millionen ha mehr als 1/4, fast 1/3 des Nutzlandes. Damit ist der versprochene Beweis erbracht. Das unvermehrbare unentbehrliche Gut: Boden ist von einer winzigen Minderheit in so großen Mengen angeeignet worden, daß für die riesengroße Mehrheit nicht genug übrig blieb, um ihren dringenden Bedarf ohne Zahlung von Mehrwert zu decken. Wir haben genau das gleiche Verhältnis wie in unserer belagerten Stadt. Wie dort einige Groß-Kornbesitzer (als Monopolisten) die große Masse der Nicht-Kornbesitzer aussäckeln konnten, so können in der kapitalistischen Gesellschaft einige Groß-Bodenbesitzer die große Masse der Nicht-Bodenbesitzer aussäckeln, obgleich der verfügbare Vorrat den Bedarf bei weitem überschreitet. Bei jedem Tausch zwischen dem Monopolisten des Bodens und seinem Kontrahenten erhält jener Mehrwert, den dieser abzutreten hat. Der Mieter zahlt mehr Miete als erforderlich ist, um den Arbeitswert der Wohnung zu vergüten, und der Landarbeiter leistet mehr an Arbeitswert, als er im Lohn zurückerhält. Damit haben wir wenigstens den einen Teil des Mehrwertes widerspruchslos abgeleitet, denjenigen, den der landwirtschaftliche Arbeiter seinem Kapitalisten abzutreten hat. Wir werden bald zeigen, daß auch der industrielle Mehrwert aus der gleichen Quelle fließt. Vorher ist zu fragen, wie dieses Bodenmonopol entstanden ist.

IV. Die Entstehung des Bodenmonopols Die Klassiker, vor allem Adam Smith, haben völlig klar gesehen und ausgesprochen, daß der Grund und Boden ein Monopol darstellt. Aber sie haben ihn in eine falsche Klasse eingereiht. Sie haben geglaubt, es handle sich um jenes Monopol an einem unvermehrbaren Gute, das aus natürlichen Gründen entsteht, weil der Vorrat kleiner ist als der Bedarf, während es sich in der Tat, wie wir wissen, um ein Monopol an einem unvermehrbaren Gute handelt, das durch Sperrung, „Monopolisierung", des von Natur übergroßen Vorrates entsteht. In diesem einen Fehler wurzeln alle anderen Fehler der klassischen Lehre, die aus dem alten, echten Liberalismus im Laufe der Zeit den Pseudo-Liberalismus gemacht haben, jene Klassenadvokatie, die sich ganz in den Dienst der Bourgeoisie gestellt und den edlen Namen in Verachtung gebracht hat. Die Klassiker stellen sich die Entstehung des Bodenmonopols folgendermaßen vor: Die Urgesellschaft besteht aus lauter gleichen und freien Menschen. Zuerst gibt es nur wenig Menschen, aber sehr viel Land. Infolgedessen hat unbearbeitetes Land gerade so wenig Wert wie Luft oder Wasser: es ist „freies Gut". Jeder nimmt sich, soviel er braucht und bestellen will; das aber ist nur ein verhältnismäßig kleines Stück. So setzt sich ein kleiner Bauer neben den anderen, bis schließlich alles Land besetzt ist. Bis zu diesem Augenblick kann es Arbeiter natürlich nicht geben, denn niemand arbeitet für andere, solange er für sich selbst Land nehmen und darauf als freier Unternehmer arbeiten kann. Es kann daher weder an Land noch an „Kapital", d. h. produzierten Produktionsmitteln, Großeigentum geben, und ebensowenig einen Mehrwert. Jeder genießt den vollen Ertrag seiner Arbeit je nach seiner Qualifikation, gleichgültig, ob er ihn selbst verzehrt oder vertauscht: denn hier tauschen sich alle Produkte nach ihrem „Wert", Stunde gegen Stunde: hier besteht also die rationelle Gleichheit aller Einkommen. Wenn aber erst einmal alles Land besetzt ist, dann beginnt die Differenzierung des Vermögens und Einkommens. Jetzt zersplittert sich ein Teil der Bauernhöfe an viele Erben, während andere durch Heirat usw. zusammengeschlagen werden. Man kann sie jetzt bewirtschaften: denn jetzt gibt es eine Arbeiterklasse, nämlich jene Zwergbesitzer, die auf ihrem Fetzen Land nicht leben und nicht sterben können, und zahlreiche ganz Landlose. Sie sind gezwungen, sich den Besitzern von Großei-

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gentum an Land und Kapital anzubieten, und zwar unter einem Monopolverhältnis, weil ihre Nachfrage nach Arbeit und Lohn viel dringender ist, als die Nachfrage der Besitzenden nach der Arbeitsleistung. So entsteht der gesellschaftliche Mehrwert zugleich mit der Arbeiterklasse! Und jetzt gibt es kein Halten mehr in dem Prozeß, der die Ungleichheit der Bevölkerung vermehrt. Der Stärkere, Klügere, Sparsamere, Glücklichere erwirbt Vermögen, der Schwächere, Dümmere, der Verschwender und der Pechvogel verlieren, was sie haben, bis das Bild der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Klassenunterschieden vollendet ist. Diese Auffassung ist die tragende Säule aller Nationalökonomie des Liberalismus - nebenbei gesagt: auch aller Geschichtsauffassung. Sie hat seit Adam Smith den Namen des Gesetzes der „ursprünglichen Akkumulation". Karl Marx, der Meister aller Meister, der größte Erbe und Fortbildner der Klassiker, hat sie mit gerechtem Spott als eine „Kinderfibel" bezeichnet. Wir wissen bereits, daß die Lehre falsch ist. Wenn sich der Prozeß derart vollzogen hätte, wie es hier geschildert wird, so gäbe es noch heute keine Vermögensverschiedenheit von irgendwelchem Belang, keine Arbeiterklasse und keinen Mehrwert. Die Erde wäre als Ganzes erst zu einem Dritteil „besetzt", und es müßten noch Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende, verfließen, ehe das letzte Stück freien Bodens von den letzten freien Bauern belegt wäre. Und selbst im dichtbevölkerten Deutschland müßte sich die Landbevölkerung erst mehr als verdoppeln, ehe eine Arbeiterklasse entstehen könnte, wenn die Theorie richtig wäre. Sie ist also falsch! Das Großeigentum, zunächst an Boden, ist nicht durch friedliche ökonomische Differenzierung aus einem Zustande der Gleichheit und Freiheit entstanden, sondern durch „außerökonomische Gewalt" (Karl Marx). Der Staat beginnt mit einer Ordnung, die das genaue Gegenteil des idyllischen Bildes ist, das die Kinderfibel zeichnet. Überall ist ein waffenstarker Stamm über eine schwache Bauernschaft hergefallen, hat sie unterworfen und sie selbst und ihr Land unter die Sieger verteilt. Die Urgesellschaft, von der die unsere abstammt, beginnt als Gesellschaft der Unfreien, über die eine Klasse der Freien, als Adel, herrscht; der Zweck der Herrschaft aber ist arbeitsloses Einkommen, ist Mehrwert. Solange noch freies Land vorhanden ist, kann die herrschende Klasse den Mehrwert nur dadurch erlangen, daß sie die Arbeitenden zu Sklaven oder Hörigen macht und an den Boden fesselt; denn sonst würden sie fortgehen, eigenes Land nehmen und als selbständige Bauern und Handwerker nur für sich selbst arbeiten; und das eroberte Großeigentum wäre wertlos; es bringt ja keinen Ertrag, wenn es nicht bestellt wird; darum sperrt die besitzende Klasse allmählich alles Land gegen die freie Besiedlung, auch das noch unbebaute, auch das an der fernsten Peripherie des Kulturbezirkes vorhandene, und jetzt kann man den Besitzlosen ruhig die Freiheit geben und gibt sie ihnen: denn jetzt können sie dem Monopol nicht mehr entrinnen. Das erste und wichtigste aller Produktionsmittel, die Bedingung aller Selbständigkeit, die Mutter Erde, das Erbteil aller Menschen, ist gegen sie gesperrt, ist monopolisiert, trotzdem der Vorrat an Boden ungeheuer viel größer ist, als aller absehbare Bedarf. Das ist die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft in aller Welt. Im alten Feudalgebiet, d. h. in Europa und Südasien, ist das moderne Großgrundeigentum aus dem durch das Schwert geschaffenen Feudaleigentum auf die eben geschilderte Weise entstanden. Wenn hier Raum und Zeit dafür wäre, ließe sich ζ. B. an der Stein-Hardenbergschen Gesetzgebung sehr lehrreich zeigen, wie alles Bestreben der in ihrem Besitzstande bedrohten alten Herrenkaste Preußens dahin ging, alles Ackerland in möglichst großen Stücken an möglichst wenige Personen zu verteilen, um möglichst viele gänzlich landlose Menschen zu haben, die als freie Arbeiter gezwungen wären, nach wie vor den Boden der Großbesitzer zu bebauen. Zwang sie das Gesetz nicht mehr dazu, so zwang sie jetzt die „Hungerpeitsche" dazu; sie standen einem gewaltigen unzerbrechlichen Monopol gegenüber. So schuf man, wie Knapp treffend sagt, damals neben dem von allen Feudallasten befreiten „Landmann ohne Dienst" den „Dienstmann ohne Land" und sicherte da-

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durch allein dem Großbesitz die nötigen Arbeitskräfte und die Existenz auf ein weiteres Jahrhundert, während doch Boden genug vorhanden gewesen wäre, um alle Leibeigenen und Erbuntertanen ohne Ausnahme zu Mittelbauern zu machen und noch starken Großbesitz übrig zu lassen. Der hätte dann freilich wegen Mangels an Arbeitern zugrunde gehen müssen. Geradeso hat man in allen Kolonialgebieten ohne Ausnahme: in den Vereinigten Staaten, Brasilien, Argentinien, Australien, Neuseeland sofort bei der Gründung den gesamten Grund und Boden monopolisiert, indem man ihn an möglichst wenige Personen ausgab, dadurch den ganzen Rest der Bevölkerung, vor allem alle späteren Zuwanderer, der Möglichkeit eigenen Besitzes und eigener Selbständigkeit beraubte und eine Arbeiterklasse künstlich schuf, die gezwungen war, den Großherren des Bodens und des Kapitals Mehrwert zu steuern. Und das Ergebnis ist denn auch überall das gleiche, das gewollte. Mag das Land noch so weit und fruchtbar und noch so menschenleer sein, ζ. B. Neuseeland, das so groß und fruchtbar ist wie Italien und kaum eine Million Bewohner hat, es gibt dennoch eine große Klasse vermögensloser Arbeiter. Alles erreichbare Land ist von wenigen Besitzern gesperrt. Die Rechtsform der Bodensperre ist das Großgrundeigentum. Und so rechtfertigt sich der Schluß, daß es genügt, die Bodensperre aufzuheben, d. h. das Großgrundeigentum dem Volke zurückzugeben, um das Monopolverhältnis zu beseitigen. Dann ist die beschränkte Konkurrenz endlich in die freie, die wirklich „freie" Konkurrenz verwandelt; dann ist die Menschheit von allem Mehrwert erlöst, und auf freiem Boden steht die brüderliche Gesellschaft der Freien und Gleichen, steht der Sozialismus, erreicht auf dem Wege des echten Liberalismus. Und steht unerschütterlich wenigstens so lange, bis in Jahrtausenden vielleicht wirklich das letzte Stück Boden vom letzten freien Bauern besetzt sein wird. Dann mögen sich die Menschen des 12. Jahrtausends den Kopf darüber zerbrechen, wie sie der Gefahr Herr werden wollen, daß die Ungleichheit sie spaltet. Wir haben nähere Sorgen. Wer mir diesen Einwand macht - der übrigens leicht zu widerlegen ist - , den frage ich, ob er einen strangulierten jungen Menschen aus dem Grunde nicht abschneiden und zum Leben zurückrufen wird, weil er ja doch in längstens achtzig Jahren sterben muß?

V. Das Kapital Den einen Teil unserer Aufgabe haben wir gelöst. Es wird niemand mehr daran zweifeln können, daß nach Auflösung der Bodensperre der landwirtschaftliche Kapitalismus unmöglich ist. Wenn man die Landarbeiter und Zwergbauern auf parzelliertem Großgrundeigentum ansetzt, so kann man den verbleibenden, immer noch sehr stattlichen Rest der Institution ruhig ungeschoren lassen: er ist doch wirtschaftlich nicht mehr haltbar und muß zugrunde gehen. Ja, es genügt schon, auch nur einen beträchtlichen Teil der Landarbeiter mit einem Schlage selbständig zu machen: dann wird die Nachfrage der verbleibenden Großgüter nach der verringerten Arbeiterschaft sehr viel stärker, und der Lohn steigt auf eine Höhe, die mit dem Fortbestand des Großbesitzes nicht mehr vereinbar ist. Wir wiederholen: um den agrarischen Kapitalismus haben wir uns nicht mehr zu kümmern. Aber wie steht es um den städtischen Kapitalismus in Industrie und Handel? Wird auch er durch die gleiche Reform entwurzelt? Bleibt hier nicht den Unternehmern ihr „Kapital", ihr Eigentum an produzierten Produktionsmitteln, an Maschinen, Rohstoffen und Geld ungeschmälert, und wird es nicht nach wie vor den Mehrwert des Profits abwerfen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns darüber klar werden, was denn das „Kapital" eigentlich ist. Das Wort wird ursprünglich gebraucht für die Hauptsumme eines Darlehens (summa capitalis) im Gegensatz zum Interesse, dem Zins. Daß ein Darlehen Zinsen trägt, war man seit Urzeiten

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gewohnt und zerbrach sich nicht den Kopf darüber, wie das zu erklären sei. Man fand es „natürlich", wie man alles natürlich findet, was man tagtäglich um sich sieht. Upton Sinclair sagt einmal sehr lustig, die meisten Menschen hätten die Vorstellung, der eine Dollar sei männlich und der andere weiblich; wenn man sie zusammenlege, so heckten sie Jahr für Jahr eine Anzahl von niedlichen kleinen Cent-Babys, die allmählich zu Dollars auswachsen. So einfach liegen die Dinge denn doch nicht. Geld hat keine Geschlechtsorgane und kann keine Jungen kriegen. Aber, wie gesagt, man fand das durchaus natürlich. Als aber die kapitalistische Wirtschaft einsetzte, fand sich die Menschheit vor einem Rätsel, dessen Lösung erst Karl Marx geglückt ist, - wobei bemerkt werden muß, daß seine unzweifelhaft richtige Lösung auch heute noch von den meisten Fachökonomisten nicht anerkannt wird. Sie bedeutet nämlich implizite die Verurteilung des kapitalistischen Systems. Das Rätsel, von dem wir sprechen, ist das Zustandekommen des Untemehmerprofits. Wie kommt der Unternehmer zu einem Gewinne, der den Wert seiner Leiterarbeit übersteigt? Woher stammt dieser Gewinn? Wer „heckt" ihn? Um das zu erklären, zog man das Darlehen und seinen Zins heran. Man sagte, daß ein Geldbesitzer gerade so wie einem anderen Menschen, so auch seinem eigenen Betriebe, eine Geldsumme „vorstrecken" könne und natürlich davon den gleichen Zins erwarte. Und darum nannte man von da an auch die für dieses Geld angekauften Produktionsmittel „Kapital". Damit war nun zwar ein Wort, aber keine Erklärung gewonnen. Maschinen und Rohstoffe haben auch keine Geschlechtsorgane und können daher ebensowenig Junge kriegen wie Geld. Außerdem würden Maschinen junge Maschinen und kein Geld zur Welt bringen. Das ist ein Rätsel, an dem sich die Wissenschaft seit bald 200 Jahren quält. Man hat alle möglichen Versuche gemacht, es zu lösen. Böhm-Bawerk hat in seiner ausgezeichneten „Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien" ein paar Dutzend verschiedener Versuche dargestellt und endgültig als falsch erwiesen. Ebenso falsch ist notorisch seine eigene „Agio-Theorie" und die neueste „Friktionstheorie" von Schumpeter. Von den älteren Lehren ist die populärste die Produktivitätstheorie, die in zahlreichen Varianten vorkommt. Sie geht von der unzweifelhaften Tatsache aus, daß die mit Werkzeugen und namentlich Maschinen, d. h. mit „Kapital" bewaffnete Arbeit produktiver, d. h. ergiebiger ist, als die unbewaffnete Arbeit. Sie betrachtet den Mehrertrag als das Verdienst des Kapitals, der nun selbstverständlich dem Besitzer des Kapitals zufalle. Das ist aber durchaus nicht selbstverständlich! Freilich: wenn ein individueller Unternehmer eine technische Verbesserung einführt, so fließt der Mehrgewinn gerechterweise ihm als Lohn der bewiesenen höheren Qualifikation zu. Aber sofort setzt die Konkurrenz ein, senkt den Preis auf die Arbeitskosten, und d. h., daß dem Pionier der Ubergewinn bald wieder abgejagt ist. Diese Erklärung vermag also nur die Konjunkturgewinne abzuleiten, aber nicht den Kapitalprofit, der eine dauernde Erscheinung ist. Auf die Dauer und im Durchschnitt liegt die Sache folgendermaßen: Wenn der Unternehmer alle Dinge, die er für seine Produktion gebraucht, also Rohstoffe, Hilfsstoffe, Maschinen und Arbeitsleistungen nach ihrem Werte einkauft und das fertige Produkt nach seinem Werte verkauft, d. h. immer Arbeitsstunde gegen Arbeitsstunde tauscht, dann bleibt ihm als Gewinn der gesamten Operation nur der Lohn seiner eigenen Arbeit (der hoch sein kann, wenn er hoch qualifiziert ist), aber kein Pfennig Mehrwert, kein Pfennig Profit. Er muß also entweder sein fertiges Produkt über dem Wert verkaufen, oder irgend etwas, was zur Produktion nötig ist, unter seinem Wert einkaufen: sonst bleibt der Profit, der ja doch Tatsache ist, unerklärlich, und wir müßten mit verbesserten Mikroskopen nach Geschlechtsorganen des Kapitals von neuem suchen. Die erste Erklärung scheidet aus. Die Konkurrenz verhindert durchaus, daß ein Unternehmer sein Produkt über seinem Werte verkaufe, es sei denn, er besitze ein Patent oder dergleichen. Wür-

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den aber alle Unternehmer ihre Produkte mit dem gleichen Aufschlag verkaufen, so würde jeder von ihnen als Konsument genau soviel verlieren, wie er als Produzent gewann, und es würde wieder kein Mehrwert übrigbleiben. Der Unternehmer muß also irgend etwas unter seinem Werte einkaufen. Das können die Güter nicht sein, die er für seine Produktion braucht; denn die werden ja auch von Unternehmern hergestellt, werden also gleichfalls zu ihrem Werte nach ihrem Arbeitsgehalt verkauft; und so bleibt keine andere Möglichkeit, als daß der Unternehmer die Leistungen, die „Dienste", seiner Arbeiter und Angestellten unter ihrem Werte einkauft. Was ist denn der Wert der Arbeitsleistung? Die einfache Antwort, die schon Adam Smith gegeben hat, lautet „der natürliche Lohn des Arbeiters ist der Ertrag seiner Arbeit". Oder mit anderen Worten: Der Wert der Arbeit ist gleich ihrem Ertrage. Wenn der Unternehmer diesen Wert bezahlen würde, bliebe ihm offenbar wieder kein Mehrwert übrig. Wenn ein Unternehmer mit tausend Arbeitern, von denen jeder Produkte im Werte von 1.000 M. jährlich liefert, ein Gesamtprodukt im Werte von einer Million und 10.000 M. herstellt und jedem Arbeiter die 1.000 M. ausbezahlt, so bleiben ihm nicht mehr als 10.000 M. als gerechtes Entgelt seiner Arbeit als Leiter des Betriebes, aber kein Profit. Aber ebenso offenbar ist, daß der kapitalistische Unternehmer seinen Arbeitern nicht den vollen Wert ihrer Arbeit bezahlt. Wie ist das zu erklären? Die Advokaten der kapitalistischen Gesellschaft versuchten die Erklärung durch das sogenannte eherne Lohngesetz, das den Wert der Arbeit anders bestimmt, als es Adam Smith getan hatte. Sie betrachten Arbeit als eine Ware gleich jeder anderen und bestimmen iljren Wert gleich dem Wert jeder anderen Ware nach der in ihr steckenden Arbeit. Um zu arbeiten, sagen sie, braucht der Arbeiter eine gewisse Menge von Subsistenzmitteln an Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. In diesen Gütern steckt eine gewisse Menge von Arbeit; diese Menge bestimmt den Wert der Arbeitsleistung. Und dafür kann der Unternehmer sie kaufen. Die Theorie ist sicherlich falsch. Erstens ist sie unvereinbar mit der Smithschen Lehre, die prima vista richtig ist. Zweitens führt sie, an sich betrachtet, in unendliche Schwierigkeiten, weil das Ausmaß der Subsistenzmittel, die der Arbeiter verbraucht, je nach Ort, Zeit und Gewohnheit sehr verschieden ist und verschiedene Mengen von Arbeit enthält; drittens ist sie unlogisch: sie dreht sich im Zirkel, führt Arbeit auf Arbeit zurück. Es stecken noch andere Fehler darin, auf die ich nicht näher eingehen kann. Hier mag das Gesagte genügen, zumal die Theorie allseitig aufgegeben ist. Wir stehen also wieder vor dem alten Rätsel. Wie kann der Unternehmer die Arbeitsleistung unter ihrem Werte kaufen? Der Leser weiß die Antwort bereits. Weil der Arbeiter mit seinem Unternehmer unter einem Monopolverhältnis tauscht! Darum verkauft er seine Arbeitsleistung unter ihrem Werte, und darum kauft der Unternehmer sie unter ihrem Werte, ihrem vollen Ertrage. Der Arbeiter zahlt für das Lohngeld mit zuviel Arbeit, oder: er erhält für seine Arbeit zu wenig Lohngeld. Von hier aus fällt nun auch erklärendes Licht auf die Ursache, daß ein Darlehen Zins trägt. Das ist nämlich auch nicht „natürlich", so wenig, daß die katholische Kirche jahrhundertelang gegen den von ihr verurteilten Zins einen allerdings fruchtlosen Kampf führte. Auch der Zins ist der Mehrwert eines Monopols. Der Schuldner braucht das Geld dringender, als der Gläubiger den Wunsch hat, es los zu werden: zwischen ihnen besteht ein Monopolverhältnis. Die Sperrung des Bodens durch die Oberklasse hat die Arbeiterklasse, und dadurch zwischen oben und unten ein Klassenmonopolverhältnis geschaffen. Wer Boden besitzt, gleichviel ob als Eigentümer oder Mieter oder Pächter, gleichviel ob in der Landwirtschaft oder der Industrie, und außerdem einen Stamm produzierter Produktionsmittel, groß genug, um Arbeiter daran zu beschäftigen, ist Kapitalist und bezieht den Mehrwert des Profits. Da die Konkurrenz auf die Dauer innerhalb der Oberklasse die Profite, und innerhalb der Arbeiterklasse die Löhne ausgleichen muß,

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so treten überall dort, wo volle Freizügigkeit besteht, alle Arbeiter den Kapitalisten den gleichen Mehrwert ab. Das ist das ganze Geheimnis.

VI. Die Wanderung Wir haben behauptet und glauben bewiesen zu haben, daß der Ursitz des Kapitalismus in der Bodensperre oder in ihrer Rechtsform - jeder wirtschaftliche Inhalt hat sein rechtliches Gehäuse dem Großgrundeigentum, gesucht werden muß. Daß die Deutung richtig ist, wird nun nicht nur bewiesen durch die, wie wir hoffen, einwandfreie Logik des Verfahrens und die Möglichkeit, dadurch das verzweifeltste Problem unserer Wissenschaft auf das „eleganteste" zu lösen, sondern auch durch Tatsachen, die in jedermanns Besitz sind. Ich spreche von der Tatsache der Massenwanderung. Jedermann weiß, auch ohne ein statistisches Handbuch aufzuschlagen, daß überall in kapitalistischen Ländern eine massenhafte Wanderung des Landvolkes statt hat, die sich hartnäckig durch alle Jahrzehnte hindurch fortsetzt. Die Bewegung wird als Auswanderung bezeichnet, wenn sie über die politische Grenze des Heimatlandes hinausgeht, und als Abwanderung, wenn sie vom platten Lande in die Industriezentren des Heimatstaates erfolgt. Nun ist eine mäßige Wanderung von Landbewohnern in die Städte eine notwendige Erscheinung jeder wachsenden Volkswirtschaft. Ich kann hier nur andeuten, daß diese Erscheinung darauf beruht, daß die Agrarproduktion unter dem Gesetz der sinkenden, und die Industrieproduktion unter dem Gesetz der steigenden Erträge steht. Aber das Normale ist dennoch, daß auch das Land sich immer dichter bevölkert, weil der Hauptteil des Nachwuchses auf ihm wohnen bleibt. Was wir jedoch in allen kapitalistischen Staaten erleben, ist im höchsten Maße abnormal. Die Ausstrahlungszentren der Massenwanderung stoßen nicht nur ihren ganzen Nachwuchs ab, sondern verlieren darüber hinaus noch einen beträchtlichen Teil ihres Stammes, so daß sie heute überall viel dünner besiedelt sind, als zu Anfang der kapitalistischen Ära. Es hat lange gedauert, bis man sich die Dinge näher angeschaut hat. Man nahm einfach an, die Gegenden der Massenwanderung seien „übervölkert". Sogar Henry George, der mit Recht berühmte Prophet der Bodenreform, verfiel noch diesem naheliegendem Irrtum. Als man aber einmal hinsah, fand man die im höchsten Maße paradoxe Tatsache, daß gerade die am dünnsten bevölkerten Gebiete am stärksten „übervölkert" sein müssen: denn aus ihnen ergießt sich ohne Ende der Riesenstrom der Wanderung. Der erste, der Ursache und Wirkung in die richtige Verknüpfung brachte, war der deutsche Professor und Landwirt v. d. Goltz, der 1874 klipp und klar den Satz niederschrieb: JAit dem Umfang des Großgrundbesitzes parallel und mit dem Umfang des bäuerlichen Besitzes in umgekehrter Richtung geht die Auswanderung." Ich selbst habe die Tatsache zu illustrieren versucht durch den Satz: „Die Wanderbewegung aus verglichenen agrarischen Bezirken verhält sich wie das Quadrat des in ihnen enthaltenen Großgrundbesitzes." Einige Beispiele: in die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind im Laufe des 19. Jahrhunderts ungefähr 20 Millionen Menschen eingewandert. Woher kamen sie? Aus lauter Ländern des Großgrundbesitzes, während die Gebiete bäuerlicher Siedlung nur einzelne Tropfen in den Strom brachten. Die erste Welle kam aus Großbritannien, dem Lande der Latifundien par excellence, und hier namentlich aus Irland, wo sie die größte Ausbreitung und den furchtbarsten sozialen Einfluß hatten: hat doch die Grüne Insel im Anfang des 19. Jahrhunderts fast die Hälfte ihrer gesamten Bevölkerung ausgestoßen, trotz „kaninchenhafter Fruchtbarkeit". Die zweite Welle kam aus Deutschland, und zwar sandte der dichtbevölkerte, menschenreiche, aber vorwiegend von Kleinbauern

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besiedelte Westen und Süden nur etwa 1/2 Million, der äußerst dünn besiedelte, menschenarme, aber stark vom Großbesitz durchsetzte Osten aber 3 Millionen über den Atlantik. Dann kamen die Großgrundbesitzgebiete Polens, Rußlands, Ungarns, Galiziens, Süditaliens mit Millionen von Seelen, aber aus den dicht bevölkerten und menschenreichen Bauernländern Frankreichs, der Schweiz, Norditaliens, Dänemarks war die Auswanderung winzig. Noch deutlicher enthüllt sich das Gesetz, wenn man die Abwanderung in die Industriezentren betrachtet. Deutschlands Bevölkerung hat sich in dem letzten halben Jahrhundert vollkommen umgeschichtet. Absolut verloren hat der Großgrundbesitzbezirk Ostelbiens, schwach gewonnen haben die Großbauernbezirke des Nordwestens, stark verdichtet hat sich die Volkszahl überall auf den mittel- und kleinbäuerlichen Gebieten des Südens und Westens, und ganz ungeheuerlich angewachsen ist sie in den Städten und Industriebezirken: in Sachsen, Oberschlesien, dem Rheinlande und Westfalen. Eine einzige Zahl: zwischen 1885 und 1890 hat der Süden und Westen Deutschlands 13%, der Nordwesten 30%, der Osten 75% seines Geburtenüberschusses in die Industriebezirke anderer Provinzen oder Staaten Deutschlands abgegeben. Die Großgüter aber verloren, wie gesagt, mehr als 100% ihres Uberschusses überhaupt: sie verloren absolut an Menschen und sind heute nur mit 4 bis höchstens 30 Köpfen pro Quadratkilometer bevölkert, gegen mehr als 120 im Durchschnitt des Reiches und mehr als 300 in dem industriereichen ehemaligen Königreich Sachsen. Was war die Folge? Die Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen und darum auch nach industriellen Arbeitern vom Lande her war überall viel geringer, als wenn eine andere Besitzverteilung bestanden hätte, die das Volk auf dem Lande festgehalten hätte. Dagegen war das Angebot von Arbeit in den Städten abnorm stark - und daraus resultierte der Tiefstand der Löhne. Marx hat mit Recht erklärt, daß ohne das Vorhandensein einer großen „Reservearmee" unbeschäftigter Arbeiter der Kapitalismus nicht bestehen könne. Woher stammt die Reservearmee? Vom Lande, und zwar vom Großgüterbezirk und Großbauernbezirk, aus dem Gebiete der Bodensperrung, wo wenige Großbodenbesitzer den vielen Nichtbodenbesitzern als Monopolisten gegenüberstehen. Darum müssen sie ihre Arbeit unter ihrem Wert verkaufen und darum wandern sie fort, um irgendwo in der Welt eine Stelle zu finden, wo das Bodenmonopol nicht besteht, oder wo es wenigstens nicht die furchtbare Erpressermacht besitzt wie in ihrer Heimat. Sie wandern über See und in die Städte des eigenen Landes, bilden die Reservearmee, werfen Unzählige aus ihren Arbeitsstellen heraus und ziehen den Lohn aller herab, oder verlangsamen seinen Aufstieg. Das ist, nicht theoretisch deduziert, sondern nüchtern aus den Zahlen der Statistik herausgelesen, der Ursprung des Kapitalismus. Der Leser sieht, daß die Tatsachen die Deduktion Wort für Wort bestätigen. Und nun erwäge er, daß es der Kampf der nationalen Kapitalismen um den Weltmarkt gewesen ist, der diesen Weltkrieg entfesselt hat, ein Kampf, zu dem jeder Kapitalismus gezwungen ist, weil seine Arbeiter insgesamt ihr eigenes Erzeugnis insgesamt nicht zurückkaufen können, so daß ein wachsender Teil ins Ausland verkauft werden muß\ und er erwäge ferner, daß es die typische Psychologie unserer Adelsklasse war, ihre Hybris, die uns diesen Krieg so furchtbar hat verlieren lassen, und er wird erkennen, daß des Plinius trauriges Wort nicht nur für Rom und nicht nur für das Altertum gilt: „Latifundia Romam perdidere"! Wir sagten, daß überall dort auch die Besitzer von „Kapital" Mehrwert beziehen, wo das Landvolk die Freizügigkeit besitzt. Hier ist der statistische Beweis dafür. Und jetzt wird es verständlich sein, daß überall in der Welt der Kapitalismus erst einsetzt, nachdem die Leibeigenen befreit oder sonst bestehende Hindernisse des eigenen freien Zuges beseitigt sind: in England, in Deutschland, in Rußland, in Ungarn und Osterreich. Und er wird meine Definition annehmen, daß Kapitalismus überall besteht, wo zwei Dinge zusammentreffen: die Freizügigkeit und die Bodensperre. Noch ein Wort gegen einen oft gemachten Einwand: daß auch in Ländern ohne Großgrundeigentum Kapitalismus bestehe. Erstens gibt es solche Länder kaum. So ζ. B. ist die bodenbesitzlose

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Klasse in Frankreich kaum kleiner als in Deutschland: nur ist das Land an mehr Besitzer verteilt: das Großgrundeigentum ist durchschnittlich kleiner. Aber das hindert nicht, daß trotzdem aller Boden gesperrt ist, und schon das erklärt den Kapitalismus Frankreichs, der aber natürlich viel schwächer entwickelt ist. Das gleiche gilt von den Vereinigten Staaten, von Dänemark usw. Ferner aber wandern fremde Landproletarier auch in diese günstiger gestellten Länder massenhaft ein, steuern selbst Mehrwert und zwingen die einheimischen Landlosen auf ihr Niveau herab. Und drittens strömen auch die mit billiger Arbeit hergestellten auswärtigen Waren ein und verhindern die Nachfrage nach heimischer Arbeit, sich zu entfalten. Der Einwand ist also ohne Kraft.

VII. Die „reine Wirtschaft" Wir haben gezeigt, daß die statistische Beobachtung der Tatsachen, namentlich der imposanten Tatsachen der Massenwanderung, die hier vorgetragene Theorie des liberalen Sozialismus durchaus bestätigt. Wir werden jetzt zeigen, daß auch die Geschichte sie ebenso vollkommen bestätigt. Noch niemals, so sagten wir, hat die Menschheit eine Wirtschaft der völlig freien Konkurrenz gekannt. Der Satz bleibt bestehen. Wohl aber hat die Menschheit eine Wirtschaft der fast durchaus freien Konkurrenz gekannt und diese Zeit ist von höchstem Interesse. Es ist die Zeit des hohen Mittelalters in Westeuropa, namentlich in Deutschland, von etwa dem Jahre 1000 bis etwa 1370 n. Chr., eine Periode also von genügender Länge auf einer geographisch-soziologischen Basis von genügender Breite, um aus ihren Erscheinungen sichere Schlüsse zu ziehen. In der furchtbaren Zeit der letzten Karolinger ist überall in Westeuropa der Bauer zur Seltenheit geworden. Unendliche Fehden zwischen den einzelnen feudalen Machthabern im Innern der Reiche, unendliche Kriege zwischen den Reichen selbst, verbunden mit den Einfällen der slawischen und mongolischen Wildvölker von Osten, der Araber von Süden, der normannischen und sarazenischen Wikinger von allen Küsten aus, haben die Länder in Wüsteneien verwandelt, die Städte in Asche gelegt oder wenigstens in die äußerste Armut gestürzt und die schutzlose Bevölkerung des platten Landes fast vernichtet. Da alles Großgrundeigentum - wir haben es gezeigt - wertlos ist, wenn es keine Menschen gibt, die es bearbeiten, erhält der Bauer plötzlich hohen Wert und wird zum begehrtesten Gut, das man pfleglich behandelt. Jeder lokale Machthaber sucht die Hintersassen seiner Nachbarn zu sich herüber zu locken und bietet zu dem Zwecke Land zu niederem Zins und Freiheiten aller Art. Die Nachbarn müssen nicht nur folgen, sondern mehr bieten, um ihre kostbaren Arbeitskräfte und Wehrmänner nicht zu verlieren, und so kommt es zu einer Art von öffentlicher Auktion, in der der Bauer sich selbst an den Meistbietenden versteigert. Er erhebt sich dadurch aus äußerster Armut und Verachtung fast plötzlich zu großem Wohlstande und fast voller Freiheit. Nach der rechtspolitischen Seite hin werden seine Rechte und Pflichten in den Weistümern und Urbaren festgelegt. Aber viel wichtiger ist die wirtschaftliche Seite. Der bis dahin willkürliche und monopolistisch erpresserische Zins für sein Hufenland wird fest bestimmt, und zwar auf den äußerst niedrigen Satz, der dem großen Angebot von Siedlungsland und dem sehr kleinen Angebot von bäuerlicher Arbeitskraft entspricht. Der Bauer hat von Anfang an fast den vollen Ertrag seiner Arbeit, und der geringe Zins wird im Laufe der folgenden vier Jahrhunderte noch immer geringer: absolut, weil er eine bestimmte Menge von Münzen zu zahlen hat, deren Metallgehalt, dank der grandiosen Falschmünzerei der Fürsten, immer kleiner wird, und vor allem relativ, weil seine Akkererträge und noch mehr ihr Wert regelmäßig sehr stark wachsen, seit er in Freiheit und Selbstachtung für sich selbst, statt für den Kämmereiverwalter seines Lehnsherrn arbeitet.

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Was hier geschehen ist, ist klar genug. Das Monopol der Bodensperre ist gewaltsam gesprengt worden, weil die außerökonomische Gewalt in Form von Krieg, Fehde und Raub ihr Maß überspannt und den Arbeiterbestand unter diejenige Zahl heruntergebracht hat, bei der die Rechtsform des Großgrundeigentums ihren wirtschaftlichen Inhalt, das Mehrwert erpressende Klassenmonopolverhältnis, noch vor dem Verrinnen bewahren konnte. Das Großgrundeigentum ist zusammengebrochen und hat sich in die sozial harmlose Form der „Großgrundherrschaft" verwandelt, die sich von jener dadurch unterscheidet, daß beim Großgrundeigentum der Arbeiter, bei der Großgrundherrschaft aber der Eigentümer auf ein grundsätzlich nicht steigerungsfähiges Fixum gesetzt ist. Damit ist dem Volke sein ihm früher gewaltsam entrissenes Patrimonium und Produktionsmittel zurückgegeben. Ein ungeheueres Siedlungsgebiet steht ihm im Inlande und im Kolonialgebiet ostwärts der Elbe gegen einen bloßen „Rekognitionszins" zur freien Verfügung, viel mehr Land, als in irgend absehbarer Zeit besetzt werden kann. Der deutsche Pflug dringt denn auch bald bis nach Siebenbürgen, in die Zips und nach Rotrußland vor, nachdem er bis zum Njemen und, an der Donau abwärts, bis zur Enns und Leitha alles Slawenland dem Deutschtum erobert hat. Damit ist die Bedingung gegeben, auf der nach unserer theoretischen Rechnung eine brüderliche Wirtschaftgesellschaft der Freien und Gleichen stehen muß. Und in der Tat: sie erblüht auch sofort in einem Wachstum, dem nach dem enthusiastischen Worte des sehr vorsichtigen Gustav Schmoller kaum der amerikanische Aufschwung des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist - der, nebenbei gesagt, auf ganz ähnlicher Grundlage erfolgte. Städte erblühen zu vielen Hunderten, sämtlich von einer frei-trotzigen wehrhaften Bevölkerung von Handwerkern und Kaufleuten bewohnt; sie werden reicher und reicher, Handel und Verkehr entfalten sich in Glorie, die Gesamtbevölkerung Deutschlands in Stadt und Land wächst ins Gewaltige, und das Reich kann sich fortan seiner wilden Grenznachbarn nicht nur mit spielender Mühe erwehren, sondern hat die Kraft, sie erobernd zu unterwerfen und doch noch Hunderttausende in den Kreuzzügen zu verschwenden. Und dennoch: von Kapitalismus und Mehrwert keine Andeutung, auch nicht im städtischen Gewerbe, trotz allen technischen Aufschwungs. „Der Erwerbstrieb ist dem Mittelalter fremd", sagt Knapp, ohne diese für den modernen Menschen so auffallende Psychologie auf ihre objektive Ursache, die Nichtexistenz des Bodenmonopols, zurückführen zu können. (Das gleiche gilt für Sombart.) Wir kennen jetzt die Ursache: es gibt nirgend besitzlose Arbeiter, die von ihrem Produktionsmittel getrennt sind, daher kein Klassenmonopolverhältnis und keinen Mehrwert. Der junge Adept des Handwerks und des Kaufmannsberufs bleibt nur so lange als Lehrling oder junger Geselle bei seinem Meister, bis er glaubt, genug gelernt zu haben; dann macht er sich in aller Regel selbständig. Wo aber die Natur des Gewerbes die Kooperation in einem Betriebe erzwingt, so ζ. B. im Dom- und Schiffbau, im Bergwerk, da teilt sich der Meister den Ertrag; es gibt also kein Lohnsystem. Und das Handwerk hat goldenen Boden. Das wird bewiesen durch die Kultur jener Zeit, vor deren Resten in Architektur und Gerätekunst wir noch heute mit staunendem Neide stehen. Nur ein für unsere Begriffe unerhört reiches Volk konnte in den winzigen Städten jener Zeit - ein Hauptindustrieort wie Nürnberg hatte kaum mehr als 20.000, das seebeherrschende Haupt der Hansa, Lübeck, die Herrin Rußlands, Schwedens und Dänemarks, als die größte Stadt Deutschlands kaum 80.000 Einwohner - die gewaltigsten Dome, Münster und Rathäuser außer der Stadtbefestigung und den unzähligen reichen Häusern aufführen. Kurz: wir haben hier während fast vier voller Jahrhunderte die „reine Wirtschaft" in fast vollkommener Verwirklichung, die brüderliche, durch die „freie" Konkurrenz gesteuerte, aber durch keine „beschränkte" Konkurrenz verzerrte Gesellschaft der Freien und Gleichen; haben hier durch den Liberalismus verwirklichten Zustand des rationellen Sozialismus, und dazu einen Reichtum, vor dem wir mit nicht geringerem Neide und Erstaunen stehen als vor der Kunst der Zeit. Wir können die Lage des niederen Volkes aus den amtlichen Speisevorschriften der Zeit ablesen, die auch

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Wohlhabenden unserer Zeit, auch vor dem Hungerkriege, das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen. Es wäre vollkommen nicht nur die Volkswirtschaft, sondern die Gesellschaft der reinen Ökonomie gewesen, wenn nicht noch feudale Reste in ihr fortbestanden hätten: das Rentenrecht und vor allem die verfassungsmäßigen Privilegien der Seigneurs, der Grundherren, Landesherren, Vögte und Obermärker auf dem platten Lande und der Patrizier in den Städten. Solange freies Siedelland zur Verfügung stand, blieb das alles harmlos, wurde übrigens in durchaus erfolgreichen Kämpfen allmählich Stück für Stück abgebaut. Aber es lag doch dieses durch außerökonomische Gewalt dereinst geschaffene Recht wie eine lose Schlinge um den Hals der Nichtprivilegierten - und diese Schlinge konnte eines Tages wieder zugezogen werden und wurde zugezogen.

VIII. Der Untergang der reinen Wirtschaft Die Ursache des Untergangs jenes im vorigen Abschnitt kurz dargestellten Zeitalters, das wirtschaftlich und kulturlich gleich vorbildlich ist, waren jene Feudalrechte, die noch nicht abgebaut waren. Außerökonomische Gewalt griff wieder in den segensreichen Ablauf der freien Konkurrenz ein und verzerrte die Volkswirtschaft. Aber AtiAnlaß zu diesem traurigen Verfall war die Entwicklung der Geld-, Kredit- und Verkehrswirtschaft. Folgendes ist der Zusammenhang: Im Zentralgebiet der damaligen Weltwirtschaft, dem von allen Seiten her: aus China, Indien, der Levante, aus Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland und aus allen Ostseeländern Menschen und Waren zuströmten, in Flandern, hatte sich eine gewaltige Industrie, namentlich Wollindustrie, entwickelt, die eine überaus dichte, reiche Bevölkerung ernährte. Sie wuchs allmählich zu solcher Zahl an, daß sie von der Landwirtschaft des eigenen und der benachbarten Gebiete nicht mehr ernährt werden konnte, und mußte ihr Korn von immer weiter entfernten Erzeugungsgebieten beziehen. Diese Notwendigkeit verschärfte sich fast katastrophal nach der großen Pest, dem „schwarzen Tode" von 1349/51. Damals war, wie die gesamte Bevölkerung, auch die Landarbeiterklasse weit mehr als dezimiert worden: man rechnet, daß ungefähr ein Drittel der Bevölkerung gestorben war. Die Folge war nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage ein sprunghaftes Ansteigen der Landarbeiterlöhne und entsprechender Fall des agrarischen Mehrwerts. Da halfen sich die Feudalherren Englands, wo man bekanntlich, dank dem feuchten Klima, fast überall Weiden anlegen kann, in der Weise, daß sie massenhaft ihre Bauern expropriierten, ihre Arbeiter entließen und Ackerland in Weide niederlegten. Das brachte ihnen den doppelten Vorteil, daß sie an Löhnen sparten - denn Weidebetrieb braucht viel weniger Menschen als Ackerbau - und daß sie gleichzeitig für ihre feine Wolle in Flandern einen gut zahlenden Markt fanden. Von da an wurde England immer mehr das unheimliche Land, „wo die Schafe die Menschen fressen", wie Thomas Morus in seiner Utopia sagt. Erhielt Flandern jetzt mehr Wolle, so erhielt es dafür um so weniger Korn und mußte von fernerher beziehen. Ein gewaltiger Kornhandel erblüht, der das nächstgelegene, bisher kaum angebrauchte Produktionsgebiet erschließt, die Ostseeländer, von der Küste den Flüssen aufwärts landeinwärts. Mecklenburg, Pommern, Brandenburg, Polen, die Baltenländer werden im größten Maßstab Getreideexportgebiete. Und damit verwandelt sich, wie Knapp glücklich sagt, der Ritter in den Rittergutsbesitzer. Der Ritter war ein feudaler Großgrundbesitzer, dessen gesellschaftliche Existenz darauf beruhte, daß auf seinem Land möglichst viele möglichst kräftige und ihm möglichst ergebene Bauern saßen, die ihn mit ihren Naturalabgaben und geringen Geldzinsen ernährten und ihm im Falle einer Fehde

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als willige Krieger treu zur Seite standen. Jetzt erreicht ihn die Geldwirtschaft und verführt ihn mit lockenden Luxuswaren. Und damit schlägt sein Interesse um. Jetzt besteht es darin, möglichst viel Getreide zu verkaufen. Und dazu gibt es nur ein Mittel: möglichst viel Land zu nehmen, dieses Land mit so wenig Arbeitern wie möglich, d. h. unter äußerster Ausnützung des einzelnen, mit Getreide zu bestellen, und so viel wie möglich davon zu verkaufen, d. h. seinen Arbeitern möglichst wenig davon zu essen zu geben. Und so entsteht überall im „Kolonialgebiet" östlich der Elbe und in den Slawenländern der Rittergutsbesitzer. Der Adel sperrt plötzlich alles noch unbebaute Land, monopolisiert es für sich, läßt keine freien Siedler gegen geringen Zins mehr zu - und das Klassenmonopolverhältnis ist wieder hergestellt, die Großgrundherrschaft wieder in das Großgrundeigentum verwandelt. Wo der Prozeß den Herren zu lange dauert, der Bauer nicht schnell genug mürbe wird, hilft offene Gewalt und krasser Rechtsbruch ihn beschleunigen: nach wenigen Jahrzehnten ist der Bauer überall ein armseliger, schwer bedrückter, hart fronender Knecht; je weiter nach Osten, um so mehr nähert sich seine Stellung der des Sklaven im antiken Sinne. Sofort setzt die Massenwanderung ein, schwellt die Städte an, schiebt unter den dritten Stand der Handwerker und Kleinhändler, der bisher die Basis der gesellschaftlichen Pyramide bildete, einen vierten Stand habloser Proletarier, eine starke „Reservearmee": und sofort erblüht der städtische Kapitalismus. Das bisher ungetrübte Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen wird feindlich; Streiks brechen aus, die Löhne sinken, das Lohnsystem wird auch in größeren Betrieben die Regel, ζ. B. im Bergbau, wo die „Gewerken" Kapitalisten werden, Kuxenbesitzer, während gemietete Proletarier im Schacht arbeiten. Der Gesellenstand, bisher ein Durchgangszustand junger, noch nicht völlig ausgebildeter Kräfte, wird zum Dauerberuf; denn die bisher jedermann offenen Zünfte sperren sich nun gleichfalls gegen allen Zugang, monopolisieren das Gewerbe durch immer neue Erschwernisse, die, früher unbekannt, erst jetzt auftauchen: Lehrjahre, Gesellenjahre, Mutjahre, Wanderjahre, Gesellenstück, Meisterstück, Meisteressen usw. Das Bodenmonopol bringt als seine Frucht das Kapitalmonopol. Und nun häuft sich in den Händen einzelner Unternehmer ein ungeheures Vermögen aus Mehrwert. In der reinen Ökonomie hat es Vermögensunterschiede von Belang kaum gegeben, obgleich Feudaladel und städtisches Patriziat noch ihr Einkommen aus Grundzins hatten: jetzt bringen Industrie, Bergbau, Großhandel und Bankiergewerbe einzelnen Vermögen von solcher Riesenhaftigkeit, daß sie sich neben denen der heutigen Geldkönige Nordamerikas wohl sehen lassen können. Die Fugger sind die Bankiers aller Staaten, die Welser senden eine kriegerische Expedition nach Venezuela, die Römer in Chemnitz sind ungeheuer reiche Bergwerksbesitzer. Und das Gegenstück dazu ist unten wachsende Armut und Erbitterung; der Bauer im Westen versucht, von Ende des 15. Jahrhunderts an, den unerträglich gewordenen Druck von sich abzuwälzen und namentlich die ihm gestohlenen Landreserven, die Wälder und Weiden, wieder zu erlangen. Und mit diesem agrarischen Sozialismus mischt sich der typische proletarische, kommunistische Sozialismus des neu entstandenen, in den Städten massenhaft zusammengehudelten Proletariats, bis 1524 im großen Bauernkriege beide Bewegungen losbrechen und in Mülhausen (Thomas Münzer) und später in Münster (Johann von Leyden) ihre großartige und furchtbare Entwicklungshöhe erleben. Jetzt kann die Volksmasse nicht mehr mit ihrem Lohn zurückkaufen, was sie an Gütern erzeugt hat, und der Export wird zur Notwendigkeit. Die Seefahrt muß entwickelt werden, der Seeweg nach Ostindien, Amerika wird entdeckt, der Kampf der nationalen Bourgeoisien um den Weltmarkt beginnt, Skandinavien und Rußland befreien sich von der Herrschaft der Hansa, England wird sogar aggressiv und dringt mit seinen Merchant-Adventures in den lukrativen Ostseehandel ein, von dem es bisher ausgesperrt war. Und zuletzt bricht Deutschland, von inneren Kämpfen zerrissen, von einer Koalition seiner sämtlichen Nachbarn niedergerungen, ganz zusammen und sinkt auf Jahrhunderte in Armut und Schmach.

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Inzwischen haben die Rittergutsbesitzer des Ostens gemerkt, daß ihr Mehrwert ihnen verrinnt, wenn der beraubte Bauer seine Freizügigkeit behält: dann wandert er fort. Und darum bindet man ihn fester an die Scholle, bis der Erbuntertan, der Leibeigene, hier und da (in den „Adelsrepubliken" Ostholstein, Mecklenburg, Pommern, Polen, den Baltenländern, wo überall eine starke Königsgewalt fehlte) der völlig rechtlose Sklave aus dem einst so stolzen freien deutschen Bauern geworden war. Und damit ist denn auch der städtische Kapitalismus erwürgt: denn er kann, so sagte uns die Theorie, und die Geschichte bestätigt auch hier wieder das logische Denken, nur dort bestehen, wo Bodensperre und Freizügigkeit nebeneinander bestehen. Und erst die Revolutionsperiode löst die bäuerlichen Fesseln, stellt die Freizügigkeit wieder her und ruft den deutschen Kapitalismus wieder ins Leben. So fiel die „reine Wirtschaft" des hohen Mittelalters: durch den Eingriff außerökonomischer Gewalt in die Wirtschaft der wirklich freien Konkurrenz. So entstand das Großgrundeigentum Osteuropas durch die Sperrung eines ungeheuer weiten, sehr menschenarmen Gebietes, und so der moderne Kapitalismus. Die Geschichte bestätigt die wissenschaftliche Deduktion ebenso vollkommen wie die moderne Statistik. Sie bestätigt uns, daß die Aufliebung der Bodensperrung aus einer kranken Volkswirtschaft eine blühend gesunde der wirklich freien Konkurrenz, und daß die Wiedereinführung der Bodensperrung aus einer blühend gesunden reinen Wirtschaft die todkranke der beschränkten Konkurrenz, des Kapitalismus, macht. Und all das bestätigt uns auch Karl Marx!

IX. Bestätigung durch Karl Marx Wir haben bereits gesagt, daß die hier vorgetragene Theorie wortwörtlich mit den Anschauungen der größten Autorität des Liberalismus übereinstimmt, des Vaters der Nationalökonomie, Adam Smith. Jetzt wollen wir zeigen, daß sie auch Satz für Satz durch die größte Autorität des Sozialismus, durch Karl Marx, bestätigt wird. Um viele Sätze handelt es sich ja nicht. Die Theorie ist von äußerster Einfachheit, und nichts scheint ihrer Annahme durch die Wissenschaft bisher so hinderlich im Wege gestanden zu haben als gerade diese Einfachheit. Die bisherigen Theorien, die sie verdrängen will, mußten, da sie sämtlich falsch waren, durch ein ganzes, überaus kompliziertes und ausgedehntes System von Hilfskonstruktionen und logisch bedenklichen Schlüssen ihr Ziel der Erklärung zu erreichen suchen. Ein solches System in sich aufzunehmen, samt den Sätzen, die nun wieder der Abwehr anderer, ebenso komplizierter, ebenso falscher Systeme dienen, kostet lange harte geduldige Arbeit. Und dieses Wissen ist ein teurer Besitz, den man eifersüchtig verteidigt. „Die Kapitalisten des Geistes sträuben sich gegen ihre Expropriation", schrieb ich kürzlich. Sie wollen und können nicht zugeben, daß es für ein so lange umkämpftes und als überaus schwierig betrachtetes Problem eine Lösung von solcher geradezu beleidigenden Einfachheit geben könne. Und einfach ist meine Lösung in der Tat. Sie besteht nur aus drei Sätzen. Erstens: Wo unter einem Monopolverhältnis getauscht wird, erhält der Monopolist mehr, sein Kontrahent aber weniger Arbeitswert. Zweitens: Zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse besteht ein gesellschaftliches, ein Klassenmonopolverhältnis. Drittens: Dieses gesellschaftliche Verhältnis beruht auf der Monopolisierung des Grund und Bodens. Alle drei Sätze lassen sich aus Marx selbst beweisen.

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Erstens: Im dritten Bande des „Kapital"1 steht wörtlich folgendes: „Damit die Preise, wozu Waren sich gegeneinander austauschen, ihren Werten annähernd entsprechen, ist nichts nötig als (...) daß kein natürliches oder künstliches Monopol eine der kontrahierenden Seite befähige, über den Wert zu verkaufen, oder sie zwinge, unter ihm loszuschlagen." Zweitens: Daß zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse ein gesellschaftliches Klassenverhältnis besteht, hat Karl Marx als erster erkannt. Diese Erkenntnis stellt die fragende Säule seiner gesamten Theorie dar und ist in der Tat die gewaltigste Leistung der bisherigen nationalökonomischen Wissenschaft. Wir sagten schon, daß erst Karl Marx die Lösung des Rätsels geglückt ist, wie der Kapitalprofit entsteht. Alle seine Vorgänger - und leider auch die meisten seiner Nachfolger - glaubten, das Kapital bestehe aus irgendwelchen Sachen: erst Karl Marx hatte die ungeheuere Geisteskraft, hinter den Schleier der Isis zu blicken und zu erkennen, daß das Kapital ein gesellschaftliches Klassenverhältnis ist. Er sagt wörtlich „Ein Neger ist ein Neger; in bestimmtem Verhältnis wird er erst zum Sklaven. Eine Baumwollmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zum Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital wie Gold an und für sich Geld, oder der Zucker der Zuckerpreis ist." Und an anderer Stelle: „Das Kapital ist nicht eine Sache, sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen." 2 Dieses „gesellschaftliche Kapitalverhältnis" besteht nach Marx dann, wenn am einen Pole der gesellschaftlichen Stufenleiter sich alle Produktionsmittel im Eigentum einer Minderheit befinden, während am anderen Pole sich „der freie Arbeiter auf dem Weltmarkt vorfindet, frei in dem Doppelsinne, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andere Ware nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen". Ist denn nun dieses gesellschaftliche Kapitalverhältnis ein Monopolverhältnis? Marx nennt es nicht so. Aber er beschreibt es unzweideutig als solches. Nur, weil der Arbeiter „frei" ist, weil er keine Sachen hat, um seine Arbeitskraft im eigenen Interesse als Selbständiger zu verwirklichen, weil die „Hungerpeitsche" über ihm schwebt, nur deshalb ist er gezwungen, sich einem der Kapitalisten gegen einen Lohn zu verdingen, der jenem einen Mehrwert übrig läßt: wir haben also hier die „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die alle Monopolverhältnisse, individuelle und gesellschaftliche, charaktersiert. Wenn aber noch ein Zweifel bestehen sollte, so mag ihn das Erfurter Pogramm zerstreuen. Hier steht in den beiden ersten Ansätzen wörtlich: „indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel..." Drittens: Da Marx das gesellschaftliche Kapitalverhältnis nicht als Monopolverhältnis bezeichnet, so kann er natürlich auch nicht ausdrücklich vom Bodenmonopol sprechen. Aber er erklärt dafür ausdrücklich, und zwar im ersten Band des „Kapital", im Schlußkapitel unter dem Titel: „Die moderne Kolonisationstheorie", daß der Kapitalismus nicht existieren kann, wo freier Boden existiert. Er macht sich über Wakefield lustig, der gar nicht verstehen kann, „daß in den Kolonien das Eigentum an Geld, Lebensmittel, Maschinen und anderen Produktionsmitteln einen Menschen noch nicht zum Kapitalisten stempelt, wenn die Ergänzung fehlt, der Lohnarbeiter, der andere Mensch, der sich selbst freiwillig zu verkaufen gezwungen ist (...)." Herr Peel, jammert er uns vor, nahm Lebensmittel und Produktionmittel zum Belauf von 50.000 Pfund Sterlin aus England nach dem Swan River, Neu Holland, mit. Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3.000 Personen der arbeitenden Klasse mitzubringen. Einmal am Bestimmungs-

1 Vgl. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 3 Bde., 4. Aufl., Berlin 1890. 1. Hlb., S. 156. 2 Vgl. ebenda, S. 731.

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platz angelangt, blieb Herr Peel ohne einen Diener, sein Bett zu machen, oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River. „Die Zufuhr von Lohnarbeit, klagt Wakefield, ist weder beständig, noch regelmäßig, noch genügend. Sie ist stets nicht nur zu klein, sondern unsicher. Obgleich das zwischen Arbeiter und Kapitalisten zu teilende Produkt groß ist, nimmt der Arbeiter einen so großen Teil, daß er rasch ein Kapitalist wird (...). Dagegen können wenige, selbst, wenn sie ungewöhnlich lange leben, große Reichtumsmassen akkumulieren. Importierte Lohnarbeiter hören bald auf, Lohnarbeiter zu sein, sie verwandeln sich bald in unabhängige Bauern oder gar in Konkurrenten ihrer alten Meister auf dem Lohnarbeitsmarkt selbst." Marx bestätigt das alles als richtig. Er erklärt, daß es in einer freien Kolonie keinen Kapitalismus geben kann. Er sagt: „Die Expropriation der Volksmasse vom Grund und Boden bildet die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise. Das Wesen einer freien Kolonie besteht umgekehrt darin, daß die Masse des Bodens (...) Volkseigentum ist, und jeder Ansiedler daher einen Teil davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Ansiedler an derselben Operation zu verhindern (...). Die absolute Bevölkerung wächst hier viel stärker als im Mutterlande, indem viele Arbeiter erwachsen auf die Welt kommen, und dennoch ist der Arbeitsmarkt stets untervoll. Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Solange aber der Arbeiter für sich akkumulieren kann, und das kann er, solange er Eigentümer seiner Produktionsmittel bleibt, ist die kapitalistische Akkumulation und die kapitalistische Produktionsweise unmöglich." Karl Kautsky sagt dazu in seinem Kommentar ohne Umschweife: „Damit hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein. Sie verwerten sich nicht." Mir scheint, daß die sachliche Ubereinstimmung vollkommen ist. Wo kein Bodenmonopol besteht, gibt es kein Kapital und keinen Kapitalismus. Das sage ich und das sagen, nur mit ein bißchen anderen Worten, auch Marx und sein Schüler Kautsky. Somit haben wir für unsere Auffassung folgende Bürgen: die Logik, die geschichtliche Beobachtung der Vergangenheit, die statistische Beobachtung der Gegenwart und die größten Autoritäten sowohl des Liberalismus, wie des Sozialismus. Mehr Bürgschaften dürften nicht zu fordern sein. Aus diesen theoretischen Erwägungen ergibt sich - und nur das konnte uns dazu berechtigen, in solcher Notzeit Theorie vorzutragen - eine praktische Lösung, die gerade so einfach ist wie die Theorie selbst. Es ist nichts weiter nötig, als Deutschland in eine freie Kolonie zu verwandeln. Und nichts ist leichter als das.

X. Deutschland als „freie Kolonie" Es hat schon früher zahlreiche Denker über die soziale Frage gegeben, die zu der Uberzeugung gelangten, daß die Krankheit der Gesellschaft irgendwie mit dem Privateigentum an Grund und Boden zusammenhänge. Das waren und sind - die Agrarsozialisten und Bodenreformer, deren größter Meister der Amerikaner Henry George ist. Diese Denker kamen von ihrem Standpunkt aus zu der praktischen Folgerung, man müsse allen Grund und Boden „nationalisieren" oder „vergesellschaften" oder man müsse durch Wegsteuerung des Mehrwerts vom Bodeneigentum die Fessel der Volkswirtschaft sprengen. Auch heute wieder erschallt aus den Kreisen des Sozialismus fast von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken der Ruf, vor allen Dingen einmal allen Grund und Boden zu enteignen.

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Diese praktische Folgerung ist - sehr unpraktisch. Sie ist es zunächst politisch, weil sie die doch trotz alledem unendlich zahlreiche Klasse der sämtlichen Bodeneigentümer gegen sich hat; es gibt in der deutschen Landwirtschaft allein fast 2 1/2 Millionen von „Hauptbetrieben", die fast durchaus von Eigentümern bewirtschaftet werden, und unter den 3 1/4 Millionen „Nebenbetrieben" auch noch zahllose Eigentumsbetriebe. Und dazu kommen viele Hunderttausende von städtischen Grundbesitzern. Diese an sich schon sehr stattliche Zahl von natürlichen Gegnern der Reform hat aber außerdem auch noch einen politischen Einfluß, der viel stärker ist als ihre Zahl. Der Vorschlag ist aber auch unpraktisch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus. Wirtschaften heißt: sein Ziel mit dem möglichst kleinsten Aufwande von Kraft und Geld erreichen. Das Ziel muß sein, das Bodenmonopol zu sprengen. Dazu aber bedarf es der Vergesellschaftung des ganzen Bodens nicht im mindesten, man kommt mit viel geringeren und sanfteren Maßnahmen zum Ziel. Um ein Bild zu brauchen: die Agrarsozialisten wollen ein unangenehmes Geschwür herausschneiden, das ist umständlich und gefährlich; es genügt, es aufzustechen. Die Überlegung lehrt, und die Wirtschaftsgeschichte hat es uns zweimal bestätigt - einmal im Deutschland des 10. Jahrhunderts, das durch Krieg und Fehde entvölkert war, und einmal im England des 14. Jahrhunderts, das durch die Pest entvölkert war -, daß die Landarbeiterschaft nicht unter eine gewisse Zahl sinken darf, ohne daß das Großgrundeigentum seinen wirtschaftlichen Inhalt, den Mehrwert, ausrinnen läßt, wie ein geschlitzter Luftballon sein Gas, und zusammenbricht - wenn ihm nicht außerökonomische Gewalt aufhilft. Daraus folgt, daß nichts weiter nötig ist, als so viel Boden in „Volkseigentum" zu verwandeln, daß jeder Landarbeiter, der dazu Neigung empfindet, ein Stück Land „in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Ansiedler an derselben Operation zu verhindern". Dann ist Deutschland in eine „freie Kolonie" verwandelt und, wie Kautsky lehrt, „hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein". Dazu aber ist unter den geschilderten Umständen nur eine verhältnismäßig sehr kleine Bodenfläche erforderlich. Ein bis zwei Millionen Hektar dürften für den Anfang völlig genügen; und die sind aus Domänen, aus Apanage- und Hausgütern der frühen Fürstlichkeiten und, freihändig, auf Grund eines zweckmäßig gestalteten Vorkaufsrechts des Reiches an allem zum Verkauf ausgeboteten Besitz über 20 ha wahrscheinlich sehr bald zu haben. Außerdem gibt es in Deutschland 1,6 Millionen ha ausgezeichneten Moorlandes, das sehr schnell zur Ansiedlung bereitet werden kann, und noch viel größere Flächen geringer Weiden und Ödländer, die nur der Kultur bedürfen, um Hunderttausende von Ansiedlern zu ernähren. Damit ist der Abszeß aufgestochen. In dem Maße, wie ein Landarbeiter nach dem anderen ein Stück Boden „in sein individuelles Produktionsmittel verwandelt", steigt der Lohn noch mehr, und werden neue Großbetriebe unhaltbar, die das Reich zu billigen Preisen kaufen kann und wird, um nicht in einem katastrophalen Zusammenbruch die unzähligen kleinen Pfandbriefinhaber zu ruinieren. Bald kann es keinen einzigen Großbesitz geben, der nicht auf irgend eine Weise „vergesellschaftet" ist: als Staatsdomäne, als Dorfschaft auf parzelliertem ehemaligen Gutslande oder als Genossenschaft oder Anteilswirtschaft. Damit ist der agrarische Kapitalismus für uns praktisch gerade so erledigt, wie er es schon früher theoretisch war. Sofort folgt der städtische Kapitalismus, zuerst in seiner Gestalt als städtisches Bodenmonopol, d. h. als spekulativer Terrainbesitz. (Der wenigstens ist unbestritten ein Monopol. Alle Schulen der Wissenschaft, auch die bürgerlichen, sind hier einmal einig.) Jede Terrainspekulation eskomptiert die bisher als unveränderlich gegebene Tatsache des gewaltigen Wachstums der großen Industriezentren durch die Zuwanderung von Landproletariern. Denn der Einstandspreis wächst durch Steuern und vor allem durch Zinseszins derart lawinenartig an, daß keine Spekulation möglich ist, wenn der Wiederverkauf nicht in relativ kurzer Zeit als gesichert angenommen werden kann. Diese Voraussetzung entfällt jetzt. Die Städte wachsen nur noch langsam, wenn überhaupt noch. Denn es

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gibt kein Großgrundeigentum und daher keine Massenwanderung mehr. Im Gegenteil werden zuerst viele städtische Arbeiter aufs Land zurückwandern, um Grundstücke zu nehmen und sich als Landwirte oder als Handwerker in den Dörfern oder den kleinen Landstädten niederzulassen, die bekanntlich außerordentlich schnell an Zahl und Wohlstand zunehmen, sobald sie, statt von Rittergütern, von Bauernschaften umgeben sind. Denn der große Herr deckt seinen Bedarf in der Großstadt, der Bauer in der benachbarten Kleinstadt, in der er zu Markte fährt. Das ist durch die Erfahrung der preußischen Ansiedlungskommission ohne Widerspruch bewiesen worden. Der spekulative Terrainbesitz bricht also fast augenblicklich zusammen: ein klarer Beweis dafür, daß die großartige Maßnahme der „Nationalisierung" allen Landen überflüssig ist, und daß viel kleinere und unscheinbare Maßregeln das gewaltige Ziel ebenso sicher erreichen. Wo der Staat, wie um Berlin herum, wo er 1.500 ha günstig gelegenes Baulandes besitzt, in der Lage ist, selbst sofort Terrain zum Ackerwert von wenigen Pfennigen für den Quadratmeter zur Verfügung zu stellen, ist alles Terrain in Privatbesitz sofort ebenso billig zu haben, zumal die Republik mit Steuern auf diese im höchsten Maße unsoziale Machtposition wahrlich nicht zaghaft vorgehen würde. Und was wird nun aus der eigentlichen Zitadelle des Kapitalismus, aus dem Unternehmerprofit?

XI. Die Götzendämmerung des Unternehmerprofits Was wird in der „freien Kolonie" Deutschlands aus dem Unternehmerprofit? Wenn die Geschichte nicht lügt, und Marx' Logik ebenso Stich hält wie unsere eigene, muß er alsbald verschwinden, wenn die Bodenspeere gesprengt ist. Wohlgemerkt: der Profit, nicht aber etwa der gesamte Gewinn des Unternehmers. Der Gewinn besteht aus drei Bestandteilen, die sorgfältig unterschieden werden müssen. Der erste ist der reine Monopolgewinn, der Profit im eigentlichen Sinne: den kann keine Macht mehr halten. Der zweite ist der Unternehmerlohn, der gerechte Entgelt qualifizierter Arbeit. Der bleibt und mag zuerst sogar in voller Parallelität zu dem Lohn der Arbeiter und dem Gehalt der Angestellten mitsteigen, bis bessere Schulbildung die Anzahl der Qualifizierten genügend vermehrt haben wird. Der dritte Bestandteil des Unternehmergewinns ist der Konjunkturgewinn, der zum großen Teile der Lohn einer noch viel höheren Qualifikation ist, nämlich der Fähigkeit und des Mutes, der Produktion und dem Handel und Verkehr neue Wege zu bahnen, neue ertragreiche Formen der Technik und der Organisation auszubilden, neue Bedürfnisse zu erkunden und zu wecken und dadurch das Leben zu bereichern. Wenn der Profit eine reine Ausbeutungsposition und daher gesellschaftsfeindlich ist, sind der Lohn des Unternehmers und sein Konjunkturgewinn für Pionierleistungen im höchsten Maße allgemeinnützlich und gerechte Gegenleistung für gesellschaftliche Leistung, Wert gegen Wert. Ich lege auf diese Feststellungen das allergrößte Gewicht, obgleich ich weiß, daß sie den Extremisten von links ebenso widrig in die Ohren gellen werden, wie das Verdammungsurteil über den nackten Profit den Extremisten von rechts. Es ist ein Jammer, daß man sich nicht längst auf der mittleren Linie verständigt hat, die die Wissenschaft zeigt: jetzt sollten die Unternehmer jedenfalls entschlossen auf den Profit verzichten, die Arbeiter aber sollten zu ihrem eigenen Nutzen ihnen unverkürzt gönnen, was sie gerechterweise zu fordern haben, ihren Unternehmerlohn als Verwalter, und ihren Konjunkturgewinn als Vermehrer und Verbesserer des nationalen Werkgutes. Der Profit aber ist geliefert. Die Reservearmee ist aus den Städten verschwunden, der Nachwuchs der Landbevölkerung bleibt, festgehalten durch die Gunst der Zeit, die jedem Selbständigkeit gibt, fast ganz auf der Scholle. Das Angebot auf dem Arbeitsmarkt sinkt zuerst absolut durch die Rückwanderung aufs Land, aber die Nachfrage nach städtischen Produkten, und d. h. ja: nach indu-

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striellen Arbeitern steigt enorm. Das Land besiedelt sich mit der größten Geschwindigkeit, seit der Sturz des Bodenpreises dorthin ein starkes Gefalle geschaffen hat. Nicht nur der Landarbeiter wird seßhaft, nein, auch der Parzellen-, der Zwerg- und der Kleinbauer verkauft in Massen sein Eigentum an Nachbarn, die dadurch endlich Land genug zur Selbständigkeit erhalten, und verwandelt das zur Verfügung stehende ehemalige Großgrundeigentum „in sein individuelles Produktionsmittel". Hunderttausende von Bauerngehöften, Hunderttausende von kleinen Arbeitsgehöften, Zehntausende von Handwerkerstellen werden neu errichtet und verlangen Baumaterial und Bauarbeit aller Art in erhöhten Mengen; Straßen, Chausseen, Eisenbahnen, Telegraphen und Telephonlinien müssen neu erbaut werden: die neuen Siedler brauchen Hausgerät und lebendes und totes Inventar in ungeheueren Massen. Eisenbahnbau, Waggon- und Lokomotivbau, Bau von Fluß- und Seeschiffen sind in Hochkonjunktur, weil gigantische Mengen von Waren bewegt werden müssen. Die Industrie in allen ihren Zweigen und Handel und Verkehr wissen sich vor drängenden Aufträgen nicht zu bergen; sie bestellen in Massen Arbeit und Lohn sparende Maschinen und vermehren dadurch nur die Nachfrage nach Arbeitern ins Kolossale. Unter solchen Umständen: stark gesunkenes Angebot bei dringendster Nachfrage, „ist die Konkurrenz ganz auf Seiten der Unternehmer"; zwei Unternehmer laufen jetzt immer einem Arbeiter nach und überbieten sich, statt daß, wie bisher, immer zwei Arbeiter einem Unternehmer nachlaufen und sich unterbieten. Unter diesen Umständen muß der Arbeiter den vollen Wert seiner Arbeit erhalten, und der Mehrwert verschwinden. Noch ehe das ganz vollendet ist, hat der Arbeiter seine Kinder vom Arbeitsmarkte zurückgezogen: er braucht jetzt ihren Verdienst nicht mehr und läßt sie etwas lernen. Eine riesige Armee von Arbeitskräften kommt vier, fünf Jahre später und kommt qualifiziert, nicht mehr als Ungelernte, sondern als Gelernte, zur Einstellung. Der Arbeiter zieht seine Frau, und viele ziehen ihre Töchter aus der Fabrik und dem Warenhaus zurück; sie haben es nicht mehr nötig, „Weib und Kind unter den Dschaggernaut-Wagen des Kapitals zu schleudern" (Marx). Im Gegenteil: auf dem völlig entwerteten, ehemaligen Spekulationsgelände um die Städte herum sind überall Gartenstädte entstanden, in denen der Arbeiter ein besseres Heim gefunden hat, als in den entsetzlichen Mietskasernen, dem greulichen Wappenzeichen des Kapitalismus; und in den Gärten finden Frauen und Kinder einträglichere, gesundere und freudigere Arbeit als an der Nähmaschine oder hinter dem Ladentisch. Wieder sinkt die „aktive Arbeitsarmee" um Hunderttausende, vielleicht um Millionen, und der Lohn steigt wieder, bis aller Mehrwert verschlungen ist. Dabei aber wächst der allgemeine Reichtum ins Ungeheuere. Denn jetzt ist jeder Arbeiter mit ungleich wirksamerer Maschinerie bewaffnet, als je zuvor. Dutzende von Sklaven aus Stahl, die mit ein wenig Kohle und Schmieröl gesättigt werden und nicht leiden, wenn sie arbeiten, stehen neben jedem Bürger der neuen Zeit, vielmal mehr als neben dem reichen Sklavenhalter des Altertums und das gesellschaftliche Produkt wächst ins Unermeßliche. Und wird gerecht verteilt! Und darum steht auf dieser Grundlage der Freiheit und Gleichheit auch die Brüderlichkeit der durch kein Monopol mehr gegeneinander gehetzten Menschen und Völker. Und alle Werke der Kultur wachsen kraftvoll aus diesem tiefen und von Schädlingen gesäuberten Mutterboden und tragen die herrlichsten Blüten und Früchte in Kunst und Wissenschaft. Was die reine Wirtschaft des Mittelalters mit bloßer Handarbeit zuwege brachte, das wird das von seinen unzähligen Stahlsklaven bediente Volk der Zukunft hundertfach übertreffen. Aber, so fragen mich oft sogar Marxisten, die es besser wissen sollten: wird denn nicht der Unternehmer die Preise entsprechend erhöhen, wenn die Löhne steigen? Darauf erwidert die Theorie, daß nicht der Unternehmer, sondern die Konkurrenz die Preise festsetzt, und so festsetzt, daß jenem kein Mehrwert bleiben kann, wenn er die Arbeit nicht mehr unter ihrem Wert kaufen kann, seit das Klassenmonopol in den Orkus gesunken ist. Und ein anderes „Aber": Werden die Kapitalisten keine Gegenmaßregeln versuchen? Werden sie nicht wieder außerökonomische Gewalt anwenden, den Staat zu Hilfe rufen, das Parlament bestechen?

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Das ist eine Anwendung der berühmten Geschichte von der Meuterei, wo der Kapitän in seiner Not „achtzig Mann umzingelt". Auf wen wollen sich die Kapitalisten wohl stützen, um das Klassenmonopol wieder einzufahren? Ländliche und städtische Arbeiter, Handwerker und Kleinkaufleute, Parzellen-, Zwerg- und Kleinbauern sind für die Reform: die Mittelbauern haben nichts davon zu befürchten: fast 99% der Bevölkerung stehen geschlossen für die Reform, noch nicht ein Tausendstel dagegen - und nicht einmal dieses Tausendstel hat Grund zur Beschwerde: denn man hat ihm seinen Besitz ehrlich abgekauft. Wie froh wären alle Besitzenden heute, wo der Bolschewismus sein Medusenhaupt schüttelt, wenn sie rechtzeitig die zahme Reform durchgeführt hätten! Jetzt steht mehr auf dem Spiele.

XII. Die galoppierende Schwindsucht der großen Vermögen In der Krachzeit brachte einmal ein Witzblatt eine lustige Zeichnung, einen Kapitalisten vor seinem Geldschrank. Und darunter stand: „Merkwürdig; nun habe ich einen einbruchssicheren Arnheim, und doch ist immer weniger darin, so oft ich hineinschaue." Es ist also nichts Unerhörtes, wenn man behauptet, daß Kapitalvermögen unter Umständen verdampfen kann wie ein Riechstoff, so daß nichts übrig bleibt. Der große Quesnay nannte ja auch das Kapital einen „fiktiven Reichtum". Und dieser Reichtum kann verschwinden, ohne daß jemand daran rührt: das hat uns die Geschichte bereits vom frühmittelalterlichen Großgrundeigentum, und die Logik vom modernen städtischen Spekulationsterrain gezeigt. Wenn das Monopol der Bodensperre gebrochen ist und der Unternehmerprofit verschwindet, werden die großen Vermögen von der galoppierenden Schwindsucht befallen. Das wollen wir noch zeigen: Ein großes Vermögen besteht aus ein paar tausend Mark in barer Kasse, Hartgeld oder Noten, aus einem Bankguthaben von wenigen zehntausend Mark, aus Wohnpalästen und Luxusgütern mit Mobiliar und Sammlungen und zur Hauptsache aus „rentierendem" Vermögen: Landgüter, städtische Mietshäuser, städtische Bauterrains und aus „Effekten": Staatsanleihen und Obligationen, Hypotheken und Aktien, Kuxe und Beteiligungen. Was wird aus alledem nach Sprengung der Bodensperre und dem Verschwinden des Unternehmerprofits? Der Zins von Leihkapital, „Kreditkapital", aus sogenannten Produktivkrediten, die an Unternehmer geliehen werden, ist unbestreitbar und unbestritten ein abgezweigter Teil des Unternehmergewinns, und zwar fast ganz des reinen Profits, hier und da auch ein kleiner Teil des Unternehmer- und Pionierlohns, als „Risikoprämie". Es ist fast sicher, daß durchschnittlich der Unternehmer vom Kreditkapitalisten nicht minder ausgebeutet wird als der Arbeiter vom Unternehmer. Wenn also der Unternehmergewinn verdampft, muß weitaus der größte Teil des Kreditkapitalistenzinses mit sterben; vielleicht bleibt ein kleiner harmloser Rest so lange, bis die Arbeiterschaft selbst aus ihren hohen Löhnen die für die Ausweitung des Produktionsapparates erforderlichen Mittel vorstrecken kann. Mit anderen Worten: der Kapitalist muß es sich gefallen lassen, daß seine Schuldner: Staaten, Kommunen, Haus- und Grundbesitzer und Kommanditäre den Zins seiner Anlagen Schlag auf Schlag bis fast auf Null konvertieren. Ausweichen kann er dem Drucke nicht: er kann nicht, wie bisher, sein „Geld" statt in Obligationen usw. in Effekten anlegen, denn als Aktionär ist er selbst Unternehmer; der aber hat ja keinen Profit mehr; und den Direktoren usw. kann er den Unternehmerlohn gar nicht und vom Pionierlohn allenfalls nur noch ein Splitterchen abjagen. Er kann auch sein Vermögen nicht mehr in Terrains anlegen: denn alle Terrains sind wertlos geworden. Und ebensowenig in Mietshäusern: denn auf eben diesen Terrains sind Gartenstädte und -Vorstädte entstanden, in denen die Hauptmasse der städtischen Bevölkerung als Eigentümer oder

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Erbmieter lebt. Infolgedessen sind auch städtische Mietskasernen keine „Anlage" mehr, die Mieten sind auf die Amortisation des reinen Bauwertes und die Verwaltungskosten gefallen, und die Eigentümer wären lange bankrott, wenn nicht auch sie Schlag auf Schlag ihre Hypotheken hätten nach unten konvertieren können. So aber erhalten sie von demjenigen Teil der städtischen Bevölkerung, der in den Gartenstädten nicht wohnen will oder kann, noch immer Miete genug, um ihre im Werte mit aller anderen Arbeit gestiegene Arbeit der Verwaltung bezahlt zu erhalten und davon so gut oder besser als zuvor leben zu können. Nur einige in besonders günstiger Verkehrslage befindliche oder durch Schönheit der Lage ausgezeichnete Häuser bringen dem Eigentümer noch eine schmale und sozial harmlose Grundrente oder „Differentialrente". Das „rentierende Vermögen" ist mithin verschwunden, und nichts übrig geblieben als der Arbeitswert der „Sachen, die das Kapitalverhältnis vermitteln": der Bauwert der Häuser, der „Schmelzpunktwert" der Maschinen, Rohstoffe und Gebäude der Fabriken und Bergwerke, der Arbeitswert der Schiffe und Eisenbahn- und Straßenwagen, die den Berggewerkschaften, Aktiengesellschaften usw. als Aktiva zu Buche stehen: deren Anteile unser armer Kapitalist besitzt. Was sind sie noch wert? Sehr wenig, fast gar nichts, soweit sie nicht etwa Differentialrente tragen wie gutgelegene Mietshäuser, fruchtbare oder marktnahe Landgüter und besonders ergiebige Gruben. Denn alles, was Menschenhand gemacht hat, verschleißt ziemlich schnell; und besonders das „volkswirtschaftliche Kapital" der Maschinen und Zubehör ist nicht nur durch Abnutzung, sondern lange vorher schon „moralisch verschlissen" (Marx), d. h. gegenüber den Ansprüchen der neuen Zeit veraltet und daher entwertet bis zur Wertlosigkeit. In den Mietskasernen müssen die Kleinwohnungen zusammengelegt und mit allen Behaglichkeiten ausgestattet werden, die der wohlhabend gewordene Arbeiter jetzt verlangen und bezahlen kann; das verschlingt in der Ubergangszeit des Falles der Zinsrate so gut wie allen Profit. Und die Maschinen sind altes Eisen, seit die ungleich gewaltigere Maschinerie überall funktioniert, deren Anschaffung so hoher Lohn bei so gewaltiger Hochkonjunktur erzwungen hat, wollten die Unternehmer nicht auch noch außer auf den Profit auf Unternehmerlohn und Pionierlohn verzichten und alles verlieren. Auch hier ist also in der Ubergangszeit der immer tiefer sinkende Profit durch die Neuanschaffungen verschlungen worden. Bleibt also unserem ehemaligen Reichen außer seinem bißchen Differential-Grundrente nichts als das bare Geld und das Bankguthaben. Aber das wird nicht lange reichen, um die Paläste, Luxuslandsitze und Sammlungen zu unterhalten, die schmerzlich viel Personal erfordern - und dessen Löhne sind mindestens so stark gestiegen wie der Lohn der eigentlichen Arbeiter. Mindestens: denn der Lohn von Bedienten muß in einer Gesellschaft, die sich im Sturmschritt zur politischen und wirtschaftlichen Freiheit entwickelt, selbstverständlich einen Aufschlag für die Beschränkung der persönlichen Freiheit und die damit verbundene soziale Disqualifikation einschließen. Ich fürchte, der arme Ex-Milliardär wird noch froh sein, wenn ihm der Staat seinen Luxusbesitz abkauft, um Museen, Sanatorien, Erziehungs-, Altersheime und dergleichen darin zu errichten, und wenn er seine Sammlungen an öffentliche Museen verkaufen kann - sehr billig: denn dem Kunstmarkt fehlen jetzt die überreichen Liebhaber und - Snobs. Zwei Dinge sind an dieser Ableitung besonders interessant, wie mir scheint. Erstens die verblüffende Tatsache, daß vom Augenblick der Reform an der schnell sinkende Profit nur noch zum kleinsten Teil, wenn überhaupt, Privateinkommen ist, sondern ein Fonds, aus dem der Kapitalist fast wider Willen die Maschinerie verbessern und vergrößern muß, nicht nur im eigenen Interesse, sondern fast durchaus in dem der Gesamtheit, die mit Hilfe dieser gleichen Maschinerie in geringerer und leichterer Arbeit ein wesentlich größeres Produktenquantum herstellt und unter sich verteilt. Und zweitens die freudige Voraussicht, daß auch die Staatsanleihen Schlag auf Schlag nach unten konvertiert werden können, ohne daß der Kapitalist, mangels der Möglichkeit einer anderen Anla-

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ge, sein Geld zurückfordern kann. Wollte er versuchen, den Erlös in exotischen Anleihen solcher Staaten anzulegen, die noch nicht zum Sozialismus bekehrt sind, so würde auch hier das gewaltige Angebot den Zinsfuß unaufhaltsam drücken, und einem höheren Zinsgenuß entspräche das Risiko zum wenigsten. Es gibt also kein Ausweichen, und das scheint mir für die Finanzminister der schuldenüberlasteten Staaten eine recht tröstliche Aussicht, daß sie in absehbarer Zeit alle Kriegsanleihen auf sage eins pro mille konvertieren können. Ob einer der Herren eine so frohe Botschaft wohl glauben mag und kann? Kaum! Ja, ja, die Nationalökonomie ist eine schwierige Wissenschaft und voll von Überraschungen. Was nun die Splitter von Grundrente anlangt, so mögen sie die Bodenreformer meinethalben „wegsteuern", wenn sie eine Mehrheit dafür finden. Ich sage: „minima non curat praetor". Laßt die Rentner laufen; in wenigen Generationen ist dieses Surplus-Einkommen durch den Erbgang und die Erbschaftssteuer so zersplittert, daß es nicht mehr zu Buche schlägt. Als „einzige Steuer" reicht sie jedenfalls bei weitem nicht für das Staatsbedürfnis aus. Denn dieser Staat, die „Freibürgerschaft der reinen Wirtschaft", wird zum ersten Male den Namen eines Kulturstaates verdienen, und sein Kulturetat wird ebenso riesig sein, wie sein Militäretat winzig. Aber hier hat das Amt des Nationalökonomen seine Grenze. Ihn geht nur die Wirtschaft an, das notwendige Fundament aller Kultur. Denn der Mensch muß Muße haben und mit allen Dingen der Notdurft reichlich versorgt sein, um den Blick zum Himmel und seinen ewigen Sternen erheben und Persönlichkeit sein zu können. Ist das einmal erreicht - und wir werden es bald erreicht haben -, ist das Fundament einmal gelegt, dann wird die erlöste Menschheit darauf ihren Königspalast erbauen in heiterer Pracht, und das alles tragende Fundament wird im Erdboden dem Blick entzogen sein. Die Menschheit ist wirtschaftlich erst erlöst, wenn Wirtschaft sich von selbst versteht - und dann erst beginnt die Kultur! Was wir bisher mit dem stolzen Namen nannten, war aufgedonnerte Barbarei. Ihr lächelt: „Edle Träume! Solche Gesellschaftsordnung ist unmöglich!" Kinder und Narren, die Ihr seid, begreift Ihr noch immer nicht, daß die kapitalistische Ordnung unmöglich ist, unter deren Trümmern Ihr ächzt. Wollt Ihr den schwankenden Turmbau noch einmal aufrichten, damit er Euch beim nächsten Einsturz ganz und gar zerquetsche und begrabe, Kinder und Narren?

XIII. Die Agrarreform Die Reichsleitung hat auf meinen Vorschlag eine Bodenreform größten Stils beschlossen und dem deutschen Volke, vor allem dem Heere, in feierlichen Proklamationen, unterzeichnet vom Generalfeldmarschall von Hindenburg und dem Staatssekretär des Reichsarbeitsamts Bauer, bereits kundgetan. Gesetze sind in Vorbereitung, die zum Zwecke haben, die erforderliche riesige Fläche von ca. 5 Millionen ha agrarischen Siedellandes für die landwirtschaftliche, und Baugelände für die der städtischen Bevölkerung versprochenen Gartenstädte und -Vorstädte zu erlangen und für beide die notwendigen Baukredite zu beschaffen. Die Absichten, denen der gewaltige Plan dient, sind die folgenden: durch die Aussicht auf ein eigenes Heim die zurückkehrenden Krieger bis zu ihrer Entlassung bei ihrer Truppe und dadurch bei Pflicht und Ordnung zu halten; - die Großstädte von einer Bevölkerung zu entlasten, für die unter den jetzigen Umständen kaum Nahrung, Wohnung und Arbeitsgelegenheit beschafft werden kann; - die Zahl der auf dem Lande mit Wohnung, Nahrung und Arbeit Versehenen und der Selbstversorger zu vermehren, - der Industrie durch die Bauten usw. einen unerschöpflichen neuen Binnenmarkt zu geben; - die rein-formale Demokratie des gegenwärtigen Zustandes mit rai/-demokratischem Inhalt zu füllen; - und dadurch eine gewaltige Kulturoffensive gegen die Ententemächte einzuleiten.

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Hohe Ziele, die jeder wahre Vaterlandsfreund mit Begeisterung billigen muß. Sollen sie aber erreicht werden, soll nicht statt der erhofften Beruhigung schwere Enttäuschung eintreten und das schon ohnehin in allen Fugen krachende Reich noch schwerer erschüttern, dann müssen die Mittel gefunden werden, um die Reform sehr schnell durchzuführen. Was nun insbesondere die eigentlich agrarische Reform der inneren Kolonisation anlangt, von der allein ich im folgenden reden möchte, so stellt sich hier die weitere Aufgabe, sie nicht nur schnell, sondern auch ohne jede Erschütterung der landwirtschaftlichen Produktion einzuleiten und auszuführen. Sonst droht uns Hungersnot oder wenigstens noch ärgere Verschuldung an unsere jetzigen Feinde. Es ist mir während der Verhandlungen über die Maßregeln der Durchführung, an denen ich amtlich beteiligt bin, sehr zweifelhaft geworden, ob in der Tat die bisher ins Auge gefaßten Methoden diesen beiden lebenswichtigen Forderungen Genüge tun können. Man denkt im allgemeinen nur an das technisch seit über 30 Jahren wohl bewährte Verfahren der preußisch-deutschen Behörden bei der Kolonisation von Bauern und Landarbeitern: Ansiedelung auf sorgfältig zugeteilten, sorgfältig vermessenen, mit guten, zweckmäßigen, aber recht teuren Gebäuden besetzten Grundstücken, die in der Regel als Rentengüter ausgegeben werden. Ich will gegen das Verfahren an sich nichts einwenden, muß aber meiner ernsten Befürchtung Ausdruck geben, daß es viel zu langsam ist und bei Durchführung in irgend großem Ausmaß die landwirtschaftliche Produktion schwer erschüttern möchte. Das Verfahren ist erstens langsam! Ein Gut wird erworben, die Hypotheken werden reguliert, eine - meist recht kostspielige - Zwischenverwaltung wird eingesetzt, ein Besiedlungsplan aufgestellt; die nötigen Zufahrtswege werden gebaut, die Gebäude errichtet, die Brunnen gegraben; schließlich werden die einzelnen Grundstücke an die Bewerber aufgelassen, die das nötige, nicht ganz unbeträchtliche Kapital (für Bauern doch ungefähr 5-8.000 Mark) besitzen. All das, der Erwerb, der Aufteilungsplan, die Vermessung, die Zwischenverwaltung, die Ordnung der Finanzen usw. erfordert einen ganzen Stab vortrefflich vorgebildeter Beamter. Preußen hat denn auch in 25 Jahren nur etwa 500.000 ha Land in dieser Weise in Bauernsiedlung zu verwandeln vermocht. Da die Proklamation von nicht weniger als 5 Millionen ha spricht, kann man sich leicht ausrechnen, daß die Durchführung der Reform auf diese Weise 250 Jahre in Anspruch nehmen würde. Das wäre allerdings schlimmer, als wenn gar nichts geschähe. Natürlich wird man versuchen, das Tempo nach Kräften zu beschleunigen; aber die Meinung der Techniker ist, daß das äußerste, was allenfalls geleistet werden könnte, nachdem die nötige Anzahl von Beamten herangebildet sei, sich auf 100.000 ha jährlich belaufe: selbst dann würde die Erfüllung des feierlich gegebenen Versprechens noch ein volles halbes Jahrhundert erfordern - und auch das ist viel zu lange für den Zusammenhalt Deutschlands, und ist viel zu wenig als neuer Binnenmarkt für unsere von allen Auslandsmärkten abgesperrte Industrie. Das Verfahren ist zweitens ungeheuer kostspielig. Kostspielig für die Siedler, die verhältnismäßig große eigene Mittel haben müssen, und für die Siedlungsbehörde. Preußen hat für jene halbe Million ha reichlich eine Milliarde Mark Kosten aufgewendet, die es nur spärlich verzinst erhält. Danach würden mindestens 10 Milliarden Mark bis zur Durchführung aufzuwenden sein. Die Kosten entstehen durch die Zwischenverwaltung, durch den Verlust von sehr viel Land für Wege und Raine, durch die Entwertung der alten Gutsgebäude, durch die Errichtung sehr viel neuer an ihrer Stelle und durch die sogenannten „Folgeeinrichtungen", d. h. die Fürsorge für Kirche, Schule und Gemeinde der neu entstehenden Dorfschaft. Das Verfahren ist drittens nicht ohne vorübergehende Verminderung der landwirtschaftlichen Produktion durchzuführen. Die Zwischenverwaltung kann selten, auch bei zweckmäßiger Leitung durch einen erfahrenen Landwirt, ohne Verluste geführt werden, weil der Wirtschaftsplan fortwährend (durch neue Abgabe von Stellen) gestört und die Wirtschaft mit Fuhren und dergl. belastet

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wird. Dieses Bedenken wiegt bei der gegenwärtigen Lage unserer Lebensmittelversorgung und Nahrungspolitik besonders schwer: die Parzellierung großer Flächen zu gleicher Zeit könnte, fast müßte, die Erzeugung stark beeinträchtigen. Dazu kommt noch ein sehr Wichtiges. Das Landbeschaffungs- resp. Landlieferungsgesetz baut im allgemeinen auf der freiwilligen Anteilnahme der Großlandwirte auf, muß aber als ultima ratio doch eine Enteignung im Rückhalt haben, um den Plan unter allen Umständen durchführen zu können. Die Enteignung aber ist ein Damoklesschwert, unter dessen Drohung der Landwirt im allgemeinen den Mut zu intensiver Wirtschaft und namentlich Meliorationen nicht finden wird. Und das bedroht die agrarische Erzeugung noch viel schwerer. Und schließlich: das Verfahren ist nur für eine relativ enge Klasse der Landbevölkerung berechnet, nämlich für Bauern im eigentlichen Sinne. Die Landarbeiter können nur in verhältnismäßig wenigen Fällen davon Nutzen ziehen, erstens, weil sie selten die erforderlichen Mittel, und zweitens, weil sie seltener, als man glauben möchte, die erforderlichen Kenntnisse und den erforderlichen Mut zur Selbständigkeit haben. Sie sind gewohnt, unter Befehl auf fremde Verantwortung und Gefahr zu schaffen, und fühlen sich den Opfern und Gefahren der Selbständigkeit sehr oft nicht gewachsen. Wir haben aber die Pflicht, auch für Vermögenslose und Landarbeiter zu sorgen; sonst bricht unser Werk sofort in der allgemeinen Unzufriedenheit zusammen. Ich bin daher der Meinung, daß wir neben dem, wie gesagt, technisch wohl bewährten älteren Verfahren der Kolonisation nach anderen Methoden Umschau halten müssen, die schneller, mit weniger Umständen und Kosten, ohne jede Erschütterung der Produktion durchführbar und auch dem vermögenslosen Bauernsohn und vor allem dem eigentlichen Landarbeiter zugänglich sind, ja, die es womöglich gestatten, kräftige und willige Industriearbeiter, die Lust zur Landwirtschaft haben, in großer Zahl der Mutter Erde zurückzugewinnen und für den Landbau zu erziehen. Eine solche Methode möchte ich empfehlen: Sie kann mit einem Schlage auf Flächen von beliebiger Größe, auf 5, auch auf 10 und mehr Millionen ha angewendet werden: sie macht so gut wie keine Kosten, weil weder Hypothekenregulierung, noch Zwischenverwaltung erforderlich ist, weil kein Land verloren geht, und die alten Gebäude ihre Zweckbestimmung und ihren Wert durchaus behalten; sie erschüttert die landwirtschaftliche Erzeugung auch nicht einen Augenblick, da der bestehende Wirtschaftsplan nicht im mindesten gestört wird: ja, sie verspricht, die Erzeugung sofort beträchtlich zu vermehren. Sie läßt auch die Besitzverhältnisse samt den Hypotheken unberührt, droht auch nicht von fem mit Enteignung, erschüttert also das Vertrauen der Landwirte auf die Stabilität der Verhältnisse nicht, und sie gibt schließlich auch dem vermögenslosen Bauern und Landarbeiter die Möglichkeit sofortiger praktischer lohnender Arbeit und schnellen Aufstiegs zur Selbständigkeit, ja, erlaubt Industriearbeiter anzuschulen und auszubilden. Diese Methode ist die Anteilswirtschaft. Ich empfehle sie dem Reich und den Einzelstaaten zur Anwendung auf ihren Domänen und auf einem Teil der von ihnen jetzt zum Zwecke der Agrarreform zu erwerbenden Großgüter. Aber ich empfehle sie nicht minder den Privatbesitzern. Es scheint mir, als ob sich ihnen hier ein Weg eröffnete, um sich aus einer wahrscheinlich unhaltbar gewordenen Stellung zu retten.

XIV. Die Zukunft der Großlandwirtschaft Man gestatte mir eine persönliche Bemerkung im voraus, weil sie gleichzeitig den Kern der Sache trifft. Man kennt mich, wie der „Vorwärts" kürzlich schrieb, als „unermüdlichen Gegner des GroßgrundbesitzesDas bin ich in der Tat! Aber ich bin nicht der Gegner des Großbetriebes und noch weniger der Großbesitzer.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Ich kann meiner ganzen Stellung nach nicht der Feind der Großbesitzer sein, denn ich stehe auf dem Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus und mache Ernst mit der von vielen Sozialisten nur mit den Lippen, aber nicht mit dem Herzen bekannten Auffassung, daß der politisch-soziale Kampf niemals den Personen zu gelten hat, sondern den Institutionen. Von diesem völlig unvoreingenommenen Standpunkt aus war es mir nicht schwer zu erkennen, daß wir in unserem deutschen Großgrundbesitzerstande einen überaus wertvollen, an Leib und Seele kerngesunden Teil unserer Bevölkerung zu erblicken und zu erhalten haben. Ich habe mehrfach geschrieben und vertrete es noch heute, daß diese lenden- und nervenstarken Männer für den Aufbau unseres gemeinen Wesens nicht entbehrlich, daß sie die geborenen „Führer der freien Bauernschaft unserer Zukunft sind". Und so bin ich denn auch - ich weiß kaum, ob wegen oder trotz meiner Auffassung - mit einer Anzahl dieser Männer in fester Freundschaft persönlich verbunden. Ebensowenig bin ich ein Gegner des Großbetriebes in der Landwirtschaft. Ich weiß sehr wohl, was er namentlich in Deutschland als der kraftvolle Pionier des ökonomischen und technischen Fortschrittes geleistet hat. Ich glaube allerdings mit der Mehrheit meiner gelehrten Amtsgenossen, daß eine freie Bauernschaft, die genossenschaftlich gehörig organisiert ist und von ihrem Staate wirksam erzogen wird, mindestens das Gleiche leistet, wie der jetzige auf einen schwachen Stamm ständiger Lohnarbeiter und Wanderarbeiter angewiesene Großbetrieb: aber ich bin überzeugt, daß erst der Großbetrieb mit veränderter Arbeitsverfassung berufen ist, den möglichen Gipfel der Produktivität und Rentabilität zu ersteigen, von dem sowohl er wie auch der beste Bauernbetrieb noch schmerzlich weit entfernt ist. Damit bin ich zum Kern der Dinge gelangt. Der Großbetrieb mit der heutigen Arbeitsverfassung, d. h. der Großgrundbesitz ist nicht mehr zu halten und muß an Haupt und Gliedern reformiert werden. Das Sündenregister der Institution - ich wiederhole ernstlich, nicht der Persönlichkeiten - ist lang und nicht mehr zu leugnen. Sie ist allein die Ursache, die ganze Bevölkerungen „in Streusand verwandelt" und zu massenhafter Aus- und Abwanderung gezwungen hat. Die überseeische Auswanderung hat Amerika, Kanada und Argentinien wie mit einem Schlage in Korn-Exportländer gewaltigsten Maßes verwandelt, hat die europäische Agrarkrisis der Achtziger Jahre und in ihrem Gefolge den Schutzzoll gebracht. Die binnenländische Abwanderung hat der Industrie der Städte jene unerschöpfliche „Reservearmee" von Proletariern geliefert, die allein den Kapitalismus ermöglicht hat; und dieser hat sich hinter der Mauer des Schutzzolls zu jenem Export-Industrialismus ausgewachsen, der den Weltmarkt als Absatzgebiet suchen mußte, weil der Binnenmarkt ihm zu klein war; der dort mit dem Exportkapitalismus anderer Staaten zusammenstieß und die Katastrophe dieses Weltkrieges und die zermalmende Niederlage Deutschlands über uns brachte. Schon vor dieser Katastrophe, die wir Wissende immer kommen sahen, verzweifelt, daß unsere Warnungen verlacht wurden, war es jedermann, auch den Vertretern der Großlandwirtschaft selbst, völlig klar, daß das Institut mindestens im jetzigen Umfang, aus allgemein-volkswirtschaftlichen Gründen nicht weiter geduldet werden könne, und aus privatwirtschaftlichen Gründen der Betriebsinhaber selbst nicht mehr lange Bestand haben werde, weil ihm ein furchtbarer Zusammenbruch drohe, auch wenn man von Krieg und Revolution völlig absehe. Volkswirtschaftlich nämlich wurde es je länger je unerträglicher, daß unter der Herrschaft dieser Besitz- und Betriebsform der größte Schatz Deutschlands, sein Grund und Boden, ganz unzureichend ausgenutzt wurde. Kein Sachkenner bezweifelt auch nur einen Augenblick die Behauptung, daß der deutsche Boden, wenn durchschnittlich auch nur einigermaßen die heute schon theoretisch vorhandene Technik angewendet würde, ohne wesentliche Erhöhung der Kosten leicht das Doppelte der bisherigen Erträge an Nutzpflanzen und Tieren liefern könnte. Wodurch wird das verhindert? Durch Mangel an Intelligenz? Nein! Durch Mangel an Energie? Nein! Durch Mangel an Kapital? Nein! Sondern einzig und allein durch den Mangel an genügender Arbeitskraft. Wir haben viel zu

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wenig Arbeiter, und sie leisten im Durchschnitt viel weniger, als sie leisten könnten, wenn sie mit ganzem Herzen so bei der Sache wären, wie es der selbstwirtschaftende Bauer ist. Daran trägt die Großlandwirtschaft allein die Schuld nicht als Form des Betriebes, sondern des Besitzes. Jene Massenwanderung, die mit dem Großgrundeigentum nun einmal unlöslich verknüpft ist (man kann sie übrigens auch theoretisch ableiten, aber das führt hier zu weit), jene Massenwanderung hat die Bevölkerung der Großgutsbezirke unglaublich verdünnt. Man zählt hier auf den qkm nur 4(!) bis höchstens 30 Seelen, während der Durchschnitt ganz Deutschlands mehr als 120, Sachsens mehr als 300 Seelen ist, und rein bäuerliche, namentlich klein- und mittelbäuerliche, Bezirke auch bei armem Boden über dem Reichsdurchschnitt stehen. Was die Wanderung fortgeführt hat, waren die jüngsten und besten Elemente; was sie auf dem Lande zurückgelassen hat, war durchschnittlich von geringerem Werte: das allein ist die Ursache der „Leutenot", die mit der Intensivierung der Landwirtschaft immer ärger wurde und den technisch längst möglichen Aufstieg der Mehrheit der Besitzer unmöglich machte. Man suchte sich durch Heranziehung einer immer größeren Anzahl von slawischen Wanderarbeitern einigermaßen zu helfen. Sie genügten quantitativ nicht im entferntesten und qualitativ noch viel weniger. Sie wurden zudem von Jahr zu Jahr teurer und anspruchsvoller, und die Situation der Großlandwirtschaft wurde immer gefährlicher. Denn jeden Augenblick konnte eine politische Ursache: ein Krieg, eine - seit langem drohende und mit Gewißheit in absehbarer Zeit zu erwartende - Revolution in Rußland, selbst nur ein Auswanderungsverbot, das Fallbeil niedersausen lassen, das über dem Genick der deutschen Großlandwirtschaft hing: der plötzliche Verlust eines großen Teiles ihrer Arbeitskraft. Und dann war der privatwirtschaftliche Zusammenbrach da. Sie baute an den Hängen eines murrenden Vulkans, und wir Wissenden konnten nicht verstehen, daß man unsere Warnungen nicht hören wollte. Man trieb Vogel-Strauß-Politik und dachte wohl: „Nach uns die Sintflut". Jetzt hat die Flut alle unsere Deiche zerstört, und der Zusammenbruch ist da, viel ärger, als unsere schlimmsten Sorgen befürchteten. Die Großlandwirte haben schätzungsweise mit dem Verlust von nicht weniger als drei Vierteln ihrer Arbeitskräfte zu rechnen. Denn von den deutschen Landarbeitern sind leider sehr viele gefallen oder ernstlich kriegsbeschädigt; und viele andere, chargiert und dekoriert, werden in das alte Verhältnis nicht zurückkehren wollen. Auf die Slawen aber ist kaum noch überhaupt zu rechnen. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß das einzige bleibende Ergebnis des bolschewistischen Umsturzes die Aufteilung des russisch-polnisch-galizischen Großbesitzes in Bauernstellen sein wird - und Bauern gehen nicht auf Wanderarbeit. Die Folge wird aller Voraussicht nach eine sehr starke Erhöhung des Lohnes sein, und zwar nicht nur des Geldlohnes, sondern des wirklichen, des Reallohnes, seiner Kaufkraft. Die Hoffnung, daß die Löhne nur entsprechend der voraussichtlich bleibenden Geldentwertung, d. h. nur in gleichem Verhältnis mit den Preisen der Produkte, steigen werden, sollte man angesichts der ungeheuren Verschiebung von Angebot und Nachfrage auf dem ländlichen Arbeitsmarkte fallen lassen. Mit anderen Worten: der Lohn wird einen viel größeren Teil des Roh- und Reinertrages verschlingen als früher. Aber vielleicht rechnet man mit einem Darniederliegen der Industrie und daher einem Tiefstand der Löhne? Ich würde raten, nicht darauf zu rechnen. Denn wir haben, wenn wir nicht gänzlich im Terror zugrunde gehen, eine starke Anspannung der Industrie und hohe Löhne der Arbeiter zu erwarten: so viel dringende Arbeit ist zu leisten, und so gewaltig ist auch das Heer der städtischen Arbeiter durch den Krieg gezehntet worden. Und käme es selbst anders, so hätte u. E. die Landwirtschaft keinen Vorteil davon: dann würden die überzähligen Proletarier massenhaft aus-, aber gewiß nicht ins Landarbeiterverhältnis der alten Form zurückwandern. Und solche Massenwanderung zu verhüten, die uns noch ärmer und schwächer, und unsere erbarmungslosen Gegner noch reicher und stärker machen würde, ist die heilige Pflicht jedes wahren Vaterlandsfreundes. Daran

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nach allen Kräften mitzuhelfen, gerade auch dazu rufe ich die Großlandwirte Deutschlands auf, gerade auch dazu bitte ich sie, meine Vorschläge einer neuen Arbeitsverfassung sorgfältig zu erwägen. Es handelt sich nicht nur um ihre eigene Existenz, sondern um das Wohl des ganzen Volkes und Landes. Wir haben also damit zu rechnen, daß die Löhne auf sehr hohem Niveau stehen werden. Das wäre erträglich, wenn auch die Preise der Produkte entsprechend steigen werden. Aber das ist nicht zu erwarten! Die Preise werden voraussichtlich nach recht kurzer Zeit stark fallen, für Deutschland wahrscheinlich, tief unter den in dem entwerteten Gelde ausgedrückten Satz der Vorkriegszeit. Denn mit einer Wiederherstellung des Zollschutzes kann aus innerpolitischen und wahrscheinlich aus außerpolitischen Ursachen nicht gerechnet werden. Und auf der anderen Seite werden die jetzt bestehenden ungeheuer hohen Preise es bewirken, daß überall in den Kolonialgebieten - und Europa selbst - viel neuer Boden unter den Pflug genommen, und altbebauter intensiver bestellt wird. Und dann gibt es eine Agrarkrisis wie 1878, aber ohne die Möglichkeit, sie durch Zollschutz abzubremsen. Dazu kommt die erdrückende Steuerlast, die wir auf uns nehmen müssen, gleichviel wer an der Regierung sitzt. Wir müssen mit einer zermalmend hohen Vermögenssteuer und dennoch mit sehr hohen Einkommens- und Erbschaftssteuern und mit ihrer rücksichtslosen Veranlagung und Eintreibung rechnen. Nur so können wir den Zeichnern unserer Kriegsanleihen und unseren Kriegsversehrten gerecht werden und den Staatsbankerott vermeiden. Und schließlich wird manchen Landwirt sehr schwer auch der Hochstand des Zinsfußes treffen, der die Hypothekenlast um so gefährlicher vermehrt, als ja bekanntlich der Bodenwert fällt, wenn der Zinsfuß sicherer Anlagen steigt. Wir multiplizieren den Ertrag bei 4% mit 25, bei 5% mit 20, bei 6% mit 16 2/3, um den Ertragswert eines Gutes zu berechnen.

XV. Die Anteilswirtschaft Unter diesen Umständen gibt es nur eine mögliche Rettung vor diesem Zusammenbruch sehr vieler Großlandwirte, auch solcher, die vor dem Kriege mäßig verschuldet und völlig gesichert dastanden: es muß ein Mittel gefunden werden, um die Betriebe mit ausreichender Arbeiterschaft zu versorgen und gleichzeitig ihre Produktivität und Rentabilität derart zu entwickeln, daß sie trotz der hohen Löhne und sonstigen Lasten bestehen können. Das ist nach dem Gesagten bei der heutigen Arbeitsverfassimg eine glatte Unmöglichkeit. Selbst erfolgreiche Gegenrevolution, deren vollkommene Aussichtslosigkeit vielleicht nicht jeder aus dem Kreise erkennt, zu dem ich hier vornehmlich spreche, könnte daran nichts ändern. Keine Macht der Welt bringt die Hochschutzzölle wieder oder ändert das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem ländlichen Arbeitsmarkte; und keine Regierung kann auf unerhörte Steuern verzichten oder den Zinsfuß willkürlich herabsetzen. Helfen kann nur eine durchaus auf anderen Grandlagen aufgebaute Arbeitsverfassung, die dem Arbeiter nicht nur hohen Lohn, sondern den allmählichen Aufstieg zur Selbständigkeit sichert und ihn bis dahin durch Berufung an sein eigenes wirtschaftliches Interesse dazu veranlaßt, alle Kraft und Sorgfalt einzusetzen, deren er fähig ist. Eine solche Arbeitsverfassung gibt es! Der Großgrundbesitz muß sich zurückverwandeln in jene Besitzform, die im hohen Mittelalter die Regel allen feudalen Grundbesitzes war, in die „Großgrundherrschaft", selbstverständlich in moderner Gestalt. Großgrundbesitz und Großgrundherrschaft unterscheiden sich, wie oben [S. 61f. in diesem Band; A.d.R.] gezeigt, theoretisch dadurch, daß vom Ertrage des Bodens bei dem ersten seine Bear-

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beiter, bei der zweiten der Titulareigentümer einen grundsätzlich festen Anteil erhält, so daß aller Zuwachs des Ertrages durch Verdichtung der Bevölkerung, Verbesserung der Verkehrswege und der Technik, kurz, der sogenannte „unverdiente Wertzuwachs", beim Großgrundbesitz den Eigentümern, bei der Großgrundherrschaft den Bearbeitern zufließt. Darum hat dort der Arbeitende kein, hier aber das stärkste Interesse am Betriebe und benimmt sich entsprechend, d. h. ist träge, gleichgültig und verschwenderisch dort, und fleißig, sorgsam und sparsam hier. Auf dieser Erkenntnis beruht mein Vorschlag: Der Besitzer eines Großgutes schließt mit seinen Beamten und Arbeitern einen Vertrag, durch den er sich für die Einbringung seines Landes samt Inventar ein Fixum ausbedingt, entsprechend etwa dem Ertrag der drei oder fünf letzten Jahre vor dem Krieg. Davon hat er die Hypothekenzinsen zu bezahlen. In jedem Falle kann er sich Gutshaus, Garten, Park, Jagd und finanzielle Oberaufsicht und Belieferung seines Haushaltes aus den Wirtschaftserträgen ausbedingen. Wenn er seinen Betrieb bisher selbst geleitet hat (andere werden den Versuch ohnehin kaum wagen), behält er sich für sich selbst und eventuell für Sohn oder Schwiegersohn usw. auch für die Zukunft die Leitung mit allen Vollmachten in technischer Beziehung vor; in diszlipinaren Dingen wird man nach dem Fall der Gesindeordnung ohnehin überall neue Methoden anzuwenden haben; hier empfiehlt sich als erste Instanz das überall glänzend bewährte Gericht der eigenen Arbeitsgenossen, die in der Regel mit drakonischer Härte urteilen, so daß dem Besitzer das Recht der Milderung und Begnadigung jedenfalls vorbehalten werden muß. Unter diesen Voraussetzungen wird der Ertrag des Betriebes folgendermaßen verwendet. Zuerst kommt der Lohn der Arbeiter und Beamten in landesüblicher Art und Höhe, Zeitlohn, Akkordlöhne, Prämien, Druschanteile usw. und Wohnung und Deputat, wo das üblich ist, sind zwar alles das gleichfalls geschätzt nach seinem Geldwert. Dann werden vom Rohertrage sämtliche Kosten abgesetzt, einschließlich richtiger Abschreibungen und Steuern, aber selbstverständlich unter Ausschluß der Personalsteuern des Besitzers und der Arbeiter. Dann folgt die Verzinsung des Grundkapitals, und der verbleibende Reinertrag wird zu drei Vierteln oder zwei Dritteln an die sämtlichen Arbeiter und Beamten sofort ausgekehrt, und zwar pro rata ihrer sämtlichen bar empfangenen und in Geld geschätzten Emolumente. Das hat den Vorteil, daß jeder Beteiligte doppelt an seiner eigenen Arbeit interessiert ist; er erhält bei Fleiß und Sorgfalt mehr Lohn und dann noch entsprechend mehr Gewinnanteil. Das letzte Drittel oder Viertel fließt als Entgelt seiner leitenden Arbeit an den Besitzer. Sehr wichtig sind auch die Bestimmungen über die Dauer des Vertrages. Die Arbeiterschaft muß ihn jederzeit mit kurzer Frist, etwa halbjähriger oder ganzjähriger Kündigung auflösen dürfen. Der Besitzer aber muß sich und seine Rechtsnachfolger auf wenigstens zwanzig Jahre verpflichten und darf vorher nur mit Zustimmung eines im Vertrag festzusetzenden unparteiischen Schiedsgerichts unter zwei Voraussetzungen aufkündigen: bei schweren Unstimmigkeiten in diszlipinaren Beziehung und bei dauernd schlechter Rentabilität. Man könnte ζ. B. festsetzen, daß der Vertrag erlischt, wenn fünf Jahre hintereinander im Durchschnitt weniger als der Zins des vom Besitzer eingebrachten Grundkapitals herausgekommen ist. Ist aber der Versuch, wie wir mit Bestimmtheit erwarten, von Erfolg gekrönt, so soll das Verhältnis ein dauerndes sein; das Großgrundeigentum soll auf die Dauer in die Großgrundherrschaft verwandelt sein. Dazu dürfte die Bestimmung ausreichen, daß die Arbeiterschaft jeweils ein Jahr vor Ablauf des Vertrages aufgefordert wird, sich zu erklären, ob sie den Vertrag unter den alten Bedingungen erneuern will. Wenn sie diese Erklärung abgibt, oder wenn von keiner Seite eine Vertragsänderung beantragt wird, läuft der Kontrakt automatisch auf weitere zwanzig Jahre. Der Vertrag sieht ferner vor, daß den Arbeitern außer ausreichender Wohnung genug Pachtland gegeben werden muß, um ein paar Schweine und eventuell eine Kuh halten zu können; daß das Gut auf Wunsch gegen feste, die Selbstkosten deckende Geldsätze alle Gespannarbeit leistet; daß Saatgut, Kunstdünger usw. zum Selbstkostenpreise vom Gute geliefert und der Absatz eigener Erzeugnisse

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des Pachtgütchens auf Wunsch durch das Gut mit übernommen wird. Sehr zu empfehlen wäre, daß dem Arbeiter das Recht gegeben würde, nach untadelhafter Dienstzeit von etwa fünf Jahren die Ubereignung seiner Pachtstelle als Rentengut oder in Rechtsform, und nach weiteren etwa fünf die Zupachtung resp. den Zukauf von so viel Land zu verlangen, wie nach Lage und Bodengüte für selbständige Bauernschaft erforderlich ist. Dieser Vorschlag belastet den Besitzer mit dem Risiko schlechter Jahre, in denen der Rohertrag nicht ausreicht, um außer den Löhnen und Kosten noch den Zins des Grundkapitals zu bringen, während es zweifelhaft sein könnte, ob er bei der vorgeschlagenen Gewinnverteilung sich in guten Jahren von dem Verlust erholen kann. Man könnte daran denken, vertraglich festzulegen, daß dem Besitzer der Verlust schlechter Jahre aus dem Gewinn späterer Jahre ganz oder zu einem Teil zu ersetzen ist. Ich würde, wie die politische Situation einmal ist, raten, vorerst davon abzusehen. Das ganze Verfahren muß durchaus von dem Gedanken getragen sein und nach außen hin die unzweifelhafte Sicherheit geben, daß es nicht die Sanierung verkrachter oder bedrohter agrarischer Vermögen und Einkünfte bezweckt, sondern ein großer und ehrlicher Schritt der sozialen Ausgleichung und des wirtschaftlichen Verzichtes sein soll und will. Des Verzichts im äußersten Falle auch auf einen Teil des bisherigen Einkommens! Ich bin aber der festen Uberzeugung und kann mich dabei auf die gewichtigsten Tatsachen stützen, daß es sich in aller Regel nicht um den Verzicht handeln wird, sondern nur um den Verzicht auf einen Teil einer Ertragsvermehrung, die nur durch die neue Arbeitsverfassimg zustande kommen kann. Wir dürfen eine sehr erhebliche Steigerung der Roherträge und eine noch viel größere Steigerung der Reinerträge erwarten, wenn das überlebte Lohnarbeiterverhältnis durch das neue Partnerverhältnis ersetzt wird.

XVI. Die landwirtschaftliche Arbeiter-ProduktivGenossenschaft Das eine ist nämlich völlig klar, daß so stark gewinnbeteiligte Arbeiter nicht schlechter arbeiten werden als uninteressierte Lohnarbeiter. Wer die Psychologie des wirtschaftenden Menschen kennt, wird im Gegenteil auch ohne Beweis zu der Überzeugung neigen, daß sie viel besser arbeiten werden; sie werden fleißiger und mit größerer Anspannung in der Zeiteinheit, namentlich in dringenden Fällen, schaffen, so daß der Rohertrag des Betriebes wächst, und sie werden vor allem mit dem lebenden und toten Inventar, mit dem Boden selbst und seinen Früchten viel pfleglicher umgehen, so daß der Reinertrag noch stärker wächst als der Rohertrag. Diese Erwägungen werden durch die Erfahrung durchaus und ohne Ausnahme bestätigt. Es hat sich immer wieder herausgestellt, daß alle Systeme, die den Arbeiter am Ertrage seines Schaffens interessierten, die günstigsten Ergebnisse hatten, und zwar um so günstiger, je höher der Anteil war, und je weniger die Auszahlung verzögert wurde. Das gilt für das Bonus-, für das Partsystem, für die Arbeiterpacht und das Heuerlingsverhältnis und vor allem für die Gewinnbeteiligung. Diese letztere hat sich in der Landwirtschaft sogar noch viel besser bewährt als in der Industrie, und zwar aus einem klaren Grunde: in der Industrie ist die Arbeiterschaft leicht geneigt, den Leiter dafür verantwortlich zu machen, daß in Zeiten schlechter Konjunktur der Gewinn einschrumpft; in der Landwirtschaft aber hat jeder Mann sozusagen jedes Folio des Hauptbuches, nämlich jedes Feldstück und jeden Stall, Tag für Tag vor Augen, weiß lange vor der Bilanz, ob der liebe Gott ein gutes oder ein schlechtes Jahr geschickt hat, und denkt nicht daran, den Betriebsleiter dafür verantwortlich zu machen. Man kann nach allen Erfahrungen die Steigerung des Reinertrages im Beharrungszustande auf wenigstens 50% veranschlagen; namentlich die Ersparnis am lebenden und toten Inventar ist

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über alles Erwarten groß; in einem sehr bekannten Fall, Bredow bei Nauen, wurden in der Molkerei nach Einführung der Anteilwirtschaft genau so viel Stück Milchsatten zerschlagen wie vorher Dutzende! Der Grund, warum bisher die Großlandwirte so überaus selten der dringenden Empfehlung angesehenster Fachgenossen gefolgt sind, dieses überlegene Arbeitssystem zu adoptieren, lag offenbar nur in der Befürchtung, dadurch die Arbeiter allzu begehrlich zu machen und sozialistischen Experimenten die Wege zu bahnen. Ich will jetzt nicht fragen, ob das weise gedacht und gehandelt war. Nur das Eine ist klar, daß heute, unter völlig veränderten Verhältnissen, jener Grund nicht mehr besteht. Die Arbeiter sind jetzt überall begehrlich, und es handelt sich nur noch darum, weitergehenden, überaus gefährlichen - für das Ganze der Volkswirtschaft, nicht nur den Besitzer - gefährlichen, ja verderblichen Experimenten den Weg zu versperren. Und das bezweckt mein Vorschlag, der heute vielleicht mehr Beachtung finden wird als seit fünfundzwanzig Jahren, in denen ich ihn unermüdlich wiederhole. Er zielt auf Einführung dessen, was an der Konzeption der „landwirtschaftlichen ArbeiterProduktivgenossenschaft" wesentlich, nützlich und ungefährlich ist, unter Abstreifung derjenigen Elemente, die überflüssig sind und vielleicht gefährlich werden könnten. Die landwirtschaftliche Arbeiter-Produktivgenossenschaft ist nämlich ihrer Konzeption nach eine sich selbst dirigierende Betriebs- und Besitzgenossenschaft, die auf einem ihr eigentümlich gehörenden größeren Landgut alle Arbeit durch die Genossen ausfahren läßt („jeder Arbeiter Genösse und jeder Genösse Arbeiter") und den Ertrag nach der Leistung unter sich verteilt. Daran ist überflüssig das Moment des Eigenbesitzes; das von mir vorgeschlagene Anteils- oder Gewinnbeteiligungsverhältnis verspricht ganz die gleichen Erträge, natürlich nur, wenn der Vertrag auf die Dauer berechnet ist. Unnötig und vielleicht gefährlich ist auch die Bedingung der Selbstverwaltung in technischen Betriebsdingen. Unter unseren hoch entwickelten Verhältnissen ist kein Großbetrieb denkbar, der nicht unter straffer, autoritativer Leitung eines höher gebildeten Fachmannes steht. Nun hat sich allerdings herausgestellt, daß alle Verbände, die ungefähr der Konzeption der Genossenschaft nahe kamen - reine Fälle gibt es meines Wissens nur zwei in der gesamten Geschichte, von denen noch die Rede sein wird - , sich freiwillig unter Leitung gestellt und ohne jede Reibung unter ihr funktioniert haben. Die Disziplin war überall viel besser als in Lohnbetrieben. Dennoch habe ich meinen Vorschlag darauf abgestellt, auch die Möglichkeit von disziplinaren Schwierigkeiten zu vermeiden; ich will übrigens auch bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam machen, daß allem Erwarten nach auf die Dauer ohnehin ganz andere Methoden der Arbeitsordnung und Arbeiterbehandlung nötig sein werden, so daß dieser Grund zur Ablehnung fortan entfällt. Dann aber scheint mir durchaus kein anderer Grund mehr gegen den Plan vorzuliegen, als der sehr schlechte Ruf, dessen sich die Arbeitergenossenschaft leider zu erfreuen hat. Es muß mir daher daran liegen, zu zeigen, daß dieser schlechte Leumund nicht im mindesten realen Grund hat. Die landwirtschaftliche Arbeiter-Produktivgenossenschaft (ich werde sie der Länge des Namens wegen fortan die Landgenossenschaft nennen), leidet unter der Verwechslung mit einer ganzen Anzahl von namensverwandten Organisationen, denen sie in Wirklichkeit wesensentgegengesetzt ist. Die erste ist die industrielle Arbeiter-Produktivgenossenschaft. Sie ist in Tausenden von Fällen versucht worden und niemals geglückt. D. h.: sie ist in der Mehrzahl aller Fälle zusammengebrochen und hat sich in den wenigen Fällen, in denen sie privatwirtschaftlich gedieh, in kapitalistische Organisationen verwandelt, die den Namen der Genossenschaft nicht mehr zu Recht trugen. Ich habe zeigen können, daß es sich hier um keinen Zufall, sondern um ein entrinnbares Gesetz handelt, „das Gesetz der Transformation". Aber eben diese Analyse berechtigt mich nun auch zu der Feststellung, daß die Landgenossenschaft nach ihrem inneren Wesen und ihren äußeren Existenzbe-

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dingungen der industriellen Namensschwester in jedem Punkte entgegengesetzt ist, und daß theoretisch genau so viel Sicherheit dafür besteht, daß sie in allen vernünftig aufgezogenen Versuchen glücken muß, wie jene mit Sicherheit mißglücken muß. Die Landgenossenschaft wird zweitens verwechselt mit dem sogenannten „cooperative farming". Das besteht darin, daß ein reicher Konsumverein ein Großgut kauft und durch bezahlte Beamte mittels Lohnarbeiter bewirtschaften läßt. Diese Betriebe haben natürlich alle Schattenseiten administrierter Betriebe überhaupt und leiden noch daran, daß der Besitzer, der Konsumverein, einen unerschöpflichen Geldbeutel sein eigen nennt. Die Landgenossenschaft wird drittens verwechselt mit den sogenannten „productive agricultural associations" Englands. Das sind Aktiengesellschaften kleiner Ein-Pfund-Aktionäre, die gemeinsam ein Bauerngut gekauft haben und durch 3-4 angestellte Arbeiter bewirtschaften lassen, die oft nicht einmal Mitglieder der Genossenschaft sind. Auch hier fehlt das psychologische Moment des Selbstinteresses fast durchaus, da der Reingewinn auf die Aktien und nicht auf die Arbeitsleistung verteilt wird. Die Landgenossenschaft wird viertens verwechselt mit kommunistischen Gruppen. Daran ist vor allen Dingen Professor Preyer mit seinem verdienstvollen Buch über italienische Landarbeitergenossenschaften schuld. Er stellt fest, daß die landwirtschaftliche Produzenten-Genossenschah, d. h. die genossenschaftliche Vereinigung selbständig wirtschaftender Einzelbauern zum Zwecke des Erwerbs eines Gutes und für landwirtschaftliche Nebenbetriebe, sich als wesentlich vorteilhafter erwiesen habe als die Produktiv-Genossenschnh. Was er aber darunter versteht, ist gar nicht die Produktivgenossenschaft, sondern die kommunistische Gruppe, die sich von jener dadurch unterscheidet, daß sie den Ertrag nicht nach der Leistung, sondern nach Köpfen verteilt. Die Folge ist natürlich, daß niemand sich ernstlich bemüht. Keine kommunistische Gruppe mit dieser Art der Verteilung ist jemals zu höherer Blüte gelangt, und keine wird je dazu gelangen. Uberall gilt, was ein amerikanischer Student als Ursache des Mißerfolges einer solchen Kolonie drastisch angab: „Wir hatten eine Menge Philosophen, aber niemanden, der Kartoffel buddeln wollte." Die echte Arbeiter-Produktivgenossenschaft ist, wie schon gesagt, eine Arbeitsgemeinschaft, in der jeder Arbeitende (der Leiter eingeschlossen) Genösse, und jeder Genösse Arbeiter ist, und in der der Ertrag streng pro rata der Leistung verteilt wird. Nur hier sind die psychologischen Vorbedingungen des Erfolges gegeben. Mir sind, wie schon gesagt, nur zwei reine Fälle bekannt. Der erste Rahaline in Irland 1830-32. Der Versuch ist fabelhaft geglückt, ebenso nach der sittlichen Haltung der Genossen, wie nach der Rentabilität des Betriebes. Er wurde mitten im höchsten Gedeihen durch ein von außen kommendes, völlig unverschuldetes Unglück vernichtet: der Besitzer verspielte sein Vermögen, wurde flüchtig, und die Gläubiger bemächtigten sich des in seinem Werte hoch gesteigerten Gutes; es gab damals noch kein Genossenschaftsgesetz in England. Den zweiten Versuch habe ich unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen in Merchawja in Palästina angestellt. Er hat von 1911 bis jetzt bestanden. Wie er geglückt ist, darüber bringe ich wörtlich das Zeugnis seines Leiters, des Herrn S. Dyk, der zur Zeit einer der angesehensten und tüchtigsten Beamten des preußischen Landwirtschaftsministeriums ist, wie Interessenten durch eine Rückfrage bei dem Dezernenten für Moorkolonisation ohne weiteres haben feststellen können. Dieser Landwirt ersten Ranges schreibt folgendes: „Als Leiter der Oppenheimerschen Siedlungsgenossenschaft in Merchawja habe ich in vierjähriger Arbeit unter den schwierigsten Bedingungen des Klimas, auf ausgebeutetem und verwahrlostem Grund und Boden, unter den mißlichsten politischen Verhältnissen einer korrumpierten Regierung, mit einer unmöglichen Agrarverfassung und dadurch rückständigen Agrarnutzung, mit einer aus aller Welt zusammengelaufenen, der landwirtschaftlichen Betätigung unkundigen Arbeiterschaft, die noch dazu durch nationalistische und sozialradikale Tendenzen aufs äußerste

Der Ausweg

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demoralisiert und vom rein Wirtschaftlichen fast ganz abgelenkt war, einen landwirtschaftlichen Großbetrieb schaffen können, der sowohl in organisatorischer, als auch betriebstechnischer Beziehung jeden Landwirt in Deutschland befriedigt hätte. Dieses konnte nur gelingen und gelang auch nur aus dem Grunde, weil die auf dem Betriebe beschäftigte Arbeiterschaft äußer dem landesüblichen Lohn die Aussicht auf Beteiligung am Reingewinn hatte, und diese Aussicht durch die Tatsache, daß ein Privatbesitzer nicht gegeben war, gewährleistet wurde. Der Betriebsleiter in der Siedlungsgenossenschaft war nicht der Beauftragte eines Ausbeuters, der Sklaventreiber, sondern der erfahrene Berufsgenosse und Vertreter der Interessen aller im Betrieb Beschäftigten. Gebäude und Naturalien, lebendes und totes Inventar wurden behütet und geschont, wie es im Bauernbetrieb der Fall ist. Die Arbeiten und Leistungen wurden mit Freude und Eifer ausgeführt. Auf Grund dieser Erfahrungen zweifle ich nicht daran, daß ein Großbetrieb, dessen Arbeiterschaft, den Verwalter Inbegriffen, den vollen Reingewinn des Betriebes pro rata der Löhne und Gehälter ausbezahlt erhält, alle Vorteile des bisherigen arbeitsintensiven Kleinbetriebs mit allen Vorteilen des technisch vorgeschrittenen und kapitalintensiven Großbetriebes vereinigen und einen privatwirtschaftlich und volkswirtschaftlich bisher unerreichten Ertrag abwerfen wird. Ich bin selbst bereit, mich in den Dienst der praktischen Ausführung zu stellen. Ich mache mich anheischig, eine ganze Anzahl solcher Betriebe gleichzeitig einzurichten und zu überwachen und glaube mit meinem Namen für den Erfolg einstehen zu können. S. Dyk" Und noch ein einziges Wort zum Schluß. Gegen den Plan der Landgenossenschaft wird immer wieder ein Mißerfolg ins Feld geführt, den ich mit einem anderen, im Jahre 1906 begonnenen Versuch in Wenigenlupnitz bei Eisenach erlitten habe. Ich habe mehrfach in der Öffentlichkeit festgestellt, wie es sich mit diesem Mißerfolg verhalten hat. Meine landwirtschaftlichen Sachverständigen waren auf ein Gut hereingefallen, dessen Boden sie für drainierbar hielten, der sich aber als nicht drainierbar herausstellte, weil er aus so feinschlämmigem Ton bestand, daß die Drainage nicht zog. Ich mußte das Gut sofort wieder mit Verlust verkaufen, ohne den beabsichtigten Versuch auch nur begonnen zu haben. Der Arbeiterschaft war noch nicht einmal die Absicht mitgeteilt worden. Nur ein Böswilliger kann nach dieser Erklärung von dem Mißerfolg der Landgenossenschaft sprechen. Es war lediglich der Mißerfolg einer gemeinnützigen Gesellschaft, die „sich bekauft hatte", und das soll ja auch Privatleuten passieren, die nicht im mindestens siedlungspolitische, sondern lediglich privatwirtschaftliche Absichten haben! Ich wiederhole: alles spricht für und nichts gegen die Landgenossenschaft, die Theorie und die Praxis. Und in der von mir jetzt vorgeschlagenen Form, in der auch den Bedenken bezüglich der Disziplin Rechnung getragen ist, spricht nicht einmal mehr ein Scheingrund gegen sie. Für sie aber spricht außer den in der Sache selbst liegenden Momenten noch ein sehr wichtiges politisches. Der uns zur Zeit beherrschende marxistische Sozialismus, vertreten namentlich durch Karl Kautsky, ist entschlossener Gegner der bisherigen Einzelsiedlung und ebenso entschlossener Anhänger des genossenschaftlichen Großbetriebes. Man wird sich mit ihm viel leichter, wahrscheinlich sehr leicht, auf dieser Basis einigen können und gewinnt so die Aussicht, politisch und wirtschaftlich unzureichende und deswegen vielleicht gefährliche Versuche der Innenkolonisation zu verhüten.

Die soziale Forderung der Stunde Gedanken und Vorschläge

[1919]

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I. Noch einmal wende ich mich an die geistigen Führer der deutschen Arbeiterschaft. Die Zeit ist von so furchtbarem, so unmittelbar drohendem Ernst, daß jeder, der etwas zu ihren großen Problemen zu sagen hat, den Versuch machen muß, gehört zu werden, und daß alle, die es angeht, - und es geht alle an - verpflichtet sind, ihre Anschauungen auch dort einer nochmaligen ausdrücklichen Prüfung zu unterwerfen, wo sie sie völlig gesichert, jedem Zweifel entzogen glauben. Ich spreche als Sozialist zu gebildeten Sozialisten und brauche daher kein Wort an die Apologetik der bürgerlichen Theoretiker zu verschwenden. Kein Zweifel, daß alle unsere Nöte aus einer zentralen Wurzel stammen: aus dem Mehrwert - dem arbeitslosen Einkommen: Profit und Grundrente. Dieses eine und einzige Problem schließt alle übrigen Fragen unserer Gegenwart ein: die der Wirtschaftspolitik und der Staatspolitik, der inneren und der äußeren. Denn mit dem Mehrwert verschwinden die Klassen, und mit dem Klassenverhältnis all die Reibungsflächen, an denen sich der Kampf der Klassen im Inneren der Staaten und zwischen den leitenden Klassen der verschiedenen Staaten immer wieder aufs neue entzündet hat, bis zu der ungeheuren Katastrophe, in der wir jetzt stehen. Das Ziel des Strebens, die Rettung der Menschheit, kann daher nur sein die vom Mehrwert befreite und daher klassenlose Gesellschaft der Zukunft: der Sozialismus. Dieses Problem des Mehrwerts oder des Sozialismus ist aber - auch darüber kann zwischen Sozialisten keine Andeutung eines Streites bestehen - zu allererst ein theoretisches Problem. Nur ein „wissenschaftlicher Sozialismus" im Sinne von Marx kommt in Frage, d. h. eine Theorie, die ihn „mittels des Kopfes aus den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst ableitet"; jeder „utopische" Sozialismus, der ihn „aus dem Kopfe erfindet", ist von vornherein abzuweisen. Darum muß alle Untersuchung bei dem Wert beginnen, dem Oberbegriff, von dem der Mehrwert nur einen Unterbegriff darstellt. Wir können nicht wissen, was Mehrwert ist, ehe wir nicht wissen, was Wert ist. Das hat niemand früher und klarer erkannt, als unser aller Meister Karl Marx. Beginnen wir also gleich ihm mit der Betrachtung des Getriebes, in dem der Wert sich bildet, des Marktes.

II. Den Anfang aller Erklärung hat eine vollständige Beschreibung zu bilden. Wir dürfen uns nicht davor scheuen, allbekannte Dinge zu wiederholen, wenn wir, auf der Tabula rasa der unvoreingenommenen frischen Anschauung ganz neu aufbauen wollen. Wie ist also der Markt beschaffen? Was und wie ist er? „Der" Markt - nicht etwa „ein" Markt. Wir dürfen uns nicht an einen Markt anklammern und seine besonderen Erscheinungen studieren, sondern wir haben vorerst nur das zu betrachten, was allen Märkten gemeinsam ist. Auf allen Märkten bringen Privatpersonen gewisse Dinge zum Verkauf, über die sie die rechtliche Verfügung haben: Güter, Dienstleistungen, Grundstücke, Effekten aller Art, Rechte, wie ζ. B. Patente, Gebrauchsmuster, eingetragene Firmen, Miet- und Pachtrechte usw. Je nach dem Gegenstand, der zum Verkauf gebracht wird, unterscheiden wir den Markt der Güter, der Dienste (Arbeitsmarkt), der Effekten (Fondsbörsen), den Markt der Grundstücke, der Wohnungen, der Pach-

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tungen usw. Alle diese Märkte stehen in offener Kommunikation miteinander: man kann für Güter: Dienste und „Rechte und Verhältnisse", für Dienste: Güter, Rechte und Verhältnisse, und vice versa eintauschen. Die sämtlichen Märkte bilden also „den" Markt. Wir bedürfen eines Ausdrucks, der alle Gegenstände des Marktverkehrs zusammenfaßt. Der kaufmännische Sprachgebrauch nennt sie sämtlich „Waren": der Börsenmann erklärt den Preissturz eines Papiers genauso wie der Industrielle den eines Gutes damit, daß mehr „Ware" auf den Markt gebracht wurde, als die Nachfrage aufnehmen wollte oder konnte; und sogar auf dem Arbeitsmarkte kann man den Ausdruck öfter vernehmen. Da aber Marx unter „Ware" nur die auf dem Markte befindlichen Güter verstand, wollen wir einen neutralen Ausdruck wählen: nennen wir das, was auf allen Märkten zum Verkauf gestellt wird, „Wertdinge". Alle Wertdinge, die auf einem Markte zum Verkauf kommen, erzielen einen „Preis", auf höherer Gesellschaftsstufe einen in Geld gezahlten oder doch ausgedrückten Preis. Und zwar schwanken ihre Preise nach oben, wenn die Nachfrage das Angebot, und nach unten, wenn das Angebot die Nachfrage überwiegt. Wir können seit Stuart Mill den Punkt, auf den der Marktpreis sich einstellt, in recht genauer Formel angeben, die seitdem noch verfeinert worden ist. Sie interessiert uns hier nicht weiter. Wenn wir den Markt nicht mehr in einem gegebenen Augenblick, sondern in seinem zeitlichen Zusammenhang betrachten, so erkennen wir, daß die Preise um gewisse Mittelpunkte schwanken, die man früher als „Werte" oder „Tauschwerte" bezeichnete. Es sind das die Preise auf die Dauer und im Durchschnitt; diejenigen, auf die der Markt hin „tendiert", oder, präziser ausgedrückt: die Punkte, auf die sich alle Marktpreise einstellen würden, wenn die Konkurrenz ihren Beharrungszustand erreicht hätte, weil kein Produzent Ursache hätte, den geltenden Preis zu unterbieten, und kein Konsument, ihn zu überbieten. Wo liegt dieser Tauschwert „jeder Ware für sich"? Das ist das nationalökonomische Problem von der Höhe des Wertes.1 Die Beobachtung des Marktes zeigt uns, daß es zwei verschiedene und von jeher unterschiedene Arten des Tauschwertes gibt. Die eine Klasse ist die der sogenannten „beliebig reproduzierbaren Waren", d. h. derjenigen, bei deren Produktion völlig freie Konkurrenz besteht oder, mit anderen Worten, die jedermann erzeugen, beziehungsweise zu Markte bringen kann und darf, der es will, weil ihm der Marktpreis Vorteil verspricht. Die andere Klasse ist die der Monopoldinge, d. h. diejenigen, bei deren Produktion nicht völlige freie Konkurrenz besteht, oder, mit anderen Worten, die nicht jedermann zu Markte bringen kann oder darf, der es wollte. Wenn er es nicht kann, besteht ein sogenanntes natürliches, wenn er es nicht darf, ein rechtliches Monopol. Der Tauschwert der ersten Klasse wird lediglich bestimmt durch die insgesamt aufgewendete Arbeit, gemessen an der Zeit, wobei qualifizierte Arbeit auf gesellschaftlich durchschnittliche Arbeit reduziert wird. Hier war die Marxsche Formulierung grundsätzlich durchaus richtig, wenn sie auch in ihrer Begründung und Ausgestaltung einige schwache Punkte aufwies, gegen die die Gegner, namentlich die Grenznutzentheoretiker, ihre Angriffe gerichtet haben.2 Es bleibt also bei der Ricardo-Marxschen grundsätzlichen Formel: Wo Produzenten von gleicher Qualifikation ihre Produkte austauschen, da tauscht sich Arbeitszeit gegen Arbeitszeit, Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag. Und wo Produzenten von ungleicher Qualifikation ihre Produkte austauschen, da tauscht sich eine Stunde gesellschaftlich durchschnittlicher Arbeit nach einem uns hier nicht weiter interessierenden gesellschaftlichen Maßstab gegen weniger als eine Stunde höherer „komplizierter" Arbeit. Hier liegt kein drängendes Problem vor.

1 2

Es gibt noch ein zweites Wertproblem, das von der Ursache des Wertes. Es unterliegt der Untersuchung durch die Psychologie. Die Ökonomik nimmt als gegeben an, daß gewisse Dinge „Wert haben". Vgl. Oppenheimer, Wert und Kapitalprofit, Jena 1916.

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Anders stellt sich der „Preis" der Monopoldinge auf die Dauer und im Durchschnitt ein, und zwar regelmäßig höher. Man kann das an einem Patentartikel, also einem rechtlichen Monopolgut, ohne weiteres betrachten. Solange das Patent läuft, darf sich niemand als der Privilegierte und seine Lizenzträger an der Produktion beteiligen, und darum wirft der Verkauf erfolgreicher Patentartikel regelmäßig Ubergewinne, Surplusgewinne ab; mit dem Augenblick, wo das Privileg erlischt, setzt die Konkurrenz ein, das Angebot steigt, der Preis sinkt, und der Surplusgewinn verschwindet. Bei monopolisierten Wertdingen steht der Preis mithin auch auf die Dauer und im Durchschnitt, d. h. solange das Monopol besteht, auf einem höheren Punkt als demjenigen, der durch die aufgewendete Arbeit beziehungsweise die auf durchschnittliche reduzierte Arbeitszeit bestimmt wird. Darin liegt grundsätzlich nicht die mindeste Schwierigkeit. Aber praktisch ist es oft schwer, und zuweilen unmöglich, von einem gegebenen Preise auszusagen, ob er ein „natürlicher Preis" der vollen Konkurrenz oder ein „Monopolpreis" der irgendwie beschränkten oder völlig aufgehobenen Konkurrenz ist. Jedenfalls muß jede Untersuchung irgendeines Preises, sei es der eines Gutes, eines Dienstes, oder eines Rechtes oder Verhältnisses, mit der Frage beginnen, ob es sich um einen Konkurrenz· oder einen Monopolpreis handelt. Wer die Frage nicht stellt, hat keinerlei Gewißheit, zu einer richtigen Allgemeinauffassung zu gelangen, aber alle Aussicht, in die Irre zu gehen. Fragen wir nun wieder, was geschieht, wenn im Beharrungszustande der Konkurrenz - in der „Statik des Marktes" sagt die neuere Ökonomik - sich ein monopolisiertes Ding gegen ein beliebig reproduzierbares Ding tauscht. Dann tauscht sich offenbar auch in dem Falle, daß Produzenten gleicher Qualifikation einander gegenüberstehen, nicht Arbeitszeit gegen Arbeitszeit; sondern der Monopolist gibt weniger Stunden hin, als er erhält. Und d. h., von der anderen Seite her gesehen, daß sein Kontrahent mehr Stunden hingibt, als er empfängt. Damit haben wir, wenn auch vielleicht nicht „die", so doch jedenfalls „eine" Erklärung des gesellschaftlichen Mehrwerts entdeckt, und zwar eine, die Marx' suchendem Blicke entgangen ist.1 Das Problem des Mehrwerts lautet ja in seiner Anschauung von Seiten der Arbeiterklasse her folgendermaßen: „Wie ist es möglich, daß der Arbeiter für sage zehn Stunden gesellschaftlich durchschnittlicher Arbeit nur sage fünf Stunden im Lohn zurückerhält, oder: daß er für zehn Stunden Arbeit einen Lohn erhält, mit dem er nur Waren einkaufen kann, in denen fünf Stunden anderer durchschnittlicher Arbeit verkörpert sind?" Das könnte wenigstens die Folge davon sein, daß der Kapitalist dem Arbeiter als ein Monopolist gegenübersteht oder, anders ausgedrückt, daß zwischen ihnen ein gesellschaftliches Monopolverhältnis besteht. Wenn wir ein solches nachweisen können, ist unsere theoretische Aufgabe völlig gelöst; wenn wir es nicht nachweisen können, müssen wir den Versuch machen, eine zweite Quelle des Mehrwerts aufzufinden.

III. Besteht zwischen Arbeitern und Kapitalisten ein gesellschaftliches Klassenverhältnis, das als Monopolverhältnis charakterisiert ist? Daß ein gesellschaftliches Klassenverhältnis zwischen ihnen besteht, hat wieder Karl Marx als erster erkannt und ohne Zweideutigkeit ausgesprochen. „Ein Neger ist ein Neger: in bestimmten Verhältnissen wird er erst zum Sklaven. Eine Baumwollmaschine ist eine Maschine zum Baumwoll1

„Man mag sich drehen und wenden wie man will, das Fazit bleibt dasselbe. Werden Äquivalente ausgetauscht, so entsteht kein Mehrwert, und werden Nicht-Äquivalente ausgetauscht, so entsteht auch kein Mehrwert." (Marx, Das Kapital, [Bd. I], S. 126.) Marx hat vergessen zu fragen, was geschieht, wenn ein Teil der Warenbesitzer, die Monopolisten, einen Aufschlag auf den natürlichen Preis nehmen kann oder darf, ein anderer Teil, die Nicht-Monopolisten, aber nicht. [Vgl. unten die Marxschen Sätze auf S. 92 dieses Bandes; A.d.R.]

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spinnen; nur unter bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital"1, d. h. „zu Mehrwert heckendem Wert". So drückt er sich aus und beschreibt dann dieses „gesellschaftliche Kapitalverhältnis"-wit folgt: Wo am einen Pol der gesellschaftlichen Stufenleiter sich alle Produktionsmittel im Eigentum einer Minderheit befinden, während am andern Pol sich „der freie Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfindet, frei in dem Doppelsinne, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen"2. Ist dieses von Marx beschriebene „gesellschaftliche Kapitalverhältnis" ein gesellschaftliches Monopolverhältnis? Unzweifelhaft! Nur weil der Arbeiter „frei" ist, weil er keine Sachen hat, um seine Arbeitskraft im eigenen Interesse als Selbständiger zu verwirklichen, weil die „Hungerpeitsche" über ihm schwebt, nur deshalb ist er gezwungen, sich einem der Kapitalisten gegen einen Lohn zu verdingen, der jenem einen Mehrwert übrigläßt: Wir haben also hier die „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses", die alle Monopolverhältnisse, individuelle und gesellschaftliche, charakterisiert. Wenn aber noch ein Zweifel bestehen sollte, so mag ihn das Erfurter Programm zerstreuen. Hier steht in den ersten beiden Absätzen wörtlich: „(...) indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden. Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel (...)." Diese Sätze dürften gegenüber marxistischen Sozialisten, zu denen ich hier spreche, ein starkes argumentum ad hominem bedeuten. Freilich: man hat aus der in diesen programmatischen Sätzen ausgesprochenen Erkenntnis keine Folgerungen gezogen; das Wort „Monopol" ist hier rein schlagwortmäßig gebraucht: wie Marx selbst haben seine Nachfolger und Schüler den Monopolbegriff niemals genauer untersucht und niemals mit dem des Mehrwerts in die zureichende Verbindung gebracht, die wir soeben skizziert haben. Und so blieb dem Fortbildner der marxschen Theorie hier, nur hier, die ganze Arbeit zu leisten. Die Hauptfrage war hier, wie bei jedem Monopol, die nach seinem sachlichen Substrat. Ein Monopolverhältnis ist, um einen wahrhaft klassischen Ausdruck Marxens anzuwenden, ein „durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen". Der Monopolist muß über eine „Sache", über irgendein Wertding, rechtlich oder faktisch verfügen, dessen der Kontrahent dringender bedarf als der Monopolist des angebotenen Gegenwertes. Diese Sache spielt lediglich die Rolle des Hypomochlion, des Widerlagers, bei der Hebelwirkung; es muß vorhanden sein, aber die Höhe des Monopolgewinns, des Mehrwerts, hängt von nichts anderem ab als von der Länge der Hebelarme, d. h. von dem Maße, in dem das Austauschbedürfnis des Kontrahenten das des Monopolisten überwiegt. Der Monopolgewinn ist, nach Adam Smith, „immer so hoch, wie er irgend erpreßt werden kann". Was ist die Sache, die das gesellschaftliche Monopolverhältnis vermittelt? Der erste Gedanke ist naturgemäß der, daß es das „Kapital" in seinem „volkswirtschaftlichen Sinne" sei, also die produzierten Produktionsmittel. Er muß abgewiesen werden: denn diese Produktionsmittel sind „beliebig reproduzierbar", können also auf die Dauer nicht als Substrat eines Monopolverhältnisses funktionieren. Das sachliche Substrat muß also an anderer Stelle gefunden oder der Gedanke aufgegeben werden, daß das Kapitalverhältnis ein echtes Monopolverhältnis sei. Auf die Spur des wahren Sachverhalts brachte mich bereits in meiner ersten Arbeit von 1896 die in allen kapitalistischen Ländern gleiche Tatsache der Wanderung, die sich durch alle Jahrzehnte der Beobachtung hindurch mit dem seltensten „statistischen Eigensinn" durchgesetzt hat: Überall ist die Fortwanderung vom Großgrundbesitzbezirke ungeheuer viel stärker als vom Bauernbezirke, trotz1 Marx, Das Kapital, [Bd. I], S. 731. 2 Ebenda, S. 131.

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dem der letztere - eben dank der geringeren Wanderung - viel stärker besiedelt ist als der erstere. Uberall in der kapitalistischen Welt verarmt das Großgnindeigentum an Bewohnerschaft, während die Bauernbezirke um so stärker zunehmen, je kleiner und gleichmäßiger verteilt der Besitz ist. Die Bodengüte, die Betriebsrichtung und vor allem die technische, die „kapitalistische" Ausstattung sind offenbar nur kleine Nebenursachen neben der entscheidenden Hauptursache der Bodenverteilung.1 Dieses Gesetz des Zusammenhanges zwischen Bodenverteilung und Wanderbewegung war schon in den siebziger Jahren von von der Goltz völlig klar formuliert worden. Mir diente es als Hauptschlüssel der Untersuchung, die mich über zahlreiche Zwischenstufen 1916 endlich zu einer Lösung gebracht hat, die ich für endgültig halte. Sie ist der „Bodenreform" einigermaßen verwandt (Kautsky hat mich denn auch als einen Bodenreformer bezeichnet), unterscheidet sich aber in den wichtigsten Punkten von den vielen älteren bodenreformerischen und agrarsozialistischen Lösungsversuchen, vor allem darin, daß ich nicht den Bodenbesitz schlechthin, sondern nur den GroßBodenbesitz für den Mehrwert verantwortlich mache. Das primäre sachliche Substrat des gesellschaftlichen Monopolverhältnisses, das Marx als „Kapitalverhältnis" bezeichnet hat, ist der Grund und Boden; er ist monopolisiert, ist durch Monopolisierung gesperrt. Das läßt sich leicht nachweisen. Uberall in der kapitalistischen Welt ist aller Boden das Eigentum eines Teiles der Bevölkerung, zumeist einer kleinen Minderheit, während alle anderen, in der Regel die große Mehrheit, ohne Bodeneigentum sind. Nun braucht aber jedermann Boden auf das allerdringendste, jeder als „Standort" für Wohn- und Werkstattzwecke, viele, die Landwirte, Gärtner usw., außerdem noch als „Produktionsmittel". Sie müssen daher, um das durchaus Unentbehrliche zu erlangen, den Besitzern anbieten, über was sie selbst verfügen. Dabei ist die Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses ganz auf ihrer Seite: Denn die Eigentümer besitzen ja das Unentbehrliche bereits, bedürfen daher, von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, der Gegenleistung viel weniger dringend als die Kontrahenten der Leistung. Wir haben also auch auf die Dauer und im Durchschnitt ein wohlcharakterisiertes gesellschaftliches Monopolverhältnis, und so springt denn auch regelmäßig Mehrwert heraus. Der Kontrahent, der über Güter, namentlich über Geld oder geldwerte Rechte und Verhältnisse, verfügt, zahlt für Nutzung oder Substanz einen Mehrwert im Kaufoder Miets- beziehungsweise Pachtpreis: Und der „freie Arbeiter", der nichts besitzt, tritt den Mehrwert ab, indem er sich mit einem Lohn begnügt, der hinter dem Werte seiner Arbeit oder seines Erzeugnisses zurückbleibt, indem er also ζ. B. zehn Stunden gesellschaftlich durchschnittlicher Arbeit für einen Lohn leistet, mit dem er nur fünf Stunden gesellschaftlicher Arbeit, verkörpert in Gütern, zurückkaufen kann. Gegen diese Erklärung haben mehrere folgenden Einwand gemacht: Von einem Bodenmonopol kann keine Rede sein; denn ein Monopol besteht nur dort, wo entweder ein Einzelner oder eine zu gemeinsamer Preispolitik verbundene Gruppe die Verfügung über ein Gut besitzt. Der Boden gehört nicht einem Einzelnen, sondern Hunderttausenden, die sicherlich zu keiner gemeinsamen Preispolitik verbunden sind. Der Einwand ist abzulehnen. Er verwechselt einen Teil mit dem Ganzen. Die restlose Beherrschung des Angebots durch einen Einzelnen oder eine gemeinsam handelnde Gruppe ist nur bei einer wohlcharakterisierten Klasse von Monopolen erforderlich, nämlich denen der beliebig vermehrbaren Güter. Hier, ζ. B. bei Patenten, wo nur einer das Angebot beherrscht, oder bei Trusts und Kartellen, wo eine Gruppe ausdrücklich zur Einschränkung des Angebots vertraglich verpflichtet ist, gilt jenes Gesetz unbedingt, aber es gilt nicht für unvermehrbare Güter, die dringender nachgefragt als angeboten werden. Hier treibt die leidenschaftliche Nachfrage der Verbraucher den Preis über seine „natürliche" Höhe auch dann auf einen Monopolpreis, wenn die Eigentümer der unver1

Vgl. Oppenheimer, Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre, Berlin 1903, Kapitel 7, [vgl. derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 423ff.; A.d.R.].

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mehrbaren Ware nicht im mindesten mit einander verabredet sind, ja wenn sie nicht einmal voneinander wissen. Die Nachfrage überbietet sich selbst, wie wir in diesen Kriegszeiten täglich erleben, wo alle Subsistenzmittel Monopolgüter geworden sind, und zwar nicht beliebig vermehrbare. Nun ist Grund und Boden zweifellos ein nicht beliebig vermehrbares Gut1: Folglich ist eine Abrede der Besitzer nicht erforderlich, und jener Einwand abzulehnen. Der Boden ist trotz der Zersplitterung des Eigentums ein wohl charakterisiertes Monopol. Wer Boden besitzt, gleichviel ob als Eigentümer oder Mieter beziehungsweise Pächter, und außerdem noch einen Stamm von produzierten Produktionsmitteln (die erst dadurch einen, und zwar einen sekundären, Monopolcharakter erlangen), groß genug, um freie Arbeiter daran zu beschäftigen, ist Kapitalist und zieht den Mehrwert in der Gestalt des Profits ein; wer besseren oder marktnäheren Boden hat, bezieht, wenn er ihn selbst ausnutzt, neben dem Profit auch noch die Grundrente·, vermietet oder verpachtet er ihn an einen Kapitalisten, so bezieht dieser den Profit, der Eigentümer nur die Grundrente. Lassen wir diese aus dem Spiele, da sie seit Ricardo kein Problem mehr darstellt. Dann zeigt sich, daß die Konkurrenz es „auf die Dauer und im Durchschnitt" dahin bringen muß, daß alle freien Arbeiter gleicher Qualifikation den gleichen Mehrwert abzutreten haben, und daß sich dieser „gesellschaftliche Mehrwert" auf alle Kapitalisten gleichmäßig, d. h. derart verteilt, daß auf gleiche Kapitale gleiche Mehrwertsmassen entfallen. Hier sind wir wieder mit Marx völlig in Übereinstimmung. Das ist die Theorie vom Mehrwert und seiner Ursache. Sie besteht nur aus drei Sätzen. Erstens: Es gibt Monopole. Zweitens: Beim Tausch von Monopoldingen gegen Nicht-Monopoldinge entsteht Mehrwert. Drittens: Der Boden ist ein Monopolgut. Und diese Sätze sind, soweit ich urteilen kann, sämtlich unbestreitbar. Was Satz eins und zwei anlangt, so können sie sich wieder auf eine unzweideutige Äußerung von Marx selbst berufen. Er schreibt: „Damit die Preise, wozu Waren sich gegen einander austauschen, ihren Werten annähernd entsprechen, ist nichts nötig als (...) 3) soweit wir von Verkauf sprechen, daß kein natürliches oder künstliches Monopol eine der kontrahierenden Seiten befähige, über den Wert zu verkaufen oder sie zwinge, unter ihm loszuschlagen. 'a Und was Satz drei anlangt, so scheint er mir bewiesen zu sein. Was aber das Ganze der Theorie anlangt, so ist das wichtigste, daß sie fast verbis expressis von Marx selbst entwickelt worden ist. Sie trägt freilich nichts, sondern bildet einen Anhang, ein Paralipomenon, aber das hindert nicht, daß sie dasteht, breit und nicht wegzuleugnen, und zwar im 25. Kapitel des ersten Bandes des „Kapital" unter dem Titel: „Das moderne Kolonialsystem". Hier heißt es unter anderem: „Das Wesen einer freien Kolonie besteht darin, daß die Masse des Bodens noch Volkseigentum ist, und jeder Ansiedler daher einen Teil davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Ansiedler an derselben Operation zu hindern. (...) Die absolute Bevölkerung wächst hier viel stärker als im Mutterland (...), und dennoch ist der Arbeitsmarkt stets untervoll. Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker!"3 „Solange aber der Arbeiter für sich selbst akkumulieren kann,

1

Ich scheue mich fast, den Schulbegriff zu erläutern. U m aber auch weniger sattelfeste Leser vor Irrtümern zu bewahren (die leider nicht selten sind), sei gesagt, daß „beliebig vermehrbar" nicht bedeutet: unendlich vermehrbar. Ein G u t ist beliebig vermehrbar, wenn es in jeder Menge hergestellt werden kann, die der Markt aufzunehmen „beliebt", indem er auch dem ungünstigst gestellten Produzenten noch seine gesamten Aufwendungen, seine eigene Arbeit eingeschlossen, vergütet. Ein solches Gut ist ζ. B . Weizen oder Gold, aber bestimmt nicht Grund und Boden; er ist nicht absolut unvermehrbar, wohl aber im ökonomischen Sinne unvermehrbar, weil nicht „beliebig" vermehrbar.

2

Marx, Das Kapital, Bd. III, 1. Teil, S. 136.

3

Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 734.

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und das kann er, solange er Eigentümer seiner Produktionsmittel bleibt, ist die kapitalistische Akkumulation und die kapitalistische Produktionsweise unmöglich."1 Karl Kautsky sagt in seinem Kommentar ohne Umschweife: „Damit hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein. Sie verwerten sich nicht." 2 Mir scheint, daß die sachliche Ubereinstimmung vollkommen ist. Wo kein Bodenmonopol besteht, gibt es kein Kapital und keinen Kapitalismus. Das sage ich, und das sagen, nur mit ein bißchen anderen Worten, auch Marx und sein Schüler Kautsky.

IV. Aus dieser Theorie ergibt sich ein praktisches, unmittelbar ausführbares Programm. Nur darum entwickle ich den scheinbar so abstrakten Gedankengang heute, wo der Zeiger der Weltgeschichte auf „eine Minute vor Zwölf" steht. Es ist vielleicht noch möglich, den Wagen herumzureißen, ehe er in den Abgrund stürzt, ist vielleicht noch möglich, die Ausbreitung der bolschewistischen Experimente zu verhindern, die, indem sie ein leider nur zu sehr berechtigtes Ressentiment der durch Jahrhunderte hindurch geknechteten und ausgebeuteten Massen befriedigen, doch alle, und vor allem die Volksmasse, und in ihr vor allem die Arbeiterschaft, ins Verderben stürzen und die Freiheit und den Sozialismus auf Jahrhunderte hinaus diskreditieren. Wie sieht dieses Programm aus? Es hängt davon ab, welcher Art das Bodenmonopol ist. An unvermehrbaren Gütern gibt es zwei Arten von Monopolen. Eines, das darauf beruht, daß der Vorrat dem Bedarf gegenüber absolut zu klein ist, ein zweites, das darauf beruht, daß ein an sich, von Natur aus, ausreichender Vorrat von wenigen gesperrt, monopolisiert wird. In einer belagerten Stadt ζ. B. steigt das Korn in zwei Fällen auf einen Monopolpreis, erstens, wenn zu wenig davon vorhanden ist, und zweitens, wenn zwar überreiche Mengen vorhanden sind, aber von wenigen Besitzern gesperrt werden, oder, mit anderen Worten, wenn eine große Anzahl von Nicht-Kornbesitzern einer kleinen Anzahl von GroßKornbesitzern gegenübersteht. Welcher dieser beiden möglichen Fälle liegt beim Bodenmonopol vor? Die Antwort entscheidet über die praktischen Maßnahmen, die zu treffen sind. Wenn der erste Fall vorliegt, wenn absolut zu wenig Boden vorhanden ist, um das Bedürfnis der Gesamtheit zu befriedigen, gibt es nur das eine Mittel, allen Boden zu vergesellschaften, um den Monopolgewinn der Gesamtheit zuzuführern. Wenn aber der zweite Fall vorliegt, wenn der Vorrat übergroß ist, aber eine große Anzahl von Nicht-Bodenbesitzern einer kleinen Anzahl von Groß-Bodenbesitzern gegenübersteht, dann genügt es offenbar, den Großbesitz zu enteignen und den Vorrat zur allgemeinen Verfügung stellen. Denn dann treten - nach Marx und Kautsky - die Verhältnisse einer „freien Kolonie" ein; „jeder Ansiedler kann einen Teil des Bodens in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln, ohne den späteren Ansiedler an der gleichen Operation zu hindern". Und dann „hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein. Sie verwerten sich nicht". Nun, zweifellos liegt der zweite Fall vor. Selbst in einem so dicht bevölkerten Lande wie Deutschland stellt eine, stellt sogar eine nur zum Teil erfolgende Expropriation des Großgrundeigentums sofort die Verhältnisse einer „freien Kolonie" her.

1 2

Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 732. Kautsky, Karl Marx' ökonomische Lehren, Stuttgart 1912, S. 265.

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Ich habe den Beweis mehrfach aufgrund genauer statistischer Zahlen erbracht1 und muß darauf verweisen. Hier nur einige ganz kurze Angaben: Alle Sachkenner sind darin einig, daß in Deutschland 1 ha Nutzland pro Kopf, also zirka 5 ha pro Familie, durchschnittlich ausreichen, um eine bäuerliche Familie bei der bestehenden Intensität der Ackerkultur und Viehhaltung voll zu beschäftigen und anständig-mittelständisch zu ernähren. Die äußerste Grenze, bei der selbst bei extensivster Ackerkultur in verkehrsarmer Gegend auf geringem Boden ein Betrieb ohne Arbeiter auslangen kann, liegt etwa bei 15 ha. Dafür beginnt die Selbständigkeit beim Bauern auf gutem Boden und in guter Verkehrslage bereits bei 2 ha, beim Gärtner auf noch bedeutend kleinerer Fläche. Deutschland hat rund 32 Millionen ha reines agrarisches Nutzland zu denen noch etwa 2 Millionen geringe Weide und Millionen von Hektaren kultivierbarem Ödland, namentlich von Hochmooren treten. Es könnte daher eine selbständige, mittelständische Bevölkerung von Bauern und Gärtnern in einer Anzahl von wenigstens 34 Millionen Köpfen ernähren. Seine gesamte Bevölkerung der Klasse Α aber (Land- und Forstwirtschaft, Jagd, Viehzucht, Fischerei usw.) beläuft sich nur auf knapp die Hälfte: 17 Millionen Köpfe insgesamt (mit Angehörigen). Wenn man also heute allen Landwirten Deutschlands pro Kopf einen Hektar Land geben würde, könnten an dem übrigbleibenden Reste zunächst noch 17 Millionen „spätere Ansiedler die gleiche Operation vornehmen". Es liegt also offenbar nicht an der Knappheit des Vorrats, sondern an seiner Monopolisierung durch Groß-Bodenbesitzer. Hören wir die Statistik. Von jenen knapp 17 Millionen der landwirtschaftlichen Bevölkerung wurden 1907 nicht weniger als 9 1/3 Millionen, also über die Hälfte, als „Arbeiter samt Angehörigen" bezeichnet, hatten also gar kein Land oder nur unzureichende Fetzen. Von rund 2.400.000 landwirtschaftlichen Hauptbetrieben hatten rund 90.000: weniger als 1/2 ha, 370.000: 1/2-2 ha, 719.000: 2-5 ha, 590.000: 5-10 ha, 392.000: 10-20 ha. Diese fünf Klassen, in die bereits der große mittelbäuerliche Besitz (10-20 ha) einbezogen ist, umfassen zusammen 90% der Hauptbetriebe - und diese neun Zehntel eignen zusammen nur 44% des Nutzlandes. Der Durchschnitt pro Betrieb ist nur 5,8 ha. Den Rest von 56% des Nutzlandes, nehmen die Großbauern (20 bis 100 ha) und die Großgrundbesitzer (über 100 ha) ein, die zusammen nur ein Zehntel der Hauptbetriebe ausmachen. Und zwar gibt es rund 220.000 kleine Großbauern mit je 20-50 ha, rund 35.000 große Großbauern mit je 50100 ha und rund 23.000 Großgrundbesitzer, darunter 3.460 mit über 500 ha. Damit scheint mir der Ring der Beweise völlig geschlossen. Wir stehen einem Bodenmonopol gegenüber, beruhend auf der Monopolisierung des an sich überaus reichen Vorrats an Nutzland durch eine winzige Minderheit von Groß-Bodenbesitzern gegenüber den Nicht-Bodenbesitzern. Die einzige erforderliche Maßnahme, um den Kapitalismus aufzuheben, ist also die Verwandlung Deutschlands in eine „freie Kolonie" durch Enteignung des Groß-Bodenbesitzes. Mehr zu sagen ist einem Marxisten gegenüber eigentlich überflüssig. Wenn die Theorie vor der Logik und den Tatsachen besteht, ergibt sich daraus die Taktik von selbst. Es ist völlig klar, daß das Bodenmonopol sozusagen die Fülle des Ballons ist, die das Gas des Mehrwerts zusammenhält und dem Ganzen seine Steigkraft verleiht: Wenn wir die Hülle aufreißen, muß das Gas ausströmen. Ich will aber das Programm in knappster Skizze im einzelnen entwickeln, um den kürzesten Weg zu zeigen und gleichzeitig scheinbare Schwierigkeiten zu beseitigen.

1

A m ausführlichsten in meiner Broschüre: „Die soziale Frage und der Sozialismus", Jena 1912. Erster Teil, 1. Kapitel [Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 626 bis 643; A.d.R.].

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V. Nehmen wir an, das deutsche Proletariat erlange die Macht, die Verfassung des Landes nach seinem Willen zu ordnen, dann handelt es sich darum, die Schwierigkeiten zu beseitigen, durch die bisher alle proletarischen Umwälzungen zuletzt doch wieder in den Abgrund gestürzt worden sind. Es sind das namentlich zwei. Erstens der Widerstand der durch die Expropriation bedrohten Besitzenden, nicht nur der großen Bourgeoisie, sondern auch des Mittelstandes bis in seine tiefsten Schichten herab, vor allem der Bauernschaft in ihrer Masse. Zweitens die sofort einsetzende Lähmung der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung und -Vereinigung. Die Fabriken und Werkstätten stehen still, das Transportwesen wird desorganisiert, die Städte werden die Attraktionszentren einer ungeheuren Zuwanderung von Landproletariern, die doppelt leiden und doppelt gefährlich werden, weil sie weder Arbeit noch Brot finden. Denn das Land kann nicht im bisherigen Maße Nahrung senden, weil der Transport und der Handel desorganisiert sind, und will es auch nicht, weil der Bauer in seiner großen Masse der Revolution feindlich ist, die auch ihn mit Enteignung bedroht. Die Aufgabe ist also, möglichst wenige unmittelbar in ihrem Vermögen, und diese möglichst sanft anzufassen, und die volkswirtschaftliche Kooperation womöglich zu beflügeln, jedenfalls nicht zu hemmen. Dazu genügen vollkommen die folgenden Maßnahmen. Das Reich beziehungsweise die Einzelstaaten stellen ihren Domänenbesitz in dem Maße, wie er pachtfrei wird oder durch Lösung des Pachtverhältnisses freigemacht werden kann, für die Zwecke der Ansiedlung zur Verfügung. (Die Nutzfläche der preußischen Domänen allein betrug 1913: 436.000 ha.) Ferner wird das bisher ungenutzte Ödland, vor allem die Moore, die schnell und sicher in hochwertigen Kulturboden verwandelt werden können, gegen Entschädigung expropriiert und so schnell wie möglich kultiviert. (In Preußen allein gibt es noch 1,6 Millionen ha kultivierbaren Hochmoores.) Wenn dieser Landvorrat der Nachfrage noch nicht genügt, wird aus Privatbesitz Boden gegen Entschädigung erworben; hier sollten vor allem die eigentlichen Latifundien herangezogen werden, die großen Fideikommisse und die ihnen nahestehenden sonstigen rechtlich gebundenen sehr großen Güter. Außerdem kommt ein staatliches Vorkaufsrecht bei jedem freiwilligen Besitzwechsel an Gütern mit einer Nutzfläche von über 20 ha in Betracht. Um den Boden nicht allzu teuer zu erwerben und die Ansiedler nicht von vornherein in Schwierigkeiten zu bringen, sollte höchstens der durchschnittliche Ertragswert der letzten drei oder fünf Jahre vor dem Kriege bezahlt werden. Da die Bodenpreise voraussichtlich stark sinken werden, wird man das zuerst erforderliche Siedlungsland wahrscheinlich freihändig noch billiger erlangen; später wird es noch viel billiger werden, wie sofort gezeigt werden wird. Aus diesen verschiedenen Quellen wird man voraussichtlich mehr Boden erhalten, als die zu Anfang vorhandene Nachfrage geeigneter Siedlungslustiger aufnehmen kann und will; man wird daher um die Expropriation - mit Ausnahme der des ungenutzten Ödlandes, die ganz unbedenklich ist vielleicht ganz herumkommen und wird jedenfalls mit dieser ultima ratio nur so von fern und mit solchen Kautelen drohen müssen, daß die Besitzer sich nicht gefährdet fühlen. Das nämlich ist für den ungestörten Fortgang der landwirtschaftlichen Erzeugung und der Nahrungsversorgung der Städte von größter Bedeutung. Wo geeignete Bewerber mit einigem Vermögen und Teilstücke von geeigneter Größe und Beschaffenheit vorhanden sind oder durch Parzellierung und Bebauung schnell genug aus Großbesitz geschaffen werden können, setzt man selbständige Gärtner und Klein- und Mittelbauern auf durchschnittlich 5 ha Nutzland an; die populären Sicherungen gegen die Bodenspekulation (Heimstättenrecht, Rentengut, Erbpacht, Erbbaurecht, Rückkaufsrecht und dergleichen) lassen sich leicht

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schaffen. Die Siedler zahlen den Zins des Bodens und die Baukosten; eine Amortisation ist nicht erforderlich, wie gezeigt werden wird. Wo aber geeignete Bewerber für selbständige Bauernschaft fehlen - die Landarbeiter haben in der Regel weder die Lust noch die Qualifikation dazu soll der Großbetrieb mindestens vorläufig erhalten bleiben, aber durch eine neue Arbeitsverfassung den Ansprüchen der Arbeiterschaft angepaßt und gleichzeitig, wie wir bestimmt erwarten, zu viel höherer Produktivität und Rentabilität entwickelt werden. Die bisherige Arbeiterschaft der erworbenen Güter und Domänen wird zu Genossenschaften zusammengefaßt, die den Kaufpreis zu verzinsen haben. Eine Amortisation ist auch hier unnötig; er amortisiert sich automatisch in kürzester Zeit. Die Genossenschaft wirtschaftet zunächst gemeinsam als Produktivgenossenschaft unter ihrem alten Leiter, wenn sie sich mit ihm über sein Gehalt usw. einigt, sonst unter einem von ihr gewählten und vom Staat beaufsichtigten bewährten Fachmann, den sie anstellt. Es ändert sich also fürs erste nicht das mindeste an der Betriebsweise und Betriebsrichtung, der Wagen läuft ruhig im alten Gleise weiter, die Produktion bleibt die alte, und vor allem werden das vorhandene Inventar und namentlich die Wirtschaftsgebäude nicht entwertet. Der Genossenschaft steht es frei, sich in eine Produzentengenossenschaft selbständiger Bauern zu verwandeln oder eine Mischform auszubilden, indem sie den Großbetrieb mit einem Kranze von Kleinstellen umgibt, deren Besitzer je nach eigenem Wunsch als Häusler mit 2-3 oder als Heuerlinge mit 8-10 Morgen Eigenland regelmäßig an den Arbeiten des Zentralbetriebes teilnehmen oder gänzlich als Selbständige mit 20-30 Morgen Land ausscheiden. Die Genossen des Großbetriebes erhalten außer ihrem bisherigen Lohn samt Deputat usw. ihren Anteil am Betriebsgewinn, der pro rata der Arbeitsleistung nach Zeit und Qualifikation voll verteilt wird. Um den Betrieb zu entwickeln und die Genossen in anständige Wohnungen zu bringen, stellt der Staat den Genossenschaften gegen solidarische Bürgschaft verzinsliche Darlehen zur Verfügung, aus denen Häuser gebaut, Meliorationen vorgenommen und das Inventar ergänzt wird. Ein Amortisationsaufschlag ist auch hier nicht erforderlich. Den Leitern wird zur obersten Pflicht gemacht, den Betrieb in den Grenzen der Wirtschaftlichkeit zu intensivieren. Außerdem sorgt der Staat durch Bau von Landstraßen und Kleinbahnen und durch Elektrifizierung dafür, daß diese Güter in eine höhere Thünensche Zone rücken, wo größere Intensität des Anbaus rentiert. Höhere Intensität des Anbaus verlangt beträchtlich zahlreichere Arbeitskräfte. Sie werden herangezogen und mit gleichen Rechten in die Genossenschaft eingereiht. Außerdem scheiden regelmäßig frühere Arbeiter ganz oder zum Teil aus der Arbeit des Großbetriebes aus, um sich selbständig zu machen; sie müssen ersetzt werden. Auf diese Weise wird sich die agrarische Bevölkerung der Güter schnell verdichten, nach allen Erfahrungen mehr als verdoppeln.1 Damit ist die Reißleine gezogen, die Hülle des Ballons aufgeschlitzt, und das Gas des Mehrwerts strömt schnell heraus, und zum Glück nur so schnell, daß die Gondel, die Volkswirtschaft, nicht wie ein Stein niederschlägt, sondern sanft aufsetzt. Nichts weiter ist erforderlich, um binnen weniger Jahre den letzten Rest des gesellschaftlichen Mehrwerts zu beseitigen. Kein anderer Besitzer, groß oder klein, in Stadt oder Land, braucht beunruhigt zu werden; Handel, Verkehr, Geld-, Bankund Börsenwesen bleiben durchaus ungeschoren und laufen im Gegenteil nur glatter, schneller und mit größerem volkswirtschaftlichen Ertrage. Das soll jetzt im einzelnen gezeigt werden: Zunächst steigert die Absaugung der Arbeiter aus den noch nicht vergesellschafteten Betrieben deren „Leutenot" zur wirtschaftlichen Katastrophe.

1

N a c h den preußischen Erfahrungen leben auf einem parzellierten G u t durchschnittlich fast dreimal soviel Menschen wie vorher. Ebenso stark nimmt die Zahl des Großviehs, viel stärker noch die der Schweine zu; die Staatssteuern steigen schnell auf das Dreifache.

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Auf den 10.000.000 ha = 100.000 qkm Gesamtfläche des deutschen Großgrandeigentums haben vor dem Kriege höchstens 3 Millionen Menschen gelebt.1 Das macht, berechnet auf ihre Nutzfläche allein, eine Dichte von ungefähr 43 Köpfen pro Quadratkilometer. Raum haben nach unserer Schätzung 100 Köpfe rein agrarischer Bevölkerung: Es hat also eine Zuwanderung von 57 Köpfen Lebensraum. Das ergibt auf die reichlich 20.000 qkm der dem Volke repropriierten Fläche einen Zustrom von nicht weniger als 1.140.000 Köpfen. Das ist eine fast ausschweifend ungünstige Schätzung. Nehmen wir an, was der Wahrheit näher kommen dürfte, jene Gesamtbevölkerung betrüge nur 20 pro Quadratkilometer, d. h. 2 Millionen im ganzen, so kommen auf die Nutzfläche knapp 30 Köpfe, und die Auffüllung verlangt 1.400.000 Seelen. Aber selbst bei Zugrundelegung der ersten Schätzung verliert der Rest des Großbesitzes von seiner Bevölkerung von 5/7 der Gesamtheit, also von 2.150.000 Köpfen, mehr als die Hälfte.2 Und schon das bedeutet für eine große Anzahl von Betrieben den Bankrott. Sie können auf der einen Seite die Wirtschaft mit dem auf weniger als die Hälfte geschrumpften Arbeiterstamm nicht mehr aufrechterhalten, haben also stark verringerte Roheinnahmen, und haben auf der andern Seite enorme Mehrlöhne zu bezahlen, da die leidenschaftliche Nachfrage nach Händen den Lohn gewaltig treiben muß. Unter diesen Umständen hätten sie sogar in der Vorkriegszeit sich nicht halten können; jetzt aber ist die Arbeiterschaft sehr stark gelichtet, und außerdem haben die Besitzer mit ungeheuer gestiegenen Steuern und Hypothekenzinsen zu rechnen und keine Aussicht mehr, slawische Wanderarbeiter in alter Zahl aus Rußland und Osterreich zu importieren; denn der Krieg hat in Rußland die Agrarverhältnisse umgewälzt und überall die Arbeiterschaft zum großen Teile verschlungen. Hier möchte ich einen Augenblick Halt machen dürfen. Ich sagte einleitend, nur ein „wissenschaftlicher Sozialismus" sei der Erörterung wert, der den Zustand der künftigen Gesellschaft aus den Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft selbst ableitet. Nun, alle Sachkenner haben als Tendenz unserer Entwicklung schon im Frieden den Niederbruch des Großgrundeigentums als Folge der Massenwanderung festgestellt und als einzige mögliche Rettung die innere Kolonisation empfohlen.3 Die Wanderung war unaufhaltsam am Werke, das Monopol des Groß-Bodeneigentums zu unterminieren. Wenn also heute das zur Macht gelangte Volk die hier vorgeschlagene Maßnahme durchführt, so leistet es der Entwicklung nur die von Marx selbst zugelassenen Dienste als „Geburtshelfer" der neuen Gesellschaft. Um zum Gegenstande zurückzukehren: Der Arbeitermangel und die steigenden Ausgaben treiben eine große Anzahl von Großbesitzern an den Rand des Ruins. Sie selbst oder ihre Hypothekengläubiger sind gezwungen, die Güter dem Staate zum Kauf anzubieten, und müssen froh sein, wenn er ihnen jetzt noch die ersten Bedingungen gewährt. Wieder werden dem Reste große Mengen ihrer Arbeiterschaft entzogen, neue Zusammenbrüche, neuer Staatserwerb, bis nach kurzer Zeit alles Land dem Volke repropriiert ist. Wem das „utopisch" klingt, lese Karl Kautskys Schriftchen: „Die soziale Revolution" 4 . Er sagt, daß bereits eine staatliche Arbeitslosenunterstützung das Kapital expropriieren würde, wenn der Staat nicht mehr zu seinen Gunsten interveniert: „Der Arbeiter braucht dann nicht mehr den Kapitalisten, während dieser ohne ihn seinen Betrieb nicht mehr fortsetzen kann. (...) Die Kapitalisten könnten da wohl fortfahren, Leiter der Fabriken zu sein, aber sie werden aufhören, ihre Herren und Ausbeuter zu sein. (...) Dann werden diese Herren die ersten sein, welche auf die Fortsetzung der

1

N a c h Sering übersteigt die Bevölkerung der Gutsbezirke nur selten 2 0 - 3 0 pro Quadratkilometer und sinkt in einzelnen Fällen bis auf 4 herab.

2 3

Nach der zweiten Schätzung verliert er von 1.500.000 Seelen 1.400.000. Vgl. Oppenheimer, Die soziale Frage und der Sozialismus, S. 93ff. [siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 671ff.; A.d.R.].

4

Kautsky, Die soziale Revolution, Berlin 1907, S. 72.

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kapitalistischen Produktion verzichten und darauf drängen, daß man ihnen ihre Unternehmungen abkauft. (...) So waren (...) in Irland zur Zeit, als die Pächterbewegung ihren Höhepunkt erreicht hatte, die Grundbesitzer nicht imstande, ihre Rente einzutreiben; da waren es die Landlords selbst, die danach verlangten, daß man allen Grundbesitz von Staats wegen ankaufe." Ich freue mich, hier, wie ζ. B. auch in der Bewertung des genossenschaftlichen Großbetriebes in der Landwirtschaft, mit Kautsky übereinzustimmen. Entweder sind wir beide mit der völlig gleichlaufenden Ableitung Utopisten, oder keiner von uns ist es. Wir stehen hier beide fest auf Marxschem Boden: Wo und aus welchem Grunde immer der Arbeiter nicht mehr „frei" ist, nicht mehr unter dem Druck des Klassenmonopols steht, ist der Kapitalist geliefert und der Kapitalismus erwürgt.

VI. Nun fragt der Leser schon lange ungeduldig: Und was wird aus dem städtischen Kapitalismus? Vom Augenblick der Repropriation jenes Teiles des Großeigentums an stockt die Abwanderung vom Lande in die Stadt. Im Gegenteil: Es fließt städtische Proletarierbevölkerung in zwei Strömen aufs Land zurück. Der eine Strom sind Landkinder, die noch die Kraft und Lust zur Landarbeit nicht verloren haben; sie verlassen die Fabriken und fordern ihren Anteil am Volkslande. Der zweite Strom sind gelernte Industriearbeiter, die sich den Genossenschaften anschließen, ein Stück Land für Haus, Werkstatt und Garten nehmen, aus den Staatskrediten bauen und Handwerksmeister werden. Krämer, Lehrer, Medizinalpersonal schließt sich ihnen an. Damit ist unserem ersten Postulat genügt, ein System der Reform zu finden, das nicht die Städte zu Zentren einer maßlosen Zuwanderung macht. Damit bricht zunächst die städtische Terrainspekulation augenblicks zusammen. Sie ruht ausschließlich auf der Voraussetzung einer starken regelmäßigen Zuwanderung. Wenn eine Großstadt aufhört, stark zu wachsen, ist keine spekulative Terrainposition mehr haltbar, da der Selbstkostenpreis schon durch den Zinseszins sehr schnell auf eine Höhe wächst, die kein Verkaufspreis mehr einbringen kann. Außerdem wird ein staatsbeherrschendes Volk nicht zaghaft mit Steuern auf diese im höchsten Maße antisoziale, von allen Richtungen verurteilte Gestalt des Monopols sein; und schließlich braucht der Staat nur ein paar elektrische Schnellbahnen in die weitere Peripherie einer Großstadt zu bauen, um gewaltige Gelände für den Wohnungsbau reif zu machen und allen Mietern einer Großstadt in den schönsten der Gartenstädte Haus und reichlich Gartenland für einen kleinen Teil der Miete zu schaffen, die sie heute für elende Massenquartiere in Mietskasernen bezahlen müssen. Der Mietsagrarier folgt dem Feldagrarier in die Versenkung der Weltgeschichte, der Arbeiter wird des Monopoltributes der städtischen Grundrente - sie wenigstens ist unbestritten ein Monopoltribut! - los und ledig. Wie aber steht es mit dem Industriekapitalismus, dem Fabrikfeudalismus? Das absolute Angebot von Arbeitskraft auf dem Markte der Dienste sinkt durch den Abfluß der beiden Ströme, die wir bezeichnet haben. Im Verhältnis zu den Bedingungen der früheren Friedenszeit sinkt das relative Angebot noch viel stärker: Denn es findet kein Zufluß von Landproletariern mehr zu den städtischen Arbeitsmärkten statt; die Lohndrücker bleiben aus, an denen sich der Kapitalismus bisher gemästet hat. Auf der anderen Seite steigt die Nachfrage nach Arbeit und daher auch nach Arbeitern ganz gewaltig, und zwar durch die Folgen der schnellen und umfassenden inneren Kolonisation. Viele Hunderttausende neuer anständiger Familienwohnungen entstehen auf dem Volkslande; viele von ihnen sind vollausgebaute Bauernstellen mit Scheune und Stall; die Genossenschaften kaufen leben-

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des und totes Inventar, meliorieren durch Drainage, Entwässerung und Bewässerung, Straßenbau und Elektrifizierung; der Staat verdichtet das Netz der Chausseen und Eisenbahnen. Dazu kommt der Bau und die Einrichtung von Haus und Werkstatt der in die neuen Dörfer übergesiedelten Handwerksmeister, jener ehemaligen Fabrikproletarier. Ziegeleien und Zementfabriken, Schienenwerke, Holzbearbeitungswerke, Glas- und Ofenfabriken, Wagenbau, Kettenschmiederei, Sattlerei und Tischlerei, Fabriken für landwirtschaftliche Maschinen, Drainageröhren, Eisenbahnwaggons, Lokomotiven wissen sich vor dringlichen Aufträgen nicht zu bergen; die Kohlen- und Eisenbergwerke, die Flußschiffahrt, der Seehandel und der Seeschiffbau, die Eisenbahnen und Spediteure haben Hochkonjunktur, weil heimischer Rohstoff bewegt, und fremder massenhaft herangeführt werden muß. Bei den hohen Löhnen und dem dringenden Bedarf wird die Einführung neuer arbeitsparender Maschinerie notwendig und rentabel: Alle Maschinenfabriken sind mit Aufträgen überlastet. Uberall eine kolossale Nachfrage nach Arbeit - und gesunkenes Angebot! Der Lohn steigt sprungweise, Geld- und Reallohn. Der Arbeiter läßt seine Kinder etwas lernen, da er ihres Beitrages jetzt entraten kann: Eine ungeheure Armee von Rekruten der Arbeit kommt vier, fünf Jahre später, und kommt qualifiziert zur Einstellung. Der Arbeiter zieht seine Frau, und viele ziehen ihre Töchter aus der Fabrik zurück; in den Gartenstädten haben sie gesündere und nicht weniger nützliche Arbeit in Haus und Garten genug, und er hat es bei den hohen Löhnen nicht mehr nötig, „Weib und Kind unter den Dschaggernautwagen des Kapitals zu schleudern". Wieder sinkt die „aktive Arbeiterarmee" um Hunderttausende, vielleicht um Millionen, aber die Nachfrage nach Arbeit wächst mit jedem neuen Bauern und Handwerker, der sich draußen ansetzt, immer stärker. Und geht niemals wieder zurück! Denn wenn alles Land draußen von Produktivgenossenschaften und Einzelbauern voll besetzt ist, hat Deutschland einen agrarischen Binnenmarkt, doppelt so stark an Köpfen und vielleicht zehnmal so stark an Kaufkraft wie heute; und wir wollen nicht vergessen, daß auch der Lohn des Industriearbeiters Kaufkraft ist für die Produkte anderer Industriearbeiter, Nachfrage nach ihrer Arbeit. Wir wollen hier nicht auseinandersetzen, was geschehen wird, wenn Deutschland, in ein bis zwei Jahrhunderten vielleicht, die 34 Millionen agrarischer Selbständiger in mittelständischem Wohlstande beherbergt, die wir oben als seine heutige Kapazität berechnet haben. Es ließe sich leicht zeigen, daß auch dann der Prozeß des Segens sich nicht in sein Gegenteil umkehren würde, und zwar, weil dann längst nicht mehr ein voller Hektar pro Kopf erforderlich wäre, sondern viel weniger, etwa nur ein halber, so daß die agrarische Bevölkerung sich noch einmal verdoppeln könnte, ehe eine Stauung aufträte. 1 Lassen wir einer fernen Zukunft auch noch etwas zu erwägen und zu leisten. Dieser Prozeß erreicht nicht eher sein Ende - und er erreicht es bald - , als bis der Lohn den Mehrwert auch in der Industrie verschlungen hat. Hand in Hand mit dem letzten Landarbeiter tritt auch der letzte Industrieproletarier über die Schwelle der mittelständischen Existenz. In Land und Stadt gibt es wohl noch „Arbeiter" im technischen Sinne: unselbständige Teilnehmer von kooperierenden Betrieben, aber es gibt weder dort noch hier mehr einen „freien Arbeiter", sondern nur gewinnbeteiligte Mitglieder von Produktivgenossenschaften oder hochbezahlte, sehr vorsichtig und gänzlich unpatriarchalisch als freie Männer behandelte Angestellte für manuelle Arbeit. Was wird aus den Kapitalisten und dem Kapital? Im Gewinn des heutigen Kapitalisten mischen sich drei verschiedene Einkommen: der reine Profit oder Mehrwert, den wir als Monopolgewinn erkannt haben, ist das erste; der „Unternehmer-

1

Das ist List-Careys „Gesetz der Kapazität". Bei steigender Volksdichte wächst der Rohertrag pro Fläche, weil immer bessere Werkzeuge und Methoden angewandt werden, und noch stärker der Reinertrag, weil Urprodukte im Verhältnis zu Gewerbeprodukten regelmäßig im Preis steigen müssen.

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lohn", das Entgelt einer qualifizierten Arbeit als Leiter und Organisator, ist das zweite. Es sind „statische" Einkommen. Dazu kommt als „dynamisch" in guten Zeiten ein „Konjunkturgewinn", der im Durchschnitt der ganzen Klasse durch Verluste schlechter Zeiten kompensiert wird. Er trägt daher auch den Namen „Risikoprämie". Der „Unternehmerlohn" der wirklichen Leiter wird etwa im Verhältnis der gewöhnlichen Löhne wachsen, bis eine bessere allgemeine Erziehung die Zahl der Qualifizierten gesteigert haben wird. Und der Konjunkturgewinn wird hoch sein und im Durchschnitt durch nur wenige Verluste kompensiert werden. Denn wir werden bei einer dringenden Nachfrage nach Gütern aller Art, der ein entsprechendes Angebot erst, nach sehr langer Zeit, nämlich erst dann gegenüberstehen wird, wenn die Gesamtmaschinerie auf ihre volle riesenhafte Höhe und Leistungsfähigkeit gebracht sein wird, dauernde Hochkonjunktur haben. D. h.: die Marktpreise der Industrieprodukte werden über dem statischen Preise stehen; die Waren werden etwas mehr Arbeitszeit in agrarischen Produkten und industriellen Diensten kaufen, als in ihnen selbst verkörpert ist. Diese beiden Einkommen der Kapitalisten werden also steigen, wahrscheinlich stark steigen. Und das ist ganz ausgezeichnet, weil es den Verlust aus dem unaufhaltsamen Sturz des reinen Profits zum Teil ausgleichen und vielleicht mehr als ausgleichen wird. Denn dadurch bleibt der Gesamtwirtschaft für die Ubergangszeit die dreifache Funktion erhalten, die heute der Kapitalist ausübt: als Leiter der Produktion, als Werterhalter und Wertvermehrer des „Kapitals im volkswirtschaftlichen Sinne": des nationalen Werkgutes, und als Konsument höherwertiger Güter und Dienste, so daß diese Erwerbsgruppen nicht leiden. Bei hohen Preisen der Waren und hohen Löhnen, aber sinkenden Profiten, werden die Kapitalisten alles daransetzen, um nach Möglichkeit zu „entsagen"; sie werden ihre Maschinerie rastlos verbessern, um am Konjunkturgewinn und Unternehmerlohn einzubringen, was sie am Profit verlieren; um ihren Konkurrenten abzusagen, was sie ihren Arbeitern nicht mehr abjagen können. Und so verwandeln sie einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens in Volkseigentum: Denn das ist es praktisch von dem Augenblick an, wo der Mehrwert völlig verdampft ist. Um mich marxisch auszudrücken: Sie wetteifern darin, ihre Mehrwertrate zu vermehren, um den Fall der Mehrwertrate auszugleichen, und vollziehen damit wider Willen die volkswirtschaftlich wichtige Funktion, das konstante Kapital der Gesellschaft zu vermehren, bis die Arbeiter selbst aus ihrem Einkommen diese Funktion zu übernehmen imstande sind. Damit ist auch unserem zweiten Postulat Genüge getan: Die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung und -Vereinigung wird nicht gelähmt, sondern beflügelt, alle Unternehmer in Industrie, Handel, Bank und Verkehr zu äußerster Tätigkeit angespannt, zu ihrem eigenen Vorteil, weil sie ihre gewohnte Lebenshaltung ungefähr im alten Stile fortsetzen können, und zudem der Allgemeinheit, da ihr Produktionsapparat schneller und wirksamer ausgestaltet wird, als eine bürokratische Organisation es vermöchte. Der Arbeiter aber kann seinem alten Feinde das alles wohl gönnen, denn er selbst ist unendlich viel reicher mit allen Gütern des Verzehrs und der Kultur ausgestattet als je zuvor. Das agrarische Nationalprodukt hat sich vermehrt und verbessert, seit statt des interesselosen Tagelöhners der freie Bauer den deutschen Boden bestellt, und alle Industrieerzeugnisse haben sich vervielfacht, seit die ungleich gewaltigere Maschinerie dem Menschen dient. Der Kuchen der nationalen Produktion ist viel größer geworden, und der A rbeiter erhält vom viel größeren Kuchen einen viel größeren Teil. Da mag er es den aussterbenden Kapitalisten gönnen, wenn ihr viel kleinerer relativer Anteil absolut noch so groß ist wie zuvor. Und was wird aus dem „Kapital"? Nun, das Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne blüht und wächst gewaltig: Die Maschinerie, des Menschen stählerne, fühllose Sklavenschaft, nimmt riesenmäßig zu. Aber sie macht nicht mehr den Menschen zu ihrem Sklaven. Seit es keinen freien Arbeiter mehr gibt, gibt es kein Kapital „im privatwirtschaftlichen Sinne" mehr, keinen Mehrwert hekkenden Wert.

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VII. Vier Einwände pflegt man mir zu machen. Den ersten darf ein Marxist nicht erheben. Er lautet, die Kapitalisten würden die Preise ihrer Produkte mindestens in dem Maße erhöhen, wie die Löhne steigen, so daß der Arbeiter als Konsument verliert, was er als Produzent gewinnt. Es würde sich nur der Geldname seines Lohnes, aber nicht seine Kaufkraft, nicht sein Reallohn erhöhen. Ich habe nicht nötig, vor gebildeten Marxisten diesen Einwand zu charakterisieren. Nicht der Kapitalist bestimmt den Wert der Ware, sondern die darin verkörperte Arbeitszeit, und die ändert sich nicht, wenn der Mehrwert sinkt! Zweitens: Das Kapital werde die Reform nicht dulden, werde fremde Arbeiter importieren, die Schollenpflichtigkeit wieder einführen, den Lohn gesetzlich beschränken und dergleichen. Das ist die Geschichte von dem Kapitän des meuternden Schiffes, der in seiner Not „achtzig Mann umzingelt". Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß das Volk die Macht über die Gesetzgebung und Verwaltung erlangt hat. Seine Maßnahmen richten sich gegen vielleicht 1.500-2.000 Besitzer. Auf wen wollen diese sich stützen, um Widerstand zu leisten? Stadt- und Landarbeiter, Zwerg- und Kleinbauern stehen geschlossen für die Reform, die ihnen nützt; das sind über 9 0 % der Bevölkerung; die Mittelbauern haben nichts zu fürchten, ebensowenig der städtische Mittelstand. Die Expropriierten stehen allein, ein Häuflein gegen 67 Millionen! Aber das städtische Kapital? Das allmächtige „Finanzkapital", jener „Oktopus", der ganze Länder mit seinen Polypenarmen umschlingt und aussaugt? Der die Presse, die öffentliche Meinung, die Verwaltung, hier und da auch die Gerichte „kontrolliert"? Ich antworte, daß ein Untier um so leichter verhungert, je größer es ist. Wenn der freie Arbeiter verschwindet, verhungert das große Finanzkapital am allerersten, weil es keinen Fraß mehr hat. Mögen sich doch die paar Dutzend Bankokraten samt ihren Lakaien und Redakteuren, Syndizi und Deputierten mit den expropriierten Fideikommißherren verbünden: Das Kräfteverhältnis wird dadurch nicht verändert. Es bleibt ein Häuflein gegen fast das ganze Volk. Sie können die Reform nicht verhindern, können die Gesetzgebung nicht beeinflussen, wenn nicht etwa angenommen werden sollte, daß alle Vertreter des werktätigen Volkes bestechliche Kreaturen sind; und selbst dann würde die Herrlichkeit nur bis zur nächsten Neuwahl dauern, wenn nicht schon lange vorher eine Empörung die Herrschaft der Schufte fortfegt. Die klugen Herren werden sich hüten, gegen den Niagara schwimmen zu wollen. Sie wissen, daß es gegen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ebensowenig Mittel gibt wie auf dem Warenmarkte. Sie werden froh sein, daß man sie nicht auch expropiiert, und werden sich aufs äußerste anstrengen, um an Konjunkturgewinn und Unternehmerlohn möglichst mehr zu gewinnen, als sie am Profit verlieren. Und das ist ein noch größerer Vorteil für die Gesamtheit als für sie selbst. Sie akkumulieren in letzter Linie nur für das Volk. Und wenn ihr Profit absinkt, haben sie keine übrigen Gelder mehr, um Zeitungen zu kaufen, Gelehrte zu mieten und Volksvertreter zu bestechen. Drittens: Es bleiben doch immer noch die großen Riesenvermögen übrig! Und Reichtum ist Macht, und Macht wird gemißbraucht! Sehen wir zu. Ein großes Vermögen von heute besteht aus ein paar tausend Mark barem Gelde, einem Bankguthaben von ein paar zehntausend Mark, aus Schlössern, Landsitzen und städtischen Palästen mit Mobiliar und Sammlungen von hohem Wert. Außerdem aus dem „rentierenden Vermögen": Landgütern, Bergwerken, städtischen Mietshäusern, Bauterrains, Dividendenpapieren,

Hypotheken,

Obligationen, Staatsanleihen. Was ist daraus geworden, wenn der Mehrwert ganz verdampft ist? N u r diejenigen Landgüter und Bergwerke geben allenfalls noch eine „Differentialgrundrente", die überlegene Produktivität besitzen oder dem Verkehrsmittelpunkt naheliegen. Aber ihr Gesamtertrag ist kolossal gesunken, denn der ganze „Profit" fällt als gesteigerter Lohn an die Arbeiter. Die städtischen Häuser bringen nur noch vereinzelt eine schwache Rente, weil der Grund und Boden,

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

auf dem sie stehen, nur noch in besonders bevorzugter Verkehrslage einen Wert hat und sich verzinst, und der Bauwert der übrigen ist fast auf Null gesunken, weil die Volksmasse bessere Wohnungen mit Garten bezahlen kann. Die Bauterrains draußen sind abgeschrieben, weil völlig unverwertbar. Die Dividendenpapiere geben nur noch vereinzelt eine Rente, insofern sie Patente besitzen oder natürliche Produktionsvorteile haben, ζ. B. eine Wasserkraft. Die Maschinen und Gebäude, die zur Zeit der Reform vorhanden waren, sind längst „moralisch verschlissen", wie Marx sagt: Die Einnahmen der Ubergangzeit sind zum größten Teil daraufgegangen, die immer neue, immer mächtigere Maschinerie zu erstellen. Und die Hypotheken, Obligationen, Staatsanleihen? Ein Teil ist verloren, viele Privathypotheken auf städtische Mietshäuser und ländliche Großbesitze; die Besitzer brachen zusammen, und man schrieb lieber den Verlust ab, als das Tote auf das Lebendige zu werfen. Andere sind durch Staatshilfe in Staatsanleihen verwandelt worden. Und diese? Sind freilich goldsicher „goldgerändert", denn der Staat ist reich und ein prompter Zinszahler. Leider zahlt er dennoch fast nichts mehr. In dem Maße, wie der Mehrwert sank, hat er selbstverständlich auch seine Anleihen nach unten konvertiert. Jetzt zahlt er noch einen Rekognitionszins, sagen wir 1 pro mille! Bald wird er nur noch 1/10 pro mille bezahlen!1 Jetzt versteht man, warum ich so leichtherzig über die berühmte Streitfrage fortgeglitten bin, ob die Expropriation mit oder ohne Entschädigung erfolgen soll. Mit Entschädigung, um keine Härten zu begehen, keine „wohlerworbenen Rechte" anzutasten, keine Widerstände wachzurufen. Wer aber von Marx gelernt hat, was „Kapital" ist, für den ist die Streitfrage müßig. Die Entschädigung amortisiert sich automatisch auf Kosten der Entschädigten! In dem Maße, wie der Mehrwert verdampft, verlieren die Entschädigten auch diesen Rest des arbeitslosen Einkommens. Darum mag man auch die Fideikommißherren ruhig auf Fortbesitz setzen: Auch ihnen schwindet die Entschädigung zwischen den Händen, wenn sie für die Forst- und Transportarbeit soviel höheren Lohn zu zahlen haben als jetzt. Sie haben wie die Staatsgläubiger eine Zeitlang ein schnell sinkendes Einkommen, und das ist gut als Ubergang zur neuen Zeit, in die sie nicht passen, der sie nicht gewachsen sind; dann ist nichts mehr von den Riesenvermögen vorhanden; ihre enterbten Erben aber sind auch Erben der neuen Zeit und ihres allgemeinen Reichtums und hoffentlich, sonst tragen sie ein hartes Schicksal mit Recht, Erben ihrer neuen Gesinnung, die das Drohnentum tief verachtet. Niemand strebt nach Reichtum, wenn er kein Prestige mehr bringt! Und die Schlösser und Sammlungen? Sie sind fressender Besitz und werden täglich teurer: Denn sie bedingen große Dienerschaft, und deren Lohn steigt viel stärker noch als der des selbständigen Arbeiters. Denn er muß eine starke soziale Disqualifizierung mit vergüten. Die armen Erben werden froh sein, wenn der Staat diesen Besitz als Geschenk entgegennimmt und die Sammlungen billig ankauft, für die sich keine privaten Liebhaber mit Phantasiepreisen mehr finden, seit es keinen massenhaften Mehrwert mehr gibt. Ich meine, diese radikale „Expropriation der Expropriateure" sollte auch den verbissensten Hasser genügen, der nicht auf dem schönen, aber kaum sehr praktischen Standpunkt des „alles muß verrungenieret sein" steht. Mancher mag ja bedauern, daß bei dieser Methode der Überführung zum Sozialismus das Gefühl der Rache nicht befriedigt wird, der Wunsch, daß die „Ausbeuter" einmal am eigenen Leibe erfahren möchten, wie harte Arbeit und Elend schmecken, aber er wird zugeben, daß eine allgemeine sofortige Expropriation aller Kapitalisten und Besitzenden überhaupt zu gleicher Zeit den Bürgerkrieg, die Zerstörung unzähliger Werte, die Desorganisation der Gesellschaftswirtschaft, allgemeine Not, allgemeines Elend und Entsittlichung bringen muß, und daß es für die

1

W i r sagen oben, es sei f ü r die Staatskredite kein Amortisationsaufschlag erforderlich. D a s gilt auch f ü r alle privaten O b l i g a t i o n e n u n d H y p o t h e k e n . W e n n die Schuldner den anfangs stipulierten Zins weiter bezahlen, w ä h r e n d der Z i n s f u ß gesunken ist, amortisieren sie ihre Schuld mit größter Schnelligkeit.

Die soziale Forderung der Stunde

103

Arbeiterschaft viel besser ist, ein sehr großes Stück vom sehr großen Kuchen einer aufs höchste entfalteten Volkswirtschaft zu erhalten, als den ganzen, aber winzig kleinen Kuchen einer verarmten und zerstörten Volkswirtschaft. Neid und Rachsucht sind üble Ratgeber. Und der reinen Drohne der Zukunft ist die öffentliche Mißachtung statt des bisherigen „Prestige" bitterste Strafe, Strafe genug. Viertens: Wenn Deutschland 34 statt 17 Millionen landwirtschaftliche Bevölkerung hätte, so würde diese einen so großen Teil der agrarischen Produktion selbst verzehren, daß sie für die deutschen Städter nicht mehr genügend auf den Markt liefern könnte. Dieser Einwand läßt eine doppelte Auslegung zu. Entweder geht er von der Voraussetzung aus, daß von den 67 Millionen Deutschen, die heute im ganzen vorhanden sind, 34 Millionen auf dem Lande leben: Dann hat die Landwirtschaft nicht mehr wie heute 50 Millionen, sondern nur noch 33 Millionen Städter zu ernähren. Oder zweitens: Man nimmt an, daß die Gesamtbevölkerung Deutschlands von 67 auf 84 Millionen Einwohner gestiegen ist, so daß 34 Millionen Landwirte wie heute 50 Millionen Städter zu ernähren hätten. Um die letzte Auslegung zuerst zu erledigen, so ist die einfache Antwort darauf, daß bei Zugrundelegung der heutigen Ackererträge Deutschland nicht imstande wäre, 84 Millionen Menschen aus seiner eigener Produktion zu ernähren, ganz gleichgültig, wieviel Landwirte und wieviel Städter vorhanden sind. Es müßte in noch viel stärkerem Maße, als in der Vorkriegszeit, Korn, und vor allem Viehfutter, importiert werden. Dieser Einwand hätte also gar keinen Sinn. Der erste Einwand hätte dagegen einen gewissen Sinn, wenn man annähme - und das würde man mit Recht annehmen - , daß der selbständige Bauer sich mit seiner Familie besser ernährt, als der Landtagelöhner. Dann würde allerdings, vorausgesetzt, daß seine Produktionsmasse die gleiche bleibt, für die Städter ein geringeres Quantum an Nahrungsmittel übrigbleiben. Aber diese Voraussetzung, daß die Produktion die gleiche bleibt, ist unzulässig. Es unterliegt heute gar keinem Zweifel mehr - die letzten Untersuchungen von Keup und Mührer haben es zur vollen Evidenz erhärtet - , daß der Bauer auf der gleichen Gesamtfläche, obwohl ein größerer Teil von ihr für Wege und Grenzen ausscheidet, sogar an Kornfrüchten und sogar an Zuckerrüben durchschnittlich mehr ererntet, als der Großgrundbesitzer, daß aber seine Produktivität in bezug auf Vieh und Vieherzeugnisse ganz inkommensurabel größer ist; das gilt namentlich für Schweinefleisch, Geflügel, Eier usw., aber auch für Rindfleisch, also gerade für die wichtigsten tierischen Lebensmittel. Nur in der Schafszucht hat der Großbetrieb einen beträchtlichen Vorsprung: Schafszucht ist eben ein charakteristisches Zeichen des arbeitsschwachen Betriebes. Es steht vollkommen über jeden Zweifel hinaus fest, daß der Mittelbauer, trotzdem er mit seiner Familie wesentlich besser lebt, einen fast unglaublich höheren Produktionswert zu Markte bringt, als der Großgrundbesitz. Der Großgrundbesitz bringt lediglich mehr Korn zu Markte, weil eben der Bauer seinen größeren Überschuß an Korn auf dem Wege der Verbitterung in höherwertige Viehproduktion verwandelt. Man hat denn auch den Großgrundbesitz immer nur mit dem Hinweis auf einen möglichen Kriegszustand und die mögliche Absperrung von überseeischen Zufuhren zu verteidigen versucht. Es kann aber nach dem Dargestellten keinem Zweifel unterliegen, daß Deutschland, wenn es mit einer ausschließlich bäuerlichen Bevölkerung in den Krieg eingetreten wäre, selbstverständlich unvergleichlich besser mit Vieh, aber auch mit Korn versorgt gewesen wäre. Denn der Bauer hätte seinen Viehbestand zum Teil abgeschlachtet und als Fleisch verkauft und das bisher verfütterte Korn in die Städte geliefert. Wenn einmal vom Kriege die Rede ist, so wollen wir bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß die agrarische Bevölkerung Deutschlands, wenn sie durchaus aus Bauern, statt zum großen Teile aus Tagelöhnern bestanden hätte, nach der preußischen Statistik von 1908 etwa sechsmal

104

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

soviel vollwehrfähige Männer hätte ins Feld schicken können; denn die durchschnittliche Wehrfähigkeit der „unselbständigen Landwirte", d. h. der Landarbeiter, war nur zirka 76% des Durchschnitts, während die durchschnittliche Wehrfähigkeit der selbständigen Landwirte - und das sind fast ausschließlich die Bauern - zirka 2 1/2 mal so groß war, nämlich 186%. Und da der Bauer durchschnittlich mehr als das Doppelte so dicht auf der Stelle sitzt, ist das Exempel leicht auszurechnen, wieviel mehr Rekruten das Land unter dieser Voraussetzung gestellt hätte. Bei all diesen Vergleichen, die von großagrarischer Seite angestellt werden, wird der grobe logische Schnitzer begangen, daß man die bestbewirtschafteten Großbetriebe mit durchschnittlichen oder gar unter Durchschnitt betriebenen Bauernbetrieben vergleicht. Man muß natürlich so vorgehen, wie Keup und Mührer es getan haben, die die besten Bauernbetriebe mit den besten benachbarten Großbetrieben verglichen. Wie können wir denn nun selbst bei derartiger Sachlage den Fortbestand des Großbetriebs in Form der Genossenschaft empfehlen? Sehr einfach aus dem Grunde, weil alle bisherigen Vergleiche zwischen Groß- und Kleinbetrieb den kapitalistischen Großbetrieb ins Auge gefaßt haben, der mit interesselosen, oft genug sogar übelwollenden Landarbeitern den Acker bestellt. Der ist dem Kleinbetrieb bestimmt nicht gleichwertig. Was wir aber an seine Stelle setzen wollen, ist ein genossenschaftlicher Großbetrieb, der mit gehobenen, am Ertrage aufs stärkste interessierte Arbeitern wirtschaftet. Und wir haben die besten theoretischen Gründe und praktischen Erfahrungen für die Annahme, daß er alle Vorteile des jetzigen Groß- mit allen des jetzigen Kleinbetriebes verbinden und keinen ihrer Nachteile haben, und daher dem Bauernbetrieb um ebensoviel überlegen sein wird, wie dieser dem jetzigen Großbetrieb.

VIII. Zum Schlüsse noch zwei sehr wichtige Nutzanwendungen. Seit Jahrtausenden steht die Menschheit vor der Wahl zwischen den beiden größten Gütern der Gesellschaft: der Freiheit und der Ordnung. Es scheint, als sei mit der Freiheit, vor allem der Wirtschaftsfreiheit, unlöslich die gröblichste Ungleichheit der Einkommens- und Vermögenslage verknüpft - und das bedeutet soziale Zersetzung, Empörung von unten, Druck von oben, Unordnung und Vernichtung. Wenn man aber dieser Charybdis entgehen will, so verfällt man der Skylla des Zwanges, den der freigeborene Mensch nicht verträgt, der die Persönlichkeit verkrüppelt - und dennoch die Ordnung nicht einmal mit Sicherheit gewährleistet. Von Piaton bis auf Marx haben die großen Denker um einen Ausweg aus diesem Dilemma gerungen. Hier liegt der Menschheit größte Not. Sie kann aus dieser Not erlöst werden! Sie hat nicht die Qual der Wahl zwischen zwei Übeln, sondern ihr Weg liegt in blendenem Licht vor ihr, der Weg zur Freiheit, zur vollen Freiheit. Noch nie hat die Menschheit die volle Wirtschaftsfreiheit am Werke gesehen. Was wir bisher als „freie Konkurrenz" bezeichnet haben, war nicht die freie, sondern die „beschränkte" Konkurrenz innerhalb einer von Klassenmonopolen durchsetzten Wirtschaftsgesellschaft. Es war die Konkurrenz zwischen den Monopolisten oben und ihren Opfern, der Volksmasse, unten. Von freier Konkurrenz aber dürfen wir nur dort sprechen, wo keinerlei Monopol besteht; denn Monopol und freie Konkurrenz sind einander ausschließende Wechselbegriffe. Die getäuschte Menschheit hat der freien Konkurrenz ins Schuldbuch geschrieben, was die durch das Klassenmonopol beschränkte Konkurrenz verbrochen hat. Sie braucht nur diesen Irrtum zu erkennen - und der breite, glatte, schattige Weg aus der Hölle zum Himmel erschließt sich ihrem Auge.

Die soziale Forderung

105

der Stunde

Jeder B l i c k auf irgendeinen Markt bestätigt uns die Wahrheit des Satzes, der allem wahrhaften Wirtschaftsliberalismus zugrunde lag, jener Theorie, die noch nicht die Klassenadvokatie war, die sich später mit der edlen Flagge deckte: D i e Konkurrenz führt zur Ausgleichung aller E i n k o m m e n , soweit nicht Qualifikationsunterschiede bestehen oder Monopole einspielen. D e r Schluß ist nicht abzuweisen, daß es nur an dem Vorhandensein unerkannter Monopole liegen kann, wenn das Eink o m m e n der Kapitalisten so ungeheuerlich viel größer ist als das der Arbeiter; und daß nichts weiter erforderlich ist, als diese M o n o p o l e abzubauen. Dann müssen sich alle E i n k o m m e n ausgleichen, und nur die höhere Qualifikation wird ein wenig mehr an Lebensgenuß haben als der Durchschnitt. Das

ist für

die

Gesellschaft

vorteilhaft,

weil es jeden zur Einsetzung seiner vollen Kräfte anspornt,

jeden an die beste Stelle bringt, den belebenden Wettkampf an die Stelle einer schläfrigen Bürokratie setzt. U n d ist v o r allem gerecht:

D e n n jeder soll soviel aus dem gemeinsamen Produkt erhalten,

wie er dazu geleistet hat; wir wollen alle

Ausbeutung abstellen; es soll so wenig der Schwache den

Starken ausbeuten dürfen, wie umgekehrt.

Das ist die frohe Botschaft: durch die Freiheit zur Gerechtigkeit,

Gleichheit und

Brüderlichkeit.

IX. Sie hören die Botschaft - warum fehlt ihnen der Glaube? W a r u m sind sie so tief ungläubig, daß sie nicht einmal flüchtig hinschauen mögen, ob nicht vielleicht doch etwas daran sei? E i n Wort

steht im Wege. Nichts als ein W o r t . Das W o r t „Sozialismus".

U n t e r Sozialismus verstehen die Führer derjenigen, an die ich mich vor allem wende, den Kollektivismus, d. h. das Streben auf die Gesellschaft ohne Markt, Preis und Konkurrenz,

die

„Produktion für und durch die Gesellschaft". Sie werden, wenn sie sich einen Augenblick besonnen haben, zugeben, daß auch die Begriffsbestimmung richtig ist, die ich zu Anfang dieser Zeile gegeben habe: „Sozialismus heißt die von allem Mehrwert erlöste klassenlose Gesellschaft der Freien und Gleichen" 1 ; aber sie werden behaupten, das sei der Sache nach das gleiche: D e n n um diese Gesellschaft aufzurichten, gebe es eben nur das eine

Mittel, den Markt mit der K o n k u r r e n z auszuschalten,

die K o n k u r r e n z führe mit Notwendigkeit zur Klassenschichtung und zur Unfreiheit. Es ist also doch nicht ganz das gleiche. D i e v o m Mehrwert erlöste klassenlose Gesellschaft ist das Ziel,

die Ausschaltung des Marktes und der Konkurrenz ist angeblich ein Mittel

zum Ziele.

Freilich: diese logische Unterscheidung wäre praktisch gleichgültig, wenn es nur das eine Mittel zum Ziele gäbe? D a n n müßte jeder Sozialist auch Kollektivist sein. A b e r gibt es wirklich nur das eine Mittel zum Ziele? Männer von höchstem Rang haben es von

jeher bestritten. Ich nenne nur die namen Saint-Simon,

Fourier,

Proudhon,

Worauf beruht die Meinung? Auf einer Ausflucht der bürgerlich-advokatischen

Dühring.

Klassenwissenschaft,

die Marx selbst zornig als die „Kinderfibel von der ursprünglichen A k k u m u l a t i o n " bezeichnet hat.

1

„Genau genommen ist nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht, eine Rasse (...). Die sozialistische Produktionsweise setzen wir uns in diesem Kampf deshalb als Ziel, weil sie bei den heute gegebenen technischen und ökonomischen Bedingungen als das einzige Mittel erscheint, unser Ziel zu erreichen. Würde uns nachgewiesen, daß wir darin irren, daß etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei (...) dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja, wir müssten es tun, gerade im Interesse dieses Endzieles."' (Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1919, S. 4).

106

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Sie leitet damit die Entstehung der Klassenscheidung ab. Marx hat siegreich diese Scheinbeweise zerfetzt, hat ein für allemal gezeigt, daß geschichtlich die „Produktion" des gesellschaftlichen Klassen-, des Kapitalverhältnisses nicht beruht hat auf der ökonomischen Konkurrenz verschiedener Begabter, sondern auf „außerökonomischer Gewalt". Und dennoch fiel Marx dieser gleichen, von ihm selbst zerstörten, haltlosen Klassentheorie des Großbürgertums zum Opfer, als er den Beweis versuchte, daß das einmal durch Gewalt „produzierte" Klassenverhältnis sich im Prozeß des Marktes und der Konkurrenz ohne Ende „reproduzieren" müsse - bis die marktlose Zukunftsgesellschaft im Schöße der kapitalistischen Mutter selbst reif geworden und zum Lichte entbunden sei. Er fiel der Theorie zum Opfer, sage ich: Denn nur ihrer allgewaltigen Suggestionskraft kann es zugeschrieben werden, daß selbst ein Marx a priori, vor der Untersuchung, wie von einem Axiom, davon überzeugt war, daß der Sozialismus nur als Kollektivismus denkbar sei. Das war ein Vorurteil. Einer seiner treuesten Anhänger hat dazu geschrieben, „daß das Werk (Das Kapital) wissenschaftliche Untersuchung sein, und doch eine, lange vor seiner Konzipierung fertige These beweisen will. (...) Dieser große wissenschaftliche Geist war doch schließlich Gefangener einer Doktrin". 1 Nur diese ihrem Ursprung nach antisozialistische Doktrin steht dem im Wege, daß die Führer der Arbeiterschaft zum wenigsten hinhören, wenn die gute Botschaft verkündiget wird. Sie hören bloß, daß jemand die freie Konkurrenz als das Mittel der Rettung empfiehlt, und damit ist er einfür allemal als ein „Bürgerlicher" abgestempelt, des „Liberalismus" überwiesen als Volksfeind oder Utopist verurteilt. Hört mich doch. Ich schelte das Urteil als falsch. Ich lege Berufung ein in höchster Not der Welt. Nicht die „freie" Konkurrenz führt zu Klassenscheidung und zur Ungleichheit und Unfreiheit, wie die „Kinderfibel" des Antisozialismus lehrte und Marx widerlegte, sondern die „beschränkte" Konkurrenz ist alles dessen schuldig: die Konkurrenz unter einem gesellschaftlichen Monopolverhältnis. Und nicht der Liberalismus ist der Gegensatz des Sozialismus, sondern der Pseudoliberalismus des Großbürgertums. Der echte Liberalismus der Anfänge hat immer die Abschaffung aller Monopole gefordert, und es ist im besten Geiste des Altmeisters Adam Smith, wenn ich die Abschaffung des Bodenmonopols fordere - wie er selbst das übrigens mit klaren Worten getan hat - aber solche Stellen pflegen weder Bourgeois-Ökonomist noch Sozialist zu lesen.2 Nur der Pseudoliberalismus des Großbürgertums hat das Monopol geschützt, indem er es kunstreich versteckte. Und darum sage ich: Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, es gebe nur einen Weg zum Sozialismus, der von allem Mehrwert erlösten, klassenlosen Gesellschaft der Gleichen und Freien: den Weg über die Ausschaltung des Marktes und der Konkurrenz. Ich will hier nicht fragen, ob dieser Weg überhaupt zum Ziele führen kann, aber ich behaupte, daß es einen anderen Weg gibt, den der Herstellung der freien, der endlich wirklich freien Konkurrenz durch Beseitigung des klassenbildenden Monopols der Bodensperrung. Und ich behaupte und glaube, bewiesen zu haben, daß dieser Weg schneller, sanfter, leichter, gnädiger zum Ziel führt, zu höherem Reichtum und zu höherem Glück: Denn er führt zur vollen Freiheit, dem Lebenselement der Persönlichkeit. Liberalismus und Sozialismus, die Gefäße der beiden Kulturgedanken: Freiheit und Gleicheit, sind nicht unvereinbar, wie der Kollektivismus glaubt, weil er die beschränkte Konkurrenz unter dem Monopolverhältnis für die freie Konkurrenz anschaut. Die uralte Antithese, das schwerste

1 2

Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus, Stuttgart 1899, S. 177-179. Vgl. Oppenheimer, David Ricardos Grundrententheorie, Berlin 1909, S. 25ff. u. 215ff. [siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 491ff. u. 596ff.; A.d.R.].

Die soziale Forderung

der Stunde

107

Dilemma der Menschheit, vor dem ein Piaton, ein Sismondi ratlos standen, ist der Synthese fähig, ist versöhnbar. Wahrer Liberalismus und Sozialismus sind ein und dasselbe, die Freiheit führt zur Gleichheit und hält sie unerschütterlich aufrecht. Noch nie, so scheint mir, hat sich der Menschheit eine herrlichere Aussicht eröffnet als die, zugleich Freiheit und Gleichheit besitzen zu können; und noch nie, so scheint mir, kam eine neue Wahrheit so zur Zeit wie jetzt. Sie allein kann es vielleicht verhüten, daß unser armes Europa ganz und gar in Trümmer sinke.

X. Die hier vorgetragene Lehre ist die vollkommenste Bestätigung der aus der Ethik, d. h. dem durch die Vernunft bestimmten Willen, abgeleiteten Politik. Denn alles Großgrundeigentum, alle Bodensperre, mithin das Klassenmonopol, ist historisch entstanden durch außerökonomische Gewalt, durch die Gewalt des Schwertes und zuweilen durch die geistliche Gewalt der Kanzel und des Beichtstuhles. Alle Gewalt aber läuft der Vernunft zuwider, weil sie das Gesetz der Gleichheit oder der Reziprozität verletzt. Kein Wunder also, daß der Abkömmling einer gesetzlosen Zeit, in der das Faustrecht allein galt, unsere sonst durchaus auf dem Gesetz der Gleichheit aufgebaute Gesellschaftsordnung so schwer stört, wie ein Fremdkörper den Organismus, in den er eindrang. Wir haben all die Kämpfe und Krämpfe unserer argen Zeit aufzufassen als den von Fieberschauern, Konvulsionen und Delirien begleiteten Prozeß der Krankheit, die dieser Fremdkörper, dieser Rest aus einem zu positivem Recht gewordenen uralten Unrecht erzeugt hat, der Krankheit, die gleichzeitig der Versuch des Körpers ist, den Störenfried auszustoßen. Die Ordnung, die wir suchen, kann nur auf dem Rechte, dem „richtigen Rechte", und dieses nur auf der Vernunft ruhen. Die Reichsleitung hat sich auf meinen Vorschlag hin entschlossen, den hier entwickelten Vorschlag im großartigsten Maße durchzuführen. Wir wollen hoffen, daß sie die Kraft besitzt, die starken Widerstände schnell zu überwinden, die auf ihrem Wege liegen. Dann dürfen wir der Zukunft Deutschlands und der Welt überhaupt mit Vertrauen und Hoffnung entgegensehen: Dann wird dieser furchtbare Krieg seinen welthistorischen Sinn enthüllt haben; dann sind die Millionen von Opfern nicht umsonst verblutet.

Weder so - noch so Der Dritte Weg

[1933]

Inhalt

Vorwort

112

I.

115 115 116

Abschnitt: Die Krisis a) Armut aus Reichtum b) Die größte Täuschung

Π. Abschnitt: Die Tatsachen, I. Teil a) Wirtschaft unter freier Konkurrenz b) Wirtschaft unter gefesselter Konkurrenz

118 118 126

ΙΠ. Abschnitt: Die Tatsachen, Π. Teil a) Die Bodensperre von heute b) Das ostelbische Großgrundeigentum c) Der Kapitalismus

129 129 133 136

IV. Abschnitt: Die Theorie a) Gleichheit bei freiem Boden b) Die Konkurrenz

140 141 143

V. Abschnitt: Die bürgerliche Erklärung a) Liliput und Brobdingnag b) Mal thus

150 150 153

VI. Abschnitt: Das Aktionsprogramm a) Weder Faszismus - noch Kommunismus b) Der dritte Weg

154 154 156

Schlußwort

159

[Dieser Text erschien erstmals als eigenständige Publikation, Potsdam 1933; A.d.R.]

112

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Vorwort „Das sind die Weisen, Die vom Irrtum zur Wahrheit reisen. Die im Irrtum verharren, Das sind die Narren."

Irren ist menschlich - und auch Gelehrte, ja sogar ordentliche Professoren sind Menschen. Es ist ihnen erlaubt zu irren, aber sie sollten Weise sein, - und nicht im Irrtum verharren. An der Grenze der Wissenschaft stehen gleich Zollwächtern die Fakultäten, Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften, um die neuen Ideen zu prüfen, die sich an der Schranke melden. Die guten, fruchtbaren, sollen sie einlassen, die schlechten, gefährlichen, sollen sie zurückweisen. Von hundert neuen Ideen sind nun aber mindestens neunzig falsch und gefährlich: ein starkes Mißtrauen ist also in jedem Falle strenge Pflicht. Und es ist nur menschlich, daß die Grenzwächter leicht geneigt sind, auch wahre Ideen für falsch und gefährlich zu halten, wenn sie ihnen zumuten, in wichtigen Dingen gänzlich umzulernen. Aber dann kommt es leider allzu häufig vor, daß sie „im Irrtum verharren". Die Wissenschaft sollte sich eine Sammlung ihrer blamabelsten, weil hartnäckigsten Irrtümer anlegen, als eine Art von Schreckenskammer. Wie die Römer bei ihren Festmahlen sich ein Skelett vorführen ließen: „Denke daran, daß Du sterben mußt", so sollten auch sie immer daran denken, daß sie sich irren können. Selbst in den exakten Naturwissenschaften und der mathematisch begründeten Technik sind solche Unglücksfälle häufig gewesen. Noch bis vor kurzer Zeit nannte man regelmäßig als die drei Probleme, an die nur ausgemachte Narren herangehen könnten, die Quadratur des Zirkels, das Perpetuum mobile und die Umwandlung eines Elementes in ein anderes. Die beiden ersten sind in der Tat unlösbar: dafür ist der wissenschaftliche Beweis erbracht. Das dritte Problem „der Stein der Weisen", ist inzwischen gelöst worden: hier war der Beweis nicht erbracht worden, hier bestand nur eine festgewurzelte Meinung der großen Mehrzahl aller Chemiker und diese Meinung war eben falsch! Ein paar andere Prachtstücke aus der Schreckenskammer: Es ist noch nicht allzulange her, seit eine bayrische Kommission, zusammengesetzt aus den besten Fachmännern, in einem Gutachten „bewies", daß ein Dampfschiff unmöglich die Donau aufwärts fahren könne. - Etwas später lehnte das Oberste wissenschaftlich-technische Kollegium eines anderen deutschen Landes das Projekt einer Eisenbahn mit folgender Begründung ab: Erstens sei es überhaupt ausgeschlossen, ein Gefährt mit der ungeheuren Geschwindigkeit von 4-5 Meilen (30 bis 40 km) sich bewegen zu lassen. Zweitens würden alle Insassen des Gefährtes von dem Luftdruck alsbald getötet werden. Drittens müßte man den Bahnkörper ganz und gar mit zweimannshohen Palisaden absperren, da Menschen und Tiere sonst irrsinnig werden müßten, wenn sie den Zug sich mit dieser extremen Geschwindigkeit bewegen sähen. Heute fahren Menschen im Auto mehr als 200, und im Flugzeug schon mehr als 400 km! - Und es ist noch kein Menschenalter her, seit eine „königliche Gesellschaft" in London sich dem Gutachten ihrer hervorragendsten Fachmänner anschloß, worin mathematisch bewiesen war, daß ein Flugzeug, schwerer als Luft, unmöglich sei. Solche Unglücksfälle sind viel häufiger, als der Laie ahnt. Sie ereignen sich selbst dort, wo der gesunde Menschenverstand des ungelernten Mannes sofort die Wahrheit einer neuen Idee erkennen muß. Einem Aufsatz von Professor Baertling verdankt meine Sammlung ζ. B. den folgenden interessanten Fall: im Sande der norddeutschen

Weder so noch so

113

Tiefebene liegen vielfach ungeheure Felsblöcke. Wenn man nicht mit dem abergläubischen Volk annehmen wollte, daß seine höllische Majestät diese „Teufelssteine" dort abgeworfen habe, so blieb von allen irdischen Transportmitteln wirklich nur das eine möglich: das Eis strömender Gletscher. Denn im Wasser wären die Felsen untergesunken; keine Strömung der Welt ist stark genug, um sie von der Stelle zu bewegen. Und dennoch hat der Schöpfer der Gletschertheorie jahrzehntelang um die Anerkennung der „Wissenschaft" ringen müssen. Am schwersten haben es neue Ideen, die auf dem Gebiete der Gesellschaftswissenschaft und namentlich der Wissenschaft von der Volkswirtschaft sich an der Grenzkontrolle melden. Denn hier haben sie nicht nur, wie bei den Naturwissenschaften, mit berufsmäßig mißtrauischen Fachmännern zu tun, sondern darüber hinaus mit Gelehrten, die weltanschauungsmäßig oder gar parteimäßig voreingenommen sind. Sie halten fast immer alles für falsch und hochgefährlich, was diesen ihren Vorurteilen widerspricht. Noch mehr: da es verschiedene Weltanschauungen und Parteien gibt, und da mit sehr seltenen Ausnahmen jeder Denker auf diesem Gebiet einer der Parteien angehört, so gibt es hier noch nicht einmal eine „Wissenschaft" überhaupt. Von einer solchen kann man erst reden, wenn wenigstens über einige grundlegende Begriffsbestimmungen und Gesetze zwischen allen Beteiligten Ubereinstimmung besteht. Davon aber ist hier leider nicht die Rede. Man streitet sich endlos über nahezu alles. Es gibt keine Wissenschaft, sondern nichts als unzählige Privatmeinungen von Professoren. Nicht einmal unter sich sind die bürgerlichen, nicht einmal unter sich sind die verschiedenen sozialistischen Schulen einig. Aus diesem Grunde, verehrter Zeitgenosse, hat niemand das Recht, über diese Dinge zu Dir im Namen der Wissenschaft zu sprechen, hat niemand das Recht, von Dir als „Fachmann" oder als Autorität Kredit, d. h. Glauben zu beanspruchen. Seine „Meinung" mag Dich interessieren: aber glauben darfst Du ihm nur, was er Dir beweist. Es gibt hier keine andere Autorität als Deinen eigenen gesunden Menschenverstand. Der hier zu Dir spricht, ist auch ein Professor. Seine „Meinung" hat nicht mehr Gewicht als die jedes anderen Professors. Er will Dir nur etwas vordenken, und Du wirst gebeten, mitzudenken und nachzudenken. Sieh mir scharf auf die Finger. Laß Dich durch keinen Taschenspielertrick täuschen, mißtraue jedem Wort, setze keinen Fuß weiter, ehe Du Dich nicht überzeugt hast, daß Du auf sicheren Boden trittst. Auf diese Weise wollen wir uns an eines der Probleme heranwagen, vor die die „Wissenschaft" die Warnungstafel aufgestellt hat: „Zutritt verboten"! Ist eine Lösung der sozialen Frage möglichf Die Wissenschaft, von der Du erfährst, sagt: Nein! Sie sagt sogar, daß ein ausgemachter Narr ist, wer auch nur daran zweifle, daß das Problem unlösbar ist. Müssen wir ihr glauben? Denken wir an die Schreckenskammer und an die Umwandlung der Elemente. Respekt vor der Wissenschaft, verehrter Zeitgenosse - aber bitte: nicht allzuviel Respekt! Ein wenig ist offenbar der Wissenschaft in dieser Beziehung schon an ihrer Gottähnlichkeit bange geworden. Soeben ist eine kleine Schrift erschienen, in der ein ordentlicher Professor der Nationalökonomie an einer der größten deutschen Universitäten, ein ausgesprochener Antisozialist, Bruno Moll - Leipzig, die verpönte Frage zu stellen wagt: „Gerechtigkeit in der Wirtschaft?" Und das bedeutet ganz dasselbe, als wenn der Titel seines Buches lautete: „Die soziale Frage lösbar?" Moll schildert im Vorwort den Zustand der Gesellschaftswissenschaften noch sehr viel unfreundlicher, als wir es soeben getan haben: „Das Schulen- und Cliquenwesen spielt hier eine unheilvolle Rolle." Eine bedenkliche Konsequenz davon ist, „daß dem Forscher (...) in der Regel auch der Gegenstand der Erörterung von vornherein genau feststeht und oft in engherzigster Weise begrenzt ist." Darum bleiben gerade die wichtigsten Fragen, fährt er fort, nicht nur gewöhnlich ungelöst,

114

Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

sondern werden in der Regel überhaupt nicht behandelt. „Und doch scheint es allzu bequem und von vornherein jedem Fortschritt hinderlich, wenn wir immer von der Meinung ausgehen, ein Problem, das heute nicht lösbar ist, und dessen Unlösbarkeit einmal von bedeutenden Geistern behauptet worden ist, müsse schlechthin und für immer unlösbar bleiben." Und so wagt es Moll, die verpönte Frage zu stellen, „nach der richtigen und nach der gerechten Verteilung" der durch die gesellschaftliche Arbeit erzeugten Güter. Damit stellt er die soziale Frage! Nun ist er freilich der Meinung, diese Frage sei „in einer wissenschaftlich einwandfreien, exakten Weise überhaupt nicht restlos zu beantworten". Das aber ist wieder nur die private Meinung eines Professors, die irrig sein könnte - nein, mehr, die in der Tat irrig ist. Das läßt sich streng beweisen, und Du wirst erstaunt sein, wie einfach die Lösung ist. Ein altes Weiswort aber sagt: „Die Einfachheit ist das Kennzeichen der Wahrheit." Es handelt sich hier um keine Doktorfrage, verehrter Zeitgenosse. Es geht buchstäblich um unser aller Leben. Es ist fünf Minuten vor zwölf, das Manometer steht auf 99, gleich wird der Kessel platzen: es ist nicht mehr erlaubt, zu schweigen.

Weder so noch so

I.

Abschnitt: Die Krisis

a)

Armut aus Reichtum

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Der Kapitalismus hat abgewirtschaftet. Seine Verteidiger sind verstummt. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: er ist gerichtet. Sechs Millionen Arbeitslose in Deutschland, fünfundzwanzig bis dreißig Millionen Arbeitslose in den kapitalistischen Ländern insgesamt! Menschen darben und verhungern, verelenden und verkommen, Waren türmen sich zu Gebirgen und Mensch und Ware kommen nicht zueinander. In Nordamerika heizen sie mit Weizen, in Europa haben sie kein Brot; in Brasilien werfen sie ganze Kaffee-Ernten ins Meer, in Europa müssen sie Zichorienbrühe trinken; in den Südstaaten und Ägypten gehen die Baumwollbauern zugrunde, weil man ihnen nicht zahlen kann, was ihr Erzeugnis sie selbst kostet, und in Europa gehen die Massen in Lumpen. In Australien bankrottieren die Herdenbesitzer, und die Europäer können sich kein Fleisch kaufen. Das ist offenbar heller Wahnsinn. Man erzählt uns, es habe immer Armut gegeben, das liege so in den Naturgesetzen. Laß Dir nichts einreden, Zeitgenosse! Früher waren die Menschen arm, weil sie über keine andere Kraft verfügten als die ihrer eigenen Muskeln, und über keine anderen Werkzeuge, als diejenigen, die sie mit ihren Händen bewegten. Damals war eine gewisse Armut notwendig und sinnvoll, wobei gesagt werden muß, daß es niemals so massenhafte, so schmutzige und so hoffnungslose Armut gegeben hat wie heute. Heute aber steht es anders. Heute hat der Mensch den Dampf und die Elektrizität in seinen Dienst gezwungen, und diese niemals ermüdenden Sklaven aus Eisen und Stahl, die nicht leiden, wenn sie schaffen, entringen der Natur viel mehr Güter, als die Menschheit jemals besessen hat. Damit hat die Armut ihren Sinn verloren. Wir sind heute arm, weil wir allzu reich sind. Und dieser Wahnsinn steigert sich vor unseren Augen von Tag zu Tage. Weil die Ware nicht zum Menschen kommen kann, ist sie unverkäuflich. Weil sie unverkäuflich ist, müssen Fabriken geschlossen, Hochöfen ausgeblasen, Transportschiffe auf Werft gelegt werden, müssen weite Ackerflächen brachliegen. Arbeiter, Angestellte, Matrosen, Agenten werden entlassen, verlieren ihr Einkommen: dadurch werden noch mehr Waren unverkäuflich, müssen noch mehr Fabriken geschlossen, Hochöfen ausgeblasen, Schiffe auf Werft gelegt, Äcker brachgelegt werden. Damit nicht genug! Der Staat muß immer neue Steuern auflegen, um seine Betriebe notdürftig aufrecht zu erhalten: denn die alten Steuern bringen immer weniger ein, und er muß die Arbeitslosen doch wenigstens notdürftig füttern, um die gefährlichsten Ausbrüche der Verzweiflung zu verhüten. Er muß die Gehälter seiner Hunderttausende von Beamten kürzen und viele ganz entlassen. Jetzt kann auch der von Steuern überlastete Mittelstand, jetzt kann auch der Bauer, jetzt kann auch der Beamte nicht mehr soviel Waren kaufen wie früher - und der Wahnsinn geht weiter. Wie weit? Zum Bürgerkriege, der die Wirtschaft ganz und gar in den Abgrund stürzen muß? Zu einem neuen Weltkriege, um die Konkurrenten abzuschlachten? Zu Giftgas, Brandbomben, Tod und Verderben, auch für Frauen und Kinder? Und bei alledem zeigt sich auch nicht die geringste Spur einer Einkehr auf Seiten der kapitalistischen Herrenklasse. Alle Welt weiß, wie der Zusammenbruch doch wenigstens hinausgeschoben, vielleicht auch ganz und gar verhindert werden könnte: Abrüstung, Streichung der politischen Schulden, Niederlegung der Zollschranken, Senkung der überhohen Preise, die die großen Kapitalvereinigungen, die Kartelle und Trusts, aufgrund ihrer Vormachtstellung (Monopolstellung) festgesetzt haben. Stattdessen: Aufrüstung, widerlicher Schacher um die politischen Schulden, unaufhörliche Erhöhung der Zollschranken, starres Festhalten an den überhöhten Preisen! Das deutsche

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Volk hat begriffen, daß dieser verbrecherische Wahnsinn nicht so weiter gehen darf. Die letzten Wahlen haben in Deutschland überall eine gewaltige antikapitalistische Mehrheit in die Parlamente gebracht. Die drei größten Parteien bezeichnen sich selbst als sozialistisch, und d. h.: antikapitalistisch. Aber auch in der vierten großen Partei, im Zentrum, mit seiner gewaltigen Anhängerschaft im Arbeiterlager, überwiegen die antikapitalistisch eingestellten Wähler die anderen in einem ungeheuren Maße. Denn auch der Bauer und der kleine Mittelstand ist dem Kapital feind. Noch stehen, das wissen wir, die Millionen von Wählern und Wählerinnen der N.S.D.A.P. stark unter dem Einfluß der Großagrarier und der Schwerindustrie1. Dennoch unterliegt es keinem Zweifel, daß das Grundgefühl dieser ungeheuren Masse entschlossen antikapitalistisch ist. Im Ziel sind sie also alle einig. Sie wollen anstelle des Kapitalismus eine Volkswirtschaft zugleich der Vernunft und der Gerechtigkeit. Der Mensch hat gelernt, das Erzeugnis seines Fleißes zu vervielfachen: nun gut, dann will er diese Güter auch genießen, will den Weizen zu Brot, den Kaffee zum Getränk, die Baumwolle zu Wäsche und Kleidern für sich haben. Will nicht mehr in dumpfen Mietskasernen hausen, zusammengehudelt wie Schafe im Pferch, sondern im eigenen Haus und Gärtchen, in Luft und Sonne. Er will Zeit und Kraft für sich übrig behalten, um ein Mensch sein zu können, und nicht mehr bloß ein dumpfes Arbeitstier. Wenn diese Massen über den Weg zum Ziele ebenso einig wären, wie über das Ziel selbst, so könnten sie das Antlitz der Welt ohne weiteres verändern. Wahrscheinlich würde ein Widerstand nicht einmal versucht werden: wer ist starrköpfig genug, um gegen den Niagara schwimmen zu wollen?! Und sollte Widerstand versucht werden: mit einer einzigen lässigen Handbewegung würde das einige Volk ihn fortfegen. Aber leider: sie sind über den Weg zum Ziele nicht einig. Sind so sehr uneinig, daß sie ihre Kräfte im mörderischen Bruderkampfe gegenseitig lähmen. Die Macht der Kapitalisten beruht nur in der Schwäche der Volksmasse, und diese Schwäche ist nur die Folge ihrer Uneinigkeit. Warum sind sie uneinig?

b)

Die größte Täuschung

Die Antwort lautet: weil alle Welt, Bürgerliche und Sozialisten, in einer großen Täuschimg befangen sind. Sie glauben sämtlich, daß es kein Drittes gibt neben Kapitalismus und Kommunismus. Daß die Menschheit nur die Wahl hat zwischen jenem und diesem, und das will sagen: zwischen Freiheit und Gleichheit. „Wer Freiheit und Gleichheit zusammen verspricht, ist ein Phantast oder Scharlatan", hat Goethe gesagt. Wenn das wahr wäre, müßte die Menschheit verzweifeln. Denn alle Geschichte beweist, daß eine Gesellschaft ohne vernunftgemäße Gleichheit ebensowenig auf die Dauer bestehen kann, wie ohne vernunftgemäße Freiheit. Selbst die Sowjets haben in der allerletzten Zeit sehr beträchtliche Einräumungen an die verpönte wirtschaftliche Freiheit machen müssen: es ging nicht anders, wenn auch noch immer die Hoffnung bestehen mag, daß auch diese Reste einmal entbehrlich sein werden, wenn erst die kommunistisch erzogene Jugend die verdorbenen Menschen der früheren Epoche überall ersetzt haben wird. Kurz vor dem Weltkriege veröffentlichte ein geistvoller Engländer, Norman Angell, ein Buch unter dem Titel „Die große Täuschung". Er erwies sich als wahrer Prophet. Er zeigte, daß der Weltkrieg, den er kommen sah, auch die Sieger auf das schwerste schädigen würde. Er zeigte, es sei eine große Täuschung, daß man durch die Niederwerfung der Konkurrenten etwas gewinnen könn-

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Das hat sich zwischen Niederschrift und Korrektur schon stark geändert.

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te. Eine noch viel größere Täuschung, die allergrößte, die allergefährlichste, ist die, von der wir hier sprechen werden, die allgemeine Auffassung, daß es neben Kapitalismus und Kommunismus kein Drittes geben könne. Das ist der einzige Punkt, über den die Kapitalisten und die Kommunisten einig sind. Sie glauben und erklären beide, der Kapitalismus sei das System der freien Konkurrenz. Die Kapitalisten können nicht leugnen, daß die freie Konkurrenz sehr schwere Übel mit sich führt: die Krisen, die Arbeitslosigkeit, die Kämpfe um den Weltmarkt, in letzter Linie auch die vernichtenden Kriege. Aber sie behaupten, und vieles spricht für sie, daß es ohne Konkurrenz nicht geht. Nur sie sporne die Menschen zur höchsten Leistung, nur sie könne die Bedürfnisse aller rechtzeitig und so vollkommen wie nur möglich befriedigen; jeder zentrale Plan müsse an menschlicher Unzulänglichkeit und Unredlichkeit scheitern; nur dort, wo Millionen selbständige Wirtschafter mit ihrer ganzen Existenz daran interessiert seien, die bedurften Waren rechtzeitig dahin zu bringen, wo sie gebraucht würden, könne die Volkswirtschaft richtig ablaufen. Sie sei ein lebendiger Körper; und sowenig man das Herz eines Menschen durch eine elektrisch betriebene Pumpe ersetzen könne, sowenig könne man die unendlich verzweigte Wirtschaft eines großen Volkes von einem zentralen Punkte aus vollziehen. Daher der Schluß: trotz aller schweren Schäden muß die Wirtschaft der Konkurrenz erhalten bleiben. Die Kommunisten sagen im Gegenteil, und auch sie haben weithin recht: die Schäden der Konkurrenz sind unerträglich. Sie müsse abgeschafft werden, koste es, was es wolle. Mithin: zentrale Planwirtschaft aufgrund statistischer Feststellungen, Abschaffung oder doch wenigstens äußerste Verminderung des freien Marktes und der freien Unternehmertätigkeit, der privaten Banken und des privaten Kredites. Wenn es wirklich kein Drittes gäbe, dann müßte es jedem überlassen bleiben, auf welcher Seite er zu stehen gedenkt, wenn es zu dem dann unvermeidlichen großen Schlußkampf der beiden streitenden Massen kommen wird. Zum Glück handelt es sich um die größte aller Täuschungen. Es ist nicht wahr, daß die Menschheit nur die Wahl hat zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Gleichheit mit wirtschaftlicher Unfreiheit, und Freiheit mit wirtschaftlicher Ungleichheit. Es ist nämlich nicht wahr, daß der Kapitalismus das System der freien Konkurrenz ist: er ist das genaue Gegenteil, er ist das System der gefesselten Konkurrenz. Die beiden Arten der Konkurrenz verhalten sich zueinander wie Weiß und Schwarz, wie Himmel und Hölle. Wenn der Kapitalismus die Ordnung der krassen verderblichen Ungleichheit ist, so ist das System der freien, der von ihrer Fessel befreiten Konkurrenz die Ordnung der vernunftgemäßen Gleichheit. Und das bedeutet: Gleichheit der Einkommen bei gleicher Leistung für die Gesellschaft, Abstufung der Einkommen lediglich nach der Verschiedenheit der Leistung für die Gesellschaft, mithin Fortfall jedes Großeinkommens aus reinem Besitz. Diese Lösung stammt nicht etwa von mir: ich bin nur das bescheidene vorläufige Endglied einer Kette von Denkern, deren grundlegende Idee seit mehr als hundert Jahren an der Zollschranke zurückgehalten wird. Ihr Schöpfer war der geniale Franzose Graf Saint-Simon, ihre Fortbildner außer seinen Schülern Bazard, Enfantin und Proudhon der Amerikaner Carey, der Deutsche Eugen Dühring, der Ungar Theodor Hertzka. Diese Schule behauptet, daß die „soziale Frage" falsch gestellt ist. Bekanntlich aber erhält man richtige Antworten nur, wenn man richtig fragt. Bis jetzt nämlich hat man geglaubt, man müsse, um die soziale Frage zu lösen, eine ganz neuartige Gesellschaft aufbauen, aus der die freie Konkurrenz, als die Sünderin, ausgerottet ist: der Kommunismus. Das aber sei, so sagt die „Wissenschaft" unmöglich, „ehe die Menschen nicht sämtlich Engel geworden wären". Wenn man die Frage derart stellt, dann freilich ist sie unlösbar. Denn die Gesellschaft ist ein lebendiger Körper, den man ebensowenig „machen" kann wie einen Apfelbaum oder eine Katze.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Wir aber, die Schule des freiheitlichen Sozialismus, behaupten und können beweisen, daß es sich nicht darum handelt, etwas sehr Verwickeltes aufzubauen, sondern nur darum, etwas abzubauen. Wir sagen, daß nichts weiter erforderlich ist, als die Fessel der freien Konkurrenz zu zerbrechen. Und das ist gewiß eine Aufgabe, die ungleich leichter zu lösen ist als die, einen lebendigen Organismus zu konstruieren wie eine Maschine. Nicht schwerer, als einen Strick zu durchschneiden, der einen Menschen würgt. Jene grundlegende Idee Saint-Simons war die folgende: selbstverständlich fließt das Einkommen aus Besitz dem Eigentümer zu, und daher aus Großbesitz dem Großeigentümer. Nun ist aber unzweifelhaft, daß so gut wie alles Großeigentum geschichtlich entstanden ist durch politische Gewalt und solche Handlungen, die heute als Verbrechen gelten. Bruno Moll sagt darüber in dem schon angeführten Schriftchen: „Nicht eigene Arbeit, sondern Aneignung der Früchte fremder Arbeit sind als Entstehungsgründe der Kapitalien in fast allen Perioden der Wirtschaftsgeschichte in erster Reihe mit heranzuziehen: Krieg und Raub, Versklavung, Mord und Plünderung, Betrug und Wucher, Übervorteilung und Schiebung, Ausbeutung und Überlistung, Erpressung und Korruption, Steuerflucht und -hinterziehung waren große Regulatoren der wirtschaftlichen Verteilung, und sind es zum Teil noch jetzt."1 Auf einigen Perücken werden sich dabei die Locken gesträubt haben: aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Das durch Gewalt entstandene Großeigentum ist in die kapitalistische Epoche mit eingegangen, und ihm allein ist die Schuld daran zuzuschreiben, daß die Verteilung der Einkommen so verderblich ungleich ist. Um mit Eugen Dühring zu sprechen: „Das Gewalteigentum fordert und erhält seine Gewaltanteile" an dem Erzeugnis der Gesellschaft, fordert und erhält den „Mehrwert", das reine Besitzeinkommen, dem keine Leistung für die Gesellschaft entspricht. Der Prozeß gegen die freie Konkurrenz ist längst rechtskräftig entschieden. Aber auch gegen ein rechtskräftiges Urteil ist es möglich, die Wiederaufnahme zu erreichen. Ich behaupte und werde beweisen, daß die Verurteilte unschuldig ist, und ich werde die wahre Übeltäterin bezeichnen. Mit dem Freispruch, der trotz aller Widerstände erzwungen werden wird, vielleicht erst lange nach meinem Tode, wird sich die Menschheit selbst erlöst haben.

II. Abschnitt: Die Tatsachen, I. Teil a)

Wirtschaft unter freier Konkurrenz

Es wird von Vorteil sein, zuerst die Tatsachen mitzuteilen, auf die sich der freiheitliche Sozialismus stützt, überwältigende Tatsachen, um die sowohl die bürgerliche, wie die marxistische Wissenschaft in scheuem Bogen herumgehen, weil sie ihnen Nüsse zu knacken geben, für die ihre Kinnbacken nicht kräftig genug sind; es wird sich aber zeigen, daß sie sich vom Standpunkt unserer eigenen Auffassung aus sämtlich auf das allereinfachste erklären. Es handelt sich um eine Anzahl von kleineren und größeren Wirtschaftsgesellschaften, in denen bei voller freier Konkurrenz und trotz freier Konkurrenz das wirtschaftliche und kulturelle Leben den erfreulichsten und erstaunlichsten Aufschwung nahm, während dennoch die rationelle Gleichheit nach der Leistung für die Gesellschaft bei reißend wachsendem Wohlstand für alle durchaus erhalten blieb. Niemand war arm, der arbei-

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Moll, Gerechtigkeit in der Wirtschaft, Bonn 1932, S. 36.

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ten wollte und konnte, niemand war reich. Jedenfalls war niemand, um ein berühmtes Wort Rousseaus anzuführen, „arm genug, um sich verkaufen zu müssen, und niemand reich genug, um andere kaufen zu können". Diese Gesellschaften, von denen wir jetzt aufgrund zuverlässiger Quellen berichten werden, waren in allen Bedingungen und Beziehungen sehr verschieden voneinander. Nur in einem einzigen Punkte stimmten sie überein: überall konnte jedermann, der es wünschte, ohne wesentliche Kosten

Zugang zu freiem Lande erlangen. Aus diesem Grunde herrschte hier die von ihrer schwersten Fessel befreite, im wesentlichen schon völlig freie Konkurrenz. Freie Konkurrenz besteht nämlich nach einer prachtvollen Formel, die wir Adolf Wagner verdanken, überall dort, „wo jeder, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und d a r f . Wo er es nicht kann oder darf, ist die Konkurrenz gefesselt. Wo aber Grund und Boden jedermann frei zugänglich ist, da kann sich jedermann wenigstens an einer Produktion beteiligen, nämlich am Land- oder Gartenbau. Oder, was dasselbe sagen will: da hat jedermann die Möglichkeit, selbständiger Produzent zu werden. Und das genügt, wie die Tatsachen zeigen, um es der freien Konkurrenz zu ermöglichen, ihre Segnungen zu entfalten, trotz Goethe Freiheit und Gleichheit zusammen zu bescheren. Wir beginnen mit einer Anzahl kleinerer Versuche. Der erste betrifft das Gut Rahaline in Irland: eine der härtesten jener Nüsse, die die Wissenschaft nicht knacken konnte. Es ist nämlich die einzige Arbeiter-Produktiv-Genossenschaft der ganzen Geschichte, die sich glänzend entwickelte, während viele Hunderte von anderen Versuchen der Art ohne Ausnahme scheiterten. Ich konnte in meiner „Siedlungsgenossenschaft"1 das Rätsel lösen: all die anderen Fälle betrafen industrielle, nur dieser eine Fall betraf eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Es war im Jahre 1831. Irland, auf das schwerste ausgebeutet, dazu noch durch eine Hungersnot geplagt, weil die Kartoffelernte versagt hatte, und von einer Choleraepidemie getroffen, war in hellem Aufruhr gegen die englischen Machthaber. Die schlimmste Grafschaft war Clare, und das schlimmste Gut in Clare war Rahaline. Die proletarischen Pächter waren kaum besseres als Räuber und Mörder. Sie hatten den Verwalter Hastings in den Armen seiner jungen Frau erschossen; der Mörder wurde niemals entdeckt. Der englische Gutsbesitzer, Vandeleur, der natürlich keine Pacht erhielt, konnte es kaum wagen, sich auf seinem Besitz sehen zu lassen. Da entschloß sich der Mann, der irgendwie von dem großen sozialistischen Industriehäuptling Robert Owen angeregt war, zu einem revolutionären Versuch, für den ihn seine Familie am liebsten ins Irrenhaus gebracht hätte. Er faßte die Leute zu einer Genossenschaft zusammen, übergab ihnen das Gut unter Leitung eines tüchtigen Mannes zur gesamten Hand, also als Produktiv-Genossenschaft, und bedang sich eine gar nicht sehr kleine Rente aus. Der Versuch glückte, wie wir aus den Schilderungen vieler Augenzeugen wissen, in glänzendem Maße. Der Fleiß und die Sorgfalt der Genossen war musterhaft, die Erträge wuchsen, ein großes Weizenfeld wurde durch Meliorationen neu gewonnen. Die Trunksucht war verschwunden, ebenso die politische Aufregung, in den Familien und in der Genossenschaft insgesamt bestand das schönste Verhältnis des Friedens und der Brüderlichkeit. Der Wohlstand stieg hoch über den Durchschnitt der Klasse, die Genossen hatten reichlich zu essen, verbesserten ihre Häuschen und gaben ihren Kindern eine bessere Erziehung. Der Versuch wurde mitten im vollen Gedeihen von außen totgeschlagen. Vandeleur verfiel in Spielschulden, wurde flüchtig, die Gerichte erkannten den zwischen ihm und der Genossenschaft abgeschlossenen Vertrag nicht an, das Gut wurde mit sämtlichen Verbesserungen die Beute der Gläubiger, und das kleine Fünkchen war glücklich ausgetreten, aus dem sich vielleicht eine Flamme hätte entzünden können, in der die Gewaltherrschaft verbrannt wäre. So geht es überall in der Welt. Wo immer eine Anzahl von Menschen so zusammen geordnet ist,

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Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Jena 1896.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

daß sie in Zucht und Wohlstand miteinander leben, da zerstört der Neid und die Gier der Nachbarn den Keim der neuen Ordnung. So geschah es dem berühmten Staat der Jesuiten in Paraguay, von dem wir hier nicht sprechen wollen, weil es sich um Indianer handelte, die von ihren Patres in stärkster geistiger Abhängigkeit gehalten wurden, und so geschah es dem Mormonenstaat in Utah, von dem wir bald sprechen werden. Noch von zwei glücklichen Versuchen auf der kleinen Fläche eines einzigen Gutes soll hier gesprochen werden: von Zagarolo und der Obstbausiedlung „Eden" bei Berlin-Oranienburg. Zagarolo war ein Städtchen in der Campagna bei Rom, das um das Jahr 1800 drei- bis viertausend armselige Einwohner zählte. Sie hatten viel zu wenig Land, als daß sie davon hätten leben können, und darum überschwemmten sie in schlechten Jahren die Straßen Roms als Bettler. Am Fuße des Stadthügels befand sich eine Wüste und von Fiebern heimgesuchte Ebene von großer Ausdehnung, im Besitz der reichen römischen Fürsten Rospigliosi. Jahrhundertelang hatte keiner der großen Besitzer das Kapital aufbringen können, das nötig gewesen wäre, tun diese Wüste in Kultur zu bringen. Da nahmen die armen Einwohner von Zagarolo das Land gegen eine schwere Geldrente in Erbpacht, die nach den damals geltenden überhohen Kornpreisen berechnet war. Und diese gleichen halben Lumpenproletarier, „die man für so arbeitsweich, für so ganz und gar unfähig erachtet hatte, die großen Anstrengungen zu ertragen, urbarten und besäten sofort das Gelände. Während mehrerer Jahre hatten sie keine anderen Einnahmen, von denen sie leben und die Pacht zahlen konnten, als die Körnerernte; aber sie beschränkten sich nicht auf das bloße Ackern, sondern sie nutzten im Interesse der Zukunft jeden ihnen gegebenen Augenblick; sie umgaben ihre Parzellen mit Mauern, regulierten die Wasserläufe und pflanzten Oliven, Feigen, Obstbäume aller Art, vor allem aber Reben. 5 oder 6 Jahre hindurch hatten sie zu entbehren, aber die Hoffnung erhielt sie aufrecht, dann begannen die Reben ihren vollen Ertrag zu geben, und diese allein deckten seitdem die Pacht." Als Sismondi schrieb (1838), war auf dem Gelände selbst eine stattliche Ansiedlung aufgebläht, die Bevölkerung hatte sich mehr als verdoppelt, während sie soviel wohlhabender geworden war, die Melioration (Wertvermehrung) war wenigstens doppelt soviel wert, wie das Grundstück, „und so haben die armen Leute, die nach der Lehrmeinung der Wissenschaft kapitallos waren, im Laufe von 30 Jahren ein Kapital in den Boden gesteckt, zweimal größer als der Wert des ihnen überlassenen Eigentums". Eine bittere Pille für die weisen Professoren seiner und leider auch der folgenden Zeit, die sich die Bildung von Kapital gar nicht anders vorstellen können als durch die Ersparnis von Kapitalisten. Die gleiche großartige Fähigkeit zur Bildung großen Kapitals lediglich aus den Überschüssen der eigenen Arbeit zeigen die drei nächsten Beispiele, die wir anzuführen haben. Das nächste betrifft noch ein Gut, das zweite einen ganzen Stadtkreis, das dritte gar einen ganzen Staat in Nordamerika. Die Obstbausiedlung Eden wurde im Jahre 1893 von Männern begründet, die bereits dem Gedankenkreise angehörten, dessen Vorfechter der Verfasser dieser Zeilen ist. Es war eine kleine Gruppe von Vegetariern, „Lebensreformern", die aus der Stadt zogen, um ihr Ideal Vernunft- und naturgemäßen Lebens zu verwirklichen. Sie hatten geringe Mittel und geringe Fachkenntnisse. Weil sie guten Boden nicht bezahlen konnten, erwarben sie den schlechtesten Boden, den es überhaupt gibt, bösen Flugsand im Urstromtal der Havel, ganze 40 ha. Dennoch war das Gedeihen in jeder Hinsicht: wirtschaftlich, moralisch und gesundheitlich, fabelhaft. In der Festschrift „25 Jahre Obstbausiedlung" heißt es: „Die wirtschaftlichen Verhältnisse, sowohl der Siedlung, wie der einzelnen Genossen, befestigten sich mehr und mehr, die Pflanzungen wurden immer ertragreicher, die Einnahmen stiegen, und in demselben Maße wuchs auch die Zufriedenheit der Siedler und das Vertrauen zu ihrem Werk. Bereits im Jahre 1912 betrug die Endsumme der Jahresschlußrechnung der Genossenschaft die erste Million." Die Zahl der Genossen war auf 202, die ständige Bevölkerung Edens

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auf etwa 350 Köpfe angewachsen, auf 50 ha, einem halben Quadratkilometer; man hatte 10 ha hinzugekauft. Seitdem hat man neues Land erworben, die Bewohnerschaft hat sich sehr stark vermehrt, mit ihr der Reichtum. Die Genossenschaft besitzt eine vorbildliche Fabrik für Fruchtsäfte und Marmeladen, aus der sie bedeutende Erträge erzielt. Ihre Produkte sind berühmt durch ihre Vortrefflichkeit. Es sind eben ehrliche Leute, die sich nicht verführen lassen, auf ihren guten Namen hin durch Verschlechterung der Ware zu sündigen. 700 Menschen auf den Quadratkilometer! Bei vorwiegend agrarischer Tätigkeit! Schon das allein berechtigt dazu, Eden als ein soziologisches Wunder zu bezeichnen. Die sechsfache Dichte von ganz Deutschland, die etwa 30fache Dichte der landwirtschaftlichen Bezirke im Osten Deutschlands! Aber noch viel fabelhafter sind die sozialen Ergebnisse. Es gibt hier keine Armen. Wer von den Genossen von seinem sehr kleinen Erbgrundstück nicht leben kann und keine Arbeit außerhalb der Kolonie annehmen will oder kann, findet in der Landreserve der Genossenschaft gutbezahlte Arbeit. Es gibt keine Reichen. Niemand braucht sich zu verkaufen, niemand kann andere kaufen. Infolgedessen ist die Gesundheit und die Sittlichkeit der Gruppe geradezu erstaunlich. Die Säuglingssterblichkeit stand zur Zeit der Gründung in Deutschland auf etwa 24%, d. h. von 100 Neugeborenen starben 24 im ersten Lebensjahre. Diese Ziffer des Unheils sank bis zum Weltkriege langsam auf 18%. Eden aber hatte im Durchschnitt dieser ganzen Zeit nur 3,8%. Ebenso günstig stand die Gesundheit der älteren Kinder: in der ganzen Zeit ist nicht ein einziges der mehr als 300 Kinder gestorben, die die Edener Schule besuchten. Um von der Sittlichkeit zu sprechen, so hat Eden seine Schulden nach dem Kriege mit vollen 50% aufgewertet. In den ersten 25 Jahren ist kein einziges Mitglied der Genossenschaft in einen Strafprozeß verwickelt, geschweige denn bestraft worden, und das in einem Lande, in dem statistisch etwa jeder fünfte Mann und jede elfte Frau vorbestraft sind. Nicht einmal eine einzige Zwangsvollstreckung ist in Eden nötig gewesen, und niemals ist eine Zinszahlung ausgeblieben. Trunksucht ist unbekannt; wer aber einmal einem der schönen Feste beigewohnt hat, erkennt, daß echte Fröhlichkeit, viel schönere Fröhlichkeit, ohne Alkohol möglich ist. Auch hier findet jeder Genösse Zugang zu genügendem Eigenlandbesitz oder doch Zugang zum Lande, das die Gesamtheit sich als Arbeitsreserve hält. Der Stadtkreis, von dem jetzt zu handeln ist, ist Vineland im Staate New Jersey. Hier kaufte im Jahre 1861 ein gewisser Landis 30.000 Acres Land, denen er 1874 weitere 23.000 Acres zufügte, im ganzen also rund 18.000 ha eines sehr mäßigen Bodens, und gründete hier die Kolonie Vineland. Das Unternehmen würde sich von keiner anderen Bodenspekulation unterschieden haben, wenn der Besitzer nicht einen neuen Gedanken gehabt hätte. Er kündigte an, und führte es auch durch, daß er den Bodenpreis niemals steigern werde. Der letzte Acre würde wie der erste für 25 Dollar verkauft werden. Das war für den Anfang kein billiger Preis: 300 RM der Hektar, 75 RM der Morgen für rohes Land von keiner besonderen Fruchtbarkeit, an der Grenze der damaligen Kultur. Aber als die ersten Ansiedler sich angefunden hatten, wurde das Land immer wertvoller, wie denn ja fast aller Bodenwert nur dadurch entsteht, daß eine Anzahl von Menschen miteinander siedelt und in volkswirtschaftliche Arbeitsteilung eintritt. Diesen steigenden Bodenwert nimmt sonst der Spekulant für sich in Anspruch, Landis aber verzichtete darauf, zu seinem eigenen großen Vorteil, denn natürlich wurde der Zustrom immer schneller und schneller, und nach zwölf Jahren wohnten hier nicht weniger als 11.000 Menschen, die sich eines ungemein großen und schnell wachsenden Wohlstandes erfreuten. Die Kolonie hatte 20 Schulen, 10 Kirchen, 178 englische Meilen ausgezeichneter Straßen, 17 Meilen Eisenbahn mit 6 Stationen, 15 Fabriken und die besten Läden im ganzen Staate. Der Stadtkreis war nach dem Werte seiner Ackerproduktion der vierte unter den 77 Kreisen des Staates. Von einheimischer Armut war keine Rede: die Armensteuer betrug pro Jahr und Kopf 20 Pfg, während sie in dem gleich großen Nachbarorte Perth Amboy das vierzigfache, 2 Dollar, betrug. Vergehen und Verbrechen kamen nach dem Zeugnis des Polizeivorstehers nicht vor.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Und das bei einer Bevölkerung, die durchaus nicht etwa nach irgendeinem politischen oder religiösen Prinzip ausgewählt war: es waren ganz dieselben Einwanderer, die auch sonst das Land besiedelten. Hier hatte, dank dem genialen Einfall des Besitzers, jedermann die Möglichkeit, billig zu einem Stück Land zu kommen. Denn Landis gab vernünftigen Kredit, und so konnten auch Sehr-wenigBesitzende zur Selbständigkeit gelangen. Sehr oft nahmen sie zuerst ein kleineres Stück Land, rodeten den Busch aus, pflügten und säten, und verkauften dann das Stück an einen Wohlhabenderen, der ihnen über den Ankaufspreis hinaus den Wert ihrer Arbeit vergütete. Mit dem Erlös kauften sie ein größeres Stück und setzten das solange fort, bis sie soviel Land hatten, wie sie bebauen wollten und konnten. Natürlich hatte diese segensreiche Entwicklung ihr Ende erreicht, als der Vorrat von Land in den Händen des Besitzers erschöpft war. Heute ist Vineland eine nette Sommerfrische, die sich in sozialer Beziehung nicht von anderen Städtchen gleicher Größe unterscheidet. Folgt in der Reihe die Ansiedlung der Mormonen in Utah, solange es unter der Herrschaft der Mormonen und ihrer Gesetze stand. Die Mormonen unter ihrem zweiten Propheten Brigham Young, aus ihrer ersten Heimat Nauvoo vertrieben, fanden in der zentralamerikanischen Wüste eine Landschaft, die sie als ihr „gelobtes Land" ansprachen, weil es in der Tat Palästina außerordentlich ähnlich ist. Aus einem Süßwassersee fließt ein Strom in einen großen Salzsee, just wie der Jordan aus dem See von Genezareth in das Tote Meer. Hier beschlossen sie zu bleiben, trotzdem der Boden sehr arm und versalzt war. Um ihn in Kultur zu bringen, schufen sie das erste große Bewässerungswerk der Vereinigten Staaten; sie leiteten die Gewässer der benachbarten Berge in ihr Tal. Das Land war übergroß im Verhältnis zu ihrer Zahl, aber das Wasser, durch das allein das Land nutzbar gemacht werden konnte, war knapp. Da man jedem nur eine bestimmte Menge Wasser geben konnte, konnte man niemandem viel Land geben. Das Höchstmaß war 20 Acres, etwa 28 Morgen, im Außenbezirk der neuangelegten Salzseestadt. Dieser äußere Ring umschloß einen mittleren Ring mit Grundstücken von nur 5 Acres, etwa 7 Morgen, die an Handwerker und wohl auch Gärtner abgegeben wurden. Die Städter erhielten nur 1 ha. Diese Verteilung war außerordentlich gerecht: was dem einen die Größe seines Grundstückes gab, gab dem anderen die Gunst der Verkehrslage. Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein erstaunlicher Wohlstand, der erstaunlich gleich verteilt war, trotzdem Utah, ehe die Eisenbahn es berührte, so weit von der Grenze der Kultur entfernt war, daß es fast unmöglich war, Waren von außerhalb heranzubringen. Der ganze gewerbliche Oberbau über dem landwirtschaftlichen Unterbau war zwar der Form nach in Aktiengesellschaften, dem Inhalt nach aber durchaus in Genossenschaften organisiert. Es gab keine großen Aktienbesitzer, die Aktien waren ziemlich gleichmäßig in den Händen aller Einwohner. „Die Absicht", sagt unsere Quelle, [William] A. Smythe, „die Anteile für einige Wenige zu monopolisieren, würde fast für unmoralisch gelten." Werfen wir einen Blick auf den großen Konsumverein in Salzseestadt. Begründet 1868 mit einem Kapital von 220.000 Dollar auf vorläufig 25 Jahre, wurde er 1895 neu auf 50 Jahre mit einem Kapital von 1.770.000 Dollar eingetragen. Während der ersten Periode, so entnehmen wir einem Bericht des leitenden Direktors, wurden für mehr als 76.000.000 Dollar Waren abgesetzt, fast 2.000.000 Dollar als Einkaufsdividende und fast 415.000 Dollar als Kapitaldividende ausgezahlt. Durchschnittlich fiel auf jedes jener 27 Jahre eine Kapitaldividende von 8 1/3%. „1.000 Dollars, die am 1. März 1869 uns auf Aktien gegeben waren, hatten sich nach Ablauf der Geschäftsdauer am 30. September 1895 auf 2.014 Dollars vermehrt, und doch hatten wir darüber hinaus auf je 1.000 Dollars im ganzen 4.119 Dollars Einkaufdividende verteilt."

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Noch im Jahre 1896, also lange nach der Vernichtung der Selbständigkeit durch die Vereinigten Staaten, waren von 19.916 Farmen nicht weniger als 17.684 von jeder Verschuldung frei, in sehr starkem Gegensatz zu der drückenden Verschuldung der meisten Farmer in den übrigen Staaten. Von kulturellen Errungenschaften weiß unsere Quelle nur zu berichten, daß kein Staat der Union eine höhere Ziffer des Schulbesuches und weniger Analphabeten hat als Utah. Uber die sittlichen Verhältnisse haben die Nachbarn soviel Lügen und Übertreibungen verbreitet, wie überall, wo es etwas zu rauben gibt, wie auch beim Jesuitenstaat, daß man hier nicht klar sehen kann. Aber das interessiert uns ja in diesem Zusammenhange auch nur in letzter Linie. Entscheidend ist nur, daß hier gleichfalls jedermann Zugang zu ausreichendem Grund und Boden hatte, weil es niemandem erlaubt und möglich war, mehr Land für sich zu nehmen, als er aus eigenen Kräften bewirtschaften konnte, und daß auch hier wieder, trotz all der ungünstigen Umstände, ein erstaunlicher und erstaunlich gleichmäßig verteilter Wohlstand vorhanden war. Nach einer Untersuchung, die der Geschichtsschreiber der Kirche, Milton Musser, angestellt hat, hat die Bevölkerung in den ersten vierzig Jahren nicht weniger als 563 Millionen Dollar bar verausgabt, von denen nur 20 Millionen eingebrachtes Kapital waren. Daraus ergibt sich, daß jeder mormonische Bauer in diesen 40 Jahren durchschnittlich 482 Dollar mehr als seine Unterhaltungskosten vereinnahmte, beträchtlich mehr, als der Bruttoverdienst der Lohnarbeiter im übrigen Amerika. Das sind nahezu 2.000 Mark in deutschem Gelde! Überschuß! Unsere nächsten Beispiele betreffen gar ganze Kontinente, wenn man nämlich die riesigen Vereinigten Staaten als einen Kontinent bezeichnen darf. Hier und in Australien stand der Lohn der arbeitenden Bevölkerung für unsere Begriffe unverständlich hoch, solange noch freies Land jedermann gegen geringes Entgelt zugänglich war. Fr. J. Neumann berichtet: Weil dort die Bevölkerung noch außer Verhältnis zu den Erwerbsquellen stand, veranlaßte die Nachfrage nach Arbeitern nur Konkurrenz unter den Lohnherren zugunsten der ersteren. Der Lohn stellte sich deshalb a la hausse (hatte die Neigung dauernd zu steigen), und versetzte die arbeitende Klasse, wohl bis auf die Hefe, in den Bemittlungsstand hinüber. Einige Notizen nach Roscher: In Lowell konnten die Fabrikarbeiterinnen meistens 1 1/2 Dollar wöchentlich zurücklegen und gar oft nach vierjähriger Arbeitszeit, mit einem Heiratsgut von 250-300 Dollar versehen, sich verheiraten. Noch 1849 meinte ein Arbeiter, sich „übel zu befinden, wenn er nicht die Hälfte seines Lohnes zurücklegen könnte". In Philadelphia waren mehr als ein Viertel der verheirateten Arbeiter Hauseigentümer, die von Ohio speisten so gut wie die deutsche Mittelklasse. Aus Australien und Neuseeland berichtet Metin, daß die arbeitsuchende Reservearmee kaum existiert und „die Arbeitgeber zuweilen glücklich sind, einen Arbeiter oder Angestellten zu Bedingungen einzustellen, die uns als exorbitant erscheinen". In den Vereinigten Staaten wie in Australien bestand in jenen Zeiten völlig freie Konkurrenz, abgesehen von einigen Schutzzöllen, die den Wettbewerb der fremden Staaten etwas behinderten. Und dennoch kein Kapitalismus, keine soziale Frage! Keine Klasse vermögensloser „freier" Arbeiter. Jetzt wird der Leser hoffentlich bereits genügend vorbereitet sein, um ihm das letzte großartigste Beispiel einer wirtschaftlich fast wirklich ungefesselten Konkurrenz glaubhaft zu machen: unser

eigenes Deutschland in fast vier Jahrhunderten, von etwa dem Jahre 1000 bis etwa 1370 nach Chr. Unter den Nachfolgern des Großen Karl verschlimmerte sich die Lage des niederen Volkes in Deutschland mehr und mehr. Die großen Grundherren machten sich von der Krone immer unabhängiger, drückten die Bauern in Hörigkeit herab und führten unablässig Fehden untereinander. Darunter verfiel natürlich die Wehrmacht des Reiches; von allen Seiten brachen die Wildvölker plündernd und mordend herein: über die Ostgrenze her asiatische Reitervölker und Slawen verschiedener Stämme, von den Küsten her die noch wilderen wikingischen Seeräuber. Der Bauer war selten geworden, und seltene Dinge haben hohen Wert. Die großen Herren, die sich immer mehr aus privaten Grundbesitzern in Landesfürsten verwandelten, brauchten den Bauer dringend als

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Arbeitsinstrument auf ihren sonst wertlosen Grundbesitzungen und als wehrfähigen und steuerfähigen Untertan ihres Machtbereiches. Und so kamen sie dazu, sich die Bauern gegenseitig wegzulocken; sie drängten ihnen den Boden geradezu auf, und der Bauer versteigerte sich sozusagen an den Meistbietenden. Die geistlichen Fürsten - unter dem Krummstabe wohnte es sich immer am besten - gingen voran, die weltlichen mußten folgen, um das kostbare Menschenmaterial nicht ganz zu verlieren, und der Bauer kam schnell in den Besitz der wertvollsten Rechte, vor allem dem der Schollenbindung: fortan durfte er nicht mehr wie früher ohne sein Land, und ebensowenig durfte sein Land ohne ihn verkauft werden. Wirtschaftlich noch wichtiger war die Festlegung seiner Abgaben und Leistungen an den Herrn. Die Verpflichtung zu Frondiensten wurde auf bestimmte Tage begrenzt, der Geldzins ein für allemal fixiert, und zwar in einer bestimmten Menge von Pfennigen jährlich. Das hatte, um es vorwegzunehmen, die für den Bauern sehr angenehme und für den Grundherrn ebenso unangenehme Folge, daß der wirklich gezahlte Zins auch absolut immer geringer wurde, weil die großen Münzherren den Silbergehalt der Münzen fortwährend verschlechterten, so daß in Wirklichkeit immer weniger Silber in die Kassen der Kämmereien einfloß. Noch viel mehr sank diese Art von Pacht relativ, d. h. im Verhältnis zu den eigenen Einnahmen der Bauern, die reißend wuchsen. Hatte ζ. B. ein Bauer im Anfang ein Drittel seines Reineinkommens in Gestalt von Silberpfennigen bezahlt, so zahlte er zwei Jahrhunderte später nur noch ein Sechstel in entwerteten Pfennigen, also vielleicht nur noch ein Zwanzigstel. Der Bauer wurde reich, die Herren verarmten. Unter diesen Umständen wuchs die Zahl und Wehrkraft der Bevölkerung, die Grenzen wurden gesichert, und die Kraft des Reiches war jetzt groß genug, um seinerseits erobernd weithin in den slawischen Osten vorzudringen. Damit erschloß sich dem Uberschuß der westdeutschen Bauern östlich von Elbe und Saale neues unendlich großes Siedelland, in das sie einströmen konnten, in das sie sogar auch hier mit allen möglichen Vergünstigungen hineingezogen wurden: sie erhielten verhältnismäßig große Grundstücke gegen sehr kleinen Zins und die volle persönliche Freiheit nach Stadtrecht. Damit war die Bedingung erfüllt, von der wir schon wissen, daß sie genügt, um Reichtum bei voller Gleichheit zu gewährleisten: jedermann, der es wünschte, konnte ohne wesentliche Kosten Zugang zu Land erlangen. Ein reiches Städtewesen sproß aus dem Boden, wie überall, wo zahlreiche wohlhabende Bauern entstehen, die den Uberschuß ihrer Ackerwirtschaft gegen städtische Waren verkaufen. Die alten Pfalzstädte, Bischofsstädte und Festungstädte verwandelten sich in fleißige Gewerbestädte, und Hunderte von neuen Städten erwuchsen in den immer reicher werdenden Bauernlandschaften. Gewerbe und Handel blühten in den nächsten Jahrhunderten in einem Aufschwung auf, von dem der sehr vorsichtige Gustav Schmoller sagt, daß ihm kaum die Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika im 19. Jahrhundert verglichen werden könne [sie]. Die aufblühenden Städte beteiligen sich an dem Wettbewerb um die Bauern, locken sie gleichfalls mit allen möglichen Vergünstigungen zu sich herein. Sie gewähren die volle persönliche Freiheit („Stadtluft macht frei"), geben umsonst oder gegen geringen Zins Grundstücke und oft genug Baumaterial. Die Handwerker und Kaufleute sind in den kraftvollen Genossenschaften der Zünfte zusammengeschlossen, die damals noch nicht gegen Zuzug gesperrt sind, sondern im Gegenteil alle außenstehenden Elemente durch den Zunftzwang zum Beitritt nötigen. Diese Körperschaften werfen im Lauf der nächsten Jahrhunderte fast überall die Herrschaft des städtischen Adels ab. Und schon vereinen sich diese starken Städte zu Bünden, die auch der landesfürstlichen Willkürherrschaft geschlossen und entschlossen entgegentreten. Die Städte sind nach heutigen Begriffen winzig klein. Nürnberg, die wichtigste Gewerbestadt Deutschlands, hatte zur Zeit seiner höchsten Blüte in jener Zeit etwa 22.000 Einwohner. Wie reich aber diese winzigen Gebilde waren, können wir noch jetzt erstaunt an ihren prachtvollen Rathäusern und Domen erkennen, Bauwerken, die sich heute kaum die großen Reiche leisten können.

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Wie gestaltet sich nun die Lage der städtischen Arbeiter in dieser Zeit? Es gibt kaum Arbeiter! Es gibt Lehrlinge und junge Gesellen, die bei dem Meister wohnen und essen als seine Familiengenossen, die aber in aller Regel sich selbständig machen, sobald sie glauben, genug gelernt zu haben. Niemand hindert sie daran, es besteht volle freie Konkurrenz. Noch gibt es weder eine vorgeschriebene Lehrzeit, noch Gesellenzeit, es gibt noch keine Wanderjahre und „Mutjahre", keine kostspieligen Gesellenstücke und Meisterstücke, es gibt noch keine Schließung der Meisterzahl. Das sind alles erst Erscheinungen, die mit dem Schluß dieser Periode beginnen; sie leiten den Kapitalismus ein. Solange die jungen Menschen als Lernende bei ihren Meistern sind, als gut gehaltene Angehörige der Familie, gibt es natürlich keine Lohnfrage. Die gibt es nur dort, wo die Natur des Gewerbes es mit sich bringt, daß vorteilhaft mehrere voll ausgebildete Arbeitskräfte zusammenwirken: im Bergwerk, bei Dombauten, bei Schiffsbauten. Hier steht das Verhältnis von Angebot und Nachfrage für die Arbeiter äußerst günstig; die Meister überbieten sich, um sie zu sich heranzuziehen. Sie gewähren ihnen notgedrungen den vollen Wert ihrer Arbeitsleistung, in der Regel in Gestalt einer genossenschaftlichen Ertragsteilung: der Geselle arbeitet mit dem Meister „auf den halben Pfennig", und dort, wo der Meister besondere Betriebskosten hat, „auf den drittel Pfennig". „Man löschte materiell wie ideell den Unterschied zwischen Meister und Gesellen fast völlig aus", sagt Sombart. Diese „Arbeiter" sind also wohl „Unselbständige", aber nicht im mindesten „Proletarier". Das erstaunlichste ist, daß unter diesen glücklichen Umständen alles Großeigentum, das aus der vorhergehenden Periode noch vorhanden ist, den Eigentümern unter der Hand sozusagen verdampft. Die Bergwerke gehen in das Eigentum der Genossenschaft der Bergknappen über; der Bergherr erhält nur noch einen geringen Zins. Das ländliche Großgrundeigentum fällt den Maiern und Bauern anheim. Die Binnenschiffahrt war ursprünglich ein Monopol der Grundherren gewesen: sie geht in die Hände der Genossenschaft der Transportarbeiter über. Unter solchen Umständen waren natürlich sowohl der Kapitalbesitz, wie der Kapitalgewinn winzig, wennschon noch einige der alten Feudalherren aus Zinsen und Steuern beträchtliche Einnahmen hatten. Dennoch ist der Unterschied zwischen den Reichsten und Ärmsten außerordentlich gering. Ein Beispiel aus einer der reichsten Städte der Zeit, aus Basel. Hier gab es nach einer Notiz aus jener Zeit überhaupt nur 12 reiche Leute, meist Kaufleute, welche über 10.000 Gulden Vermögen hatten, 30, meist Ritter und Patrizier, deren Vermögen zwischen 5.000 und 10.000, und 93 Bürger, deren Vermögen etwa zwischen 1.000 und 5.000 Gulden gelegen haben muß. (Schmoller) Dem entsprechen die Daten, die wir über den Umfang des Handels besitzen. Einige Beispiele: 1277 betrug der englische Export an Wolle 30.000 Doppelzentner. In diese Masse teilten sich 250 Kaufleute, so daß auf den einzelnen 120 Doppelzentner entfielen. In Reval waren 1369 an 12 dort auslaufenden Schiffen 178 Kaufleute beteiligt, von denen jeder durchschnittlich für ganze 1.700 Reichsmark heutigen Wertes Waren versandte. „Es ist ein Gewimmel kleinkapitalistischer Händler, die selbst reisen, oder andere für sich reisen lassen." Max Weber nennt den Gedanken geradezu ungeheuerlich, daß die mittelalterlichen Berufskaufleute in ihrer großen Mehrzahl durch ihre Handelstätigkeit zu Reichtum gelangt wären. Auch hier nur die Genossenschaft vieler kleiner Leute, genauso wie in der Großindustrie, soweit von dieser damals schon die Rede sein konnte. Vom „Geist des Kapitalismus" keine Spur. „Die gebildete Form der Habsucht, der moderne Erwerbstrieb, ist dem Mittelalter fremd." (G. F. Knapp) Verbrechen und Prostitution als Massenerscheinungen existieren nicht: als Einzelerscheinung kommen sie selbstverständlich vor, wie sie immer vorkommen werden, aber das kann die Harmonie des gesellschaftlichen Körpers nicht ernstlich stören. Bei all dem riesigen Aufschwung der Wirtschaft und der Technik, trotz der gewaltigen Zunahme der Bevölkerung, gibt es weder Wirtschaftskrisen, noch Arbeitslosigkeit; jeder, der arbeiten will und kann, findet ohne jede Schwierigkeit lohnenden Verdienst. Für die paar Krüppel, Blinde und pathologisch arbeitsscheue Bettler reicht die Wohltätigkeit der kirchlichen Institute völlig hin.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Aus welchen Ursachen diese glorreiche Zeit ihr Ende fand, darüber werden wir uns sofort unterhalten. Zunächst wollen wir nur noch einmal zusammenfassen, was auch dieses Beispiel wie die vorangehenden lehrt: Wo jedermann Zugang zu freiem Land ohne wesentliche Kosten findet, herrscht bei völlig freier Konkurrenz die erstaunlichste Gleichheit der Einkommen und Vermögen, trotzdem hier noch in Gestalt des ländlichen und städtischen Großgrundeigentums und der fürstlichen Gewalten sehr starke Reste aus der Eroberungszeit vorhanden sind. Aber diese Machtpositionen der Vorzeit werden ohne jeden revolutionären Eingriff immer schwächer, verlieren ihren wirtschaftlichen Inhalt, das Großeinkommen, immer mehr. Die Wirtschaft blüht, der Wohlstand steigt, die Kultur entfaltet sich in Kunst und Wissenschaft zu der schönsten Blüte, das soziale Verhalten der Menschen zueinander ist, um es sehr bescheiden auszudrücken, unvergleichlich günstiger, als wir es gewöhnt sind.

b)

Wirtschaft unter gefesselter Konkurrenz

Diese glorreiche Zeit erreichte nach einem Bestände von fast vier Jahrhunderten ihr Ende: etwa 1370, also gerade in der Zeit der stärksten Bevölkerungsverminderung durch die Pest, die um 1350 zum ersten Male Westeuropa erreichte. Um diese Zeit beginnt der Adel, zunächst in den ehemals slawischen Gebieten und weiter östlich im eigentlichen Slawenlande, den Boden gegen die deutsche Zuwanderung zu sperren. Und zwar geschieht das, weil, wie Knapp treffend sagt, „der Ritter sich in den Rittergutsbesitzer verwandelt hat". Und das kam so: der Getreidebedarf der westeuropäischen Gewerbebezirke, die gewaltig an Bevölkerungszahl gewachsen waren, konnte nicht mehr aus den Nachbargebieten befriedigt werden, zumal weite Gebiete an den Küsten, namentlich in England, vom Kornbau zur Schafzucht und Wollerzeugung übergingen, seit die starke Textilindustrie immer mehr Wolle brauchte; und weil infolge der großen Pest die Löhne der Landarbeiter so hoch gestiegen waren, daß der Kornbau nicht mehr lohnte. Aus diesen Gründen mußte das Getreide von weiterher geholt werden; der Kornhandel drang den Flüssen und Strömen aufwärts ins Hinterland der Ostsee ein, zahlte lohnende Preise, und damit schlug das Interesse der Grundherren um. Bisher ging ihr Interesse dahin, möglichst viele, möglichst kräftige und möglichst ergebene Hintersassen in ihrem Machtbereich zu halten, um in ihren Fehden und Kriegen eine verläßliche Gefolgschaft zu haben. Jetzt aber ist ihr Interesse das genau entgegengesetzte. Jetzt werden die Kriege mit bezahlten Söldnern geführt, die dem Bauernaufgebot militärisch weit überlegen sind. Dazu gehört vor allem Geld, und darum müssen die Grundherren danach streben, möglichst viel Getreide zu verkaufen. Je mehr Bauern sie aber haben, und je besser jeder ernährt wird, umso weniger Korn bleibt ihnen zum Verkauf übrig. Sie haben also das Bestreben und setzen es durch, mit möglichst wenig Leuten möglichst viel Land zu bestellen und diese Leute möglichst schlecht zu ernähren. Sie drücken die schon vorhandenen Bauern immer tiefer herab, auch die freien Bauern ihres Machtgebietes, die ihnen die Fürsten ausliefern müssen, um ihre Kriegshilfe zu gewinnen; und sie sperren das ungeheure, noch nicht besiedelte Gebiet gegen den Zuzug neuer Ansiedlungsbedürftiger, die sie nur noch zulassen, wenn sie ihnen hörig werden und einen viel größeren Anteil ihres Arbeitsertrages abtreten als zuvor. Auf diese Weise wird nun auch den Bauern in Alt-Deutschland westlich von Elbe und Saale die „Vorflut" gesperrt, und auch hier erlangen die schon fast völlig expropriierten Grundherren die Möglichkeit, den Rest ihrer nur noch formalen Rechte zur Niederdrückung ihrer Bauern zu gebrauchen. Die Bauernrevolten sind die Folge. Die Lage der Landbevölkerung wird noch dadurch verschlimmert, daß ihnen sehr bald auch der freie Zugang zu den Städten gleichfalls gesperrt wird. Um diese Zeit beginnt nämlich der Umschwung auf sämtlichen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens:

Weder so noch so

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In der allgemein politischen Gestaltung·, das Aus- und Pfahlbürgerrecht, durch das der Bauer vollberechtigtes Mitglied der Stadtgemeinde war, verfällt, der Bauer stürzt in seiner sozialen Stellung und Ehre tief unter den Bürger; der Siegesgang der Handwerker gegen den städtischen Adel hat ein plötzliches Ende; selbst in den schon von der Zunft beherrschten Städten dringt die aristokratische Reaktion siegreich vor; die demokratischen süddeutschen Städtebünde erliegen und verfallen, während die immer aristokratisch gebliebene Hansa jetzt erst den glänzenden Aufschwung nimmt. Die Landesfürsten gewinnen die Obmacht, die adligen „Stände" erringen in den Fürstentümern den vorwiegenden Einfluß, das römische Recht drängt das deutsche Gewohnheitsrecht überall zurück; namentlich das römische Bodenrecht, das Recht eines kapitalistischen Adels, wird zur Niederpressung der Bauern mißbraucht. Auf dem platten Lande: Verfall der bäuerlichen Standesfreiheit und des Hofrechts, das den Bauern bisher erfolgreich geschützt hatte; zum ersten Male erscheint ein massenhaftes landloses Ackerproletariat; die alten Markgenossenschaften verwandeln sich vielfach in sogenannte „GerechtsameGemeinden", in denen nur noch die Großbauern das Recht auf die Gemeine Weide und die Gemeinen Wälder haben; die mit Abgaben überlasteten Bauern sinken immer tiefer in Verschuldung; zahllose Zwergwirtschaften entstehen; neuangelegte Dorfschaften müssen aufgelöst werden, weil sie nicht bestehen können; der Gemeindebesitz wird massenhaft von den Grundherren fortgenommen, es entstehen von neuem Großgüter oder doch wenigstens Großherdenhaltung der Grundherren auf den Gemeinen Weiden, die früher den Bauern gehörten. In den Städten·. Entstehung eines vierten Standes, den es vorher nie gegeben hatte. Er besteht erstens aus den Gesellen, die, weil sie nur noch schwer und spät, wenn überhaupt, Meister werden können, sich jetzt zum erstenmal als eigene Klasse fühlen und sich als solche gegen die Meister auflehnen; sie müssen mit Koalitionsverboten bekämpft werden. Er besteht zweitens aus einem massenhaften Proletariat ungelernter „Arbeiter", die fast durchaus vom Lande her einströmen, wo sie keine Existenz mehr finden können. Die Zünfte der ungelernten Arbeit fliegen auf, die Zünfte der gelernten Arbeit entarten. Auch sie sperren sich, sie verfallen dem berüchtigten „Zunftgeist". Immer neue Erschwerungen sollen den Beitritt neuer Mitglieder hindern, während in der Vorperiode umgekehrt jeder gezwungen wurde, der Zunft beizutreten. Jetzt erst kommt es zu all den kostspieligen und zeitraubenden Maßnahmen: Lehrzwang, Wanderzwang, Gesellenstück, Meisterstück, Meisteressen, und zuletzt zur Schließung der Zahl der Meister, zum „Numerus clausus". Fast nur noch Söhne und Schwiegersöhne von Meistern und solche Gesellen, die sich entschließen, die Witwe eines Meisters zu heiraten, können zur Selbständigkeit kommen. Zum ersten Male werden die Löhne von oben her reguliert, und in aller Regel nach unten hin; Gewerkvereine und wirtschaftlich bedingte Streiks treten in Erscheinung (Streiks aus Fragen der Gesellenehre und des Standes, ζ. B. wegen des „blauen Montags", hat es auch früher schon gegeben); Akkordlohn und Heimindustrie nehmen ausgesprochen ausbeuterischen Charakter an; die Produktionsrichtung macht eine deutliche Schwenkung zur Erzeugung von Luxusgütern und zum Exportindustrialismus; die Kleinstädte bleiben stehen oder verfallen, die Großstädte wachsen ungesund. Der Gegensatz zwischen Reich und Arm klafft immer weiter auseinander: die Städte sind voll von Bettlern, die Landstraßen voll von Vagabunden; Verbrechen und Prostitution nehmen überhand. Auf der anderen Seite bilden sich riesige Kapitalvermögen, die Kreditwirtschaft im eigentlichen Sinne beginnt mit „produktiven Anlagen" und Spekulation; großindustrielle Anlagen entstehen: kurz und gut, wir haben hier den vollentwickelten Kapitalismus mit allen seinen Kennzeichen. Wie schnell der Kapitalismus fortschritt, dafür zwei Belege: der Begründer des Welthauses Medici, Averardo, dessen Nachkommen Herzöge von Florenz wurden, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts lebte, hatte noch kein großes Vermögen besessen, aber Cosimo und Lorenzo besaßen bereits etwa 30 Millionen Mark heutigen Wertes. Die Fugger gewannen vom 14. 02. 1511 bis Ende 1527 mit einem Grundkapital von rund 200.000 Gulden nicht weniger als 1.824.000 Gulden;

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das sind 924% in 17 Jahren oder durchschnittlich 54,5% jährlich (Ehrenberg). Damit auch der letzte Zug nicht fehle, fahren die ersten Gewitter von Wirtschaftskrisen über die Welt. Die ganze Größe des Umschwungs zeigt sich vor allem darin, daß die Entwicklung des Eigentums sich genau in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn in der guten Zeit die Mitglieder der Oberklasse die Leidtragenden waren, die friedlich aber unaufhaltsam von ihren Arbeitern enteignet wurden, so geht jetzt umgekehrt der Besitz der Kleinen in das Eigentum der Großen über. Vom Grundbesitz haben wir das soeben dargestellt, aber es ist in den Gewerben und dem Handel nicht anders. Das wichtigste Beispiel ist der Bergbau: seit Mitte des 15. Jahrhunderts entglitten die Bergwerksanteile rasch den Händen der alten Gewerke, d. h. der Bergleute, und wurden von vermögenden Leuten, adligen Herren oder großen Handelshäusern, namentlich Nürnbergs und Augsburgs, aufgekauft; und die kleinen Webermeister, früher selbständig und wohlhabend, wurden jetzt zu den schwer ausgebeuteten Halbsklaven der großen kapitalistischen Verleger. Am Bergbau sind die Freiberger Römer, am Bergbau und Verlagswesen sind die Fugger und die Augsburger Welser zu Millionären und Bankokraten geworden, die die Politik ihrer Zeit noch stärker beeinflußten als das Haus Rothschild die Politik des 19. Jahrhundert. Ein Kurfürst von Brandenburg erklärte ungescheut, als man über die Abgabe seiner Kurstimme für einen der beiden Kandidaten der Kaiserwürde, Franz I. von Frankreich und Karl V. von Osterreich, verhandelte, er nehme nur bares Geld oder Fuggersche Wechsel. Und Luther hatte schwer gegen „die Fucker und die Fokkerei" zu wettern. Auf ganz die gleiche Weise hat die Wirtschaft der freien Konkurrenz in den europäischen Kolonien ihr Ende erreicht. Das Land wurde gegen die Siedlungsbedürftigen gesperrt. Karl Marx fragt in dem Kapitel 25 des 1. Bandes seines Kapitals „warum die Vereinigten Staaten aufgehört haben, das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein". Er nennt unter den Ursachen an erster Stelle „Verschenkung eines ungeheuren Teiles der öffentlichen Ländereien an Spekulantengesellschaften zur Ausbeutung von Eisenbahnen, Bergwerken usw.". Und er sagt von Australien dasselbe: „Schamlose Verschleuderung des unbebauten Kolonialbodens an Aristokraten und Kapitalisten." Jetzt wissen wir, was die „gefesselte Konkurrenz" im Gegensatz zur „freien Konkurrenz" bedeutet, und wissen, worin ihre Hauptfessel besteht: in der Bodensperre. Nicht, weil die Erde zu eng ist, sondern weil wenige die Macht hatten und haben, so große Teile des fruchtbaren Landes als massenhaftes geschlossenes Großgrundeigentum für sich mit Beschlag zu belegen, kann nicht jeder arbeitsarme Mann zu eigenem Landbesitz und damit zur Selbständigkeit gelangen. Nur darum gibt es seit Beginn der Weltgeschichte eine besitzlose Arbeiterklasse, und nur darum ist heute Kapitalismus möglich. Der erste Ursprung aller Staaten liegt, darüber ist sich heute die Völkerkunde einig (und sie allein hat hier zu sprechen, weil die Geschichtswissenschaft den Staat überall bereits fertig ausgebildet vorfindet, über seinen Ursprung also nichts feststellen kann) in erobernder Gewalt. Und überall haben die Eroberer den Boden gesperrt und sich auf diese Weise zugleich das Großeigentum und die besitzlose Arbeiterklasse geschaffen, die es bebauen sollte. Das hat schon Adam Smith gewußt; er sagt von der Völkerwanderung: „Während der Dauer dieser Wirren erwarben oder ursurpierten die Häuptlinge und Heerführer jener Völkerschaften den meisten Boden dieser Länder für sich selbst. Das meiste davon war unangebaut, aber kein Teil dieses Bodens, ob urbargemacht oder nicht, blieb ohne Eigentümer. Alles wurde in Besitz genommen, und das meiste durch einige wenige große Eigentümer." Die Länder waren damals im Verhältnis zu der sehr kleinen Einwohnerzahl noch ungeheuer weit: aber die Sperrung wirkte gerade so, als wenn sie von Natur viel zu eng gewesen wären. Zur Orientierung: wenn heute ein reicher Mann sämtliche Plätze eines Theaters für eine bestimmte Vorstellung kaufen würde, so wäre zwar Platz für Hunderte von Zuschauern, und dennoch kein Zugang: die Plätze wären gesperrt. Genau so ist es mit dem Lande von jeher gewesen, und genau so ist es noch heute.

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III. Abschnitt: Die Tatsachen, II. Teil a)

Die Bodensperre von heute

Nach Lämmel hat die Erde 134.000.000 qkm Landoberfläche nach Abzug der Ozeane und der Wüsten, Steppen und Polarkappen. Rechnen wir die volle Hälfte für Unland und Wald, so bleiben immer noch 7 Milliarden ha an reinem agrarischen Nutzland übrig. Da der primitive Bauer überall in der Welt ungefähr 7-8 ha Ackerland braucht und ohne fremde Hilfe zu bestellen imstande ist, und da unter primitiven Verhältnissen die bäuerlichen Familien sehr kopfreich sind, wird etwa 1 ha pro Kopf gebraucht. Unter der ausschweifenden Voraussetzung, daß es keinen einzigen Jäger, Fischer, Schiffer, Kaufmann, Bergmann, Handwerker usw. gibt, wäre also auf der Erde Platz für 7 Milliarden Menschen. Wenn es keine Bodensperre gäbe, so müßte die Zahl der Menschheit, die heute weniger als 2 Milliarden beträgt, sich also mehr als verdreifachen, ehe bei voller freier Konkurrenz die Bildung grober klassenbildender Unterschiede an Einkommen und Vermögen möglich wäre. Unter entwickelten Verhältnissen ist nur ein Teil der Bevölkerung auf den Land- und Gartenbau angewiesen; die Bestimmung setzt hochentfaltetes Städte- und Gewerbewesen, Bergbau, Handel, Schiffahrt und Beamtentum von großer Kopfzahl voraus. Hier ist die Fläche, die ein Bauer durchschnittlich zur Selbständigkeit in Wohlstand braucht, kleiner, für Deutschland nach der Ansicht aller Sachverständigen durchschnittlich 4-5 ha, beginnend bei 2 ha auf gutem Boden in günstiger Verkehrslage, endend bei etwa 12 ha unter ungünstigsten Verhältnissen. Andererseits ist auch die bäuerliche Familie hier durchschnittlich kleiner; auch hier ist ungefähr 1 ha je Kopf der agrarischen Bevölkerung erforderlich. Deutschland hat rund 26.000.000 ha reinen agrarischen Nutzlandes. Seine landwirtschaftliche Bevölkerung dürfte also auf rd. 26.000.000 Köpfe anwachsen, ohne daß die Gleichheit gestört würde, wenn es keine Bodensperre gäbe. Es hat aber nur weniger als 14.000.000 an agrarischer Bevölkerung, alles zusammengerechnet: die Eigentümer, die Beamten und die Arbeiter mit ihren sämtlichen Angehörigen. Und darunter befinden sich Millionen von Parzellen- und Zwergwirten, die längst nicht genug Land haben, und von völlig landlosen Arbeitern. Aus diesen Zahlen läßt sich ohne weiteres schließen, daß der Boden in großem Umfang in der Gestalt von Großeigentum besessen und dadurch gegen die Landarmen und Landlosen gesperrt ist. Und die Statistik bestätigt das durchaus. Es gibt rd. 5.100.000 Betriebe1 überhaupt, die zusammen 26.000.000 ha einnehmen. Davon sind rd. 3.000.000 Zwergbetriebe unter 2 ha, rd. 894.000 Kleinbetriebe von 2-5 ha, rd. 956.000 Mittelbetriebe von 5-20 ha, rd. 200.000 Großbauernbetriebe von 20100 ha und rd. 18.670 Großbetriebe über 100 ha. Auf die beiden ersten Klassen mit zusammen fast 4.000.000 Betrieben entfallen 17,6% der Fläche, auf die beiden letzten Größenklassen mit zusammen 218.000 Betrieben entfallen 46,6% der Fläche. Auf die Zwerg- und Kleinbetriebe entfällt durchschnittlich etwas über 1,1 ha, auf die beiden größten Klassen fast genau 60 ha, auf die Großbetriebe allein durchschnittlich 280 ha. Wenn wir nun die Verteilung der Bevölkerung auf diese Fläche betrachten, so erkennen wir, daß der Kleinbetrieb eine unendlich viel größere Fassungskraft für Arbeitskräfte und natürlich dementsprechend auch für Bevölkerung hat, als der Großbetrieb. Die Kleinbetriebe von 0,05 bis 5 ha be-

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Wir lassen, wie die Reichsstatistik, die Kleingärtner unter 0,05 ha in der Zahl von 1.071.000 mit einer Gesamtfläche von 28.000 ha aus der Rechnung.

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schäftigen auf einer Fläche von 4.512.000 ha nicht weniger als 7.363.000 Menschen, mehr als 1,63 je ha. Demgegenüber sind auf den Großbauern- und Großbetrieben mit einer Fläche von fast 12.000.000 ha nur 2.733.000 Menschen beschäftigt: je ha 0,228 Köpfe. Mit anderen Worten: der Kleinbetrieb hat die siebenfache Fassungskraft für Menschen. Bei den Mittelbetrieben kommen auf den ha 0,46 Beschäftigte, das Doppelte des Großbauernbetriebes, fast das 2 l/2fache des Großbetriebes. Auch diese Zahl bestätigt unsere Rechnung, daß Deutschland ungefähr die doppelte Zahl seiner heutigen agrarischen Bevölkerung in mittelständischer Existenz unterhalten könnte, wenn das ganze Land auf Mittelbauern aufgeteilt wäre. In allen größeren kapitalistischen Ländern Europas liegt es ähnlich, mit einziger Ausnahme Frankreichs, das einen Teil seines feudalen Großgrundeigentums in der Revolution von 1789 beseitigt hat. Hier sind die Großbesitzungen durchschnittlich wesentlich kleiner; freilich ist das Land auch durchschnittlich viel fruchtbarer. Aber gesperrt ist der Boden auch hier: mehr als ein Drittel des gesamten Landes liegt in Besitzungen von über 40 ha; von dieser Größe aufwärts rechnet man in Frankreich das Großgrundeigentum, während in Deutschland die untere Grenze 100 ha ist. In Frankreich ist eben der Boden sehr viel fruchtbarer und die durchschnittliche Verkehrslage sehr viel günstiger als im deutschen Osten; darum ist die durchschnittliche Größe einer selbständigen Bauernwirtschaft nur etwa 2-2,5 ha, die Hälfte des in Deutschland erforderlichen. Dennoch versteht man jetzt bereits, warum sich in Frankreich der Kapitalismus bisher nur verhältnismäßig sehr schwach entwickeln konnte. Großbritannien ist in bezug auf die Bodenverteilung noch schlechter daran als Deutschland, Italien und Spanien sicherlich nicht besser; Rußland hat das private Großgrundeigentum des Adels, der Kirche und der Krone vernichtet, das einen ungeheuren Teil der Nutzfläche besetzte. Wo das eigentliche Großgrundeigentum geringeren Umfang hat, besteht doch noch fast überall die restlose Bodensperre durch ein geschlossenes Großbauerntum; es handelt sich hier um kleinere Länder wie ζ. B. die Schweiz, die wirtschaftlich gesehen nur eine Provinz der sie umgebenden Großstaaten ist; ihr Kapitalismus wird durch eine sehr starke Einwanderung namentlich von Italienern gefüttert, wie übrigens auch in Frankreich. Jedenfalls ist in der alten Welt, außer heute in Rußland, alles Land gegen die freie Besiedlung gesperrt. Sogar in China besteht, wie neuere Arbeiten gezeigt haben, ein sehr beträchtliches Großgrundeigentum. Von den durchaus feudalen Ländern Indien und Japan brauchte das nicht erst versichert zu werden. Dennoch mag hier angeführt werden, daß die indischen Maharadschas vielfach die einzigen Eigentümer des Bodens sind, und ihren Pachtbauern, den Ryots, abnehmen können, was sie wollen: ihr phantastischer Reichtum zeigt, daß sie darin niemals bescheiden waren. In anderen Teilen Indiens haben die Engländer ein bedrückendes Großgrundeigentum erst durch ein grobes Mißverständnis, wenn nicht durch eine grobe Mißdeutung der vor ihrer Herrschaft dort geltenden Bodengesetze geschaffen. Sie haben, wie übrigens auch in Schottland, die feudalen Grundherren, die nur ein Obereigentum hatten, und häufig sogar die früheren Steuereinheber der feudalen Fürsten als Großgutsbesitzer im Sinne des englischen Bodenrechtes anerkannt und eingesetzt. Was aber Japan anlangt, so verteilte sich der Boden nach den Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten Ende 1926 folgendermaßen: es besaßen 1.951.000 Familien unter 1/2 ha, 1.885.000 Familien 1/2-1 ha, 1.190.000 Familien 1-2 ha, 321.000 Familien 2-3 ha, 134.000 Familien 3-5 ha. Uber 5 ha hatten nur 72.000 Familien, davon 45.000 mehr als 10 und 4.200 mehr als 50 ha. 35% aller Bauern bewirtschaften weniger als 1/2 ha. Selbst wenn man, was hier erlaubt sein dürfte, schon die Betriebsgröße von 2 ha aufwärts als ausreichend betrachtet, so haben doch von nahezu 5,6 Millionen Bauern nur 572.000, also etwa 10% ausreichend Grundbesitz. Noch ärger: das Land steht zu einem sehr großen Teil nicht im Besitz der Bauern, sondern ist Pachtland. 28% der Betriebe sind reine Pachtbetriebe, nur 31% Eigenlandbetriebe, 40% Gemischtbetriebe, d. h. Eigenland mit Zupachtung. Und zwar befindet sich unter dem Pachtland nicht weni-

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ger als 45% des gesamten anbaufähigen Bodens, und von dem wertvollsten Boden, auf dem Reis gezogen werden kann, sogar 52%. Die Pachtbedingungen sind unerhört schwer; es wird berichtet, daß die Pacht 40-60, in manchen Gegenden sogar 70% der Ernte verschlingt. Bisher haben sich die armen Leute durch die Seidenzucht notdürftig über Wasser gehalten, an der sich fast genau die Hälfte aller Familien beteiligte. Aber die Kunstseide droht auch diese Einkommensquelle zu verstopfen; die Seidenpreise sinken immer tiefer. Die Folge sind eine zunehmende Zahl von immer ernster werdenden Streitigkeiten zwischen den Grundbesitzern und den Pächtern, die eine starke Herabsetzung der Pacht verlangen. Wie steht es nun mit den europäischen Kolonien in der Neuen Welt? Die erste Besiedlung sowohl des Südens durch Engländer wie des Nordens durch Holländer erfolgte durchaus in hochfeudalen Formen auf ungeheuren Besitzungen. Die nötige Arbeiterschaft wurde zuerst in Gestalt von Zwangsarbeitern aus den Mutterländern herbeigeschafft; als das nicht ausreichte, begannen die Negerjagden in Afrika. Einer der Direktoren der holländisch-westindischen Compagnie kaufte 1630 den Indianern für einige Wolltuche, Äxte usw. eine Besitzung von 24 Meilen Länge und 48 Meilen Breite am Westufer des Hudson ab. Sein Kollege schuf sich einen Feudalstaat von 64 Quadratmeilen. In Carolina und den Nachbarstaaten waren Pflanzungen von 50-60.000 Acres nichts ungewöhnliches. Der freie Einwanderer fand alles brauchbare Land besetzt und mußte Pächter oder Landarbeiter der großen Grundherren werden. Bürger konnte er nur werden gegen Zahlung von 1.000 Gulden, und so wurde er kaum etwas besseres als ein hartbedrückter Leibeigener. Als dann England die Holländer vertrieb, wurde das Land von bestechlichen Gouverneuren an Günstlinge fast verschenkt. Nach der Befreiung im Unabhängigkeitskriege wurde es nicht besser: tun den kleinen Mann auszusperren, wurde ein Gesetz geschaffen (19. Mai 1796), wonach das Regierungsland nicht billiger als 2 Dollar je Acre und in nicht kleineren Stücken als zu 2.330 ha (7.000 Acres) meistbietend versteigert werden sollte. Der Käufer mußte also allermindestens 14.000 Dollar bar in der Hand haben. Zu jeder Zeit war George Washington einer der größten Grundbesitzer im Lande. Er hinterließ über 13.000 Acres; auch Benjamin Franklins bedeutendes Vermögen stammte aus Landbesitz. Man sieht, wie wenig die Sage wahr ist, daß alles Land der großen Republik von frommen freien Bauern von der Art der „Pilgerväter" besiedelt worden ist. Je mehr die Republik wuchs, um so raffinierter wurden die Methoden der Bodensperrung. Die Mitglieder der herrschenden Klasse konnten mit Bonds (Staatsanleihen), die sie von den Banken borgen konnten, beliebig spekulieren. 1833 waren noch nicht für 4 Millionen Dollar Staatsländereien verkauft worden, 1836 aber schon für 25 Millionen. Dann kam die Zeit des Baus der Eisenbahnen, denen ganz unerhörte Landschenkungen gemacht wurden. So wurde das Erbe der Nation von einer kleinen Minderheit an sich gerafft, das ungeheure Land gegen den kleinen Mann, den Produzenten, durch den nichtproduzierenden Spekulanten gesperrt. Wir haben schon gesehen, daß damit die Vereinigten Staaten aufhörten, „das gelobte Land" der einwandernden Arbeiter zu sein. Nicht anders in den von den Spaniern und Portugiesen begründeten amerikanischen Staaten. Nach der offiziellen Statistik von 1916-1919 lagen die Verhältnisse in Argentinien folgendermaßen. Hier rechnet man den Kleingrundbesitz bis zur Maximalgrenze von 500 ha(!). 267.000 „Kleingrundbesitzer" hatten zusammen nicht ganz 26 Millionen ha, aber 39.000 Großgrundbesitzer hatten zusammen 136,5 Millionen ha. Durchschnittlich kam auf den Großgrundbesitzer ungefähr dreimal soviel Land als auf den Kleinbesitzer, 3.500 ha gegen 97,5 ha. Jeder Versuch, kleine Besitzer anzusetzen, wird durch die herrschende Clique verhindert. In Brasilien nicht anders.1 Hier zwang 1

„Die Großen und Mächtigen erwerben unter irgendwelchen Scheintiteln Latifundien in der Größe kleiner Fürstentümer, und hier wollen sie mit Arbeitern wirtschaften, nicht aber selbstwirtschaftende Bauern zu Nachbarn haben, die sich nicht wenigstens zur Ernte bei ihnen verdingen." (Carl Bolle)

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die Klasse der Großgrundbesitzer den Kaiser Pedro zur Abdankung, weil er eine erfolgreiche Kolonisation freier kleiner Bauern begonnen hatte. In Mexiko nicht anders. Hier kämpft eine sozialistisch angehauchte Regierung für innere Kolonisation im großen Stile, vorläufig ohne bedeutende Erfolge. In dem zweiten neuen Erdteil, in Australien und auf seinen Inseln ganz der gleiche Prozeß! Das Land war bekanntlich zuerst eine Strafkolonie; der Gedanke war, die Mehrzahl der Verschickten als Kleinbauern anzusetzen: 30 Acres für den Ledigen, 50 für den Verheirateten, für jedes Kind 10 mehr. Aber sehr bald erhielten die Offiziere und Beamten das Recht auf 100 Acres gegen eine Scheinrente unter der Bedingung des Anbaus, eine Bedingung, die fast nie eingehalten wurde. Damit begann die gleiche Günstlingswirtschaft und Korruption wie in den Vereinigten Staaten. 1823 wurde die zulässige Grundstücksgröße auf 2.650 Acres heraufgesetzt, aber der Staatssekretär in England erhielt das Recht, bis zu 20.000 Acres zu vergeben. Dann trat auch hier das herrliche System der öffentlichen Versteigerung in großen Stücken gegen einen Mindestpreis von 1 Pfund je Acre ein. Weniger als 20.000 Acres wurden nicht abgegeben, der Käufer mußte also mindestens 20.000 Pfund (400.000 Mark) in der Hand haben(!). Dann, weil auch das noch nicht ausreichte, um die Raffsucht der herrschenden Klasse zu befriedigen, wurde ein Pachtsystem eingeführt, ein halber Penny für das Schaf, aber es mußten wenigstens 4.000 Schafe gehalten werden. Der Pächter erhielt Vorkaufsrecht zu jenem Mindestpreis nach Ablauf der Pachtzeit. Alle Bedingungen der Kontrakte, den Anbau betreffend, blieben unerfüllt. In Neu-Südwales fielen auf diese Weise rund 7.150.000 Acres in Privatbesitz, von denen nur 265.000 bebaut waren. Die Eigentümer saßen meistens in England. Die australische Landwirtschaftsgesellschaft hatte allein in Neu-Südwales Besitz von über 1 Million Acres, darunter 500 Acres des wertvollsten Kohlenbodens des Staates. Und ganz so stand und steht es immer noch in allen anderen Staaten des Weltteiles. Wie sehr das Gesamtinteresse dabei gedieh, läßt sich leicht vorstellen: „Noch 1861 war in keiner Kolonie auch nur ein Prozent des Gesamtlandes intensiver Bewirtschaftung, sei es durch Ackerbau oder Graswirtschaft, zugeführt worden." (Schachner) Alle Reformversuche haben nichts genützt; die Kapitalisten verstanden, auch aus Disteln Honig zu saugen. Als man, um auch kleinere Leute zuzulassen, die Anzahlung auf ein Viertel herabsetzte, kauften die Spekulanten viermal soviel Land wie vorher. Das Land sollte alsbald in Anbau genommen werden: soweit die Regierungsbeamten nicht bestochen waren, wurden sie nach der Weise des großen Potemkin durch „das wandernde Ansiedlerhaus" getäuscht. Man setzte das Maximum, das eine Einzelperson sollte kaufen dürfen, auf 640 Acres fest: die Kapitalisten kauften durch Strohmänner, soviel sie haben konnten, und sie konnten ja jetzt mit dem gleichen Kapital viermal soviel haben. Die Folge war die großartigste Bodensperre, die sich erdenken läßt. Im Jahre 1891 besaßen in Neu-Südwales 669 Einzelpersonen und Gesellschaften die Hälfte des verkauften Landes: 28,5 Millionen Acres. Bebaut war weniger als ein halbes Prozent des Staatsgebietes. In Südaustralien besaßen im gleichen Jahre 539 Eigentümer 6,75 Millionen, in Victoria 863 Eigentümer 7 Millionen Acres, in Neuseeland hatten im Jahre 1894: 470 Eigentümer Boden im Wert von 15 Millionen Pfund, der kleinere und mittlere Grundbesitz, rund 38.500 Eigentümer, besaßen Boden im Werte von 23 Millionen Pfund. Dort ist der Durchschnitt 32.000, hier 600 Pfund. Das Land, von dem man heute weiß, daß es durchaus keine reine „Wüste" ist, ist auch jetzt noch außerordentlich dünn bevölkert, ganz Australien mit einer Seele auf 2 qkm, größte Dichte in Victoria mit 5 Seelen je qkm. Trotzdem ist es „übervölkert", d. h. der kapitallose Mann kann eigenen Grundbesitz kaum je erwerben. Einwanderer, die nach Queensland kamen, konnten kein Land finden und überfüllten den Arbeitsmarkt. Von äußerstem Interesse sind die Verhältnisse in Neuseeland, einer von Natur außerordentlich fruchtbaren Doppelinsel von der Größe und dem Klima Italiens. Es ist halb so groß wie Deutschland und hatte 1911 fast genau 1 Million Einwohner, eine Bevölkerungsdichte von weniger als

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4 Köpfen je qkm. Da das nutzbare Land 20-22 Millionen ha umfaßt, so käme auf jede Seele mehr als 20 ha, auf die Familie 100 ha unter der Voraussetzung, daß alle Einwohner nur Bauern wären. Die Insel hat aber viel Schiffahrt und ein entwickeltes städtisches Gewerbe und großen Handel mit Wolle und Gefrierfleisch. Trotzdem ist sie übervölkert! Denn es sind von 1885-1891 fast genau 20.000 Menschen, 2% der Bevölkerung, ausgewandert. Hier ist ein ganz besonders raffiniertes Verfahren ausgedacht worden, um das Land zu sperren, ohne daß die Großkapitalisten es auch nur zu kaufen brauchten: 8 Millionen ha Land, wovon ein sehr großer Teil in der Verfügung der Regierung, waren 1892 überhaupt noch nicht in Benutzung genommen, und nur 5 Millionen ha waren in Privateigentum übergegangen. Die Regierung ist gegen das Großgrundeigentum und für die Kleinkolonisation eingestellt und tut, was sie nur irgend tun kann, aber sie kann nicht viel tun. Denn hier ist das Land im wahrsten Sinne des Wortes „abgesperrt": „Die großen Landeigentümer hatten alle Vorderfronten längs der Wege und Flüsse und um Wasserplätze oder am Beginn der Täler; alle Flußebenen, Wasserfurchen, jeder Strom, jede Landstraße war weggenommen. Dies machte den Zugang zum Lande tatsächlich unmöglich, oder machte das Land wertlos, auch wenn es zugänglich war, sobald es vom Wasser abgeschnitten war. Hinter diesen Fronten waren Millionen Acker Hinterland, die die Eigentümer der Fronten unter Staatspacht hielten, und die für niemanden als für sie Wert hatten." (Plügge)

Genug der Daten. Wer sich auch noch für die anderen Kolonialstaaten interessiert, wird überall das gleiche Bild finden. Die ganze Erde ist heute gegen das Besiedlungsbedürfnis des kleinen Mannes gesperrt, soweit sie überhaupt für den Weißen Existenzmöglichkeiten bietet. Freilich, in der „grünen Hölle" an den Abhängen der südamerikanischen Anden, in Peru und Brasilien, wo ein weißer Mensch nicht existieren kann, da gibt es freies Land im Uberfluß, und es gibt wohl auch noch unentdeckte Koralleninseln im Stillen Ozean. Aber sonst kann es nur einer der Glücksfälle, die wir im vorigen Abschnitt dargestellt haben, herbeiführen, daß der kapitalschwache Mensch ohne für ihn unerschwingliche Kosten und Opfer zu selbständigem Landbesitz komme. Stellen wir uns vor, es würde heute ein neuer Kontinent von der Größe und Fruchtbarkeit Nordamerikas aus dem Meere aufsteigen und nach vernünftigen Grundsätzen ehrlich verwaltet. Dann würde er binnen kürzester Zeit die Landproletarier der anderen Kontinente und in ihrem Gefolge einen großen Teil der Industrieproletarier an sich saugen und ein „gelobtes Land" werden, günstiger als Nordamerika in seiner besten Zeit, und er würde trotz voller freier Konkurrenz zu ungeheurem Reichtum bei aufrechterhaltener rationeller Gleichheit gelangen, ein Vineland oder Utah in kolossalem Maßstabe. So wie aber die Dinge heute noch liegen, würde auf dem neugeborenen Lande sofort eine Kriegsflagge gehißt, und der Staat dieser Flagge würde seiner Herrenklasse das Land ausliefern, um es zu sperren, ehe es noch für Kulturmenschen möglich sein würde, dort von ihrer Art ein frohes und sittliches Leben zu führen.

b)

Das ostelbische Großgrundeigentum

Die Bodensperre in den europäischen Kolonien ist sekundär. Sie ist nur möglich, weil die primäre Bodensperre aus Europa die Massen der land- und kapitallosen Menschen der Einwanderer in die neuen Länder heraustreibt, ohne die die spekulative Bodensperrung nicht den mindesten wirtschaftlichen Sinn hätte. Denn nur die Menschen verleihen dem Lande Wert, um so höheren Wert, je mehr darauf wohnen und arbeiten. Wir wollen uns deshalb mit der Entstehung des kolonialen kapitalistischen Großgrundeigentums nicht weiter aufhalten: wir fügen dem schon Mitgeteilten nur hinzu, daß die ersten Vermögenskerne der kolonialen Kapitalien zu einem ganz ungeheuren Teile

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aus jenen wenig einwandfreien Quellen geflossen waren, die wir vorhin mit den Worten Bruno Molls geschildert haben. Wer sich näher für diese im wahrsten Sinne des Wortes „Räubergeschichten" interessiert, dem sei das Buch von Meyers: „Geschichte der großen amerikanischen Vermögen" empfohlen. Was uns im Zusammenhang unserer Untersuchung angeht, ist das primäre Großgrundeigentum und vor allem das deutsche, ostelbische. Hier entstand, wie G. F. Knapp unzweideutig ausspricht, die erste kapitalistische Unternehmungsform der Neuzeit in der Gestalt der Großgutswirtschaft. Wir haben oben bereits dargestellt, wie es kam, daß der ostelbische Ritter sich in den Rittergutsbesitzer verwandelte; und wir haben auch schon gesehen, welche verheerenden Folgen diese Tatsache für die damals so blühende deutsche Volkswirtschaft im ganzen, auch für die Bauernschaft im Westen, und nicht minder für die Städte hatte. Mit ihr war der Kapitalismus wieder in die Welt getreten, der seit dem Sturz des Römerreiches verschwunden war. Das ist im übrigen ein allgemeines Gesetz, das bisher niemand, leider auch Karl Marx nicht, in seiner vollen Bedeutung erkannt hat. Uberall, auch im alten Rom, auch in England, wie jetzt Brodnitz gezeigt hat, geht der agrarische Kapitalismus dem industriellen um Jahrhunderte voraus. Man kann den letzteren überhaupt nur erklären, wenn man ihn in diesen geschichtlichen Zusammenhang einordnet. Unmöglich, ihn zu verstehen, wenn man nur die städtischen Dinge allein ins Auge faßt. Der industrielle Kapitalismus wurzelt eben in dem agrarischen, ist ohne ihn nicht möglich: er entsteht, wie wir wissen, durch die Wanderung verarmter Landbewohner in die Städte, wo sie sich als „Vierter Stand" anhäufen. (Übrigens ist die zweite kapitalistische Großunternehmung noch immer nicht die industrielle, sondern die Großunternehmung des Krieges durch Berufssoldaten, wie etwa Frundsberg oder Wallenstein: die von ihrem Boden verdrängten Landproletarier bilden auch hier die „Arbeiter" dieser merkwürdigen Unternehmungsform.) Betrachten wir nun etwas näher, wie sich die ostelbische Grundherrschaft und der ostelbische Großgrundbesitz entwikkelt und ausgedehnt hat. Er war zuerst sehr klein und schwach. Aus militärischen Gründen mußte man neben die Bauernschaften Krieger ansetzen, die Reiterdienst zu leisten hatten und dafür frei von Steuern und den Zinsen und Diensten waren, die auf den bäuerlichen Gütern lasteten. Sie mußten nicht nur selbst ins Feld ziehen, sondern auch noch eine bestimmte Anzahl von Spießknechten oder reisigen Knappen ausrüsten. Dementsprechend mußte ihr Grundbesitz bemessen werden; er betrug in der Regel 4 bis 6 Hufen (120 bis 180 Morgen), die von slawischen Unfreien bestellt wurden. Diese Ritter waren zumeist selber Unfreie·, sie unterstanden als solche dem Hofrecht, während der damals noch sozial viel höherstehende Bauer unter Landrecht stand. Aber in den kriegerischen Wirren jener Zeit stieg der Kriegerstand schnell empor; die Stellung unter Hofrecht wurde die vornehmere, und die Befreiung von der Landessteuer (der Bede) erschien sehr bald nicht mehr als Ausgleich für die Kriegsdienstpflicht, sondern als Privilegium des Ritterstandes. Jetzt beginnen die Ritter in kriegsfreien Zeiten über den ursprünglichen Besitz hinaus neues Land urbar zu machen; schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind Rittergüter von 20 Hufen (600 Morgen) keine Seltenheit. Auch für diesen Zuwachs setzen sie das Recht der Steuerfreiheit durch. Nun beginnen die Geldnöte der Askanier: die Ritter kaufen das Lehensrecht über die Schulzendörfer, die staatlichen Frohnden der Bauernschaft, den markgräflichen Erbzins der Hufen und die Bede. Damit wird, wie Lamprecht schreibt, „der Ritter der Grundherr seines Dorfes, die Bauern werden seine Grundholden" (Untertanen). Und damit beginnt der Mißbrauch der staatlichen Fronden. Wie heute jeder Bürger verpflichtet ist, der Feuerwehr beizutreten, Dienste als Schöffe und Geschworener und im Heere zu tun, so war damals jeder Bürger und Bauer verpflichtet, bei bestimmten staatlichen Aufgaben Dienste zu leisten: beim Straßenbau, Brückenbau und Burgenbau, auch beim Deichbau. Diese Dienste mußten ihrer Natur nach „ungemessen" sein, d. h.

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sie wurden soweit verlangt, wie das öffentliche Wohl es erforderte. Jedenfalls nahmen sie im Durchschnitt nur wenige Tage in Anspruch. Jetzt aber fordert der Herr diese ungemessenen Dienste für seine privaten Zwecke als Ackerfronden. „Statt einiger Tage im Jahre waren es zwei bis drei Tage in der Woche, ja in den schlimmsten Gegenden wuchsen sie bis zu sechs Tagen in der Woche." (Knapp) Ebenso wurde der dem Staat abgekaufte Erbzins dauernd erhöht, und aus der Übernahme des Erbschulzenamtes entwickelte der Grundherr die volle „Patrimonialgerichtsbarkeit", d. h. die Polizeigewalt und die Entscheidung bei kleineren Vergehen und Zivilsachen über die Dörfer. Der kapitalistische Geist kennt kein Genüge: die Grundherren eignen sich mehr und mehr auch den bäuerlichen Besitz an. Der Adel erpreßt von den in Kriegs- und Finanznot befindlichen Fürsten das Recht, auch die deutschen Bauern zu enteignen, zu „legen". So wächst der Gutsbesitz mehr und mehr. Er wächst weiter durch die ungeheuren Verwüstungen, die erst der Dreißigjährige, und dann der „bauernzerstörende" Siebenjährige Krieg unter den Dorfschaften anrichteten: der Adel zieht ein, soviel ihm erwünscht ist, und besetzt die Höfe mit kapitallosen Landstreichern. So entstand die weitverbreitete Klasse der lassistischen Bauern, die über ihren Hof nicht von Todes wegen verfügen, ihn aber auch nicht verlassen durften, ohne einen Stellvertreter zu stellen. Auf diese Weise verschwanden immer mehr Bauern, während das Areal der großen Güter immer mehr wuchs. Die einfache Folge war die, daß der Bauer immer mehr Fronden zu leisten hatte. Um diese ungeheure Ausbeutung aufrecht erhalten zu können, wird er zum Leibeigenen, zum „Erbuntertan" erniedrigt, er wird an die Scholle gebunden - und das ist jetzt ein schwerer Sturz von der vollen Freiheit zur halben Unfreiheit, während er für den Sklaven den Aufstieg von voller Unfreiheit zur halben Freiheit bedeutete. Wo nicht ein starkes Königtum ihn einigermaßen schützt, um seine „Prästationsfähigkeit" nicht zerstören zu lassen, sinkt er in volle Sklaverei hinab. Diese Entwicklung gehört voll der Neuzeit an. Sie ist in Preußen erst in den Rezessen von 1536 bis 1602 durchgesetzt worden. Allmählich wurde das lassistische Besitzrecht auch auf die alten freien Erbzinsbauern übertragen, und die ganze Klasse bildet von da an ein gleichartiges, wirtschaftlich, und darum geistig und sittlich, äußerst tiefstehendes Proletariat. Noch einmal wurde der Bauer eines sehr großen Teiles seines Bodens beraubt, und wuchs das Großgrundeigentum im Osten durch die Verpfuschung der Steinschen Reformen, die sie durch Hardenberg erfuhren. Ursprünglich hatte man alle Bauern im Besitze des Landes lassen wollen, das sie zur Zeit besaßen. Aber dann wäre das Herrschaftsland ohne Arbeiter gewesen, weil es keine Fronden mehr gab. Und so opferte man große Teile des Bauernstandes. Die erblich lassistischen Bauern mußten ein Drittel, die unerblichen sogar die Hälfte ihres Landes an das Gut abtreten; mehr noch: diejenigen Erbuntertanen, die bisher nur Handdienste geleistet hatten, weil sie kein Spannvieh besaßen, wurden ihres Besitzes ohne weiteres gänzlich beraubt. Eine spätere Deklaration von 1816 ging noch weiter: außer den spannlosen Bauernstellen wurden diejenigen eingezogen, die auf Ritteracker entstanden waren, und sogar die auf altem Bauernbesitz neu errichteten Stellen. Zu freien Bauern wurden auf diese Weise also nur die wenigen Elemente, die aus den Stürmen des Siebenjährigen Krieges sich noch erhalten hatten. Nach Buchenberger sind in den vier östlichen Provinzen von rund 222.000 spannfähigen und 300.000 bis 400.000 unspannfähigen Bauernstellen nur 45.500 der Segnungen der Reform teilhaftig geworden. Wenn trotzdem in Altpreußen noch ein stattlicher Bauernstand besteht, so ist dies ausschließlich der inneren Kolonisation zu danken. Nach Schmoller wurden bis 1740 etwa 150.000 Einwohner angesetzt, von da bis 1786 etwa 300.000. So entstanden neben zahllosen kleineren Ansiedlungen 900 Dörfer mit 30.000 bis 40.000 spannfähigen Bauernstellen und 100.000 bis 120.000 Kleinstellen, denen 2 1/2 bis 3 Millionen Morgen Landes überwiesen wurden. Das ist die Entstehungsgeschichte des ostelbischen Großgrundbesitzes. Man sieht: Erpressung, Rechtsmißbrauch und offener Rechtsbruch spielen hier genau die Rolle, die Bruno Moll bei der Entstehung fast allen Großeigentums festgestellt hat.

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Betrachten wir nun die Wirkung der so entstandenen Institutionen: Die Kriminalstatistik lehrt uns, daß die Ziffer der Verbrechen von der deutschen Westgrenze bis an die Ostgrenze ganz regelmäßig steigt. Die einzige Ausnahme bildet die Pfalz; eine Sonderuntersuchung, die ich durch einen meiner Schüler anstellen ließ, hat ergeben, daß es sich hier lediglich um eine Häufung von Verbrechen aus Gewalttätigkeit handelt, die sich sehr einfach daraus erklärt, daß die Pfalz außerordentlich viel Wein erzeugt und konsumiert. Die Rekrutierungsstatistik hat gezeigt, daß das Großgrundeigentum auch auf die Gesundheit seiner Hintersassen ebenso ungünstig einwirkt, wie auf ihre Sittlichkeit: eine merkwürdige Illustration zu der Behauptung, daß „die Landwirtschaft" das Rückgrat der Wehrkraft des Reiches sei. Man hat einmal, und aus guten Gründen nicht zum zweiten Male, erhoben, wieviel vollwertige Rekruten die verschiedenen Schichten des Volkes stellen, und zwar unterschieden nach Selbständigen und Unselbständigen je in Freiluftberufen und Geschlossenraumberufen. Dabei hat sich herausgestellt, daß die Selbständigen der Landwirtschaft, und das sind eben die Bauern, nahezu doppelt soviel Mann stellten, wie ihrer Zahl entspricht; fast ebensoviel stellten die Selbständigen der gewerblichen Freiluftbetriebe, die Meister des Maurer- und Zimmergewerbes usw. Die Unselbständigen dieser Freiluftgewerbe, die Maurer- und Zimmergesellen, stellten ein wenig mehr als ihr „Soll", die Unselbständigen der Landwirtschaft aber, d. h. die Landarbeiter, nur etwa dreiviertel\ Die Unselbständigen der Geschlossenraumgewerbe d. h. die Industrieproletarier blieben unheimlich tief unter ihrem „Soll". Und an dieser Verkümmerung und Verelendung trägt auch weiter nichts die Schuld als die Bodensperre in Gestalt des geschlossenen massenhaften Großgrundeigentums! Hierüber belehrt uns die Wanderungsstatistik. Vor etwa 40 Jahren hat einer der angesehensten Fachmänner der deutschen Agrarpolitik, Friedrich Freiherr von der Goltz, ein statistisches Gesetz entdeckt, das sich seitdem als allgemein gültig herausgestellt hat: die Wanderbewegung ist aus den Bezirken des Großgrundeigentums unverhältnismäßig viel stärker als aus den Bezirken des Bauerntums. Sie ist am schwächsten aus dem Gebiet des mit Land reichlich ausgestatteten großen und mittleren Bauerntums des Nordwestens, am stärksten, geradezu ungeheuerlich stark, aus den Gebieten des Großgrundeigentums im Osten, der „Bodensperre" dazwischen stehen, den Bauerngebieten näher, die Bezirke der „Bodenenge" des Westens und Südwestens. Darunter verstehe ich diejenigen Bezirke Deutschlands, in denen das Zwerg- und Kleinbauerntum übermäßig zusammengedrängt ist. Wir haben oben die wichtigsten Ziffern aus der deutschen Bodenstatistik gegeben, und wir verstehen ohne weiteres, daß im Westen und Südwesten die Menschen auf dem Lande zu eng leben müssen, weil im Osten und Nordosten das Land in so wenigen Händen angehäuft ist. Die Wanderbewegung, an der das Großgrundeigentum die Schuld trägt, fließt in zwei Strömen: als Auswanderung in fremde Länder, namentlich Ubersee, und als Abwanderung in die Städte und die Industriegebiete. Und damit haben wir die Wurzel des Kapitalismus bloßgelegt.

c)

Der Kapitalismus

Wir haben schon bei der Betrachtung des deutschen Mittelalters festgestellt, daß der Kapitalismus die Folge war der massenhaften Zuwanderung verarmter Landbewohner in die Städte, die sich den Eigentümern von Produktionsmitteln ausliefern mußten, um existieren zu können. Dieser erste deutsche Kapitalismus erreicht sein Ende mit der Schollenfesselung der Landarbeiter und beginnt erst wieder, nachdem die Stein-Hardenbergschen Reformen den Erbuntertanen die Freizügigkeit zurückgegeben haben. Industrieller Kapitalismus existiert überhaupt immer dort und nur dort, wo Bodensperre und Freizügigkeit und infolgedessen Abwanderung zusammentreffen. Wo zur Freizügigkeit die Bodensperre tritt, wie in Deutschland um 1370, da entsteht er sofort; wo zur Bodensperre die Freizügigkeit tritt, wie in Deutschland nach 1810, da entsteht er sofort von neuem; wo entweder

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die Freizügigkeit oder die Bodensperre verschwinden, verschwindet auch er. Er ist auch in England, in Rußland, in Japan usw. erst entstanden nach Einführung der Freizügigkeit, sei es durch Aufhebung der Leibeigenschaft wie in Rußland, sei es durch Aufhebung der Kirchspiel- und Zunftgesetze wie in England. Wir sagten schon: in allen kapitalistischen Ländern Europas setzt nach Erreichung der Freizügigkeit eine ungeheure Abwanderung ein. Millionen von Proletariern ergießen sich in die Städte und bieten sich als Industriearbeiter an. Damit ist das ungeheure kapitalistische Elend der Anfangszeiten ohne weiteres verständlich geworden. Nicht, weil die Maschine den Arbeiter aufs Pflaster warf, sondern, weil der Arbeitsmarkt durch den Zustrom jammervoll armer Menschen überschwemmt wurde, wurde der Lohn in die Tiefe gerissen. Denn zuerst war die Industrie noch schwach und klein, konnte sich im Verhältnis zu diesem Ansturm nur langsam ausdehnen, konnte entfernt nicht soviele neue Arbeitsstellen erschließen, wie die Zuströmenden besetzen konnten. Es war eine Überschwemmung, als wenn ein Staubecken geborsten wäre. Man hat das gelegentlich auch gesehen, aber niemals richtig beachtet. So ζ. B. schildert Karl Marx alle Bemühungen der städtischen Behörden in England um Behebung der grauenhaften Wohnungsnot als vergeblich: „Morgen wandert ein Heuschreckenschwarm von verlumpten Irländern oder verkommenen englischen Agriculturarbeitern ein." Unter diesen Umständen mußte der Lohn unter das Existenzminimum der vorher ziemlich hochstehenden englischen Industriearbeiter, ja sogar unter das Existenzminimum der mehr als anspruchslosen Irländer herabsinken. Die Löhne der Weber von Glasgow sanken nach einem Parlamentsbericht von 1820 in wenigen Jahren auf weniger als den vierten Teil. Wir verstehen nun auch, daß die Löhne der Industriearbeiter allmählich wieder steigen mußten, als jenes Staubecken sich entleert hatte. Von da an war der Zustrom schon zahlenmäßig, und nun gar im Verhältnis zu der inzwischen riesenmäßig gewachsenen Industrie viel geringer; die Gutsherren mußten die Löhne der Landarbeiter erhöhen, um sie nicht ganz einzubüßen, und diese Löhne mußte die Industrie immer wieder überbieten, weil sie trotz aller Maschinerie immer mehr Hände gebrauchte, als ihr der Zuwachs der städtischen Bevölkerung allein zur Verfügung stellen konnte. Um von dem Umfang der Abwanderung in Deutschland einen kleinen Begriff zu geben, so hatte das Land zu Anfang des 19. Jahrhunderts eine Bevölkerung von rd. 24 1/2 Millionen, von denen 18 Millionen auf dem Lande lebten. Vor dem Weltkriege war die Gesamtbevölkerung auf rd. 66 Millionen angestiegen, von denen nur etwa noch 16 Millionen auf dem Lande lebten. Dabei haben sich die bäuerlichen Teile des Reiches stark an Einwohnerzahl vermehrt, die Großgrundbezirke des Ostens haben sich aber geradezu verblutet. Mehr als ihr gesamter Nachwuchs ist verstädtert, hat das Riesenheer des Industrieproletariats gebildet. Hier liegt also die Wurzel, mindestens die Hauptwurzel, des industriellen Kapitalismus bloß. Er ist nicht, wie man sich einbildet und uns einreden möchte, das System der freien Konkurrenz, sondern er ist eine historische Epoche, in der das Prinzip der freien Konkurrenz sich mühsam und allmählich gegen die Hindernisse durchzusetzen strebt, die sie „fesseln": gegen das feudale Gewalteigentum der Vorperiode, das noch als machtvolle Institution sich erhalten hat. Der Kapitalismus ist, derart betrachtet, ein Bastard von Freiheit und Gewalt. Alles was er an großartigem geleistet hat, dankt er der Freiheit, der freien Konkurrenz, die alle Kräfte entfesselt und spornt; alles was an ihm betrüblich ist, ist die Schuld der im Großeigentum noch lebenden und wirkenden Gewalt. Sie verdirbt alle Wirtschaft und, wie man heute wieder gerade auf das deutlichste erkennen kann, alle Politik: „ Wer das Land hat, hat die Macht!" Hier soll nur von der Wirtschaft die Rede sein. Von diesem Standpunkt aus gesehen, enthüllt sich der Kapitalismus als eine schwere Gleichgewichtsstörung des volkswirtschaftlichen Körpers. Diese Gleichgewichtsstörung besteht zunächst, rein zahlenmäßig gesehen, darin, daß wir zuviel Industrie und zuwenig Landwirtschaft haben. Die Industrie ist überfüttert, die Landwirtschaft

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verkümmert: ein Verhältnis etwa, als wenn ein Mensch eine verfettete Leber und ein schwaches Herz hat. Gäbe es keine Bodensperre, so wäre die Wanderung in die Städte ungleich geringer gewesen; schon aus diesem Grunde allein hätte sich der Lohn der Arbeitenden viel höher eingestellt, und schon aus diesen beiden Gründen hätte die Industrie sich entfernt nicht so gewaltsam entwickeln können. Heute verfügt sie fast immer über eine beliebige Zahl von sehr billigen Arbeitskräften und kann daher auch solche Erweiterungen vornehmen (das nennt man heute Rationalisierung), die sich später als übertrieben und verderblich herausstellen. Damit aber ist das Übel erst zum allerkleinsten Teile bezeichnet. Noch viel stärker sind die Gleichgewichtsstörungen zwischen der Erzeugungskraft der Volkswirtschaft und ihrer Kaufkraft·, ohne die Abwanderung wäre der landwirtschaftliche Markt, der eine Hauptteil des Binnenmarktes, in Deutschland doppelt so groß an Kopfzahl, und vielfach so groß an Kaufkraft. Statt 14 Millionen Menschen, von denen die große Mehrzahl arm und kaufschwach sind, würde er 26 Millionen Menschen, jeden von ihnen in gut mittelständischem Wohlstande, umfassen. Auch der zweite Hauptteil der Kaufkraft, der Lohn der Arbeiter und Angestellten, der Gehalt der Beamten, wäre ungleich höher ohne Bodensperre und Abwanderung. Darunter leiden Industrie und Landwirtschaft gleichmäßig: jene, weil sie ihre Waren im Inlande nicht zu lohnenden Preisen absetzen kann, diese, weil sie für ihre wichtigsten Erzeugnisse keine lohnenden Preise erzielen kann: für die Produkte der Veredlungswirtschaft. Es wird vielleicht interessant sein, gerade über diesen Gegenstand ein paar Ziffern zu bringen in einer Zeit, wo man der Not der deutschen Landwirtschaft durch nichts anderes als durch Schutzzölle, Kontingente und andere ähnliche Hilfen steuern will. Der Durchschnittsverbrauch an frischer Milch beträgt pro Kopf und Tag in Luzern 0,9 Liter, in New York 0,85 Liter, in Antwerpen 0,75, im Durchschnitt von 91 deutschen Städten nur 0,25 Liter. (Das sind schon etwas ältere Zahlen: heute ist der Betrag noch stark gesunken). Wenn jeder Deutsche soviel Frischmilch kaufen könnte, wie der New Yorker, so müßten rund 5 Millionen gute Kühe neu aufgestellt werden, und könnten 600.000 neue deutsche Mittelbauern glänzend bestehen. - Wenn jeder Deutsche täglich nur eine kleine Schnitte Brot mehr als heute mit Butter streichen könnte, so würden 800.000 gute Kühe neu aufgestellt werden müssen, und 120.000 Bauern könnten glänzend bestehen. - Wenn jeder Deutsche nur ein Ei täglich mehr essen könnte, so würden rund 24 Milliarden Eier pro Jahr mehr in Deutschland verzehrt werden. Eine Hühnerfarm ist schon sehr bedeutend, wenn sie täglich 3.000, pro Jahr rund 100.000 Eier erzeugt. Wir würden also die Kleinigkeit von 240.000 solcher Farmen einrichten können. - Der deutsche Weinbau ist in schwerer Not. Er erzeugt im Durchschnitt etwa 200 Millionen Liter, ungefähr 270 Millionen Flaschen. Wenn jeder Deutsche alle vier Monate eine Flasche Wein mehr trinken könnte als heute, so würde die Ernte bereits nicht hinreichen. Schon hieraus erkennt man klar, daß nach Fortfall der Gleichgewichtsstörung das deutsche Volk imstande wäre, eine sehr viel größere Menge von Gütern zu lohnenden Preisen abzunehmen als heute. Mit anderen Worten: die heutige Verteilung der Einkommen hemmt die Entwicklung der Gütererzeugung. Und zwar noch stärker auf dem Gebiet der Industrie als auf dem der Landwirtschaft. Denn in der Industrie macht sie es unmöglich, daß wir die Technik ausnützen, die wir schon besitzen. Anders ausgedrückt: sie verhindert uns, so reich zu sein, wie wir schon sein könnten. Das hängt folgendermaßen zusammen: wenn das gesamte Volk größere Kaufkraft hätte, so könnten wir nicht nur alle Maschinen, die wir jetzt schon besitzen, voll ausnutzen, d. h. die ganze Menge von Gütern erzeugen lassen, die sie bei voller Arbeit leisten könnten. Sondern wir könnten überall die stärksten, heute schon bekannten Maschinerien aufstellen, ja, wir könnten und würden industrielle Anlagen von bisher imbekannter Größe mit Maschinen von vervielfachter Erzeugungskraft einrichten. Ein kleines Beispiel für das, was hohe Kaufkraft für die Industrie bedeutet, bietet die Entwicklung der Automobilfabrikation in den Vereinigten Staaten. Weil hier eine im Verhältnis zur Einwohnerzahl unendlich viel größere Menge von Autos in der sehr großen und wohlhabenden Volksmenge ihren Markt fand, konnten die Fabriken ihre Maschinerie immer höher und höher bis

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zu der gewaltigen Leistungsfähigkeit entwickeln, die wir an ihnen bewundern: denn sie waren sicher, für das vermehrte Erzeugnis willigen Absatz zu finden, zumal der Preis der Wagen in erstaunlichem Maße herabgesetzt werden konnte, während doch die Gewinne stiegen, weil eben das Erzeugnis mächtiger Maschinerie, wenn es nur Absatz findet, viel billiger ist, als das schwacher Maschinerie. Zu dieser Größe und daher Billigkeit der Produktion kann in Deutschland mit seinem soviel kleineren und kaufschwächeren Markte die Industrie nicht kommen. Und was für diesen einen Zweig gilt, gilt für alle. Wir könnten alle mit viel mehr und viel besseren Erzeugnissen aller Industrien versorgt sein, wenn jene Hemmung nicht bestünde. Und wir könnten dennoch die durchschnittliche Arbeitszeit sehr wesentlich herabsetzen und könnten die Rekruten der Arbeit dennoch wesentlich später einstellen, d. h. vorberuflich viel besser ausbilden, und die Veteranen der Arbeit viel früher in den verdienten Ruhestand versetzen. Das aber ist noch entfernt nicht das Schlimmste. Die Gleichgewichtsstörung erzwingt in den kapitalistischen Ländern den Exportindustrialismus und bringt damit die Wirtschaftskrisen und die imperialistischen Kriege über die Völker. Der Zusammenhang ist der folgende: Das gesamte gesellschaftliche Einkommen der kapitalistischen Gesellschaft zerfällt in Arbeitseinkommen und Mehrwert, d. h. reines Besitzeinkommen. Zum Arbeitseinkommen muß man rechnen nicht nur den Lohn der Arbeiter, sondern auch die Gehälter der Beamten und Angestellten (abgesehen von einigen „Spitzen"), das Einkommen der freien Berufstätigen, der Ärzte, Anwälte usw. und schließlich den sogenannte Unternehmerlohn, dasjenige Einkommen, das der mitarbeitende Leiter von Unternehmungen gerechterweise beanspruchen kann. Wie groß die beiden Teile sind, ist nicht genau zu bestimmen. Es spielt auch in diesem Zusammenhang keine wichtige Rolle. Wir wollen annehmen, das Arbeitseinkommen betrage 80%, das Besitzeinkommen 20% des gesamten Volkseinkommens. Das wird sehr mäßig gerechnet sein. 80% also aller Güter, die die Wirtschaft erzeugt, werden von den Arbeitenden verzehrt. Hier sind einbegriffen diejenigen Güter ihres Verzehrs, die sie im Tausch von einheimischen Erzeugnissen aus fremden Ländern beziehen; etwa französischen Wein gegen deutsche Farben, westindische Bananen gegen deutsche Kattune, spanische Orangen gegen elektrische Apparate, Kupfer, Baumwolle, Kautschuk usw. gegen deutsche Werkmaschinen. Wenn die Kapitalisten und Großgrundbesitzer gleichfalls ihr gesamtes Einkommen verzehren würden, so wäre keine Gleichgewichtsstörung vorhanden. Dann bliebe nur die vorhin geschilderte Rückständigkeit der Produktion, noch verstärkt dadurch, daß reiche Leute das sozusagen demokratische Maschinenerzeugnis nicht lieben und einen sehr großen Teil ihrer Kaufkraft auf Dinge verwenden, die nicht mit Maschinen erzeugt werden, ζ. B. Erzeugnisse des Kunsthandwerks und der Kunst selbst, und darüber hinaus auf unproduktive Dienste von Bedienten und Schmarotzern aller Art, deren Arbeit für die Volksversorgung also gänzlich ausfällt. Aber die Kapitalisten können und wollen ihr Einkommen gar nicht zur Gänze in Gütern und Diensten ausgeben. Der Kampf der Konkurrenz zwingt sie, einen sehr bedeutenden Teil davon zur Vermehrung und Verbesserung ihrer Maschinerie auszugeben. Denn wer hier ins Hintertreffen gerät, ist verloren. Nur die zur Zeit stärkste Maschinerie erringt den Sieg, es sei denn, daß die Kapitalisten sich zusammenschließen, um in Trusts und Kartellen auch die veralteten Betriebe noch mit durchzuschleppen. Aber dennoch wird auf der ganzen Linie in gewaltigem Maße neues und immer stärkeres Produktivkapital geschaffen, und die Masse der Konsumgüter schwillt daher immer mehr an, ohne daß die Kaufkraft der Gesamtheit entsprechend wüchse. Nehmen wir wieder an, daß die Kapitalisten die eine Hälfte ihres Einkommens verzehren, die andere anlegen. Dann sind 10% des Produktes im Inlande nicht absetzbar. Sie müssen auf den Weltmarkt exportiert werden. Nicht umsonst: man will den gleichen Wert dafür erhalten. Aber was soll man einführen? Die Güter, die von Land zu Land gehen, sind in den 90% Gesamtverzehr

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schon berücksichtigt. Mehr Güter sind nicht absetzbar, solange einerseits die Kaufkraft der Masse nicht steigt, und andererseits der Zwang der Konkurrenz fortbesteht, in bedeutendem Maße neues Kapital zu bilden. Welcher Gegenwert bleibt übrig? Nichts anderes als der Erwerb von Eigentumstiteln deren Rente von der Unterklasse der fremden Völker aufgebracht werden muß. Man gründet eigene Fabriken im Auslande, oder man baut Fernbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke, Elektrizitätswerke usw. und empfängt dafür die Schuldscheine der ausländischen Städte und Staaten, die aus den Steuern verzinst werden. Oder man kauft im Auslande Grundeigentum oder städtische Häuser, die vermietet oder verpachtet werden. Oder schließlich: man legt den Ertrag seiner Ausfuhr an den Börsen an, indem man auswärtige Staatsanleihen, städtische Schuldbriefe, Pfandbriefe, Hypotheken, Aktien und Kuxe erwirbt. Man sieht: der Kapitalismus steht und fällt mit der Möglichkeit dieses Exports von Gütern zum Zweck des Imports von Eigentumstiteln. Wenn er aufhört, ist der Kapitalismus erledigt. Dann müssen entweder die Löhne so hoch hinaufgesetzt oder die Preise so tief herabgesetzt werden, daß die Volksmasse alles kaufen kann, was die Kapitalisten nicht selbst verzehren. Nim schrumpfen aber die Märkte im Verhältnis zur Erzeugungskraft der Industrie immer mehr an Kaufkraft ein. Die Folge ist im Inneren die Krisis: in irgendeinem Zweige sinkt die Ware unter den Selbstkostenpreis des Unternehmers; er muß schließen, Arbeiter werden freigesetzt, die Kaufkraft sinkt weiter, neue Fabriken werden unrentabel, neue Arbeiter werden auf die Straße geworfen, die Kaufkraft sinkt weiter, und das setzt sich fort, bis fast die ganze Volkswirtschaft in die schwerste Absatznot geraten ist. Noch ärger aber steht es um den Weltmarkt. Er schrumpft auch absolut ein. Immer neue Völker, die bisher Abnehmer von Industrieprodukten waren, entwickeln ihre eigene Industrie und fangen bald an, ihrerseits auf den Weltmarkt zu liefern. Schlimmer noch. Die Eifersucht der kapitalistischen Mächte im Kampf um die Märkte schleudert große Länder des Weltmarktes in bitterste Armut: China mit seinen nahezu 400 Millionen Einwohnern ist seit Jahrzehnten immer kaufschwächer geworden. Ähnliches gilt von Rußland, von Mexiko, gilt von den kleineren südamerikanischen Staaten. Und wieder andere Länder empören sich gegen den kapitalistischen Druck ihrer Beherrscher und rebellieren mit dem Boykott der Waren: Indien, die Bewegung Gandhis. Unter diesen Umständen muß der verzweifelte Kampf der kapitalistischen Mächte zuletzt notwendigerweise zum offenen Ausbruch kommen. Unter allen Umständen muß der Konkurrent vom Weltmarkt verdrängt werden. Hier liegen die geheimen Wurzeln des letzten Weltkrieges. Aus diesen Wurzeln wird in absehbarer Zeit ein neuer, noch viel furchtbarerer Weltkrieg entstehen, der vielleicht ganz Europa in Schutt und Asche legen und damit die scheinbar unlösbaren europäischen Probleme der Zollpolitik, Minderheitenpolitik und Staatspolitik in grauenhafter Weise summarisch dennoch lösen wird, - wenn nicht inzwischen dennoch die Einsicht sich durchsetzen sollte, wo die Wurzel aller Übel steckt.

IV. Abschnitt: Die Theorie Wir haben bisher nichts als Tatsachen dargestellt, Tatsachen, die für sich allein sprechen, die schon für sich allein überzeugen können. Aber die letzte, die zwingende Beweiskraft kann unsere Auffassung nur dadurch erlangen, daß sie wissenschaftlich erklärt wird; und d. h.: daß sie unter ein Gesetz geordnet, aus einem Gesetz heraus verstanden wird. Das muß also unsere nächste Aufgabe sein; wir bringen ein wenig Theorie, ganz einfache schlichte, jedermann verständliche Wissenschaft.

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Gleichheit bei freiem Boden

Über den wichtigsten Gegenstand unserer Auffassung herrscht zum Glück vollkommene Übereinstimmung zwischen den Forschern aller Richtungen. Was Theodor Mommsen erkannt hat: „Die Bodenteilung ist die Grundlage alles Staatswesens", das ist auch die Lehrmeinung aller Gesellschaftsforscher und Volkswirte von Rang. Beginnen wir mit dem großen Denker, dessen Einfluß auf die Wissenschaft von der Wirtschaft gar nicht überschätzt werden kann, mit dem Manne, durch den auch unser Immanuel Kant auf das gewaltigste angeregt worden ist: Jean Jacques Rousseau. In seiner berühmten Schrift „Uber die Ungleichheit unter den Menschen" untersucht er, wann und wie diese Ungleichheit bei freier Konkurrenz unter Gleichen und Freien entstehen kann, und stellt fest: „Nicht eher kann Ungleichheit entstehen, als bis alle Bauernhufen, sich sämtlich gegenseitig berührend, das ganze Land bedecken." Und das ist ja auch unmittelbar einleuchtend: solange noch freies Land vorhanden ist, kann es kein Großgrundeigentum geben, da es keine Arbeiter gibt, die gezwungen sind, es für den Besitzer zu bearbeiten, weil sie selbst keinen Boden für sich nehmen können. Leider hat Rousseau nicht daran gedacht, daß ein noch so großes Land auch dadurch für den Bodenbedürftigen unzugänglich werden kann, daß wenige die Macht haben und sich daraus das Recht ableiten, große Flächen für sich zu nehmen, von deren Benutzung sie die vielen absperren, zu deren Benutzung sie sie nur zulassen, wenn sie sich entschließen, den Herren einen Teil ihres Arbeitsertrages als Tribut, als Herrenrente abzutreten. Aber der Grundgedanke ist völlig klar: solange noch jedermann Zugang zu freiem Boden hat, kann es keine grobe Ungleichheit zwischen den Menschen, kann es keine Klasse proletarischer Arbeiter geben. Die Wissenschaft von der Volkswirtschaft übernahm die Lehre ohne jede Änderung. Die erste wissenschaftliche Schule der Nationalökonomie ist die der „Naturherrschaft" (Physiokratie). Der eine ihrer Führer, Turgot, erklärt: „In dieser ersten Zeit, wo jeder arbeitsame Mann soviel Boden fand wie er wollte, konnte niemand sich bewogen finden, für andere zu arbeiten. Jeder Eigentümer mußte also sein Feld selbst bearbeiten oder es ganz aufgeben. Aber endlich fand jedes Stück Land seinen Herrn, und jene, welche keinen Grundbesitz erwerben konnten, hatten zuerst keinen anderen Ausweg als den, ihrer Hände Arbeit (...) gegen den Überfluß an Gütern des landbauenden Grundbesitzers einzutauschen." Schon hier erhält die Lehre Rousseaus ihre Wendung in das speziell Wirtschaftliche. Sie sagt klipp und klar, daß es keine Klasse vermögensloser Arbeiter geben kann, solange der Zugang zum Boden noch frei ist. Wenig später schrieb der berühmteste Denker der gesamten älteren Wissenschaft, Adam Smith: „In jenem ursprünglichen Zustand der Dinge, welcher weder Landerwerb, noch Kapitalansammlung kannte, gehörte das ganze Produkt der A rbeit dem A rbeiter allein. Er hatte weder Gutsbesitzer noch Arbeitgeber, mit denen er zu teilen hatte." Es gab also keine „Arbeiter" in heutigem Sinne, als Proletarier, als vermögenslose Menschen, die gezwungen sind, sich an die Besitzer von Produktionsmitteln gegen Tributzahlung zu vermieten. Es gab, um mit Marx zu sprechen, noch keine „freien Arbeiter", frei in dem Doppelsinn, daß sie weder Sklaven noch Hörige waren, und daß sie andererseits „frei" waren von jedem eigenen Besitz an den Mitteln, um ihre Arbeitskraft zu betätigen: an den Produktionsmitteln. Die beiden höchsten Autoritäten der folgenden Generation sind David Ricardo, der größte Meister von Karl Marx, und J. B. Say. Ricardo schreibt:

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„Bei der ersten Besiedlung eines Landes, das an reichem und fruchtbarem Lande Überfluß hat, während die noch kleine Bevölkerung nur einen geringen Teil davon anbauen muß, um sich zu ernähren, wird es keine Rente geben; denn niemand würde für den Gebrauch des Landes etwas bezahlen, wenn solches, noch nicht angeeignet, im Überfluß vorhanden ist und zu jedermanns freier Verfügung steht, der es anbauen möchte." Und Say schreibt: „Die Erde ist die einzige produktive Naturkraft, die einige Menschen für sich unter Ausschlußder anderen mit Beschlag belegen können, und selbstverständlich können sie sich dann auch die Erträge aneignen. Zum Glück hat sich bisher niemand auch Sonne und Wind aneignen und für deren Dienste Bezahlung verlangen können." Wir haben die größten bürgerlichen Autoritäten genannt. Aber auch die größte Autorität des Sozialismus, Karl Marx, hat genau auf dem gleichen Standpunkt gestanden. Im 25. Kapitel des ersten Bandes seines „Kapitals" erzählt er die tragikomische Geschichte eines reichen englischen Aristokraten, namens Peel, der sich am Schwanenfluß in Australien einen ungeheuren Großgrundbesitz gekauft hatte. Um ihn auszunutzen, brachte er für etwa eine Million Mark Lebensmittel und landwirtschaftliche und gewerbliche Werkzeuge, und, um auch die nötigen Arbeiter zu haben, nicht weniger als 3.000 Personen der arbeitenden Klasse Englands, Männer, Frauen und Kinder, zu Schiffe mit. Er erlebte eine arge Enttäuschung. Kaum angelangt, verliefen sich die Undankbaren, nahmen sich jenseits der Grenzen des Peelschen Besitzes selbst Land und machten sich als Bauern und als Handwerker, die für die Bauern arbeiteten und von ihren Uberschüssen lebten, selbständig. Der arme Herr Peel aber „blieb ohne einen Diener, um sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen". Und Marx zieht daraus genau die gleichen Schlüsse, die sich uns aus der Betrachtung der Tatsachen aufgedrängt haben: „Man sah: die Expropriation1 der Volksmasse von Grund und Boden bildet die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise. Das Wesen einer freien Kolonie besteht umgekehrt darin, daß die Masse des Bodens noch Volkseigentum ist, und jeder Ansiedler daher einen Teil davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Ansiedler an derselben Operation zu verhindern. (...) Die absolute Bevölkerung wächst hier viel rascher als im Mutterland, (...) und dennoch ist der Arbeitsmarkt stets untervoll." Das bedeutet, daß das Verhältnis von Angebot und Nachfrage für den Arbeiter äußerst günstig ist. „Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt." Karl Kautsky schreibt in seinem berühmten Kommentar, daß unter solchen Umständen kein Kapitalismus existieren kann: „Damit hören Geld, Lebensmittel, Maschinen und andere Produktionsmittel auf, Kapital zu sein, sie verwerten sich nicht." Leider haben alle diese Männer die Möglichkeit nicht gesehen oder doch wenigstens nicht genügend beachtet, daß das Land auch durch Sperrung, und nicht bloß durch Bauernsiedlung voll besetzt werden kann. Ein merkwürdiges Übersehen! Denn schon Jesaia hat sein „Wehe" gerufen über „diejenigen, die Land zu Land fügen und Hufe zu Hufe, bis niemand mehr neben ihnen Platz hat,

1 Expropriation= Enteignung. Mit anderen Worten die Sperrung des Bodens gegen die kapitallose Volksmasse.

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und sie allein wohnen bleiben im Lande"1. Und doch haben in Griechenland Solon, und in Rom die Gracchen die Verderblichkeit des Großgrundeigentums genausogut erkannt und versucht, es gesetzlich zurückzuschneiden und zu beschränken. Und doch findet man überall das Wort des Plinius angeführt: „Die Großgüter haben Rom zugrunde gerichtet." Hier und da dämmert die Erkenntnis auf, auch bei bürgerlichen Gelehrten. Der berühmte Soziologe Gumplowicz schreibt: „Nicht darin, daß der Eigentümer den Gegenstand des Eigentums nach Belieben brauchen und mißbrauchen kann, sondern darin, daß er andere Personen von dem vernünftigen Gebrauche des Gegenstandes ausschließen kann, den er selber mißbraucht: darin liegt das Wesen des römischrechtlichen Eigentums." Der Kirchenvater des bürgerlichen Liberalismus, John Stuart Mill, schreibt: „Die Institution des Eigentums besteht in der Anerkennung des Rechts für jede Person, ausschließlich zu verfügen über dasjenige, was sie durch eigene Anstrengung hervorgebracht oder durch Schenkung oder rechtmäßige Ubereinkunft, ohne Gewalt oder Betrug, von denen, die es hervorgebracht haben, erhalten hat." „[Nun aber] nimmt die gesellschaftliche Verfassung des heutigen Europas ihren Ausgangspunkt von einer Verteilung des Eigentums, die nicht das Ergebnis gerechter Teilung und nicht durch Arbeit erworben, sondern das Ergebnis von Eroberung und Gewalt war. Es besteht Eigentum an Dingen, an welchen niemals Eigentum hätte bestehen sollen, und es besteht unbeschränktes Eigentum, wo nur ein beschränktes angebracht wäre. Absichtlich hat man Ungleichheiten begünstigt und verhindert, daß alle unter gleichen Bedingungen beginnen." Mit anderen Worten: man hat keine freie Konkurrenz zugelassen! Diese Anklage gilt vor allem dem Großgrundeigentum. Grundeigentum ist, sagt Mill, nur insoweit berechtigt, wie es der Eigentümer durch seine eigene Arbeit kultiviert hat. Und so „ist es eine Bedrückung, auf Erden geboren zu sein und alle Gaben der Natur schon vorher in ausschließlichen Besitz genommen und keinen Raum für den neuen Ankömmling freigelassen zu finden". Die Sozialisten stehen selbstverständlich sämtlich auf dem gleichen Standpunkt, leider ziehen fast alle ebensowenig die richtigen Konsequenzen aus ihrer Kenntnis der Tatsachen wie die Bürgerlichen. Wir sehen, unter den Autoritäten herrscht volle Übereinstimmimg über die beiden wichtigen Grundsätze: Erstens: wo noch Grund und Boden zu freier Verfügung steht, gibt es keine Arbeiterklasse, daher kein Großeigentum, daher kein bloßes Besitzeinkommen und keine Ausbeutung. Zweitens: wo überhaupt daran gedacht wird, daß der Boden durch erobernde Gewalt gesperrt worden ist, wird das Großgrundeigentum immer als ungerecht und sozial schädlich verurteilt.

b) Die Konkurrenz Betrachten wir nun, was die gute Wissenschaft übereinstimmend über die Konkurrenz auszusagen hat. Sie braucht dazu nur eine einzige Voraussetzung, nämlich die folgende: der geistesgesunde Mensch wird immer lieber billig als teuer einkaufen, und lieber teuer als billig verkaufen. Keine

1 Jesaja 5, Vers 8.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Hausfrau wird eine bestimmte Ware um 10 Pfennig teurer einkaufen, wenn sie weiß, daß sie ganz die gleiche Ware ohne mehr Mühe nebenan um 10 Pfennig billiger haben kann. Und ebensowenig wird jemand seine Ware billiger verkaufen, als zu dem Preise, von dem er weiß, daß ihn seine Mitbewerber zur gleichen Zeit auf dem gleichen Markt erhalten, es sei denn, daß er dem Käufer ein verstecktes Geschenk machen will. Aber von solchen seltenen Ausnahmen zu reden hat für uns keinen Sinn. Der Ort, wo Waren gekauft und verkauft werden, heißt der Markt. Hier „bieten" die Verkäufer „an", die Käufer „fragen nach". Wenn aus irgendwelchen Gründen das gesamte Angebot stärker ist als die gesamte Nachfrage, so ist die Konkurrenz auf Seiten der Verkäufer. Sie unterbieten sich, um ihre Ware loszuwerden. Dann steht der Preis tief. Wenn umgekehrt die Nachfrage stärker ist als das Angebot, so überbieten sich die Käufer, und der Preis wird hoch. Man nennt das das Spiel oder das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Am höchsten stellt sich der Preis, wenn eine neue Ware auf einen Markt kommt, die hier unbekannt ist, aber auf eine große Nachfrage stößt, d. h. sehr stark begehrt wird. Das bekannteste Beispiel für einen solchen besonderen Glücksfall ist die Geschichte von dem Engländer Whittington, der durch ihn zum Millionär wurde. Er kam als armer Schiffsjunge zu einem westafrikanischen Negerstamm an der Goldküste, der furchtbar unter Ratten zu leiden hatte. Er saß, seinen geliebten Kater auf dem Schoß, mit den anderen Matrosen und den Negern beim Mahl, als ganze Scharen von Ratten schamlos und furchtlos über die Lebensmittel herfielen. Das war im wahrsten Sinn des Wortes ein gefundenes Fressen für den tapferen Tom. Er sprang dazwischen und würgte wie ein Panther im Schafstall zur hellen Begeisterung der Schwarzen. Sie kauften dem jungen das Wundertier für sein Gewicht an Goldstaub ab, und der arme Schiffsjunge wurde später dreimal Lordmayor von London. Die Geschichte geht aber noch weiter. Als das Glück des jungen Whittington in England bekannt wurde, kauften Menschen, die sich für sehr klug hielten, alle nur erreichbaren Katzen zusammen, füllten mehrere Schiffe mit ihnen und brachten sie nach der Goldküste. Ihrer wartete eine arge Enttäuschung. Die bösen Neger dachten gar nicht daran, den gleichen Preis wie für die erste Katze zu zahlen. Zuerst hatte die Nachfrage das Angebot bei weitem übertroffen: jetzt überwog das Angebot noch viel mehr die Nachfrage. Die Katzenhändler konnten ihre Ware überhaupt nicht mehr loswerden: wir wollen hoffen, daß sie die guten Tiere umsonst ans Ufer setzten, statt sie in ihrer Wut ins Meer zu werfen. Aus diesem Fall haben wir etwas sehr wichtiges gelernt, nämlich, daß zwischen dem Preis einerseits und dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage andererseits eine doppelte Verknüpfung besteht: Wenn wir nur einen einzigen Markt ins Auge fassen, dann bestimmt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage den Preis. Aber die Märkte stehen im Zusammenhang, und in diesem Zusammenhang bestimmt umgekehrt der Preis das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Das ist sehr wichtig, und darum wollen wir ganz langsam und sehr gründlich vorgehen. Wir machen uns klar, daß es für die gleiche Ware in aller Regel eine große Anzahl von Märkten gibt. Diese stehen bei freier Konkurrenz sämtlich miteinander in einem doppelten Zusammenhang: in einem räumlichen und einem zeitlichen. Wir sprechen zuerst vom räumlichen Zusammenhang. Ein Großhändler in Argentinien hat eine Schiffsladung Weizen zu versenden. Er kann sie in Hamburg, in London, in Genua, in Rotterdam und gottweiß in welchen Häfen noch verkaufen. Aus allen diesen Häfen ist ihm durch Telegramme oder Funkspruch der Preis bekannt, der auf der Getreidebörse zur Zeit bezahlt wird. Wohin wird er das Schiff senden? Nicht unbedingt dorthin, wo der höchste Preis bezahlt wird, wohl aber dorthin, wo er nach Berechnung seiner Selbstkosten den höchsten Gewinn erwarten darf. Denn die Selbstkosten sind natürlich verschieden, je nach der Entfernung des Hafens von Buenos Aires.

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Weil jeder Verkäufer so und nicht anders rechnen und handeln muß, wenn er sein Geschäft versteht, paßt sich das Angebot auf allen gleichzeitigen Märkten immer besser der Nachfrage an. Auf solchen Märkten, auf denen der Preis hoch ist, wird mehr Ware angeboten, und der Preis wird gedrückt, und umgekehrt wird auf solchen Märkten, wo der Preis niedrig ist, weniger Ware angeboten und der Preis hebt sich. Schon hierdurch wird bewirkt, daß die Gewinne der Händler auf den verschiedenen Märkten zur gleichen Zeit einander sehr angenähert werden. Sehr grobe Unterschiede können nicht entstehen. Aber selbst die noch bestehenden kleinen Unterschiede werden durch die Wirkung ausgeglichen, die die freie Konkurrenz im zeitlichen Zusammenhang der Märkte hat. Die Warenbesitzer erfahren früher oder später (heute augenblicklich, in alter Zeit vielleicht erst nach Monaten oder Jahren, denn da gab es noch keinen Telegrafen und kein Radio), daß auf früheren Märkten hier günstige, dort ungünstige Preise erzielt worden sind. Selbstverständlich werden sie jetzt die günstigeren Märkte stärker, die ungünstigeren schwächer „beschicken" und werden das solange fortsetzen, bis keine oder nur noch ganz geringe Unterschiede der Gewinne übrigbleiben. Bisher haben wir immer nur eine einzige Ware, ζ. B. Weizen ins Auge gefaßt. Aber es gibt viele Waren: Roggen, Gerste, Hafer, Mais, Gummi, Kupfer, Eisen usw. Jede dieser Waren hat ihren eigenen besonderen Markt, aber auch alle diese Märkte stehen in engem Zusammenhang durch den Preis. Um das besser zu verstehen, stellen wir uns eine Anzahl von Seen, Teichen und Tümpeln vor, die, jeder für sich, ohne oberirdische Verbindung durch Flüsse oder Bäche, in derselben Landschaft bestehen. Wenn der in der Nachbarschaft fließende Strom steigt, weil in seinem Oberlauf der Schnee geschmolzen ist oder starke Regengüsse niedergegangen sind, so steigt der Spiegel aller dieser abgeschlossenen Wasserbecken, und sinkt umgekehrt, wenn bei Dürre der Fluß wenig Wasser führt, oder, wenn ein bedeutender Entwässerungsgraben angelegt wird. So stehen auch alle Märkte der einzelnen Waren miteinander in sozusagen unterirdischem Zusammenhang. Der Händler verbeißt sich nicht darauf, durchaus Weizen zu verkaufen, wenn der Weizen auf allen Märkten gleichzeitig ungünstig, der Roggen oder Mais aber günstig im Preise steht. Dann kauft er eben weniger Weizen und mehr Mais, und die weitere Folge wird die sein, daß die Landwirte in aller Welt im nächsten Jahre weniger Weizen und mehr Mais anbauen. Wenn an Zinn mehr verdient wird als an Kupfer, so kauft der Händler mehr von dem einen und weniger von dem anderen, und die Besitzer der Zinnbergwerke machen Uberstunden und treiben neue Schächte hinab, während die Besitzer von Kupferminen überlegen, ob sie die Erzeugung nicht einschränken und die unergiebigsten Schächte nicht vielleicht stillegen. In jedem Falle kommt von der stärker begehrten Ware auf die Dauer mehr auf den Markt, und der Preis sinkt, und von der weniger begehrten Ware kommt weniger auf den Markt, und der Preis steigt. Und das setzt sich im Zusammenhang aller Märkte soweit durch, bis zuletzt an allen Waren aller Art ungefähr gleiche Gewinne gemacht werden. Gleiche Gewinne? Was heißt das? Das bedarf noch einer näheren Auseinandersetzung. Es kann natürlich nicht heißen: gleiche Gewinne an jedem einzelnen Stück der Ware. Das wäre eine komische Gleichheit! Ein Beispiel wird uns das wieder klar machen. Hier sind zwei Fabriken von gleicher Größe, von gleichem Wert der Anlagen (der Bauten, Maschinen usw.) mit der gleichen Zahl von Arbeitern. Die eine stellt jährlich 1.000 Luxusautomobile her, die andere 100 Millionen Stecknadeln. Wird der Fabrikant an jeder Stecknadel soviel Gewinn haben können, wie der andere an jedem Auto? Dann würde er ja hunderttausendmal soviel Gewinn haben als dieser. Das aber macht gerade die freie Konkurrenz unmöglich. Wenn an Stecknadeln auch nur merklich mehr verdient würde, als an Autos, so würden die Stecknadelfabriken sich immer mehr und mehr vergrößern, immer neue würden entstehen, und der Preis würde tiefer und tiefer fallen - bis wohin? Bis der Gesamtgewinn, berechnet auf das Jahr, des einen Fabrikationszweiges oder Handelszweiges nicht höher oder tiefer stünde als der Gesamtgewinn aller anderen Zweige.

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Was ist denn nun aber das: der Gesamtgewinn eines Jahres? Er heißt mit einem anderen, bekannteren Namen: das Einkommen. Die freie Konkurrenz strebt („tendiert") also dahin, daß auf die Länge der Zeit, und im Durchschnitt alle Einkommen aller Mitglieder der Wirtschaftsgesellschaft gleich groß sind. Ganz kann sie das Ziel nicht erreichen. Es bleiben immer gewisse Verschiedenheiten des Einkommens bestehen, die dem verdankt sind, was man in der Kunstsprache der Wissenschaft die „Qualifikation" nennt. Wir wollen dieses Wort ins Deutsche übersetzen: wirtschaftliche Tüchtigkeit. Die Menschen sind verschieden an körperlicher Kraft, an Verstand, an Mut und Willensstärke, an sittlicher Enthaltsamkeit. Selbstverständlich muß der Starke mehr als der Schwache, der Kluge mehr als der Dumme, der Mutige mehr als der Feige, der Willensstarke mehr als der Energielose verdienen. Orientieren wir uns wieder an Beispielen. Hier sind zwei Steinträger an einem Bau. Sie arbeiten im Akkord: soundso viel für je 100 Steine. Der eine ist ein junger Athlet, der andere ein älterer nicht besonders kräftiger Mann. Der junge leistet das Doppelte und bekommt natürlich den doppelten Akkordlohn. Oder: hier sind zwanzig Küfer in einer Weinkellerei oder zwanzig Brauknechte in einer Brauerei. Nur einer von ihnen hat die „Weinzunge" oder „Bierzunge": die Fähigkeit, schon im Most oder in der Gärung zu erkennen, was aus dem Stoff werden wird. Die Begünstigten allein steigen empor, die anderen bleiben lebenslang unten. So ist auch ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Maler oder Schauspieler tüchtiger als seine Mitbewerber, und darum ist sein Einkommen größer. Die freie Konkurrenz führt also dahin, daß auf die Dauer und den Durchschnitt alle Menschen von gleicher wirtschaftlicher Tüchtigkeit des gleichen Einkommens genießen, während Menschen von geringerer Tüchtigkeit ein geringeres, von größerer Tüchtigkeit ein größeres Einkommen haben. Bis hierher besteht volle Ubereinstimmung. Was wir hier vorgetragen haben, ist die klassische Lehre von der Konkurrenz, die niemals bezweifelt werden konnte und niemals bezweifelt worden ist. Aber hier scheiden sich die Wege. Die bürgerliche Wissenschaft behauptet nämlich, die Unterschiede der wirtschaftlichen Tüchtigkeit seien so ungeheuer groß, daß sich daraus die ungeheuren Unterschiede des Einkommens und Vermögens erklären, die wir am Kapitalismus beobachten und beklagen. Wir wissen bereits, daß diese Behauptung falsch ist. Wenn sie richtig wäre, so hätten sich sehr beträchtliche Unterschiede des Einkommens und Vermögens auch in jenen Gesellschaften vorfinden müssen, die auf frei zugänglichem Boden standen. Wir wissen, daß das nicht der Fall war. Die Unterschiede waren sehr gering, ja, wir haben erfahren, daß unter diesen Verhältnissen wirklich freier Konkurrenz die aus der Vorzeit noch vorhandenen gewaltgeschaffenen Verschiedenheiten von Einkommen und Vermögen schnell verschwanden. Dennoch werden wir weiter unten diese bürgerliche Auffassung noch eingehend betrachten und widerlegen. Hier wollen wir uns nicht in der Darstellung der Gesetze der Konkurrenz aufhalten lassen und, fortfahrend, die wahre Ursache der krassen kapitalistischen Unterschiede der Einkommen und Vermögen bloßlegen, wieder in Übereinstimmung mit der klassischen Wissenschaft: Sie hat von allem Anfang an klar erkannt und ausgesprochen, daß es eine Fessel der freien Konkurrenz gibt, die sie verhindert, die Ausgleichung der Einkommen entsprechend der Tüchtigkeit herbeizuführen. Diese Fessel ist das Monopol. Was ist das: das Monopol? Wir haben oben die Wagnersche Formel angeführt: „Freie Konkurrenz besteht dort, wo jeder, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf." Wo er es nicht kann, besteht ein natürliches, wo er es nicht darf, besteht ein rechtliches Monopol. Mit anderen Worten: freie Konkurrenz ist nur dort gegeben, wo kein Monopol besteht. Umgekehrt besteht ein Monopol immer darin, daß die freie Konkurrenz gefesselt, d. h. eingeschränkt, im

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äußersten Falle völlig aufgehoben ist. Die beiden Begriffe schließen einander aus, wie etwa Mann und Weib, Pflanze und Tier, Leben und Tod. Wie wirkt nun das Monopol auf die Einkommen? Auch darüber besteht volle Einigkeit. Während bei freier Konkurrenz auf die Dauer und im Durchschnitt jedermann beim Tausch von Ware gegen Ware genausoviel an Wert erhält, wie er hingibt, ist diese Gleichheit beim Tausch unter einem Monopolverhältnis nicht mehr vorhanden. Der Monopolist erhält mehr als den Wert dessen, was er gibt, sein Tauschpartner erhält weniger an Wert. Auf diese Weise ist der „Mehrwert" auf das allereinfachste abgeleitet, sobald man nachweisen kann, daß die Arbeiter den Kapitalisten gegenüber in einem Monopolverhältnis stehen. Und dieser Nachweis ist leicht zu erbringen. Bevor wir weitergehen, muß noch betont werden, daß der Monopolist sowohl als Verkäufer, wie als Käufer auftreten kann. Im ersten Falle erhält er mehr Geld als den Wert seiner Ware, im zweiten Falle bekommt er für sein Geld mehr Ware, als er bei freier Konkurrenz erhalten würde. Um für den ersten Fall ein charakteristisches Beispiel zu bringen, so ist Aspirin nichts anderes als Acetyl-Salicylsäure. Dieser Stoff kostet unter diesem Namen genau die Hälfte dessen, was Aspirin kostet. Die Bezeichnung „Aspirin" ist nämlich mustergeschützt, und d. h., sie erfreut sich eines rechtlichen Monopols. Niemand darf ohne Erlaubnis des Fabrikanten den Stoff unter dem Namen Aspirin verkaufen. Das ist also ein Fall von Verkaufsmonopol. Ein Einkaufsmonopol liegt ζ. B. dann vor, wenn die Webermeister eines Bezirkes an niemand anders ihre Ware verkaufen können als an einen einzigen Verleger: der Dreißiger aus Hauptmanns „Webern"! Dann kann er den Preis für die Ware, die er kauft, und damit das Einkommen seiner Opfer bis unter das Existenzminimum drükken. Es wird sich herausstellen, daß die Arbeiter im Kapitalismus unter dem gleichen Einkaufsmonopol leiden, nur mit dem ganz bedeutungslosen Unterschied, daß sie ihren Monopolisten keine stofflichen Güter, sondern Arbeit, wissenschaftlich gesprochen: „Dienste" verkaufen. Eine Gesellschaft völlig und restlos freier Konkurrenz ist unmöglich. Immer werden einige natürliche und sogar wahrscheinlich immer einige nützliche rechtliche Monopole vorhanden sein. Aber sie sind völlig harmlos, sie können die Harmonie des Ganzen nicht stören, sie können keine krassen, klassenbildenden Verschiedenheiten des Einkommens und Vermögens herbeiführen: Ein natürliches Monopol besitzt ζ. B. der Eigentümer eines Weinberges, auf dem ein besonders berühmtes Gewächs erzeugt wird. Niemand kann mit ihm konkurrieren, denn niemand kann echten Johannisberger Kabinettwein außer auf dem einen Acker erzeugen, zu dem nur der Besitzer Zugang hat. Ein natürliches Monopol haben ferner die glücklichen, die ein altes Werk von der Hand eines längst verstorbenen Meisters besitzen. Niemand kann heute einen echten Phidias oder Michelangelo oder eine echte Amatigeige erzeugen: denn diese Meister sind seit Jahrhunderten Staub und Asche. Aber aus solchem Eigentum allein kann auch niemals Großeinkommen hervorgehen. Dasselbe gilt für die nützlichen Rechtsmonopole, für Patente, Musterschutz, Autorenschutz usw. Sie sind nützlich, weil sie den Erfindergeist anlegen und belohnen, und weil sie nach Ablauf der Schutzfrist verschwinden; dann sinkt der Preis auf den der freien Konkurrenz herab, weil jetzt der Wettbewerb frei ist, und den Vorteil haben alle Konsumenten. Von diesen Monopolen dürfen wir also ruhig absehen. Die soziale Harmonie und die Gleichheit der gesellschaftlichen Lage wird nicht dadurch geschädigt, daß ein Liebhaber für eine Flasche Edelwein 10 Mark zahlt, die, objektiv geschätzt, vielleicht nur 3 Mark wert ist. Und sie wird ebensowenig geschädigt, wenn ein Patient lieber für „Aspirin" 1 Mark als für Acetyl-Salicylsäure 50 Pfennige bezahlt, weil er zu „Aspirin" größeres Vertrauen hat. Es gibt aber Monopole von ungleich größerer Gefährlichkeit und Wirksamkeit, Monopole, die die Gleichheit auf das schwerste stören und auf die Dauer die soziale Harmonie, ja sogar den sozialen Körper selbst zerstören. Der Leser, der uns bis hierher verständnisvoll gefolgt ist, erwartet jetzt bereits die richtige Lösung. Und in der Tat: die Bodensperre stellt ein ungeheures Monopol dar. Ein Einkaufsmonopol ge-

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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genüber den Landarbeitern, nicht minder drückend und ausbeuterisch als das Einkaufsmonopol des Verlegers gegenüber den armen Webern Schlesiens. Es handelt sich hier darum, eine bestimmte, geschichtlich gegebene Lage in einem nationalökonomischen Begriff auszudrücken. Die Lage ist dem Leser bekannt: Lange bevor der industrielle Kapitalismus entsteht, hat der agrarische Kapitalismus bestanden. Wo die Arbeiter unfreie Leibeigene sind, wie in Ostdeutschland, Österreich, Polen, Rußland usw., da sind sie einfach rechtlich, kraft Verfassung, gezwungen, ihren besonderen Grundherren Dienste zu leisten, für die sie kaum die nackte Lebensnotdurft erhalten. Wo sie aber wie in England zwar persönlich frei, aber dennoch tatsächlich an die Scholle gebunden sind, da haben sie allenfalls die Wahl zwischen ein paar Grundherren des gleichen Kirchspiels. Derart ist gewiß hier auf beiden Seiten Konkurrenz vorhanden, aber dennoch „ist die Konkurrenz überwiegend auf einer Seite", wie die klassische Theorie sagt. Denn erstens steht eine sehr große Menge von Landarbeitern wenigen Grundherren gegenüber, die sich außerdem in aller Regel leicht über die Lohnsätze verständigen, und zweitens sind diese Arbeiter in der bedrängtesten Lage, die sich überhaupt vorstellen läßt. Sie besitzen nichts anderes als ihre Arbeitskraft; sie sind daher gezwungen, diese ihre einzige Ware sofort und zu jedem Preise zu verkaufen, weil sie sonst mit den Ihren hungern und sehr bald verhungern müßten. Die Herren aber haben außer ihrem Grundbesitz in der Regel ein bedeutendes Vermögen und jedenfalls Kredit genug, um es lange aushalten zu können; und sie könnten schlimmstenfalls ein genügend großes Stück ihres Großgrundbesitzes mit Streikbrechern oder gar mit eigenen Kräften, vielleicht unterstützt von einer „Technischen Nothilfe" ihrer Klasse, selbst bebauen und hätten derart, wenn auch vielleicht notdürftiger, zu leben. Diese beiden Bedingungen bedeuten, daß auf Seiten der Landarbeiter, trotz allen ihren Gewerkschaften, eine bedeutend „größere Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" besteht; und wo das der Fall ist, auf längere Dauer der Fall ist, da besteht nach der klaren Darlegung aller großen Autoritäten eben - ein Monopol. So ist das Besitzeinkommen der großen Grundherren1 unzweideutig als das Ergebnis eines Einkaufsmonopols gegenüber ihren Arbeitern aufgeklärt. Der Landarbeiterlohn ist also unzweifelhaft ein „Monopollohn", d. h. ein Lohn, der um den Monopolgewinn gekürzt ist. Sobald nun die Freizügigkeit hergestellt ist, und das ist das Werk der städtischen Industriellen, die größere Freiheit der Konkurrenz brauchen, strömen die Arbeiter nach dem Goltzschen Gesetz in ungeheuren Massen ab, auswandernd ins Ausland, solange, wie dort die Bodensperre noch nicht alles Land für den kapitallosen Mann unzugänglich gemacht hat, - und abwandernd in die Städte und Industriebezirke. Jetzt zum erstenmal ist der Arbeiter völlig „frei" im Sinne jenes Marxschen Kernwortes. Er ist politisch frei: er kann sich jetzt seinen Arbeitsherrn unter vielen Tausenden aussuchen. Aber er ist nach wie vor wirtschaftlich „frei", d. h., ledig von allen Mitteln, um als Selbständiger seine Arbeitskraft zum eigenen Vorteil auszunutzen. Er befindet sich gegenüber den Besitzern der städtischen Produktionsmittel, den „Kapitalisten" im engeren Sinne, genau in der gleichen Lage wie früher gegenüber seinem Grundherren. Da er keinerlei eigene Produktionsmittel besitzt, muß er auch hier verhungern, wenn er nicht Zugang zu den Produktionsmitteln erlangt, die dem Kapitalisten gehören. Er muß ihnen seine Arbeitskraft im Tausch gegen Lohngeld anbieten,

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Wir können hier davon absehen, daß ihnen auf besserem Boden und in günstigerer Verkehrslage über diesen, ihren Arbeitern abgepreßten Mehrwert noch ein zusätzlicher Gewinn zufließt, weil sie ihr Produkt mit geringeren Kosten auf den Markt liefern können: die sogenannte „Grundrente". Großeinkommen aus Grundrente kann offenbar nur dort entstehen, w o großer Grundbesitz besteht; bei gleichmäßiger Verteilung des Landes an Bauern würde dieses Zusatzeinkommen nur sehr klein sein, ein geringer Vorteil aus einer Art von „natürlichem Monopol", und auf die Dauer würde dieses Einkommen in viele winzige Teile zersplittern, weil die Erben des Eigentümers ihren Teil, in der Regel in Gestalt von Hypotheken, in Anspruch nehmen würden, oder weil diese bevorzugten Grundstücke unter die Erben verteilt würden.

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und hier befindet er sich in ganz der gleichen „überwiegenden Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses". Denn auch der Kapitalist hat Vermögen und Kredit und kann es sehr viel länger aushalten als der Arbeiter. Derart werden jetzt auch die produzierten Produktionsmittel zu einem Monopol, zu gerade einem solchen sekundären Monopol wie das Großgrundeigentum im Kolonialgebiet, das auch nur entstehen konnte und bestehen kann dank der Massenzuwanderung habeloser Landproletarier aus den Gebieten des primären Monopols der Bodensperre. Noch eines dritten sekundären Monopols ist hier zu gedenken, das namentlich den Arbeiter mit furchtbarer Härte trifft: des städtischen Bodenmonopols. Dieses wenigstens wird sogar auch von den meisten bürgerlichen Autoritäten der Neuzeit als ein Monopol anerkannt. Es verdankt seine Entstehung und seinen Bestand auch wieder keiner anderen Ursache als der Abwanderung aus dem Gebiet des primären Monopols der Bodensperre. Die Spekulation mit den städtischen „Terrains" ist nur dort möglich, wo eine massenhafte Zuwanderung stattfindet: und Massen sind heutzutage immer proletarisch. Wer heute Land auf Spekulation „hinlegt", muß erstens schon ein Kapitalist sein, der es sich leisten kann, jahrelang auf die Zinsen seines Anlagekapitals zu verzichten. Und zweitens muß er darauf rechnen können, daß sein Geld mit Zinseszins und Gewinn in verhältnismäßig kurzer Zeit dadurch hereinkommt, daß das Land notwendig für den Wohnungsbedarf der, durch die Zuwanderung stark vermehrten, Bevölkerung auch wirklich gebraucht wird. Wenn es länger dauert, so wird es ein Verlustgeschäft. Denn ein Kapital verdoppelt sich zu 5% bekanntlich erst in 14 1/5 Jahren, aber dann steigern sich die Summen ins Ungeheuerliche. Schon nach 50 Jahren ist das Anlagekapital auf das llfache, nach 80 Jahren auf das 50fache, nach 100 Jahren auf das 131fache gestiegen, bei 6% gar auf das 340fache. Dazu kommen die jährlichen Kosten für Umzäunung und Bewachung und in der Regel noch für Steuern. Es ist klar, daß gerade der scharf rechnende Kapitalist ein solches Geschäft nur macht, wenn er nach den bisherigen Erfahrungen sicher sein kann, daß es in absehbarer Zeit abgewickelt werden kann. Das aber ist der Fall, solange die Zuwanderung im gewohnten Maßstabe andauert: und darum wird der Arbeiter nicht nur als Produzent von seinem Kapitalisten besteuert, sondern auch als Konsument, als Wohnungsinhaber, von seinem städtischen Grundherrn. Wir sagen ausdrücklich nicht: von seinem Hausbesitzer; denn dieser arme Teufel hat im Kaufpreis des Hauses den Gewinn des Bodenmonopols mitbezahlen müssen und muß ihn aus den Mieten verzinsen. Er hat nichts davon. Damit nicht genug: auch alle Lieferanten des Nichtkapitalisten müssen in ihrer Ladenmiete und Werkstattmiete diesen gleichen Tribut an das sekundäre Bodenmonopol abliefern. Natürlich müssen sie diese Kosten auf die Ware schlagen, und so wird der Konsument noch einmal bei jeder Ausgabe seines Haushaltes mit kleinen Beträgen besteuert, die sich im Laufe des Jahres zu sehr beträchtlichen Summen addieren. Man sieht: alles Übel wächst in der Tat aus der einen Wurzel: aus jenem letzten starken Rest der Eroberungszeit, der die freie Konkurrenz fesselt. Was sagt denn nun die gute Theorie zu dieser Lehre vom Bodenmonopol? Wir wollen auch hier wieder den „Vater der Nationalökonomie" sprechen lassen. Adam Smith schreibt: „Sobald der Grund und Boden Privateigentum wird, fordert der Gutsbesitzer einen Teil fast all der Erzeugnisse, die der Arbeiter auf seinem Boden entweder hervorbringen oder einsammeln kann; diese seine Rente bildet den ersten Abzug von dem Erzeugnis der auf den Boden verwendeten Arbeit." Und an anderer Stelle: „Die Bodenrente (...) ist somit naturgemäß ein Monopolpreis. Sie steht in gar keinem Verhältnis zu dem, was der Besitzer für den Anbau des Landes ausgelegt haben mag, oder zu dem, womit er sich billig begnügen könnte, sondern einzig und allein zu dem, was der Pächter zu bezahlen imstande ist." Und in unmittelbarer Anwendung auf das große Grundeigentum schreibt er klipp und klar, „daß es den Monopolpreis nicht länger behaupten könnte", wenn es verteilt würde.

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Sozialismus"

Um nur einen, freilich einen der bedeutendsten, Vertreter der späteren bürgerlichen Nationalökonomie anzuführen, so erklärt Wilhelm Lexis unumwunden: „Der großkapitalistische Unternehmer hat seinen Arbeitern gegenüber eine Art von Einkaufsmonopol im Bezug der Arbeit." Von besonderer Bedeutung für uns ist die Stellungnahme von Karl Marx, nicht nur, weil er zu den größten Nationalökonomen der Welt gehört, sondern vor allem, weil er theoretisch der stärkste Gegner der hier vertretenen Auffassung ist. Er schreibt wörtlich: „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer (das Monopol des Grundeigentums ist sogar die Basis des Kapitalmonopols) und der Kapitalisten." Und so beschreibt er denn auch das gesellschaftliche Verhältnis, in dem der Industriearbeiter seinem Kapitalisten gegenübersteht - er nennt es das „Kapitalverhältnis" - unzweideutig als ein Monopolverhältnis und führt es auf die Bodensperre zurück: „Die Grundlage des gesamten Prozesses bildet die Expropriation der Volksmasse von Grund und Boden. Insofern ist das Monopol des Grundeigentums eine historische Voraussetzung und bleibt fortwährende Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise." Wenn Marx die ihm wohlbekannte Tatsache, daß unter dem Monopolverhältnis nicht Wert gegen Wert, sondern Mehrwert gegen Minderwert getauscht wird, hier beachtet hätte, so hätte er zu unserer Lösung des großen Problems kommen müssen, der er näher war als irgendein anderer. Wir erinnern an das Unglück des Herrn Peel am Schwanenfluß. Aber leider hat er bei der grundsätzlichen Ableitung des Mehrwertes nicht an das Monopol gedacht und ist so zu unhaltbaren Schlüssen gelangt. Das habe ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt. Und so bleibt es bei dem bloßen Schlagwort, daß der Kapitalist über dem Arbeiter die „Hungerpeitsche" schwingt.

V. Abschnitt: Die bürgerliche Erklärung a)

Liliput und Brobdingnag

Wir haben schon gesehen: die bürgerliche Theorie erklärt die krasse Differenz der Einkommen in der kapitalistischen Gesellschaft aus den Unterschieden der wirtschaftlichen Tüchtigkeit oder Qualifikation. Wenn das überhaupt einen Sinn haben soll, so kann es nichts anderes bedeuten, als daß die Größe der Einkommen im Verhältnis steht (proportional ist) zu der Höhe der wirtschaftlichen Tüchtigkeit. Das zu behaupten heißt nichts geringeres, als zu sagen, daß in unserer Gesellschaft, geistig gesehen, unzählige Däumlinge aus Gullivers Liliput neben einigen turmhohen Riesen aus Brobdingnag leben. Denn die Unterschiede des Einkommens stehen in dieser Proportion: wenn das Einkommen eines schwarzen oder gelben Arbeiters in den Plantagen der Südstaaten Amerikas vielleicht 200 Dollar erreicht, gibt es im gleichen Lande Kapitalmagnaten, die 10 Millionen und mehr Dollar Einkommen haben. Das Verhältnis ist wie 1 : 50.000. Die bürgerlichen Theoretiker berufen sich für diese erstaunliche Behauptung auf die zugegebene Tatsache, daß die wirtschaftliche Tüchtigkeit gewisse Unterschiede des Einkommens erzeugen muß. Aber ihre Aufgabe besteht nicht darin, gewisse, imbestimmte, sondern ganz bestimmte Verschiedenheiten zu erklären. Um sich an einem sehr krassen Beispiel zu orientieren: sowohl ein Maul-

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wurfshaufen, wie der Montblanc sind Hervorragungen über der Ebene. Aber man hat die Höhe des Montblanc noch nicht erklärt, wenn man die des Maulwurfshaufens erklärt hat. Die Behauptung ist an sich ohne weiteres verkehrt. Jedermann weiß, daß das Einkommen der großen Herren im wesentlichen nicht abhängt von ihrer Leistung und wirtschaftlichen Tüchtigkeit, sondern von ihrem Vermögen, und zwar die Höhe der Grundrente von dem Umfang des Grundbesitzes, die Höhe des Kapitalprofites von der Größe des Kapitals. Es ist unbestrittene Tatsache, daß auf die Dauer und im Durchschnitt ein Kapital von 10 Millionen Mark hundertmal soviel Profit abwirft wie ein Kapital von hunderttausend Mark. Das können die Bürgerlichen nicht bestreiten. Sie helfen sich damit, daß sie sagen: ja, aber dieses Vermögen ist eben entstanden durch die überlegene wirtschaftliche Tüchtigkeit der Vorfahren, von denen die jetzigen Besitzer es geerbt haben. Wir wissen bereits, wie es darum bestellt ist. Die großen Vermögen sind fast durchweg ganz anderen Eigenschaften und Leistungen verdankt als wirtschaftlicher Tüchtigkeit im Dienste der Gesamtheit. Wir haben die Tatsachen, und wir haben die Autoritäten über die Tatsachen kennengelernt. Hier soll nur noch einmal ein besonders drastischer Ausspruch eines sehr bedeutenden bürgerlichen Theoretikers hergesetzt werden, Schäffles, eines Mannes, der aller sozialistischen Neigungen durchaus unverdächtig ist, des Verfassers der sehr bekannt gewordenen Schrift „Die Aussichtslosigkeit des Sozialismus" (die Hermann Bahr mit einer Gegenschrift „Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle" beantwortete). Er schreibt: „Das Erbe ist vom Standpunkt des Erben nicht Arbeitsprodukt. Zweitens aber beruhen Millionen neuen und alten Vermögens auf Gewalt, Herrschaftsmißbrauch und neuerlich auch auf großartigem Betrug. Man wird die unbefangene Welt nicht überzeugen, daß die an der Börse gewonnenen Millionen gewisser Cäsaren, Herren, Generäle, Minister, Bankiers und Jobbers reines Arbeitsprodukt sind." Damit ist also auch nicht viel anzufangen. Nun verweist man freilich auf die nicht seltenen Fälle, wo geniale Handwerker, Künstler, bedeutende Arzte, Anwälte usw. durch reinen Arbeitsverdienst zu großem Einkommen gelangt sind. Richtig! Hier aber handelt es sich darum, den Ursprung der kapitalistischen Verteilung aufzudecken, und nicht darum, Dinge zu erklären, die erst im entfalteten Kapitalismus möglich sind. Es hat ganz sicherlich schon vor den Fuggern geniale Kaufleute in Deutschland gegeben: dennoch konnten erst die Fugger zu Multimillionären werden, weil sie Mehrwert akkumulieren konnten. Es hat ebenso in der Neuzeit ganz sicherlich vor den Krupp, Stumm, Heckmann geniale Handwerker gegeben: aber erst diese konnten Mehrwert akkumulieren, aus den daran gemachten Ersparnissen immer neue Maschinen aufstellen, an denen immer mehr Arbeiter beschäftigt wurden und immer mehr Mehrwert erzeugten. Und ganz so steht es mit den großen Künstlern, Ärzten usw. Sie können die Riesenhonorare nur von einer schon vorhandenen überreichen Klasse erhalten, die bereits dem Kapitalismus ihre Entstehung verdankt. Was sie bekommen, ist nichts als Mehrwert, der in ihre Kassen abgeleitet wird. Ganz das gleiche gilt für die Riesengehälter der neuzeitlichen Bankdirektoren, Industrieführer und Aufsichtsräte, selbst wenn es sich einmal nicht um die Löwenanteile am Ertrage der Unternehmungen handelt, die das Großkapital seinen Söhnen und Schwiegersöhnen zuzuschieben liebt, bevor der Aktionär seine Dividende erhält. Schließlich widerspricht die ganze Auffassung auf das krasseste der von niemand bestrittenen Grundlehre, daß grobe Unterschiede des Einkommens und Vermögens erst entstehen können, wenn alles Land, und zwar bei freier Konkurrenz ausschließlich durch selbständige Bauern, besetzt ist. Wir wissen, daß diese Voraussetzung noch heute bei weitem nicht gegeben ist, wir kennen die Geschichte der Bodenteilung zur Genüge. Aber von Geschichte will die bürgerliche Wissenschaft durchaus nichts wissen. Sie sperrt sich gegen jede Berührung damit geradezu jungferlich, und in der

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Tat, sie will ihre Unschuld nicht verlieren. Die Geschichte mag gewesen sein, aber das hat den Theoretiker nicht zu kümmern. Er nennt das „reine Ökonomie". Unter diesen Umständen könnte man darauf verzichten, die Frage überhaupt zu stellen, wie groß die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Tüchtigkeit ist, und welche Verschiedenheiten des Einkommens sich dadurch rechtfertigen ließen. Aber wir wollen dennoch einige Worte dazu sagen: Wir wissen aus der Geschichte der freien Kolonien, daß die Unterschiede des Einkommens außerordentlich gering sind, und können daraus rückwärts schließen, daß auch die Unterschiede der wirtschaftlichen Tüchtigkeit ebenso gering sind. Und das entspricht auch durchaus allen Erfahrungen, die wir über meßbare Verschiedenheiten menschlicher Eigenschaften besitzen. Wenn wir von Abnormitäten absehen, so ist der größte Mann entfernt nicht doppelt so groß wie der kleinste; ein Mann von 160 cm erscheint uns bereits als klein, einer von 180 cm als groß, eine Differenz von 10 bis 12%. Die kleinen Ureinwohner der Kongowälder mit einer Durchschnittsgröße von etwa 120 cm erscheinen uns bereits als „Zwerge", die Polynesier mit 190 cm bereits als „Riesen". Ahnlich steht es mit der Muskelkraft, der Sinnesschärfe und mit der Fähigkeit der Willensanspannung, die gewiß ein bedeutender Bestandteil der wirtschaftlichen Tüchtigkeit ist. Wir dürfen nicht annehmen, daß die Differenzen der geistigen Begabung unendlich viel größer sind. Es wäre eine völlig willkürliche Annahme. Was demnach bei völlig freier Konkurrenz an solchen Unterschieden des Einkommens übrig bleibt, die in Wahrheit der Verschiedenheit der wirtschaftlichen Tüchtigkeit ihre Entstehung verdanken, ist nicht nur gerecht, nicht nur harmlos, sondern für die Gesellschaft nützlich. Die Aussicht, durch volle Anspannung das Körpers, des Willens und des Geistes sich über die Masse um ein weniges emporzuheben, ist der Sporn des Wettbewerbes und der allmächtige Motor der Erfindung und mit ihr des Reichtums. Nicht nach grobem Sinnengenuß strebt der Mensch, der so handelt, sondern vor allem nach Geltung unter seinesgleichen, nach bürgerlicher Ehre. Auch sein höherer Wohlstand dient fast nur diesem Zweck: er zeigt hier, und in unserer Gesellschaft fast allein, seine wirklich überlegene Tüchtigkeit an. Reichtum ist wie Rauchtabak: er schmeckt nicht im Dunkeln. Und die Mitmenschen geben dem verdienten Manne mit Freuden nicht nur die höhere Ehre, sondern auch den höheren Wohlstand. Er gibt ihnen, als der Gruppe, die höhere Geltung, die sie geradeso im Wettbewerb mit allen anderen Gruppen erstreben, und darum lieben sie es, ihn sichtbar aus sich herauszuheben, geradeso, wie sie willig und freudig beisteuern, wenn es gilt, die schönste Kirche oder das schönste Rathaus zu erbauen. Und sogar heute noch, in der Verwirrung dieser schwerkranken Zeit, wird so leicht niemand seinem Arzte oder Anwalt, wird sogar kaum jemand dem geliebten Kinostar oder Boxerchampion sein Einkommen mißgönnen. Diese Art der Verteilung verwirklicht die Gerechtigkeit mindestens so vollkommen, wie der Kommunismus, wenn er überhaupt möglich ist, und erreicht so, mit den Mitteln des Liberalismus, das eine Ziel des Sozialismus; das zweite, des großen Reichtums der Gesellschaft, erreicht diese Axt der Verteilung bestimmt viel vollkommener. Man wende nicht ein, die Rieseneinkommen von heute seien nötig, um den Wirtschaftsführern die nötige Schwungkraft zu verleihen. D. h. den Menschen verleumden. Der Reichtum ist nicht sein Ziel, sondern nur sein Mittel, sich auszuzeichnen, unter den Seinen Hochgeltung zu gewinnen. Gerade die größten Industrieführer leben oft wie Asketen (Büsser). Wie wenig jene Meinung berechtigt ist, beweisen die Erfahrungen der gewaltigen chinesischen Genossenschaften. Ihre Führer sind sehr gering besoldet, und dennoch verging der besonders gewalttätige russische Kapitalismus überall, wo sie mit ihnen zusammentreffen, vor ihnen wie Schnee an der Sonne. Die einzige Frage, die hier interessiert, ist die, ob die Differenzen des Einkommens in der Gesellschaft der freien Konkurrenz klassenbildend wirken können. Das ist, wie wir wissen, unter allen Umständen so lange ausgeschlossen, wie nicht aller Grund und Boden des Planeten unter Ausschluß des großen Grundeigentums voll besetzt ist. Aber selbst wenn wir diese Voraussetzung fallen lassen:

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Genie ist nur selten erblich, und im Laufe weniger Geschlechter muß sogar ein beträchtliches Erbvermögen in so kleine Teile zerfallen, daß sie im Vergleich zu dem allgemeinen Reichtum kein Gewicht mehr haben. Und außerdem und vor allem: in allen Gesellschaften der sozialen Gleichheit fordert man von dem Begünstigten mehr als von allen anderen, und er fügt sich, weil er nur so das Ziel seines Strebens, die bürgerliche Hochgeltung, erreichen kann. Das ist bei allen Naturvölkern der Fall, von denen uns genauere Nachrichten zugegangen sind. Bei den Eskimo ζ. B. darf niemand mehr als zwei Boote besitzen; das dritte wird ihm abgeliehen, und niemand denkt daran, es zurückzugeben. Besonders interessant ist bei den sehr kriegerischen und räuberischen Masai in Zentralafrika eine durch ihr Religionsgesetz vorgeschriebene Pflicht. Wenn einer aus dem Stamme durch eine Seuche oder durch feindlichen Raub seine Herde verliert, so muß ihm jeder Genösse ein fehlerloses Rind zum Geschenk machen. Damit ist die Gleichheit wieder hergestellt. Und überall müssen die Häuptlinge bis zur Verarmung Gastfreundschaft üben und Geschenke austeilen. In Summa: große Unterschiede des Einkommens sind hier unwahrscheinlich, grobe klassenbildende Unterschiede des Vermögens können hier nicht entstehen. Und nur darauf kommt es an.

b)

Malthus

Die bürgerliche Nationalökonomie bedarf noch eines zweiten Bestandteiles. Bisher hat sie nur „erklärt", daß krasse Unterschiede des Einkommens und Vermögens entstehen müssen, aber noch hat sie nicht erklärt, warum das Einkommen der großen Masse so betrübend niedrig ist. Wenn nur die wirtschaftliche Tüchtigkeit entschiede, so könnten ebensogut alle in leidlichem Wohlstand leben, und nur die großen Tüchtigen würden hoch darüber emporragen. Wie erklärt sie nun den verbreiteten Pauperismus (Armut). Mit dem Malthusschen Bevölkerungsgesetz! Eine andere Erklärung hat sie nicht. Und darum hält sie verzweifelt daran fest, obgleich diese Lehre nicht nur längst widerlegt, sondern geradezu demoliert ist. Malthus sagte folgendes: Die Menschen haben die Tendenz, schneller zu wachsen, als die Lebensmittel. Aus diesem Grunde muß die große Masse ständig an der Grenze des Elends balancieren, und dennoch müssen Jahr für Jahr Unzählige durch Laster, Seuchen und Krieg „ausgejätet werden", weil „am Tische des Lebens für sie kein Gedeck aufgelegt ist". Wir können uns die theoretische Widerlegung hier sparen. Das Bevölkerungsgesetz wird gerade jetzt vor unseren Augen durch die Tatsachen einleuchtender widerlegt, als alle Theorie vermöchte. Wir haben in der Welt Arbeitslosigkeit und grauenhafte Armut, wie sie vorher nie erhört waren und dieses Elend beruht in letzter Linie darauf, daß die Lebensmittel viel schneller gewachsen sind als die Zahl der Menschen. Die neuere Technik, vor allem der Mähdrescher, haben alle Rohstoffe in so ungeheurem Maße vermehrt, daß sie tief im Preise gesunken sind. Die Produzenten von Weizen, Kaffee, Gummi, usw. leiden auf das schwerste, können keine Industrieprodukte kaufen, und daran geht wieder die Industrie zugrunde, und verkommen die Arbeiter. Es ist unnötig, mehr über diesen Gegenstand zu sagen.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

VI. Abschnitt: Das Aktionsprogramm a)

Weder Faszismus 1 - noch Kommunismus

In Deutschland nach dem Zusammenbrach, etwas später in Großbritannien, hat die Mehrheit der Wähler der Partei des Sozialismus das Mandat (den Auftrag) gegeben, die Welt neu zu ordnen. Sie hat hier wie dort versagt. Wenig ist gebessert, vieles ist verschlechtert worden, solange sie die Macht hatte. In Rußland hat die Partei des Sozialismus den Versuch unternommen, die Welt zu verändern. Ist er geglückt? Die Freunde der Sowjets sagen ja, die Gegner sagen nein, die große Masse wartet unentschieden ab, immer ungeduldiger, immer zweifelnder. Ein volles Jahrzehnt hat das kommunistische System Zeit gehabt, seine Segnungen zu entfalten, das Jahrzehnt, seitdem die letzte weißgardistische Revolution niedergeschlagen wurde. Es hat zweifellos Großartiges geleistet, es hat vor allem die Seele des ungeheuren russischen Volkes von den dumpfen Zwängen erlöst, die sie fesselten, hat ihm einen neuen Glauben, eine neue große Hoffnung gegeben. Es hat weiterhin technisch Gewaltiges geschaffen: aber Technik ist nicht Wirtschaft, und noch muß man fragen, ob es gelingen wird, den russischen Menschen besser und reichlicher mit allen Gütern der Notdurft, des Behagens und der Kultur zu versorgen, als das in den vorgeschrittensten kapitalistischen Ländern in ihren besten Zeiten geschehen ist. Denn das hat der Kommunismus seinen Anhängern zugesagt, und das muß er halten, wenn er bestehen will. Bisher ist der gigantische Versuch nur durchgeführt worden unter den schwersten Verzichten und Opfern der Volksmasse, und die offiziellen Kundgebungen der Regierung geben nicht die Sicherheit, daß es bald und entscheidend anders werden wird. Nur ihnen dürfen wir trauen, und auch nur dann, wenn sie Ungünstiges berichten. Immer wieder hören wir, daß Voranschläge nicht eingehalten werden, daß nicht einmal die riesigen Getreidefabriken immer befriedigend arbeiten, und daß dennoch der Viehstand Rußlands reißend zusammengeschrumpft ist. Wir erfahren, daß die Waren, die im freien Handel vertrieben werden, nur zu ungeheuren Preisen zu haben sind, zu Preisen, die in gar keinem Verhältnis zu dem Einkommen der Bedürfenden stehen. Wir erfahren immer wieder, daß in dem Apparat der zahllosen Beamten Unzulänglichkeiten und, schlimmer, Unredlichkeiten die Erreichung der gesetzten Ziele verhindern. Aber nehmen wir selbst an, daß das Experiment in Rußland schließlich doch noch befriedigend glücken wird: dann ist noch nicht bewiesen, daß es auch in Deutschland, auch in England und Belgien und den anderen kapitalistischen Ländern glücken müßte. Rußland war zur Zeit seiner Revolution fast durchaus noch ein Bauernland, bewohnt von Menschen, die durch eine jahrhundertelange Tyrannei gezähmt, die unendlich bedürfnislos waren. Sie hatten nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Aber in den anderen europäischen Staaten und in Amerika würden sich dem Kommunismus außer den Kapitalisten und ihren Garden auch die Bauern gegenüberstellen, die viel zu verlieren haben und nicht sicher sind, etwas zu gewinnen. Und weiter. Rußland konnte nicht tödlich getroffen werden, wenn auch der größte Teil der städtischen Bevölkerung verdarb und verhungerte; die Bauern konnten zur Not ohne städtische Erzeugnisse existieren. Aber in Deutschland leben siebzig Prozent aller Menschen in den Städten; in Deutschland kann der viel verwöhntere Bauer die städtischen Erzeugnisse weder für seinen persönlichen Verzehr, ζ. B. Kleidung, noch für seinen Betrieb, ζ. B. Kunstdünger, Kraftstoff, entbehren: hier würde der Versuch der gewaltsamen Einführung des Kommunismus einen Bürgerkrieg entfesseln müssen, der das Land zur menschen-

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[Oppenheimer benutzt den Begriff Faszismus statt dem später üblichen Terminus Faschismus; A.d.R.]

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leeren Wüste machen würde. Und am schlimmsten würden die städtischen Arbeiter zu leiden haben. Sie hätten weder Arbeit noch Brot, wenn das Land gegen die Stadt aufsteht. Es war schmerzlich, das einzusehen, aber die sozialistischen Parteien in Deutschland und England mußten es einsehen und sich eingestehen, als sie zur Macht gelangten. Aus diesem Grunde haben sie nur wenig von dem geleistet, was das Volk von ihnen erwartete, als es sie berief. Und aus diesem Grunde wuchs die unheilvolle Spaltung, die heute die Volksmasse zur Ohnmacht verdammt, die Spaltung, die heute sogar die alte große Arbeiterpartei in zwei tödlich verfeindete Lager scheidet, und die die verzweifelnden Mittelstände in Stadt und Land und sogar viele Jugendliche der Arbeiterklasse in das dritte, in das größte Lager geführt und der alten Herrenklasse die Möglichkeit gegeben hat, diese riesige Volksströmung noch einmal auf ihre eigenen Mühlenräder zu lenken. Weil die Mächte der Zukunft, des Fortschritts versagt haben, versucht das gequälte Volk es noch einmal mit den Mächten der Vergangenheit, des Rückschritts. Wie ein Kranker, der so lange auf der linken Seite lag, bis sie ihn schmerzte, sich auf die rechte Seite wälzt. Weil man nicht daran glauben kann, daß die Konkurrenz ganz und gar ausgerottet werden kann, will man sie nach Möglichkeit einschränken:

wirtschaftlich in einer Art von Staatskapitalismus, aber

ohne Ausscheidung der Unternehmer und des Erwerbsstrebens, politisch in der Rückkehr zu einer Art von Ständestaat unter der Diktatur des großen Führers. Eine Theorie, die der Rede wert wäre, liegt weder dem Kommunismus, noch den verschiedenen Richtungen des Faszismus zugrunde. Die Sowjets berufen sich ja auf Karl Marx, aber zu Unrecht. E r hat unzweideutig erklärt, daß der kollektivistische Zukunftsstaat erst kommen könne, dann aber auch mit Naturnotwendigkeit kommen werde, wenn die kapitalistische Gesellschaft, und in ihrem Schöße die neue Gesellschaft „ihre volle Reife" erlangt haben werde. Erst müßten alle Mittelschichten enteignet und verschwunden sein; einer geringen Anzahl von Mammutkapitalisten müßten erst alle anderen Menschen als einheitliche, klassenbewußte Proletarier gegenüberstehen. Davon sind wir in Deutschland und sogar in England noch sehr weit entfernt, und noch sehr viel weiter davon entfernt war Rußland, als Lenin ihm den Kommunismus aufzwang. Nein, die Sowjets haben keinen anderen Grund für ihr Vorgehen als ihren Glauben, daß die freie Konkurrenz die allein Schuldige ist. Der Nationalsozialismus aber hat überhaupt keine Theorie, abgesehen von einigen überaus bedenklichen und bestimmt nicht allgemein angenommenen Anschauungen vom Geldwesen und Geldverkehr. Und vielleicht noch abgesehen von den romantischen Phantasien eines bekannten Wiener Professors. Auch hier liegt uneingestanden die Uberzeugung zugrunde, daß die freie Konkurrenz die Schuldige sei, und darum will man sie eben fesseln, will „der Bestie den Beißkorb anlegen". Wir wollen uns nun gar nicht bemühen, die Ansätze von Theorie, die sich vielleicht hier und da finden, unter die kritische Lupe zu nehmen; wir wollen nicht fragen, ob der Kommunismus hier, der Faszismus dort möglich

sind, und d. h., ob sie Systeme darstellen, die auf die Dauer haltbar sind. Sondern wir

wollen einfach und schlicht fragen, ob sie nötig sind. Mit unserem Nachweis, daß die Konkurrenz nicht abgeschafft oder gefesselt, sondern im Gegenteil entfesselt werden muß, sind Faszismus und Kommunismus abgetan. Sie kommen höchstens beide als politische Systeme des Übergangs in Betracht, wenn es nötig sein sollte, die Fessel gegen den Willen der Besitzenden zu zerbrechen. Niemand nämlich wird leugnen, daß eine Gesellschaft der vollen Freiheit und Gleichheit jeder Gesellschaft vorzuziehen ist, in der entweder volle Gleichheit bei voller wirtschaftlicher Unfreiheit, oder eine gemäßigte Ungleichheit bei sehr stark beschränkter wirtschaftlicher Freiheit besteht. Jedes weitere Wort ist überflüssig.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Der dritte Weg

Die bürgerlichen Revolutionen von 1649 in England, 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland und Osterreich, 1905 in Rußland, haben nur halbe Arbeit getan. Die freie Konkurrenz hatte sich im feudalen Raum gegen zwei Institutionen zu entwickeln, die in der Wurzel nur eine sind, Bild und Schrift der gleichen Münze. Die eine war die Unfreiheit in Gestalt der verfassungsmäßigen Standesunterschiede, die andere war die Bodensperre in Gestalt des massenhaften geschlossenen Großgrundeigentums. Jene Revolutionen haben nur die Unfreiheit beseitigt, indem sie die Freizügigkeit herstellten, die tiefste Grundlage aller Freiheit überhaupt. Aber sie haben die zweite jener Institutionen bestehen lassen: die Bodensperre. Die Befreiung der Menschheit wird erst vollendet sein, wenn auch das Land, das Erbe der gesamten Menschheit, die einzige Bedingung aller Selbständigkeit und wirtschaftlichen Freiheit, aus der feudalen Fesselung erlöst sein wird. Dazu bedarf es nur eines: daß dieser neue, dieser dritte Weg von dem ganzen Volke oder wenigstens von seiner großen Mehrheit als der Weg der Rettung anerkannt wird. Dann wird die antikapitalistische Mehrheit, die jetzt schon überall vorhanden ist, zur antikapitalistischen Einheit geworden sein, und diese einige Mehrheit wird ihren Staat mit absoluter Machtvollkommenheit beherrschen und alle Einrichtungen treffen und durchführen können, die sie für nötig hält. Die wichtigste, auf die Dauer die einzige Maßnahme ist selbstverständlich die Zerbrechung der Bodenfesselung, mit anderen Worten: die starke Verkleinerung des noch vorhandenen Großgrundeigentums. Restlose Expropriation ist gar nicht nötig; es genügt vollkommen, einen beträchtlichen Teil der Parzellenund Zwergbauern und vor allem der Landarbeiter zur Selbständigkeit zu führen. Darm wird der Lohn der übrigen so hoch steigen, daß die große Mehrzahl der noch bestehenden Großbetriebe gezwungen sein wird, ihrerseits das Land zu parzellieren oder sich in eine der neuen Zeit angemessene Besitz- und Betriebsweise umzugestalten, wobei die juristische Form, unter der das geschieht, recht gleichgültig ist: es ist dabei durchaus möglich, daß der Besitzer als Leiter des Betriebes auf der Scholle bleibt. Auf welche Weise dieser Teil des Großgrundeigentums befreit und in die Hände der Volksmasse zurückgegeben wird, ist eine verhältnismäßig gleichgültige, rein technische Frage. 1 Wichtig ist nur, daß es auf friedliche Weise geschieht, wenn das irgend möglich ist. Nichts ist böser und teurer als ein Bürgerkrieg; schon um ihn zu vermeiden, soll man den heutigen Erben oder Nachfolgern der alten Feudalgewaltigen willig die letzte Kriegsentschädigung entrichten. Man soll ihnen ihr Land zum vollen Wert abkaufen oder sie auf eine entsprechend bemessene Rente setzen. Nur in dem Falle, daß diese winzige Gruppe von Menschen wahnsinnig genug sein sollte, der Reform bewaffneten Widerstand zu leisten, wird man diesen Widerstand brechen und dann natürlich das Land als Kriegsentschädigung für die Sieger nehmen müssen. Wird, wie zu hoffen ist, solcher Widerstand nicht versucht, dann entspricht es auch der Gerechtigkeit, die gutgläubigen Besitzer anständig zu entschädigen, wenn es sich auch um Besitz handelt, der vor Jahrhunderten durch Gewalt und Rechtsbruch entstanden ist. Was die technische Durchführung anlangt, so wird es vielfach von der ganzen Lage abhängen, ob man sofort selbständige Bauern einsetzt oder einen Teil der Großbetriebe aufrecht erhalten und in gemeinsame Bewirtschaftung der Siedler geben soll. Wo schon ein starkes, aber allzu landarmes Bauerntum vorhanden ist, das durch Landzulagen zum Mittelbauerntum entwickelt werden kann,

1

Dieses Büchlein enthält überhaupt grundsätzlich nur die theoretische schetechnische

L ö s u n g der sozialen Frage. Die

prakti-

L ö s u n g k a n n nur auf ihr beruhen, fordert aber selbstverständlich noch eigene M a ß n a h m e n .

D a s ist aber die Sache des Politikers, des Staatsmanns, nicht m e h r des Gelehrten.

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und in hügeligem Gelände wird sich in der Regel das erste empfehlen, wie auch dort, wo reiche Märkte in der nächsten Nachbarschaft dem Gartenbau und der Erzeugung veredelter Viehprodukte günstige Absatzverhältnisse gewährleisten. In den großen Ebenen und in weniger günstiger Verkehrslage wird die gemeinschaftliche Betriebsform vielfach den Vorzug verdienen, wahrscheinlich am besten in der von mir seit 36 Jahren empfohlenen Gestaltung, daß die gleichen Menschen, die den Großbetrieb bewirtschaften, an dessen Rande eigene kleinere Stellen für sich erhalten. Als Ubergang zur vollen Genossenschaft wird sich wahrscheinlich die von mir befürwortete und praktisch erprobte „Anteilswirtschaft" vielfach empfehlen, bei der eine gemeinnützige Gesellschaft oder eine öffentliche Körperschaft das Risiko des Betriebes solange auf sich nimmt, bis die Arbeiterschaft es selbst übernehmen kann, nachdem der Betrieb auf die nötige Höhe entwickelt ist. Aber das alles sind Sorgen für später. Zunächst handelt es sich lediglich darum, den verfeindeten antikapitalistischen Parteien den Weg glaubhaft zu machen, auf dem sie sämtlich brüderlich zu ihrem gemeinsamen Ziele vordringen können: den dritten Weg. Weitere grundstürzende

Veränderungen

brauchten zunächst nicht einzutreten;

selbstverständlich ist

eine Reform des Zoll- und Steuersystems geboten, die beide heute so gut wie ausschließlich im Dienste der Kapitalistenklasse geordnet sind. Dazu ist die Macht ohne weiteres vorhanden, wenn unsere Voraussetzung zutrifft, daß die Parteien sich auf diesen Weg einigen. Und ohne diese Voraussetzung bleibt ja auch die große Agrarreform frommer Wunsch. Man mag also sofort mit kräftigen Vermögens- und Erbschaftssteuern

das Großeigentum in Land und Stadt angreifen: es wird sich

aber, so müssen wir annehmen, sehr bald herausstellen, daß die Steuern weniger und weniger einbringen. Denn ganz so, wie wir es von jener großen Zeit des deutschen Mittelalters erfahren haben, wird den Besitzenden ihr Eigentum unter der Hand sozusagen verdampfen. Es ist ja kaum mehr als kapitalisierter Mehrwert, und mit dem Mehrwert, der in demselben Maße sinkt, wie die Löhne steigen, schrumpft auch das Kapital. Immerhin ist zu erwägen, ob man nicht sogleich auch die übrigen Naturschätze, die Bergwerke und Wasserkräfte, für den Volksbesitz erwerben sollte. Mehr sollte keinesfalls geschehen, ehe man nicht der nunmehr entfesselten freien Konkurrenz die nötige Zeit gegeben hat, zu zeigen, was sie leisten kann. Insbesondere sollte man sich hüten, in den fein verzweigten und überaus empfindlichen Organismus des Geld- und Kreditverkehrs mit nicht genügend durchdachten Experimenten einzugreifen; es genügt durchaus, wenn man durch Einkommensteuer und Vermögenssteuer allzu hohe Gewinne, die in der ersten Zeit wohl noch möglich sind, für die Gesamtheit einzieht. Der Grundsatz müßte sein: so wenig Eingriffe des Staates wie nur irgend möglich, getreu dem Prinzip, die Konkurrenz völlig zu entfesseln, dem Gewinnstreben der Einzelnen freie Bahn zu geben, aber jetzt zum ersten Male unter gleichen Bedingungen.

Bisher

glich die „Konkurrenz", und das bedeutet wörtlich den Wettlauf, einer Veranstaltung, in der gefesselte Fußläufer mit Reitern auf schnellen Rossen um den Preis zu kämpfen hatten, und noch dazu mit starken Vorgaben für die Reiter. Diese Gesellschaft der voll entfesselten freien Konkurrenz ist in ihrem Mechanismus und ihrer bewegenden Kraft von der unseren nicht unterschieden. Die Kraft ist das Auszeichnungsbedürfnis, das sich auf dem Wege über den Wettbewerb durchzusetzen strebt, ihr Aufbau grundsätzlich ganz der gleiche wie der der kapitalistischen Gesellschaft. Es gibt Groß-, Mittel- und Kleinbetriebe in Landwirtschaft, Handel und Industrie; es gibt Handwerker, Bauern, Kleinhändler in großer Zahl. Es gibt Unselbständige, die als Angestellte und Arbeiter den größeren Betrieben ihre Dienste verkaufen, es gibt Banken aller Größenklassen und aller Arten, Staatsbanken, Privatbanken, Genossenschaftsbanken, Arbeiterbanken, es gibt Börsen für Produkte und Effekten mit ganz dem gleichen Mechanismus von Angebot und Nachfrage, mit Kassa- und Terminhandel, mit Maklern und Agenten. Es gibt Ausübende freier Berufe wie heute: Ärzte, Patentanwälte, konsultierende Ingenieure usw.; es gibt Zeitungen, sogar mit Annoncen, es gibt Versicherungsgesellschaften für alle Risiken, es gibt Sparkassen und Depositenbanken. Nur eins gibt es nicht mehr: massenhaftes geschlossenes

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

Großgrundeigentum in privater Hand. Und darum ist der Nutzeffekt der ganzen Maschinerie ungleich vollkommener. Müssen die Menschen wirklich „Engel" sein, um in dieser Gesellschaft zu leben f! Dennoch, dessen bin ich sicher, wird mir von allen Seiten das Schlagwort entgegengehalten: „Utopie!" Dazu nur zwei Bemerkungen: Erstens: Utopie bedeutet den Glauben an eine unmögliche Gesellschaftsordnung. Nun, dann befinde ich mich in der größten denkbaren Gesellschaft. Denn die meisten heute lebenden Menschen stimmen mit mir dahin überein, daß der Kommunismus, zum wenigsten für entwickelte Verhältnisse, unmöglich ist; - und daß der Kapitalismus, so wie er heute vor uns steht, unmöglich ist, das wagen kaum noch seine bisher leidenschaftlichsten Verfechter zu bestreiten. Zweitens aber: Alle Wirklichkeit ist die Utopie von Gestern. Wir leben in nichts als verwirklichten Utopien. Alle Fabeln der arabischen Märchen sind unsere Wirklichkeit geworden: Wir fliegen schneller als das Zauberpferd, wir sprechen von Erdteil zu Erdteil, wir sehen heute bereits den Menschen, mit dem wir von Europa aus nach Schanghai telefonieren, wir haben Dämonen in unseren Dienst gezwungen, stärker als der Geist der Lampe. Und so wird auch die Wissenschaft nicht leugnen können, daß die Utopie von Heute die Wirklichkeit von Morgen sein wird. Nicht jede Utopie allerdings! Aber die Wissenschaft hat doch allen Grund, die Schreckenskammer nicht um ein neues, besonders blamables Exemplar zu bereichern. Und darum hat sie die heilige Pflicht, diese unsere „Utopie" endlich ohne Voreingenommenheit zu prüfen: Voraussetzungen, Schlüsse, und Tatsachen. Umsomehr, weil jetzt wirklich keine Zeit mehr zu verlieren ist. Wenn auch dieser Weg, der dritte Weg, ungangbar ist, der unser Schiff mitten zwischen Skylla und Charybdis hindurchführen soll, dann bricht das Chaos über uns herein. Ein letzter Versuch, den dem Abgrund zurasenden Rossen unseres Schicksals in die Zügel zu fallen! Wird man mich diesmal hören? Ich weiß es nicht. Aber ich habe wenigstens meine Schuldigkeit getan. Zum Schlüsse seien noch einmal die Hauptergebnisse unserer Betrachtung in kurzen Schlagsätzen zusammengefaßt, die Hauptergebnisse, die gleichzeitig den Hauptinhalt der Wissenschaften von der Gesellschaft bilden sollten und bilden werden, wenn einmal die Wächter an der Zollkontrolle der Wissenschaft nicht mehr „im Irrtum verharren". Staatswissenschaft: im Anfang war die Ungleichheit und Unfreiheit. Theoretische Volkswirtschaft: im Anfang war die Bodensperre. Praktische Volkswirtschaft: wer Bauern schafft, schafft Städte; wer Bauern zerstört, zerstört sie. Politik: wer das Land hat, hat die Macht. Weltgeschichte: der Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit. Erster Sieg: Befreiung des Menschen, zweiter endgültiger Sieg: Befreiung der Erde. Aber: es gibt keinen Sieg ohne Kampf. Bedenkt: es ist fünf Minuten vor zwölf, der Manometer steht auf 99, gleich wird der Kessel platzen. Es geht um unser Leben. Es geht um mehr, es geht um unser Vaterland. Es geht um mehr: es geht um unser Kinderland.

Weder so noch so

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S c h l u ß w o r t

Dies Buch will den Weg weisen: Durch Einsicht zur Eintracht; durch Eintracht zur Macht; durch Macht zur Freiheit und Gerechtigkeit. Und das bedeutet: Gleichheit! Das bedeutet: Gemeinschaft!

I. Es bringt die Einsicht, daß die Gleichheit der Gerechtigkeit nur durch die Freiheit errungen werden, daß die Freiheit nur in der Gleichheit bewahrt werden kann. Eitel Schein ist es, daß die gequälte Menschheit nur die Wahl hat zwischen der Freiheit mit verderblicher Ungleichheit und der Gleichheit mit vernichtender Unfreiheit. Eitel Schein - und Lüge! Die Lüge, von der die Ungerechtigkeit heut allein noch lebt. Denn so ungeheuer ist heute schon die Überzahl der Enterbten, daß ihnen ohne Kampf die Macht zufiele, wenn sie über den Weg zu ihrem gemeinsamen Ziele einig wären: zur Ordnung der Gerechtigkeit und Gleichheit. Nichts mehr steht ihrem Siege entgegen als jener eitle Schein, als jene tückische Lüge. Aus dem einen Lager schallt es: „Hie Freiheit!", aus dem anderen: „Hie Gleichheit!"; wütend bekämpfen sich die Parteien; jede will für sich allein, im Namen ihres Ideals, das Volk und mit ihm die politische Macht erobern. Keiner von ihnen kann und wird es gelingen: ewig halten sie sich die Waage - und die Ungerechtigkeit triumphiert. Immer hat sie die Erhebungen der Städter durch die Bauern, die der Bauern durch die Städter niederschlagen können, und wird es auch in alle Zukunft vermögen, wenn jener Schein, jene Lüge, nicht zerstört wird. Die Einsicht aber wird die Eintracht bringen. Wenn der Schlachtruf der Enterbten lauten wird: „Hie Gleichheit durch Freiheit, Freiheit durch Gleichheit": dann ist die Überzahl auch die unwiderstehliche Übermacht. Und dann kann der Bau an der Freiheit und Gerechtigkeit geordneten Gemeinschaft beginnen.

II. Zum Kampfe ruft dieses Buch auf. Falsch ist es und feige, auf die „Entwicklung" zu vertrauen. Es gibt kein Naturgesetz, kraft dessen Freiheit und Gleichheit ohne menschliches Zutun sich einstellen müssen. In der Natur siegt immer nur die stärkere Macht. Die stärkere Macht ist heute noch auf Seiten des Unrechts, dank der Zwietracht der Enterbten. Es ist unsere Aufgabe, die stärkere Macht hinter das Recht zu bringen: durch Eintracht. Zur Eintracht aber führen uns nicht schöne Worte von Brüderlichkeit oder Klassensolidarität: wir können die Gesellschaft nicht gesundbeten! Zur Eintracht führt uns nur die Einsicht. Sie gibt dem Volke eine Idee, die zugleich ein Ideal für alle ist, an das alle glauben können, für das es sich lohnt, zu leben und im Notfall zu sterben. Den Glauben an Gerechtigkeit durch Freiheit. Dieser Glaube hat die Klassiker der deutschen Weltweisheit und Kunst beseligt; dieser Glaube hat das deutsche Volk aufwärts geführt aus tiefster Schmach und Not zu Frieden, Reichtum und Bildung. Der Glaube ging verloren durch eitel Schein und Lüge, und wir sind zurückgesunken in Zwietracht, Armut und Roheit. Diesen Glauben, der Berge versetzt und selig macht, will dies Buch dem Volke wiedergeben, den unerschütterlichen Glauben, der auf sicherem Wissen beruht. Es wendet sich nicht wie Volksredner

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

Sozialismus"

und Priester an das ahnende Gemüt, um blinden Glauben zu fordern: es wendet sich mit Gründen an den gesunden Menschenverstand. Es will hindurchstoßen durch Schein und Lüge zur rettenden Wahrheit.

III. An die Enterbten der ganzen Welt wendet sich dieses Buch. Aber es wendet sich vor allem an das deutsche Volk. Zur Heimkehr mahnt es das deutsche Volk, zur Wiedereroberung seines alten Rechtes und seiner alten Ordnung. Auf Gerechtigkeit beruhte seine alte Ordnung in der größten Zeit seiner Geschichte, als es alle anderen Völker Europas an Macht, Bildung und Reichtum überstrahlte. In Genossenschaften war es geordnet: und die Genossenschaft, die freie Gemeinschaft·, das ist die Ordnung der Gerechtigkeit, der Gleichheit. Der Bauer in seiner „Markgenossenschaft", der Städter in seiner „Einung", frei in Gleichheit, gleich in Freiheit. Aber dann drang das römische Recht ein, das Recht des furchtbarsten aller Gewaltstaaten, und noch dazu aus der Zeit seiner schwersten kapitalistischen Zersetzung, das Recht der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit, des übermächtigen, keiner natürlichen Bindung und Einung mehr verpflichteten egoistischen Einzelnen. Und Deutschland versank in Unfreiheit, Unfrieden, Not und Schmach.

IV. Heimkehr zum deutschen Recht und zur Genossenschaft! Das ist das Ziel, dem der Verfasser von dem Augenblick an zustrebte, wo ihm, dem Bürgersohn, die Binde von den Augen fiel, als er, ein junger Arzt, zuerst unter den Tagelöhnern eines ostelbischen Großgrundbesitzbezirkes, dann unter den Arbeitern einer Berliner Vorstadt, der sozialen Not ins Antlitz sah. Er hat schon seinem ersten größeren Werke von 1896, dessen Titel seine ganze Lebensarbeit vorwegnimmt: „Die Siedlungsgenossenschaft, Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage", als Motto einen Satz des größten Vorkämpfers der deutschen Genossenschaft und ihres Rechtes, Otto Gierkes, vorausgeschickt: „Wären nur die Einzelnen von diesen Gefahren bedroht, so träte an das Volk nur die Frage der sittlichen Pflicht gegen seine Glieder heran. In Wahrheit aber ist es die Volksexistenz selbst, deren Fundament untergraben wird. Aber es gibt eine Kraft, welche gewaltig genug ist, solche Gefahren zu beschwören, und schon hat sie begonnen, ihre zugleich bewahrende und schöpferische Aufgabe zu vollziehen. Diese Kraft ist die Genossenschaft." Diesem Gedanken getreu, habe ich den Plan meiner Siedlungsgenossenschaft entworfen. Es heißt von ihr: „Sie ist die Wiederbelebung der Markgenossenschaft im ganzen Umfang ihres Wesens und bedeutet so den ersten Schritt zur freien Wiederaufrichtung eines nationalen Rechtes an Stelle des römischen Rechtes." Heim zum deutschen Recht und zur deutschen Genossenschaft der Gerechtigkeit! Das mag der weltgeschichtliche Sinn der furchtbaren Prüfung sein, die unser Volk betroffen hat. Nur aus tiefster Not findet ein Volk die Kraft zur höchsten Erhebung: das deutsche Volk wird seine Not noch einmal segnen, und alle anderen Völker mit ihm, wenn sie ihm zuerst den Weg zeigt, auf dem es voranschreitet zur Erlösung. Das mag seine weltgeschichtliche Sendung sein.

Sprung über ein Jahrhundert [erschienen 1934 unter dem Pseudonym Francis D. Pelton]

Inhalt

I.

Kapitel: Aus der vierten Dimension

164

Π.

Kapitel: Die Zeitmaschine

168

ΙΠ.

Kapitel: Die neue Welt

170

IV.

Kapitel: Das neue Heim

176

V.

Kapitel: Der Todes-Strahl

178

VI.

Kapitel: Natur weiser als Menschenwitz

186

Vn. Kapitel: Liliput, Brobdingnag und Jakobs Hobel

191

Vm. Kapitel: Der Turm zu Babel

197

IX.

Kapitel: Bargeldlose Wirtschaft

201

X.

Kapitel: Die Schaffenden

211

XI.

Kapitel: Der Führer

217

XU. Kapitel: Volk und Raum

222

ΧΙΠ. Kapitel: Der neue Adel

227

XIV. Kapitel: „Das Fünklein"

233

[Dieser utopische Roman erschien erstmals unter dem Pseudonym Francis D. Pelton, Bern 1934; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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I. Kapitel Aus der vierten Dimension Hans Bachmüller lüftete vorsichtig die dunkle Brille und blickte auf das beleuchtete Zifferblatt. Neunzig! Er schob den Regulator behutsam nach links, immer weiter nach links, und sah den Zeiger langsamer und immer langsamer über das Milchglas gleiten. Als die Hundert erreicht war, drückte er auf den mit ,Stop' bezeichneten Knopf, nahm die Brille ab und zog die Uhr. Punkt 12 Uhr hatte er auf .Forward' gestellt, jetzt war es 12 Uhr 36 Minuten. Hundert in wenig mehr als einer halben Stunde! Alle Achtung! Wie froh war er, daß er die Vorsicht hatte walten lassen, zuerst eine Reihe langsamer Probefahrten zu machen. Kein menschliches Auge hätte es ohne Schutz ertragen, alle Sekunden etwa sechzehnmal ,Paradieseshelle' mit ,tiefer, schauervoller Nacht' wechseln zu sehen, und kaum ein menschliches Gehirn hätte es ausgehalten, Sonne, Mond und Sterne diesen wahnsinnigen Cancan am Firmament ausführen zu sehen. Das war im Planetarium ganz ergötzlich, ja sogar für einen solchen Freund der Sterne leise komisch anzuschauen gewesen, als der Operateur die Maschinerie auf höchste Geschwindigkeit einstellte, und die Sonne, in den seltsamsten Bögen und Schleifen umtanzt von ihren Planeten, witsch-witsch, fortwährend über die schwarze Wölbung sauste, im Westen verschwand und augenblicklich im Osten wieder erschien. Aber in Wirklichkeit? Ihn schauerte, und zugleich mußte er lächeln. Denn er sah plötzlich leibhaftig den guten alten Professor Schmiedle vor sich, wie er seinen übermütigen Tertianern den .Taucher' vorschwäbelte, heilig überzeugt von seiner Kunst als Deklamator: „Und der Mensch versuche die Götter nicht, und begehre niemer und niemer ze schaue." Er stieg ab und versuchte, um sich zu blicken. Zuerst verweigerten ihm die geblendeten Augen den Dienst. Er mußte sie schließen und die Hand dagegen drücken. Aber als er nach einem guten Weilchen durch die Wimpern zu blinzeln wagte, erblickte er, zuerst noch schattenhaft durch einen Tränenschleier, dann immer deutlicher um sich die vertraute Heimat: das holde Hügelland, grün in grün, Wiesen, Weinberge, Felder, Wälder, dahinter nordöstlich den Jura, die weißen Kreideabstürze der schwäbischen Alb, und, weit im Westen verblauend, hinter dem sanft ansteigenden Hochland der Bar, die Ketten des Schwarzwaldes. Nichts hatte sich geändert, nur schien der Wald dichter und grüner. Beseligt nickte er den geliebten Gestalten zu. Aber - wo war die Stadt geblieben? Da stand die Marienkirche, wie sie seit Jahrhunderten gestanden hatte; wie immer leuchtete es blau durch das zarte Gitterwerk des gotischen Turmes; da stand auch der Petersdom mit seinem klotzigen romanischen Glockenturm aber: wo war die Stadt? Wo waren ihre schmalen, hochgiebligen Häuser, wo ihre engen Straßen? Und wo waren die Dörfer? Rudolfingen, Winslingen, Groß-Sachsen, Weißendorf, Dreibrücken? Das ganze weite Tal war in einen einzigen Garten verwandelt, nein, verzaubert, aus dessen Grün überall rote Ziegel- und blaue Schieferdächer herausschauten. Nirgends ein Fabrikschornstein! Hier und da ein größeres Gebäude, selten ein Hochhaus, ein Wolkenkratzer, wie er sie in New York gesehen hatte. Nur viel eleganter, schnittiger; sein Baumeisterauge war befriedigt; sie standen gut in der Landschaft, die sie beherrschten, wie einst die Kirchen, denen sie nicht unähnlich waren: nur daß die krönenden Türme bis oben hinauf helle Fensterreihen zeigten. Er starrte hin, verwirrt, sozusagen ungläubig; er versuchte, sich an bekannten Punkten zurechtzufinden. Ja, da strömte der Fluß in den alten Ufern, überspannt von den alten und einigen neuen Brücken; da ragte der dreieckige Waldzipfel des Wodenloch wie immer in die Felder vor, da stand das uralte Kapellchen, und dort, bei Gott, das breite Gebäude, das war der Gasthof zum ,roten Ochsen'. Alles so vertraut - und doch so fremd! Wie wenn man nach zwanzig Jahren einen Schul-

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kameraden aus der Vorschule wiedertrifft; man erkennt sich gleich, aber was ist aus dem Bühle geworden! Ein Bahnzug bog um die bekannte Kurve, wo einst Winslingen gewesen war. „Sieh da", sagte er zu sich selbst, „kein Rauch! Also haben sie das Bähnle elektrifiziert, und soviel ich von hier erkennen kann, Stromlinienwagen. War zu erwarten, wahrscheinlich mit Propeller. Und die vielen Autostraßen!" Das weite Gelände war von breiteren und schmaleren Straßen wie von einem Netz überspannt; wo die Sonne sie traf, warfen sie spiegelnde Reflexe. „Schöner Belag", sagte er laut, „muß ein hübsches Geld gekostet haben." Schnelle Wagen flitzten hin und her, schlanke Autos, an ihnen hatte sich äußerlich nicht viel geändert. Aber durch die Luft schwirrten, und zwar lautlos! seltsame Riesenvögel, Flugzeuge von ganz fremden Bau. Eine Hand berührte seine Schulter. Er fuhr herum und sah vor sich einen starken, breitschulterigen Burschen von etwa zwanzig Jahren, der ihn aus blauen Augen halb mißtrauisch, halb belustigt musterte. „Ja Männle, wo kommst denn du daher?" Es war die Sprache der Heimat. „Ich hab' dich ja nicht kommen sehn. Kommst zum Kostümfest im ,Ochsen'? Großartig siehst aus, als wärst du aus dem vorigen Jahrhundert entsprungen." Er wand sich vor Lachen. „Die Knöpfe, die tausend Knöpfe! Und der Strick um den Hals! Wie haben die Leutchen nur schnaufen können!?" Er selbst trug den muskulösen Hals frei, ein kurzes Wams, vorn mit Reißverschluß, und ein kniefreies Beinkleid, gehalten von einem feingearbeiteten Gürtel aus silberfarbigem Metall, beide aus weißem, glänzendem Stoff: das war sein ganzes um und an. „Also: Wo kommst du her? Und wie kommst du her? Komisches Flugzeug! Kann man damit überhaupt hochkommen? Ist das etwa auch aus dem vorigen Jahrhundert?" Bachmüller mußte lachen. „Damit breche ich jeden Rekord. Und woher ich komme? Ich will dir's verraten. Aus der Zeit." „Spaßvogel!" Aber es klang drohend. Das schwäbische Temperament war offenbar noch das alte. „Ernstvogel!" war die Erwiderung. „Wart' ab, wirst schon sehen, paß' auf!" Er stieg in den Sattel, drückte auf .Forward' und drehte den Hebel ganz wenig nach rechts. Eine Minute später schien ihm die sinkende Sonne ins Gesicht, dann war es tiefe Nacht. Er schaltete um, drehte nach links, hatte wieder einen Augenblick die Sonne von vorn und stand nach wenigen Sekunden wieder vor dem maßlos erstaunten Jungen. „Herrgottsakrament", sagte der. „Es scheint doch noch Hexenmeister zu geben? Oder hast du Siegfrieds Tarnkappe? Du warst weg und wieder da, eh' ich Muck sagen konnte." „Vierte Dimension!" sagte Bachmüller lässig. „Hast du in der Schule nicht gelernt, daß die Zeit die vierte Dimension ist?" Der andere sah ihn ängstlich an: „Ich verstehe nicht." „Du wirst alles verstehen. Aber sieh', ich habe nur eine Kehle, und die würde es nicht aushalten, wenn ich jedem einzelnen Red' und Antwort stehen müßte. Ich bin hergekommen, um zu antworten, aber vor allem, um zu fragen. Was ich zu sagen habe, will ich gern im Rundfunk der ganzen Welt, aber eben auf einmal und ein für alle Male mitteilen. Und dann will ich die Leute fragen, die mir Auskunft geben können. Ich bin sozusagen ein Forschungsreisender - aus der Zeit in die Zeit." „Ist recht! Ein Schwindler bist nicht, und Zauberer gibt's nicht. Ich rufe den Vorstand an." Er wandte sich dem Hause zu, das im Hintergrunde des großen Gartens unter hohen Kastanien und Linden lag. „Einen Augenblick! Ich möchte zuerst meine Maschine unter Schloß und Riegel bringen. Die kann für Neugierige gefährlich werden. Keine Angst! Sie beißt nicht und sie geht auch nicht los. Wohin?" Sie schoben die Maschine in einen Schuppen, dessen Tür verschlossen wurde. Den Schlüssel steckte der Junge ein.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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Dem Hause lag eine breite Veranda vor, hübsch mit bunten Fliesen gepflastert, zur Hälfte mit Glas gedeckt, mit Windschutz aus hohen Fenstern zu beiden Seiten. Rosen, Glyzinen und Geißblatt rankten sich herum. Korbsessel und Ruhebetten standen umher; auf einem runden Holztisch war eine feingearbeitete Silberschale voll prächtiger Erdbeeren. In der Mitte der Hausfront neben der eichenen Eingangstür las Hans ein Metallschild mit dem Namen ,Hans Bachmüller'. Sie traten in eine geräumige Vorhalle. „Ist das dein Name, Landsmann?" „Nein, meines Vaters. Ich heiße Fridolin; alter alemannischer Lieblingsname, nach dem Schottenmönch aus Irland, der unsere Vorfahren taufte. Und wie heißt du?" „Hans Wanderer - aus der Zeit in die Zeit." Der junge Mensch trat vor einen an der Wand angebrachten Apparat, der dem Telephon der früheren Zeit einigermaßen ähnlich war, nur daß darüber eine Art von Spiegel befestigt war, und rief mehrere Zahlen hinein. Nach kurzer Pause erschien auf der Spiegelplatte lebensgroß und in voller Lebensfarbe ein gewaltiges vollbärtiges Haupt, ein Herrengesicht mit blitzenden blauen Augen, und eine tiefe Stimme sagte: „Tag, Fridl, was ist?" „Herr Vorstand, da ist ein Fremder, nennt sich Wanderer, sieht ehrlich aus. Er war auf einmal in unserem Garten mit einem Flugzeug, das gar nicht aussieht wie ein Flugzeug. Sagt, er kommt aus der vierten Dimension. Er kann sich unsichtbar machen." „Fridl, Fridl, hast du einen über den Durst?" „Bei Gott, Onkel Hermann, Herr Vorstand, ich bin nüchterner als ein Fisch. Was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Aber konfus bin ich, das gebe ich zu, und weiß nicht, was ich denken soll. Der Mann ist vor meinen Augen verschwunden wie Nebel und war zwei Minuten darauf wieder da, ohne daß ich eine Bewegung sah oder auch nur einen Lufthauch spürte. Darf ich ihn dir bringen?" „Kann ich ihn sehen?" „Er steht neben mir." Hans Bachmüller trat vor den Spiegel. Das mächtige Auge musterte ihn finster, aber dann wurde es freundlicher: „Du bist einer von uns?" „Jeder Tropfen Blut. Meine Leute stammen von hier." „Also: was faselt der Junge?" „Er faselt nicht im mindesten." „Du behauptest, aus der vierten Dimension zu kommen?" „Aus der Zeit, die die vierte Dimension ist." „Versteh' ich nicht!" „Herr Vorstand, wenn einer unserer Vorfahren vor diesen Apparat gestellt würde, wenn er mit jemandem Auge in Auge sprechen könnte, der Gott weiß wo ist, er würde es auch nicht verstehen. Der berühmte Unsterbliche der Pariser Akademie hat das Grammophon für Schwindel gehalten, und noch im Jahre 1900 hat fast niemand daran geglaubt, daß der Mensch würde fliegen können." „Also ein neues technisches Wunder?" „Richtig." „Gut, ich will dich sprechen. Fridl, bist du da?" „Zur Stelle, Herr Vorstand!" „Du bist frei?" „Hatte heute Frühdienst." „Hast du einen Wagen?" „Ja, meinen alten Renner!" „Gut, ich erwarte euch."

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Das Bild verschwand, Fridolin führte den Gast zum Gartentor, vor dem ein langes niedriges Auto stand. Beide stiegen ein, der Junge berührte den Anlasser, und der Wagen glitt schnell über die glatte Straße. Er lenkte in eine breitere Straße und schaltete größere Geschwindigkeit ein. Der Wagen flog nur so dahin. Nach wenigen Minuten hielt er vor einem Hochhaus. „Die Provinzialregierung. Alle Abteilungen und Behörden in dem einen Gebäude. Spart viel Zeit und Arbeit." Sie traten in eine große Halle, auf die sich die Türen zahlreicher Fahrstühle öffneten, deren einen sie betraten. Fridolin nickte dem jungen Führer zu: „Tag, Michel, wie geht's?" „Danke bestens! Wohin?" „Zum Vorstand." Der Fahrstuhl schoß aufwärts. Beim vierzigsten Stockwerk hielt er. Einen Augenblick später stand Bachmüller vor dem Vorstand, der sich vom Schreibtisch her ihm zuwandte und aufstand. Ein Riese, hoch und breit. Bachmüller mußte an den schwäbischen Ritter denken, von dem Uhlands lustige Ballade erzählt: ,Zur Rechten sah man wie zur Linken einen halben Türken heruntersinken.' Dem Manne hätte der schwere Zweihänder gut in den gewaltigen Händen gelegen. „Du nennst dich Wanderer?" „So nenne ich mich. Aber Sie gestatten mir ..." „Einen Augenblick! Ich fange fast an zu glauben, daß du aus der Zeit, aus der Vor-Zeit kommst. Ich bin nur eine Person, und für dich die zweite. Warum sprichst du in der dritten Person, und gar in der Mehrzahl zu mir? Den Zopf haben wir uns längst abgeschnitten. Das paßte in eine Zeit, wo es Herren und Knechte gab; heute gibt es nur noch Freie und Gleiche." Er lachte höhnisch. „Der Herr Geheime Rat haben befohlen, Gnädige Frau wünschen. Pfui Teufel! Ich bitte .gehorsamst' um die vernünftige Anrede." „Danke für die Belehrung. Verzeih' einem Fremden, Herr Vorstand. Also: ich nannte mich Wanderer, aber ich heiße anders. Hier mein Paß." Der Riese schlug das braune Heftchen auf. Langsam und laut las er vor: „Hans Bachmüller, Ingenieur, geboren am 4. Februar 1899." Fridl stieß einen kleinen Schrei aus. Der Vorstand nickte ihm ernst zu. „Das ist der Paß deines Urgroßonkels, der vor etwa hundert Jahren so geheimnisvoll und so spurlos verschwand. Wie kommt das Ding in deinen Besitz?" „Ist das Paßbild so unähnlich, Herr Vorstand?" Die strengen Augen verglichen prüfend Bild und Mann. „Fabelhafte Ähnlichkeit." Er stöhnte es fast. „Zug um Zug, Gesicht und Tracht. Entweder bist du der größte Verwandlungskünstler der Welt, oder du bist..." „Hans Bachmüller, Ingenieur, geboren am 4. Februar 1899." „Mensch, wir haben heute den 16. Juni 2032. Du müßtest ein Urgreis sein mit deinen hundertdreiunddreißig Jahren, und du siehst aus wie ein Dreißiger." „Ich sagte dir schon am Telephon: ein neues technisches Wunder. Ich habe die Zeitmaschine gefunden; laß mich erzählen!"

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II. Kapitel Die Zeitmaschine Hans Bachmüller nahm auf dem Sessel Platz, den ihm der Vorstand anwies, und begann: „Ich lebte als Einsiedler in dem Häuschen, das ich mir gebaut hatte. Ich weiß nicht, ob es noch steht." „Es steht noch", flüsterte Fridolin atemlos. „Im Hintergarten. Du konntest es nicht sehen. Es ist Vaters Laboratorium." „So, freut mich. Habt Ihr den Safe gefunden? Nein? War auch gut versteckt. Wir wollen ihn heute abend öffnen. Also: ich floh die Welt, in der zu leben ich verurteilt war. Zuerst der Weltkrieg; ich war ein Knabe, als er ausbrach, kam aber im Jahre 18 noch an die Front. Vater und ein Bruder waren gefallen, Mutter hat's nie verwunden. Dann die Jahre nachher. Hunger, Inflation, Deflation, Weltkrisis, alle Völker verarmt, alle gegeneinander verhetzt, Krieg und Bürgerkrieg bald hier, bald dort. Nirgends fester Boden unter den Füßen, Gewalt, Tyrannei, Fanatismus." Der Vorstand nickte bedächtig. „Wir wissen Bescheid über die wahnwitzige Welt vor der Erlösung. Ihr verhungertet vor vollen Scheunen, ihr gingt in Lumpen, während Wolle, Baumwolle und Seide in den Speichern verdarben, weil niemand sie kaufen konnte. Ihr glaubtet an nichts mehr, nicht an die Wissenschaft, die verirrt war, nicht an das Recht. Verlaufene Rinder, zurückgefallen in die Barbarei der Steinzeit, aber mit Waffen, die ganze Völker mit einem Schlage ausrotten konnten. Pfui Teufel! Brandbomben und Giftgas auf die Städte! Frauen und Kinder zu Tausenden gemordet! Die Herrschaft des Teufels! Wir, die wir glücklich genug sind, ins Reich Gottes zurückgefunden zu haben, lernen davon in der Schule, um uns um so inbrünstiger segnen zu können." „Ihr seid im Bilde, wie ich sehe. Ich kann mir also die Einleitung sparen. Wie gesagt: Ich lebte fast als Einsiedler. Ich war Witwer. Wieder zu heiraten fehlte mir der Mut. Wer konnte für Frau und Kinder einstehen?! Ich hatte mir ein paar Pfennige gespart, hatte mein Häuschen und meinen Garten, der mich nährte, meine Bücher und meine Geige. Ich hielt es mit Goethe: .Glücklich, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt!' Den Nachbarn, die ich nur selten sah, galt ich als harmloser Sonderling. Eines Tages beschloß ich, mir einen Felsenkeller anzulegen, um den selbstgebauten Wein meines kleinen Weinberges zu lagern. Hinter meinem Garten liegt ein waldiger Hügel, weißer Jurakalk, ich arbeitete mich mit der Spitzhacke hinein. Eines Tages stieß die Haue auf Eisen. Ich war maßlos erstaunt. Die Stelle war wenigstens fünf Meter vom Eingang entfernt; über mir waren gewiß vierzig bis fünfzig Meter schierer Kalk. Nirgends ein Spalt, geschweige denn eine Höhle; ohne Zweifel: ich war mitten im gewachsenen Fels. Wie kam da hinein metallisches Eisen? Mein geologisches Wissen versagte jämmerlich. Nun, ich arbeitete weiter, aber jetzt natürlich sehr vorsichtig, fast nur mit Hammer und Meißel. Es dauerte viele Tage, bis ich den großen Apparat ganz freigelegt hatte, den der gute Fridl für ein Flugzeug halten mußte. Daß es sich um eine recht komplizierte Maschine handelte, war mir bald klar. Aber um so größer war mein Staunen. Ein Menschenwerk mitten im gediegenen Jurakalk, der es umwachsen hatte? Es gab nur die eine Erklärung, daß es im Jurameer versunken gewesen. Aber damals gab es noch keine Menschen! Oder sollte Hörbiger mit seiner Lehre von den mehrfachen Sintfluten recht haben, in denen regelmäßig fast die ganze Menschheit zugrunde ging?" „Ist uns auch bekannt", sagte der Vorstand. „Die Erde zog einen Planeten nach dem anderen als ihren Trabanten an sich und zuletzt in sich hinein. Je näher er rückte, um so höher wurde die Flut, bis sie alle Hochgebirge zweimal am Tage überschwemmte."

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„Richtig! Ich fand auf und neben der Maschine das Skelett eines Menschen, zuerst den langköpfigen Schädel mit zierlichem Kiefer; es war also ein Mensch unserer Rasse, keinesfalls einer der Tierschnauzenmenschen aus dem Chelleen oder noch früherer Zeit. Und später fand ich eine goldene Uhr mit dem Stempel, ,1. C. Wilson, London, 1886', einen altmodischen Revolver aus Suhl und ein Bund Schlüssel, außerdem Knöpfe, ein Taschenmesser und eine Feldflasche aus Aluminium. Liegt alles im Safe. Die Wahrheit ging mir allmählich auf. Und ich fand meine Meinung bestätigt, als ich den Apparat zum größeren Teil freigelegt hatte. Es war zweifellos die Zeitmaschine, von der der englische Fabier Wells uns berichtet hatte. Ihr kennt das Buch?" Der Vorstand schüttelte den Kopf. Aber Fridolin rief: „Ich hab's gelesen. Professor Ullrich interessiert sich für Wells, weil er einer der wenigen war, die vor der Erlösung um die Lösung rangen. Er sprach von ihm in der Vorlesung über die Geschichte des Sozialismus. Ich las seine sozialen Utopien: ,Als der Schläfer erwachte', und ,Menschen wie Götter', und kam dabei auch auf die ,Zeitmaschine'. Die hat, so erzählt er, ein englischer Ingenieur erfunden. Zuerst machte er eine Reise in die Zukunft, erlebte schreckliche Abenteuer und sah zuletzt die Sonne fast erloschen und die erkaltete Erde nur noch von riesigen Krabben bewohnt. Glücklich in seine Zeit heimgekehrt, trat er die Fahrt in die Vergangenheit an - und kehrte nicht zurück." „Ja", sagte Bachmüller. „Und ich kann dir sagen, wie er zugrunde ging. Er muß mit äußerster Geschwindigkeit gefahren sein, war unversehens tief im Jurameer, konnte den Hebel noch auf ,forward' umstellen, denn so fand ich es, muß aber doch erstickt sein, vielleicht weil die Maschine unter Wasser nicht ganz so schnell arbeitete. Aber sie lief weiter, bis der Akkumulator erschöpft war, und das reichte hin, daß der Schlamm sie umschloß und zu Fels wurde. Und so fand ich den Unglücklichen und seinen Apparat. Pionierschicksal!" „Aber! Wie kam er aus der Gegend von London zu uns nach Schwaben?" fragte der Vorstand. „Das habe ich mich auch gefragt. Ich denke, es läßt sich aus der Wegenerschen Theorie erklären. Die Scholle, in der er versank, ist in den Hunderttausenden von Jahren nach Süden gewandert. Aber laßt mich zu Ende erzählen. Die Maschine war in gutem Zustande. Natürlich war hier und da etwas Kalk in den Mechanismus geraten. Ich putzte sie sauber aus, brachte den Akkumulator in Schuß und fing an, sie zu probieren. Natürlich mit äußerster Vorsicht. Das Schicksal des Engländers warnte. Was ich zuerst festzustellen hatte, war, ob meine eigene Lebenszeit ihren normalen Ablauf haben würde, während ich mit meiner Maschine in Vor- oder Nachzeit kam. Freilich hatte Wells berichtet, daß sein Held von der ersten Reise wohlbehalten zurückkam, obgleich er viele Millionen von Jahrhunderten in die Zukunft hineingereist war. Aber ich traute dem Frieden doch nicht ganz. Meine erste kurze Probe machte ich bei geringster Geschwindigkeit mit meiner Taschenuhr. Wenn ich in die Vorzeit fuhr, und sie die Zeit mitmachte, mußte sie offenbar rückwärts gehen und sich sozusagen selbsttätig alle vierundzwanzig Stunden aufziehen. Wenn ich umgekehrt vorwärts reiste, mußte sie mit großer Geschwindigkeit ablaufen. Geschah nichts dergleichen, so war das immerhin ein Zeichen dafür, daß der Mensch auf der Maschine und sein Zubehör in dessen eigener Zeit blieb. Nun, die Uhr ging wie gewöhnlich. Dann wagte ich es mit etwas größerer Geschwindigkeit, etwa drei Minuten pro Jahr, rückwärts zu reisen, während ich mein Gesicht in einem aufmontierten Spiegel betrachtete. Ich war dreiunddreißig, der Spiegel hätte mir also nach etwa einer Stunde mein unbärtiges Knabengesicht zeigen müssen. Aber immer schaute mir unverändert mein Bart entgegen; ich legte den Hebel um und fuhr über meine Jahre hinaus bis siebzig, bis achtzig kein graues Haar, keine Runzel, keine Zahnlücke! Da entschloß ich mich zu der Reise aus der Zeit in die Zeit. Heute Mittag nach meiner Zeit, präzis um zwölf Uhr des 21. Juni 1932, stieg ich in den Sattel mit der Absicht, genau hundert Jahre in die Zukunft zu reisen, um zu sehen, was aus der Welt des weißen Mannes geworden ist. Volle Vernichtung oder Rettung aus den Schrecknissen meiner Zeit? Ich muß gestehen, die Sorge überwog die Hoffnung." „Es sind nicht genau hundert Jahre", sagte der Vorstand. „Wir haben heute erst den 16. Juni."

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„Nun, ich kann wohl einen Moment zu früh auf Stop geschaltet haben. Und dann: ich habe nicht festgestellt, ob die Uhren auf Schaltjahre berechnet sind. Wahrscheinlich nicht! Das hätte die Sache sehr kompliziert und hätte wenig Zweck gehabt, denn die Zeitmaschine rechnet mit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Kurz und gut: ich stand plötzlich in meinem alten Garten vor dem verdutzten Fridl, meinem teuren Urgroßneffen - und da bin ich, Herr Vorstand! Das ist mein ganzer Bericht. Ich habe nichts mehr zu sagen, sondern nur noch, und zwar unendlich viel, zu fragen." Der Vorstand erhob sich und streckte ihm die Hand hin: „Ich glaube dir und danke dir, - Vetter! Meine Mutter ist eine Bachmüller. Aber zum Antworten habe ich jetzt keine Zeit. Der Dienst geht vor. Ich schlage dir vor, zunächst mit dem Fridl eine Rundfahrt im Flugzeug zu machen, um ein erstes Gesamtbild der neuen Welt zu bekommen. Das Regierungsflugzeug steht zur Verfügung. Dann wirst du bei Fridls Eltern speisen, wirst ein vorbildliches Heim der neuen Gemeinschaft kennenlernen. Morgen früh wirst du lesen, wie alles kam, wirst sehen, was und wen du willst, und wirst deine Ansprache vor dem Rundfunk ausarbeiten. Eine Viertelstunde will ich dir freimachen, von 20 Uhr bis 20.15, um der ganzen Welt, merke wohl, der ganzen Welt, noch einmal zu erzählen, was wir soeben gehört haben. Alle Sender werden sich diese Sensation zunutze machen, des Mannes, der aus der vierten Dimension kommt. Nach dem Vortrag kommt ihr alle zu mir. Ich werde dir Leute einladen, die dir auf deine Anfragen antworten können - es sei denn - Aber du kennst das Sprichwort?" Seine Augen tanzten. „Von dem einen Narren und den zehn Weisen", lachte Bachmüller. „Kennimus." „Dann: auf Wiedersehen!"

III. Kapitel Die neue Welt „Wie soll ich dich nun nennen? Urgroßonkel? Ein bißchen lang, finde ich." „Weißt, Onkel dürfte ausreichen, Hans wäre mir noch lieber." „Topp, Hans." Fridl schlug kräftig in die dargebotene Hand. Aus der Tür des Fahrstuhls trat Michel. „Hiermit stelle ich dir meinen Urgroßonkel vor, Hans Bachmüller. Das ist Michel Großkopf, Assistent am Historischen Museum. Du, Hans, da kommt dein Paß hin. Wird eine Hauptsehenswürdigkeit. Erstens, weil es dein Paß ist, du Mann aus der Vorzeit, und zweitens, weil es überhaupt ein Paß ist. Das gibt's nämlich nicht mehr." „Grüß Gott, Herr - Urgroßonkel", sagte Michel lachend. „Der Fridl steckt immer voller Witze." „ Wart's ab, Chaib! Morgen erlebst du dein blaues Wunder. Zum Flugdach!" Der Aufzug trug sie noch einige Stockwerke empor; sie traten auf ein weites, flaches Dach hinaus, das nach drei Seiten kaum merklich anstieg. Auf der einen Seite überragte es der turmartige Aufsatz des Hochhauses noch um eine Anzahl von Stockwerken. Mehrere Flugzeuge standen in Bereitschaft. „Das Regierungsflugzeug. Auftrag des Vorstandes", rief Fridolin. „Zur Stelle", erwiderte ein kräftiger Dreißiger im Fliegerdreß. „Soeben hat der Herr Vorstand angerufen. N'Tag, Fridl." „N'Tag, Gottlieb. Mein Verwandter, Ingenieur Bachmüller, Gottlieb Klingenberg, Abteilungsvorstand im Physikalischen Institut. Rundfahrt, Gottlieb, wie üblich. Mal erst Westen."

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Sie betraten eine behagliche, auf allen Seiten von lichten Fenstern erhellte Kajüte, der Pilot setzte sich ans Steuer, und die Maschine rollte lautlos über das Dach und stürzte sich wie ein Mauersegler ins Blaue. „Tübingen", sagte der Pilot. Sehnsüchtig sah Bachmüller hinunter: „Ob die Bubenruthia noch besteht?" „Wohl, wohl, hat ihr Zweihundertjahrsjubiläum hinter sich", war die Antwort. Die Bar, Freudenstadt, der Schwarzwald, schon blinkte der Rhein empor. Uberall das gleiche Bild. Die Städte kaum noch an ihrem alten Kern von Rathäusern und Kirchen erkennbar, die greulichen Vorstädte verschwunden, und der weite Umkreis mit Gartensiedlungen übersät. Das Flugzeug senkte sich tief; jenseits des Stromes reckte sich das Straßburger Münster in den Himmel. Pfeilgrad daraufhin ging der Flug. „Wir kommen ja nach Frankreich hinein", rief Bachmüller erschrocken. „Zunächst mal erst nach Lotharingien", sagte Fridl, „aber warum nicht auch nach Frankreich?" „Lothringen? Das ist doch das Elsaß! Und das ist doch leider französisch. Und - darf man denn?" „Man darf! Es gibt keine Luftgrenzen mehr, weil es keine Landgrenzen mehr gibt. Vereinigte Staaten der Erde, Hans. Freizügigkeit der Menschen und der Güter, kein Zollbeamter mehr, kein Grenzschutz mehr, Freiheit, Hans, Freiheit!" Er rief es leuchtenden Auges. „Das ist die neue Welt, das ist unsere neue Welt, unsere erlöste Welt. Land, Luft und Meer sind frei, und frei ist der Mensch." Hans Bachmüller faltete die Hände: „Gott sei gelobt und gepriesen. Das ist mehr, als ich in meinen kühnsten Träumen zu hoffen wagte. Ach, meine Zeit! Meine arge kranke Zeit! Immer mehr Grenzen, immer höhere Zollmauern, immer mehr Knechtschaft und Armut! Wußten's ja alle, die weisen Herren am Steuerruder der Staaten, was not tat, drechselten die schönsten Reden auf ihren ewigen, ewig langen Kongressen und Konferenzen - und taten dann genau das Gegenteil. Wollte immer einer den anderen beschwindeln, immer sollte der andere vorleisten, und niemand dachte an Nachleisten. Hast mal von der Abrüstung gehört? Und wie sie unser armes Land am Narrenseil führten? Wir waren alle voller Abscheu vor dem Kriege aus dem Kriege heimgekommen, aus diesem sinnlosen Gemetzel, das alle ruinierte, mit heiligem Vertrauen auf die Friedensbotschaft des Präsidenten Wilson. Es sollte doch der letzte Krieg gewesen sein! Und wie hat man uns beschimpft und betrogen? Es sah ärger aus, als je zuvor, als ich heute vor hundert Jahren abreiste, ärger in der Welt und leider auch ärger in unseren Herzen. ,Lieber sterben als so weiterleben', dachten die meisten von uns, und allzu viele träumten von - Rache. Und jetzt - ich kann's kaum glauben." Er sah verzückt auf das blühende Land unter sich. Gottlieb Klingenberg hatte mit großen Augen zugehört. Schon öffnete er den Mund, aber auf einen Wink Fridls Schloß er ihn wieder. „Wie ist's gekommen?" fragte Bachmüller. „Welches Genie hat das zuwege gebracht? Es muß ein Riese gewesen sein, der all diesen aufgehäuften Schutt dummer verhärteter Traditionen, diesen Mist veralteter Feindschaften aus dem Wege geräumt hat, ein Herkules in diesem Augiasstall." Sie hatten inzwischen den Wasgenwald überflogen und folgten nun dem Laufe der Mosel. „Luneville, Nanzig", sagte Klingenberg. „Gehört jetzt alles zum Bundesstaat Lotharingien. Wir sind hinter den Vertrag von Meersen zu dem von Verdun zurückgekehrt. Was zwölf Jahrhunderte hindurch blutig umkämpftes Gebiet war zwischen Frankreich und Deutschland, ist heute die feste Brücke zwischen beiden. Beide Sprachen gleichen Rechtes - und beide Sprachtümer haben dadurch gewonnen." „Wie früher die Schweiz", sagte Bachmüller. „Die Schweiz gehört längst dazu, und Luxemburg, Belgien und Holland auch. Es ist wirklich das alte Lotharingien, nur ohne Italien. Das ist einer der großen Bundesstaaten." „Die anderen haben ihre Selbständigkeit aufgeben müssen?" „Selbständigkeit? Hatten die kleinen Staaten früher Selbständigkeit? Mulken sie nicht tanzen,

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wie die Großmächte und ihre Großbanken pfiffen? Hast du mal vom Weltkrieg 1914 flüstern hören?" „Ein bissei", sagte Bachmüller lächelnd. „Na, damals sperrten die Mächte alle Meere, und die Entente zwang die Kleinstaaten, auch die Schweiz und die Niederlande, alle Warenausfuhr nach den Feindländern zu unterbinden, und setzte ihnen überall Kontrollbehörden ins Land! Und Luxemburg war vom ersten Augenblick an von den Deutschen besetzt! Schöne Selbständigkeit! Und nachher? Da brauchten die Kleinen Geld, viel Geld, und das kriegten sie nur, wenn sie kuschten und aus der Hand fraßen. Zum Beispiel das arme kleine Osterreich, der Krüppel mit dem Wasserkopf, aber auch alle anderen. Wenn sie mal gegen den Stachel locken wollten, dann zogen die Großen ganz sanft an der Goldschlinge, die die Kleinen sich hatten um den Hals legen lassen müssen; alle Banken purzelten übereinander, und die Pleite konnte nur durch neue Verzichte auf diese erhabene .Souveränität' einigermaßen gemildert werden, - durch neuen Pump! Ach, die herrliche Selbständigkeit von damals, die Gleichheit zwischen dem Tiger und dem kleinen Schakal, der ihm die Beute zutreibt, die Gleichheit zwischen dem Wucherer und dem Schuldner! War es so schwer, darauf zu verzichten?" „Doch! Habe mal irgendwo gelesen, daß sogar das winzige Mecklenburg-Strelitz, ungefähr 100.000 Einwohner, trotz seiner erdrückenden Überschuldung seine Selbständigkeit nicht hergeben wollte. Und wer läßt sich gern zwingen, selbst zu seinem Besten? Alte Tradition hat auch ihren Wert." „Die alte Tradition hat niemand angetastet. Sie wird heut noch gepflegt, und treuer denn je, in Heimatgeschichte, Dialekt, Tracht, Folklore und Volksfesten, wie von jeher in den Schweizer Kantonen und in den Provinzen und Gauen aller anständigen Staaten. Und dann: zwingen? Die Kleinen traten natürlich in voller Freiwilligkeit bei. Sie schlossen sich dem Bunde an, weil sie an dem großen Markt teilhaben und von der großen Macht geschützt sein wollten. Sicherheit vor jedem feindlichen Einfluß, ja, vor jeder fremden Einwirkung: das ist ein hübsches Stück Unabhängigkeit. Und der Reichtum, dessen sich alle Teilhaber eines großen Marktes erfreuen, das ist wieder ein hübsches Stück Unabhängigkeit. Aber genug geschwätzt; hier gibt's Seitenwinde aus den Eifeltälern." Das Flugzeug schwankte kräftig: „Schau, da rechts kommt die Saar herein. Wächst auch ein Guter. Und dort ist Trier. Die Hälfte haben wir. Jetzt geht's über Koblenz den Rhein hinauf, und über Frankfurt-Stuttgart heim." Sie schössen durch die Bläue, schnurgerade über die Windungen der großen silbrigen Schlange fort, als die sich die Mosel darstellte. Das Ufertal ein einziger Garten und Weinberg. „Ich fange an zu begreifen", sagte Bachmüller zu Fridolin. „Im Osten wird's ebenso sein. Der vermaledeite Korridor ..." „Mit den Zollgrenzen verschwunden. Die Polen haben sich lange gesträubt. Kann man verstehen. Ihre staatliche Selbständigkeit war noch so jung, und darum hingen sie um so fester an ihren alten Ideen und Traditionen. Aber sie kamen wirtschaftlich greulich ins Hintertreffen und begriffen bald, daß sie durch den Beitritt nichts zu verlieren und sehr viel zu gewinnen hatten. Jetzt gibt's auch im Osten so ein Zwischenland, wo beide Sprachen Landessprachen und sozusagen Muttersprachen aller sind. Also sprechen viel mehr Menschen als früher deutsch, und doch viel mehr Menschen als früher polnisch. Wer nur einsprachig ist, ist wirtschaftlich benachteiligt. Darum hat sich auch das kerndeutsche Ostpreußen angeschlossen; es ist auf den polnischen Markt angewiesen - und Danzig und Königsberg blühen wieder wie in der Hansezeit." „Da ist aber Deutschland arg verkleinert!" „Der Staat, ja! Aber das Volk ist fast völlig geeint, überall die alten Grenzen weg, auch die Südtiroler, wenn sie auch noch politisch zu Italien gehören. Die Deutschen überall, im Elsaß, in Lothringen, in Österreich, in der Tschechoslowakei, in Polen, bilden mit uns eine volkliche Einheit. Und die kleinen Splitter in Ungarn, Rumänien und Rußland haben alle Freiheit, ihre Sprache und Eigen-

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art zu pflegen. Der Staat aber: was ist der Staat heute noch? Nichts als eine Verwaltungsabteilung der großen Einheit! Er hat keine anderen Aufgaben mehr. Der Grenzschutz ist überflüssig geworden, das Recht ist Weltrecht. Münze und Geldwesen, Land- und Luftverkehr, Post, Telegraph und Funkdienst: alles Angelegenheiten der Gemeinschaft; der Einzelstaat hat kaum noch eine andere Aufgabe, als die einer gewissen Überwachung, daß die Gemeinden und Gaue das Mmfatprogramm ihrer Aufgaben erfüllen. Was sie mehr leisten, in Straßenbau, Schule, Fürsorgewesen, Kunstpflege, Polizei usw., das ist ihre Sache - sie haben es nur selbst zu bezahlen. Niemand hat ihnen dreinzureden. Die ganze Souveränität liegt jetzt bei den unteren Gliedern. Das ist das Freiheitssystem der neuen Welt." „Aber die Regierung des Weltstaats?" „Regierung? Kann man kaum so nennen. Die hat, hat mal einer gesagt, ungefähr die gleiche Machtvollkommenheit wie vor hundert Jahren die internationale geodätische Kommission, die Maße und Gewichte festlegte, oder wie der Weltpostverein und die europäische Eisenbahnkonferenz. Es sind Kammern von Sachverständigen, der besten aus allen Ländern, die über notwendige Änderungen des Rechts, des Verkehrs, der Hygiene und andere Dinge beraten. Die Anregungen und Vorschläge kommen in aller Regel von unten her, aus den Gemeinden, Gauen, Provinzen und Ländern, die immer sehr genau wissen, wenn und wo der Schuh sie drückt. Was sie nur allein angeht, ordnen sie immer selbst und selbständig und tragen die Kosten allein. Nur die Dinge kommen an die oberste Spitze, die alle angehen. Und da einigt man sich in aller Regel ohne Schwierigkeiten, weil es die alten Zankäpfel nicht mehr gibt: Grenzfragen, Sprachenfragen, Prestigefragen und vor allem Zollfragen. Es gibt nur noch sozusagen technische Fragen, und da vertrauen wir uns ihnen als unseren Sachverständigen gerade so an, wie unserem Arzt, wenn wir krank sind, oder unserem Baumeister, wenn wir was zu bauen haben. Von sich aus kann die Weltregierung nichts Neues anordnen; sie macht nur Vorschläge, die unten beraten werden; sie sind fast immer so durchdacht und reif, daß sie ohne Änderungen angenommen werden." „Zum Beispiel!" „Das gewaltige Wellenkraftwerk im südlichen Atlantik, das uns Millionen von Pferdekräften elektrischen Strom liefert, oder die Bewässerung von Teilen der Sahara, um das Klima Afrikas zu verbessern, oder die neue Postgebühren-Ordnung. Augenblicklich berät man das Projekt, die Straße von Gibraltar durch einen Staudamm zu sperren." „Uralte Idee! Der Spiegel des Mittelmeers würde allmählich stark sinken, wenn der Zufluß aus dem Atlantik aufhörte, riesige Strecken fruchtbaren Landes würden gewonnen. Aber, ganz abgesehen von den technischen Schwierigkeiten und den unerschwinglichen Kosten: es ging nicht, weil die Mächte sich den Zuwachs an Land und Macht nicht gönnten." „Richtig! Aber die Technik hat Fortschritte gemacht, die Kosten spielen keine Rolle, wenn mehr Arbeit erspart als hineingesteckt wird, und die Eifersucht der Mächte gibt es nicht mehr. Wenn es technisch möglich ist, wird es gemacht werden, denn wirtschaftlich lohnt es sicher. Guck, da ist der Ehrenbreitstein." Das Flugzeug wendete sich scharf nach rechts, nach Süden. Der gewaltige Strom wimmelte von Schiffen, weißen Vergnügungsdampfern, schwarzen Schleppern mit langen Schiffszügen hinter sich, riesigen Flößen, Motor- und Ruderbooten. Brücke nach Brücke wurde überflogen. „Wenn man denkt, daß Cäsar die erste Brücke über den Strom legte, bissei mehr als zweitausend Jahre ist es her. Damals war's ein Grenzgraben, über den barbarische Krieger setzten, um zu plündern, und jetzt..." „Jetzt ist es eine Länderbriicke, einer der großen Wege des Handels und des Friedens", sagte Gottlieb. „Und trägt Deutsche und Franzosen, Belgier, Holländer und Schweizer und wen sonst noch auf seinem breiten geduldigen Rücken. Es gibt keine Hindernisse mehr zwischen der Nordsee und dem Bodensee; der Rheinfall von Schaffhausen ist durch das riesige Hebewerk umgangen.

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Es gibt keine Zölle und Schlagbäume mehr, und es gibt auch kein Niederwasser mehr. Dafür sorgen die Stauweiher an allen Quellströmen und Zuflüssen in den Alpen und in den Mittelgebirgen rechts und links. Nur gegen den Winterfrost gibt's noch immer kein anderes Mittel als den Eisbrecher." „Mensch, mir schwindelt der Kopf. Wie wenig habe ich euch zu sagen - und wieviel habe ich zu fragen! Technischen Fortschritt habe ich erwartet, dieser Stein war im Rollen. Aber eure ganze Ordnung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, werde ich das je verstehen? Das ist wirklich eine ganz neue Welt - für mich." „Hast reichlich Zeit, Fremder. Und es gibt Leute, die dir alles besser erklären können als ich, der ich bloß ein lumpiger Physiker bin. Schließlich: es ist alles so furchtbar einfach. Wirst selbst sehen. Wir lernen schon als Zwölfjährige in der Schule zwei alte Weisworte, wenn unsere Lehrer uns erzählen, wie schlimm es war, und wie es so gut wurde. Das eine stammt aus dem klassischen Altertum, von einem der sieben Weisen Griechenlands: ,Was die Menschen in Verwirrung setzt, sind nicht die Tatsachen, sondern ihre Meinungen über die Tatsachen.' Das geht auf die Verwirrung vor der Erlösung. Und das andere stammt aus der Neuzeit von dem Engländer Burke, der freilich sehr erstaunt wäre, wenn er sich als Kronzeuge für gerade die Lehre genannt wüßte, die er so bitter bekämpfte: die Freiheitslehre unserer großen Klassiker. Er sagte: ,Natur ist Weisheit ohne Nachdenken und besser als das.' Das geht auf die Erlösung. Unsere Väter haben nichts anderes getan, als der Natur den Weg freizumachen, und es hat sich gezeigt, daß sie wirklich weiser war als alle Weisen." Von links her blitzte der Main auf; sie überflogen den dunkelwaldigen Taunus und sahen die weite Ebene unter sich übersät von einer einzigen zusammenhängenden Siedlung von Wiesbaden über Höchst bis nach Frankfurt und Offenbach. „Da hast du eine der größten Stadtlandsiedlungen Europas", sagte Fridl. „Unsere halbe chemische Industrie hat hier ihren Standort. Sieh' nur den Hafen, wie voll er ist." Darmstadt, im Kranze seiner herrlichen Wälder, Heidelberg-Mannheim, in eins verschmolzen. „Alt Heidelberg, du feine", summte Bachmüller, „schlagen sie noch Mensuren?" „Nein, diesen Rest der Feudalzeit haben wir längst mit ihr begraben. Deine linke Backe, Fremder, schaut aus, als wärst du noch dabei gewesen." Fridl lächelte verstohlen, Bachmüller lachte. „Ach, ich hatte einmal eine Keilerei mit einem wilden Volksstamm, den Wan-dal." „Wo denn?" „Drüben." Er wies mit dem Finger, westwärts. Fridl grinste. „Südamerika? Amazonenstrom?" „Nein, alte Welt, Forschungsreise." Gottlieb Klingenberg sah ihn mißtrauisch an, sagte aber nichts. Stuttgart, der Neckar, rechts der Schwarzwald, links der Jura in lichter Nachmittagssonne. Die Heimat! Das Flugzeug kreiste, sich senkend, und rollte auf das Dach des Hochhauses. „Dank für die schöne Fahrt." „Keine Ursache, war Dienst. Ich komme mit, bin jetzt frei." Sie fuhren hinab. „Einen Augenblick", sagte Fridl. „Ich muß Mutter anrufen. Wenn ein Gast kommt, gibt's was außergewöhnliches, anders tut sie's nicht. Und Überraschungen in dieser Beziehung haßt sie." Er schritt auf eine Telefonzelle zu, Gottlieb eilte ihm nach. „Wer ist der Mann, wo kommt er her?" Fridl sah ihm ernst ins Gesicht: „Ohne Scherz, der Mönch von Heisterbach, Rip van Winkle, einer der Siebenschläfer. Morgen früh wird's in allen Zeitungen stehen. Bis dahin." Er legte den Finger auf den Mund: „Dienstgeheimnis!" Er trat in die Zelle. Gottlieb ging kopfschüttelnd aus der Halle. „Es wird lustig, Hans", rief Fridl, als er wieder erschien. „Zu Hause wissen sie nur, daß ein Gast erwartet wird, Hans Wanderer. Onkel Hermann hat dichtgehalten. Das wird eine Überraschung

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geben! Jetzt mal schnell zum Warenhaus. In dem Aufzug kannst du nicht bei Mutter antreten." Sie saßen schon im Rennwagen. „Aber wird man mein Geld nehmen?" „Man nimmt meinen Scheck. Kannst mir's morgen zurücküberweisen, wenn du dein Konto auf der Bank hast." „Wird man denn da mein Geld nehmen? Ich muß doch einzahlen. Die alten deutschen Scheine werden doch keine Gültigkeit mehr haben?" „Brauchst nichts einzuzahlen. Kriegst ohne weiteres dein Scheckbuch und ein Guthaben, das ausreicht, bis du dir einen Beruf gewählt hast. Da du hier unbekannt bist und kein Bankbuch von auswärts mitbringst, werden wir dich legitimieren müssen. Macht keine Schwierigkeiten." „Schöne Prinzipien für eine Bank! Ungedeckter Kredit für jedermann. Das ist ja das reine Paradies für Arbeitsscheue und Schwindler." Fridl lachte lustig. „Ich sehe schon, du verstehst mich nicht, und ich verstehe dich nicht. Laß' dir's von Sachverständigeren erklären. Nur das eine kann ich dir sagen, die Bank verliert nie etwas, selbst wenn mal einer unversehens stirbt, ehe er ein Habensaldo hat. In solchen Fällen und bei wirklicher Arbeitsscheu, die nur bei Geisteskranken vorkommt, trägt die Gesamtkasse den Verlust; er wird auf Fürsorgekonto belastet." „Und Schwindler gibt's nicht mehr?" „Kommen noch vor, wenn auch sehr selten. Der Mensch ist im Kern nicht anders geworden, Engel sind wir nicht geworden, aber die Versuchung ist viel seltener, wo keiner arm ist und Reichtum nicht Würde verleiht. Aber wie sollte wohl einer die Bank beschwindeln? Bargeld gibt's nur noch als Scheidemünze für kleine Zahlungen, wo es nicht lohnt, einen Scheck auszuschreiben: für 'ne Fahrt in der Straßenbahn, für einen Imbiß im Gasthaus, für eine Eintrittskarte in ein Theater oder Kino. Alle größeren Zahlungen gehen über das Bankkonto in Einnahme und Ausgabe. Lohn, Gehalt, Zinsen und die fremden Schecks werden gutgeschrieben, und unsere eigenen Schecks und ζ. B. die Steuer belastet. Jeder Erwachsener erhält ein für allemal seinen Bankausweis mit seiner Nummer und seinem Bilde. Wo er nicht persönlich bekannt ist, muß er ihn vorzeigen. Niemand darf sein Guthaben überziehen ohne ausdrückliche Genehmigung. Kommt ja mal vor, daß ein leichtsinniger Hund in einer tollen Nacht mehr verjuxt als er gut hat. Dann muß er eben in der nächsten Periode krummliegen oder mehr arbeiten. Wiederholt es sich, so wird er dadurch bestraft, daß er's abarbeiten muß. Verhungern braucht er darum noch nicht. Es kommt aber sehr selten vor. Verschwendung bringt heute keine Ehre mehr ein, Arbeitsscheu und Ausschweifung bringen nur Schande, Kumpane finden sich kaum je - und allein verfressen und versaufen kann er sein Einkommen nicht so leicht, wenn er nur arbeitet. Ich sehe, es wird dir schwer zu verstehen. Uns erscheint es als ganz selbstverständlich. Professor Ullrich erklärte es sehr schön mit einem alten Worte von Jean Jacques Rousseau: Wir leben, sagt er, in einer Gesellschaft, in der niemand reich genug ist, um viele zu kaufen, und niemand arm genug, um sich verkaufen zu müssen. Denk' dir das mal durch. Da ist das Warenhaus." Wenige Minuten später erschien Bachmüller wieder in der schmucken Feiertracht der neuen Zeit, Wams, kurzes Beinkleid und Strümpfe aus dunkler Seide, gleichfarbige Halbschuhe. Er hatte sich auch mit Nachtzeug und Toilettesachen und einem einfacheren Tagesanzug versorgt; all das und seine mitgebrachte Tracht trug er in einem neuen Koffer aus Leichtmetall in den Wagen. Bald darauf stand er vor dem Herrn des Hauses, dessen Gast er sein sollte. „Hans Wanderer - mein Vater, Professor Bachmüller."

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IV. Kapitel Das neue Heim Der hochgewachsene blondbärtige Mann war ihm auf die Veranda entgegengekommen. Er reichte ihm die Hand: „Es ist uns eine Ehre, Fremder. Bitte hier hinein." Er führte den Gast durch den Vorraum in ein kleines Zimmer: „Hans Wanderer - meine Frau." Die stattliche Matrone in dunklem Seidenkleide streckte ihm die Hand entgegen: „Willkommen, Fremder. Unser Haus ist dein Haus." Er neigte sich tief. „Du kommst von weit her?" „Von sehr weit. Beinahe aus einer anderen Welt." „Nun, wir halten's mit den alten Griechen. Zuerst wird der Gast bewirtet, dann muß er erzählen. Fridl, zeige dem Fremden sein Zimmer. Um acht Uhr ist Abendessen." Fridl führte den Gast eine Treppe hinauf in ein Zimmer, das in den Hintergarten schaute. „Sieh' da", flüsterte er, „dein altes Häuschen. Werden die sich wundern! Hier ist dein Bad." „Du, Fridl, deine Mutter, die ist ja eine Römerin. Cornelia, die Mutter der Gracchen. Wie kommst du gelber Kanarienspatz aus dem Nest? Stammt sie aus Italien?" „Ja und nein. Uralte schwäbische Freibauernfamilie von der Alb. Aber ganz gewiß Romanin von Römerzeiten her. Die saßen hier überall im Schutz des Limes, und viele blieben, als.die Alemannen einbrachen. Bei uns ,mendelt' es komisch. Wir Buben sind alle blonde Alemannen wie Vater, die Mädels alle tiefbrünette Römerinnen wie die Mutter. Nun mach' dich zurecht und rasiere dich. Kannst es brauchen. Ein Apparat ist im Badezimmer. In zwanzig Minuten komme ich dich holen. Oder besser: ich warte hier. Sonst hat mir Mutter binnen fünf Minuten alle Würmer aus der Nase gezogen - und die Überraschung fällt ins Wasser." Frisch rasiert und gestriegelt, sehr stattlich in seiner Feiertracht, stand Hans Bachmüller bald darauf wieder vor seinen Wirten. „Wanderer möchte das Haus sehen", sagte Fridl. „Wir haben noch über eine halbe Stunde Zeit." „Gern." Die Hausfrau schritt voran: „Unser Eßzimmer." Ein weiter heller Raum, mit hohen Fenstertüren, die sich auf die Veranda öffneten. Kein Möbelstück als ein gewaltiger runder Tisch und viele Stühle. Aber in der schmucken Täfelung ringsum zeugten Griffe und Schlüssellöcher von zahlreichen Wandschränken. Der Fußboden aus Fliesen mit schönen Teppichen darauf. „Im Sommer ganz schön", sagte Bachmüller, „aber im Winter?" „Unterbodenheizung, wie in den römischen Landhäusern, die sie hier ausgegraben haben", sagte Frau Bachmüller. „Hier ist alles auf Arbeitsersparnis angelegt. Der Boden wird abgeschlaucht; da ist der Hahn, und dort in der Ecke unter dem Rost der Abfluß. Die Wände und Teppiche erledigt der Staubsauger. Bitte hier." Ein zweiter ebenso großer Raum mit dem Blick nach Westen. „Das Musikzimmer, unser Luxus." Ein großer Konzertflügel, auf ihm zwei Geigen und eine Bratsche in ihren Kästen, daneben Cello und Baß, Notenständer, und in einem großen offenen Wandschrank Noten über Noten. Sonst nichts als mehrsitzige Bänke und Stühle mit einfachen Strohsitzen. Der Professor lachte: „Spartanisch! Wir sitzen sonst ganz gern weich. Aber es ist wegen der Akustik. Polster fressen den Ton. Wir sind alle ein bissei musikalisch. Abends Kammermusik, das ist unsere größte Freude." „Ich geige auch ein wenig", sagte Bachmüller. „Was spielt ihr am liebsten?" „Ach, die Reihe ist lang. Von den alten natürlich Bach, Haydn, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss, Mahler, Debussy, und dann natürlich die Meister unserer Zeit: Farraglioni, Wilbuszewitz, Karl Konrad Schmied usw. Das sind unsere ganzen .Repräsentationsräume'.

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Sonst gibt's nur noch Schlafzimmer, natürlich mit Bad, alle wie dein's, nur unser Ehezimmer ist größer." „Ich bin ein Baumensch und schrecklich neugierig. Darf ich auch die Wirtschaftsräume sehen?" „Bitte hier die Küche." Ein Doppelschrei ertönte. „Keine Angst, Mädels, der Fremde beißt nicht." Zwei junge, dunkle Schönheiten in weißen Schürzenkleidern knicksten befangen. „Hans Wanderer - meine Töchter, Marianne und Klara. Die Kinder machen das Essen fertig. Wir nehmen fast alle Mahlzeiten zu Hause. Der Stadtkoch schickt die Speisen nach Bestellung ungekocht im Abonnement. Wir machen nur fertig und richten an. Hier der Wärmschrank, der Kühlschrank, der Herd, hier die üblichen Kleinmaschinen für Geschirrwaschen, Messerputzen usw., alles natürlich elektrisch betrieben. Von weiteren Wirtschaftsräumen gibt's nur noch einen Obst- und Weinkeller. Heizung und Warmwasserversorgung sind elektrisch, die Wäsche besorgt die Großwäscherei, die Reinigung und Ausbesserung der Kleider und Wäsche die Genossenschaft der Schneider und Näherinnen, alles im Abonnement. So können wir Frauen das Haus leicht versorgen, obgleich es über den Durchschnitt groß ist, und haben doch Zeit für unsere Lustarbeit." „Lustarbeit?" „Ja, so nennen wir's als Gegensatz zur Pflichtarbeit, die aber so kurz ist, daß sie auch lustig sein kann. Ich schriftsteilere ein bißchen, Marianne studiert Musik, Klara ist bei der Wöchnerinnenfürsorge, Fridl ist Schlosser und studiert Elektrotechnik. Unser ältestes Mädel ist verheiratet, Bernhard studiert Medizin." Ein sehr erhitzter und schmutziger Blondkopf schlich herein und schmiegte sich an sie: „Na, du Lauser, bist du endlich da? Gut gegangen?" „Mutti, Mutti, haben wir sie abgeschmiert! Sechs Tore gegen eins. Unser Direx hat eine Mordsfreude. Aber die anderen ziehen lange Gesichter. Paß auf, morgen gibt's auf dem Schulweg Keile• Ii

rei. „Mein Sohn Paul, das Nesthäckchen", sagte der Vater. „Gib dem Fremden die Hand, Paul." „Fußball?" fragte Bachmüller. „Wohl, wohl, Tertia gegen Tertia, Winslingen gegen Rudolfingen, es war großartig. Fritze Berndt war drüben Tormann. Ich habe ihm einen Elfmeter hineingeknallt, dicht an ihm vorbei. Gespuckt hat er!" „Bravo! Und nun geh' dich waschen und umziehen. In einer Viertelstunde ist Essenszeit. Heut' gibt's was Feines." „Hurra! Ich habe Hunger wie der Fenriswolf." Er sauste ab. Man hörte die schnellen Füsse auf der Treppe. „Darf ich nun auch dein Laboratorium anschauen, Professor? Fridl zeigte es mir vom Fenster aus, und ich bin als Ingenieur doch ein bissei vom Fach." Sie gingen durch den Hintergarten. Der Professor Schloß die Tür auf und führte in einen weiten Raum, durch dessen Fenster die Abendsonne schien. „Das war der Arbeitsraum meines unglücklichen Großonkels, der vor hundert Jahren spurlos verschwand. Hier nebenan war sein Schlafzimmer, jetzt mein Magazin. Dann gibt's noch eine kleine Küche. Mehr Räume hat das Häuschen nicht. Nur da hinten ist noch ein Felsenkeller, den er unfertig hinterließ. Mein Großvater, sein Bruder, hat das Grundstück geerbt, als er für verschollen erklärt wurde. Er muß etwas Vermögen gehabt haben, aber es hat sich niemals gefunden. In diesem Hause ist noch mein Vater geboren worden. Aber als der Wohlstand kam, baute Großvater ein größeres Haus, das dann mein Vater erweiterte. Wir waren eine ganze Horde von Kindern. Das Bild da an der Wand ist ein Porträt des Verschollenen. Alle Wetter, jetzt weiß ich, warum du mir so bekannt vorkamst. Sieh' mal, Mutter, diese Ähnlichkeit." „Meinst du?" sagte Hans Bachmüller lässig. Fridl, hinter seinen Eltern, tanzte vor Schelmerei und Ungeduld. „Kann ich nicht finden." „Doch, doch, wie aus dem Gesicht geschnitten. Was sagst du, Fridl?"

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„Na ja, er hat auch die Nase über dem Mund und unter den Augen." „Ein ander Mal wirst du mir vielleicht erklären, wozu all diese fremdartigen Maschinen und Instrumente dienen. Heute ist es zu spät. Aber jetzt will ich dir etwas zeigen." Er trat an die Wand und verschob ein Stück der breiten Leiste, die die Täfelung oben abschloß. Dann drückte er leicht links an die Tafel. Sie drehte sich in einem verborgenen Scharnier, hinter ihr wurde eine eiserne Tür sichtbar. Bachmüller holte einen Schlüssel aus der Tasche und Schloß auf. Sprachlos hatten ihm die Gastfreunde zugeschaut. Jetzt konnte Fridl sich nicht länger halten. „Vater, Mutter, er ist es selbst, der verschollene Hans Bachmüller. Er ist mit der Zeitmaschine hergereist; die hat er im Felsenkeller ausgegraben. Wahrhaftig, er ist's. Fragt Onkel Hermann, der hat seinen Paß, und - ihr habt ja selbst eben gesehen. Wer wußte von dem Safe, als er allein?" „Und wer weiß außer ihm, was drin ist", sagte Bachmüller. „Greif hinein, Fridl, nimm alles heraus und lege es auf den Tisch: die goldene Uhr von Wilson, den Revolver aus Suhl, die Knöpfe und die Aluminiumflasche, den Schädel und Kiefer des armen Teufels von Engländer. Außerdem liegen drin der Trauschein meiner Eltern und ihre Trauringe, alle meine Papiere: vom Impfschein bis zum Diplom, ein paar Hundertmarkscheine und schließlich das verschwundene Vermögen, ein paar Aktien und Obligationen, die heute wohl nichts als Makulatur sein werden." Fast andächtig legte Fridl die Beweisstücke auf den Tisch. Noch immer standen Professor Bachmüller und seine Frau sprachlos, gläubig-ungläubig vor dem Heimgekehrten. Da stürzte Paulchen herein. „Extrablatt", keuchte er. Eine riesige Schlagzeile über die ganze Seite in großer Fraktur. AUS DER VIERTEN DIMENSION! DIE ZEITMASCHINE! Darunter ein Text mit zahlreichen Zwischenschlagern: „Seit hundert Jahren verschollen ... Heimgekehrt ... Hans Bachmüller ... Vorstand. Dr. Hermann Henricy ... Morgen 20 Uhr bis 20.15 spricht der jugendliche Urgreis im Rundfunk." „Da haben wir's", stöhnte Bachmüller. „Das geht ja fix bei euch. Nun ist die Katze aus dem Sack." „War ja unvermeidlich. Onkel Hermann mußte doch die Sender anrufen und die Presse benachrichtigen." „Na, mir soll's recht sein." Fridl zog den kleinen Bruder am Ohrzipfel vor den Gast: „Schau hin, du Lausbub, das ist dein Urgroßonkel Hans Bachmüller." Der Junge starrte: „Hurra, hoch, das ist noch besser als Fußball. Wird der Fritze Berndt neidisch sein." „Und nun, Frau Base", sagte Bachmüller, „sag' mir eins', macht man noch Spätzle in Schwaben? Ja? Dann ist's gut." Es wurde ein fröhliches Abendessen.

V. Kapitel Der Todes-Strahl Als die Frauen sich zurückgezogen hatten, und die Männer noch bei einer Flasche alten Markgräflers und einer Zigarre beieinandersaßen, sagte Hans Bachmüller: „Wie kam das alles, Vetter? Welcher Genius hat unsere verwirrte Welt geordnet? Es muß ein Riese gewesen sein. War's ein Bernhard von Clairvaux, der alle sehnsüchtigen Seelen zum Kreuzzug gegen den Teufel entflammte? War's ein Lykurg oder Solon oder Konfuzius, ein Weiser, dem die ratlose Menschheit Vollmacht

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gab, sie zu heilen? War's ein Dschingis-Khan oder Bonaparte, der sie mit Feuer und Schwert zur Einheit zusammenschweißte? Ich denke, es muß so ein Kriegsheld gewesen sein. Denn die Staatenlenker meiner Zeit waren so verstockt und verrannt, daß sie kaum anders als durch schiere Gewalt zur Vernunft gebracht werden konnten. Ich habe gegrübelt und gegrübelt in meiner Einsiedelei da hinten und unendlich gelesen, was nur immer über diese Dinge geschrieben wurde; aber ich kam doch immer mehr zu der Uberzeugung: nur der Krieg kann den Krieg besiegen." „Und du hast recht gehabt." „Wahrhaftig? Habt ihr noch einmal durch die Hölle hindurch müssen? Da nimmt mich nur wunder, daß noch eine einzige der alten Städte stehengeblieben ist! Was ich heute nachmittag sah zwischen Jura und Eifel, schaute nicht nach Krieg aus. Ich weiß, wie Krieg aussieht: ich war 1918 an der Westfront. Wo war der Kriegsschauplatz? Was haben die Brandbomben von den Städten und die Giftgase von ihren Einwohnern übriggelassen?" „Es gab keinen Krieg, keine Zerstörung und keinen Massenmord. Und es war kein Genie, das die neue Ordnung schuf: kein Prediger, kein Gesetzgeber, kein Eroberer. Es war die Wissenschaft. Sie war der Speer des Achilleus: ,Was verwundet hat, heilt auch', so sagte das Delphische Orakel. Die Naturwissenschaft hatte der Menschheit die furchtbaren Waffen gegeben, die berufen schienen, ihre Ausrottung zu vollziehen: die gleiche Naturwissenschaft hat in ihrem unaufhaltsamen Fortschritt eine so viel furchtbarere Waffe geschaffen, daß der Krieg zur völligen Unmöglichkeit wurde. Das war der Weg der Menschheit, ihr Passionsweg bis zum Golgatha des Weltkrieges, daß immer das Volk stärkerer Waffen das Volk schwächerer Waffen unterjochte: zuerst besiegte die Bronze den Stein, dann das Eisen die Bronze, dann das Pulver das Schwert, dann die Maschine die Kanone - und zuletzt die Physik die Waffe und den Krieg überhaupt." „Erzähle!" Professor Bachmüller trat an den Bücherschrank, holte ein schmales Büchlein hervor, und hielt ihm das Titelblatt hin: „ Wie die Erlösung kam\ Aus den Geheimakten des Bundesstaates Frankreich. Amtliche Ubersetzung. Paris 2000." „Nimm und lies. Wir lassen dich allein. Gute Nacht, ich habe morgen früh acht Uhr schon zu tun." Und Hans Bachmüller las.

I. Stück Beschlußdes Rats des Bundesstaats Frankreich vom 1. Dezember 1999 Die hier zum ersten Male veröffentlichten Akten waren bisher außer den ursprünglich beteiligten Personen nur den Präsidenten der Republik bekannt. Wenn wir sie heute der Welt kundtun, als eine Weihegabe zum Beginn des dritten Jahrtausends, so opfern wir damit eine allen Franzosen überaus teure Legende. Wir opfern sie der geschichtlichen Wahrheit und erfüllen damit gleichzeitig eine heilige Pflicht gegenüber einem großen Toten, dem Bahnbrecher der neuen Zeit. Sein Name, fast verschollen, nur wenigen Gelehrten noch bekannt, wird von jetzt an als ein Stern erster Größe am Firmament der Menschheit leuchten: GABRIEL HEINEMANN.

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II. Stück Handschriftliche

Aufzeichnung

von Emile Gauthier, Kriegsminister,

vom 23. Juli 1946

Heute, 11 Uhr 15, empfing ich zu erbetener vertraulicher Unterredung den Geheimrat Prof. Dr. phil. Gabriel Heinemann, früher am Kaiser-Wilhelm-Institut zu Berlin, seit 1933 in Sundwyl, Kanton Bern. Er hatte ein Einführungsschreiben unseres großen Physikers Georges Duval eingeschickt, das ihn als einen der ersten Männer seines Faches bezeichnete; er war zwei Jahre zuvor für seine grundlegenden Arbeiten über die Zertrümmerung des Atoms mit dem Nobelpreise ausgezeichnet worden. Vor mir erschien ein hagerer, eher kleiner Mann von etwa sechzig Jahren, leicht ergrauter Bakkenbart, auffällig die leuchtenden dunklen Augen und die hohe Stirn. Er sprach ohne jeden Umschweif sofort zur Sache in gutem Französisch, wenn auch mit einigem deutschen Akzent. „Herr Minister, ich habe eine neue Waffe von unerhörter Wirksamkeit konstruiert. Niemand außer mir weiß das Geringste davon. Frankreich ist die erste Großmacht, die Kenntnis erhält. Sie begreifen, daß es sich um eine Angelegenheit handelt, die die äußerste Verschwiegenheit erfordert. Ich bitte Sie, die Konstruktion durch Sachverständige prüfen zu lassen, deren Urteil für Ihre Entschließungen maßgebend ist, und deren Diskretion Sie völlig sicher sind." Wir sind mißtrauisch gegen die Erfinder neuer Waffen, von hundert sind wenigstens 98 Verrückte oder Hochstapler. Aber der Mann war eine europäische Autorität und sah nicht aus wie ein Geschäftemacher. Ich fragte daher: „Was soll's sein? Ein Artillerist?" „Es handelt sich um kein Geschütz. Ich wünschte einen Strategen ersten Ranges und wenn möglich eine Autorität je der Luftwaffe und der Marine. Freilich sind dann schon vier Männer im Geheimnis - und ich versichere Ihnen, Herr Minister: es ist für Ihr Land von großer Bedeutung, daß das Geheimnis gewahrt werde." „Französische Offiziere wissen zu schweigen. Wo wollen Sie den Apparat vorführen?" „In meinem Laboratorium im Kanton Bern. Ein anderer Ort ist aus technischen Gründen ausgeschlossen." „Wann?" „Wann Sie befehlen. Ich stehe jederzeit zur Verfügung." „Sagen wir: am 1. August, morgens 9 Uhr." „Einverstanden! Noch eine Anregung. Die Herren täten besser, in Zivil und mit Pässen einzureisen, die ihren Beruf nicht angeben. Ferner dürfte sich empfehlen, daß sie nicht zusammen reisen und nicht im gleichen Hotel absteigen." „Soviel Vorsicht?" Er sah mich mit einem Blick an, der mir einen leichten Schauer über das Rückgrat jagte: ein so drohender Ernst lag darin. „Vielleicht werden Sie am 2. August finden, daß noch nicht genug Vorsicht geübt wurde." „Gut, gut! Es wird nach Ihrem Willen geschehen." So trennten wir uns.

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III. Stück Geheimbericht des Obersten Grafen de Cisserac, Chefs der strategischen A bteilung des Großen Generalstabs, des Oberstleutnant Guetry, Kommandant der Luftflotte Ost, und des Contreadmirals Henniger vom Arsenal Toulon Gestern, am 1. August 1946, trafen wir drei befehlsgemäß in Sundwyl, Kanton Bern, ein, und begaben uns einzeln zu dem 3 km von dem Dorf entfernten Landsitz des Professors Heinemann, wo wir pünktlich 9 Uhr antraten; er empfing uns selbst; wir haben keinen anderen Insassen des Grundstücks gesehen. Er führte uns eine Treppe hinauf in ein Turmzimmer, dessen Wände nur aus Fenstern bestanden, und bat uns, Platz zu nehmen. „Meine Herren, darf ich um Ihre Legitimationen bitten?" Er studierte die Dokumente auf das Genaueste und gab sie zurück. „Danke. Und nun gestatten Sie mir eine Einleitung, die Sie überraschen wird. Ich habe mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich Offizier wäre, und jemand mir das zeigte, was Sie sofort sehen werden. Ich würde nicht einen Augenblick zögern, den Mann auszurotten, auch auf die Gefahr hin, daß die höllische Maschine mit ihm verschwände. Bitte, sich nicht erzürnen zu wollen, es ist nicht persönlich gegen Sie gemünzt. Da ein derartiges Ereignis jedoch meine Pläne durchkreuzen würde, sage ich Ihnen: wenn mir etwas Menschliches zugrößt, ist dafür Sorge getragen, daß der deutsche Wehrminister meine neue Waffe übermorgen schlagbereit in ausreichender Zahl zu seiner Verfügung hat. Und dann steht es schlimm um Frankreich." War der Mann ein Irrsinniger? Er sprach mit der größten Ruhe. „Und nun zur Sache." An einem der Fenster stand ein Dreibein, auf dem ein etwa einen Meter langes Metallrohr beweglich angebracht war. Darauf war ein Zielfernrohr montiert. „Wollen Sie gütigst durch das Fernrohr sehen! Das Fadenkreuz ist auf eine Metallkugel eingestellt, die zwei Kilometer von hier auf einem Felsblock liegt. Es ist eine Bombe wie diese hier." Er zeigte auf eine Stahlbombe im Winkel. „Diese hier ist ungefüllt, die draußen hat nur eine schwache Ladung, aus Gründen, die Sie sofort begreifen werden. Wenn Sie auf diesen Knopf hier rechts am Rohr drücken, wird sie auffliegen. Lassen Sie sich Zeit. Sie sollen sich überzeugen, daß ich Ihnen keinen Trick vormache. Sehen Sie, ich setze mich mit dem Rücken gegen Sie. Ein Spiegel ist nicht vorhanden. Sie können mir auch die Augen verbinden. Zwei der Herren können meine Hände halten. Ich bitte darum." Guetry und Cisserac banden ihm die Augen zu und hielten seine Hände. Er machte keine Bewegung und gab keinen Laut von sich. Henniger sah auf seine Uhr. 34 Sekunden wartete er, so hatte er es sich vorgesetzt, dann drückte er auf den Knopf. Im gleichen Moment krachte es, eine Staubwolke stieg auf; als sie sich verzogen hatte, war die Bombe und der Felsblock verschwunden. „Wollen die Herren die Sprengstücke untersuchen? Vielleicht später! Es ist die gleiche Bombe wie diese hier." Bester Gußstahl und eine enorme Wandstärke! „Nun die zweite Probe", sagte der Professor. „Zuerst aber will ich den Apparat verriegeln. Eine unvorsichtige Bewegung, und das Unglück ist da." Er verschob einen Riegel hinten am Rohr und rollte den Apparat an ein anderes Fenster. Auf dem Tisch lag eine Generalstabskarte. „Hier ist Sundwyl, hier mein Haus. Der kahle Berg dort ist der kleine Schafhubel. Wollen Sie bitte die Entfernung bis zum Gipfel schätzen." „Ungefähr 43 Kilometer in der Luftlinie", sagte Cisserac nach einem Blick auf die Karte.

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„Gut. Ich habe da oben einen Holzstoß errichten lassen und Sorge getragen, dafi niemand in gefährlicher Nähe verweht. Bitte, das Fernrohr einzustellen." Es geschah. Wieder forderte der unheimliche Mensch die Vorsichtsmaßregeln des ersten Versuchs. Diesmal zielte und schoß Guetry. Im Moment, wo er den Knopf berührte, brannte der Holzstoß lichterloh. „Bitte, zum dritten Versuch. Sie sehen dort drüben das Tal, das sich nach oben verengt und mit einer steilen Felswand endet. Dort habe ich eine alte Kuh anbinden lassen. Daneben sehen Sie ein graues Viereck. Es ist eine Kruppsche Panzerplatte der stärksten Art. Wollen Sie bitte das Tier ins Fadenkreuz bringen. Wie weit schätzen Sie?" „Zweiunddreißig bis dreiunddreißig Kilometer wie die Krähe fliegt." „Gut. Die Binde. Ihre Hände." Cisserac war an der Reihe. „Großer Gott", stammelte er. Wir rissen die Gläser an die Augen. Die Kuh, oder was noch von ihr übrig war, lag auf der Seite. Ein dicker schwarzer Qualm stieg von dem Kadaver auf. „Ein schneller schmerzloser Tod", sagte der Professor kühl. „Das gute Tier hat wahrscheinlich Millionen Menschen einen langsamen und schmerzensreichen Tod erspart. Jetzt, bitte, auf die Platte. Halten Sie den Finger einige Sekunden auf dem Knopf." Wir starrten durch die Gläser hinüber. Fast in dem gleichen Augenblick, wo Cisserac den Knopf berührte, ging die graue Farbe in ein mattes Rot, und dann dieses in glühendes Rot und fast sofort in Weißglut über, die uns wie ein Scheinwerfer blendete, obgleich es heller Tag war. „Jetzt zur Besichtigung des Tatbestandes", sagte der Professor. „Darf ich bitten?" Wir verließen das Haus, zitternd vor Erregung. Wahrlich, es war gut, daß der Mann uns die einleitende Warnung gegeben hatte. Wir wissen nicht, wessen wir fähig gewesen wären. Er führte uns zu einem Auto und setzte sich ans Steuer. Von der Bundesstraße bog er in jenes enge Tal ein und folgte ihm so lange, wie das Terrain es gestattete. Dann mußten wir ein Stück mühsam steigen, bis wir unter der Felswand standen. Der Kadaver der unglücklichen Kuh rauchte noch. Er war verbrannt, als hätte er stundenlang im Feuer gelegen. Und aus der Panzerplatte war ein großes Loch ausgeschmolzen. Keiner von uns wagte ein Wort. „Meine Herren, ich danke Ihnen. Sie sind im Bilde. Um achtzehn Uhr geht der Schnellzug nach Paris. Auch ich werde ihn benutzen. Ich wohne im Trocadero. Dort erwarte ich die Mitteilungen Ihres Herrn Ministers." Einzeln und unauffällig, wie wir gekommen waren, reisten wir heim. Die furchtbare Bedeutung des Gesehenen Schloß uns den Mund. Unterschriften: de Cisserac

Guetry

Henniger

IV. Stück Unterredung des Kriegsminister Emile Gauthier mit Professor Heinemann Einverständnis mit diesem auf eine Schallplatte aufgenommen

vom 3. August 1946, im

„Was fordern Sie für Ihre Erfindung?" „Viel, sehr viel!" „Frankreich ist reich." „Nicht reich genug, um sie zu kaufen. Keine Illusionen, Herr Minister. Frankreich wird niemals

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über den Todesstrahl verfügen, nicht für alle Ehren und nicht für alles Gold in den Kellern Ihrer Bank." „Sie sind doch zu uns gekommen?" „Ja, weil Frankreich das Land der Ideen von 1789 war, und weil Frankreich der Sieger des letzten Krieges ist. Ich will den Krieg ausrotten, und das ist nur möglich, wenn endlich einmal der Sieger sein Schwert zerbricht, statt es wie Brennus in die Wagschale zu werfen. Frankreich hat an meinem Vaterlande schweres Unrecht gutzumachen. „Herr Professor!" „Ich weiß, was ich spreche und zu wem ich spreche. Und Sie werden mich anhören müssen. Übrigens haben Ihre eigenen Staatslenker längst stillschweigend anerkannt, daß Deutschland schweres Unrecht geschehen ist. Soll ich von Wilsons vierzehn Punkten, der Lüge der Kriegsschuld, von der empörenden Behandlung unserer Friedensunterhändler, soll ich von den wahnsinnigen Bedingungen des Vertrages von Versailles sprechen, die Europa in diese Krise gestürzt haben? Von der schmählichen Begründung für den Raub der deutschen Kolonien? Lassen wir das! Sie wissen gut genug, daß jetzt ich in der Lage bin, Bedingungen zu stellen. Ihre Sachverständigen haben Ihnen gesagt, daß wenige meiner Rohre genügen, um Millionenarmeen zu vernichten, daß ein einziges Flugzeug aus sicherer Entfernung Ihre ganze Luftflotte, und ein einziges kleines Motorboot ebenso sicher Ihre Marine zerstören kann. Aus einer Höhe von dreitausend Metern beherrscht mein Apparat 125.000 Quadratkilometer, also ein Viertel von Frankreich; denn der Todesstrahl wirkt so weit wie die Sicht reicht. Wenn ich ein Mann der alten Denkart wäre, dann könnte ich mich mit hundert Soldknechten zum Dschingis-Khan der ganze Erde machen." „Sie sind in meiner Gewalt." „Sie sind in meiner. Wenn ich übermorgen nicht in Bern zurück bin, hat tags darauf der deutsche Wehrminister meine Rohre in seinem Besitz, und dann stellt Ihnen ein Mann der alten Denkart, ein Mann Ihrer Denkart, härtere Bedingungen als ich." „Furchtbarer Mensch! Warum Deutschland?" „Weil Deutschland Unrecht geschah, weil ich ein Deutscher bin, wenn ich kein Europäer und Weltbürger sein darf. Wenn Sie meine Bedingungen ablehnen, werde ich alles versuchen, um von Ihrem deutschen Amtsbruder das gleiche zu erreichen: aber dann ist mein größter Wunsch nicht mehr erfüllbar, das Geheimnis zu wahren und alle Bitterkeit der Demütigung zu verhüten. Ich will nicht, daß Frankreich gedemütigt werde. Ich will im Gegenteil, daß es sich die höchste aller Ehren erwerbe: des Siegers, der sein Schwert zerbricht." „Ich glaube, ich fange an, Sie zu verstehen." „Ich will, daß Frankreich in den Augen der Welt den Beweis der hochherzigsten Großmut gibt. Es soll Deutschland die Bruderhand reichen, was es 1918 hätte tun müssen. Es soll ihm einen ewigen Bund zwischen völlig Gleichen anbieten. Niemals, auf mein Ehrenwort als Gelehrter, soll durch mich jemand erfahren, daß diese große Geste nicht ganz freiwillig geschah. Mein Name soll nie genannt werden, meine Erfindung soll nie gewesen sein." „Das wäre ein Weg. Nein, das ist der Weg! Wie denken Sie sich das des Näheren - Meister?" „Ich übergebe Ihnen hier eine Denkschrift, die Frucht jahrelanger Erwägungen. Ich gebe Ihnen einen Monat Frist. Am 1. September muß der Vertrag geschlossen sein."

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V. Stück Die Denkschrift des Professor Heinemann A. Wirtschaftsbund 1. Sämtliche Zölle beider Länder werden, und zwar, um Schädigungen nach Möglichkeit zu vermeiden, nur allmählich, bis zum Verschwinden herabgesetzt. Vorschlag: Die Tarife ermäßigen sich je am 1. und 15. jedes Monats um 1/2%, dies, um spekulative Ausnützung größerer Stufen zu verhüten. Nach acht Jahren und vier Monaten würde unter dieser Voraussetzung das einheitliche Zollgebiet hergestellt sein. Einzelne Tarifpositionen dürfen selbstverständlich durch Sonderverträge schon früher herabgesetzt oder aufgehoben werden. Außenstehende erhalten das Meistbegünstigungsrecht nur im Verhältnis zu dem Bundesstaat als Ganzen. Entgegenstehende Handelsverträge sind zum ersten zulässigen Termin zu kündigen. Allen Staaten steht der Anschluß an den Bund offen. 2. Der Bund begründet einen Ausgleichsfond zu dem Zwecke, alle Unternehmer in Landwirtschaft, Industrie und Handel zu entschädigen, die erklären, bei Herabsetzung der Zölle nicht mehr bestehen zu können. Dabei sind aber Subventionen auf Kosten des Bundes ausgeschloßen; es steht jedoch den Einzelstaaten frei, sie auf eigene Kosten zu gewähren. Der Bund als solcher ist nur verpflichtet, solche Betriebe käuflich zu erwerben, und zwar gegen Abfindung mit Stücken der Ausgleichsanleihe. Die erworbenen Betriebe werden von einer gemeinsam errichteten Bundesbank verwaltet und verwertet. Dem Kaufpreis soll regelmäßig der kapitalisierte Steuerwert der durchschnittlichen Steuerleistung der letzten fünf oder zehn Jahre zugrundegelegt werden. Derart werden Schädigungen einzelner vermieden, während andererseits für alle selbständig gebliebenen Betriebe das Grundprinzip des Eigentums gewahrt bleibt, daß es auch die Verluste zu tragen hat. Es darf erwartet werden, daß diese Hilfe nur von verhältnismäßig wenigen Betrieben in Anspruch genommen werden wird. Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung, der aus dem mit der Befriedung neugeschaffenen Vertrauen und aus der Verdoppelung des Marktes folgen wird (.doppelter Markt, vervielfachter Reichtum'), wird fast allen zugutekommen. B. Wehrbund Frankreich rüstet in der Zeit der wirtschaftlichen Abrüstung auch militärisch allmählich ab, bis die volle Gleichheit der Bewaffnung hergestellt ist. Solange ein Angriff von dritter Seite her noch möglich erscheint, d. h. bis die übrigen kontinentalen Staaten West- und Mitteleuropas dem Bunde unter gleichen Bedingungen beigetreten sind, tritt Frankreich an Deutschland die Hälfte seiner schweren Waffen an Artillerie, Tanks, Flugzeugen usw. ab. Bis dahin bleibt die Erfindung des Todesstrahls als Druckmittel und für den schlimmsten Notfall als Kampfmittel in meiner, und nach meinem Tode in meines Bevollmächtigten Verwahrung und zur Verfügung des Bundes. Dann, wenn Europa wirtschaftlich so eng verflochten ist, daß jeder Krieg Selbstmord wäre, kann und soll die Erfindung verschwinden. C. Organisation 1. Um jeden Rest von Bitterkeit zu beseitigen, soll Deutschland das Elsaß und Lothringen zurückerhalten, ohne daß Frankreich es verliert, und soll dafür Frankreich das linke Rheinufer gewinnen, ohne Deutschland von dort zu verdrängen. Zu dem Zweck wird ein dritter eigener Bundesstaat geschaffen, den wir vorläufig Lotharingien nennen wollen. In ihn bringen die beiden Vertragsparteien die eben genannten Provinzen ein. Der neue Staat wird völlig entmilitarisiert und neutrali-

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siert. Seine sämtlichen Beamten müssen beider Sprachen völlig mächtig sein. In allen seinen Schulen wird in beiden Sprachen unterrichtet, und zwar auf der Unterstufe in der Muttersprache der Mehrheit des Bezirks, mit wachsender Betonung der zweiten Sprache. So wird das seit zwei Jahrtausenden blutig umkämpfte Grenzland die Friedensbrücke der beiden großen Nachbarn, die keiner von ihnen zum Kriegsschauplatz machen kann, ohne sich selbst ideell und materiell auf das Schwerste zu schädigen. An diesen Zwischenstaat werden sich nach dem Gesetz der politischen Gravitation voraussichtlich alsbald die Schweiz, Luxemburg und Belgien, wahrscheinlich auch Holland anschließen, sei es als Glieder des großen Bundes, sei es als Unterglieder des wiederhergestellten Lotharingien. 2. In seinen inneren Angelegenheiten bleibt jedes Bundesglied völlig unabhängig in bezug auf Regierungsform, Verwaltung und Gesetzgebung. Die wirtschaftliche Verflechtung wird die Angleichung des Handels- und Wechselrechts usw. von sich aus herbeiführen. Eine zentrale Regierung ist nicht erforderlich: eigens eingesetzte Kommissionen werden die Vereinheitlichung des Verkehrswesens (Post, Telegraph, Rundfunk usw.), des Geld- und Bankwesens, der Kriminalpolizei usw., studieren und gesetzgeberisch vorbereiten. Die Entscheidung liegt bei den Einzelstaaten. D. Außenpolitik Angriffe von außen her hat der, durch die Zahl und Wehrkraft seiner Bevölkerung und die Macht seiner Industrie übermächtige Bundesstaat auch dann kaum zu befürchten, wenn es bei dem Zweibzw. dem Dreibunde bliebe. Es wird und kann aber nicht dabei bleiben. Die Überlegenheit dieses ungeheuren Körpers auch in wirtschaftlicher Beziehung, sein reißend wachsender Reichtum, wird die übrigen Staaten West- und Mitteleuropas binnen kurzem zum Beitritt veranlassen, der ihnen unter gleichen Bedingungen offen stehen muß. Die offene Wunde im Osten, der .Korridor', kann und wird gerade so geschlossen werden wie die im Westen. Osterreich, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien werden sich zum Beitritt entschließen müssen; nur allenfalls Rußland könnte draußen bleiben, solange die heutige Regierungsform aufrechterhalten wird, ist dann aber militärisch und wirtschaftlich ungefährlich. Der Bund leistet einem angegriffenen Mitgliede unbedingt Waffenhilfe. Sollte der Bund, was allerdings als nahezu unmöglich erscheint, als solcher in Konflikte geraten, die einen Krieg unvermeidlich machen, so führt er ihn als Gesamtheit nach einstimmigem Beschluß. Einen Angriffskrieg gegen Außenstehende hat jedes Bundesglied allein auf seine Kosten zu führen. Schwerwiegende innere Konflikte sind unmöglich. Streitfragen werden durch das Bundesgericht entschieden, in das alle Glieder ihre besten Juristen entsenden, Ehrenfragen durch einen Schlichtungsausschuß. Die Partner werden in ihr Strafgesetzbuch Paragraphen einfügen, die bundesfeindliche Handlungen und Äußerungen ihrer Untertanen mit schweren Strafen belegen. E. Kolonien Frankreich übereignet dem Bundesstaat seine Kolonien. Die Bestimmungen über den Abbau der Zölle gelten auch hier. Die Angehörigen der Gliedstaaten haben in den Kolonien gleiche Rechte in bezug auf Handel, Ausübung von Gewerben, Erwerb von Grund und Boden usw. Nach Ablauf der wirtschaftlichen Abrüstungszeit müssen sämtliche Offiziere und Beamten der Kolonien beider Sprachen völlig mächtig sein. Bei der Anstellung von Beamten, Richtern und Militärpersonen ist die Parität zu wahren.

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VI. Kapitel Natur weiser als Menschenwitz Am nächsten Morgen wurde Bachmüller durch jenes dem Vogelgezwitscher ähnliche Geräusch geweckt, das wir hören, wenn wir während der Freiviertelstunde an einem Schulhof vorübergehen. Er trat ans Fenster und sah eine ganze Horde von Buben davor versammelt, die wie die Stare schwatzten und wie die Gänseriche die Hälse reckten. Im Vordergrunde stolzierte Paulchen, offenbar der im Augenblick hochverehrte Anführer der Bande. „Onkel Hans! Ach, Onkel Hans!" „Ja, was ist los?" „Onkel Hans, zeig' uns doch die Zeitmaschine!" Er nickte Gewährung. Ein ungeheures Jubelgeschrei erschütterte die Luft. „Einen Doppelposten an die Tür, Paulchen, einen anderen ans Fenster. Wer einzudringen versucht, der trägt meine beste Handschrift in Fraktur auf seiner Hinterfront heim." Erneutes Gebrüll des Entzückens. Bachmüller machte sich eilig fertig und trat in den Garten. Scheu umstanden ihn die Jungen. „Fridl hat den Schlüssel, geh' ihn holen." Paulchen sauste im Marathontempo ab und war fast im Augenblick zurück. Sein Bruder und die drei Frauen folgten ihm etwas langsamer. „Ist denn heute keine Schule, ihr Krawaten?" „Aber Onkel Hans, heute ist doch Sonntag." „Nein, Dienstag - ach so, schon recht!" Er rollte die Maschine aus dem Schuppen heraus, die Buben machten Stielaugen. „Soll ich sie euch vorführen?" „Ach ja, ja bitte", erklang es aus dreißig Mündern. „Also, ρ aßt auf!" Als er nach zwei Minuten wieder sichtbar unter ihnen war, war das Triumphgeschrei geradezu betäubend. „So, nun geht heim, ihr Gesindel. Auf Wiedersehen! Nein, heute gibt's noch keine Autogramme. Heute habe ich keine Zeit. Ein andermal, marsch!" Begeistert zog die Horde los; nur Paul blieb zurück, heiß beneidet und bewundert. Ein Mond, auf den voll das Licht der strahlenden Sonne fiel. „So, mein Kerlchen, guck her. Hier diese zwei Schrauben nehme ich heraus - jetzt ist die Maschine unbrauchbar. Später werden wir sie hinbringen, wo sie hingehört - zu deinem Vater ins physikalische Institut. Und jetzt wollen wir frühstücken gehen." Der Professor war schon fort. Nach dem Imbiß hub Bachmüller an: „Von eurer politischen Ordnung habe ich einen ersten Begriff. Wo kann ich über die wirtschaftliche Ordnung das Grundsätzliche erfragen?" Frau Bachmüller sah lächelnd auf ihren Jungen, der aufgeregt auf seinem Stuhle zappelte. „Na, Paulchen, jetzt kannst du dem Onkel einmal zeigen, was du gelernt hast. Das lernen unsere Kinder nämlich schon in der Tertia, in der Bürgerkunde." Paul setzte sich in Positur. „Wir leben im freien Sozialismus - seit der Erlösung. Vorher war der Kapitalismus; er hatte die ganze Welt in scheußliche Unordnung gebracht. In unserem Schulbuche ist da eine Zeichnung: ein Kessel, das ist der Markt. In den führt oben ein dickes Rohr hinein, und unten ein dünnes heraus. Na, natürlich konnte man oben nicht mehr hineinpumpen, als unten abfließen konnte. Das wollten

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aber die dummen Kerls nicht verstehen. Sie pumpten oben immer mehr Güter hinein und wunderten sich, daß sie wieder herausstrudelten. Das nannte man eine Wirtschaftskrisis." „Was bedeutet denn das Abflußrohr?" „Na klar, den Verbrauch. Das Volk konnte nicht kaufen, was es an Gütern hergestellt hatte. Wer arbeitete, bekam bloß seinen Lohn, und das übrige kriegten die Leute, denen die Arbeitsmittel gehörten - das Land und die Maschinen." „Aber die hatten doch auch ihren Verbrauch?" „Ja! Und sie verbrauchten auch soviel, wie sie irgend konnten und durften. Aber sie konnten nicht alles verbrauchen, weil es nur wenige waren, und weil jeder nur einen Magen hatte, und nicht täglich zwanzig neue Anzüge und ein neues Auto brauchte. Und sie durften nicht alles verbrauchen, weil ihre Konkurrenten immer neue, stärkere Maschinen anschafften, und weil sie das mitmachen mußten: sonst wären sie bankrott gegangen. Und das bedeutet eben, daß das Zuflußrohr oben immer größer wurde, während das Abflußrohr unten immer gleich groß blieb. „Richtig", sagte Bachmüller. „Zu meiner Zeit heizten sie in Nordamerika mit Weizen, und in Brasilien schmissen sie den Kaffee ins Meer und in Europa verkamen die Menschen, weil sie nicht genug Brot hatten, und tranken Zichorienbrühe. Wir waren bettelarm vor lauter Reichtum. Zwanzig Millionen Menschen schrien nach Arbeit, wo doch alles vorhanden war, um sie zu beschäftigen: das Land, die Fabriken, die Kohlen, das Eisen, die Wolle und die Baumwolle, - und der Hunger nach den Gütern, die damit erzeugt werden konnten!" „Genau so hat es uns Herr Winter erklärt. Die Menschen müssen doch damals furchtbar dumm gewesen sein! Das versteht doch ein Quartaner, daß man das Abflußrohr gerade so weit machen muß, wie das Zuflußrohr. Dann konnten sie oben soviel hineinpumpen, wie sie nur wollten. Es kam doch alles unten glatt heraus, und alle Menschen waren reich - wie wir." „Leicht gesagt, mein Paulchen, aber schwer getan! Wie sollte man das aber anfangen? Darüber haben sich zu meiner Zeit die klügsten Leute den Kopf zerbrochen. Da waren zum Beispiel die Kommunisten..." „Die waren noch dümmer", trompetete Paul. „Das hat uns Herr Winter auch sehr schön erklärt. Sieh mal, ein Volk, das ist ein lebendiger Körper, ähnlich wie ein Tier, nur unsterblich. Und jeder lebendige Körper lebt nach seiner eigenen Natur, und, das steht an unserer Klassenwand geschrieben: ,Natur ist weiser als Menschenwitz!' Die Kommunisten aber, die wollten aus dem Volk eine Maschine machen, gerade so, als wenn einer dem Menschen das Herz herausschneidet und eine Pumpe dafür einsetzt." „Was ist denn nun die .Natur' eines Volkes?" „Die freie Konkurrenz." Bachmüller fuhr auf. „Da schlag' doch Gott den Deubel tot. Die freie Konkurrenz? Die war doch gerade unser Unglück?" „Ja, das habt ihr geglaubt, und nur darum habt ihr den Weg nicht gefunden - zur Erlösung. Aber das war der allerdickste Irrtum. Was Ihr hattet, das war das Gegenteil davon, das war die gefesselte Konkurrenz. Die freie Konkurrenz, die hatte es schon seit fünftausend Jahren nicht mehr gegeben." „Hatte es sie denn vorher gegeben?" „In Europa hunderttausend Jahre! Das war das goldene Zeitalter, das die Leute nie ganz vergessen haben. Da waren sie alle frei und alle gleich reich. Den Bauern in der neuen Steinzeit ging es gut, obgleich sie ihre Geräte nur aus Knochen, Holz und Stein machten. Sie bauten das Feld, hatten Rinder, Schweine, Schafe und Geflügel, hatten gute Kleider aus Leinen und Wolle, und jeder hatte sein wetterfestes Häuschen." „Damals gab es auch nur so wenig Menschen!" „Ach, das hat damit nichts zu tun! Im Gegenteil: Je mehr Menschen da sind, um so reicher sind sie natürlich, weil sie die Arbeit unter sich verteilen können und immer bessere Werkzeuge haben.

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Nein, sie waren wohlhabend, weil alles ihnen gehörte, was sie hervorbrachten. Sie hatten keinen Herrn, dem sie abzugeben hatten." „Woher weiß man das?" „Aus den Ausgrabungen. Alle Häuschen waren gleich groß, es gab keine Herrenhäuser und keine Burgen, und es gab keine Kunstwerke aus edlen Stoffen. ,Herrenkunst', nennt das Herr Winter. Und dann: es gab ja noch steinzeitliche Stämme zu deiner Zeit in Asien und Amerika, und die waren auch alle frei und alle gleich reich oder gleich arm. Wenn einer mehr hatte als die anderen, so mußte er abgeben, sonst wurde er verachtet." „Das ist mir alles bekannt, mein Junge. Aber das hat doch nicht angehalten. Daraus hat sich dann doch die Gesellschaft der Ungleichheit entwickelt." „Nee, Onkel Hans! Da wart ihr mal wieder bös auf dem Holzwege. Gar nichts hat sich .entwickelt', - d. h.: von innen her. Von außen kam die Veränderung, vor ungefähr fünftausend Jahren. Da kam das eiserne Zeitalter, mit dem Eisen und dem Schlachtroß. Die wilden Steppenreiter brachen aus Asien hervor, als das Eis sich zurückzog, das sie bis dahin eingesperrt hatte wie in einen Käfig, und sie unterwarfen einige von den Bauern und lehrten andere die Eroberung und die Herrschaft. Das nennt Herr Winter ,das Zeitalter der Wanderung und Eroberung'. Damals zuerst entstand der Staat, wie die Weltgeschichte ihn kannte, - bis zur Erlösung. Und damals entstand die Unfreiheit und die Ungleichheit. Die Sieger nahmen das Land, und die Besiegten mußten es als ihre Knechte bebauen. Die Sieger waren die Reichen, die Besiegten die Armen." ..Junge, Junge." „Wahrhaftig, Onkel Hans. Herr Winter sagt, das ist die heilige Wahrheit, und das habe eure Wissenschaft schon lange vor der Erlösung gewußt. Aber damals, sagt er, kümmerte sich kein Gelehrter um das, was die andern machten, und darum hat es solange gedauert, bis die Leute die Lösung fanden, die doch so schrecklich einfach war. Sieh mal: das große Grundeigentum, das damals entstand, das hat sich von Geschlecht zu Geschlecht fortgeerbt und ist sogar immer mehr gewachsen und gewachsen, durch das ganze Altertum und das ganze Mittelalter hindurch, bis es kaum noch einen einzigen freien Bauern mehr gab in Europa und Asien. Und als die neuen Erdteile entdeckt wurden, Amerika und Australien, da nahmen sich die Reichen auch dort alles Land und ließen die kleinen Leute nicht heran, wo sie es nur irgend hindern konnten. Sie raubten dem Volk sein Erbe, das weite Land, das niemand gemacht hatte; und so mußten sie im Lohn für die Herren arbeiten und konnten niemals für sich selbst schaffen. Die ganze Erde hatten sie gesperrt, die Idioten, die Schweinehunde." Der Junge bebte vor Empörung. „Brav, mein Sohn", sagte Frau Barbara. „Jetzt wird's aber schwieriger, jetzt laß mal Fridl weiter berichten." „So gut ich kann. Also sieh mal, Hans, damit war ein Monopol geschaffen. Und darum gab es keine freie Konkurrenz, solange es bestand." „Halt mal still, das mußt du mir doch näher erklären." „Gern. Ein Monopol besteht überall dort, wo einer von zweien, die irgend etwas austauschen, eine übermächtige Stellung hat. Dann erhält der Monopolist Mehrwert. Wenn er etwas verkauft, erhält er mehr, als die Ware wert ist, und wenn er etwas kauft, bezahlt er weniger, als sie wert ist." „Wenn man nur wüßte, was sie wert ist." „Das weiß man ganz genau. So viel sie bringt, wenn völlig freie Konkurrenz besteht. Du bist doch Ingenieur. Du weißt, daß überall, wo zwei Kräfte gegeneinander wirken, ein Zustand ist, wo sie sich gegenseitig aufheben, oder wo sie sich im Gleichgewicht befinden." „Natürlich! Ζ. B. der Wasserspiegel oder die Waage." „Gut, daß du die Waage anführst. Der Markt ist so eine Art von Waage. Die Kräfte, die gegeneinander wirken, sind Angebot und Nachfrage. Wo haben sie wohl ihr Gleichgewicht?" „Offenbar dort, wo alle Arbeit gleicher Güte das gleiche Einkommen erzielt."

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„Richtig! Paul, hole doch mal deine Bürgerkunde. Höre, was schon 1776 der große Adam Smith drucken ließ, den sie den Vater der Nationalökonomie nennen: ,Wenn in derselben Gegend irgendeine Beschäftigung entweder vorteilhafter oder weniger vorteilhaft wäre, als die übrigen, so würden in dem einen Falle so viele ihr zuströmen, in dem anderen so viele sich von ihr abwenden, daß ihre Vorteile bald wieder mit denen anderer Beschäftigungen in eine Linie kämen.' Und hier ist noch eine andere Stelle, auch aus einem berühmten Buch, das zu deiner Zeit schon hundert Jahre alt war. Es ist der .Isolierte Staat' von Johann Heinrich v. Thünen, dem Deutschen, der unbestritten der größte Denker seines Faches war. Er fragt, wo das Gleichgewicht ist, auf das die freie Konkurrenz hinstrebt, und antwortet: , Wenn durch den Preis der Ware die Arbeit von gleicher Qualität in allen Gewerben gleich hoch gelohnt wird, so findet das Gleichgewicht statt.' „Richtig! Auf die Dauer kann der Schuster nicht mehr verdienen, als der Schneider, der Fabrikant von Automobilen nicht mehr als der Fabrikant von Stecknadeln, der Arzt nicht mehr als der Anwalt. Das ist die ganze Lehre von der freien Konkurrenz, und fast die ganze Lehre von der Volkswirtschaft überhaupt. Darum lernen es die Kinder bei uns schon in der Tenia und mehr brauchen sie auch nicht zu wissen. Es gibt auch nur noch Professuren für die Geschichte der Volkswirtschaft." „Unmöglich! Sogar auf der technischen Hochschule mußten wir mehrere Semester Volkswirtschaft hören und wurden darin examiniert. Mir brummt heut noch der Schädel davon. Und später in meiner Einsiedlerzeit, wo ich soviel darüber las, wurde ich immer konfuser; hundert Probleme und zehntausend Antworten. Und das soll alles eitel Dunst gewesen sein?" „Kannst dich heilig darauf verlassen. Weißt du, was Professor Ullrich sagt? Der französische Historiker Taine spricht einmal davon, man glaube in ein Fieberlazarett geraten zu sein, wo die Kranken mit leuchtenden Augen halluzinieren, wenn man die Streitschriften der Sekten aus der ersten Zeit des Christentums studiert. Lauter Probleme, die es gar nicht gibt: War Jesus gottgleich oder gottähnlich? Hatte er eine oder zwei Naturen? Einen oder zwei Willen? Bissen sich wie die Hamster, die gelehrten Herren, die Professoren von damals. Und ließen ihre Völker in den Abgrund schlittern. Daran ist das große Reich von Byzanz zugrundegegangen, verlor seine besten Provinzen an die Araber, weil die Gläubigen der ,Einnatur' lieber ihnen als denen der .Zweinatur' in Byzanz gehorchen wollten. Gerade so, sagt er, ist ihm zumute, wenn er die Bücher eurer Zeit liest: über den Staat, über den Wert, über das Geld usw. Und eure Professoren waren gerade so gefährlich und führten in ihrer Verbissenheit die Völker gerade so an den Abgrund. Nichts ist gefährlicher, sagt er, als so ein echter und rechter Professor." „Leider! Als ich abreiste, schlugen sie sich um die Geldlehre. Hatten in Amerika ein ganz neues Geld ausgeheckt: die ,Indexwährung', und die Arbeitslosigkeit wurde immer schlimmer. Hoffnungslos!" „Siehst du! Aber sie zappelten nur so, weil sie sich einbildeten, der Kapitalismus sei freie Konkurrenz. Und es war doch alles so klar und einfach! Nicht wahr: wem das Eigentum an den Arbeitsmitteln gehört, dem gehört doch auch der Ertrag? Und wer Großeigentum daran hat, der hat selbstverständlich auch Großeinkommen. Sie brauchten bloß einmal ihre gelehrte Nase in die Bücher der Geschichte zu stecken, und es konnte ihnen nicht verborgen bleiben, woher dieses Großeigentum stammte. Paul hat dir's ja gesagt. Wenn sie auch nichts vom Zeitalter der Wanderung und Eroberung wissen mochten: das hatten sie doch schon in der Schule gelernt, daß alle Staaten, von denen wir die Entstehung kennen, durch Eroberung entstanden sind, und daß überall der großgrundbesitzende Adel den Bauernbesitz auffraß und den Bauern selbst in Knechtschaft drückte. Aber was kümmerte sie die Geschichte! Der Staat, das Eigentum, die Stände, die Klassen, alles das war aus innerer friedlicher Entwicklung entstanden, und der Kapitalismus: das war die

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,Natur' der Gesellschaft. .Kinderfibel', hat das euer Marx genannt, und er hatte recht." „Was hat das aber mit der freien Konkurrenz zu tun?" „Schlechthin alles! Wie war denn die Lage, als die Gewerbe in den Städten begannen, sich zu entwickeln? Fast das ganze Land im Besitz des Adels, die Bauern recht- und besitzlose Knechte, Auswanderung unmöglich, seit alles erreichbare Land gesperrt war. Wenn sie nicht als Diebe gehängt werden oder verhungern wollten, mußten sie sich den Herren zur Arbeit anbieten. Nimm an, jeder habe durchschnittlich fünfzig Zentner Getreide hervorgebracht. Wieviel hat ihm der Herr wohl gelassen? Vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig, keinesfalls mehr, als daß er mit seiner Familie gerade notdürftig leben konnte. Den ganzen Rest nahm er für sich. Es ging dem Bauern auch nicht besser, wenn er das Recht hatte, fortzuziehen und sich einen anderen Herrn zu suchen. Denn es gab mehr Arbeiter, als gebraucht wurden, und der andere Herr gab auch nicht mehr Lohn. Wie würdest du das Verhältnis nennen, das hier vorlag?" „Natürlich ein Monopol." „Bravo! Wo aber ein Monopol ist, da ist keine freie Konkurrenz." „Halt, wieso?" „Weil die Begriffe sich ausschließen, wie Tag und Nacht, Tod und Leben. Freie Konkurrenz heißt Wirtschaft ohne Monopol, Monopol heißt Ausschluß der freien Konkurrenz aufgrund einer Ubermacht. Wo Konkurrenz besteht bei Vorhandensein von Monopolen, da ist es nicht freie, da ist es gefesselte Konkurrenz. Da zieht der Monopolist am langen Hebelarm, da ist die Waage des Marktes gefälscht, - und das war der Kapitalismus." „Herrgottsakra." „Und nun verstehst du, Hans, was zu tun war. Es war keine funkelnagelneue Wirtschaftsmaschine aufzubauen, wie die Kommunisten faselten, sondern bloß die Konkurrenz von ihren Hemmungen zu befreien. Und das war, einmal erkannt, sehr einfach. Im Verhältnis zu den Utopien der Weltverbesserer soviel einfacher, wie es einfacher ist, einem geknebelten Menschen die Fesseln abzunehmen, als einen künstlichen Menschen zu fabrizieren." „Was habt ihr also getan?" „Vollendet, was die großen bürgerlichen Revolutionen nur halb getan hatten. Sie haben den Menschen befreit, gaben aber der Masse damit kaum eine andere Freiheit als die, zu verhungern. Wir haben auch die Erde befreit! Das war die Erlösung." „Bodenreform, wie Henry George? Nationalisierung des Bodens wie Stuart Mill? FreilandFreigeld wie Silvio Gesell?" „Nichts von alledem. Innere Kolonisation! Das große Grundeigentum war ja schon zu deiner Zeit todkrank. Es kann eben auf die Dauer nicht ohne die Unfreiheit bestehen. Unsere Großväter haben soviel Land, wie nötig war, ehrlich gekauft; es war nicht einmal soviel nötig, wie angeboten wurde, und haben es den Besitzlosen sehr billig abgegeben. Nach kurzer Zeit gab es keine .Arbeiter' mehr, die sich um jeden Preis anbieten mußten. Bis dahin waren immer zwei Arbeiter einem Kapitalisten nachgelaufen und hatten sich unterboten. Jetzt liefen immer zwei Kapitalisten einem Arbeiter nach und überboten sich. Da mußte der Lohn steigen, bis der Mehrwert verschwunden war, und der Kapitalist nichts weiter hatte, als seinen Arbeitslohn, seinen .Unternehmerlohn', der ihm zukam." „Großartig! Und das war alles?" „Nun, für die Übergangszeit waren noch einige Hilfsmaßnahmen erwünscht. Die Bergschätze und Wasserkräfte, die ja auch zur Erde gehören, wurden verstaatlicht, soweit sie es nicht schon waren; und da jetzt das Volk alle politische Macht hatte, wurden die alten Großvermögen durch kräftige Steuern auf den Besitz, das Einkommen und die Erbschaften schnell auf ein gesundes und ungefährliches Maß zurückgeschnitten." „Wo begann das?"

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„Bei uns in Deutschland, nach dem Bunde mit Frankreich. Da hatten wir die Arme frei und neues Vertrauen in die Zukunft." „Und die anderen Länder?" „Mußten folgen. Wenn ihre öffentliche Meinung es nicht so stürmisch gefordert hätte, hätte doch die freie Konkurrenz sie dazu gezwungen. Wir wurden schnell sehr reich. Du weißt, daß die Maschine für den Unternehmer nichts als ein Ding ist, das ihm Löhne erspart: daß es dem Volke Arbeit spart, geht ihn als Unternehmer nichts an. Je höher also der Lohn, um so größere und stärkere Maschinen sind rentabel. Aber solche Maschinen liefern nun wieder das Einzelprodukt viel billiger. Denke an euren Ford, der alle seine Konkurrenten unterbieten konnte. Wir konnten auch alle Konkurrenten unterbieten. Da mußten die anderen nach." „Und das Großgrundeigentum in den Kolonialländern? Und das städtische Großeigentum an Häusern und Baugelände?" „Als die massenhafte Einwanderung der besitzlosen Proletarier nach den Kolonien aufhörte, weil sie in Europa freie wohlhabende Bauern werden konnten, waren die Latifundien drüben nicht mehr zu halten, weil sie keine Arbeiter mehr hatten oder phantastische Löhne bezahlen mußten. Es ging ihnen just wie den Baumwollpflanzern in den Südstaaten nach der Negerbefreiung. Und noch ärger erging es den Hausagrariern. Die Zuwanderung vom Lande hörte auf, ja machte einer mäßigen Fortwanderung aufs Land Platz, weil die vielen neuen Dörfer Handwerker aller Art, und Lehrer und Arzte in Masse brauchten. Damit waren alle spekulativ gehaltenen Baugelände entwertet. Und die hochentlöhnten Arbeiter in den Städten wollten nicht mehr in den jämmerlichen Mietskasernen ohne Licht und Luft hausen und zogen sich ins Grüne. Wo sich jeder sein Auto halten kann, spielt die Entfernung keine Rolle mehr." „Darum sind also die scheußlichen Vorstädte verschwunden!" „Ja, und mit ihnen der größte Teil der Krankheiten, der Unsittlichkeit und der Verbrechen. Satte, gut erzogene Menschen in anständiger Umgebung sind in aller Regel gesund und sittlich. Wir sind wahrlich nicht zu .Engeln' geworden, aber es tritt nur selten an einen von uns eine Versuchimg heran, die stärker sein könnte, als die normale Widerstandskraft. Ich sagte dir schon einmal: Bei uns ist niemand mehr reich genug, um viele zu kaufen, und niemand arm genug, um sich verkaufen zu müssen." „Ich danke euch beiden von Herzen", sagte Bachmüller. „Zwar habe ich noch viele Fragen, aber jetzt muß ich meine Ansprache für den Rundfunk ausarbeiten. Schon bin ich fast überzeugt. Aber ich möchte doch noch mit einem Fachmann sprechen können." „Ich melde dich bei Professor Ullrich an, er wird sich freuen."

VII. Kapitel Liliput, Brobdingnag und Jakobs Hobel „Nun, du Wundermensch", sagte Professor Ullrich, als Hans Bachmüller zur verabredeten Stunde bei ihm eintrat. „Wie schmeckt die Berühmtheit?" „Schlecht, Professor! Heute morgen umsummte mich ein wahrer Hornissenschwarm von Reportern und Photographen. Interviews habe ich verweigert, aber gefilmt haben sie mich nach der Schwierigkeit, mich und die Zeitmaschine." „Dann ist dein Bild heute in allen Abendblättern der Erde. Die Telephotographie ist hoch entwickelt. Haben sie dich auch am Telefon konterfeit?"

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„Ich mußte mich zuletzt verleugnen lassen, sonst hätte ich hier nicht pünktlich antreten können", seufzte Bachmüller. „Yokohama und Tananarivo, Seattle und Kapstadt, Brisbane und Timbuktu waren dabei. Herrgottsakra! Ich glaube, es gibt im Stillen Ozean keine Koralleninsel, die mich nicht persönlich dringend sprechen wollte." „Na, da wirst du heute abend erst dein blaues Wunder erleben. Hast du die vielen Flugzeuge gesehen? Sie verdunkeln den Himmel, wie die Pfeile der Perser. Lauter Berichterstatter: Dein Vortrag hat in das Olympia-Stadion verlegt werden müssen. Du bist die größte Sensation, seit Marwitz von seinem ersten Raumflug zum Monde zurückkehrte. Man wird verlangen, paß mal auf, daß du die Zeitmaschine in Tätigkeit vorfährst." „Ich werde mich schwer hüten. Die habe ich hingeschafft, wo sie hingehört, ins Physikalische Institut, nachdem ich sie verriegelt hatte. Den Schlüssel hat mein Großneffe im Stahlschrank. Übrigens ist nichts daran zu sehen. Ich bin weg und wieder da. Das ist alles." „Also zur Sache. Was hast du zu fragen?" „Laß' mich zuerst sagen, was ich schon verstanden habe. Meine Zeit glaubte fälschlich, in freier Konkurrenz zu leben, weil sie nichts von den großen Monopolen wußte." „Wissen wollte! Schon vor zweihundert Jahren hat der Amerikaner Carey die Wahrheit fast ganz in der Hand gehabt, und sein deutscher Schüler Dühring und dessen Schüler haben sie immer wieder in die Welt hinausgerufen. Aber niemand wollte hören." „Wie ist das zu erklären?" „Klassenbefangenheit! Die Bürger verteidigten unbewußt ihre Privilegien - und die Proletarier ließen sich von ihnen das Gesetz des Denkens vorschreiben. Der Kommunismus war nichts als das photographische Negativ des Kapitalismus: schwarz wo weiß, weiß wo schwarz war. Die Bürger erklärten die gefesselte, oder sagen wir besser die ungleiche Konkurrenz, d. h. die Konkurrenz zwischen Ungleichen, für die freie oder gleiche Konkurrenz, und deshalb wollten die Arbeiter die Konkurrenz überhaupt abschaffen. Väterchen Staat als russischer Muschik! Verteilt die Arbeit und den Ertrag unter seine Angehörigen. Das macht ja auch keinen Unterschied, ob es sich um zwanzig Kinder und Enkel, oder zweihundert oder zweitausend Millionen Menschen handelt. Statistisches Zentralbüro, Plan setzt fest, was, wie und wo an Gütern hergestellt wird, wie es dahin gebracht wird, wo man's braucht, und an wen es ausgegeben wird. Irrtümer gibt's nicht! Reibung gibt's nicht! Der Mensch als Maschinenteilchen - wahrhaftig, von allen Illusionen eurer wahnsinnigen Zeit die allerverrückteste!" „Gut, ich verstehe. Man hielt die Krankheit für die Gesundheit." „Richtig. Stell' dir eine ganz isolierte Insel vor, deren sämtliche Einwohner schon als kleine Kinder malariakrank werden. Was werden die Anatomen glauben müssen? Natürlich, daß eine Riesenmilz die Norm ist. Das sind eure Mammutvermögen. Die Physiologen werden annehmen, daß alle zwei Tage Schüttelfrost und hohes Fieber natürlich sind. Das sind eure Wirtschaftskrisen. Und die Priester werden zu einem Gott des Fiebers nach einem feierlich ausgebildeten Zeremoniell beten lassen und das Schwarzwasserfieber als Strafe der Sünden darstellen." „Unser geistreicher Landsmann Friedrich Vischer hat in seinem Roman ,Auch Einer' eine solche Religion geschildert, die des Schnupfengottes." „So, muß ich mal lesen. Also was weiter?" „Ich verstehe, daß mit der Abschaffung der Monopole der Mehrwert verschwinden muß. Die Riesenvermögen und Rieseneinkommen des Kapitalismus kann es nicht mehr geben, ebensowenig wie allgemeine Krisen. Die Ergiebigkeit der Arbeit ist sehr groß, dank der Verwendung sehr starker Maschinerie; daher lebt jeder Arbeitende in Wohlstand." „Deine Zeit hätte es Reichtum genannt." „Noch besser! Der Mensch hat mehr Diener aus Stahl als der Patrizier Roms Sklaven aus Fleisch und Bein. Und das alles muß sich immer mehr verbessern, solange noch freies Land vorhanden ist.

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Was aber dann?" „Darüber mögen sich unsere Nachkommen im vierten oder fünften Jahrtausend die Köpfe zerbrechen, wenn sie dann Grund dazu haben. Die Erde ist leer. Das Land reicht noch für viele Jahrhunderte, und mögen wir noch so schnell an Zahl zunehmen. Wir sind jetzt zwei Milliarden Köpfe, davon ein knappes Viertel in der Landwirtschaft. Die Erde hat über dreizehn Milliarden Hektar nach Abzug der Ozeane, Wüsten, Steppen und Polarländer. Macht durchschnittlich pro Kopf der Bauernbevölkerung 26 ha, je Familie von fünf Köpfen 130 ha. Unsere Bauern haben durchschnittlich weniger als 5 ha. Rechne selbst!" „Ich bin beruhigt. Der Zustand, den ihr erreicht habt, ist vom Standpunkt der Ethik aus das Ideal. Er verwirklicht die Gerechtigkeit. Jeder nimmt soviel an Wert aus dem Markte, wie er hineingetan hat." „Er verwirklicht auch das Ideal der Wirtschaftlichkeit. Nur unter diesen Bedingungen gibt die große Masse aller Menschen ihr Bestes her." „Auch damit bin ich einverstanden. Aber, und das ist meine erste Frage: warum nennt ihr das Sozialismus'? Das ist es doch nicht!" „Warum nicht?" „Weil Sozialismus Gleichheit bedeutet. Aber freie Konkurrenz führt ja eingeständlich nur zur Gleichheit zwischen Gleichen, nur zwischen Menschen gleicher Begabung und Leistung." „War Plato Sozialist?" „Sogar Kommunist und der konsequenteste von allen." „Nun, und gerade Plato hat gerade dieses Ideal der Gleichheit aufgestellt: den Gleichen Gleiches, den Ungleichen aber Ungleiches!" „Ich bin für Plato. Also ist auch dieses Ideal verwirklicht, nennt's wie ihr wollt. Uber Worte soll man nicht streiten. Aber, meine zweite Frage. Kann diese Ungleichheit der Einkommen nicht doch gefährlich werden?" „Das ist nicht eine, das sind zwei Fragen. Erstens: wie hoch können die Unterschiede ärgstenfalls sein, und zweitens, was kann dann passieren?" „Gut, Numero eins." „Nicht wahr, die Unterschiede des Einkommens müssen in der monopolfreien Wirtschaft genau im Verhältnis stehen zu denen der Begabung und Leistung?" "

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„Kann man die wirtschaftliche Begabung messen?" „In einzelnen Fällen gewiß. Beim Akkord! Ein starker Lastträger oder Erdarbeiter schafft und verdient mehr als ein schwacher. Muskelkraft ist exakt meßbar. Aber rohe Kraft entscheidet nur selten. Wirtschaftliche Begabung umfaßt mehr. Vor allem: Intelligenz." „Dann hätte Gabriel Heinemann der reichste Mann seiner Zeit sein müssen!" „Nun ja. Es gehört noch dazu Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, Willenskraft." „Kann man alles messen, und Heinemann besaß das alles." „Aber Intelligenz kann man nicht messen!" „Zugegeben. Aber sie ist auch nur ein einziger Bestandteil der vielfältigen Begabung, die man wirtschaftliche Qualifikation nennt. Und man kann sie immerhin schätzen. Nicht wahr, es handelt sich doch um eine Frage der Größenordnung?" „Gewiß." „Wäre es da nicht geboten, uns an anderen menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu orientieren?" „Unzweifelhaft!" „Gut. Wie verhalten sich meßbare menschliche Eigenschaften, ζ. B. die Körpergröße, und Fä-

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higkeiten, ζ. B. die Sehschärfe? Gibt es einen erwachsenen Menschen, der zehnmal so groß ist wie ein anderer erwachsener Mensch? Oder kann jemand auf die zehnfache Entfernung Schrift lesen, wie ein Normalsichtiger?" „Soviel ich weiß, nein! Bei den Zwergvölkern am Kongo ist der erwachsene Mann zwischen 1,20 und 1,30 Meter hoch, die Riesen Polynesiens messen im Durchschnitt 180 Zentimeter. Ein normales Auge kann 3.200 Sterne zählen, und das höchste Wunder war ein Mensch, der 5.400 zählen konnte." „Und gerade so gering sind die Unterschiede der Muskelkraft, der Aufmerksamkeit, Ausdauer usw., natürlich immer abgesehen von Kranken, Blinden, Krüppeln usw. Wird es bei der Intelligenz sehr wesentlich anders stehen?" „Ich weiß nicht..." „Aber ich weiß. Ich wußte, daß ich dir diesen Zahn würde ziehen müssen. Der sitzt am tiefsten. Er wurzelt nämlich in der menschlichen Eitelkeit. Derart erklärten die Bürger die kolossalen Unterschiede der wirtschaftlichen Lage im Kapitalismus. Rockefeller hatte zwanzigtausendmal soviel Einkommen wie ein gewöhnlicher Arbeiter. Aber war Rockefeiler zwanzigtausendmal so begabt? Kennst du Gullivers Reisen? Wenn die Däumlinge von Liliput mit den Riesen von Brobdingnag eine einzige Gesellschaft bildeten, wäre der Unterschied der Körpergröße noch hundertmal geringer als der hier vorausgesetzte Unterschied der Geistesgröße. Hast du mal einen eurer Großkapitalisten kennengelernt? Lauter Genies, was?" Bachmüllers Gesicht wurde hart. „Einige kannte ich. Ein paar recht kluge Leute darunter. Die meisten - Riesen, aber nur an Selbstsucht und Blindheit: nach uns die Sintflut!" „Und die Arbeiter? Lauter Schwachsinnige?" „Viel Stumpfheit, viel dumpfer Fanatismus. Bei dem Leben sehr verständlich. Aber glänzende Kerls dabei! Leuchtende Klugheit, zähe Kraft, herrlicher guter Wille." „Also?" „Also", sagte Bachmüller, „dürfte das größte Einkommen kaum mehr als das Drei- bis Vierfache, höchstens das Zehnfache des geringsten sein, wenn die Begabung die einzige Bedingung wäre. Ich sehe natürlich ein, daß die ganzen Klassenunterschiede im Kapitalismus in den Monopolen wurzelten und mit deren Beseitigung wegfallen mußten. Aber es bleiben noch immer die Erbschaften der Begabten, und die könnten doch allmählich zu sehr bedeutenden Vermögen anwachsen. Ich denke an große Künstler, berühmte Chirurgen, geniale Erfinder und Organisatoren." „Du hast dein Kolleggeld nicht umsonst bezahlt", lachte Ullrich. „Das war die klassische Lehre der Bürger, ursprüngliche Akkumulation nannten sie das. Woher stammten wohl die großen Einkünfte jener Hochbegabten deiner Zeit, der berühmten Porträtmaler, Ärzte, Verteidiger, Schauspieler usw.?" „Aus Honoraren natürlich." „Wer konnte solche hohe Honorare bezahlen?" „Die reichen Leute." „Also: wo es keine übermäßig Reichen gibt, die so fürstliche Honorare zahlen können, können demnach auch die Hochbegabten keine so übermäßigen Einkünfte haben." „Das sehe ich ein." „Dann ist der erste Punkt erledigt. Der Reichtum der seltenen Hochbegabten im Kapitalismus war zum größten Teil abgeleiteter Reichtum, gerade so wie das Taschengeld der reichen Lebejünglinge aus den oberen Zehntausend. Es stammte aus dem monopolistischen Mehrwert. Ich will noch kurz bemerken, daß Genie nur selten erblich ist. Bei den bekannten .Dynastien' der Musiker und Mathematiker handelte es sich ganz offenbar ebensowohl um frühzeitige Erziehung zum Fach, wie um angeborene Begabung. Wir kommen zur zweiten Frage. Irgendein Hochbegabter unserer Zeit hat ein verhältnismäßig hohes Einkommen. Was fängt er damit an?"

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„Er wird sparen können." „Das sind wieder zwei verschiedene Fragen. Erstens: Wieviel kann und wird er sparen? Und zweitens: in welchen Werten wird er sparen? Zur ersten Frage: Was würdest du selbst tun, wenn du unter uns ein überdurchschnittliches Einkommen hättest?" „Zunächst würde ich natürlich auch mehr ausgeben. Nicht gerade für Essen und Trinken, obgleich ab und zu einmal eine Flasche alten Edelweins nicht verachtet würde; auch eine gute Importe hier und da würde mal unterlaufen. Vor allem aber Bücher, Musik, Gastfreundschaft, Reisen, namentlich Reisen. Und ein schnelles bequemes Auto." „Und so weiter", lachte Ullrich. „Verlaß' dich drauf, wir sind nicht anders geworden. Aber es kommt etwas dazu, was deine Zeit nur im ersten Keime kannte: die Gesellschaft stellt an ihre bevorzugten Mitglieder sehr hohe Ansprüche, und die öffentliche Meinung ist eine Gewalt, die uns stärker zwingt als irgendein Gesetz. Der Mensch strebt vor allem nach Ehre, nach bürgerlicher Geltung in seinem Kreise, und Reichtum an sich verleiht keine Ehre mehr, sondern nur seine Verwendung. Man hat von den Eskimo berichtet, daß keiner mehr als zwei Kajaks haben durfte; man borgte sie ihm ab und gab sie ihm nicht zurück, und bei den ebenso freien und gleichen Masai wurde nach einem ihrer zehn Gebote einem verarmten Genossen die verlorene Herde von allen gemeinsam erstattet. Das gilt auf viel höherer Stufe auch bei uns, die wir ebenfalls alle frei und gleich sind. Der Bevorzugte gelangt zur Ehre nur dadurch, daß er für die Gemeinschaft opfert und leistet. Auf seine Schultern fallen alle Ehrenämter, die nur Zeit und Geld kosten, aber nichts eintragen, und von ihm erwartet man große Geschenke für die Wohlfahrt und die Verschönerung des Ganzen. Dein eigener Verwandter, der Professor, ist ein Beispiel dafür. Er hat große Einnahmen aus seinen Patenten." „Patente? Gibt es Patente?" „Warum nicht?" „Weil sie Monopole sind." „Ja, aber nützliche Monopole, weil sie die Erfindungsgabe befeuern, und harmlos, weil sie befristet sind. Nun, Professor Bachmüller hat das neue physikalische Institut auf seine Kosten erbaut und ausgestattet und der Hochschule geschenkt. Ich weiß von der Bankleitung, daß so ziemlich seine ganzen Patenteinnahmen darauf verwendet wurden und noch werden. Und so handeln fast alle. Die Erde ist bedeckt mit Denkmälern, Museen aller Art, Bibliotheken, Musterspitälern, Forschungsstätten usw. usw., alles Stiftungen der Bevorzugten." „Ansätze dazu fand ich schon in den Vereinigten Staaten." „Ja, und im Altertum findest du Ansätze zum Beispiel in Athen, wie Demosthenes berichtet, und in der guten Zeit des römischen Kaiserreichs. Die Bürger schmückten ihre Stadt, zu deren und ihrem Ruhme. Das geschieht überall, wo die Reichen im Blickpunkt der Öffentlichkeit an der höchsten Spitze der Gesellschaft stehen. So auch in den Vereinigten Staaten. In Europa aber standen die neuen Reichen im Schatten des Adels, der immer nur genommen und niemals gegeben hat, und darum opferten auch die Industriefürsten und Monopolkönige viel weniger. Dein Professor hat übrigens immer noch genug von seinem Einkommen für sich selbst verwenden können: er hat sein Haus vergrößert und ausgebaut, den Garten gepflegt und namentlich für seine Musik viel Geld ausgegeben. Seine Streichinstrumente sind weltberühmt, alte Italiener, Amati, Stradivarius usw." „Sieh' mal an!" „Andere sammeln alte Kunst oder seltene Bücher und dergleichen. Das ist echte Ersparnis, weil alle diese Köstlichkeiten sehr wertbeständig sind, ja im Wert zu steigen pflegen. Zumeist kommt das alles ja früher oder später geschenkweise in öffentlichen Besitz, aber immerhin: es ist doch ein Notgroschen für besondere Fälle." „Zum Beispiel?" „Zum Beispiel: es hat jemand ein erwerbsunfähiges Kind und mag die öffentliche Fürsorge nicht

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annehmen, so vollkommen sie auch bei uns ist. Oder, was freilich kaum vorkommt, eine Spielschuld muß gezahlt werden. Junge Leute sind manchmal leichtsinnig. Oder, einer braucht Geld für eine kostspielige Expedition oder Untersuchung." „Wenn ich dich recht verstehe, werden also die Uberschüsse, soweit es solche gibt, vorwiegend schatzbildend in Horten angelegt?" „Ja, unter Umständen sogar in Edelmetall, in Gestalt von Geräten in Gold und Silber. Das war in der ersten Zeit sogar sehr verbreitet, gilt aber jetzt als etwas lächerlich und spießbürgerlich." „Und zinsbare Anlagen gibt es nicht?" „Doch! Aber der Zins ist so nieder, daß es kaum lohnt. Das Angebot von Kapital ist soviel größer als die Nachfrage. Der Zins schwankt seit Jahren um 1% herum. Erweiterungen der Anlagen können fast immer von den Beteiligten selbst aus ihren Gewinnen finanziert werden. Die Einzelwirte, die Bauern, Handwerker, freien Berufe, kleinen Kaufleute brauchen selten große Mittel auf einmal, um ihren Betrieb zu verbessern, und können das in aller Regel aus ihrem Guthaben bezahlen, allenfalls in ein paar Raten; und die großen Betriebe, die zumeist Genossenschaften sind, legen für den Zweck Reservefonds an, die in der Regel ausreichen. Wenn es einmal nicht ausreicht, zeichnen die Genossen die Anleihe fast immer selbst." „Verzinslich?" „Natürlich. Das verlangt doch die Gerechtigkeit. Sie bringen ja ein Opfer, um die Ergiebigkeit des Werkes zu vermehren. Wer daran nicht teilnimmt, also vor allem die später Eintretenden, hat kein Anrecht auf den ganzen Mehrertrag. Grobe Ungleichheit kann daraus nicht entstehen, denn jeder ist nur mit einer für seine Verhältnisse kleinen Summe beteiligt, in aller Regel durch allgemeine prozentuale Kürzung der Arbeitsdividende. Sie erhalten als Ausgleich dafür die Obligationen. Der Zins ist, wie gesagt, sehr gering. Vor allem aber: auch dieser Vorteil ist befristet. Alle diese Anleihen sind in kurzer Zeit durch Auslosung tilgbar. Spätestens, wenn die neue Anlage abgeschrieben ist, sei sie nun technisch verbraucht oder nur veraltet, ist die Obligationenschuld abgetragen." „Die Sozialisten meiner Zeit würden über Ausbeutung zetern. Zins, das war Ausbeutung, hoch oder nieder, dauernd oder befristet." „Ist mir bekannt. Die typische Verwirrung des dynamischen mit dem statischen Zins!" „Was bedeuten diese Fremdworte?" „Leicht zu verstehen. Weißt du, wie Bastiat den Kapitalprofit ableitete? Jakob hat sich einen Hobel gemacht. Wilhelm leiht ihn sich aus und zahlt dafür von dem Mehrertrag an Brettern, den er mit dem vollkommeneren Werkzeug schaffen kann, ein Brett jährlich als Zins. Durchaus gerecht, und durchaus im Sinne der freien und gleichen Konkurrenz! Aber Bastiat ist auf dem Holzwege, wenn er glaubt, damit den Profit im Kapitalismus gerechtfertigt zu haben. Denn natürlich wird Wilhelm sich sehr bald aus dem ihm verbleibenden Mehrertrag an Brettern einen eigenen Hobel kaufen und wird damit der Abgabe ledig. Die vorübergehende Abgabe ist der harmlose dynamische Zins, aber der Kapitalprofit deiner Zeit war dauernd, war statisch. Er beruhte auf der Tatsache, daß der Proletarier Wilhelm dem Kapitalisten Jakob immer den ganzen Mehrertrag abgeben mußte und daher niemals das Eigentum an den Arbeitsmitteln erwerben konnte." „Jetzt verstehe ich. Die kleine Prämie für die Vermehrung und Verbesserung der Arbeitsmittel ist offenbar beiden Teilen nützlich und kann nicht zu bleibender Ausbeutung führen." „So ist es. Unsere Wilhelms können sich jeden ,Hobel' kaufen, sei er noch so kostspielig, weil der vermehrte Ertrag ihnen zufließt. Und wenn einmal die eigenen Mittel bei sehr großem Neubedarf nicht ausreichen sollten, na, dann nehmen sie eben Kredit mit schneller Tilgung auf." „Bei wem?" „Der große Kreditgeber ist die .kollektive Ersparnis', die Versicherung, durch Vermittlung der Banken, namentlich der Gaubanken, die der Gemeinschaft gehören. Aber es gibt auch private Bankiers."

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„Nicht einmal Bankmonopol gibt es?" „Wie sollte es? Wir leben unter freier Konkurrenz. Aber du mußt entschuldigen. Meine Zeit ist abgelaufen. Unsere Bank- und Finanzordnung wird dir der Leiter unserer Gaubank, Robert Wilke, darstellen. Du triffst ihn heute abend nach dem Vortrag bei Henricy, unserem verehrten und geliebten Meister und Tyrannen."

VIII. Kapitel Der Turm zu Babel Das gewaltige Olympia-Stadion der Provinz hatte die ungeheure Menschenmenge nicht zu fassen vermocht, die dem Vortrag des Mannes aus der vierten Dimension lauschen und ihn selbst sehen wollte. Es hörte ihn, wie der Vorstand vorausgesagt hatte, buchstäblich die ganze Welt, soweit sie deutsch verstand, und das verstanden viele hundert Millionen. In allen Städten, Dörfern und vereinzelten Häusern aller fünf Erdteile und nicht minder auf allen Schiffen aller Ozeane drängten sich die Menschen um die Lautsprecher. Henricy empfing seine zahlreichen Gäste in den Gesellschaftsräumen des Amtspalastes, wo ein riesiges kaltes Buffet ihrer wartete. Die schönsten Mädchen der Provinz bedienten, unter ihnen Marianne und Klara Bachmüller. Luise Berlichingen, ihre älteste Schwester, und ihren Mann, den Leiter der Baugewerbgenossenschaft Villingen, sowie ihren Bruder, Bernhard Bachmüller, den Mediziner, der aus Tübingen herübergekommen war, hatte ihm die stolze Mutter vorgestellt. Todmüde kam er lange nach Mitternacht heim. Am nächsten Nachmittag war viel Jungvolk in des Professors Garten. Alle Kinder des Hauses, auch Bernhard und Luise, waren mit zahlreichen Freunden und Freundinnen auf der großen Veranda zum Vesper versammelt. Carmen Oliveiro, eine dunkeläugige Spanierin, die Hans Bachmüller als Luises Wahlschwester vorgestellt wurde, betreute deren hübsches Baby. Fröhliches Gespräch summte um die Tische, geführt in allen Sprachen, die Hans Bachmüller verstand, und in einigen, die er nicht verstand. Es war ihm zuweilen etwas peinlich, wie taub und stumm dabeisitzen zu müssen, wenn, oft genug, helles Gelächter aufflatterte, dessen Grund er nicht ahnte. „Seid ihr denn alle zusammen Mezzofantis?" fragte er den Professor, der sich in diesem Gewässer mit der Leichtigkeit einer Forelle bewegte. „Mezzofanti soll über hundert Sprachen gesprochen haben. So arg ist es nun doch nicht. Aber jeder von uns ist vielsprachig." „Erstaunlich!" „Weniger, als du glaubst. Wir sind heute sämtlich gebildete Menschen. Auch zu deiner Zeit sprachen alle gebildeten Menschen mehrere Sprachen. Und die kleinen Völker, die darauf angewiesen waren, waren erstaunlich vielsprachig. Die meisten Schweizer sprachen die drei Sprachen ihres Landes: deutsch, französisch und italienisch, die Räter auch noch romanisch, und sehr viele überdies englisch. Jeder bessere Holländer sprach außer seinem Niederdeutsch Englisch, Französisch und Deutsch. Und in den Grenzbezirken ζ. B. Deutschlands war auch die ganze weniger gebildete Bevölkerung zweisprachig. Man sprach je nachdem ebensogut wie deutsch polnisch, tschechisch, ungarisch, südslawisch oder italienisch, - bis eure Staaten aus den Sprachen politische Schibboleths machten und die sog. Staatssprache aufzuzwingen versuchten. Dann wurde es sozusagen Ehrensache, die anderen nicht mehr zu verstehen."

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„Du hast recht. Ich entsinne mich, daß in einer spaniolischen Familie Konstantinopels, deren Gast ich einmal war, die Sprache mit jedem neuen Ankömmling wechselte. Zuerst sprach man mit mir deutsch, dann mit dem Kutscher türkisch, mit der Amme armenisch, mit später gekommenen Fremden spanisch, französisch, englisch, ganz selbstverständlich und mühelos. Sie hatten schon als Kinder das alles gelernt." „Nun ja, Kinder sind überhaupt genial, sind viel begabter als wir Erwachsenen. Die Sprachen ihrer Umgebung fliegen ihnen geradezu zu, und es ist das Merkwürdigste, daß sie ihnen kaum je durcheinander geraten. Wir haben das nur systematisiert." „Wie das?" „Nun, wer es sich irgend leisten kann - und fast alle können es sich leisten - bittet sich eine Wahlschwester zu Hilfe, so oft die Frau ein Kind hat. Du hast ja Carmen kennengelernt. Sie kam zu Luise, als das Kind drei Wochen alt war, und nun lernt der kleine Balg spanisch und deutsch gleichzeitig. Fast alle jungen Mädchen in aller Welt sind mit zwanzig Jahren ausgebildete Wochen- und Säuglingspflegerinnen und oft auch Kindergärtnerinnen. Sie gehen gern in fremde Länder, um deren Sprache zu erlernen; natürlich werden sie wie die eigenen Schwestern geachtet und gehalten. Luise war in Kiew bei einem befreundeten Ehepaar, und Marianne wird nächstens nach Stockholm gehen. So haben die kleinen Kinder bereits sozusagen zwei Muttersprachen. In der Schule lernen sie eine dritte, und zwar aus dem Grunde: du weißt, daß überall die Sprache des Nachbarlandes neben der eigenen als Unterrichtssprache eingeführt ist. Westdeutschland bis zur Elbe französisch, Nordostdeutschland polnisch, Sachsen und der Hauptteil Schlesiens tschechisch. Entsprechend lernen die Franzosen des Südens spanisch oder italienisch, des Nordens englisch, des Ostens deutsch, die Polen deutsch oder russisch usw." „Aber die jungen Leute sprechen ja auch spanisch, italienisch und, soviel ich verstand, russisch." „Spanisch und russisch sind neben deutsch, englisch und chinesisch die großen Weltsprachen und werden es bleiben. Darum eignen sich die meisten sie an. Unsere meisten Wahlschwestern und Wahlkinder sind spanischer oder russischer Herkunft." „Was sind Wahlkinder?" „Adoptivkinder, Jungens und Mädels, auf Zeit und in Tausch. Man tauscht mit den Familien. In aller Regel gehen die Kinder nur bis zum vierzehnten Jahre im eigenen Lande zur Schule. Dann werden sie ins sprachliche Ausland geschickt, und zwar in der Regel immer nur auf ein Jahr, so daß sie drei bis vier neue Sprachen und Länder kennenlernen. Bernhard war in Stockholm, in der Familie, die jetzt Marianne aufnehmen wird, in Athen und Moskau, Fridl in Mailand, Budapest und Amsterdam, Klara in Baltimore, Belgrad und Warschau. „Keiner in Frankreich?" „Französisch beherrschen wir Westdeutschen ja schon von der Schule her. Die Ostdeutschen gehen fast sämtlich nach Frankreich oder England. Und die kleinen Sprachtümer sind besonders stolz auf ihre Gäste. Sie sind bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen, aber erleben auf diese Weise noch eine Erweiterung, auf die sie niemals hätten rechnen können, und die ihren Dichtern und gelehrten Schriftstellern außerordentlich zugute kommt." „Wie wird es aber dann mit der Schule?" „Das ist sehr glücklich geordnet. Die Kinder kommen mit guter Kenntnis von meistens drei Sprachen und mindestens den Anfangsgründen der Sprache des Landes an, das sie ausgewählt haben. In ihrer Muttersprache sind sie völlig firm, die Geschichte und Geographie ihres Heimatlandes kennen sie sehr gut. Jetzt lernen sie neben der neuen Sprache auch die Geschichte und Geographie der Länder ihrer Lehrzeit, und zwar die letztere auf zahlreichen Reisen und Wanderungen. Der Schulunterricht kann sich auf die Fortbildung in Mathematik und Naturwissenschaften beschränken, und die ist durch Ubereinkunft überall gleich geordnet, so daß die Vierzehnjährigen ohne weiteres mitkommen, sobald sie die Sprache einigermaßen beherrschen. Paul wird nächste Ostern

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nach Sevilla zu Carmens Eltern gehen, die sich ihn ausgebeten haben. Das Jahr darauf will er nach Rußland, und das letzte Jahr vor dem Studium nach Dänemark gehen." „Nur Mathematik und Naturwissenschaften? Das gibt doch niemals eine abgerundete Bildung." „Hast du eine Ahnung! Die jungen Leute sehen mehr Kunst und lernen mehr Literatur, als eure Generation sich vorstellen konnte. Bringe mal Fridl im Gespräch auf die italienische Malerei und Bildhauerei. Da wirst Augen machen, der hört nimmer auf! So jung er ist, er hat doch schon fast alle großen Museen studiert. Und Literatur? Sie lesen Dante und Cervantes und Rabelais und Kipling und Reymont und Tolstoi und Gogol und Petöfy und weiß Gott wen noch alles andere in der Ursprache! Und Geschichte? Sie erleben die Geschichte. Sie stehen in den prähistorischen Bilderhöhlen, sie sehen Pyramiden und Burgen, Tempel, Moscheen und Kirchen mit eigenen Augen, waren im Tal von Ronceval und am trasimenischen See, lernen die Völker kennen und die Heerstraßen, auf denen sie wanderten und kämpften, die Länder, aus denen und in die sie kamen. Lebendige Bilder statt hohler Worte. Anschauung!" „Auf diese Weise habt ihr sozusagen den Turm zu Babel doch errichtet." „In noch besserem Sinne, als du selbst soeben meintest. Die Völker verstehen sich wieder, und darum haben sie es leicht, sich zu verständigen. Dieser Austausch der jungen Menschen, diese frohen, sorglosen Lehr- und Wanderjahre flechten unzählige unzerreißbare Fäden der Freundschaft und der Verwandtschaft, und nicht nur der Adoptiwerwandtschaft, obgleich diese auch echt und fest ist: unsere zahlreichen Wahlkinder hängen an meiner Frau wie ihre eigenen. Aber es kommt natürlich sehr oft zu wirklicher Verschwägerung und Blutsverwandtschaft. Carmen hat Bachmüllersches Blut in sich, von einer Cousine meines Großvaters her. Und Bernhard scheint mit Carmen mehr als halb einig zu sein. Aber mehr als das wirkt völkerverbindend die Erkenntnis, daß der Mensch überall der gleiche ist, daß alle Völker ihre große Zeit hatten und das gleiche litten. Es ist kein Raum mehr für den alten Nachbarhaß, seit man sich so genau kennt und weiß, daß es überall ,menschelt'. Wir alle sehen jetzt die Balken im eigenen Auge und hüten uns wohl, über den Splitter im fremden Auge große Töne zu reden." „Ja, es war komisch, wie die Völker sich früher am Eigenlob berauschten. Ich kam zuerst dahinter, als ich die Tausendundeine Nacht in der vollständigen Ausgabe las. Da waren auf einmal die Araber die herrlichen Ritter ohne Furcht und Tadel, und die Kreuzfahrer die Räuber, Mörder und Mädchenschänder, umgekehrt wie in unseren Schulbüchern und etwa in Wielands Oberon. Und in den Romanen von Sienkiewicz waren die Polen die weißen Engel mit Muskeln, und die Ordensritter die Schweinehunde. Jedes Volk glaubte, das einzige Volk Gottes zu sein, nicht nur die Juden, sondern auch die Engländer und vor allem die Yankees. Ich sah mal drüben eine Weltkarte: über Asien und Afrika stand in großen Lettern ,barbaric', über Europa .civilized' und über den Vereinigten Staaten .enlightened'. Und wo ich in Geschichtswerke hineinsah, überall fand ich, bei Franzosen, Engländern, Magyaren, Deutschen, Böhmen, Italienern, Chinesen und Japanern, die gleiche Einbildung, alle Kultur habe bei ihnen ihre erste Wurzel und feinste Blüte und Frucht. Sogar die Türken wollten auf einmal das Muttervolk aller Kultur sein." „Ja, wir amüsieren uns heute darüber. Aber für eure Zeit war es die schlimmste aller Gefahren. Es war euer Staat, ,das kalte Untier', aus dessen Mund, wie euer Nietzsche sagte, die Lüge kriecht: ,ich, der Staat, bin das Volk', der diese Legenden und Lügenden schuf oder doch begünstigte, um sein ,divide et impera' ausüben zu können, um den Vorwand für seine Raubtierpoiltik zu haben. Wir haben das Raubtier erlegt." „Glückliches Geschlecht." „Fürwahr, glücklich, wenn auch Krankheit, Alter, unbefriedigter Ehrgeiz und Liebesleid uns nicht minder quälen als euch, vielleicht sogar mehr, weil wir verwöhnter sind. Aber die vermeidbaren Übel haben wir abgestellt. Uns plagt keine Gewissensangst mehr, nur darum, weil wir leben, wie sie euch plagte, weil ihr euch irgendwie an der Krankheit eurer Welt mitschuldig fühltet. Es

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gibt keine pessimistische Philosophie und gar keine Geschichtsphilosophie mehr. Wir brauchen nicht zu fragen, wozu wir da sind. Wir sind da, um zu leben, zu wirken, immer mehr Freude und Schönheit zu schaffen, im engsten wie im weitesten Kreise Gerechtigkeit zu üben, und darüber hinaus Liebe zu geben und zu nehmen. Und den goldenen Ball weiterzureichen durch unsere Kinder auf die spätesten Geschlechter." „Eine schöne Religion." „Nenn's wie du willst. Ja, wir sind Christen, denn wir lieben unsern Nächsten wie uns selbst; wir haben keinen Grund mehr, ihn zu hassen. Der feindliche Wettkampf bis aufs Messer ist mit den Monopolen verschwunden, und Nachbarhaß und Krieg mit dem Klassenstaat. Kannst uns ebensogut Buddhisten nennen: ,tat twam asi', das bist du selbst, dein Nächster, Gottes Kreatur, gleich dir; Konfutse und Laotse haben das gleiche gelehrt, und unser Kant nicht minder. Wir leben im Rechtsstaat', und im .ewigen Frieden'. Der politische und ökonomische Unterbau der Welt ruht fest und unerschütterlich auf der granitenen Säule des Rechts der Gleichheit - und darum steht darüber gleich unerschütterlich der Oberbau der Ethik wie das Firmament über der Erdfeste." „Ist keine Erschütterung mehr möglich? Kein neuer Araber- oder Mongolensturm unter einem neuen Dschingis-Khan?" Der Professor lachte verächtlich. „Eine eurer Geschichtslügen! Weißt du, wie groß die Heere waren, die das Römerreich und Byzanz über den Haufen warfen? Theodorich der Große hatte sechstausend, Omar fünftausend Mann. Die Reiche fielen fast auf den ersten Stoß, weil sie im Inneren ausgehöhlt waren. Der Staat hatte das Volk aufgefressen. Wenn heute neue Barbaren an den Grenzen des Weltbundes erscheinen könnten,,würden wir sie arretieren lassen', wie euer Bismarck einst dem englischen Botschafter erwiderte, als der mit einer Landung von hunderttausend Engländern an der holsteinischen Küste drohte. Aber sei ruhig, es gibt keine Barbarengefahr mehr." „Unmöglich sind die asiatischen Nomaden sämtlich seßhaft geworden." „Natürlich nicht. Sie treiben noch immer ihre Herden von den Sommer- zu den Winterweiden und zurück. Nachdem sie aber im allerersten Anfang einmal unsere Waffenkraft kennengelernt hatten, haben wir sie reich gemacht, - für ihre Begriffe - und zwar durch gerechten Handel. Der lohnt ihnen besser, auf die Dauer wenigstens, als noch so erfolgreicher einmaliger Raub. Sie sind heute sehr zivilisiert, die Hirten Asiens. Übrigens werden sie mehr und mehr seßhaft. Die Ackerkultur ringt sie immer enger ein, zu ihrem großen Vorteil. Du mußt einmal die riesenhaften Bewässerungswerke sehen - kaum ein Tropfen Wasser verdunstet noch ungenutzt. Die Zentralwüste von Iran ist heute zum größten Teile reiches Fruchtland, und ganz Mesopotamien ein einziger Garten. Die Erde ist unermeßlich reich, nur der Mensch hat ihre Schätze vergeudet, vor der Erlösung." „Zu meiner Zeit wurden die Nomaden von Russen und Chinesen furchtbar ausgewuchert." „Tempi passati! Man wuchert nicht mehr im Großen. Kein Staat stellt sich noch hinter einen Wucherer, und niemand hat Achtung vor einem Reichtum, dessen Herkunft nicht unzweifelhaft sauber ist. Außerdem haben die Leutchen viel gelernt. Sie sind ihre eigenen Kaufleute, zumeist in Genossenschaften gleich den wunderbaren Gilden der Chinesen. Im Westen Zentralasiens spricht wohl jeder Erwachsene fertig russisch, im Osten chinesisch, und fast alle Kaufleute außerdem englisch für den Handel mit Indien. Sie haben ausgezeichnete Autostraßen und sind vollberechtigte Bürger des Weltbundes. Unzählige ihrer jungen Leute haben ihre Erziehung in Europa und Amerika genossen, und unsere Jungens reisen nirgends lieber hin als zu ihnen, wo es noch Abenteuer gibt: Reiten und Jagd auf Großwild." „Und wie ist es mit den Negern in Afrika und den Negritos Melanesiens? Von den Salomonsinseln hieß es zu meiner Zeit: Gott hat die Welt geschaffen, aber der Teufel die Salomonen. Kopfjäger, Mörder aus Kultus, unbändige Wilde!" „Die Neger sind fleißige Ackerbauern und versorgen uns mit tropischen Produkten. Seitdem sie

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für sich selbst arbeiten, nicht mehr für fremde Ausbeuter, und seitdem wir den Sklavenhandel ausgerottet haben, schaffen sie ganz ordentlich und haben sich erstaunlich zivilisiert. Sie haben auch eine durchaus konkurrenzfähige Schicht von Intellektuellen, wenn sie auch bisher nicht gerade bahnbrechende Genies hervorgebracht haben. Mit den Melanesiern war es schwieriger, ehe sie sich fügten. Wir haben ihnen den Seeraub abgewöhnt, unsere Kriegsboote haben ihre Inseln jahrzehntelang hermetisch abgeriegelt. So schmorten sie lange im eigenen Fett, aber zuletzt kamen sie hübsch artig an die Küste und boten Handel. Die europäischen Waren lockten allzu mächtig. Sie sind auf gutem Wege; es mag allerdings noch hier und da einmal ,Langschwein' gefressen werden, aber das ist ihre Sache, solange es sich nicht um einen von uns handelt. Wir halten es nicht für unsere Aufgabe, Kannibalen mit Gewalt zu erziehen. Nur das Beispiel kann es leisten. Und das geben wir ihnen durch gerechten Handel. Wir ,sagen nicht mehr Christus und meinen Baumwolle', wie die Engländer sich selbst verspotteten." „All· das galt zu meiner Zeit für blanke Utopie." „Wenn Utopie bedeutet: den Glauben an die Möglichkeit einer unmöglichen Ordnung, darin wart ihr fast ohne Ausnahme die ärgsten Utopisten, nicht nur die Kommunisten in Rußland ..." „Was ist aus den Sowjets geworden?" „Sind natürlich längst in den Weltbund eingetreten. Der Kommunismus hatte sich völlig festgefahren. Unser Beispiel gab den Ausschlag. Aber ihr anderen wart kaum geringere Utopisten. Denn der Kapitalismus ist gerade so unmöglich. Er konnte sich halten, solange erst wenige Länder industrialisiert waren. Als es die meisten waren, konnten die Waren natürlich keinen Absatz mehr finden." „Ich weiß schon, das Abflußrohr!" „Ja, jetzt lachen unsere Kinder darüber. Übrigens: was ist Utopie? Alle Wirklichkeit ist die Utopie von gestern. Vor hundertfünfzig Jahren glaubte niemand, daß der Mensch je würde fliegen können. Und so ist alle Utopie nur die Wirklichkeit von morgen. Wir halten alles für möglich, was nicht offensichtlich gegen die Naturgesetze verstößt, und wir versuchen alles, was auch nur möglich erscheint. Das Leben ist für uns ein fröhliches Abenteuer geworden, und kein Preis ist zu hoch, nicht einmal das eigene Leben. Man kann auch im Frieden Heldentum bewähren." „Kein größeres Heldentum als das Nansens, als er sein sicheres Schiff verließ, um dem Pol zu Fuß zuzuwandern." „Solche Helden gab und gibt es immer und wird es immer geben. Eure Historiker fabelten, der Wohlstand habe die Völker schlapp und feige gemacht. Verdammter Unsinn! Der Reichtum war es, die Verfügung über Menschen, nicht der Wohlstand, die Verfügung über Sachen. Betrachte dir unsere Jugend auf den Sportplätzen, auf der Wanderung, im Paddel- und Segelboot und an den Bergwänden und sage mir, ob eure kriegsgestählten Völker stärker und mutiger waren. Wir nähern uns dem Ideal aller Volksherrlichkeit: germanische Kraft und hellenische Anmut." „Ich sage noch einmal: glückliches Volk, glückliche Menschheit!"

IX. Kapitel Bargeldlose Wirtschaft Robert Wilke, der erste Direktor der südostschwäbischen Gaubank, empfing Hans Bachmüller in seinem Amtszimmer im ersten Stock des Gaupalastes.

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„Grüß Gott, hier hast du Scheckbuch und Bankbuch, du hast bereits ein stattliches Guthaben. Der Rundfunk hat dir fünfzig Gramm überwiesen." „Gramm?" „Ja, wir sind zum ehrlichen Gelde zurückgekehrt. Alles Geld war ursprünglich nichts als ein durch den Stempel beglaubigtes Gewicht in Gold oder Silber. Ein Pfund war einmal wirklich ein Pfund Silber, eine Mark (das war auch ein Gewicht) wirklich eine Mark in Gold oder Silber. Dann hat euer Staat, das Raubtier, auch das Geld verdorben wie alles, was er anfaßte, von der Religion bis zur Schule. Falschmünzerei um deutlich zu sein, Diebstahl an den Gläubigern. Bei uns ist ein Kilo wieder ein Kilo und ein Gramm ein Gramm; niemals wieder wird jemand befehlen dürfen, daß ein halbes Kilo ein ganzes ist und als solches angenommen werden muß." „ Goldwährung?" „Natürlich. Der einzige Stoff, der sich einigermaßen wertbeständig hält. Für unsere Zwecke ist er sogar völlig wertbeständig. Sehr langfristige Anlagen gibt es nicht mehr, und in kurzen Zeiträumen ändert das Gold seinen Wert nicht merklich." „Oha! Als ich abreiste, sprach man viel von der Indexwährung, die gerade dazu dienen sollte, die Schwankungen des Goldwerts zu beseitigen." „Laß mich mit dem Blödsinn aus. Die Narren von damals - Amerika hat den Versuch gemacht, er endete mit einer Katastrophe - haben Wert und Preis des Metalls verwirrt. Du weißt, daß jede Ware bei festbleibendem Wert, d. h. gleichbleibendem Arbeitsaufwand, dennoch im Marktpreis stark schwanken kann." „Natürlich, wenn Angebot oder Nachfrage sich plötzlich stark ändern. Schwarzes Tuch bei Landestrauer." „Das klassische Beispiel! Nun, Gold ist auch eine Ware wie alle anderen, Erzeugnis einer bestimmten Menge gesellschaftlicher Arbeit. Danach bemißt sich und verändert sich sein Wert. Aber sein Preis kann plötzlich sehr stark steigen, wenn eben die Nachfrage plötzlich stark zunimmt, und dann drückt sich das in einem verhältnismäßigen Sturz aller anderen Warenpreise aus. Das war der Schlußakt eurer Wirtschaftskrisen. Wir kennen keine allgemeinen Krisen mehr, seit der Verbrauch mit der Erzeugung unerschütterlich gekoppelt ist. Natürlich ist möglich, daß der Wert des Goldes in langen Zeiträumen zu- oder abnimmt, aber wir haben keine hundertjährigen Renten und Gülten mehr. Unsere Anlagen laufen kaum je länger als zehn Jahre, und in so kurzer Zeit sind die geringen Wertveränderungen des Goldes ohne Bedeutung." „Welchen Wert hat das Gold nun wohl heute, im Vergleich zu meiner Zeit?" „Das ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage. Wenn du vom Wert des Goldes sprichst, ausgedrückt in Arbeitszeit, so dürfte sich nicht viel geändert haben. Die Minen werden mit ungefähr den gleichen Maschinen und Methoden betrieben, die ja schon damals hoch entwickelt waren. Wenn du aber nach der Kaufkraft des Goldes fragst, so ist sie stark gesunken in bezug auf Arbeitsstunden oder besser LobnsümAta·, denn der Lohn hat sich, ausgedrückt in Gold, ungefähr verachtfacht, von ungefähr einem Viertel auf etwas mehr als zwei Gramm je Stunde. Darum haben die weniger ertragreichen Fundstellen aufgegeben werden müssen. Schon zu deiner Zeit lohnte es ja nicht mehr, Gold aus den Sanden der Flüsse zu waschen." „Und wie steht's mit der Kaufkraft für andere Waren?" „Das hängt davon ab, wieviel Maschinenarbeit darin steckt. Ist es viel, so sind sie bedeutend billiger geworden. Der Anzug, den du trägst, hätte zu deiner Zeit gewiß 120 Mark, also etwa 40 Gramm gekostet. Du wirst 15 dafür gezahlt haben." „Ich weiß nicht. Mein Vetter hat ausgelegt. Aber das wäre ja phantastisch billig. Bei den Löhnen!" „Es ist eben fast alles Maschinenarbeit, kaum Handarbeit daran. Und dann darfst du nicht vergessen, daß auf unseren Erzeugnissen nicht die ungeheuren falschen Kosten' liegen, mit denen eure beschwert waren."

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„Zum Beispiel?" „Nun, das Wichtigste ist, daß unsere Werke jahraus, jahrein mit ihrer ganzen oder doch fast ganzen Kapazität beschäftigt sind. Die Preise schwanken nur in geringen Ausschlägen." „Auch bei Modeartikeln wie dieser Anzug?" „Es gibt kaum noch Moden. Eure Moden waren der immer wiederholte Versuch der Oberschicht, den Unterschichten im äußeren Erscheinen fortzulaufen, und das immer geglückte Bestreben der Unterschichten, ihr, wenn auch mit billigem Material, gleich zu werden. Daher der Veitstanz der Mode in Kleidung, Schmuck, Mobiliar, Haartracht und sogar Haarfarbe, Autos usw. Das gibt es nicht mehr. Man trägt, was praktisch, gesund und schön ist. Ja also: die Fabriken sind immer so gut wie voll beschäftigt und verteilen daher ihre Generalunkosten auf ein viel größeres Produkt. Erste große Ersparnis! Dann fallen alle Steuern und Lasten fort; es gibt nur noch Einkommens- und Vermögenssteuern für die einzelnen, die Werke sind frei. Sozialversicherung ist nicht mehr nötig. Mit dem allen ist sehr viel kostspielige Büroarbeit fortgefallen, und noch mehr dadurch, daß die komplizierten Lohnkalkulationen nicht mehr existieren. Ausfälle sind äußerst selten, weil es kaum je noch einen faulen Kunden und niemals mehr Krisen gibt, die auch ehrliche Kunden umwerfen: man braucht also weder ein Delkredere-Konto noch Rücklagen für Krisenjahre. Streiks gibt es nicht mehr, politische Verwicklungen ebensowenig. Man braucht keine hochbezahlten Syndizi für die schwierigen Verhandlungen mit den Gewerkschaften und ebensowenig für das und in dem Parlament. Man spart ferner die kolossal teure Reklame, die Hilfsgelder für Parteien und die Schmiergelder für Politiker und Zeitungen; man spart die hohen Gehälter für Nichtstuer, die mit den Großkapitalisten verwandt sind, und die enormen Zinsen und Provisionen an das Finanzkapital der Banken. Man produziert einige wenige erprobte Typen, aber nicht mehr Hunderte verschiedener Typen mit kleinem Absatz. Und so weiter. Und so weiter. Du kannst ruhig annehmen, daß diese falschen Kosten durchschnittlich ebenso hoch, wenn nicht höher waren, wie die wahren Kosten. Um soviel billiger könnten also unsere Fabriken auch dann schon liefern, wenn ihre Maschinerie noch die alte wäre. Sie ist aber unendlich viel ergiebiger." „Ich verstehe. Dann sind aber wohl die Lebensmittel sehr teuer?" „Ausgedrückt in Fabrikware, ja! Ein Zentner Weizen kauft heute viel mehr Fabrikwaren als früher. Aber in Geld: nein! Wenn auch die Landwirtschaft nicht um soviel ergiebiger geworden ist wie die Industrie, so arbeitet doch auch sie viel mit Maschinen und verbilligten Fabrikaten, und vor allem: auch der Landwirt kann heute seine Arbeitskraft und sein Land nach ihrer vollen Kapazität ausnützen und hat dem Zwischenhandel nur wenig abzugeben. Er produziert der Menge nach viel mehr, vor allem an Edelprodukten, und erhält den vollen Preis von wohlhabenden Konsumenten, die sozusagen vor seiner Tür sitzen. Da ist das Einzelprodukt relativ billig. Beweis: volle Pension in einem einfachen Hause kannst du heute schon für ein Gramm, also für etwa drei Mark eures Geldes haben." „So billig?" „Ja, und besser als in euren Gasthäusern. Der Wirt hat keine Gewerbesteuern und keinerlei Grundrente zu bezahlen; wo es noch Hypotheken gibt, ist der Zins sehr nieder. Die Bauarbeit ist stark maschinisiert, also sind die Häuser relativ billig, ebenso Möbel, Wäsche, Geschirr, und die Bedienung geschieht vorwiegend durch Maschinen und Apparate wie in allen Privathäusern. Die anspruchsvollsten Gaststätten in den beliebtesten Kurorten berechnen mehr, bis zu drei Gramm, haben aber dafür große Gesellschaftsräume, Musikkapelle, Sportplätze und feinste Diätküche. Teuer sind nur Dienste, namentlich niederer Art. Die höheren Dienste, zum Beispiel der Lehrer, Arzte, Zahnärzte, Patentanwälte, sind nicht viel teurer als zu deiner Zeit, abgesehen natürlich von berühmten Spezialisten oder beliebten Künstlern." „Wie erklärt sich das?" „Sehr einfach. Die Konkurrenz ist größer. Zu deiner Zeit war die höhere Ausbildung Privileg

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der Besitzenden. Wir sind alle Besitzende. Jeder, der sich für genügend begabt hält, kann studieren, und zwar aus eigenen Mitteln. Selbst die Kinder der Bevorzugten halten es für unanständig, nicht auf eigenen Füßen zu stehen, wenn sie nur körperlich gesund sind. Mit etwa achtzehn Jahren, nach Schluß der Ausbildungszeit, nehmen sie irgendeine Arbeit an, für die sie die Vorbildung schon auf der Schule erworben haben. Alle unsere gesunden Studenten sind Werkstudenten. Fünf Stunden ist die normale Arbeitszeit; das verträgt sich eine Weile sehr gut mit dem Studium. Sie verdienen zehn Gramm täglich, 250 Gramm monatlich, und können leicht in einem Jahre soviel sparen, daß es für den Rest der Studienzeit auslangt. Für größere Ansprüche gibt es ja außerdem noch die Ferien, in denen immer Arbeit zu finden ist. Dein Verwandter, Fridl Bachmüller, arbeitet in einer Maschinenfabrik. Er will ja auch Ingenieur werden. Mein Ältester ist Malergehilfe: er studiert an der Kunstakademie. Musikstudenten spielen oft in Kapellen." „Famos! Da lernen sie wenigstens das Handwerksmäßige, das das Fundament aller Kunst ist." „So ist es. Die großen Meister der Renaissance waren vielfach ausgelernte Handwerker. Denke an Veit Stoß, an Riemenschneider, an Frans Hals, der sozusagen ein photographisches Atelier für Massenaufnahmen hielt, wie du im Haarlemer Museum sehen kannst. Es tut der Kunst gut, und den Künstlern nicht minder. Sie bilden sich nicht mehr ein, Ubermenschen zu sein und übermenschliche Ansprüche zu haben. Kunst ist Dienst der Feierzeit. Aus dem Dienst der Arbeitszeit sprossen die Ideen der guten Werke. Sie brauchen nicht mehr auf .Inspiration' zu warten und leben nicht mehr von der Kunst, wie Zuhälter, sondern für die Kunst, wie Liebhaber." „Will da nicht jeder studieren oder Künstler werden?" „Warum? Alle Arbeit gibt gleichen Adel, und alle hervorragende Arbeit gleiches Einkommen. Wir haben Handwerker, die bedeutend mehr verdienen als ein durchschnittlich begabter Arzt und Schauspieler. Bei euch schoben und drückten die wohlhabenden Eltern auch die Unbegabten nach oben, des höheren Ranges und erhofften höheren Einkommens halber, auch wegen der besseren Chancen auf eine Mitgift, pfui Teufel! Heute entscheidet für die Berufswahl wie für die Ehe nur die Neigung. Und unsere jungen Leute haben Zeit genug bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr, um herauszufinden, wo ihre Begabung liegt und wie groß sie ist. Die Schule schon führt sie durch alle Handfertigkeit, an allen Stoffen, Papier, Holz, Metall usw., und gibt ihnen eine Anschauung von aller Kunst und Wissenschaft." „Ich verstehe. Die Einkommen sind also sehr weitgehend ausgeglichen." „Das ist selbstverständlich bei freier Konkurrenz und gleichen Bedingungen des Ausgangs. Ein normaler Mann hat heute ein Einkommen von etwa dreitausend Gramm, abgesehen natürlich von einzelnen Hochbegabten." „Darüber bin ich schon unterrichtet. Euer Geldwesen ist mir nun klar. Ihr rechnet nach Gewicht?" „Ja, in der Statistik und im wissenschaftlichen Schrifttum. Aber für den Tagesgebrauch sind vielfach einige der alten Münznamen im Schwange. Ein Kilo Gold heißt ein Talent. Hundert Gramm eine Mine. Zehn Gramm ein Pfund. Ein Gramm ein Gulden. Ein Dezigramm ein Groschen. Ein Zentigramm ein Pfennig. Das ist die Scheidemünze für die kleinen Ausgaben, die einzige Münze, die wir haben." „Was, es gibt keine Goldmünzen?" „Nein, wir leben, abgesehen von der Scheidemünze, in bargeldloser Wirtschaft. Ein Verkehr etwa wie mit der Mark Banco in Hamburg. Alles geschieht durch Umschreibung in den Büchern, d. h. durch Giralgeld, und durch Schecks und Wechsel. Das Geld als Geld ist nicht mehr Gegenstand, sondern nur noch Maßstab des Tauschs." „Dann verstehe ich nicht, daß das Gold nicht ungeheuer tief im Werte und meinethalben im Preise gesunken ist. Als diese gewaltige Nachfrage nach Münzmetall aufhörte ..." „Trat dafür eine kolossale Nachfrage nach Gold als Arbeitsstoff ein. Zu deiner Zeit ließen sich

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nur die Menschen der Oberklasse und Teile der Mittelklassen der zivilisierten Länder die Zähne plombieren. Heute stehen zwei Milliarden Menschen unter zahnärztlicher Aufsicht. Und heute trägt fast jeder eine Uhr und die kleinen Taschengeräte aus Gold, nicht, um mit seinem Reichtum zu protzen, sondern, weil das Metall für diese Zwecke praktischer und schöner ist als die meisten anderen." „Das Gold liegt also in den Bankkellern?" „Soviel noch davon vorhanden ist, ja. Das meiste ist an die Zahnärzte, Goldschmiede und andere Gewerbetreibende allmählich verkauft worden. Wir sind nicht mehr gezwungen, Milliarden von Arbeitsstunden nutzlos liegenzulassen. Gold ist kein Geld mehr, sondern nur noch Ware, und als solche Meßinstrument des Warenwertes. Für den Geldverkehr würde es ausreichen, wenn irgendwo ein einziges genau ausgewogenes Kilo Gold als Urmaß aufbewahrt werden würde, wie immer noch das alte Urmeter im Pariser geodätischen Institut. Der Rest unseres Bankgeldes dient nur noch als Stabilisator des Goldwertes. Selbst eine grundstürzende Verbesserung der Produktionsmethode könnte den Preis nicht stark herabsetzen, solange jede öffentliche Bank ohne weiteres jede ihr angebotene Menge annimmt und den Produzenten in Kilogramm und Gramm gutschreibt; - und umgekehrt könnte keine noch so katastrophale Abnahme der Ausbeute sich schnell als Preissteigerung des Metalls auswirken, solange die Banken jedes angeforderte Quantum gegen Lastschrift aushändigen. Das ist Goldwahrung. Das allein! Und dazu bedarf es keiner großen Goldvorräte, seit es keine Krisen mehr gibt, und seit es keine politischen Gründe mehr gibt, das Gold in ungeheuren Massen irgendwo aufzuhorten, um andere Staaten in der Schlinge zu haben." „Braucht ihr dazu überhaupt noch Gold? Warum rechnet ihr nicht schlechthin gleich in Arbeitsstunden?" „Weil alle Meßinstrumente mit dem zu Messenden gleicher Dimension sein müssen. Man kann Entfernungen nur mit Längenmaßen, schwere Dinge nur mit Gewichten messen. Genauso kann ich Wert nur mit einem Wertding bestimmter Größe messen. Aller Warenwert ist Produkt der Arbeit, deshalb muß der Maßstab des Wertes auch Produkt der Arbeit sein." „Aber die Arbeit selbst hat doch auch Wert." „Richtig. Aber ein beliebiges Kilo Feingold hat zur gleichen Zeit und am gleichen Ort immer genau den selben Wert wie jedes andere beliebige Kilo Feingold. Die Arbeitsstunde aber des Gottfried hat nicht einmal immer den gleichen Wert wie jede andere Arbeitsstunde des Gottfried, geschweige denn den gleichen Wert wie die des Hinz und Kunz oder die der Marie oder Anna. Einen festen Wert hat nur die durchschnittliche Arbeitsstunde der gesellschaftlichen Arbeit; sie ist es, die den Wert von Tuch, Kaffee, Weizen, Silber und Gold bestimmt. Diese durchschnittliche Arbeitsstunde aber kann ich nicht an Zeit messen, sondern nur an einem Gute, das sehr wertbeständig ist. Darum ist und bleibt das Gold als Maßstab unentbehrlich." „Ich verstehe. Wenn alle Menschen genau gleich begabt und gleich fleißig wären und zu jeder Zeit des Tages und Jahres genau gleich viel schaffen würden: nur dann könnte eine beliebig ausgewählte Arbeitsstunde der Maßstab des Wertes sein. Da das nicht der Fall ist..." „... muß man eben Gold dazu nehmen, das immer gleich ist. Aber ich gehe weiter: selbst wenn die unmögliche Voraussetzung zuträfe, wäre die Arbeitsstunde ein sehr schlechter Maßstab." „Warum?" „Weil ihr Wert fortwährend, und zwar sehr schnell, mit der immer besseren Ausrüstung der Arbeit steigt, also ein schnell veränderlicher und d. h. ein unbrauchbarer Maßstab ist. Stell' dir mal vor, das Meter würde schnell immer länger, oder das Kilo immer schwerer. Das gäbe doch eine ungeheure Konfusion." „Haben wir erlebt", sagte Bachmüller, „als in unserer Inflationszeit die Münzeinheit, das Tauschmaß, immer kleiner wurde." „Aber das wäre noch nicht einmal das Schlimmste", sagte Wilke. „Die ganze Selbststeuerung der

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Wirtschaft wäre zum Teufel." „Was heißt das: Selbststeuerung?" „Nun, die Regulierung der Preise und die Ausgleichung der Einkommen durch die Konkurrenz. Menschen und Waren ziehen sich hin, wo Preis und Lohn hoch sind, und ziehen sich fort, wo sie tief sind. Und das wollen wir ja gerade, daß die Menschen dort hingehen, wo das Entgelt der Arbeit höher steht, und von dort fortgehen, wo es tiefer steht. Aber das müssen sie erfahren können, und zwar durch einen kurzen Ausdruck. Den haben wir in unserer Goldrechnung. Hier steht der gewöhnliche Stundenlohn auf etwa zwei Gramm, anderswo hat er im letzten Jahre auf 1,7 oder 2,3 Gramm gestanden: das versteht jeder. Wenn wir dieses Maß nicht hätten, müßten wir die Kaufkraft der Arbeitsstunde in irgendeinem Index ausdrücken, gewogen oder nicht gewogen, und das ist erstens immer willkürlich, zweitens immer ungenau, schon bei der Aufstellung, drittens schnell veränderlich, weil die einzelnen Waren mit der Veränderung der Erzeugungsmethoden schnell und stark im Wert und Preis schwanken können, und schließlich international gar nicht brauchbar. Der Bedarf ist allzu verschieden, je nach Klima, Landesgewohnheit usw." „Ich verstehe. Jeder Bezirk veröffentlicht von Periode zu Periode, wie hoch der Wert der Arbeitsstunde bei ihm steht. Danach richten sich Zu- und Abstrom, und so gleichen sich die Einkommen immer wieder aus." „Ja, das ist die Selbststeuerung. Nun mußt du aber nicht glauben, daß jede geringe Verschiebung sofort starke Ströme der Wanderung auslöst. Erstens ist die Lohnhöhe nur ein Datum der wirtschaftlichen Rechnung; das zweite sind die Lebenskosten. Und die sind natürlich verschieden hoch. Brot ist im Zentrum der Getreideländer viel billiger als in den europäischen Großsiedlungen, Steinkohle neben der Grube viel billiger als weiter fort, und das gilt für fast alle Rohstoffe und Nahrungsmittel ebenso. Aber vor allem: es gibt außerwirtschaftliche Daten, die schwer ins Gewicht fallen. Man geht nicht um weniger Gramme willen aus der Heimat fort, und für viele Gramme nicht, sagen wir aus den irdischen Paradiesen in Südfrankreich oder Sizilien nach Sibirien oder Nordkanada oder in die tropischen Wälder, die .grünen Höllen'. Heute heißt es nicht mehr: ,Ubi bene, ibi patria', sondern umgekehrt: ,Ubi patria, ibi bene'. Die Menschen unserer Zeit sitzen recht fest. Wir kennen nicht mehr die Vaterlandsliebe' von früher, die im Grunde nichts war als aufsuggerierte Liebe zu diesem Staate, und die ausschließlich, ja zumeist, grimmig aggressiv war: aber unsere Liebe zur Heimat, zur Muttersprache, zu unserem Volkstum, zu unseren Verwandten und nicht zuletzt zu unseren Gräbern ist gewiß nicht geringer, als sie bei euch war. Es braucht schon recht starke Verschiebungen der Lohnhöhe, um größere Wanderungen herbeizuführen. Und selbst diese bedeuten fast immer nur Abwesenheit für bemessene Zeit. Die Vögel kehren fast immer zum alten Nest zurück, es sei denn, daß sie sich mit einem fremden Vogel paaren und dessen Nest bewohnen." „Prachtvoll. Nun möchte ich noch etwas über die Organisation dieses bargeldlosen Verkehrs erfahren." „Mein Gott, das ist so einfach wie nur möglich. Genau wie euer Postscheckverkehr. Nur, daß heute alle ihr Konto haben, und alle bei den öffentlichen Banken der Gaue. Auch im Kapitalismus vollzog sich in den Zeiten der Ruhe der größte Teil des Warenverkehrs ja bereits durch Kreditgeld, d. h. durch Wechsel oder bei Schiffsladungen durch die Schiffswechsel, die Konnossemente, durch Schecks, oder durch einfache Umbuchung, also durch Giralgeld. Im internationalen Handelsverkehr vor dem Weltkriege kam Gold fast nur als Arbeitsstoff zur Verwendimg, und in Großbritannien bezahlte jeder irgendwie Wohlhabendere fast alles mit Schecks, die er seinem Mietsherrn, Gemüsehändler, Fischhändler, Fleischer, Schneider, Bäcker, Schuster, seinem Arzt, Zahnarzt und Anwalt, den Lehrern seiner Kinder aushändigte. Sogar die Reisenden zahlten oft mit Reiseschecks. Aber das System konnte nicht völlig durchgeführt werden." „Warum nicht?"

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„Aus zwei Gründen. Erstens wegen der Krisen. Im normalen Verlauf wurde jede Ware immer mehr wert, durch je mehr Stufen der Verarbeitung, des Transports und des Handels sie ging. Denn jeder Beteiligte mußte natürlich seine Kosten und seinen Gewinn auf den Einstandspreis aufschlagen. Darum konnte der Schneider immer seinen Tuchhändler, dieser seinen Fabrikanten, dieser den Wollimporteur, und dieser den australischen Schafherdenbesitzer bezahlen. Aber in der Krise stürzten alle Waren tief im Goldpreise, weil jeder Gold haben mußte, und keiner es herausgeben wollte. So mußte es sich ereignen, daß irgendeiner aus der Reihe weniger für seine Ware erhielt, als er seinen Vormännern schuldig war, ζ. B. der Tuchfabrikant dem Wollhändler. Und dann riß der Ring mit einem ,Krach' auseinander, und die Explosion schlug die Produzenten wirtschaftlich tot. Darum mußten die Banken große Goldvorräte halten, um ihre Gläubiger bar auszahlen zu können solange sie es konnten. Und darum hielten sich vorsichtige Leute bares Geld, am liebsten Gold als privaten Schatz, und viele verlangten grundsätzlich Barzahlung. Das war das erste Hindernis für die volle Durchführung des bargeldlosen Verkehrs. Es existiert nicht mehr." „Und das zweite?" „Die Löhne. Der Arbeiter und die meisten kleinen Angestellten mußten ihren Lohn in barem Gelde erhalten. Sie waren nicht scheckfähig, schon, weil sie keine Zeit hatten, regelmäßig zur Bank zu gehen. Und wer hätte ihre Schecks angenommen? Heute ist jeder ohne weiteres Scheck- und kreditfähig. Damit ist die letzte Lücke geschlossen, und das System funktioniert ohne Reibung. Wir tauschen wieder Ware gegen Ware wie in der Urzeit vor der Erfindung des Geldes, aber nach genauestem Maß, Goldmaß, nicht mehr nach dem subjektiven Wertempfinden. Alle, auch die Arbeiter und Angestellten, erhalten ihren Lohn und Gehalt auf ihre Banknummer gutgeschrieben. Alle selbständigen Wirte: Unternehmer, Bauern, Handwerker, Kleinhändler, freie Berufe, senden ihre Habenschecks zur Gutschrift ein, jeder zahlt alles per Sollscheck aus, und fertig ist die Laube. Auch die Steuern werden vierteljährlich von jedem Konto abgebucht und der Steuerkasse des Gaues erkannt, die der Provinz und dem Staat ihre Anteile überweist. Es kann nichts Einfacheres geben: keine Steuereinzieher, keine Restanten, keine eigene Steuerkasse, keine Versicherungsagenten. Dasselbe geschieht nämlich mit der einzigen Zwangsversicherung, die wir haben, auf Todes- und Erlebensfall." „Und alles geht über die öffentlichen Gaubanken? Also Bankmonopol?" „Wieso Monopol? Außer Patenten, Musterschutz, und selbstverständlich Eisenbahn, Post und Telegraph gibt's das bei uns nicht. Natürlich gibt's private Banken, jeder kann sich eine aufmachen, bloß Depositen kriegt keiner mehr. Die Konkurrenz leidet's nicht. Niemandem wird es einfallen, sich Gold von der Gaubank zu holen, um es bei einer Privatbank auf Konto zu legen, und vor allem: kein Bankier würde es nehmen. Der Zins ist zu niedrig, als daß das Depositengeschäft lohnte. Sein Habenzins würde nicht einmal ganz die Bankkosten decken. Die Gaubanken können keine Zinsen zahlen, sie setzen sogar eine Kleinigkeit zu, aber das wird dem Gau belastet, der natürlich auch sein Konto bei der Bank hat. Das kostet ihn nicht viel, weil die Bank doch ein wenig Habenzinsen einnimmt, und weil der ganze Betrieb sehr einfach und daher sehr billig ist. Nichts als einfache Rechnung, natürlich alles mit Rechenmaschinen. Der Gau trägt's leicht, da er die ganze Steuerverwaltung und die Buchführung und Kassenhaltung für alle seine Betriebe gleichfalls durch die Bank vollziehen läßt. Elektrizitätswerk, Wasserwerk, öffentliche Parks und Anlagen, Polizeiverwaltung, Straßen und Gerichtswesen usw., hat jedes sein Konto." „Enorm einfach. Was bleibt dann aber den Privatbanken?" „Noch genug! Sie haben freilich vieles von dem alten Geschäftsbereich der Banken verloren. Der Geldhandel und Geldwechsel, ursprünglich ihre Hauptaufgabe, war ja schon zu deiner Zeit fast fortgefallen. Sie sind auch nicht mehr Geldverwalter, weil die Gaubanken die einzigen Depositenbanken sind. Du hast also ganz das gleiche Verhältnis wie im England deiner Zeit, wo die Depositenbanken völlig von den Emissionsbanken getrennt waren. Fortgefallen ist auch alle Agiotage mit

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dem Gelde, seit es nur noch das Weltgewichtsgeld gibt, und fast gänzlich die mit den Devisen. Wenn sie aber nicht mehr Geldhändler sind, so sind sie immer noch Kredithändler." „Kannst du mir das näher erklären?" „Gern. Sieh', die großen Werke von allgemeinem Nutzen errichten die öffentlichen Körperschaften aus ihren bereiten Mitteln und bei sehr großen Kosten zum Teil aus Anleihen, die selbstverständlich bei den Gaubanken gezeichnet, den Zeichnern belastet und dem Konto der Anleihe gutgeschrieben werden. Aber es gibt Unternehmungen genug, die die öffentlichen Körperschaften ablehnen, weil sie zunächst nur den Beteiligten Nutzen versprechen, oder weil sie ein allzugroßes Risiko einschließen." „Zum Beispiel?" „Nun, Erschließung neuer Bergschätze, oder Errichtung einer Fabrik für noch unerprobte, nicht eingeführte Güter, patentiert oder nicht; oder Bau eines großen Hotels oder Sanatoriums irgendwo im Lande. Es ist das so eine Art von Lotterie, und wir spielen alle gern ein bißchen auf ungefährliche Weise. Glückt es, dann gebührt den Leuten, die das Kapital hergaben, nicht nur eine Risikoprämie, sondern auch ein Pioniergewinn. Scheitert es, so tragen sie den Verlust. Wenn der Unternehmer oder seine Gruppe das nötige Kapital nicht aus eigenen Mitteln aufbringen können, wenden sie sich an einen Bankier, der die Finanzierung übernimmt. Er wirbt aufgrund der Prospekte um Zeichnungen und erhält dafür eine mäßige Kommission, beteiligt sich wohl auch selbst mit etwas Kapital. Die Anteile oder Aktien oder Kuxe kommen zumeist an die Börse und haben je nach Angebot und Nachfrage steigenden oder fallenden Kurs. Nichts grundsätzlich Neues dabei." „Börsen?" „Selbstverständlich. Die Märkte fungibler Waren ..." „Was ist das?" „Das sind Waren, deren einzelne Stücke oder Mengen völlig gleichartig sind, daher gleichen Wert oder Preis haben und sich aus diesem Grunde vertreten können. Daher der Name. Kühe oder Pferde, Tische oder Geldschränke haben sehr verschiedenen Wert, aber zum Beispiel Gold und alle anderen Metalle, alle Arten von Getreide, Textilrohstoffen usw. sind fungibel. Diese Dinge haben ihren Markt auf der Produktenbörse. Aktien aber, Anteile und Anleihescheine von öffentlichen Körperschaften oder privaten Firmen sind gleichfalls in Stücken gleichen Wertes ausgegeben, sind fungibel, und haben ihren Markt auf der Effektenbörse." „Also Aktien-Gesellschaften habt ihr auch! Kann sich daraus nicht neue kapitalistische Übermacht entwickeln?" „Ich wüßte nicht, wie. Auf zwei Dingen beruhte die Gefährlichkeit des Aktienwesens deiner Zeit. Erstens schöpften die Gründer den meisten, und oft allen Rahm von vornherein ab und ließen den Aktionären nur die Magermilch." „Wie geschah das?" „Nun, die eingebrachten Vermögenswerte an Land, Gebäuden, Maschinen, Patenten, Schutzrechten und sogar Ideen usw. wurden so hoch bewertet, wie nur irgend möglich war, und wurden mit Bargeld oder Aktien franko Valuta ausgezahlt. Ferner behielten die Gründer oder die Banken das Kontrollrecht in der Hand, entweder die Aktienmehrheit oder Gründeraktien mit vervielfachtem Stimmrecht, und verfügten derart über das Unternehmen und oft genug ohne Rücksicht auf die kleinen Aktionäre. Das kann alles nicht mehr vorkommen." „Warum nicht?" „Das erste nicht, weil unser Banksystem jede Schiebung und Verschleierung außerordentlich schwierig, ja fast unmöglich macht. Es geht ja jeder Handwechsel von Werten über die Konten der öffentlichen Banken, die miteinander einen einzigen Organismus bilden; jeder Kauf und Verkauf, jede Provision und Kommission muß hier verbucht werden. Die Prüfung der Prospekte durch die Zulassungsstellen der Börsen kann also jeden einzelnen Posten auf das Genaueste kontrollieren und,

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darauf kannst du dich verlassen, es geschieht auch. Die angesehensten und sachverständigsten Männer sitzen darin und sorgen dafür, daß nicht zuviel Wasser in den Wein gegossen wird. Es wird auch so leicht niemand ein solches Manöver wagen: auch der Besitz von Milliarden würde einen Schieber oder Betrüger nicht vor der allgemeinen Achtung und Verachtung bewahren. In ein anderes Land fliehen kann er nicht, um dort unter anderem Namen zu leben: er müßte denn seinen ganzen Reichtum zurücklassen und von vorn anfangen." „Ist denn Ubersiedlungsverbot?" „Natürlich nicht. Aber man kann sein Guthaben doch nur in Gestalt von Reiseschecks oder durch Uberweisung auf die Bank seines neuen Wohnorts mitnehmen. Inkognito gibt's nicht mehr. Ein überführter Schwindler wäre also in der ganzen Welt gebrandmarkt. Aber so etwas kommt bei geistig Gesunden natürlich gar nicht mehr vor. Was soll denn jemand mit einem großen Vermögen anfangen? Verschwendimg und Luxus machen ihn nur lächerlich, Not treibt niemanden mehr auf die abschüssige Bahn, Menschen kann er nicht kaufen, keine Frauen, keine Journalisten; nicht einmal einen Kammerdiener findet er, weil der freie Mann sich nicht zum persönlichen Dienstboten hergibt, außer natürlich als Krankenpfleger. Wozu also überreich sein wollen?" „Gut! Aber Macht ist verführerisch. Wer eine große Kapitalgesellschaft beherrscht, hat Macht und kann aus den Dividenden immer mehr Macht erwerben. Wie steht es damit?" „Das war der zweite Gefahrenpunkt eures Aktienwesens; auch er ist verschwunden. Es gibt keine Großaktionäre mehr. Auf die Prospekte hin zeichnen sehr viele sehr kleine Summen, meistens nur eine Aktie, und fast nur, um eine hoffnungsvolle Sache zu fördern. So war es im Staate der Mormonen; sie wußten nichts von Genossenschaften und gründeten ihren gewaltigen Konsumverein und alle möglichen anderen Unternehmungen der Form nach als Aktiengesellschaften. Der Sache nach waren es aber dennoch Genossenschaften, so gleichmäßig waren die Aktien verteilt. Auch in Utah hatte jedermann Zutritt zu freiem Boden, gab es keine Bodensperre, kein Monopol und daher wirklich freie und gleiche Konkurrenz. Und darin ist es bei uns genauso. Niemand ist reich und töricht genug, um ganze ,Pakete' zu erwerben. Würde einmal so etwas herauskommen mir ist kein Fall bekannt - dann würde die öffentliche Meinung sofort Ordnung schaffen. Die ganze Presse, die von kapitalistischen Interessen völlig unabhängig ist, würde Lärm schlagen, und der Boykott der Firma wäre sofort in aller Kraft da. Gegen nichts sind wir so empfindlich, wie gegen den Versuch, neue Monopole zu schaffen. Es sollte mal eine Firma versuchen, Wucherpreise zu fordern: binnen einer Woche wäre das Kapital für eine Konkurrenz gezeichnet, vor der sie sofort kapitulieren müßte. Das weiß jeder, und darum wird es gar nicht erst versucht." „Leuchtet mir ein. Nun möchte ich etwas über die Börsen hören." „Von den Produktenbörsen ist kaum etwas zu sagen. Angebot und Nachfrage regulieren den Preis. Wilde Preisschwankungen kommen nicht mehr vor. Die Staatenpolitik als Störungsursache ist fortgefallen. Zu Corners hat niemand Geld und Frechheit genug; der Bedarf ist gleichmäßig, weil es keine Krisen mehr gibt, und selbst auf dem Markt des Getreides kommen große Preisschwankungen nicht mehr vor, weil eine allgemeine Mißernte oder Überernte der ganzen Erde kaum möglich erscheint. Wir schneiden jetzt fast allmonatlich Getreide und ernten Baumwolle. Der liebe Gott hat es weise eingerichtet, daß in Argentinien und Südafrika zu Weihnachten Sommer ist. Dennoch gibt es natürlich einen Terminhandel mit den beiden Stoffen und vor allem mit Metallen, wo ja plötzlich sehr reiche Funde vorkommen. Der verarbeitende Produzent will mit festen Preisen kalkulieren können und deckt sich auf Termin ein, wie er auch auf Termin verkauft. Eine Art von Versicherung." „Und wie gestaltet sich das Getriebe auf den Effektenbörsen?" „Wieder: Angebot und Nachfrage. Von der einen Seite sprachen wir schon. Die öffentlichen Körperschaften von den Gemeinden aufwärts bis zum Weltbund bieten Anleihen an, private Firmen, einzelne und Genossenschaften, bieten Obligationen oder Anteile, Aktien, Kuxe. Auch Hy-

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potheken werden angeboten und Lizenzen aus Schutzrechten und Patenten." „Hypotheken auch? Land hat doch keinen Wert!" „Nun, erstens gibt es auch Hypotheken auf Gebäude und Schiffe. Aber es ist auch übertrieben zu sagen, daß Land keinen Wert hat. Das gilt nur für gewöhnliches Acker- und Gartenland, weil davon viel mehr vorhanden ist, als gebraucht wird. Aber es gibt auch Land von besonderer Fruchtbarkeit oder noch höherer Gunst, ζ. B. Weinberge berühmter Kreszenz, und solcher Boden hat Wert und Preis. Dasselbe gilt für Bauland; in gewöhnlicher Lage kostet der Erwerb so gut wie nichts, zumal dafür die geringsten Böden die besten sind; die Entfernung spielt ja keine Rolle mehr, seit jeder sein Auto, und viele ihr Flugzeug haben. Aber Grundstücke am oder im Walde, oder mit schöner Aussicht, und namentlich am Wasser sind relativ selten, und seltene Dinge haben eben Wert." „Aha: Also doch eine Ursache für Unterschiede des Einkommens!" „Freilich! Aber sie sind winzig und fallen durchaus nicht ins Gewicht. Die guten Acker und Weinberge sind immer wieder zwischen den Erben geteilt worden, und jetzt sind die Einzelstücke im Verhältnis so viel kleiner als die normalen, daß der Vorteil verschwindend klein ist, wenigstens im Verhältnis zu dem sonstigen Einkommen, kleiner jedenfalls, als der Vorteil, den ein besonders begabter und fleißiger Wirt vor seinen Mitwerbern voraus hat. Wenn nun ein solches Grundstück, das zu klein ist, um noch einmal geteilt zu werden, von einem Erben übernommen wird, so muß er natürlich den weichenden Erben ihren Teil an diesem Bodenwert ebenso auszahlen, wie am Wert der Gebäude, der fest mit dem Boden verbundenen Anlagen, der sogenannten Meliorationen, und des Inventars und Mobiliats. Wenn das Barvermögen nicht auslangt, trägt er eine Tilgungshypothek für die Miterben ein. Er kann aber auch einen Geldgeber suchen, um sie bar auszuzahlen, und solche Hypotheken kommen zuweilen an die Börse. Dasselbe gilt für Hypotheken auf Häuser. Ein sehr wichtiger Teilmarkt ist noch der der Kundenwechsel, die in der Regel von den Banken in den Verkehr gebracht werden." „Und das Gegenangebot, die Nachfrage?" „Ist natürlich - was sollte es sonst sein? - die gesellschaftliche Ersparnis. So gering der Zins auch ist: wer ein größeres Guthaben hat, legt es gern an, zumal fast alle Anlagen ,goldgerändert', völlig sicher sind. Das Hauptangebot von dieser Seite her kommt freilich nicht von den Privaten, sondern von der kollektiven Ersparnis, der Versicherung. Ich sprach dir schon von der Zwangsversicherung für Todes- und Erlebensfall. Die ist bei uns seit etwa fünfzehn Jahren eingeführt, Henricy's Verdienst. Jedes neugeborene Kind wird sofort zu Lasten der Eltern auf eine runde Summe versichert, die mit dem vollendeten achtzehnten Jahre für Zwecke der Ausbildung oder Aussteuer fällig wird. Sie beträgt heute tausend Gramm. Und jeder Erwachsene wird von da an zu seinen eigenen Lasten auf Tod und Erleben versichert, auszahlbar bei seinem Tode an seine Erben, bei Erleben mit fünfundfünfzig Jahren an ihn selbst. Die Police lautet heute über fünftausend Gramm. Die Prämie kann jeder leicht entbehren; sie wird ihm regelmäßig zur Last geschrieben. Diese Versicherung braucht keine Direktion, keine Beamten, keine Propaganda mit Agenten, keine Kasse, keine ärztlichen Honorare, und kommt daher trotz des niederen Zinsfußes mit sehr geringen Kosten aus. Die Zwangssparkasse ist der vornehmlichste Geldgeber auf dem Kapitalmarkt. Es gibt aber daneben alle Arten privater Versicherungsgesellschaften auf Aktien und auf Gegenseitigkeit." „Wofür?" „Für alles, sogar für Tod und Erleben. Leute mit hohem Einkommen und zahlreicher Familie nehmen oft noch eine private Zuschlagsversicherung auf; dann für Feuer: die Häuser sind von verschiedenem Wert, und das Mobiliar erst recht. Denke an deines Verwandten kostbare Musikinstrumente. Ferner gibt es eine Krankheitsversicherung, natürlich bei völlig freier Arztwahl, Unfallversicherung: heute ebensogut wie früher versichern Musiker ihre Finger, und Sänger ihren Kehlkopf. Dann gibt es Versicherung für Hagelschaden (einige Provinzen haben dafür Zwangsversicherung), für Transporte zu Land, zu Wasser und im Luftverkehr usw., nur für Diebstahl ist die Asse-

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kuranz wohl überall ausgestorben - das Risiko ist allzu klein. Alle diese Unternehmungen üben eine Nachfrage nach Anlagen aus, - und das Angebot ist im Verhältnis klein, also der Zins bzw. die Dividende sehr gering, und entsprechend gering die Kursdifferenzen. Da lies den letzten Kursbericht aus Frankfurt: hoch über pari stehen nur einige Bergwerke und Petroleumgesellschaften, Anleihen fast alle dicht bei pari, ebenso die Industriepapiere mit wenigen Ausnahmen. Hier die eine, die Ifag, die Ikarus Flugzeug-Aktiengesellschaft, hält den Rekord mit 220. Sie besitzt ein Patent für ein wirklich vollkommen betriebs- und unfallsicheres Fluggerät. Es läuft noch achtzehn Jahre, dann werden auch diese Aktien in die Reihe tanzen." „Wunderbar! Zins, Kapitalmarkt, Börsen, Terminhandel, Hypotheken, alles beim alten, und doch kein Kapitalismus, und doch Gleichheit!" „Ja, mein Freund. Was für euren kranken Körper Gift war, ist für unseren gesunden Körper Nahrung. Und nun, was wirst du tun? Wirst du in deine Zeit zurückreisen?" „Den Teufel werde ich! Ich bleibe und suche mir Arbeit." „Du könntest dich glänzend mit Vorträgen über deine Zeit und deine Maschine ernähren." „Weiß schon. Habe bereits Dutzende von Angeboten. Aber allerschönsten Dank. Ich will was Ehrliches schaffen. Eine Stellung finde ich schon." „Wirst von unten anfangen müssen. Gerade in deinem Fach hat man große Fortschritte gemacht." „Um so besser! Einen Mann, der feilen und zeichnen kann, wird man schon brauchen." „Keine Sorge. Warte mal." Er hob den Telefonhörer ab und rief Zahlen hinein. Ein junges Frauengesicht erschien im Spiegel. „Ist der Direktor zu sprechen?" „Ich stelle um." Ein Männergesicht und eine tiefe Stimme. „Wilke? Was steht zu Diensten?" „Morgen, Döring. Der Mann aus der vierten Dimension sucht Arbeit." „Der ist doch Ingenieur? Kann in der Maschinenschlosserei anfangen. Soll sich morgen Mittag zwölf Uhr bei Meister Kasulke, Saal XV melden. Noch was? Danke, Schluß!" „Das war Direktor Döring von der Ifag. Ich dachte mir, das würde dich am meisten interessieren. Es ist der letzte Schrei der Technik." „Herzlichen Dank! Morgen trete ich an."

X. Kapitel Die Schaffenden Die Arbeiter der Frühschicht auf Saal XV der „Ifag" reckten die Hälse und flüsterten, als Bachmüller eintrat. Sie hatten ihn sogleich erkannt. Ein breitschultriger Mann trat ihm mit ausgestreckter Hand entgegen: „Freut uns alle, Kamerad, Glück und Segen zum guten Anfang. Der Direktor hat mich benachrichtigt. Mein Name ist Kasulke." „Grüß Gott! Kannst du mich unterbringen?" „Welche Frage! Hundert, wenn ich sie nur kriegen könnte. Wir zahlen schon drei Gulden die Stunde. Aber Arbeit ist knapp. Wir werden noch höher gehen müssen. Wir könnten in vier Schichten arbeiten. Alle Hände voll dringender Aufträge, und kein Arbeitsangebot. Wir müßten erweitern. Aber dafür sind erst recht keine Arbeiter zu finden. Ja, Arbeit ist eine merkwürdige Ware. Wenn ihr Preis steigt, der Lohn, wird das Angebot immer kleiner, und immer größer, wenn er sinkt."

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„Aber das ist doch ganz unmöglich." „Es ist aber ein Faktum. Wo der Lohn niedrig steht, müssen schon die Kinder und viele Frauen an die Arbeit, und die Männer schuften, bis sie nicht mehr weiterkönnen; und die Arbeitszeit ist zehn Stunden und oft noch viel mehr. Bei uns aber fangen die jungen Leute erst mit achtzehn an, hören mit fünfzig, fünfundfünfzig auf, und arbeiten nur fünf Stunden, und Frauen findest du in Fabriken kaum je, außer in den Büros. Und jetzt gerade ist für uns die schlimmste Zeit: die Ernte hat eingesetzt; da sind so gut wie alle Grundbesitzer draußen, die in der stillen Zeit mal mit Hand anlegen, um sich ein Extrageldchen zu verdienen. Es ist ein Kreuz." Aber seine Augen lachten. „Angebot und Nachfrage", sagte Bachmüller. „Ja, wat den eenen sin Uhl, is den andern sine Nachtigall, sagt man bei uns zu Hause in Westpreußen. Als Arbeiter bin ich froh, als Meister habe ich meine Sorgen. Vielleicht machen wir mal ein oder zwei Monate lang Uberstunden, Sechsstundenschicht statt Fünfstundenschicht. Die Direktion will sehr gern, will auch anständig blechen, bietet 50% Aufschlag für die Uberstunden, aber die Kameraden haben keine große Lust. Und zwingen kann sie niemand. Bin neugierig, was das gemischte Komitee morgen beschließt. Die Genossenschaften haben es bequemer. Da geht so was glatt. Aber wir sind noch Privatbetrieb." „Noch? Was heißt das?" „Na, wird nicht mehr lange dauern, bis wir die Mehrheit der Aktien haben, und dann wandeln wir um." „Ist das kein Unrecht gegen die Aktionäre?" „Wie denn? Weißt du, wie hoch unser Kurs steht? Ja? Na, damit sind ihre Chancen reichlich abgefunden. Der Kurs wäre nicht so hoch, wenn die Belegschaft nicht alle Aktien kaufte, die sie kriegen kann. Wir wollen endlich Herren im eigenen Hause sein. Lieber ein bißchen weniger verdienen. Die Direktion ist ganz auf unserer Seite, und den Aktionären wird's recht sein. Sie kriegen mehr als das Doppelte ihrer Einlage zurück und hatten jahrelang hübsche Dividenden. Also, wo stelle ich dich hin? Kannst du feilen, kannst du drehen, kannst du am Support arbeiten?" „Ich hatte drei Jahre Praxis." „Na, da kommst du zur Montage. Den Bogen wirst du im Augenblick heraushaben. Gehört nur ein bißchen mehr Grips dazu, als die meisten haben. Morgen früh sieben Uhr, komm ein wenig früher, damit ich dich den Kameraden vorstellen kann. Das hier ist die Nachmittagsschicht. Holla, Schmidkunz." Der Gruppenführer sah von der Arbeit auf. „Das ist ein Neuer, Hans Bachmüller, für die Frühschicht. Zeige ihm doch mal, was Nummer Fünf zu tun hat. Und dann sorge für seine Ausrüstung! Grüß Gott, ich gehe zu meinen Rosen." Er trabte ab. Schmidkunz sah ihm lächelnd nach. „Ein goldener Kerl. Ist ganz verrückt mit seinen Rosen. Ist so ne Art von Oberpriester in der Sekte. Komm her und sieh zu. Wedell, das ist Nummer Fünf der Frühschicht, Kamerad Bachmüller." „Kenn ick", schmunzelte der Berliner. „Fridl hat uns vorgestellt, gestern in Professors Garten. Wir sind im gleichen Semester." „Richtig, du bist der lustige Junge vom Polizeidirektor." „In Lebensjröße! Also sieh her. Worauf es ankommt, ist, daß diese Fläche hier absolut genau im rechten Winkel zum Gestell liegt. Ab-so-lut genau! Hier sind die Mikrometerschrauben", und er versank tief in die dunkelsten Geheimnisse der Technik, während seine flinken Hände arbeiteten, und seine Augen bald an diesem, bald an jenem Mikroskop hafteten. Die fünf Stunden verrannen wie im Fluge. Bachmüller war begeistert von der genialen Konstruktion, die er schnell begriffen hatte. Wieder einmal war die einfachste Lösung die beste gewesen. Freilich gehörte dazu eine Präzisionsmechanik, die vor einem Jahrhundert kaum im ersten Keime in den reichsten Laboratorien existiert hatte: jetzt war sie Teil eines gewaltigen Fabrikationsprozesses. Die letzte Stunde ließ Wedell ihn allein arbeiten und beobachtete nur. Dann schlug er ihm auf

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die Schulter: „Det machste ja sauber. Du wirst det Kind schon schaukeln. Frühschicht kann sich gratulieren. Na, lange bleibste da nich. Det kann ick dir flüstern. Du bist'n Springer, paß uff, bald sitzte in de Direktion." „Erst muß ich durch den ganzen Betrieb durch. Das ist ja ungeheuer interessant." Die Glocke ertönte. „Schluß", sagte der Vorarbeiter, und stellte die Kraftleitung ab. „Jetzt schnell mal zum Magazin und Lohnbüro. Mußt deine Banknummer angeben für die Uberweisung. Und im Magazin mußt du dir Arbeitszeug vermessen lassen. Das stellt natürlich die Firma." Die Anmeldung im Lohnbüro war in einer Minute erledigt. Einen Vorschuß konnte Bachmüller ablehnen. Dann ging's zum Magazinverwalter. Ein passender Overall aus starkem, blauem Drell war bald gefunden, ebenso eine Mütze. „Nun noch die Handschuhe." „Handschuhe?" „Ja, Handschuhe. Wir mögen keine schwarzen Nägel und rissige Hände. Bei schmutziger Arbeit trägt man Handschuhe." Der Magazinverwalter stellte einen Kasten voller Arbeitshandschuhe auf den Tisch, gefertigt in allerfeinstem Maschenwerk aus einem zähen Metalldraht. Kundigen Auges wählte er ein Paar aus, das Bachmüller überstreifte. Sie fühlten sich an, als wären sie aus dem zartesten Schwedenleder. Er holte die Uhr hervor und zog sie auf: das Getast war völlig ungestört. „Damit kannste die feinste Arbeet machen", sagte Wedeil, „und die gröbste auch. Is völlig staubdicht und läßt doch Luft durch. Rostfrei und janz leicht zu reinigen. Legst se in Benzin und bürstest drüber, fertig. Det halte ick vor eenen der jrößten Fortschritte der Menschheit." Am nächsten Morgen war Nummer Fünf der Montagegruppe im Saal XV an der Arbeit. Auf einmütigen Wunsch der Familie hatte Bachmüller eingewilligt, wenigstens vorläufig ihr Gast zu bleiben. Die Kinder vergötterten ihn, namentlich Paulchen, der in ihm einen Helden verehrte. Er hatte sich ein Auto angeschafft, für achthundert Gramm auf Ratenzahlung. Da er täglich mit Uberstunden - sie waren für zwei Monate bewilligt worden - 19,5 Gramm, also monatlich 486,5 Gramm verdiente, konnte er den Wagen bequem in drei bis vier Raten abzahlen. Als er etwa vier Wochen später mittags heimkam, traf er im Garten den Professor, der seine Blumenbeete inspizierte. „Mann, du humpelst ja." „Ja, Vetter, es scheint, ich kann das lange Stehen nicht vertragen. Die alte Wunde spukt wieder. Ach, du weißt nicht, ich habe 1918 einen Schuß in den Mittelfuß abgekriegt. Als die Splitter endlich raus waren, ist er ja soweit ganz gut geheilt, aber offenbar ist doch eine Schwäche zurückgeblieben." „Wir fahren nachmittag nach Tübingen zu unserem Orthopäden, Professor Neumann." Der berühmte Chirurg betrachtete das Röntgenbild. „Nichts Aufregendes", sagte er. „Ein kleiner Senkfuß. Das bringt Meister Ludwig Krahl schon in Ordnung, Obstmarkt 18. Stell dich mit dem Stiefel mal wieder vor. Die Schuldigkeit? Bitte im Sekretariat. Auf Wiedersehen." Bachmüller übergab der Sekretärin einen Scheck über zehn Gramm und fuhr bei Meister Krahl vor. Der kleine Mann mit dem Löwenkopf empfing ihn in seiner Werkstatt. Die Wände waren bedeckt mit Abgüssen von Klump- und Spitzfüßen und anatomischen Bildern; unter Glas standen eine Anzahl von Fußskeletten. „Eine Kriegsverletzung? Das ist wohl das einzige aus meinem Fach, was ich noch nicht gesehen habe. Zeig her. Auch das Röntgenbild, wenn ich bitten darf." Er studierte die Photographie genau und betastete dann den kranken Fuß von allen Seiten mit gelenkigen Fingern, die wie Fühlhörner arbeiteten. Dann sagte er: „Eine ziemlich einfache Einlage wird es machen. Der Fuß muß unter dem dritten Mittelknochen gestützt werden." Er nahm Maß und Abdruck.

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„In drei Tagen ist der Stiefel fertig. War mir ein Vergnügen, auf Wiedersehen." „Auf Wiedersehen, Herr Kollege", sagte der Professor lachend. „Nein, nein, es ist mir ernst. Er ist ein ebenso guter Arzt wie Schuhmacher, Hans. Und den Ehrendoktor hat er wirklich verdient, sagt Neumann." Als sie wieder im Auto saßen, sagte der Professor: „Der Mann ist eine Weltberühmtheit. Seine Studien über die Mechanik des Gehens sind grundlegend. Er hat ein Einkommen wie ein großer Maler. Er soll achtzig Gesellen sitzen haben; die Fußleidenden aller Erdteile pilgern zu ihm wie zu einem Heiligenschrein. Einer von den Hochbegabten, nur ein Schuster, aber ein feiner Kulturmensch. Er hat für seine Heimatgemeinde Groß-Sachsen eine gotische Kapelle gebaut, fabelhaft, in Werkstein, mit vergoldetem Kupfer gedeckt. Sein Sohn, der ein tüchtiger Bildhauer ist, hat alles entworfen, auch das prachtvolle Fenster. Jetzt arbeiten sechs der besten Bildschnitzer Deutschlands schon jahrelang an dem eichenen Kirchengestühl. Es wird schöner als Erfurt oder Maulbronn, kostet Unsummen. Aber ihn freut es und seinen Jungen auch. Sie setzen sich beide ein Denkmal. Im Vertrauen: ich glaube beinahe, der Johannes Krahl hat ein Auge auf meine Marianne. Mir soll's sehr recht sein. Bestes schwäbisches Bürgerblut." „Meinen Glückwunsch! Der Bengel hat Chance. Sage mal, Vetter, meine Uhr zeigt Mucken. Muß wohl mal gereinigt werden. Wo ist hier ein guter Uhrmacher?" „Um die Ecke", sagte der Professor, und bog rechts in eine Seitenstraße. Vor einem bescheidenen Laden hielt er an. Ein schmaler, dunkelhaariger Vierziger begrüßte sie, kluge, humorvolle Augen über der Hakennase, ein dünner Schnurrbart über dem schmallippigen Munde. „Tag, Meister Bergmann. Mein Vetter Bachmüller bringt eine Patientin." „Sehr erfreut, Bachmüller, wo fehlt's?" Er klemmte die Lupe ins Auge. „Verschmutzt. Selbstverständlich. Seit hundertzwei Jahren nicht gereinigt. Das verträgt das beste Werk nicht. In drei Tagen kann sie abgeholt werden. Hier eine alte silberne als Vertreterin. Auf Wiedersehen." „Das ist auch ein Hochbegabter", sagte der Professor, als sie weiterfuhren. Er baut die herrlichsten Turmuhren mit Musik, sich bewegenden Figuren und allem was sonst noch dazugehört. Das zeichnet, schnitzt und baut er alles selbst mit einem oder zwei Gehilfen. Seide spinnt er nicht dabei, aber lebt vergnügt und gibt seinem Affen Zucker, soviel er nur mag - wie wir alle. Ein glücklicher Kerl! Aber er läßt sich grundsätzlich für diese Kunstwerke nur das Material bezahlen. Er sagt: „Solche Sachen kann man nicht für Geld machen. Friedrich Bergmann errichtet sich ein Denkmal." Und dann lacht er wie ein Spitzbube. Er ist ein guter Freund unseres Hauses. Die Kinder vergöttern ihn; er hat ihnen die niedlichsten Spielzeuge gemacht, reizende kleine Automaten." „Zwei feine Typen. Gibt es viele von der Sorte?" „Sind natürlich selten von dieser Begabung, aber viel häufiger, als eure Zeit ahnte. Wieviel angeborenes Genie habt ihr zugrunde gehen lassen! Wie selten kam einmal einer aus der großen kerngesunden Unterschicht empor, und was kostete ihn der Aufstieg an ursprünglicher Kraft! Goethe wäre wahrscheinlich nicht Goethe geworden, wenn er nicht als Enkel des Bürgermeisters der Kronprinz von Frankfurt und der sorglose Sohn eines reichen Mannes gewesen wäre." „Wahrhaftig", sagte Hans, „und von den wenigen, die sich unverbogen durchsetzten, wurden die meisten dann noch durch den Erfolg verdorben, wenn erst die Snobs und die steuerlosen Weiber sich ihrer bemächtigten. Da wurden Leib und Seele ruiniert, und der Größenwahn im Treibhause gezüchtet. Da mußte die Muse, die sich nicht mehr freiwillig geben wollte, geradezu genotzüchtigt werden, und ihre späteren Kinder waren denn auch danach. Es war ein Jammer. Ich denke an ein paar Jugendfreunde; die meisten mußten herunter ins Philistertum: Frau und Kinder brauchten Brot, und in der Enge der Mietskaserne verkümmerte ihr Genie. Ein paar haben's geschafft - und wurden Händler mit ihrer Kirnst. Mußten durchaus leben wie die Reichen, mit denen sie verkehrten, mußten jedes Jahr ein neues Buch oder Werk produzieren', und gingen zum Teufel. Kennst du

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Eichendorffs Gedicht von den beiden munteren Gesellen? ,Herr Gott, führ uns liebreich zu dir!' Ein einziger hielt trotzig durch, lebte in einer Bauernkate und malte, malte. Nach seinem Tode - er starb an der Schwindsucht - schlugen sich die Kunsthändler um seine Bilder." „Ja, das war der Kapitalismus, die dreckigste Zeit aller Weltgeschichte, die heldenloseste. Kein Zug von Größe darin, nicht einmal ein Cesare Borgia, nicht einmal ein Scheusal von Format, nur Mammonsdienst, und natürlich Verfall aller Kultur und aller Volkskraft. Denn nur aus dem tiefen Mutterboden der gesunden Volkheit wächst echte Kultur. Die Athener zur Zeit des Perikles nach den großen Bodenreformen durch Solon und Kleisthenes, die waren ein, zwei Generationen hindurch gesund und brachten Phidias, Praxiteles, Aschylos und Sophokles hervor. Und ebenso war es in der Renaissance, in Italien von Giotto bis Michelangelo, dann kam der Verfall mit dem des Bauerntums. Und in Deutschland wuchsen Holbein, Dürer, Peter Vischer, Veit Stoß, auch auf dem damals noch nicht zerstörten Bauerntum, über dem das tüchtigste Bürgertum stand. Bei dem Riesen Grunewald spürst du schon den beginnenden Verfall der Bauernschaft, dem der der Städte sofort folgen mußte. Er ist ja auch in dem großen Bauernkriege verschollen, wahrscheinlich einer der Tausende, die die Fürsten und der Adel niedermetzeln ließen." „Sieh, ich konnte das nicht mehr aushalten. Darum bin ich zum Einsiedler geworden." „Ja, sie hatten alles besudelt und vergiftet, hatten den Bauern zum stumpfen Knecht entwürdigt und nannten ihre tote Zivilisation Kultur. Ach, wie klug schwätzten sie von der alten Kunst und sammelten Gemälde, Skulpturen, Schnitzereien bis herab zur Negerkunst. Dafür hatten sie Geld, aber die Lebenden ließen sie verhungern. Ich las einmal die Selbstbiographie eines bedeutenden Kunstgelehrten eurer Zeit, der sich als junger Mensch damit ernährte, daß er für Cooks Reisebüro als Fremdenführer durch die Museen frondete. Eines schönen Tages stand er mit einer Gruppe von reichen Amerikanern vor dem wunderbaren Bilde von Velasquez im Prado-Museum, ,Vulkans Schmiede'. ,Ist das nicht großartig?' fragte er hingerissen. Und ein Schlachthausprinz aus Chicago antwortete. ,Das nennen Sie großartig? Mein Vater schlachtet täglich zwanzigtausend Schweine. Das nenne ich großartig'." Sie fuhren eine Zeitlang schweigend dahin, in tiefes Nachdenken versunken. Dann lachte der Professor: „Du, zur Kultur gehört schließlich auch, daß man sich die Haare schneiden läßt. Mir scheint, du hast's so nötig wie ich." Das Auto hielt vor einem schmucken Laden, vor dem die drei Messingbecken blinkten. „Haarschneiden, Meister Finck, und Bart stutzen!" „Grüß Gott, Professor! Wilhelm, ein Kunde." Aus dem Hinterzimmer erschien ein junger Mensch von etwa fünfundzwanzig Jahren. Er lachte den Professor an, der ihm die Hand reichte. „Siehst du mir nichts an, Professor? Ich bin nicht mehr Gehilfe, ich bin jetzt Chef." „Meinen Glückwunsch!" „Ja", sagte Meister Finck, während die beiden Chefs eifrig an dem Nackenhaar der Kunden herumschnitten, „was soll man anders machen? Ausgelernt hat der Lausbub, er versteht das Geschäft wie ich. Das Geld hat er auch, um sich selbständig zu machen, und weiß, daß für zwei reichlich zu tun ist. Sollte ich mir einen Konkurrenten auf die Nase setzen? Dann hätten wir beide den ganzen Tag im Laden sein müssen, und keiner hätte mehr verdient. Und so war's gescheiter, ihn als Sozius hereinzunehmen. Jetzt haben wir beide reichlich Zeit; nur morgens und abends müssen beide im Laden sein. Er hat mir die Hälfte des Inventarwerts bar ausgezahlt, und von jetzt an teilen wir uns in die Arbeit und den Verdienst. Mein Klärchen kriegt er gratis in den Kauf, der schlechte Kerl, der Haderlump." „Gratuliere, Finck, alles Glück, Wilhelm! Wann soll Hochzeit sein?" „In drei Wochen, wir hängen schon", sagte der Bräutigam strahlend. „Klärchen bleibt im Geschäft, solange es geht, Damenfrisur und Maniküre", fügte er für Hans Bachmüller erklärend hinzu.

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„So? Und wer kriegt den Verdienst dafür?" „Ist alles richtig geordnet. Sie kriegt ihren Lohn, der Ertrag geht an die Firma." „Wo hattest du denn das Geld her?" „Von der Ausstattungsversicherung und aus meinem Spargeld. Mein alter Herr hat ein bissei dazugegeben. Er kann sich's leisten." „Ist die Kläre da? Dann soll sie sich sehen lassen." Das rotwangige dralle Schwabenmädel knickste errötend, als der Professor sie am Ohrzipfel nahm. „So? Also man will heiraten, Mamsell Ubermut? Wissen's denn meine Mädels schon?" „Ist ja erst heute morgen passiert," sagte der Blondkopf verlegen und schob an dem funkelnagelneuen Trauring herum. „Na, das gibt zu Hause eine Überraschung. Wißt ihr, ihr kommt heute abend allesamt zu uns, deine Frau natürlich auch, Meister Finck. Ich spendiere eine Verlobungsbowle. Abgemacht? Bis dahin Stillschweigen." „Siehst du", sagte der Professor, als sie weiterfuhren, „das sind nun keine Hochbegabten. Nichts als normale Handwerker. Wilhelms Vater ist Hauptbuchhalter an der Gaubank, sein Bruder ein außergewöhnlich tüchtiger Zahnarzt, aber er ist zufrieden, ein trefflicher Barbier zu sein. Er hat die Welt gesehen, hat in vielen Städten draußen gearbeitet und kann sich mit seinen Kunden in mehreren Sprachen verständigen. Es geht ihm gut." „Großartig, daß eine Familie wie deine so auf gleichem Fuß mit einfachen Handwerkern verkehrt." „Was ist daran großartig? Selbstverständlich ist es. Die Kläre war mit meiner Marianne in einer Klasse und viel bei uns, der Wildfang. Kein Baum war ihr zu hoch. Sie hat von mir und meiner Frau so manchen Klaps abgekriegt. Das hat aber der Liebe nicht geschadet, und du wirst ja sehen, wie sie sich benehmen. Tadellose Manieren. Die beiden Mütter sind aus guten Familien. Erinnere mich doch, daß ich Wilhelms Eltern noch bitte." „Kommt das oft vor, daß ein Gehilfe Sozius seines Meisters wird?" „Sehr oft! Meister Finck hat dir's doch erklärt, daß es für beide Teile vorteilhaft ist. Geringere Anlagekosten, ein Geschäft statt zweier oder mehrerer, mehr freie Zeit und oft genug mehr Verdienst, nämlich überall da, wo sich die Arbeit technisch teilen läßt. Das ist ja beim Friseur kaum der Fall, aber bei den meisten anderen Handwerken. Und so werden die wirklich ausgelernten Gehilfen fast immer nach jahrelanger Wanderzeit, obgleich die nicht vorgeschrieben ist, entweder selbst Meister oder, und das ist viel häufiger der Fall, Geschäftsteilhaber ihrer Meister. Das war übrigens im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert in Deutschland auch der Fall, denn auch damals liefen zwei Meister einem Arbeiter nach und überboten sich statt umgekehrt." „Wie kam das?" „Aus demselben Grunde wie bei uns. Kein Bodenmonopol. Der ganze Osten riß sich um den deutschen Bauern und Handwerker, nicht nur das ostelbische Deutschland, auch Polen, Böhmen, Ungarn. Bis in die Zips und nach Rotrußland war damals der deutsche Pflug vorgedrungen, bis der Adel das fast noch leere Land sperrte. Dann war's aus. Damit begann der Kapitalismus und zwar auf den großen Rittergütern im Osten. Die Industrie hinkte nur sehr langsam nach." Die Gesellschaft am Abend verlief in Fröhlichkeit. Die beiden Bachmüller-Mädchen hatten ihre Freundin in eine Laube verschleppt, in die einzudringen Wilhelm unter hellem Gelächter und zuletzt mit grober Brachialgewalt verwehrt wurde; dabei spielte Paulchen eine Hauptrolle, bis die lustige Prügelei zu einem regelrechten Dschiu-Dschitsu-Kampf wurde, bei dem der Große nicht immer die Oberhand hatte. Bachmüller saß mit der behäbigen Frau Finck plaudernd auf der Veranda. „Wie fröhlich ihr alle seid! Man sieht fast nur vergnügte Gesichter. Die jungen Menschen pfeifen und singen auf der Straße, wie zu meiner Zeit nur die Italiener, manchmal machen sie auch einen

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Hopser. Wenn ich an uns denke, sogar beim Tanzen sahen die Partner aus, als hätten sie einen Prozeß miteinander." Die mütterliche Frau legte ihm sacht die Hand auf die Schulter: „Arme Menschen! Ja, wir sind froh, wenn uns nicht besonderes Leid trifft. Und auch das tragen die meisten tapfer. Ich habe vieles aus eurer Zeit gelesen, und ich glaube, ich verstehe sie. Der furchtbare .Raskolnikow' Dostojewskis, Tolstois ,Anna Karenina', Gerhart Hauptmanns ,Weber' und ,Hanneies Himmelfahrt', Baudelaires .Fleurs du Mal', Upton Sinclairs unerbittliche Anklageschriften. Es muß die Hölle gewesen sein." „Es war die Hölle." „Ich denke, die grauenhafte Unsicherheit war das Schlimmste, Unsicherheit in jeder Beziehung, politisch, wirtschaftlich, sittlich. Jeden Augenblick drohte ein neuer, noch furchtbarerer Krieg. Inzwischen führten die Staaten ihre Handels- und Geldkriege. Kein Besitzender war seiner Existenz einen Augenblick sicher. Und über den Unterklassen hing das Gespenst der Arbeitslosigkeit. Die droben erstarrten im Grauen vor dem Sturz in die stinkende Kloake unter ihnen, und nicht weniger vor der täglich möglichen Empörung ihrer Arbeitssklaven." „Es kamen noch andere Gespenster aus der Tiefe; Ende des neunzehnten Jahrhunderts starb ein königlicher Prinz Englands am Scharlach. Der Hofschneider hatte eine Weste in einer Schwitzhölle nähen lassen, wo die Kinder am Scharlach darniederlagen. Und die Tiefe rächte sich mit Geschlechtskrankheiten, die die oben weithin vergifteten. Die Prostitution war grauenhaft." „Ja, ich weiß. Ich habe Alexander von Ottingen, Lombroso, Liszt und viele andere gelesen. Aber aus dem allem erwuchs das Schlimmste, was es geben kann: die seelische Unsicherheit. Eure Welt war ein Schiff ohne Kompaß und Ziel, ihr triebt vor den Wellen. Ihr glaubtet an nichts mehr. Gewalt war Recht, Wahrheit stand unter Zensur und wurde erstickt, wo sie gegen die herrschende Ordnung verstieß. Wo aber kommt der Mensch hin, wenn er nicht mehr weiß, was Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum ist? Wenn er die ewigen Sterne nicht mehr erblicken kann, nach denen er zu steuern hat? Das war die ärgste Not deiner Zeit, denn daraus folgte ihr böses Gewissen. Jeder nicht ganz verdorbene oder verrückte Mensch mußte doch fühlen, daß diese Gesellschaft im tiefsten Kerne krank und faul war." „Und wir litten, wie jede Zelle leidet, wenn der Mensch septisches Fieber hat. Ja, die Welt fieberte und schlug blind um sich; sie jagte den tollsten Halluzinationen nach, machte aus jedem Teufel einen Gott, und aus jedem Gott einen Teufel, verfluchte den Geist und pries die ,Natur'; darunter verstand sie den blöden Instinkt, die blanke Willkür der ungezügelten Begier: Rassenhaß, Klassenhaß, Massenhaß, Bestialität als Heldentum - Gott, mein Gott, wie selig bin ich, dem entronnen zu sein."

XI. Kapitel Der Führer „Hallo, hallo, hier deutscher Sender. Wir bringen den Glückwunsch des Weltbundes zu Hermann Henricys sechzigstem Geburtstag." Die Familie saß auf der Veranda in der milden Augustnacht. Der Lautsprecher hub wieder an: „Wir feiern heute den Jubeltag eines der besten Männer unserer Zeit, Hermann Henricys. Wieder einmal klingt sein großer Name um die ganze Erde, in allen Sprachen, zu allen Brüdern und Schwestern. Aber heute erfahren nicht wir von einer neuen seiner Taten, sondern er erfährt unseren Dank für seine vergangenen Taten. Einem der großen Führer gilt er.

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Viererlei Führer brauchte es zur Erlösung: der Seher, der Denker, der Wecker, der Ordner. Die Seher bestimmten das Ziel, das Hochziel der Menschheit, dem sie nachzustreben hatte. Die Denker fanden Stück für Stück den Weg zum Ziele. Die Wecker riefen und mahnten, bis die Menge sich in Bewegung setzte. Die Ordner waren die Herzöge des Zuges und die Baumeister der neuen Gesellschaft. Einer dieser Ordner ist unser Hermann Henricy: ein Künstler, dessen Stoff die Völker sind, ein Obrist, dem sie begeistert folgen, ein Bildner der Menschheit, ein Staatsmann. Als wir vor zehn Jahren seinen fünfzigsten Geburtstag feierten, haben uns seine Jugendgenossen erzählt, was er ihnen bedeutete. Schon als Schulknabe war er der Hauptmann ihrer Spiele; nie gab es in den Kämpfen der Indianer und Pflanzer einen geschickteren Strategen, einen mutigeren Anführer, einen Häuptling, der wie er das letzte aus den Seinen herauszuholen vermochte. Als Jüngling schmiedete er die Fußballelf seiner Heimat zu einem einheitlichen Körper zusammen, der, beseelt von einem einzigen Siegeswillen, seine Farben triumphierend durch alle Welt trug. Wer vor vierzig Jahren den Schlußkampf sah, in dem diese Mannschaft dem letzten starken Gegner den Olympiapreis abgewann, spricht heute noch mit Begeisterung davon. Dann sehen wir ihn als Reiterführer in der Grenztruppe, die die asiatische Ostgrenze des Weltbundes gegen die Einfälle vereinzelter Steppenhorden zu schützen hatte. Die wilden Kinder der Natur lernten es bald, diesen riesenhaften Kentauren ebenso zu fürchten wie zu bewundern. Denn noch größer als seine zur Legende gewordene Tapferkeit und Waffenkunst war die Gerechtigkeit und Milde, die er walten ließ, wo es irgend möglich erschien. Sie wußten: im Bösen wie im Guten war sein Wort unverrückbar, und das hat mehr als unsere überlegene Waffenkraft sie uns und dem Weltbunde gewonnen. Fragt einmal in den schwarzen Zelten der Mongolen nach Ermann Germani, und ihr werdet Heldenlieder hören ohne Ende. Dann kam er in die Heimat zurück und zeigte ihr, daß er ebensoviel Bürgertugend besaß wie Kriegstüchtigkeit. Das väterliche Weingut war bald eine Musterwirtschaft, zu der man pilgerte, und seine Genossen, mit denen er Arbeit und Ertrag redlich teilte, vergötterten ihn bald ebenso, wie früher die Reiter seiner Schwadron. Strenge Gerechtigkeit, mit Milde vereint und durch einen herzlichen Humor versüßt, holte auch hier wieder das letzte aus der Kameradschaft heraus. Bei der nächsten Wahl schon entsandten ihn seine Mitbürger in den Gemeinderat, und ein Jahr später wurde er der Vorstand der Gemeinde. Was er für Winslingen getan hat, weiß das Dorf, das in ihm seinen größten Sohn verehrt. Jeden kleinsten Schaden spürte sein rastloses Auge auf, und sofort besserte ihn seine rastlose Hand. Fast wunderbar ist es, was er mit den damals doch noch geringen Mitteln für die Straßen, Schulen, Krankenanstalten geleistet, wie er Landwirtschaft und Gewerbe entwickelt und den guten Geist der Einigkeit gepflegt hat. Was er anfaßte, gelang; und wieder, weil seine Mitarbeiter in ihm den großen Führer, den Ordner, erkannten und liebten. Niemals dachte er an sich, an seinen Ruhm, geschweige denn an seinen Vorteil. Nur der Sache wollte er dienen, und diente er in Treue. So war es selbstverständlich, daß nach kurzer Frist die in der Gauvertretung vereinigten Gemeindevorsteher ihn zum Gauvorstand wählten, und daß wenige Jahre später ihm die größte Macht in die Hand gelegt wurde, die die Welt heute zu vergeben hat: als Provinzialvorstand. Seine Arbeitslast und Verantwortung wuchsen ins fast Ubermenschliche. Aber er pflügte geduldig weiter auf dem ihm anvertrauten Acker, und hinter seinen Schritten schoß die Saat in Segen zur Ernte. Er ist der alte geblieben, der Menschenmeisterer, der er schon als Knabe war, der Mann der weisen Überlegung und Vorbereitung, der entschlossenen Tat, des rücksichtslosen Einsatzes der eigenen Person. Seitdem hat ihn die ganze Welt kennengelernt. Die zum Staatsrat vereinigten Provinzialvorstände haben ihn in alle die Kommissionen gewählt, in denen der Ordner das Wort zu führen hat. Ist hier die Macht auch gering, der Einfluß reicht um so weiter. An all den großen Werken, die der

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Weltbund seit zwanzig Jahren beraten hat, ist er entscheidend beteiligt gewesen; und wenn die vereinigten Staatenvertreter zum Beschluß zusammenkommen, so gibt sein Votum sehr oft den Ausschlag, zumal, wenn er es selbst vertritt, der nüchterne Wanderer zu hochgesteckten Zielen, der Mann der wenigen Worte, die einschlagen wie die Axt in den Stamm. Wenn heute Abend auf allen Höhen des Jura und des Schwarzwaldes die Feuerstöße flammen, und die Jugend sie jubelnd umtanzt, dann soll er wissen, daß sein Volk ihm dankt und ihn liebt: der einzige Lohn, den er je begehrte. Der Weltbund hat beschlossen, den Gibraltardamm, den er durchgesetzt hat, nach seinem Namen zu benennen. Hoch über dem Mittelpfeiler soll sein Denkmal errichtet werden, das Antlitz gegen Osten. So wird er hinausblicken durch die Jahrtausende, über das neue Land, das er der Menschheit erschloß; so soll er wie Faust den höchsten Augenblick erleben, mit freiem Volk auf freiem Grund zu stehen." Ergriffen hatten die Freunde zugehört. Leise sagte Bachmüller: „Dafür lohnt es sich zu leben und zu sterben." Sie traten in den Garten und schauten um sich. In der sammetschwarzen Nacht glühte ein neuer Stern auf, noch einer, viele, auf allen Seiten, von allen Höhen herab flammten die Freudenfeuer, die Ehrenfeuer. „Den besten aus dem Keller, Barbara", rief der Professor. „Heute ist der Tag für den Forster Jesuitengarten aus dem Kometenjahr. Denn er ist unser Blut, unser Freund, unser Meister!" „Da halte ich mit", sagte eine tiefe Stimme von der Gartenpforte her. „Ich bin ausgerissen. Die Frau und die Kinder kommen nach." „Onkel Hermann!" „Pscht, ruhig! Braucht niemand zu wissen, wo ich stecke. Gebt mir ein Glas Wein und haltet die Schnäbel. Ich habe vorläufig mal genug von der Feierlichkeit. Nein, kein Licht! Die Sterne und die Feuer genügen, und seinen Mund wird jeder finden." Er wuchtete in einen Korbsessel und brannte mit einem Brummen der Erlösung eine Zigarre an. „Wenn's möglich ist, Kinder, ein bissei Musik." Bald stand der edle Wein auf dem Tisch, und aus den Fenstern des Musiksaales klang ein Beethovensches Quintett. Hermann Henricy trank und lauschte, entspannt, hingerissen. „Danke", sagte er, als die Spieler wieder erschienen. „Das ist ewiger als selbst der Gibraltardamm. Ach, Kinder, es ist gut zu leben." Die Männer rauchten schweigend und blickten hinaus, bis die neuen Sterne auf den Hügeln und Bergen ringsum erloschen. Dann sagte Hans: „Bist du müde, Henricy?" „Nein, warum?" „Weil ich gern etwas fragen möchte. Wie ordnet sich unsere Gesellschaft in die Begriffe meiner Zeit? Anarchismus ist es nicht?" „Wie man's nehmen will. Das Wort ist nicht eindeutig. Was Proudhon und sogar Stirner vor ihrem geistigen Auge sahen, war nicht so weit vom Ziele. Sie ahnten, daß Führerschaft und Herrschaft zwei grundverschiedene Dinge sind. Du verstehst nicht? Sehr einfach! Suche die Gegenbegriffe. Zur Führerschaft gehört Gefolgschaft, zur Herrschaft Untertanenschaft. Führerschaft ist unentbehrlich, Herrschaft verwerflich. Proudhon wollte die herrschaftslose, nicht die führerlose Gesellschaft, Gefolgschaft freier Menschen unter selbsterkorenen Führern, und hatte recht damit. Dem Leithirsch folgt die Herde, die er bewacht und verteidigt, dem gewählten Herzog folgte jedes freie Volk der Erde und gab ihm willig die Gewalt auch über Tod und Leben, solange der Krieg währte. Das allein bedeutet das Wort, wie er es brauchte: ,Herrschaftslosigkeit'. In diesem Sinne sind wir in der Tat Anarchisten." „In meiner Zeit übersetzte man .Staatlosigkeit'. Anarchismus, das bedeutete uns die Gesellschaft ohne jede Autorität, ohne festes Gesetz, ohne Richter und Polizei, geregelt nur durch die freie

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Überkunft der einzelnen, der ,Einzigen'." „Ich weiß. In dieser Bedeutung sind wir nicht Anarchisten. Wir leben in einer starken Ordnung, unter straffem Gesetz, hinter dem auch eine zu seiner Durchsetzung ausreichende Gewalt steht. Das kannst du, wenn du willst, immerhin einen ,Staat' nennen. Wir lieben das Wort nicht, außer in der Bedeutung der Einzelstaaten, die den Weltbund bilden." „Was habt ihr gegen das Wort?" „Es ist mit falschen Gedankenverbindungen belastet. Man denkt dabei allzuleicht an den Herrschaftsstaat, den Klassenstaat der Geschichte. Den haben wir hinter uns. All das, was ihr .Weltgeschichte' nanntet, war nichts als die Geschichte dieser Klassenstaaten. Wir leben sozusagen in der Nachgeschichte, wie die Völker vor dem eisernen Alter in der Vorgeschichte lebten. Darum sprechen wir lieber als von unserem Staat von unserer Ordnung - mit einem Seitenblick auf die greuliche Unordnung der geschichtlichen Staaten." „Ich weiß, es war eine kurze Periode." „Lumpige fünf Jahrtausende. Rechne eine Generation als einen Tag der Menschheit, was ungefähr stimmen wird, so langsam war ihr Wachstum, dann ist ein Jahrtausend ein Menschheitsmonat. Das Kind war erst fünf Monate alt: ist es da ein Wunder, daß es ungebärdig und unsauber war? Was dem Staate vorausging, waren Jahrhunderttausende der Entwicklung von der Tierheit zur Menschheit; was ihm folgen wird, sind ungezählte Jahrmillionen, bis unser Stern erlischt. Wir müssen lächeln, wenn wir in euren Geschichtsbüchern lesen, wie die Völkchen in ihren Kleinstaaten sich aufbliesen - und gegenseitig auffraßen, just wie die Infusorien in einem Schlammtropfen. Jedes der Mittelpunkt und Höhepunkt nicht bloß der Erde, nein, der Welt." Er lachte bitter. Frau Barbara, die andächtig zuhörte, nahm das Wort. „Ja, während sich, unbeachtet von den Fürsten, die neuen Organe und Kräfte entfalteten, die dem Spuk zuletzt ein Ende machten, die Freiheit und Tüchtigkeit der Bürger, spielten sie ahnungslos immer das gleiche Spiel. Ich habe mir einen Vers von Byron gemerkt: ,Das ist der Weltgeschichte Abgesang, Stets wiederholt die alte Litanei, Erst Freiheit, und dann Ruhm, wenn das verklang, Gold, Laster, Fäulnis, wieder Barbarei, Und der Geschichte riesige Bücherei Hat nur ein Blatt' ..." „Bei Gott, so war es", rief Henricy. „Yes, it is but the same rehearsal of the past. Allüberall das gleiche Possenspiel! Erobernde Gewalt schafft den Staat, die Eroberer werden zum Adel, die unterjochten Bauern und auf höherer Stufe auch die Städter haben zu zinsen, zu fronden und zu bluten. Dann schlagen sich die Prinzen um die Krone, in diesen Kämpfen verkommt der alte Adel, und ein neuer Adel schwingt sich empor, fast sämtlich Unfreie, Hofdiener und Gardisten, vielfach die übelsten Emporkömmlinge. Sie drücken die freien Bauern in Knechtschaft, sperren alles Land, und stürzen ihren Staat in hoffnungslose Anarchie. Die Wildvölker überschwemmen die Länder, bis endlich der mächtigste der Magnaten eine neue Ordnung schafft. So entsteht der absolute, der zentralisierte Staat als Retter, der aber dann die letzten Reste der alten gewachsenen Ordnung der Gemeinschaft zerstört." „Wie war es denn vorher?" „Man könnte es allenfalls Föderalismus nennen. Selbstverwaltung in Dorf, Gau und Stadt, in Zunft und Gilde. Der Staat kümmert sich nur um die Steuern. Im übrigen läßt er seine Untertanen leben, wie sie es gewöhnt sind; fast jeder Gau hat sein eigenes Recht, seine alte Sitte und Tradition in Tracht, Hausbau und Geräten, oft genug seine eigene Sprache. Aber der zentralisierte Staat zerschlägt das alles. Er kann eben nur den .Untertanen' gebrauchen, den normalisierten Menschen, und

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reguliert alles von oben her, mit einer Bürokratie, die zuletzt das Volk auffrißt, bis die bürgerlichen Revolutionen eine Zeitlang wieder eine neue Ordnung schaffen, indem sie den Menschen befreien. Damit aber war erst halbe Arbeit geleistet." „Ich weiß, es mußte auch noch die Erde befreit werden." „Ja, das erst war die Vollendung der Revolution. Damit erst war der Klassenstaat überwunden. Aber es blieb noch die Zentralisierung zu beseitigen. Wir erst leben im echten Föderalismus, dem der freien Gemeinden auf freiem Boden, und sind damit der allzu mächtigen, allzu zahlreichen Bürokratie ledig geworden. Erst seitdem ist eine vernünftige Regierung überhaupt möglich geworden." „Was verstehst du darunter?" „Nun, sehr einfach, Demokratie unter starker Führerschaft." „Das galt meiner Zeit als unvereinbar." „War's aber nicht. Kennst du Hegel? Auf höherem Niveau versöhnen sich die Gegensätze in der Synthese. Wir haben die Synthese von Liberalismus und Sozialismus, die ihr auch für unvereinbar hieltet, auf dem Gebiet der Wirtschaft, und die Synthese von Demokratie und Führerschaft auf dem der Politik verwirklicht." „Warum ist das früher unmöglich gewesen?" „Weil eure Staaten zentralisiert waren. Da bedeutete Demokratie notwendigerweise auch den zentralen Parlamentarismus, und der war ein neues Übel. Wer kam hinein? Die Redner: Rechtsanwälte und Journalisten, Syndizi der großen Kapitalmagnaten, Priester, Männer mit geläufiger Zunge. Wer aber gehörte hinein? Die Schaffer, die Sachverständigen, die Organisatoren, aber die haben nicht Zeit zu vielen Reden, und meistens keine Neigung dazu. Haben Besseres zu tun. Nur im kleinen Kreise ist Demokratie möglich. Sogar Rousseau hat immer nur an Kantone wie sein heimatliches Genf gedacht, aber nicht an Großstaaten oder gar an den Weltstaat. Im kleinen Kreise kennt man sich, und da kommen ohne weiteres die Schaffer an die Spitze." „Die Ordner", sagte Fridl stolz. „Bist du gefragt, du Lausbub?" schalt der Onkel. Aber der Backenstreich, den der Junge bekam, war eine Liebkosung. „Ja, also: die Ordner. Roseggers Vater war der ärmste Bauer seines Dorfes, aber wurde immer wieder zum Bürgermeister gewählt. Und die russischen Selbstverwaltungskörper, die Zemstwos, wurden viel besser geführt, trotz aller Schikanen der Bürokratie, als die zaristische Staatsmaschine. Kleine Gruppen wissen ganz genau, wo der Schuh sie drückt, und finden den rechten Schuster sehr schnell." „Geliebter Schuster, bleibe uns noch recht lange bei deinem Leisten. Leiste uns immer weiter." Henricy drückte dem Professor warm die Hand. „Eine letzte Frage", sagte Hans. „Wenn es mit der Demokratie im zentralisierten Großstaat unmöglich war: warum war es nicht möglich, mit Führerschaft vernünftig zu regieren?" „Nein,Vetter! Das war ebenso unmöglich. Dazu hätte ein Genie gehört, das gleichzeitig Seher, Denker, Wecker und Ordner war. Das gibt es nicht, kann es wohl nicht geben. Die Begabungen schließen sich wohl aus. In seltenen Fällen mag der Seher auch ein Denker oder Wecker sein, aber wohl niemals ist ein Denker auch ein Wecker oder gar ein Ordner. Denken lähmt die Kraft zum schnellen Entschluß. Und gäbe es einmal wirklich einen Menschen von solchem Genie: wie sollten die Völker ihn herausfinden? Studiere einmal die Idealstaaten der Literatur von Piaton bis Nelson, und du wirst sehen, daß sie alle an dieser Frage scheitern. So viel sahen sie ja alle, daß sie nur zu lösen war, wenn der Sozialismus irgendwie verwirklicht war; sie dachten freilich nur an eine kommunistische Ordnung, die Piaton, Morus, Campanella und ihre Nachfolger." „Warum nur im verwirklichten Sozialismus?" „Weil im Klassenstaat dem Diktator mehr Macht in die Hände gelegt werden mußte, als der

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Mensch ertragen kann. Er mußte ein starkes Heer haben, um der äußeren, und eine starke Polizei, um der inneren Feinde Herr zu bleiben. Und alle Macht ist böse, würde sie auch in die Hände des reinsten Idealisten gelegt. Weißt du, was ,Staatsräson' bedeutete? Daß der Zweck, das Wohl des Staates, jedes Mittel heiligte. Der Staat, durch gesetzlose Gewalt entstanden, konnte nur durch gesetzlose Gewalt erhalten werden, und das Furchtbare war, daß er wirklich mit jedem Mittel erhalten werden mußte, weil sonst das volle Chaos hereingebrochen wäre. Wir sprachen vorhin von den wenigen Kämpfen der Prinzen um den Thron, die alle Staaten an den Abgrund führten. Es gab nur ein Mittel, sie zu verhindern: den Mord, der denn auch in allen Familien aller Herrscherhäuser aller Völker und Rassen wütete. Die Atriden, die Familie Alexanders des Großen und die Merowinger sind die bekanntesten Beispiele, aber auch Karl der Große ließ die Kinder seines Bruders Karlmann spurlos verschwinden, geradeso wie sein Vater Pippin die Kinder seines Bruders, Karlmanns des Älteren. Es war bittere Notwendigkeit. Im Testament des Sultans Mohammed Π. steht geschrieben: ,Die meisten Gesetzesgelehrten haben es für erlaubt erklärt, daß, wer immer von meinen erleuchten Kindern und Enkeln zur Herrschaft gelangt, zur Sicherheit der Ruhe der Welt seine Brüder hinrichten lasse. Danach mögen sie handeln.' Diese eine Tatsache zeigt, was euer Staat war. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." „Aber in unserem bürgerlichen Staat gab es das nicht mehr." „Nein, weil er schon ein Bastardgebilde war von Gewalt und Recht, von Freiheit und Unterdrückung. Aber, er hatte noch viel zu viel von dem alten Rauhstaat in sich, als daß er auf die Dauer hätte bestehen können: die Bodensperre und die bürokratische Zentralisierung. Mit jener stürzte diese, ohne jeden Kampf, und seitdem leben wir in der Synthese von freier Selbstbestimmung und straffer Führerschaft." „Der Führer hat auch Macht!" „Sehr viel sogar. Aber er kann sie unmöglich mißbrauchen. Beim ersten Versuch wäre er gestürzt." „Er kann Helfer finden." „Wo? Es gibt keine unterdrückte Klasse mehr, aus der ein Gewalthaber sich die Kreaturen holen könnte, die mit ihm stehen und fallen müssen. Weißt du nicht, wer die Menschen waren, auf die gestützt die Fürsten die freien Adelbauern unterwarfen? Unfreie waren es und Todfeinde ihrer Unterdrücker, der Freien. Sie konnten nur aufsteigen, wenn die Freien fielen. Was würdest du tun, Fridl, wenn ich dir den Vorschlag machte, du solltest mir mit deinen Freunden helfen, deine Eltern und Geschwister zu Sklaven zu machen?" „An die Irrenanstalt telefonieren", lachte der Junge. „Na, also! Na, denn Prost alle miteinander."

XII. Kapitel Volk und Raum „Die Saale", sagte Klingenberg. Das Regierungsflugzeug führte Götz Berlichingen ins Ostland. Die Baugewerksgenossenschaft Villingen hatte den Zuschlag für ein Teilstück des großen Memel-DünaKanals erhalten. Hans Bachmüller begleitete den Verwandten. „Das war einmal die Grenze zwischen Asien und Europa", sagte Götz nachdenklich. „Erlaube mal, die lag doch auf dem Ural."

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„Ja, so rechneten die Geographen. Aber es war auch geographisch falsch. Die große Ebene reicht von hier bis tief nach Asien hinein, und das hat geschichtlich und soziologisch entschieden. Bis an Elbe, Saale, Fichtelgebirge und Bayernwald konnten die Steppenreiter fast ungehindert streifen. Die Germanen zogen sich hinter die Wälder und Gebirge zurück. Die Slawen kamen nie zur Ruhe und zur Selbständigkeit. Hinter uns liegt Altdeutschland, das Stammgebiet mit römischem Kultureinfluß, vor uns liegt das Kolonialgebiet, das die Deutschen den Slawen abgewannen, und hinter ihm die slawische Welt, beide durch die mittelalterliche Kultur beeinflußt, nördlich und westlich von Deutschland, östlich und südlich von Byzanz her. Das hat unseres Volkes Schicksal bestimmt." „Erkläre dich deutlicher." „Die beiden Teile konnten nie ganz verschmelzen, nie zu wahrer Einheit kommen. Vielleicht hat die verschiedene Rassenmischung mitgewirkt; hier ist der ganze Untergrund slawisch, im Westen romanisch und keltisch. Aber entscheidend war die Bodenteilung und Klassenschichtung. Im Stammlande hielt sich der Bauer auf seiner Scholle in einiger Freiheit, wenn er auch zu Zeiten grauenhaft zu leiden hatte: im Kolonialgebiet ging er zugrunde. Darum gab es im Stammland ein reiches Städteleben, unzählige Mittelstädte und wohlhabende Kleinstädte: denn die Stadt lebt vom Tausch mit den Bauern. Im Ostland aber gab es fast nur armselige Städtchen, die sich nicht entwickeln konnten, weil die Kaufkraft des bäuerlichen Marktes fehlte, und ein paar ungefüge Großstädte, wahre Wasserköpfe, häßliche, ungesunde, politisch gefährliche Gebilde, wo die Großgrundbesitzer kauften, die den Bauern enteignet hatten." „Das mußte jeder sehen, der Augen hatte", rief Bachmüller, „wenn er durch Deutschland reiste. Völlig verschiedene Bilder: im Westen fast überall kleine Äckerchen, im Osten große Kornbreiten, im Westen Stadt an Stadt, im Osten fast nur Dörfer, sehr selten eine Stadt." „Ja, und das war Deutschlands Schicksal. Ihm verdankte es seine unmögliche Grenze, die Wespentaille: von Plauen bis zur holländischen Grenze etwas über 400, von Eydtkuhnen bis Basel über 1.300 Kilometer. Warum? Weil die deutschen Niederlande und Böhmen verlorengingen! Und warum ging Böhmen verloren? Weil nur der Bauer ein Land seines Sprachtums erobert. Sachsen, die Mark und Pommern hat der deutsche Pflüger gewonnen, aber der Großgrundbesitz nationalisiert nicht: er ^nationalisiert. Der böhmische Adel war zum größten Teile deutschen Blutes, wurde aber tschechisiert, wie in Polen polinisiert. Der Sklave war gefügiger und vor allem billiger; so trieb man den Deutschen aus dem Lande. Ohne die Bodensperre wäre alles Land in Posen und Westpreußen so deutsch gewesen wie die Mark, und der Friede zu Versailles hätte Ostpreußen nicht zur Insel gemacht und Oberschlesien nicht zerstückelt." „Und Holland? Und die deutsche Schweiz?" „Mußten sich allein helfen, weil das Deutsche Reich ihnen gegen den Österreicher und den Spanier nicht helfen konnte. Der übermächtige Adel hatte es in Anarchie und tödliche Schwäche gestürzt." „Allüberall das gleiche Possenspiel", sagte Bachmüller. „Das habe ich von Henricy. Es ist von Byron." „Ja", sagte Berlichingen. „Mein Vorfahr mit der eisernen Hand war ein tüchtiger Kerl, auf den wir stolz sind. Aber er war auch dabei, der ,reichsunmittelbare Ritter'. Es ging damals nicht anders: wer nicht Amboß sein wollte, mußte Hammer sein. Aber die Rolle, die der Adel in aller Geschichte spielt, ist nicht gerade sehr rühmlich. Deshalb führt kaum einer von uns noch den alten Titel. Wir wollen nichts sein als Bürger unter Bürgern. Am Kapitalismus waren auch wir schuldig." „Na, aber." „Doch, hilft uns alles. Sieh', der ganze Osten bis nach Sibirien hinein war menschenleer. Der Großgrundbesitz beschäftigte, berechnet auf die Fläche, nur etwa ein Drittel der Menschen, die im Bauernbezirk, und besser, leben konnten. Ackerbau braucht eben weniger Hände als Viehzucht. Und die Städte kamen nicht empor, weil die Landarbeiter nur sehr wenige Kaufkraft hatten. So war

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hier Raum ohne Volk, im Stammlande aber vielfach Volk ohne Raum. Im Osten Bodensperre, im Westen Bodenenge! Vom Osten strömte der ganze Nachwuchs ab, und der war ungeheuer groß; hat doch der Proletarier seinen Namen von seinem Kinderreichtum. So leer das Land auch war, bis herab auf vier Seelen auf den Quadratkilometer, so gab es doch für sie keinen Platz. Aus der Bodenenge im Westen strömten sie auch in großen Massen ab, wenn auch viel weniger stark: hier war das Land für die damalige Technik und Absatzmöglichkeit übervoll. Wo aber strömten sie hin? Zum kleineren Teil nach Ubersee, wo sie mehr Land unter den Pflug nahmen, als Europa vertragen konnte. Ihre Ernten waren die Kornpreise in die Tiefe und brachten den europäischen Großgrundbesitz an den Rand des Bankrotts. Die meisten aber zogen in die Städte und boten sich den Gewerbetreibenden für jeden Hungerlohn an. Da wurzelt der Kapitalismus, da allein. Ohne die Bodensperre Massenwanderung, ohne die Massenwanderung kein Tiefstand der Löhne, d. h.: der Kaufkraft und keine Uberzüchtung der Industrie, und d. h.: der Erzeugung. Darauf allein beruht die ungeheure Gleichgewichtsstörung, die den Kapitalismus kennzeichnet: je mehr hergestellt wurde, um so weniger konnte man verkaufen. Und je tiefer der Lohn sank, tun so mehr schwoll das Arbeiterheer." „Ich weiß: Frauen und Kinder." „Gewiß. Kinder bis herab zu vier Jahren, zwölf, vierzehn Stunden an der Maschine! Zum Werkzeug der nordfranzösischen Spinnereiarbeiter gehörte Anfang des 19. Jahrhunderts der Ochsenziemer, mit dem sie die armseligen kleinen Würmchen wachprügeln mußten, wenn sie bei der Arbeit einschliefen. Wahrhaftig, der reine Kannibalismus! Das wurde allmählich etwas besser, vor allem da, wo der Staat gesunde Soldaten brauchte, denn bei dem System verkümmerten die besten Rassen: es war ein preußischer General, der zuerst dagegen einschritt. Und es wurde vor allem dadurch besser, daß das Land sich ausgeblutet hatte. Zuerst war es, als wenn ein Staudamm geborsten wäre, als Hunderttausende verhungernder Kulis die damals noch kleine Industrie überfluteten. Aber der Strom flöß doch weiter und trieb die Mehrwertmühlen der Kapitalisten." „Und das hat damals niemand erkannt?" „Nein, fast ist es ein Wunder zu nennen. Die britischen Volkswirte hatten wie hypnotisiert immer nur auf die Städte gestarrt, aufs platte Land fiel kein Blick. Und ihre Nachfolger - knabberten immer nur an den abgenagten Knochen, die die britischen Klassiker hinterlassen hatten. Und waren blind wie die jungen Hunde." Sie hatten die Elbe überflogen. Soweit das Auge reichte, war die Ebene mit Siedlungen, kleinen und großen, bedeckt, zwischen denen das Dunkelgrün der Wälder, das gelbliche Grün der Kartoffelfelder und das matte Gold der Stoppeläcker lag. „Berlin", sagte Klingenberg. „Berlin? Wir haben doch erst vor fünf Minuten die Elbe unter uns gehabt." „Ja, Berlin hat sich sozusagen verdünnt. Es reicht ungefähr vom Harz bis zur Oder, von der sächsischen Grenze bis an die Ostsee. Eine Citysonne mit vielen Planetenstädten und unzähligen Mondsiedlungen. An der Spree wohnen nicht mehr viele von den fünf Millionen. Der alte Kern steht noch, aber die wüsten Vorstädte sind verschwunden wie überall. Die Fabriken sind hinausverlegt, die Menschen sind gefolgt und haben sich, dank dem Auto, über die ganze riesenhafte Ebene ausgebreitet. Berlin ist heute eine eigene Provinz mit vielen Gauen und unzähligen Gemeinden." „Aber ich sehe doch noch viele sehr große Feldstücke. Gibt's denn noch viel Großbesitz hier?" „Nur ein paar Mustergüter der öffentlichen Hand. Aber Großbetriebe gibt's noch viele. Das da unten sind alles bäuerliche Produktivgenossenschaften. Wo das Land eben ist, ist es praktischer, den Feldbau im großen mit starken Maschinen zu betreiben. Die Viehzucht ist zumeist Sache der Genossen, die alle ihre eigenen kleinen und mittleren Betriebe haben, alle eigen Haus und Hof. Die Feldarbeit machen sie gemeinschaftlich und teilen den Ertrag nach genossenschaftlichem Prinzip, d. h. nach der Leistung, genau wie die Genossen der Fabrikbetriebe."

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„Also doch keine selbständigen Bauern!" „Im Gegenteil: Bauern in jedem guten Sinne! Sie sitzen unerschütterlich auf ererbter Scholle, sie entscheiden mit in ihren Genossenschaften und sind in ihrem Eigenbetriebe völlig unabhängig. Du, das sind alles sogar Großbauern in eurem Sinne. Sie haben durchschnittlich ihre acht ausgezeichneten Rassekühe im Stall, dazu das entsprechende Jungvieh und sehr viel Schweine und Geflügel. Die Feldarbeit ist sozusagen nur noch ein Nebenbetrieb, der die wenigsten Arbeitsstunden kostet. Fast nur Maschinenarbeit. Der Schwerpunkt der Wirtschaft liegt im Stall." „Wie groß sind denn diese Eigenbetriebe?" „Der Genossenschaftsbauern? Zwei bis fünf Hektar etwa, nach dem Boden." „Und darauf halten sie soviel Vieh? Wo kommt denn das Futter her?" „Was sie nicht selbst bauen im Großbetrieb und auf eigenem Felde, das kaufen sie natürlich. Mais, Weizen, Futtergerste und Baumwollsaatmehl kommen billig von Ubersee." „Aber wo bleiben sie mit all der Milch, dem Fleisch, den Eiern und Hühnern? Zu meiner Zeit wollte man nicht recht an die Bauernsiedlung heran, weil es schon zu viele gab. Sie konnten ihre Erzeugnisse nicht los werden." „Kunststück", lachte Götz, „weil niemand sie kaufen konnte. Wir sind heute achtzig Millionen im Bundesstaat Deutschland." „So viel?" „Ja, unsere Frauen kriegen wieder Kinder, und wir können sie wieder ernähren. Seit 1975, wo wir auf 50 Millionen herunter waren, steigen wir wieder erfreulich. Wir verbrauchen tagtäglich fast einen Liter allein an Frischmilch je Kopf für Trink- und Kochzwecke. Soviel verbrauchten die Luzerner und New Yorker fast schon vor hundert Jahren. Dafür sind allein acht Millionen Kühe mit einem Durchschnittsertrag von 10 Litern erforderlich. Wir essen Butter statt Margarine, und nicht zu knapp. Rechne nur fünfzig Gramm je Kopf, das ist sehr mäßig für Aufstrich und Kochfett, macht vier Millionen Kilo. Zu einem Kilo Butter braucht man 32-36 Liter Milch, also den Ertrag von drei Kühen, macht wieder vierzehn Millionen Kühe. Zweiundzwanzig Millionen Kühe, das ergibt fast drei Millionen Großbauern. Den Verbrauch an Eiern, Fleisch, Geflügel, Obst usw. kannst du dir allein ausrechnen. Es fluscht, wenn der Multiplikator achtzig Millionen ist. Im Deutschland deiner Zeit kam noch nicht einmal ein Viertel Liter Frischmilch auf den Kopf der Städter, und schon Margarine war vielen unerschwinglich. Kapiert? Außerdem gibt es zahllose Gärtner aller Art, Hühnerfarmer, Weinbauern usw. Trotzdem heute fast jeder seinen eigenen Garten hat, beträgt dennoch die Zahl der selbständigen Erwerbenden in Landwirtschaft, Gartenbau und Viehzucht einschließlich Forstwirtschaft und Fischerei stark über 40 % der Gesamtheit." „Aber der Kornbau lohnt sich nicht mehr?" „Das ist zuviel gesagt. Auf unseren guten Böden können wir noch bequem mit dem Weizen und der Braugerste von Übersee konkurrieren. Die drüben haben nicht mehr so billige Löhne wie einst, und sie können ihre Böden entfernt nicht so stark düngen wie wir. Die Transportkosten kommen dazu. Aber auf den geringeren Böden baut man Brotkorn nur noch reichlich für den Eigenbedarf der Familie, sonst nur Futterkorn und Hackfrucht für den Viehstand, Hafer übrigens nur noch sehr wenig, seit der Traktor das Pferd verdrängt hat. Aber wir brauchen auch viel weniger Brotkorn und Kartoffeln als früher." „Erkläre." „Sehr einfach. Wer reichlich Milch, Butter, Obst, Eier und Fleisch hat, braucht weniger Brot und viel weniger Kartoffeln. Und Schnaps wird nicht mehr viel gebrannt." „Gibt es denn noch ganz selbständige Bauern?" „Aber massenhaft! Überall, wo das Gelände den Großbetrieb nicht begünstigt, also ζ. B. im Hügellande, sind selbständige Bauern angesetzt worden. Und die Altbauern, die es vor der Erlösung

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gegeben hat, sind fast alle bestehen geblieben und haben sich durch Teilung der vielfach allzu großen Höfe stark vermehrt, seit es keine Arbeiter mehr zu mieten gibt. Sie sind natürlich auch genossenschaftlich organisiert, aber nur für Teilzwecke, wie schon immer: für Molkerei, Fabrikation von Rübenzucker, Stärke usw., neuerdings auch immer mehr in Werkgenossenschaften für die Ausnutzung von Maschinen aller Art, nicht mehr bloß für die Dreschmaschine. Nur in seltenen Fällen haben sie ihr Ackerland zusammengelegt und bestellen es gemeinschaftlich wie die Produktivgenossenschaften. Das geschah, wo es den Nachbarn in der Genossenschaft auffällig besser ging als den Einzelbauern: weniger Arbeit und mehr Verdienst. Aber die Viehwirtschaft haben sie alle für sich behalten. Darin ist der Bauer nicht zu schlagen." „Wie steht sich denn nun solch ein Einzelbauer wirtschaftlich?" „Das ist klar. Er kann bei gleicher Arbeitsanspannung auf die Dauer nicht weniger verdienen als ein städtischer Arbeiter oder Handwerker gleicher Qualifikation. Die freie Konkurrenz verhindert das. Wenn es den Städtern mal merklich besser geht, wandert der ländliche Nachwuchs zahlreicher ab, wenn umgekehrt, bleibt er auf dem Lande. Wir betrachten das Einkommen des selbständigen Bauern geradezu als die Norm, nach der sich alle anderen richten. Und es ist hoch. Schulden hat er nicht, außer vielleicht für kurze Zeit eine kleine Erbhypothek, und du weißt, wie tief der Zins steht. Stadt und Land sind so innig miteinander verflochten, daß fast jeder Bauer den Konsumenten, und zwar von hoher Kaufkraft, vor der Tür hat. Der Zwischenhandel ist infolgedessen fast verschwunden, außer natürlich für die großen Weltstapelprodukte. Der Bauer erhält den vollen Wert seiner hochwertigen Erzeugnisse. Und wenn er mal etwas mehr haben möchte, so hat er immer die Möglichkeit, in der landwirtschaftlich stillen Zeit irgendeine gewerbliche Arbeit in der nächsten Nachbarschaft aufzunehmen. Soweit die Kinder nicht in seiner Wirtschaft tätig sind, sind sie alle irgendwie draußen lohnend beschäftigt." „Gilt das nun auch für den Nordosten? Der war doch fast ohne Städte und ohne Industrie." „Schau hinunter. Wir sind schon an der Oder. Hier war der Großgrundbesitz gewaltig stark, und jetzt: Siedlung neben Siedlung. Natürlich nicht ganz so dicht wie an Rhein und Neckar, aber doch sehr dicht. Der deutsche Osten ist jetzt so reich an Gewerben, wie vor hundert Jahren unser Schwaben!" „Hat man Industrien herverpflanzt?" „Auch, selbstverständlich! Aber das hat nur mitgeholfen. Die Hauptsache tat das gesunde Wachstum von innen her. Wer Bauern schafft, schafft Städte! Wo der Bauer Kaufkraft hat, springen die Gewerbe aus dem Boden. Selbstverständlich: er muß doch seine Uberschüsse gegen gewerbliche Waren und Dienste eintauschen. Und er hat heute durchschnittlich einen Bedarf, wie ihn früher noch nicht einmal der Großbauer in der Marsch hatte. Wirst ja selbst sehen: geräumige Häuser, bequeme Möbel, Zeitungen und Bücher, gute Kleider für Mann, Weib und Kinder, jeder sein Auto, Radio und Grammophon, ein Hauskino und oft genug ein Piano, Maschinen aller Art für Feld, Stall und Haus, da blühen die Städte empor. Famose Schulen überall mit guten Lehrern, Bauernhochschulen in jeder Landschaft, fast in jedem Gau, Zahnärzte und Ärzte, Tierärzte und wissenschaftliche Züchter für Rat und Kontrolle - das sind alles weitere Konsumenten. Und so treibt ein Keil den anderen. Du, Klingenberg, ein bissei langsamer, sonst kommen wir noch zu weit. Hierherum muß Lubenice liegen." „Ich steuere nach der Karte. In einigen Minuten landen wir." „Mein Vetter Debbin wird sich freuen, und du auch. Wirst einen prachtvollen Menschen kennenlernen, einen Landwirt von echtem Schrot und Korn." Ein langgestrecktes Herrenhaus im Park an einem schönen See, daneben der Wirtschaftshof, der Schornstein der Brennerei: ein typisches ostelbisches Gut. Klingenberg stellte den Motor ab, ging in weiten Schleifen im Gleitflug nieder, und landete auf dem Stoppelacker neben dem Hofe. Das Pferd eines Reiters, der sich im Galopp genähert hatte, versuchte, erschreckt durch den Riesenvogel,

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auszubrechen. Aber er brachte es schnell zur Ruhe und rief fröhlich, während er ein paar Galoppvolten ritt: „Tag, Götz. Tag, Hans Bachmüller. Tag, Klingenberg. Herzlich willkommen auf Lubenice. Der Kaffee wartet, und Frau Maria auch."

XIII. Kapitel Der neue Adel Sie saßen auf der Terrasse gegenüber dem See. Die hohen Kastanien und Linden zeigten kaum die ersten Farben des Herbstes. „Na, also, alter Maulwurf, wie geht's?" „Danke der Nachfrage, alter Klutenpedder. Hast du noch immer die größten Kartoffeln im Gau?" „Du, mit dem fang' nicht an", lachte Frau Maria. „Der ist noch gröber als du." „Die Sprache des Landmanns ist rauh, aber gerecht." „Wie war die Ernte?" „Gut mittel. Aber die Preise ..." „Et sterbt nischt aus", sagte Hans vergnügt. „Also ihr klagt noch immer?" „Gehört zum Handwerk! Roggen 15, Braugerste 21, Weizen 19 Zentner durchschnittlich je Morgen. Zuckerrüben stehen ganz ordentlich. Kartoffeln so so. Wenn das Wetter hält, werden sie an hundert Zentner geben. Wir haben nur Mittelboden. Das Vieh war unberufen gesund. A propos, was macht dein Kleinvieh, Götz?" „Gesund und frech. Carmen pflegt es und läßt Luise kaum noch ran. Schreckliche Eifersucht zwischen den Weibern." „Ach ja, überhaupt die Weiber!" seufzte Debbin, und tätschelte dabei zärtlich seiner blonden Frau die Schulter. Sie lachte. Er zog ein grimmiges Gesicht: „Lache nicht, Bauerntrutschel, Mesalliance, scher' dich in die Küche! Und wenn die Rebhühner nicht knusprig sind ..." „... stecken mich der hochgeborene Herr Baron in den Hungerturm zu Kröten und Schlangen", sagte sie im Abgehen. „Weiß schon! Tyrann, Kambyses, Blaubart!" „Immer noch in den Flitterwochen, Stas?" sagte Götz. „Euer Ältester ist doch schon auf der Schule, und immer noch die alten Witze? Du mußt nämlich wissen, Hans, Marie ist wirklich eine Bauerntochter hier aus dem Dorfe." „Donnerwetter, sieht aus wie Thusnelda in Person." „Ja, mein Jungchen, gute Rasse! Seit sie wieder genug zu essen und nicht mehr so unmenschlich zu schuften haben, hat sich unser Landvolk mächtig herausgemacht. ,Wir Züchter wissen ja: Die halbe Rasse geht's durchs Maul.' Gerade soviel Arbeit, wie der Mensch braucht, um gesund und froh zu sein, Sonne und Landluft, kräftiger Sport, keine Sorgen und ein reines Gewissen, das gibt schon eine gute Rasse, wenn nur der Grundstock danach ist. Und der war unverdorben. Marias Großvater war bei meinem Ahn noch Landarbeiter, Hofvogt, ein kleiner, magerer, aber zäher Mann, mein Vater hat ihn noch gut gekannt; mein Schwiegervater hat schon seine 180 Zentimeter, und meine Schwäger hätte Friedrich Wilhelm bestimmt in sein erstes Garde-Grenadierregiment gepreßt. Und doch ist es eine Mesalliance." „Faule Witze!"

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„Blutiger Ernst! Nur nicht für mich: für sie! Wir sind doch alle Mischlinge,,Bastarde des Rassenchaos', sagte der Chamberlain. Was steckt in dem Adel aller Welt alles drin! Hast du mal was von Reb Veitel Ephraim gehört?" „Dem Münzjuden Friedrichs Π.?" „Einer meiner Ahnen, mein Sohn! Er hat eine Stiftung hinterlassen, viel Geld für Studien und Aussteuer seiner Nachkommen. Aber nur Israeliten dürfen daraus bedacht werden, es sei denn, die anderen verzeihen ihnen ausdrücklich die Taufe. Seitdem findet von Zeit zu Zeit der Familientag der Ephraimiten statt. Seit hundertfünfzig Jahren ist kein Einziger von den Hunderten mehr Jude. Aber die Verzeihungszeremonie findet feierlich statt. Du würdest dich schön wundern, wer da alles dabei ist, die besten Namen aus allen Ländern, italienische Principes, französische Vicomtes, englische Earls, deutsche Grafen, Freiherrn und Barone. Ich habe außerdem spanisches, italienisches und über meine polnischen Vorfahren - ich heiße nicht umsonst Stanislaus - auch tatarisches Blut. Mein Nachbar Stitzing auf Seelow hat eine vollblütige Javanerin zur Ahnin; sie hatte riesige Teeplantagen. So war's seit vielen Jahrhunderten. Die Malterer in Freiburg, die Wurmser in Straßurg, die Bonifatius in Trier waren nur Bürger - aber die reichsten Bürger ihrer Zeit, und wurden die Ahnen aller Fürstenhäuser. Geld hat die Welt regiert, und wir stammen doch schließlich alle von Unfreien ab. Mein Urgroßvater erlebte seinen Tag von Damaskus, als er das im Kolleg erfuhr. Er ging zu seinem Professor, und als der es ihm bewies, fing er an zu weinen, so erschüttert war er. Von da an sah er seine Landarbeiter mit ganz anderen Augen an. Der erste Debbin war wirklich ein Dienstmann, ein Ministeriale des Klosters Heiligengrabe, Marschalk. Mar bedeutet das Pferd, Schalk der Sklave. Er war wahrscheinlich ein germanisierter Wende. Die Bauern aber, auch die Slawen, waren ursprünglich alle edelfrei. Noch im zwölften Jahrhundert jagte der deutsche Bauer den Junker vom Hofe, wenn er um seine Tochter warb: es war eine Mesalliance, und der Bauer blieb rassenrein, wenn nicht einmal ein Junker oder ein fremder Landsknecht oder Räuber dazwischenfunkte. Ich habe immer Angst, bei meinen Gören könnte es mal mendeln, und ein richtiger Tatar oder Araber - von Spanien her - zum Vorschein kommen. Mein Nachbar auf Seelow hat eine Tochter, übrigens eine bildhübsche Hexe, die recta via von Batavia importiert sein könnte. Die Urahne schlägt durch." „Na, den Debbins ist diese Mixtur ja leidlich bekommen." „Das tröstet mich auch. Waren doch alles ganz ordentliche Leute, vielleicht ein bißchen gescheiter als die meisten. Ob da der Ephraim selig nachwirkt?" „Bismarck hat daran geglaubt." „Weiß schon! .Arischer Hengst und semitische Stute', hat er gesagt. Schließlich kreuzen wir Züchter ja auch gern, und oft mit Vorteil." „Na, also, dann verzweifle nicht. Was macht deine Schwester Erika?" „Hat sich vorgestern mit meinem jüngsten Schwager verlobt, dem Tierarzt. Die ganze Bande wird euch heute abend hier beprosten. Sind alle mächtig scharf auf den vorsintflutlichen Jubelgreis. Woll'n wir mal ein bissei durch die Wirtschaft bummeln? Erst mal die Ställe." Sie betraten den Kuhstall. „Herdbuchvieh", sagte Debbin stolz. „Keine unter 12 Litern täglich. 50 Kühe, zwei Bullen, an sechzig Färsen und Kälber. Gehören der Genossenschaft, der ,Zentrale', sagen wir. Die Genossen, jetzt fünfzig an der Zahl, haben durchschnittlich acht Kühe und ebensoviel Jungvieh, 'ne Masse Schweine und unzähliges Geflügel. Die Zentrale hat auch eine große Schweinerei, zu Zeiten über tausend Stück, groß und klein, über hundert Muttersauen. Dann halten wir noch eine kleine Schafherde für die Stoppelweide. Junge, Junge, das gibt Dünger. Wir können fast die ganze Fläche jährlich abdüngen. Kunstdünger brauchen wir nur noch wenig." Sie hatten den Schafstall, dessen Insassen fast sämtlich auf der Weide waren, abgesehen von einigen Wöchnerinnen und ihren Lämmern, und die der Seuchengefahr halber weislich auf mehrere Gebäude verteilten Schweineställe durchschritten und standen jetzt im Schweinegarten, wo mit

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seligem Gequieke zahllose Ferkel aller Größen heramgaloppierten. Ihre Mamas lagen genießerisch auf der Seite und hielten die prall gefüllten Zitzen ihrem Nachwuchs zur Verfügung. Am Ausgang hielt ein Jagdwagen, Debbin bestieg den Bock, nahm dem jungen Arbeiter die Zügel aus der Hand und rief: „Einsteigen, ihr Herren, jetzt beginnt der übliche Vortrag. Danach erbitte ich ein kleines Douceur oder Trinkgeld." Er schnalzte mit der Peitsche, die Pferde zogen an. „Es gibt also noch Pferde", sagte Hans. „Das eine Paar, und drei Paar Arbeitspferde; das Handpferd reite ich. Ich bin ja hier Inspektor. Erlaufen kann ich's nicht, und auf den Feldwegen ist das Auto nicht praktisch. Die Kinder haben noch ihr Pony für den kleinen Wagen. Mein Fritzku reitet es auch. Es schmeißt ihn dauernd runter, aber der Bengel hat Knochen aus Elfenbein. Wir reiten hier fast alle. Die Genossen haben beinah sämtlich ein gutes Pferd zum Fahren und Reiten. Sie reiten und schießen wie die Teufel. Uberall gibt's Reitervereine, und bei den Sprung- und Jagdkonkurrenzen der Gaue und Provinzen ist was los, das kannst du mir glauben. Aber im Acker werden Pferde nur noch wenig gebraucht, zum Rücken und vor der Hackmaschine. Na also, soll ich jetzt meinen Vortrag abschnurren?" „Los!" „Na, also: als mein Urgroßvater damals den großen Schreck bekam, schlug ihm das Gewissen. Das ist immer schlimm. Und da fing er an zu studieren, und das ist noch schlimmer. Er las alle möglichen Schmöker, und sein Gewissen biß ihn immer mehr. Es ist doch auch wirklich nicht sehr rühmlich, wie der Adel gerade hier den Bauern allmählich unter das Knie und um Freiheit und Eigentum brachte. Mein Ahn wollte gut machen, soviel er konnte. Studierte Bodenreform und Stuart Mill: Verstaatlichung von Grund und Boden, weißt du, und Tolstoi, und was sonst noch, und kam zuletzt auf Johann Heinrich von Thünen und seinen Versuch der Gewinnbeteiligung auf Tellow und auf den etwas späteren Versuch von Vandeleur in Rahaline in Irland. Das war so um 1940 herum, kurz vor der Geschichte mit Gabriel Heinemann. Na, er machte das nach. Die einen Nachbarn erklärten ihn für einen Bolschewisten, die anderen für einen Verrückten; er wurde zu keinem Skat und keiner Treibjagd mehr eingeladen, Boykott auf der ganzen Linie. Aber er hatte den echten Debbinschen Dickschädel, dachte sich was Unanständiges und hielt durch. Mit Einzelheiten will ich dich verschonen, kannst alles gedruckt haben. Na, es ging ganz ordentlich. Die Zeiten waren damals nicht schlecht, der Bonus, der Gewinnanteil, war durchschnittlich im Verhältnis zu den damaligen Löhnen sehr anständig, und der olle Debbin hatte seinen Vorteil und seine Freude daran, denn die Leute arbeiteten viel williger und besser und schonten das Inventar. Die Reinerträge stiegen noch mehr als die Roherträge. Stunk mit den Leuten gab's nicht mehr. Nur Friede, Friede, holde Eintracht. Da wagte er den zweiten Schritt. Er gab den Arbeitern, die es wünschten, eigenes Land, und half ihnen mit Darlehen zu einem eigenen Hof. Die Idee war, daß sie ihren Haupterwerb nach wie vor auf dem Gute haben und ihre kleinen Stellen als Nebenbetriebe in ihren Freizeiten bearbeiten sollten. So wie damals die Heuerlinge in Westfalen. Das ging noch besser, das Dorf wurde wohlhabend, die Fortwanderung hörte auf. Inzwischen war der Bund Deutschland-Frankreich zustandegekommen. Da Frankreich wenig Korn ausfahren konnte, berührte das die Lage des Großbesitzes im Osten noch wenig. Als sich aber bald darauf die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien und noch später Polen anschlössen, und auch an diesen Grenzen die Kornzölle immer mehr herabgesetzt wurden, mußten die meisten Besitzer sich dazu verstehen, an den Bund zu verkaufen. Mein Ahn verkaufte an die Genossenschaft seiner früheren Arbeiter: Markgenossenschaft, nannte er sie. Sie wählten ihn einstimmig zum Oberverwalter auf Lebenszeit, überließen ihm Schloß, Park und See mit fünfzig Morgen Land und die Jagd, und setzten ihm das Dreifache der Arbeitsdividende der erwachsenen Männer als Gehalt fest. So hatte sich für ihn äußerlich gar nichts geändert, er lebte wie früher und tat die gleiche Arbeit wie früher: bloß Sorgen hatte er nicht mehr, Arger hatte er viel weniger, und war von Freunden statt von Sklaven umgeben. Er ist als ein glücklicher

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Mann gestorben. Ich zeige dir nachher das Denkmal auf unserem Kirchhof mit der Inschrift .Ihrem Vater die dankbare Gemeinde Lubenice'." „Na, Großvater, Vater und ich sind dann selbstverständlich seine Nachfolger geworden, soviel sich auch inzwischen geändert hat. Das Dorf ist mächtig gewachsen, weil die meisten Kinder dablieben. Von dreitausend Morgen Ackerland sind jetzt fast achtzehnhundert an die Genossen zu eigenem Besitz aufgeteilt. Die meisten haben ihr Gütchen durch Zukauf zu selbständigen Stellen erweitert und arbeiten nicht mehr in der Zentrale mit, nur, daß das junge Volk in der Erntezeit mal mithilft, wenn es not tut. Zwanzig Genossen arbeiten noch in der Zentrale. 'Ne Masse von Handwerkern hat sich angesiedelt, nicht nur Schmied und Zimmermann, sondern auch Schuster, Schneider, Maurer, Bäcker, Müller, ein Barbier. Wir haben einen Arzt, eine Hebamme - und die hat zu tun, sage ich dir - , der Konsumverein hat drei verheiratete Beamte, dann gibt's noch eine Gemeindeschwester, einen evangelischen und einen katholischen Pfarrer, bald hätte ich die Kindergärtnerin und den Schankwirt vergessen. Lauter Konsumenten am Ort. Das Dorf hat weit über vierhundert Einwohner." „Da wirst du bald überflüssig sein." „Du meinst, das Gut wird zu klein? Fehlgeschossen. Die Markgenossenschaft hat nach und nach in der nächsten Nachbarschaft sechs weitere Güter mit zusammen 16.000 Morgen vom Bunde angekauft, die ich als Oberster mitverwalte. Sonst säßen wir hier schon so dick wie Fliegen auf dem Käse. Alles in allem zählt die Markgenossenschaft jetzt an die 320 Höfe und mit den Nichtlandwirten mehr als viertausend Seelen. Drüben auf Arnswalde, das so ziemlich in der Mitte und am Kanal liegt, haben wir unsere gewerblichen Betriebe, Stärke- und Zuckerfabrik, Kartoffelflocken- und Makkaronifabrik, Maschinenreparaturwerkstatt, Molkerei, Marmelade- und Konservenfabrik usw. Achtzig Seelen auf den Quadratkilometer; als der olle Debbin anfing, waren es keine zwanzig. Lubenice hatte damals zweiundzwanzig Arbeiterfamilien mit etwa hundertdreißig Köpfen, aber hatte immer an dreißig, vierzig polnische Schnitter. Das hat aufgehört." „Steht es überall so gut hier zu Lande?" „Na, wir hatten ja unseren Vorsprung. Und weiter östlich, in Polen und namentlich in Rußland war das Land zumeist ja viel dünner besiedelt, vor allem seit die Sowjets den Bauern fast ausgerottet hatten. Aber wir haben gute Schule gemacht. Ungefähr wie bei uns hat man es überall geordnet. Was hätte auch ζ. B. Deutschland anders tun sollen, als die Zölle fielen, und der Großbesitz mit seinem überwiegenden Kornbau weithin unhaltbar wurde und vom Bund übernommen werden mußte? Nur Einzelbauern ansetzen? Soviel Feldmesser gab's nicht. Und vor allem: soviel Anwärter gab's nicht. Sie mußten doch ein bißchen Geld an der Hand haben, und das hatte der Tagelöhner fast nie. Außerdem trauten sich viele von ihnen gar nicht heran. Selbständigkeit und Selbstverantwortung müssen erst gelernt werden. Sollte man die Hunderttausende von Landarbeitern wieder in die Städte treiben? Das sollte doch gerade vermieden werden. Da blieb einfach nichts anderes als die Anteilswirtschaft mit allmählicher Aussiedlung auf Eigenbesitz. Auf diese Weise behielten auch die alten, kostbaren Gebäude ihren vollen Wert, und an Land wurde auch mächtig gespart. Denke mal: alle die vielen Grenzraine und Zuwege zu jedem einzelnen Ackerstück." „Und was ist aus den Besitzern geworden?" „Soweit sie tüchtige Landwirte waren, sind sie geblieben wie wir Debbins. Ist manchem verteufelt sauer geworden, auf das Herrentum zu verzichten. Aber schon die Söhne waren ganz bei der Sache, Kinder der neuen Zeit. Führer der freien Bauernschaft zu sein, das ist unser Stolz und unser Glück. Haben wir Deutschland in all den Schlamassel hineingeritten, wir haben redlich geholfen, es wieder herauszupauken. Na, wie gefällt dir unser Jungvieh? Und da die Luzerne? Reif zum vierten Schnitt. Und da die Futterrüben? Geben gut und gern ihre 500 Zentner der Morgen." Auf einem ungeheuren Weidenplan weideten Hunderte von Färsen und Kälbern, einige kämpften spielend miteinander, andere drängten sich im Schatten der hohen Linden, die die Wiese um-

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kränzten, andere tranken an dem klaren Bach, der sie durchfloß. Die Sonne sank, von den Äckern kehrten die Traktoren und Gespanne heim. Freundlich grüßten die sonnenbraunen Lenker. Debbin ließ sie scharfen Blickes vorbei passieren. „Der Schecke hinkt ja, Stepka." „Ein Eisen verloren." „Bringst ihn gleich zum Schmied." „Zu Befehl, Genösse Verwalter." „Im Betrieb: militärische Disziplin! Das ist eines unserer alten Grundgesetze, Hans, außerhalb des Betriebes sind wir alle gleich. Du, Führerschaft ist wirklich besser als Herrschaft." Er wendete um und fuhr im schlanken Trabe zurück. Nicht weit vom Hoftor trafen sie auf die Familie, die ihnen entgegenkam, der siebenjährige Fritz hoch zu Roß auf dem recht ungebärdigen Pony, das vergebens versuchte, eine Miniaturausgabe von kicking Mustang, seinen lachenden kleinen Reiter abzuwerfen. Hinter ihm schritten Erika, die dreijährige Katja auf dem Arm, und ihr Bräutigam. Sie war hochgewachsen, aber neben dem riesigen Mann an ihrer Seite erschien sie klein. Das kleine Mädchen strampelte ungeduldig. „Buschi, Buschi." Die Tante reichte es dem strahlenden Vater in den Wagen. „Nimm du die Zügel, Hans, die kleine Kröte läßt mich ja nicht in Ruhe." Zufrieden nestelte sich das braune Köpfchen an seine Schulter. „Ja, du wunderst dich; die Kinder sprechen gerade so gut polnisch wie deutsch. Katjas Wahltante war eine Czartoryska aus der Lubliner Gegend. Jetzt ist sie Frau Debbin, sie hat meinen Vetter geangelt, drüben im Nachbargau auf Alt-Debbin." Frau Maria entging mit Glanz dem Hungerturm. Die Rebhühner in ihren appetitlichen Speckhemdchen waren knusprig und der Mosel gut gekühlt. Die Tafelrunde war groß: Maria's Eltern und ihre Schwägerinnen waren dabei. Nach dem Abendessen saß man noch auf der Veranda zusammen unter den Sternen, die sich im See spiegelten. Die Männer rauchten ihre Pfeife, das Gespräch ging über alle Höhen und Tiefen. Hans Bachmüller kam aus dem Erstaunen nicht heraus. „Mensch", flüsterte er Stas zu, „dein Schwiegervater, das ist ja fabelhaft. Ist das der deutsche Bauer von heute?" „Na, weißt du, er steht ein ganzes Stück über dem Durchschnitt. Manierlich und gebildet sind sie ja alle, dafür sorgen die Bauernhochschulen und die Wanderjahre. Aber Bur Schulthess, - das ist doch eine Klasse für sich. Ein Sinnierer, ein Mystiker, Meister Eckhart oder Tauler in neuer Ausgabe. Sein bester Freund ist der große Philosoph Waxwell in Oxford, mit dem er dauernd korrespondiert. Und du müßtest mal dabei sein, wenn er sich mit unseren beiden Seelenhirten, dem Pfarrer und dem Kuraten, über die höchsten Dinge unterhält. Da sprühen Funken, und am lustigsten ist es, wenn unser Doktor dabei ist. Der spielt sich als Freidenker auf - um die anderen zu reizen. Ja, Bur Schulthess hat die ganze Philosophie intus. Das Haus ist voller Schmöker. Mir graust davor. Aber seine Wirtschaft: Hut ab. Ein lateinischer Bauer ist er doch nicht." „Wie vertragen sich denn die beiden theologischen Fakultäten?" „Ausgezeichnet! Natürlich möchte jeder den anderen bekehren. Aber das tut der Freundschaft keinen Abbruch. Die feindliche Konkurrenz hat auch hier aufgehört, seit wir alle wirklich Christen sein können und dürfen. Allzuviel Sünden haben sie nicht mehr zu vergeben, und bei der Krankenseelsorge und dergleichen vertreten sie sich sogar oft. Sind ja auch beide Bauernsöhne aus der Markgenossenschaft und alte Schulkameraden." Aus dem Park klang es leise. Instrumente wurden gestimmt. „Eine kleine Überraschung", sagte Maria. „Der Kantor hat sich's nicht nehmen lassen, dich zu begrüßen, Hans. Der Musikverein Lubenice bittet um geneigtes Gehör." Ein Vorspiel von Geige, Bratsche, Cello und Flöte. Dann erklang es vierstimmig, prächtig schwebten der helle Sopran und der klingende Alt der Kinderstimmen über den tieferen Stimmen der Erwachsenen:

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,Des Sonntags in der Morgenstund.' Dann folgten zwei der Brahmsschen Donaulieder, und dann in polnischer Sprache zwei der schönsten Lieder Chopins: .Könnt ich als Sonne hoch am Himmel schweben', und ,Schön war der Morgen und hell schien die Sonne'. Während des Gesangs hatte sich der Park mit festtäglich gekleideten Menschen gefüllt, und auf dem See glitten die Barken dahin, beleuchtet von chinesischen Papierlaternen. Fast die ganze Markgenossenschaft war erschienen. Vor dem Parktore hielten die Kraftwagen zu Dutzenden. Als der Gesang zu Ende war, brach tosender Beifall aus. „Noch eins, noch eins", bettelte es von allen Seiten. Kantor Wernicke hob den Taktstock. Und nach den ersten Worten stimmte die ganze mehrhundertköpfige Menge schallend ein. Stanislaus Debbin wandte sich mit leuchtenden Augen zu Hans: „Urgroßvaters Siedlerchor. Ich wollte, er könnte uns sehen und hören!" Wir wollen nicht Herr sein und nicht Knecht, Wir wollen leben nach eigenem Recht. Wir fordern für uns der Freiheit Pfand, Gottes Erbe am deutschen Land. Wir pflügen, wir graben, ein heiliger Bund, Die deutsche Freiheit aus dem Grund. Wir wollen nicht arm sein und nicht reich. Brüder sind wir, und Brüder sind gleich. Wir gönnen jedem der Freiheit Pfand, Gottes Erbe am deutschen Land. Wir pflügen, wir graben, ein heiliger Bund, Die deutsche Bruderschaft aus dem Grund. Ein Feld, nicht größer als unsere Kraft, Ohne Knechte die Arbeit schafft. Ein Haus, ein Bett, eine Wiege, ein Pflug, Spaten und Hacke sind Reichtums genug. Wir pflügen, wir graben, ein heiliger Bund, Die deutsche Heimat aus dem Grund. Wir gieren nicht nach fremdem Gut, Wir wahren das unsre mit festem Mut, Wir lohnen ehrlich redlichen Fleiß, Wir fordern und geben gerechten Preis. Wir pflügen, wir graben, ein heiliger Bund, Den Wucher für immer in den Grund. Mit Waffen dräut es von Ost und West, In den Städten wütet der Zwietracht Pest, Die Welt, sie ward zum Teufelsspott: Wir wissen und wandern den Weg zu Gott, Wir pflügen, wir graben, ein heiliger Bund, Den Frieden der Welt aus dem deutschen Grund.

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XIV. Kapitel „Das Fünklein" Bur Schulthess hatte seinen Gast auf einen niedrigen Hügel geführt, der von hohen Buchen umstanden war. Er gewährte einen schönen Blick über den Strom und die helle Weite der Ebene bis an die blauen Wälder in der Ferne. Die Glocken gingen übers Land - es war Sonntag. „Nein, Vater Schulthess", rief Bachmüller. „Es genügt mir nicht. Ich sehe ja alles ein. Gewiß: Ihr habt die Monopole abgeschafft; gewiß: seitdem besteht der Wettbewerb zwischen Gleichen; gewiß: seitdem kann der Eigennutz des einen dem anderen nicht mehr schaden. Der Mechanismus ist vollkommen - aber es ist und bleibt doch ein Mechanismus. Und das kann es nicht sein. Diese Harmonie muß tiefer wurzeln." „Du bist auf dem rechten Wege. Nein, diese Harmonie wurzelt nicht im Eigennutz, sondern in seinem Gegenteil!" „Im Altruismus?" „Altruismus! Ein blasses Wort! Ein nichtssagendes Wort! Eine reine Negation! Das photographische Negativ von Egoismus. Darum allein konnten gewisse Leute auf die plumpe Idee kommen, er sei nur verfeinerter Egoismus. Nein, was ich meine, ist etwas sehr Positives, sehr Mächtiges, das auf die Dauer mächtiger ist als alle Selbstsucht. Die Mystiker nannten es den ,Seelengrund' oder das ,Fünklein'." Leise und feierlich sagte Bachmüller: „Es ist ein Etwas in der Seele, aus dem entspringt Erkenntnis und Liebe." Schulthess sah ihn prüfend an: „Du hast Meister Eckhart gelesen? Hast du ihn auch verstanden?" „Verstanden? Kaum. Aber erfühlt, hoffe ich." „Du stehst auf der Schwelle, Bruder. Du hast den Durchbruch erlebt?" „In seltenen Momenten. Als ich die mystische Einheit mit der geliebten Frau erlebte, die mir das Schicksal nahm; und sehr stark im August 1914, als über alle Völker der selige Rausch kam der Opferbereitschaft, des überwältigenden Bewußtseins: Tod, wo ist dein Stachel?" „Das kam aus dem Seelengrunde! Wenn das Blatt sein Blattsein vergißt und sich als Baum und sogar als Wald empfindet; wenn der Tropfen sich als Ozean erfühlt, dann erlischt das Ich im Wir, die Selbstsucht in Gott. Das ist der tiefste Inhalt aller Religion und Philosophie. Piaton, Spinoza, Schopenhauer, sie meinen alle das gleiche. Das im strengen Sinne Nichtseiende verliert sich selig im eigentlichen Sein, in der Idee; der Modus sinkt zurück in die Substanz, die Gott ist; der ewig hungrige Wille zum Leben entrinnt seiner Not in die ewige Ruhe des Nirwana." „Sprich weiter." Die tiefen Augen unter der hohen Stirn schauten blicklos ins Weite. Die Falten um den Mund wurden schärfer. Bur Schulthess schwieg lange. Dann seufzte er. „Kaum kann man davon sprechen. Es ist der zarteste Schmetterling; berühre ihn mit der sanftesten Hand, und der Schmelz der Farben ist dahin. Es ist das Leben selbst in seinem letzten Geheimnis: du tötest es, wenn du es enthüllst. Mystik kann nur stammeln, kann kaum in dichterischen Bildern andeuten, was sie erlebt." „Führe mich über die Schwelle, Bruder." „Weiter kann dich niemand führen, - nur zur ersten Anschauung. Erleben muß das Letzte in seiner Seele Einsamkeit, wem Gott die Tiefe gab in der er versinken mag. Ich will's versuchen. Du ließest soeben Meister Eckhart sprechen, ich bringe den Satz zu Ende: ,Es ist ein Etwas in der Seele, aus dem entspringt Erkenntnis und Liebe. Das erkennt selber nicht, noch liebt es, es hat

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nicht Vor oder Nach und wartet nicht auf ein Hinzukommendes. Es ist ewig dasselbe, das nur sich selber lebt - wie Gott.' Du magst das dunkle Wort so deuten: des Menschen Seele besitzt die Fähigkeit zur Erkenntnis und zur Liebe; sie braucht auf nichts zu warten, was hinzukommt, auf keinerlei Erfahrung. Vor aller Erfahrung hat der Mensch die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und Gut und Böse zu unterscheiden. Das ist ihm eingeboren, wie dem Säugling der Trieb, der nach der Mutter Brust sucht, die er nicht kennen kann. Die Erkenntnis braucht er, um sich in der Welt, die Liebe, um sich in der Gemeinschaft zu bewähren. Die Erkenntnis dient dem Ich und seiner Lebensnot; sie ist ichsüchtig, hungrig, will das Erreichbare an sich raffen. Die Liebe dient dem Wir; sie ist reich und will verschenken, will sich aus Fülle, im Uberschwang der Kraft, verschwenden." „Science et conscience", sagte Hans. „Proudhon." „Herrlich! Ja, Wissen und Gewissen! Das sind die beiden Punkte in der Ebene, durch die dem Menschen seines Lebens Linie bestimmt ist. Das Wissen sagt ihm, wie er handeln mttß, um nicht zu Schaden zu kommen. Das Gewissen sagt ihm, wie er handeln soll, auf jede Gefahr hin. Das ist der kategorische Imperativ: das Gewissen hat den Vorrang vor aller Klugheit. Aber das Wissen aus Liebe, nennen wir es die Vernunft, ist auch weiser als das Wissen aus Erkenntnis, der bloße Verstand." „Erkläre!" „Der Verstand kann irren und irrt überoft: die Vernunft irrt nie. Sie zeigt unverkennbar und unverrückbar jedem geistig Gesunden seine Pflicht." „Das mag für deine Zeit Wahrheit sein: für die meine klingt es mir wie böser Hohn." „Es gilt für jede Zeit, auch für die deine. Ich sagte, die Vernunft zeigt jedermann seine Pflicht. Jedermann vernimmt das Wort. Ich sagte nicht: die Vernunft zwingt jedermann zur Erfüllung seiner Pflicht. Die Stimme des Gewissens kann von der Begier überschrien, die Vernunft kann vom blinden Triebe überrannt werden: aber sie spricht deutlich zu jedermann. Alle Bücher der Geschichte sind voll von Gewalttat, aber immer hat die Gewalt versucht, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Immer hat der Wolf das Lamm beschuldigt, ihm das Wasser zu trüben. Immer wirft das Unrecht den Mantel des Rechts um; es betrügt das Gewissen." „Laß mich dir ein wundervolles Wort von Richard Dehmel sagen: Jede Fratze zeugt für den Gott, den sie entstellt'." „Ja, und das ist der Beweis dafür, daß das Wort gehört wird. Wer Gewalt üben will, muß Grund zu Haß haben oder sich einbilden, sonst erträgt er sich nicht. Klassenhaß, Massenhaß, Rassenhaß, Völkerhaß müssen immer den Scheingrund liefern für das Unrecht, das die Begierde begehen will." „Als der Weltkrieg ausbrach, waren wir Deutschen plötzlich Hunnen und Barbaren, Kinderschlächter und Frauenschänder." „Siehst du, so war es immer und überall. Wo eine Gruppe der anderen Gewalt antat, da erschien diese entweder als verabscheuungswürdig, sei es als Götzendiener oder als Ketzer, als Friedensstörer oder Frevler an der Sittlichkeit; oder sie erschien als minderwertige Rasse, die von der Natur oder von Gott dazu bestimmt war, der besseren Rasse zu dienen oder Platz zu machen. So rechtfertigte sogar ein Aristoteles die Sklaverei. ,Sklaven von Natur' waren ihm alle Barbaren, auch die der weißen Rasse, auch die Germanen, und geradeso rechtfertigten die Südstaatler die Negersklaverei. Nicht heuchlerisch, als bloßen Vorwand, nein: im vollen guten Glauben an ihr göttliches Recht." „Gerade wie die Bürger ihr Verfahren mit den Arbeitern, und die Sowjets das ihre mit den Bürgern. Aber, was hilft uns das, wenn das Gewissen zwar spricht, aber nicht befolgt wird?" „Das Wort verhallt niemals gänzlich. Überall fordert der imbeteiligte Dritte, daß die streitenden Parteien ihm folgen. Immer fällt sein Gewicht in die Waagschale der Entscheidung. Und - war es auch nur gering, die Menschheit verdankt ihm doch ihren langsamen Fortschritt, die Aufhebung

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der Sklaverei, der Hörigkeit, des feudalen Unrechts und zuletzt - die Erlösung." „Damit sind wir wieder bei unserem Thema." „Gewiß! Die Triebkraft war nicht der Eigennutz. Der atomisiert die Gesellschaft, und noch so viele einzelne Wassertropfen brechen keinen Damm. Das vermag nur die vereinigte Woge. Wenn die Menschen nicht aus ihrem Seelengrunde heraus gewußt hätten, daß eure Gesellschaft auf Unrecht gegründet war, niemals hätten sie den Damm der Vorurteile zerbrechen können. Nur weil es Unrecht war, erlahmte der Widerstand der Begünstigten; nur weil es Unrecht war, spannte sich in den Unterschichten die Kraft der Empörung, bis die Fessel zerbrach. Wenn sie es nur für ein Unglück gehalten hätten, für die Folge eines Naturgesetzes ..." „Wie Malthus es haben wollte." „Ja, das war teuflisch klug. Dann hätten die Begünstigten das böse Gewissen nicht gegen sich, und die Massen das gute Gewissen nicht für sich gehabt. Dann hätten sie sich ergeben in ihr Schicksal gefügt, wie in ein Erdbeben oder eine Sturmflut. So aber erkannten sie, nachträglich, daß diese Ordnung auch sinnwidrig war. Wissen und Gewissen kamen auf einen Punkt. Und wie immer, ging die Vernunft voraus, und der Verstand folgte nach; sie erschaut - und er beweist." „Ist das die Regel?" „Für das, um was es hier geht, für alles Gemeinschaftsleben, unbedingt. Sieh, schon das Tier in der Herde weiß, aus der Liebe heraus, daß alle anderen Tiere der Herde mit ihm einen einzigen Körper bilden, und der Mensch weiß es um so mehr, schon auf der tiefsten Stufe, der Stufe der altsteinzeitlichen Jäger, der Primitiven. Dann kündet Jesus die Gotteskindschaft aller Menschen ohne Unterschied der Farbe und Rasse, und vor ihm hat Buddha schon zu aller Kreatur überhaupt .Bruder' gesagt. ,Das bist du selbst', tat twam asi. Aber es hat zwei Jahrtausende gedauert, ehe die Wissenschaft es mit der Entwicklungslehre bestätigte." „Wie das?" „Indem sie zeigte, daß alles Leben, Pflanze, Tier und Mensch, aus einer einzigen Wurzel stammt. Daß es, streng genommen, überhaupt nur ein einziges Alleben gibt. Daß das Individuum nicht existiert. Jeder von uns war einmal ein Leibesorgan seiner Mutter, war mit ihr zusammen ein einziges Individuum im landläufigen Sinne: kann der Schlag der Schere, der die Nabelschnur zerschneidet, aus einem Individuum, einem ,Unteilbaren' zwei machen? Unsere Mütter waren ebenso einmal Organe ihrer Mütter, und so kommst du zurück bis zu der Mutter, die nicht mehr ganz Affin und noch nicht ganz Menschin war, und weiter zurück bis zur ersten Zelle, die weder Pflanze noch Tier war. Aus der Einheit von Mutter und Kind stammt die Familie, stammt die Gemeinschaft, stammt die .Liebe' und alle Gerechtigkeit und Sittlichkeit, stammt alles Recht und alle Pflicht. Und das war die Kraft, die unsere Harmonie erschuf, - nicht aber der Eigennutz." „Ich verstehe - und dennoch! Wie konnte es so viele Jahrtausende dauern, bis die Liebe sich durchsetzte? Wie war so lange so schweres Unrecht möglich?" „Das ist einfach zu erklären. Die Liebe des Menschen erstreckt sich ursprünglich nur auf die Genossen der eigenen Gruppe. Sie sind seine Brüder, mit ihnen ist er eins. Daher erkennt er ihnen die Gleichheit der Würde und des Rechtes zu, empfindet er ihnen gegenüber die Verbindlichkeit der Pflicht. Aber der Nichtgenosse hat kein Recht, ihm gegenüber gibt es kein Unrecht und keine Pflicht. So ward der Mensch gleich Parzival unschuldig-schuldig. Aber - man mag, wenn man will, den Plan Gottes darin erkennen - die Gewalt, die der Mensch dem Menschen antat, schmiedete aus den zuerst getrennten kleinen immer größere vereinte Gruppen; der Kreis der Genossen erweiterte sich mehr und mehr, die Rechte hatten und denen man Pflichten schuldete, bis endlich die großen Seher die Einheit allen Menschentums, ja allen Lebens überhaupt erfühlten, aus ihrer ,Liebe' heraus, und die ,Erkenntnis' es bestätigte." „Aber dann? Seit anderthalb Jahrtausenden ruht unsere Kultur auf dem Christentum. Wie konnten Christen ...?"

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„Gerade das Christentum als gefestigte Religion bildete lange ein schweres Hindernis. Der mittelalterliche Katholizismus war der religiöse Uberbau des Feudalismus, an dessen Privilegien die Kirche namentlich als Großgrundbesitzerin teilnahm. Sie war selbst Mitinhaberin des grundlegenden Monopols, mußte also die Ungleichheit als gottgewollte Ordnung auffassen. Nun ist aber klar, daß der unbeschränkte Wettbewerb zwischen Ungleichen zur Anarchie und zum Chaos führt. Daher die Lehre von der Erbsünde, der verderblichen Selbstsucht; daher die Aufgabe der Kirche, sie als Mittler zwischen Gott und Mensch im Zaum zu halten. Hierin wurzelt die ganze katholische Lehre von der Wirtschaft: Zinsverbot usw." „Was brachte den Umschwung?" „Der Rationalismus der Neuzeit, vor allem die Entdeckung, daß der wirtschaftliche Eigennutz auch gute Folgen haben kann, ja, daß er in seinen Grenzen überhaupt nicht sündig ist. Von hier aus entwickelte sich allmählich die richtige Erkenntnis, die Hegel zuletzt als die ,List der Idee' bezeichnete. Sie liegt aber bereits den leitenden Gedanken Rousseaus, von dem sie zu Kant kam, und der großen Theoretiker der Volkswirtschaft, namentlich des Adam Smith, zugrunde. Gott, oder, wie man damals sagte, die Idee, bedient sich des Eigennutzes als des Werkzeuges, mit dem die Harmonie erreicht wird, weil sich die widerstreitenden Interessen sämtlich ins Gleichgewicht einstellen müssen. Aller Optimismus, die ganze hinreißende Zukunftsgläubigkeit der klassischen Philosophie, beruht einzig und allein auf dieser Uberzeugung. Als sie verlorenging, trat die Verzweiflung des Pessimismus an ihre Stelle: Schopenhauer, Eduard von Hartmann, und kam der ganze Spuk der Romantik wieder zur Herrschaft, deren Ideale nicht vorwärts, über den geschichtlichen Gewaltstaat hinaus, sondern rückwärts, in ihn hinein, weisen. Hier wurzelt die ganze Steuerlosigkeit, das ganze moralische Elend eurer Zeit. Weil sie an Gott verzweifelte, verschrieb sie sich dem Teufel - Gewalt ist Recht, ja geradezu Pflicht, im Dienste der Wirtschaft, des Staates, der Nation, der Rasse. Die prachtvolle Bestie entscheidet, aus ihrem unfehlbaren Instinkt, was wahr, gut und schön ist. Gut ist, was ihr nützt, wahr, was ihr schmeichelt, schön, was ihr gleicht. Erkenntnis und Liebe werden verfehmt, die Moral ist nichts als ,Sklavenaufstand', der Geist verächtlicher Intellektualismus, er spielt geradezu die Rolle des Teufels in dieser wirren Welt der Teufelsanbeter." „Aber die Lehre war doch wahr! Die List der Idee erwirkt doch wirklich die Harmonie. Wie konnte die Uberzeugung schwinden, nachdem sie einmal gewonnen war?" „Die Lehre war unvollständig und daher unvollkommen. Nur aus dem Wettbewerb der Gleichen ergibt sich die Harmonie. Die großen Köpfe des achtzehnten Jahrhunderts wußten noch nicht, was Gleichheit bedeutet." „Sie wußten noch nichts vom Monopol?" „Doch! Sie sahen sehr wohl, daß alle vom Klassenstaat geschaffenen Rechtsmonopole, alle Privilegien die Bewegung zum Gleichgewicht störten, und forderten ihre Beseitigung, um die .positive' zur natürlichen Ordnung' zu gestalten. Aber sie erkannten nicht, daß im Eigentum viel gefährlichere Monopole wurzelten, vor allem im großen Grundeigentum. Sie glaubten, die Gleichheit des bürgerlichen Rechts allein genüge, und befreiten den Menschen. Aber sie sahen noch nicht, daß auch die Erde befreit werden mußte. Und so wurde der Wettbewerb, den sie entfesselten, den sie für gleich hielten, ein Wettlauf zwischen Reitern auf schnellen Rossen und schwerbelasteten, ja oft mit Fesseln beschwerten Läufern." „Nun verstehe ich alles. Das wahrlich ist das rechte Bild des Kapitalismus. Jetzt aber laufen alle wie ehrliche Sportleute mit gleicher Last vom gleichen Start zum gleichen Ziele." „Und die List der Idee setzt sich durch. Der Eigennutz als Motor des Gesamtnutzens! Und damit hat die Menschheit die schwerste ihrer Krisen überwunden, die Verwirrung ihrer Seele. Sie kann nicht gedeihen ohne den Glauben an die göttliche Ordnung. Den hat sie wieder gewonnen, und fester als je, unerschütterlich für alle Zeiten. Denn jetzt zum erstenmal wird der Glaube durch die Wissenschaft bestätigt. Was die Liebe, der Gott in uns, fordert, hat die Erkenntnis als die höchste

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praktische Weisheit erkannt. Wissen und Gewissen sind endlich einig geworden. Und können nie wieder auseinanderweichen." „Wenn Gott ist, wozu der lange schmerzliche Umweg?" „War es ein Umweg? Ohne die Gewalt wären aus den vereinzelten Horden niemals die Völker, aus ihnen niemals die Menschheit geworden. Ohne die Gewalt hätten die Menschen niemals die Arbeit erlernt; ohne die Arbeitsteilung in den größeren Kreisen hätten sie nie den Reichtum geschaffen, der ihnen die Freiheit gibt, hätten sie niemals Wissenschaft und Kunst geschaffen. Du magst die Weltgeschichte seit der Gründung der Gewaltstaaten als die Pubertätskrise der Menschheit auffassen; neue Kräfte und Säfte regten sich, störten den Leib und beunruhigten die Seele. Jetzt ist die Menschheit endlich erwachsen und kann sich ihren großen Aufgaben widmen: zuerst der, die Elementarkräfte mehr und mehr zu bändigen, und vor allem die stärkste und gefährlichste von ihnen, die ungeheure Kraft, die sich im Prozeß der Vergesellschaftung selbst bildet. Sie hat mehr Opfer gekostet, als alle Erdbeben und Sturmfluten. Vor allem aber: das .Fünklein' zur hellen Flamme anzufachen, die durch Erkenntnis erleuchtet und durch Liebe erwärmt, den Staat Gottes und des Rechtes auszubauen und immer herrlicher zu schmecken, den Menschen das Glück zu bringen der wahren Bildung, die das Vorzugswürdige erkennt, will und tut. Wir haben nicht mehr mühselig für unseren Leib zu sorgen: wir sorgen nur noch für Seele und Geist, die endlich, und für immer einig sind. Bist du befriedigt?" „Ja, jetzt verstehe ich das Letzte. Der Mechanismus des Wettbewerbs der Gleichen zwingt uns nicht von außen her wie tote Dinge, wie Schneeflocken, die der Wind zur Ebene ordnet, sondern wir folgen ihm aus innerer Freiheit, weil wir das Recht des Mitmenschen so freudig anerkennen wie das eigene. Nicht Knechte sind wir der Materie, sondern ihre freien Herren." „Das ist der tiefe Sinn, Bruder. Und sieh, du bist aus der Zeit in die Zeit gereist. Heute aber haben wir beide die Reise in das Zeitlose gemacht. Dazu braucht es keiner Zeitmaschine, sondern nur der Flügel des Geistes und der Kraft der Liebe."

Wie der Frieden aussehen sollte [1937/38]1

Europas ganzer Jammer wurzelt in zwei Problemen: der Zoll- und der Sprachenfrage. Das folgende ist ein Plan, sie auf die Dauer zu lösen; auf dem so geschaffenen Boden mögen dann Pläne wie „Union now" zur weiteren Ausgestaltung führen, und könnte „Moral Rearmament" den praktischen Weg zu seinem idealen Ziele finden: Frankreich und Deutschland [,..]2 schließen mit sofortiger Wirkung einen ewigen Vertrag der Wehr- und Wirtschaftsgemeinschaft unter den folgenden Bedingungen.

I. Aus dem linksrheinischen Deutschland und Elsaß-Lothringen wird ein neutraler Zwischenstaat mit eigener Verwaltung gebildet, in dem die beiden Sprachen völlig gleichberechtigt sind. Binnen zehn Jahren muß jeder Beamte beide Sprachen in Wort und Schrift vollkommen beherrschen. Beide Sprachen sind offizielle Schulsprachen mit der Maßgabe, daß der Erstlingsunterricht in der herrschenden Sprache des Schulbezirks erteilt wird. Ebensolche zwiesprachigen neutralen Zwischen- und Pufferstaaten werden von Polen und der Tschechoslowakei, die zu restituieren sind, im Einvernehmen mit Deutschland errichtet. Im Verhältnis zu Polen geht der früher zum Deutschen Reiche gehörige Teil von Posen und Westpreußen samt Danzig, im Verhältnis zur Tschechoslowakei das Sudetengebiet ein. Bedingimg ist, daß die beiden rekonstruierten Staaten dem Bunde beitreten. [...]

II. Die Verbündeten schaffen mit sofortiger Wirkung alle bestehenden Zölle und Grenzabgaben aller Art ab, die zwischen ihnen bestanden; im Verhältnis zu außenstehenden Mächten schließen sie als Bund Handels- und Zollverträge.

1 2

[Bislang unveröffentlichte Denkschrift, vermutlich aus dem Jahre 1937/38, 20 MS; Central Zionist Archives, Jerusalem; A.d.R.] [Die eckige Klammer zeigt hier wie im folgenden von Oppenheimer gestrichene Passagen in seinem Manuskript an, A.d.R.]

Wie der Frieden aussehen sollte

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III. Jeder beitretende Staat bringt seine Kolonien in den Bund ein mit der Maßgabe, daß alle Untertanen der Bundesglieder dasselbe aller Rechte genießen, die die Untertanen des betreffenden Staates haben, also namentlich in bezug auf Grenzgebühren, Niederlassungsrecht, Erwerb von Grundeigentum usw. Die Verwaltung bleibt vorläufig bei dem besitzenden Staate, der auch ihre Kosten trägt, bis er selber eine andere Regelung anregt.

IV. Um schwere Erschütterungen des Wirtschaftslebens zu vermeiden, und zugleich, um wahrscheinlichem Widerstand gegen den Vertrag zu begegnen, verpflichtet sich der Bund, jeden Betriebsinhaber auszukaufen, der erklärt, bei Zollfreiheit nicht bestehen zu können. Der Kaufpreis soll grundsätzlich ein bestimmtes Vielfaches des von dem Betriebsinhaber im Durchschnitt der letzten etwa zehn Jahre versteuerten Reineinkommens aus dem Betriebe betragen.

V. Zu dem Zwecke errichtet der Bund eine Bundesbank, deren Anteile von den beteiligten Staaten eingezahlt werden. Sie erwirbt die ihr angebotenen Betriebe, verwaltet sie unter möglichster Fortführung der Produktion, um Entlassungen im großen Ausmaße zu vermeiden, und stößt sie so bald wie möglich an solvente Käufer wieder ab. [...]

VI. Dieser Bund mit einer Gesamtbevölkerung, die der der Vereinigten Staaten überlegen ist [...] und seiner gewaltigen Industrie ist wahrscheinlich vor jedem Angriff sicher. Dennoch sichert er sich an seinen Grenzen durch Befestigungen nach Art der Maginot-Linie und unterhält eine Bundesarmee von genügender Zahl, um diese Befestigungen zu halten. Der große Reichtum des Bundes wird es ihm gestatten, sein Heer mit den jeweils erreichbaren besten Waffen auszurüsten. Er unterhält eine See- und Luftflotte, stark genug, um jeder möglichen Kombination feindlicher Mächte gewachsen zu sein. Sämtliche Offiziere müssen die beiden Sprachen vollkommen beherrschen.

VII. Die beteiligten Staaten bleiben im Besitz ihrer vollen Souveränität mit einziger Ausnahme der Wehr- und Zollunion. Als deren Organe sind erforderlich ein Bundespräsidium, ein Bundesrat, ein Bundesparlament und vielleicht ein Senat. In dieser Skizze ist es weder möglich noch notwendig, sich des Längeren über die Verfassung zu äußern; in der Verfassung der Vereinigten Staaten, der Schweiz und des früheren norddeutschen Bundes sind genügend Vorbilder gegeben. [...]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen

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VIII. Die Bundesstaaten setzen Kommissionen ein, um die Vereinheitlichung des Handels- und Wechselrechts und die Koordination des Verkehrs auf Eisenbahn, Fluß-Schiffahrt, in Post, Telefon, Telegraph, Radio vorzubereiten, die Zusammenarbeit der Kriminalpolizei zu verbessern und die Vereinheitlichung der Währung zu beraten.

IX. [...] Für etwa vorkommende Streitfälle wird ein Bundes-Schiedsgericht eingesetzt.

X. Die Bundesstaaten fügen ihren Strafgesetzbüchern Paragraphen ein, die die Verbreitung aufhetzender Gerüchte und Nachrichten, die gegen ein Bundesglied gerichtet sind [...] und die Beleidigung der Ehre oder Flagge eines Bundesgliedes mit schwerer Strafe bedrohen.

Motive Zu I. Das Ziel ist selbstverständlich die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa. Aber der Versuch, dieses Ziel mit einem Male zu erreichen, hat keine Aussicht auf Erfolg. Man kann nicht so viele Staaten, selbst wenn man sie nach dem Mißerfolg des Völkerbundes, an einem runden Tisch wieder zusammenbringen könnte, auf eine gemeinsame Verfassung einigen. Das gegenseitige Mißtrauen ist zu groß, und namentlich die kleineren neutralen Mächte werden immer fürchten, daß man sie nur für die Machtzwecke einer Gruppe mißbrauchen wird. Man muß also schrittweise vorgehen. Und da ist notwendigerweise mit dem Paar der Großmächte zu beginnen, deren Erbfeindschaft die Hauptursache der europäischen Verwirrung ist. Bei ihr hat die Politik des „divido et impera", auch genannt „des Gleichgewichts der Mächte" von jeher eingesetzt. Frankreich und Deutschland haben unter diesem chronischen Konflikt am schwersten gelitten und können, als die höchst zivilisierten Völker des Kontinents, den dauernden Kriegszustand auf die Dauer nicht mehr ertragen. Auf einer Quadratmeile Westdeutschlands oder Ostfrankreichs ist mehr an Reichtum und Kulturmonumenten zu zerstören als auf hundert Quadratmeilen in Osteuropa. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch die herrschenden Klassen beider Länder, die den Ausschlag geben werden, einem Plane zustimmen werden, der eine erhebliche Verminderung der unerträglich gewordenen militärischen Lasten in Aussicht stellt, zumal sich herausgestellt hat, daß ein moderner Krieg auch den Sieger ruiniert, und weiterhin die Gefahr der Bolschewisierung ganz Europas oder die Erziehung Frankreichs droht, wenn sein Militarismus immer gewaltiger anwächst. Jedenfalls muß es versucht werden, denn hier liegt fast die einzige Hoffnung Europas, aus dieser Krise der imperialistischen Ordnung einigermaßen unversehrt hervorzugehen.

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Zwischenstaaten

Die neutralen Zwischenstaaten, die zu schaffen hier vorgeschlagen wird, würden zunächst einmal wirksamere Werke des Grenzschutzes sein als selbst die Maginot-Linie. Weder Frankreich noch Deutschland würden sich so leicht entschließen können, ein Gebiet zum Kriegsschauplatz mit allen seinen Zerstörungen zu machen, in dem ihre Konnationalen und ihr nationales Kapital einen Hauptteil des gesamten Reichtums und der gesamten Bevölkerung darstellen. Diese so lange umkämpften Grenzlande würden somit zu Brücken des Friedens werden. Die Sprachenfrage wäre völlig gelöst. Binnen kürzester Zeit würden alle jüngeren Bewohner der Gebiete die beiden Sprachen beherrschen, wie heute in der Schweiz und im Ladinergebiet fast alle Erwachsenen mehrere, oft genug vier Sprachen sprechen. Mehr noch: die kleineren Sprachtümer wie die der Polen und Tschechen, später der Balkanvölker, würden eine Ausdehnung und einen kulturellen Wirkungskreis erlangen, die sie niemals erhoffen konnten.

Bundesbank Die Bundesbank bedarf keines großen Eigenkapitals, da ihre Obligationen, gedeckt durch den vereinten Reichtum der Bundesglieder, eine begehrte Anlage sein werden. Es ist nicht anzunehmen, daß viele Betriebsinhaber sich entschließen werden, ihren Besitz an den Bund zu verkaufen, und ebensowenig, daß der Bund an den von ihm erworbenen Betrieben große Verluste haben wird. Es wird nämlich eine sehr starke Hochkonjunktur einsetzen. Schon aus dem Grunde, weil der Wirtschaftsbund einen so viel größeren Markt geschaffen hat, nach dem alten Satz der Nationalökonomie „doppelter Markt, vierfacher Reichtum". Dann aber, weil das Vertrauen auf stabile Verhältnisse der Politik und der Wechselkurse vorhanden sein wird, und weil der Fortfall eines großen Teiles der bisherigen, erdrückenden Ausgaben für Rüstungen es den Staaten sehr bald möglich machen wird, ihre Schulden nach unten zu konvertieren und allmählich abzuzahlen, und darum die Steuern zu ermäßigen.

Währung Mit der geplanten Ordnung ist jede erkennbare Ursache für neue Inflation und neuen Verfall der einzelstaatlichen Währungen verschwunden. Ihr Kurs gegen Gold kann ein für alle Male fixiert werden. Somit wird das Pari der Wechselkurse nur noch zwischen den Goldpunkten schwanken. Schon das würde die Rückkehr zur Goldwährung bedeuten. Sie ließe sich aber ohne jede Erschütterung der Märkte noch vollkommener in folgender Weise erreichen: Alle Staaten des Bundes prägen Goldmünzen des gleichen Gewichts, die ihren Namen und ihr Wappen und die Bezeichnung des Grammgewichts tragen, etwa drei, fünf, zehn Gramm Feingold. Da sie wertgleich sind, zirkulieren sie überall ohne Agio und bilden eine ideale Handelsmünze, die neben der Landeswährung umläuft wie früher die Guinea in England und der Friedrichsdor in Preußen. Diese Goldmünze würde sehr schnell in ein festes Wertverhältnis zu der wertfest gewordenen Landeswährung erlangen, und es wäre dann ein Leichtes, die Landeswährungen, Banknoten und Staatsschuldscheine auf diesen Goldkurs zu konvertieren.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

Schiedsgericht Es ist nicht abzusehen, aus welchen Ursachen zwischen den Bundesstaaten ernste Konflikte ausbrechen könnten. Grenzfragen können nicht auftreten, da die Zwischenstaaten selbstverständlich völlig entfestigt und demilitarisiert sind: sie bedürfen keines Schutzes als des Interesses der beiden mächtigen Nachbarn, sind aber auch keiner aggressiven Handlung fähig, an der sie übrigens kein erkennbares Interesse haben können. Sprachenfragen können nur allenfalls dann auftreten, wenn es sich darum handelt, in welcher von beiden Sprachen der Erstlingsunterricht in den Schulen eines bestimmten kleinen Bezirks erfolgen soll, in dem beide Sprachengruppen ungefähr gleich stark vertreten sind. Daraus kann unmöglich ein Konflikt ernsterer Natur erwachsen, wenn nicht mehr mit dem Bekenntnis zu einer den beiden Nationalitäten bestimmte Vorteile oder Nachteile verbunden sind. In dem hier konstruierten Falle würde man es den Eltern überlassen, in welche der betreffenden Volksschulen dieser oder jener Sprache sie ihre Kinder senden wollen. Zollfragen können in einem einmal gereinigten Zollgebiet so wenig wieder auftreten, wie es jemandem in Ohio einfallen würde, Schutzzölle gegen die übermächtige Konkurrenz von Maryland zu verlangen. Um so weniger hier, wo jeder Betriebsinhaber das Recht gehabt hat, sich vom Bunde auskaufen zu lassen, also niemanden als sich selbst verantwortlich machen kann, wenn er sich verrechnet hat, als er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machte. Ehrenfragen aber lassen sich bei gutem Willen, und der ist hier vorauszusetzen, wo alle Interessen parallel laufen, durch ein Schiedsgericht austragen. [...]

Weitere Schritte Der Bund wird nach dem Gesetz der politisch-wirtschaftlichen Gravitation starke Anziehung auf die anderen Staaten ausüben. Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sehr bald, nämlich nachdem sie sich von der Ehrlichkeit und der Dauer der neuen Organisation überzeugt haben würden, die Schweiz, Luxemburg, Belgien und die Niederlande sich entweder dem Zwischenstaate anschließen oder als eigene selbständige Glieder dem Bunde beitreten werden. Allen anderen europäischen Staaten steht der Beitritt ohne weiteres frei, wenn er von einer frei gewählten Volksvertretung beantragt wird. Es ist mit aller Sicherheit zu erwarten, daß weitaus der größte Teil der europäischen Staaten sich sehr bald anschließen wird, um die Vorteile des großen Marktes und der Friedenssicherheit mitzugenießen. Die hier vorgeschlagene Regelung der Sprachenfrage ist auch für die babylonische Verwirrung auf dem Balkan die einzig mögliche Lösung. In dem Maße, wie der Bund wächst, werden die beiden Agenden, die der zentralen Verwaltung vorbehalten sind, immer unwichtiger: die Heeres- und die Zollpolitik und -Verwaltung. Damit entfällt das letzte Moment, das zu ernsthaften Reibungen Anlaß geben könnte.

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[1941/42]1

Introduction This essay was written before the "eight points" were proclaimed. These represent but a wide frame, to be filled by detailed planning. The writer, therefore, is of the opinion that his propositions retain a certain value. The ultimate aim, of course, is to make future wars impossible by removing the political and economic causes of violent conflict. The more immediate aim, however, is to end this present war in as short a time as possible. This writer agrees with many outstanding personalities of this country in that the war could be shortened considerably - provided conditions of peace are offered which are acceptable to the peoples of the axis powers, although unacceptable to the dictators and their gangs. The people of Germany are afraid of a new, even more cruel treaty of Versailles; this fear seems to be not entirely unfounded: judging from the speeches of Anthony Eden, the diehards in England have "neither forgotten nor learned anything" and will certainly try to smash all hopes for a lasting and decent peace. Unless this specter is exorcised, once and for all, the German people will fight with the desperation of the cornered rat. The appalling sacrifices in goods and human lives which such a long war would mean to this country could be spared it - if the German people can be convinced that the signature of the president of the United States will be honored this time. This can be attained by a solemn plodge of the chief executive, solemnly accepted by senate and congress and by unambiguous treaties binding the allied powers to the same pledge. Then it is probable that the enormous, constantly-growing number of persons opposed to the aggressive madness of the dictators will be strong enough to overthrow the hated system, put an end to this senseless mass slaughter and initiate the New Order of justice and freedom.

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[Denkschrift Franz Oppenheimers aus dem Jahre 1941/42, mit dem Entwurf einer europäischen Nachkriegsordnung. Diese wurde dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt überreicht. Bislang unveröffentlicht, 16 MS., Central Zionist Archives, Jerusalem; A.d.R.]

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

There was one moment when Woodrow Wilson was the most powerful man of all time. It was when Germany, sobered and exhausted, accepted his "Fourteen Points". At that time he held the world in the hollow of his hand: He could force his allies to honor his signature simply by threatening to make a separate peace. Very soon, perhaps, another president of the United States will proffered the same opportunity. It must not be passed by again. What can be done to prevent that? Woodrow Wilson was right in many respects; he was right as to the peace treaty "without conquest and indemnity"; right as to the principles of re-arranging Europe: "Not a balance of powers but a community of power; not organized rivalries but an organized common peace." (Woodrow Wilson, January 22, 1917) He was right as to the necessity of a League of Nations, a body composed of free and equal nations to be the world's senate and executive, and finally, right as to its most urgent tasks: Disarmament, cutting down of the tariff walls with ultimate aim of a complete Customs Union, and, last but not least, a fair adjustment of the problem of national minorities. All this was needed then, and all this is needed today. In this regard the other president will have no choice. He will take care, however, to avoid the fatal mistake of his predecessor. The first and most momentous of Wilson's mistakes was not to realize that the most elaborate covenant is not worth the paper it is written on, unless the League is equipped with a power strong enough to enforce its mandates. Unarmed, in the midst of nations armed to the teeth, the league was doomed to be Lichtenberg's "knife without a blade and no handle". Disarmament and Customs Union never could be reached in this way. Worse still, the most important security valve of the Convenant was clogged from the very beginning: The clause entitling the league to change such arrangements of the peace treaty as would prove inconvenient or unfair. Sooner or later, the boiler was bound to explode. Wilson's second fatal error was to diagnose incorrectly the European decease, which was and still is economic competition in a semi-feudal society. The bickering and blood feuds of the nations are nothing but ideological reflex of the fight for the market within and especially abroad. This, of course, is repellent "materialism" in the eyes of "idealist", i.e. those fools and fanatics who boast of being the descendants of "monkeys with very fine, silky hair and extra long tails". They have been persuaded by the sly gentlemen behind the scenes that they are fighting for the highest of all ideals, for the chosen races' eternal right to World Domination. Maybe they would not fight and die as willingly for Russian oil and wheat, for Dutch Indian Rubber, Malayan tin and for market monopolies and colonies. To return to Wilson: He took the symptoms for the disease. He fell a victim to the wiles of that common species of statesman of whom Oxenstjerna said: "You do not know, my son, with how little wisdom the world is ruled". That is why he failed to solve the minority problem, the disentanglement of which is easily to be foreseen. This author wrote, soon after the first world war broke out: "This war is the desperate attempt of Europe of finding the political form corresponding to her economic intertwinement. If this attempt miscarries, new wars will ensue, new millions will die, and Europe will become an overgrown Balkan where, before the astonished eyes of America, a number of quaint tribes chronically cut each others throats for the sake of obsolete ideas". Woodrow Wilson failed to give Europe this needed political form, and the predication has come horribly true. And in spite of it all: They are at it again, the fools and fanatics, among them men in leading political position, proclaiming as their people's war aim the same methodical madness which Poincare and Clemenceau enforced by double crossing the "day dreaming utopianist", Wilson, - bringing about, thereby, precisely what they had tried to prevent forever, and ruining France which they had intended to safeguard for all time to come. This must not be repeated. These madmen must be prevented from preparing a new disaster.

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Only one power in the world is capable of putting an end to this endless and senseless wholesale butchery: The United States of America. Hers is the historic mission of giving the world the peace that will be called the Pax Americana, based on the principles of 1776, and which also brought security and welfare to war-torn world, but which could not last because it was based on the dictatorship of one single nation lording it over all the others. It is, we repeat it, the mission of the American people to reestablish order in this crazy world. Certainly not from political idealism and purely altruistic motives alone even if there were no considerations of morals and humanity, America could not dodge the task of putting an end to this barbarous spectacle - her most vital interests are at stake. Never in all history has there been a nation of superior civilization which did not have to suppress, willy-nilly, the blood feuds of the savage tribes beyond its borders. It is simply a matter of self-protection. The times have passed when USA could look upon European war as a play in the theater. The warplane has almost annihilated distance, and each one of these brawls is going on, as it were, in Uncle Sam's back yard. He cannot but take the big stick to those urchins and guttersnipes who break his windows, trample his flower beds and smoke beside his haystacks. This great country cannot incur the risk of seeing, time and again, its trade-roads barred, its merchantships held up, its customers impoverished, robbed and murdered, its markets ruined and, hence, its agriculture and industry afflicted by devastating crisis; it cannot stand for being overrun by spies and fifth columnists who, like virus-carriers, import the deadly poison of their senseless "isms". And, more then anything else, this country cannot incur the risk of being involved in a new world war every 25 years, overburdening it with taxes and public debts, endangering its institutions by the necessity of keeping a great army and, the greatest of all sacrifices, sending its splendid youth against the murderous machines of modern war. Europe is not capable of organizing herself. There are some countries like Finland, Switzerland and Denmark who possess the spirit, but not the power. There are others possessing the power but not the spirit; the majority possess neither. The USA has both the spirit and the power. Her citizens know what Democracy has achieved. In their minds there is not the least doubt as to how Alexander Hamilton's "important question" is to be answered: Whether societies of men are really capable of establishing good government from reflection and choice, or whether they are forever destined to depend for their political constitution on accident and force." They know and gratefully acknowledge what Democracy blessed them: Their country is the world's most powerful and most respected, their technical skill is the farthest developed, their wealth the greatest and the most equally distributed compared with other nations. Looking about them, they are amazed to find their men on the average taller and stronger, their women lovelier, their children healthier and happier than anywhere else in the world. And they need only look at the second generation of their immigrants to realize what Democracy has done for the race of, for instance, the ugly, dwarfed and buck-toothed Japanese; or the skinny, stooped, timorous Eastern Jews - merely by granting their children freedom, and through freedom selfrespect; and, last but not least, ample and healthful food. "Half of the race goes through the mouth". Breeders have known that always. There is no doubt whatsoever about the truth of this statement, in spite of all the loose talk about "hereditary race" going on in totalitarian countries. It is even debatable whether it is not a deficiency in certain vitamins in the food of long-suffering and starving Europe which, by ruining the race of formerly free and intelligent peoples, paved the way for the dictators. Body and soul are one unity. Almost all American citizens today agree that their Democracy is still far from being in perfect conformity with the principles of 1776; and they are prepared to do their utmost to bring it closer

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

to perfection. None the less, only a very few would be prepared to trade their system of government for any other. They know that it has stood the test of centuries, and they are certain that it will stand the test of millenniums, long after the last remainders of old historic injustice have been cleared away. Therefore they feel justified and even in duty bound to assist any government "From Reflection and Choice" whenever it is assailed by a government "By Accident and Force". This is the spirit in which the re-organization of Europe will be done. But how about the power needed to perform this task of Hercules? What is to be done, when history repeats itself and the great opportunity is offered another president of the USA? The moment will come when the belligerent nations, bled white and exhausted, are yearning for the end of the terror, whereas this country, hardly touched as to her man power, but with her tremendous war industry in full stride, holds the scales of victory in her hand. Then the president will summon the representatives of the powers to a peace conference to be held, under his chairmanship, not in Versailles but in Washington; and here both friend and foe will be bluntly told that this country did not enter the war for what the belligerent nations called their "historical rights", but for the "right prior to all rights" - the right of justice. The USA, whose history started when she broke the "historical right" of the British crown to enjoy the true right "born with us", could not do otherwise. The representatives of the nations will be told that they are to accept the new order of co-prosperity - and like it. An order like the one Wilson proposed: A peace without indemnity or conquest, a community of power instead of a balance of powers, organized peace instead of organized rivalries. Wilson pointed out how to achieve this aim, although he himself was not strong enough to enforce it: Disarmament, customs union, and a fair adjustment of the minority problem. All this under the guardianship of a League of Nations, but this time a League of Nations equipped with all the power necessary to protect its constitution and of enforcing its laws and decisions. Goethe says of Mephisto: "He is part of that force which always achieves good while striving for evil". Some people believe that Hitler is the devil in person. However that may be, one thing is certain: Whilst aiming at anything but good, he has almost perfectly achieved the first two of the task outlined above. The boundaries of almost all European States have disappeared, together with their useless and expensive armies and their Custom houses. With then departed the delusion of grandeur that small states are capable of retaining their sovereignty and neutrality in a conflict of the big powers. They have had to learn - the hard way - that international law is not worth a thinker's dam unless it is backed up with power capable of enforcing it. Long before the first World War, Friedrich Naumann, high-ranking German political publicist, wrote that "The time of the political small-scale concern is irrevocably gone". In this war they have had to realize that they can enjoy security only by resigning part of their former sovereign rights, and by placing themselves under the protection of a new and powerful league of nations. Disarmament, this time, will not mean that one party is forced to destroy its weapons, whilst the other, tongue in cheek, is permitted or tolerated to increase its equipment. The member-states retain for themselves nothing but the equipment required to maintain an adequate police force enough to preserve order within: The bulk of the equipment is to be handed over to the League. The League alone is to entertain an army, navy and air force. The service language will be English. The personnel will be made up of volunteers from all the member-nations, hand-picked men all, every one with a clean record; unlike the French Legion Etrangere, which is infested with lost sons and fugitive criminals, it will be a sort of "Noble Guard"; not a dumb mass of unthinking animals, trained to follow blindly wherever they are led, be it honest service or rebellious pronunciamento, but highly skilled specialists in the various arts of modern warfare, capable of thinking for themselves, well paid and treated with the consideration due to men of this mark; with good chances of

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quick advancement in rank and pay, and amply taken care of after honest service; Short: a body of men who would have little to win and everything to lose by a revolution. They will pledge allegiance to the League, whose president is their commander-in Chief. And the president of the League will be the president of the United States of America, at least until the storm has subsided completely, and the world has found its equilibrium, which means that the continuance of the League is questioned as little as that of its models: The Swiss Confederation, the Commonwealth of Australia and South Africa, and, of course, the United States of America. Undoubtedly this arrangement is not without a certain danger; such unprecedented power might abused to the advantage of Anglo-Saxon Domination. However, this risk cannot be avoided. The operation is urgent, and no operation is without a risk. The smaller nations will be only too glad to get away so unexpectedly cheap, having only the choice between being either members or subjects of the League. Of course they will be exceedingly suspicious, knowing how they themselves would behave, were they in the position of the upper dog. It would be madness to entrust people like Mussolini, Stalin, Hitler and their numerous simian imitators with the presidency, but there are some good arguments in favor of the Anglo-Saxons. Great Britain, who, after a long and bloody war, made South Africa an almost independent Crown Colony, and even gave Eire absolute independence, in spite of the grave danger she incurred in doing so. The USA who, after the grimmest civil war of all history, granted full equality of rights to the vanquished Southern States, gave independence to Cuba, and pledged herself to emancipate the Philippine Islands. Nations like these may be trusted to play fair. The general staff of the League will decide which of the military establishments, such as naval and air ports, fortresses, barracks, etc. are to be disarmed or destroyed, and which are to be taken over by the League. The most dangerous germ of international friction will be removed when the key points of world politics and world unrest, such as Gibraltar, the Dardanelles, the Suez Canal and so on, will be held by a neutral power. A similar order will be established in regard to the colonies. The League will be the only existing colonial power, as well as the only existing armed power. All colonies must be transferred to her. They will be accessible on equal conditions to all citizens of the member-nations. There will be neither protective tariffs nor premiums for export or import; some harmless finance duties may be allowed. The language will be that of the former owner-states and English. The natives will be wards of the League until the time is ripe to dismiss them from the guardianship, and to make them members of the League. This arrangement again removes very dangerous possibilities of international friction. For the same purpose another measure is needed: The League takes over the plants manufacturing arms and ammunition, men of war and warplanes. No private plant of this kind will be tolerated. Never again will there be a Sir Basil Zaharov. Almost all of these establishments are already the legal or factual property of their government. Private owners will, of course, be duly indemnified. The armed force of the League will be small in comparison with the enormous armies which the feverish world maintained even in times of peace. A relatively small force, splendidly trained and equipped, wisely distributed, in possession of all strategic key points, always on the alert, ready at a moment's notice like a metropolitan fire brigade, will be up to its task even in the first years, before the seething hatred has been assuaged and the new order has taken root in the hearts. But a small force, be it ever so well paid and lavishly equipped, will cost but a fraction of what the nations were compelled to spend already in time of peace, let alone the unbelievable cost of war. This is the first blessing the new order will bring to the tax overburdened citizens. Still greater will be the profit they will reap from the Customs Union.

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Erster Teil: Die Utopie des „Liberalen Sozialismus"

Here again the watchword must be: no half-hearted measures! It is too late for cautious proceeding, such as have been desirable before Hitler cleared the site. The present author, about ten years ago, proposed a plan which now, at least in its first and important part, is antiquated: To cut down customs by one-half percent twice monthly so as to reduce them to the vanishing point within less than a decade. Also to purchase for the state each operation, agrarian or urban, whose proprietor believes that he could not exist without the protection of the tariff, the price to be the twelve- or fifteen fold of the average net income from his business which he paid taxes for during the last five or ten years. This second proposition may still be worthy of consideration in certain cases. The decision on this point should be left to the individual states. Most probably only a few persons would make use of that opportunity, because almost all industrial and agricultural enterprise would be favored by the enormous enlargement which their markets would experience. It is one of the very few never-contested laws of economic theory that the division of labor, the general productiveness, and ultimately the universal wealth, increase more than in proportion to the increase of the market. "Double market, fourfold wealth", as the saying goes. The marvelous development of America's industry and wealth are principally due to her unified market. It is easily imagined how gigantic a scope division of labor, productiveness and wealth will attain when the planet is welded into one single, immense market, and almost all labor is devoted to the production of consumers' goods instead of the production of instruments of death and destruction. Another momentous gain will be restitution of the gold standard. The now useless hoard buried in the caves of Kentucky will be hauled out; the nations will borrow what they need as foundation of a healthy currency; they will coin pieces of identical weight and fineness, but marked with their particular national emblem and inscription; the long yearned-for ideal world money, which is accepted everywhere. Wealthy Uncle Sam will feel his obligation of putting his impoverished wards on their feet by other loans he will grant them, especially in foodstuffs and other means of sustenance. And he will, we are sure, understand that a nation who has become the greatest creditorcountry of all history would be putting the cart in front of the horse by holding fast to her timehonored system of high tariffs. She must give the good example. Pan-planetary disarmament and pan-planetary free trade are the pre-supposition of solving the last of the great problems: that of national minorities. Usually it considered the most difficult, but actually it is the simplest. "Vestigia terrent". The history of the last quarter of a century has shown beyond any doubt that it is impossible to unravel this entanglement of groups of different language by drawing artificial boundaries through the mixed districts. There always remain, on either side, minorities exposed to political suppression and economic exploitation. Even if they are treated decently, they are easily persuaded that they are getting a raw deal, and are turned into rebels by the propaganda of the neighbor, gloating greedily beyond the border, and organizing his fifth column under the high sounding pretext of rescuing his suffering brothers. This must never be repeated: What is to be done? The problem can be solved, Switzerland proves it. There four language groups are living peacefully side by side, three of them co-lingual to large aggressive powers: Italy, France and Germany. The three groups, almost unanimously, feel proud to belong to the one and indivisible Swiss "nation". The explanation: Complete equality of civil rights and duties, perfectly assured impartiality in every conflict, absolutely free movement of traffic and trade within the confederation. Everyone whose profession makes it desirable, and a great many more, speak two or three, the Romanez in the Engadine even four languages. Naturally we cannot dream of creating at one blow, as by a sleight of hand, a number of peaceful Switzerlands in a Europe torn by old blood feuds. It is impossible to integrate human groups by a joiner's trick, gluing them together; it must be done by gardener's trick, grafting them on one an-

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other to make them coalesce, and to grow henceforward nurtured by one healthy root. This can be done. Wherever a former political boundary cuts through a mixed district, the Peace Commission will create a new, independent commonwealth, comprising the entire area. These new "cantons", as we may call them, naturally will have to take over a fair part of the public debt of both of the States they used to belong to; they will be organized after the model of Switzerland, granting their citizens absolute equality of political rights and duties, perfect impartiality in every private conflict, and, of course, complete freedom of trade and traffic. Within a suitable period of time, say ten years, every public official, down to the last village constable, must master both languages. Both idioms will be equally taught and practiced in all schools, first instruction to be given in the home language of the locality, with increasing stress on the other in the higher grades. The courts will hear suits and give judgment in the language of the parties or the defendants, employing sworn interpreters when neither of the two parties is able to understand the other. The very indifferent question of so-called internal service language may be decided by a majority vote, which may be repeated if needs be. We have reason to believe that the old discords and bad feeling will be assuaged to the vanishing point within a very short time - probably less than a generation. The first reason is that there is really nowhere the least racial difference between the two groups, in spite of all the silly babble of the "racists". All Europeans peoples are mixtures of basically the same elements: Finns, Iberians, Ligurians, overlaid by Romans, Celts, Germans, Slavs, Arabs and Turko-Tartars. Not to speak of the Britons, who are proudly conscious of being descendant of Iberians, Picts, Celts, Saxons, Danes and French, with sprinkling of Roman blood, we know that France is inhabited by a mixture of Romans, Gauls and Teutons; that entire West and South of Germany harbors teutonized peoples of originally Celtic language who, however, were themselves a mixture of all those groups who overran Europe before the dawn of history; and that the East of Germany is inhabited by teutonized Slavs, part of whom were probably slavicized Teutons themselves. Our second reason is that originally the groups of all mixed districts lived together peacefully, and that almost every one spoke and understood both languages, - until their States made language the Shibboleth of what they called "patriotism". Once the armies are dissolved and the custom houses closed, there will be no "state" in the historic meaning of the word: only states in the meaning of the American constitution: Independent, self-administrating bodies, but without the right of waging war or establishing tariffs against each other. Better call them "cantons"; they can hardly have any political or economic interest in suppressing or exploiting one of their component parts. In this fashion, the time will be gained to remove the last remainders of feudal privilege and property which the great democratic movement of the 18th century left undestroyed. Then at last, the world will know what fully developed democracy is and what it can achieve, and again a "Utopia" will have become reality.

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Das Gesetz der zyklischen Katastrophen [1897]1

Die Katastrophentheorie Cuviers, die Lehre von den in einem gewissen Turnus periodisch wiederkehrenden Zerstörungen alles organischen Lebens durch Erdrevolutionen, „Sintfluten", ist durch die Entwicklungslehre beseitigt worden. Aber in der Soziologie steht eine ähnliche Theorie noch in großem Ansehen. Dies soziologische „Gesetz der zyklischen Katastrophen" ist besser begründet als das Cuviersche. Während jenes auf einer Täuschung beruhte, an der die Bibel ebensosehr die Schuld trug wie die Funde fossiler Fische auf Berggipfeln, enthält das soziologische Gesetz, wie gar nicht zu leugnen, den Abstrakt aus einer großen Anzahl verbürgter geschichtlicher Ereignisse, ja mehr als das, es formuliert das Schicksal aller älteren Kulturen und Staatsbildungen, soweit sie zu dem gehören, was der Westeuropäer bis vor kurzer Zeit in stolzer pars pro toto „Weltgeschichte" nannte. So weit wir rückwärts blicken können in der Staatengeschichte unserer Gattung auf diesem Planeten, in der ganzen Epoche namentlich, die man die „mittelländische" oder das „Altertum" genannt hat, zeigen die einzelnen politischen Gemeinschaften ein merkwürdig typisches Lebensbild, das sich in den Phasen: Aufschwung, Hochblüte, Verfall, Vernichtung abspielt. Das war das Schicksal der alten, bis vor kurzem gänzlich verschollenen Kultur der Chaldäer, die Belek und Lehmann am Wan-See in Armenien entdeckt haben, das das Schicksal der Völker am Euphrat und Tigris, so oft auch die herrschende Klasse und der Name des Reiches und der Dynastie wechselten, von den Chaldäern und Assyrern zu Medern, Persern, Makedoniern, Parthern, Tataren, Seldschuken, Türken; ähnlich am Nil, wo gleichfalls Perioden des Verfalls und neuer Blüte mit dem Import neuen Erobererblutes abgewechselt haben, ebenso in Palästina, Griechenland, in Rom, in Hindostan. Und ein ähnlicher Kreislauf in der zweiten, großen Epoche der „Weltgeschichte", der nordwesteuropäischen, dem „Mittelalter"! Wenn hier auch die Völker nicht geradezu ausstarben, wie in Mesopotamien, dem Maya- oder dem Chaldenreiche, so sehen wir doch sowohl im keltischen, wie im germanischen, wie im slawischen Stammesgebiet Perioden großen Wohlstandes, starker Bevölkerung und politischer Expansion wechseln mit solchen tödlicher Armut, grauenhafter Entvölkerung und politischer Ohnmacht, die meistens zur Einsetzung einer Fremdherrschaft führten: also genau der Verlauf, wie er in Ägypten oder im antiken Italien sich vollzogen hatte. Es läßt sich wenigstens in dieser Hinsicht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Entwicklung Ägyptens, in dem die Fremdherrschaften einander ablösten, und Britanniens, dem es ebenso erging, auffinden; und die Entwicklung des kaiserlichen Rom mit seinem Auf und Ab von Schwäche und Kraft hat viele Parallelen in der Geschichte des heiligen römischen Reichs deutscher Nation. Ja, die Ähnlichkeit aller dieser geschichtlichen Verläufe geht noch weiter: es sind nicht nur die Phasen im Wesen überall die gleichen, sondern sie erscheinen auch überall in ziemlich gleicher äußerer Form. Der bekannte und oft geschilderte Kreislauf von der patriarchalen Monarchie zur Aristokratie, zur Demokratie, schließlich zur Pöbelherrschaft und dann zum Säbelregiment eines

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[Erstmals erschienen in: Neue Deutsche Rundschau, Bd. 13, 1897.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

fremden Eroberers oder einheimischen Prätendenten, pflegt die Phasen des Ablaufs derart zu begleiten, daß die Ubergangszeit zwischen Aristokratie und Demokratie die höchste Blüte, die Pöbelherrschaft den tiefsten Verfall, die Säbeldiktatur einen neuen Aufschwung begleitet oder einleitet. Cäsar, Oliver Cromwell und Napoleon, zuweilen auch Alexander, werden als Parallelerscheinungen am häufigsten genannt. Ich will mich auf eine Kritik der einzelnen, von verschiedenen Historikern gezogenen Parallelen nicht einlassen; das ist hier nicht meine Aufgabe, wo es sich nur um das Gesetz selbst handelt, also um ein geschichtswissenschaftliches Objekt der Untersuchung, und nicht um seine Anwendung in der Geschichtsschreibung. Genug, daß wir die Tatsache als allgemeine anerkennen, daß so etwas wie ein Gesetz der zyklischen Katastrophen alle „Weltgeschichte" beherrscht hat. Nun wird aber zumeist aus dieser Prämisse die Folgerung gezogen, daß das gleiche Gesetz auch die Geschichte der Zukunft beherrschen wird. Die folgenden Blätter unternehmen den Versuch, diesen Schluß als nicht substantiiert zu erweisen. Zum Ende werde ich die verschiedenen Formen, in denen die Theorie erscheint, voneinander sondern, darstellen und einzeln kritisch zu erledigen suchen.

1. Die naive Theorie Denn eben wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Goethe, Faust 1.

Das Gesetz der zyklischen Katastrophen tritt in seiner naivsten, im Grunde gänzlich unwissenschaftlichen Form als ein simpler Analogieschluß auf, nach der Formel: „Es war immer so, also wird es auch immer so sein." Diesen Schluß ist man bereits aus formalen Gründen berechtigt abzuweisen, denn ein Analogieschluß zieht niemals. Die Voraussage, daß eine für die Vergangenheit typische Kausalverknüpfung auch in der Zukunft immer wieder erscheinen wird, der Gedanke sozusagen von der „Wiederkehr des Gleichen" in der Soziologie, verlangt, um wissenschaftliche Theorie zu werden, zwei Untersuchungen: erstens muß die Ursache, oder müssen die Ursachen aufgedeckt werden, die den typischen Ablauf der Entwicklung in der Vorzeit bedingten; und es muß zweitens der Nachweis geführt werden, nicht nur, daß diese Ursachen unverändert fortbestehen, sondern auch, daß sie von keinen neuen Kräften, die etwa das gesellschaftliche Leben entbunden hätte, gekreuzt oder aufgehoben werden. Wo nicht einmal der Versuch dieser doppelten Untersuchung gemacht worden ist, liegt nichts vor, was den Namen einer wissenschaftlichen Theorie verdiente, und man darf die Diskussion mit der „Argumentatio ad hominem" ablehnen, die es offen läßt, ob die Behauptung richtig oder falsch ist, die aber den Beweis als ungenügend abweist.

Das Gesetz der zyklischen

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2. Die politische Theorie Ε questo e il cerchio nel quale girando tutte le republiche si sono governate. Machiavelli, Discorsi sopra Livio, Libr. I, Cap. 2.

Ernster zu nehmen ist die „politische Theorie", wie man sie nennen könnte, die in aller Welt das Credo der Aristokratie, der Eupatriden, Optimaten, Tories und Konservativen gebildet hat. Sie nimmt die äußeren Formen, in denen, wie gezeigt, die Phasen des Völkerlebens sich abzuspielen pflegen, für ihre Ursache. Nach dieser Auffassung ist Blüte und Bestand aller Menschengemeinschaft geknüpft an die „starke Persönlichkeit" herrschaftbegabter Männer, weiser Gesetzgeber, weitblickender Organisatoren der Wirtschaft, genialer Feldherrn und Staatsmänner; nur diejenige Verfassung gewährleistet das Völkerglück, die solchen Persönlichkeiten die führende Stelle zuweist: das „Volk" aber ist die ewig törichte, der Selbstverwaltung unfähige Masse, die rudis indigestaque moles, der nur das historische Genie mit seinem schöpferischen „Es werde!" organisch gestaltetes Leben einzuhauchen vermag. Es ist dies die Auffassung, die allen absoluten Monarchien der Welt schon vor dreitausend Jahren mit Agamemnons Wort in der Ilias ihre Devise gab: ,,ούκ άγαθή πολνκοφανίη, είς~ κοίρανος έστω, εις βασιλεύς^', und die gipfelte im berechtigten „L'etat c'est moi" und dem neuesten „Regis voluntas suprema lex!" Wenn diese Auffassung den Gewaltherrn rechtfertigt, den τύραννος, den zum Fürsten aufgestiegenen siegreichen Heerführer, so wird sie zum „Legitimismus" in Verbindung mit der religiösen Vorstellung, daß Gott den Sprossen einer eingelebten Herrscherfamilie durch einen Akt besonderer Gnade die für eine glückliche Regierung notwendigen „charismatischen" Eigenschaften des Geistes und Charakters regelmäßig verleiht; und von hier führt eine ununterbrochene Gedankenlinie zu dem Legitimismus alteingesessener Aristokratien, die sich ebenfalls für von Gott eingesetzt, und darum für einzig herrschbegabt halten. In späteren Zeiten, wenn die religiösen Vorstellungen abblassen, um nationalistischer Denkweise Raum zu geben, namentlich aber, nachdem das alte, blutedle Patriziat sich durch Rezeption der reichen Plebejerfamilien in eine neue Herrenschicht, die Nobilität, verwandelt hat, pflegt man die konservative Auffassung der Politik nicht mehr mit den mystischen Legitimitätsgründen, sondern mit der „Kinderstube" zu decken: es soll eine gewisse Erziehung des Geistes und Charakters, wie sie nur eine wirtschaftlich gesicherte Klasse mit „Traditionen" ihrem Nachwuchs verleihen kann, die Eigenschaften des Staatslenkers allein heranbilden können. Man sieht, in der Begründung der verlangten Vorrechte gibt es recht starke Verschiedenheiten, je nach den Umständen, die zu rechtfertigen sind. Die persönliche Begabung des einzelnen, ganz unabhängig von seiner Abstammung, die persönliche Begabung des einzelnen oder einer Minderheit kraft ihrer Abstammung, und schließlich die Erziehung einer Minderheit kraft ihrer Abstammung treten gleichwertig auf. Gemeinsam aber ist allen diesen Anschauungen die Uberzeugung von der Unfähigkeit der Masse zur Selbstverwaltung, der Gedanke, dem Sapieha im Demetrius seinen klassischen Ausdruck verleiht: „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn! Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen." Nun soll - und so erklärt die politische Theorie die zyklischen Katastrophen - eine verhängnisvolle Notwendigkeit es erzwingen, daß die Regierung der Staaten den Händen der geborenen Herrscher, seien es nun Kriegshäuptlinge, angestammte Fürsten oder eingesessener Adel, immer mehr und mehr entgleitet und in die Gewalt immer breiterer und daher immer unfähigerer Volksschichten gelangt, bis die Pöbelherrschaft voll konstituiert ist und das Gemeinwesen rettungslos zugrunde richtet. Dann, durch ein furchtbares Schicksal für kurze Zeit zur vernünftigen Selbsterkenntnis

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zurückgebracht, flüchtet sich das ernüchterte Volk in den Schutz eines „Starken", eines „Säbelheilands" - wie der grimmige Scherr sagte - und der Kreislauf kann von neuem beginnen. Solange die politische Theorie jene verhängnisvolle Notwendigkeit nur statuiert, und das ist meistens der Fall, ist sie noch „naiv". Denn wir wollen die Notwendigkeit ja nicht glauben, sondern kausal begreifen. Und zuweilen finden wir denn auch den Versuch einer solchen Erklärung. Wir erfahren, daß der fortschreitende „Luxus", der häufig wieder auf die allmählich eintretende Präponderanz des städtischen Lebens über die Landwirtschaft und auf die Entwicklung aus der Naturalzur Geldwirtschaft zurückgeführt wird, die rauhe Tugend der alten Aristokratie zersetzt hat, daß Verweichlichung des Leibes und der Seele an Stelle der altväterlichen Tapferkeit und Strenge getreten ist, Haltlosigkeit an Stelle der straffen Energie, persönlicher Egoismus an Stelle des kraftvollen Genossenschaftsgeistes, der jede Opfertat als selbstverständlich leistete. So schwand den zum Herrschen Berufenen die Kraft und der Pöbel kam zur Herrschaft. Wie alt diese Gedankengänge sind, läßt sich mit Sicherheit aus der sagenhaften lykurgischen Gesetzgebung erkennen, die die Verweichlichung ebenso auszuschließen versuchte, wie die Geldwirtschaft. Dieser absoluten Kraftverminderung auf Seiten der herrschenden Familie oder Klasse ging nun, so wird meistens dargestellt, eine relative Kraftverminderung parallel, als Folge einer Bevölkerungsverschiebung. Uberall ist das gemeine Volk fruchtbarer als die herrschende Klasse; „Proletarier" soll ja die verächtliche Bedeutung von „Kinderfabrikant" haben! Die bekannte Löwenfabel: „Nur eins, aber ein Löwe!" drückt den Stolz der Aristokratie bezeichnend aus, die sich überall mit dem Aufkommen des Luxus, um die Erbgüter der Familie nicht zu zersplittern und den Glanz des Hauses nicht zu zerstören, malthusianischen Praktiken zuzuwenden pflegt. So verschiebt sich das politische Kraftverhältnis langsam aber unerbittlich, bis die Minderheit, trotz der überlegenen Tugenden ihrer einzelnen Mitglieder, von der riesengroßen Mehrheit zu Boden gerissen wird, wie der Eber von der Meute. Und das ist der Anfang vom Ende! Hier hätten wir also eine kausale Erklärung. Ob sie ausreicht, muß untersucht werden. Da zeigen nun zuerst die Tatsachen, daß der behauptete Zusammenhang zwischen demokratischer Regierungsform und Verfall gar nicht regelmäßig besteht, d. h. daß der Verfall andere oder wenigstens noch andere Ursachen haben muß. Um gar nicht davon zu sprechen, daß die sogenannten patriarchalen Monarchien in der Tat Demokratien mit einer mindestens in Friedenszeiten rein dekorativen Spitze gewesen sind, in denen die Heeresversammlung aller Freien den Ausschlag gab und der König nur als Mittler zwischen Volk und Gottheit fungierte: um davon nicht zu sprechen, so haben wir doch einerseits Kenntnis von uralten Demokratien, bei denen niemals eine Verfallsperiode eingetreten ist, wie ζ. B. der Schweiz. Und wir kennen andererseits absolute Monarchien, wie das Frankreich Ludwigs XIV. und XV., wie die Türkei oder das zaristische Rußland, und Aristokratien, wie die Adelsrepubliken Venedig, Polen und Livland, in denen der schwerste Verfall, tödliche Armut und grauenhafte Entvölkerung, zuweilen Verlust der politischen Selbständigkeit, eintraten, obgleich die „Masse" rechtlos geknebelt war. Aber selbst wenn wir alle diese Fälle als „Ausnahmen" betrachten wollen, die nach dem bösen Sprichwort „die Regel bestätigen", bleibt es klar, daß die aristokratisch-politische Theorie der zyklischen Katastrophen ungenügend ist und zwar, weil sie uns keine letzten Ursachen gibt. Wir wollen und müssen wissen, welche Kräfte es waren, die die städtische Kultur an Stelle der Landwirtschaft setzten; die den verweichlichenden „Luxus" ermöglichten und das Zweikindersystem des Adels verursachten und auf der anderen Seite einen armseligen Pöbel, ein Proletariat schufen, das jeder Verführung großmäuliger Demagogen folgte, weil es nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatte, und das aus demselben Grunde seinem Prokreationstriebe rücksichtslos Raum gab. Mit anderen Worten: das aristokratische Erklärungsprinzip verlangt selbst eine nähere Erklärung; es setzt eine bestimmte Verteilung der Güter einer Volkswirtschaft als naturnotwendig voraus, deren genetisches Verständnis erst zum Kerne des Problems führen kann und dann auch jene sonderbaren

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„Ausnahmen" wird erklären müssen. Es führt zurück auf das tiefere und unserer Anschauung gemäß das tiefste Problem der Geschichtsphilosophie, auf die sozialökonomischen Bedingungen des Gemeinlebens.

3. Die Rassentheorie Die Kluft des Unterschiedes zweier Gruppen der Menschheit kann nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig sein v o m Unterschiede der Begabung. An diesen Unterschied werden wir immer in letzter, an Unterschiede der Entwicklung und der Umstände in erster Linie denken. (Friedrich Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 3)

Mit der konservativ-politischen Theorie aufs nächste verwandt ist die Rassentheorie, die aus einer ähnlichen Gemütsverfassung und Gesellschaftsauffassung erwächst. Der Ausgangspunkt ist derselbe: die herrschende Schicht glaubt sich „besseren Blutes" als die beherrschte. Aber früher, solange Adel und Volk noch an ihre - zumeist chimärische - Stammesgleichheit glaubten, führte der Adel seine Vorrechte auf eine direkte Abstammung „von den Göttern" zurück, und nicht mit Unrecht, da die Stammesgötter häufig nichts anderes sind, als vergottete Ahnen. In der neueren Zeit aber, seit die Geschichte zeigte, daß fast überall der Adel ursprünglich einer, die Volksmasse aber einer anderen ethnischen Gruppe angehört und seit der Sprachvergleich die Uberzeugung wachrief, daß von Insulindien bis nach Klondike es so gut wie immer nur eine „Rasse" ist, diejenige der Arier, der Indogermanen, die in diesem welthistorischen Schweißungsprozesse die Rolle des Hammers spielte (sollen doch sogar die großen Führer der Türken vorwiegend arischen Blutes gewesen sein!): seitdem hat die Rassentheorie die ältere Legitimitätstheorie vielfach verdrängt und gewinnt immer mehr an Boden. Der erste bedeutende Forscher, der eine Rassentheorie zum geschichtsphilosophischen Hauptschlüssel und namentlich zum Erklärungsprinzip des Gesetzes der zyklischen Katastrophen gemacht hat, war der Graf Gobineau. Nach seiner, auf breitem Tatsachenfundament scharfsinnig, zuweilen phantastisch aufgebauten Theorie wird ein Staat von einer zum Herrschen geborenen Rasse voll Kraft und Tugend über einer passiven Bevölkerung aufgerichtet und dieser Staat bleibt solange in Glück und Macht, wie die Rassenkraft seiner Beherrscher vorhält. Das ist aber zum Unglück nie sehr lange der Fall. Einerseits dezimiert das politische Leben die Herren, die Kämpfer, stärker als die Volksmasse, die sich nicht in dem Maße der Gefahr aussetzt; und andererseits degeneriert die Herrenrasse fatalerweise durch Mischung mit den Unterworfenen, während diesen durch den gleichen Prozeß politische Kräfte zugeführt werden, die ihre eigene Rasse niemals erzeugt hätte. Die Herren „vernegern", um einen Ratzeischen Ausdruck zu brauchen, der Pöbel gewinnt in den deklassierten Bastarden, die die Herren mit Töchtern des Volkes erzeugten, Führer, in denen ein Funke der Rassentugend glimmt; so wird die Kluft zwischen beiden zusehends flacher und schmaler, die Herrschaft der einen Schicht über die andere verliert immer mehr an logischanthropologischer Berechtigung; die Gewalt entgleitet der Herrenklasse immer mehr, um an immer breitere Massen überzugehen; auf die Aristokratie folgt die Demokratie und zuletzt die Ochlokratie und das Verderben nimmt seinen Gang, bis eine neue Einwandererschicht von noch ungebrochener Rassenreinheit dem verderbten Staatswesen seinen Untergang bereitet, um dann ihrerseits demselben verhängnisvollen Prozeß der Bastardierung und Entmischung zu verfallen.

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Hier stehen wir augenscheinlich formal auf festem logischen Boden. Wir haben eine plausible Ursache für die Entstehung und Blüte des Staates, die mit den Tatsachen der Geschichte nicht allzuschlecht stimmt; und wir haben eine klare und historisch ebenso beglaubigte zweite Ursache, die jenen ersten Faktor schwächt und zuletzt zerstört. Aber die geistvolle Theorie ist dennoch unhaltbar. Sie entstand in der vor-darwinschen Zeit, als man noch an die Artenkonstanz glaubte. So glaubte auch noch Graf Gobineau, daß die drei biblischen Subspezies der Gattung homo sapiens, der Japhetit oder Arier, der Semit und der „Hamit" „konstante Arten" seien, und desgleichen innerhalb der Familie der Arier die Slawen, Kelten und namentlich die Herrenrasse κατ' έξοχήν, die Germanen: fertig in die Welt gestellt mit bestimmten Eigenschaften des Geistes, Gemütes und Charakters, unveränderlich, solange sie sich nicht mit anderen Arten und Unterarten kreuzten. Seitdem hat uns die Evolutionslehre bewiesen, daß es konstante Arten nicht gibt. Und mehr als das: wir haben als Züchter gelernt, mit eigenen Augen angesehen, wie Rassen (tierische und pflanzliche) entstehen und sich konstant erhalten lassen. Wir wissen heute, daß eine edle Rasse nicht ein Anfang, sondern ein Ende ist, Ergebnis zuerst einer glücklichen oder klugen Kreuzung nahe verwandter, aber verschiedener Arten, und dann einer Isolierung der Kreuzungsprodukte unter günstigen äußeren Verhältnissen, so daß sowohl Bastardierung und Rückfall, wie auch allzu enge Inzucht und Degeneration vermieden wird. Diese Erkenntnisse beseitigten mit den Voraussetzungen auch die Folgerungen der älteren Rassentheorie Gobineaus. Aber sie war doch für die beati possidentes zu schmeichelhaft und als Waffe im Verfassungskampfe zu wertvoll gewesen, als daß man sie ganz hätte fallen lassen mögen. Und so erlebte sie denn in einer neueren Fassung ihre Auferstehung, als deren bekanntester Vertreter Houston Stewart Chamberlain genannt sein mag. Für ihn, den „Germanomanen", wenn das Wort gestattet ist, erklären sich die Katastrophen der antiken Welt auf das einfachste daraus, daß die tragenden Stämme nicht die nötige Rassenkraft besaßen, um die Kultur zur Höhe zu führen und auf der Höhe zu erhalten. Selbst die griechischen und römischen Arier waren nicht genügend begabt; es kam aber dazu, daß sie - ganz Gobineau ihre ursprüngliche, schon sehr bedeutende Rassentugend durch Bastardierung je länger, je mehr einbüßten. Erst die nordeuropäischen Arier - er faßt Kelten, eigentliche Germanen und Slawen als „Germanen" weiteren Sinnes zusammen - haben die staatenbildende und staatenerhaltende Kraft: aber, wenn sie sich nicht vor der Zersetzung durch fremdes Blut, d. h. vor der Mischling mit den „Mestizen des Rassenchaos" der spätrömischen Zeit und mit den Juden zu hüten wissen, dann wird auch ihre Kultur in Trümmer fallen: die letzte Katastrophe der Geschichte! Denn nun ist keine Rasse mehr vorhanden, die mit neuer, größerer Kraft den Bau der Menschheit weiterführen könnte. Diese Theorie hängt durchaus in der Luft. Sie hat keine festen Grundlagen. Ihre Anhänger stehen nicht mehr auf dem naiven Standpunkte der Artenkonstanz „von Anfang an"; sie operieren im Gegenteil mit besonderer Vorliebe mit den Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter und betrachten sich (immer sich selbst, das Volk, die Klasse, die Konfession, der sie zufällig angehören), als Produkt einer glücklichen Kreuzung und Hochzucht, die es nun nur gilt zu erhalten, also vor Bastardierung und zu enger Inzucht zu bewahren. Sie glauben auch nicht mehr an das Kriterium der Sprache - sonst müßten sie ja die deutschen Juden als Germanen, und die Nigger der Vereinigten Staaten als Angelsachsen anerkennen, sondern sie wissen, daß nichts in der Kulturgeschichte häufiger ist als die „Sprachübertragung", zuweilen vom Sieger auf den Besiegten, zuweilen umgekehrt. Dabei bleiben ihnen nun aber leider überhaupt keinerlei objektive Kriterien der „Rasse" mehr übrig. Diese modernen Rassentheoretiker haben lange gehofft, auf dem Wege der anthropologischen Untersuchung, namentlich der Schädelmessimg, zu guten „artbildenden" Kennzeichen der

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einzelnen „Rassen" zu kommen, wie sie für jede Tier- und Pflanzenrasse existieren und wie sie jeder Züchter und Preisrichter kennt. Die seltsame Pseudogelehrtengestalt Amonns operierte noch mit diesen Dingen: ihm galt immer noch die „Dolichozephalie" als Merkmal der Herrenrasse. Die übrigen Rassenfanatiker aber scheinen allmählich sämtlich zu der Uberzeugung gelangt zu sein, daß auf diesem Wege zu keinem Ergebnis zu kommen ist. Chamberlain ζ. Β. schreibt resigniert: „Von der anatomischen Wissenschaft ist nur wenig nützliche, für das praktische Leben verwertbare Belehrung zu erwarten. Entweder wandeln wir auf sandigem, schwebendem Boden, oder auf morastigem, wo wir gleich bei den ersten Schritten einsinken und festkleben, oder aber wir müssen auf den nadelscharfen Spitzen der Dogmatik von einem Gipfel zum andern springen und fallen heute oder morgen in den Abgrund hinunter." In der Tat hat die anatomisch-zoologische Untersuchung nichts, aber auch gar nichts entscheidendes zu Tage gefördert. Nicht nur, daß die Schädelform, die Haut-, Haar- und Augenfarbe, die Bildung des Skeletts usw. keine „guten Merkmale" für das abgibt, was nun doch einmal unter allen Umständen unterschieden werden soll: es hat sogar eine auf den äußeren und inneren Bau der Nase erstreckte höchst minutiöse Untersuchung keinen einzigen durchgehenden Unterschied zwischen Ariern und Juden ergeben. Es bleibt also nichts anderes übrig, als unter Verzicht auf körperliche Rassenmerkmale sich ausschließlich an typische Eigenschaften des Geistes, Gemüts und Charakters zu halten, was denn auch geschieht. Aber wie solche feststellen? Daß alle Völker, nicht etwa nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit, uns bereits als Mischvölker entgegentreten, muß von diesen Theoretikern notgedrungen zugestanden werden. Selbst die Germanen der Völkerwanderung sind ja nicht nur mit Kelten, sondern außerdem noch mit den supponierten, brachyzephalen Ureinwohnern: Liguriern, Rhätern, Basken usw. gemischt. Augenscheinlich ist das Problem unlösbar. Wie soll es möglich sein, die psychischen Eigenschaften verschiedener, miteinander gekreuzter „Rassen" auszuscheiden und den einzelnen Komponenten zuzuweisen, wenn uns nicht ein nicht-psychisches, also anatomisches Kennzeichen gestattet, die einzelnen Exemplare, die beobachtet werden sollen, als rassenrein oder als Bastarde vorher zu klassifizieren! Chamberlain selbst hilft sich, wie gesagt, ein Stückchen vorwärts, indem er Kelten, Germanen und Slawen für eine Rasse erklärt, für „Germanen" in einem neuen, weiteren Sinne. Ganz abgesehen davon, daß er sich damit in den schärfsten Gegensatz zu seinen pankeltischen, pangermanischen und panslawischen Gesinnungsgenossen stellt und den ganzen modernen Nationalismus auf das eine Ziel des Antisemitismus beschränkt - ganz abgesehen davon versagt dieses Hilfsmittel auch da vollkommen, wo sein „Germane" in Mischung mit Romanen, „Semiten", „Hethitern", Griechen, Berbern usw. eingetreten ist. Oder wie wäre es möglich, die geschichtsbestimmenden Charaktereigenschaften einzelner „Persönlichkeiten" als germanisch, oder semitisch, oder „mestizisch" anzusprechen, wenn wir gar nicht feststellen können, ob sie Germanen oder Juden reiner Rasse oder „Mestizen des Rassenchaos" gewesen sind? Das Problem müßte gelöst sein, um lösbar zu sein, wir müßten Rassenmerkmale besitzen, um sie finden zu können. In Ermangelung jedes objektiven Anhalts greift denn auch Chamberlain nach einem subjektiven Anhalt, nach dem „Gefühl der Rasse im eigenen Busen"; sein Ausgangspunkt ist die selbstherrliche Empfindung, „einer individualisierten, moralisch und intellektuell gekennzeichneten Rasse" anzugehören, die die anderen Rassen durch eine, in den Tiefen alles Bewußtseins aufquellende Intuition, als wesensfremd von sich abwehrt. Ob diese Empfindung berechtigt ist, darüber kann man nicht verhandeln, weil eben das rein Subjektive nie objektiv auszumachen ist. Jedenfalls aber kann sie nie eine zuverlässige Untersuchungsmethode für geschichtsphilosophische Betrachtungen liefern. Denn hier mangelt jeder objektive Anhalt für eine geregelte Gedankenentwicklung. Wir befinden uns im Reiche des absolutesten Subjektivismus, im „Unergründlichen, nie zu Ergründenden". Subjektiv ist die Auswahl der fahren-

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den Männer, die als die bewegenden Kräfte der Geschichte angesprochen werden: der Franzose wird und muß andere wählen als der Deutsche oder gar Japaner. - Subjektiv ist der Wertmaßstab, nach dem Tugenden und Laster abgegrenzt und eingeschätzt werden: der Katholik Gobineau redet sehr beträchtlich anders über die „Tugend" des religiösen Independententums, als der Protestant Chamberlain, der sie äußerst hoch schätzt. - Und subjektiv im höchsten Maße ist schließlich die Zuordnung der einzelnen Männer zu den einzelnen Rassen und Rassenmischungen. Ich gebe ein einziges Beispiel aus Chamberlains „Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts": „Nun könnte man freilich einwerfen, es seien aus dem damaligen Völkerchaos sehr bedeutende Männer hervorgegangen. (...) Hierdurch wird die unwiderlegbare Erkenntnis von der Bedeutung der Rasse für das Menschengeschlecht durchaus nicht aufgehoben. Mitten in einem Chaos können einzelne Individuen noch ganz reiner Rasse sein, oder wenn das nicht, doch vorwiegend einer bestimmten Rasse angehören. Ein solcher Mann wie Ambrosius ζ. B. ist ganz gewiß aus echtem edlem Stamme, aus jener starken Rasse, die Roms Größe gemacht hatte: zwar kann ich es nicht beweisen, (...) es kann aber auch Niemand das Gegenteil beweisen; und so muß es seine Persönlichkeit entscheiden." 1 Das ist Chamberlains Methode in Reinkultur! Aus bestimmten psychologischen Eigenschaften wird auf die Rassenzugehörigkeit geschlossen, und nun werden dieselben Eigenschaften als Rassenmerkmale angesprochen: ein typischer Kreisschluß! Man sieht, mit dieser „Methode" ist alles zu beweisen, was man beweisen will, soll oder muß. Indes, wir wollen uns erinnern, daß es sogar in der Mathematik schon intuitiv erschaute Formeln gegeben hat, die sich glänzend bewährt haben. Warum soll einem soziologischen Genie nicht einmal eine ähnliche Intuition gelingen können! Sehen wir also zu, was diese Rassentheorie für die Geschichtsauffassung geleistet hat? „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!" Aber diese Früchte sind bitter! Die Geschichte hat sich uns dargestellt als ein buntes, wunderbar reizvolles Kräftespiel, das die wenigen Grundtriebe der menschlichen Seele unter immer wechselnden äußeren Bedingungen auf immer neue Ziele richtet. Indem das politische und das ökonomische Mittel - der Bedürfnisbefriedigung in ihrer Differenzierung immer neue Gruppierungen der Klassen schaffen; indem die Bevölkerung wächst, sich ausdehnt und umschichtet, entstehen immer neue Kombinationen von Kräften, die in das Spiel eintreten, erstarken oder vernichtet werden, bis ein neuer Schritt der Gesamtheit aufwärts oder abwärts notwendig wird. Für die neuere Rassentheorie existiert von alledem nichts. Ähnlich dem „dummen Menelaus" hat sie für alle weltgeschichtlichen Rätsel eine, in unerträglicher Monotonie wiederholte Lösung bereit: „Rasse!" Nicht als ob geleugnet werden sollte, daß Rasse überhaupt ein wirkender Faktor der Geschichte ist. Sicher ist sie das und verlangt als solcher ihre Wertung. Aber der Mensch ist Mensch, ehe er Germane oder Semit ist. Man mag die rassenhaften Verschiedenheiten noch so hoch einschätzen, so bleibt doch gewiß, daß alle Menschen auf gewisse Antriebe ganz gleich reagieren, daß sie also einen identischen Wesenskern haben. Und darum hat die Geschichtsphilosophie die klar vorgezeichnete Aufgabe, zunächst zuzusehen, wie weit sie mit der Ableitung der historischen Massenhandlung aus der allmenschlichen, meinethalben allkaukasischen Massenpsychologie kommen kann. Erst wenn unerklärbare Reste bleiben, wenn sich also Verschiedenheiten des geschichtlichen Werdegangs bei den einzelnen Nationen oder „Rassen" zeigen, die aus dem Allmenschlichen, „Allzumenschlichen" schlechterdings nicht zu deuten sind, dann darf die „Rasse" als Erklärungsgrund herangezogen werden. Von dieser unerläßlichen Vorarbeit ist aber bei der modernen Rassentheorie nicht die mindeste Spur vorhanden; sie erklärt jede Verschiedenheit des Werdegangs der Völker, auch die aus

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Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Dresden 1901, S. 304.

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verschiedenen äußeren Bedingungen sich ergebenden, skrupellos und plump aus ihrem einzigen Prinzip. Zweitens aber, und das ist vielleicht ein noch ärgerer Fehler, weil er nicht die Anwendung der Theorie, sondern ihren Kern angeht, ist die ganz einseitige Schätzung der Blutkreuzung als des einzig wirksamen Faktors der Rassenbildung zu verwerfen, während der mindestens ebenso wichtige Faktor der Ernährung und der übrigen äußeren Einflüsse des „monde ambiant" gänzlich außer der Rechnung bleibt. Das ist ein sehr seltsames Ubersehen und doch ein sehr leicht begreifliches. Alle Rassentheoretiker berufen sich auf die Erfahrungen der Züchter - und Züchter sprechen ganz berechtigterweise immer nur von der Kreuzung als dem einzigen in Betracht kommenden Faktor ihrer Versuche, weil er der einzige variable Faktor ist; denn gute und gleichmäßige Fütterung, Behausung und Behandlung ihrer Zuchtergebnisse versteht sich von selbst, ist „konstanter Faktor" des Experiments, von dem man nicht spricht. Wenn man aber einen Züchter fragt, ob Fütterung, Behausung und Behandlung seiner Tiere von Einfluß auf ihre „Rasse" sein können, so wird er mit einem Kopfschütteln über die dumme Frage ohne Bedenken mit Ja antworten. Nichts ist gewisser, als daß die edelste Rasse durch lange Unterernährung, schlechte Stallungen, Versagen freier Bewegung und rohe Behandlung auf das äußerste heruntergebracht werden kann, wenn auch nur edles Blut zur Kreuzung kommt. Und umgekehrt ist es ebenso gewiß, daß unedle Rassen trotz fortgesetzter „Panmixis" bei ausgezeichneter Fütterung und Behandlung unendlich an Qualität gewinnen. Ein paar Beispiele: In England wog um 1547 ein Schlachtochse im Mittel unter 400 Pfund, heute gegen 1.120 Pfund. In Deutschland wog noch vor hundert Jahren eine Kuh 400, heute über 1.000 Pfund. In dem reichen, freien Holland geht die Länge der Rekruten dauernd empor, in Rußland, dem „hungernden Rußland", degenerierte die Rasse sichtlich. Sind das rein somatische Kennzeichen? Chamberlain wird nicht einen Augenblick daran zweifeln wollen, daß das Psychische in vieler Beziehung das Abbild des Physischen ist. Selbstverständlich wandelt sich der Charakter mit dem Leibe. Ein riesengroßer, gut genährter, muskelstarker, in Selbstachtung aufgewachsener Mann hat mindestens einen ganz anderen physischen Mut als ein schlecht ernährter, von Jugend auf in Furcht erhaltener Knirps. Und Mut ist wieder die Grundlage von Sorglosigkeit, Großherzigkeit, Persönlichkeitsbewußtsein usw. Seele und Leib ist eines nur und darum habe ich hier bereits auf die psychischen Einflüsse vorgreifen müssen. Ihre Macht kennt auch der Züchter. Er weiß genau, daß der rassenedelste und begabteste Jagdhund zu dem miserabelsten Köter verprügelt werden kann, wenn eine ungeschickte und rohe Hand ihn „erzieht"; und daß ein schlechter Reiter das edelste Pferd auf immer verderben kann. Das sind Grundlinien zu einer Lehre von der „Plastizität" der Rassen, ohne die eine Rassentheorie undenkbar ist. Wie stark diese umbildenden Einflüsse sind, geht daraus hervor, daß der Mensch auf den verschiedenen Wirtschaftsstufen einen typischen Charakter hat, ganz unabhängig von der Rasse. Der primitive Jäger ist überall der Künstler und praktische Anarchist, der keinen Willen über sich duldet und wohl zu vernichten, aber nicht zu unterwerfen ist; der Hirt ist überall der stolze, rassenbewußte Krieger, der in aristokratischer Demokratie, ein Gleicher mit Gleichen, von der Arbeit seiner Sklaven lebt, undiszipliniert im Frieden, streng diszipliniert im Kriege; der primitive Hackbauer ist überall der wehrlose, harmlose, heitere Knecht, der die wechselnde Herrschaft der Nomaden über sich hinstürmen läßt, wie sein Ackerhalm die Gewitter, um sich hinter ihnen unzerstörbar wieder aufzurichten; und bei den höheren Ackerbauern, wo ein Adel oben und eine Bauernschaft unten einen „Staat" im eigentlichen Sinne bilden, haben wir ganz typische Klassencharaktere, die mit der wirtschaftlich-politischen Entwicklung, mit dem Übergang ζ. B. von der Naturalzur Geld- und Kreditwirtschaft, zur Städtekultur, zum Getreidehandel, zur Beamtenregierung usw.

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wieder in völlig typischer Weise wechseln, ohne daß die Rasse einen erkennbaren Unterschied bedingte. Das schlagendste Beispiel ist wahrscheinlich die Ausgestaltung eines Feudalsystems in Japan, das dem westeuropäischen bis in die kleinste Einzelheit des äußeren Aufbaues, vor allem aber in der Psychologie, in dem hochgespannten Ehrbewußtsein usw. zum Staunen gleich ist. Und doch sind die Japaner reine Mongolen und ihre Landwirtschaft kennt weder Zugvieh noch Pflug; aber die soziale Bedingung der Klassenschichtung war die gleiche, wie in Westeuropa. Das alles wird die wissenschaftliche Rassentheoretik der Zukunft, die als Hilfswissenschaft der Geschichtsphilosophie unentbehrlich sein wird, auf das genaueste studieren und auf das sorgfältigste in ihre Rechnung aufnehmen müssen. Sie wird also nach den Kräften fragen, die außer der Blutkreuzung Rasse bilden! Und wird dabei auf dasselbe, tiefste Problem der Soziologie hinabschürfen, auf das, wie wir sahen, auch die „politische Theorie" kommen muß, wenn sie kausal vorgeht: auf diejenigen Kräfte, welche die soziale Klassenlage und die Anteile der einzelnen Rassen, Klassen und Kasten am Gesamterzeugnis der Volkswirtschaft bestimmen, deren Teile sie bilden. Die heutige Rassentheorie aber ist ein pseudowissenschaftliches Unding. Die „Intuition", aus der sie hervorging, entpuppt sich als der krasseste Rassenchauvinismus, den der germanische Volksgeist deutsch und deutlich mit dem Sprichworte kennzeichnet: „Jedem Narren gefällt seine Kappe!" Und diesem Ursprung entspricht die Anwendung. Sie kommt auf einen höchst gröblichen Nationalismus hinaus, der das Idealbild des eigenen Typus, wie es annähernd in seltenen Edelexemplaren erreicht wird, entgegenstellt dem Zerrbilde des fremden Typus, zu dem er annähernd in seltenen Kümmerexemplaren herabsinkt. Man stellt ζ. B. den seit Urzeiten freien Großbauern Dithmarschens, den „Jörn Uhl" (aber nicht den durch Vogt, Grundherrn und Gerichtsherrn zertretenen deutschen Kleinbauern des 18. Jahrhunderts) gegen den polnischen Kleinbauern unter dem heutigen Musterregiment der galizischen Junker (aber nicht gegen den adeligen, großbäuerlichen Schlachzitz des 13. Jahrhunderts). Oder man stellt germanische Edeltypen wie Siegfried, oder den Jahnschüler Friesen oder Goethe (nicht aber den feigen, faulen und gedankenlosen Spießbürger Deutschlands, den es doch auch in einigen Exemplaren geben soll) gegen den „hosenverkaufenden Jüngling" aus Galizien (aber nicht gegen Maimun, Spinoza, Mendelssohn, Heine, Israels und Ludwig Frank). Auf diese Weise frisiert man die Weltgeschichte nach Herzenslust und beweist alles, was ein süßer Pöbel gern hören will.

4. Die organizistische Theorie Die letzte Abart der Theorie der zyklischen Katastrophen geht von der großen und fruchtbaren soziologischen Idee aus, daß ein „Volk", oder eine „Gesellschaft" ein „Organismus" ist: ein Gedanke, der bekanntlich den gewaltigen Systemen von Auguste Comte und Herbert Spencer zugrunde liegt. Er ist übrigens hier nur mit Bewußtsein zum Eckstein einer wissenschaftlichen Lehre gemacht worden, aber er ist uralt. Uberall finden wir in Wissenschaft und Dichtung Wendungen, die diese Beziehung andeuten; man spricht von jugendlichen, alternden, sterbenden Nationen, vom Kindheitszustande der Völker, von ihren Krankheiten und ihren Ärzten und Heilmitteln usw. Diese Auffassung haben einige Forscher zum Range eines geschichtsphilosophischen Hauptschlüssels erhoben. Indem sie den „Supraorganismus" der Gesellschaft dem tierisch-menschlichen Organismus gleichsetzen, kommen sie zu der Vorstellung, daß er ebenso wie das menschliche Individuum einem gesetzmäßigen Ablauf der Altersphasen unterworfen sei: Kindheit, Jugend, Mannesund Greisenalter und daß der „Völkertod" ebenso gesetzmäßig das Ende dieses Zyklus bilden müsse. Da diese Hypothese dem oben hinschauenden Blicke sehr gut zu der Tatsache der zyklischen Katastrophen zu stimmen schien, so wurde sie häufig genug zum Range einer wissenschaftlichen Theorie erhoben.

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Es ist klar, daß diese kausale Erklärung der zyklischen Katastrophen die trübste von allen ist. Denn der politischen Desorganisation, der Rassendegeneration könnte doch durch Glück und weise Gesetze allenfalls einmal ein Volk entrinnen: aber gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen, und so wäre das Schicksal der antiken Völker eine unentrinnbare Notwendigkeit auch für die heutigen Kulturträger. Die Lehre verlangt daher eine besonders scharfe Betrachtung. Da zeigt sich nun zunächst, daß die Theorie in ihrer Anwendung auf die Tatsachen der Geschichte doch auf Schwierigkeiten stößt, die der erste flüchtige Blick nicht entdeckte. Schon die Zeitverhältnisse sind schwer mit ihr in Einklang zu bringen. Weshalb vollzog sich der Niedergang Roms von seiner Blüteperiode an in einem Jahrtausend, während die griechischen Stadtrepubliken in zwei bis drei Menschenaltern den verhängnisvollen Weg von der Höhe zur Tiefe zurücklegten? Entweder muß man hier die weitere Annahme machen, daß die Lebensdauer dieser Supraorganismen Verschiedenheiten aufweist, die beim Menschen unerhört sind; - oder man muß zugeben, daß die griechischen Republiken nicht dem Alterstode, sondern einer sozialen Krankheit erlagen: und dann ist mindestens für sie das geschichtsphilosophische Problem wieder aufgerollt. Es tritt dann aber auch für Rom nicht minder die Frage an uns heran, ob nicht auch sein Ende einer sozialen Krankheit, nicht aber dem Marasmus senilis zugeschrieben werden muß. Ein anderes Bedenken ist, daß nur in den seltensten Fällen der antiken Geschichte von einem eigentlichen „Völkertode" gesprochen werden kann. Nicht ein Volk starb, sondern eine Verfassung; eine politische Herrschaft zerbrach und machte einer anderen Platz. Das Volk aber lebte unter dieser weiter, zuweilen in gedrückteren, zuweilen aber auch in wesentlich günstigeren Verhältnissen. Hier kann man doch nur in sehr übertragenem Sinne vom „Tode" einer Nation sprechen, etwa wie vom „bürgerlichen Tode"; und das führt uns dem kausalen Verständnis der zyklischen Katastrophen kaum irgend näher. Es ist aber zuweilen dieselbe „Erklärung" allen Ernstes, und nicht nur von schwachköpfigen Historikern, sogar für diejenigen Katastrophen gegeben worden, bei denen von einem „Völkertode" nicht einmal in diesem übertragenen Sinne die Rede sein konnte, da das betroffene Volk sich von seinem Falle wieder erholte, ohne seine Selbständigkeit auf die Dauer eingebüßt zu haben. Ich denke an ein berühmtes Buch, in dem tatsächlich der Niedergang des deutschen Volkes vom 16. Jahrhundert an als „Altersverfall" bezeichnet wird. Ein seltsamer Altersverfall, von dem der hinfällige Greis zur frischesten Jugendkraft auferstehen kann! Die Altweibermühle und Fausts Hexentrank scheinen also für Nationen nicht nur in Märchen und Dichtung zu bestehen! Und ich meine, diese letzte Anwendung des Prinzips zeigt, daß es sich bei dieser organizistischen Theorie eigentlich um gar keine ernstgemeinte Erklärung handelte, sondern um eine der vielen, im wissenschaftlichen Betrieb so überhäufigen unverbindlichen Redensarten, die gedankenlos gebraucht werden, weil sie sich immer zur rechten Zeit einstellen, wo Begriffe fehlen. Daß gerade in den Geisteswissenschaften eine solche „Zuchtlosigkeit des Geistes" sehr häufig ist, hat kürzlich ein bekannter Geschichtsforscher beklagt; und in der Tat wäre vielen ihrer Jünger ein Kursus in der straffen, quantitativ bestimmten, d. h. nach Kant einzig wissenschaftlichen, Methodik des naturwissenschaftlichen Denkens sehr wohltätig. Die organizistische Theorie ist in Wahrheit nicht viel besser als eine Verlegenheitsphrase. Faßt man sie ernstlich ins Auge, wie es ζ. B. der geistvolle Kanzler Rümelin getan hat, so zeigt sich sofort, daß sie unhaltbar ist. Wohlgemerkt: ich spreche hier nicht von der organizistischen Theorie im allgemeinen, sondern von ihrer speziellen Anwendung auf die zyklischen Katastrophen der Geschichte. Die allgemeine Theorie hat mindestens als Denk- und Forschungsmittel (als „heuristisches Prinzip") einen gar nicht zu überschätzenden Wert und baut sich tatsächlich auf außerordentlich weitgehenden Ähnlichkeiten zwischen dem Organischen und „Supraorganischen" auf. Auch eine „Gesellschaft" bildet und entwickelt sich nach der Weltformel Sir Herbert Spencers, ganz wie das organische Leben: im Fort-

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

schritt von einer unverbundenen Gleichartigkeit zu einer immer enger verknüpften Ungleichartigkeit: „fortschreitende Differenzierung und Integrierung". Und, betrachtet in einem gegebenen Augenblicke, ist auch eine Gesellschaft, ganz wie ein echter Organismus, ein Wesen, das lebt, d. h. fortwährend bemüht und in weiten Grenzen auch befähigt ist, sich veränderten Lebensbedingungen anzupassen. Oder, um wieder mit Spencer zu reden: „das bestrebt und befähigt ist, sich durch Veränderung innerer Relationen veränderten, äußeren Relationen gegenüber in seiner wesentlichen Form und seinem Bestände zu erhalten". Eine Gesellschaft hat ζ. B. die Fähigkeit zur „Regeneration" verlorener Bestandteile, wie die wunderbare Tatsache lehrt, daß nach verlustreichen Kriegen die relative Zahl der Knabengeburten regelmäßig stark anwächst. Das sind Ähnlichkeiten, die uns in der Tat berechtigen, eine Gesellschaft als das Äquivalent eines Organismus zu betrachten und mit dieser Voraussetzung als Forschungsmittel zu arbeiten. Aber man begibt sich sofort vom festen wissenschaftlichen Boden auf Treibsand, sobald man die Analogie spezialisiert, d. h. sobald man den Gesellschaftsorganismus als Äquivalent, nicht eines Organismus schlechthin, sondern eines bestimmten Individuums, ζ. B. eines Menschen, auffaßt. Nur was von jedem Organismus schlechthin, dem einfachen wie dem entwickelten, dem individuellen wie dem kollektiven, gemeinsam ausgesagt werden kann: nur das darf man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch beim Supraorganismus einer Gesellschaft erwarten. Zu diesen gemeinsamen Attributen aller Organismen ohne Ausnahme gehört, da sie sämtlich eine „Physiologie" haben, d. h. ein normales Leben unter normalen Bedingungen, daß sie auch eine „Pathologie" haben können, d. h. ein abnormes Leben, wenn abnormale Bedingungen bestehen. Oder mit anderen Worten: jeder Organismus kann erkranken, und diese Erkrankung kann je nach der Größe seiner physiologischen Breite und der Angriffskraft der Schädlichkeit in Heilung oder Tod übergehen. Wir dürfen also erwarten, bei der Beobachtung der Lebensgeschichte der gesellschaftlichen Supraorganismen zuweilen Symptome von Krankheit, seltener den Tod an Krankheit zu finden. Dagegen gehört der Zyklus der Altersphasen nicht zu den gemeinsamen Attributen aller Organismen, sondern ist das Attribut nur einer Gruppe von Organismen, nämlich der höher entwickelten Individualorganismen. Das niedrigstehende Einzelwesen, ζ. B. die Amöbe, wird nicht geboren, altert nicht und stirbt nicht an Altersschwäche: es entsteht durch Teilung und pflanzt sich durch Teilung fort, es ist ewig. Und dasselbe gilt für die Kollektivorganismen: einen Wald, einen Korallenstock, einen Ameisen- oder Bienenstaat. Sie können durch eine geographisch-klimatische Umwälzung ihres Milieus, durch Elementarkräfte, durch tierische oder pflanzliche Feinde zugrunde gehen, können an Infektionskrankheiten erkranken und auch daran zugrunde gehen: aber sie altem nicht und sterben nicht an Altersschwäche·, denn sie verjüngen sich fortwährend durch Erneuerung ihres Individuenbestandes. Niemand wird zweifeln, daß ζ. B. ein Wald, wenn sich in seinen Existenzbedingungen nichts ändert, „ewig" bestehen bleiben wird. Will man für den Supraorganismus einer menschlichen Gesellschaft durchaus einen näheren Vergleich anziehen, so darf man bloß einen Kollektiv-, niemals aber einen Individual-Organismus wählen. Denn ein solcher Vergleich stellt zwei inkommensurable Größen zusammen, das der Dauer Fähige mit dem Vergänglichen, die „Substanz" Spinozas mit seinem „Modus". Ob ein Volk altern kann, wissen wir nicht; daß es altern muß, ist eine durch nichts gerechtfertigte Annahme. Daher ist die organizistische Theorie der zyklischen Katastrophen abzulehnen. Mit diesen Feststellungen scheint mir ein Hauptteil der gestellten Aufgabe gelöst. Um sie gänzlich zu erledigen, muß der Negation das Positive folgen, d. h. es muß gezeigt werden, erstens: welche Kräfte es waren, die die stattgehabten zyklischen Katastrophen namentlich der antiken Welt herbeigeführt haben; - und zweitens, daß diese Kräfte in unseren heutigen Gesellschaften nicht mehr wirksam sind, daß hier andere, entgegengesetzte „Tendenzen" sich durchsetzen.

Das Gesetz der zyklischen Katastrophen

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In meinem „Staat"1 habe ich den Versuch gemacht, diesen positiven Teil der Aufgabe zu lösen, indem ich nachweise, daß die zyklischen Katastrophen der Antike durchaus auf ein Institut zurückzuführen sind, das nicht mehr existiert, auf die Sklavenwirtschaft. Auf diese Darstellung muß ich hier verweisen.

1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, Jena 1922-29, S. 416ff.

Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung

[1903]

Inhalt

Vorwort

270

1

271

Α. Die Ursache der geschichtlichen Bewegung (Heroistische und kollektivistische Geschichtsauffassung)

271

1. Charakteristik 2.

Kritische Würdigung der heroistischen und der kollektivistischen Geschichtsauffassung

B. Die Richtung menschlicher Massenbewegung 1. Das Endziel der Massenbewegung (Die geschichtlich wirksamen Massenbedürfnisse) a) Das ökonomische Massenbedürfnis b) Das religiöse Massenbedürfnis

271 272 281 282 282 284

Π. Die Zwischenziele der Massenbewegung (Die Mittel der Massenhandlung) A. Darstellung der geltenden Lehren

286 286

1. Die ökonomistische Geschichtsauffassung

286

2.

Die materialistische Geschichtsauffassung

287

B. Die sozial-ökonomische Geschichtsauffassung

288

1. Die politischen Mittel der Bedürfnisbefriedigung a) Die primitive Organisation der politischen Mittel (Krieg und Staat)

289 289

b) Die Entfaltung des politischen Mittels (Das Feudalwesen)

292

2.

Die Entstehung des ökonomischen Mittels

299

3.

Das Spiel der Kräfte im entfalteten Staate (Klassen, Klasseninteressen und Klassenkampf)

301

4.

Zusammenfassung der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung

306

[Dieser Artikel erschien erstmals in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, N r . 27 (1903), S. 323-352 und 369-413; A.d.R.]

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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und

Demokratie

Vorwort Die folgenden Blätter sind entstanden als Entwurf zum einleitenden Kapitel eines größeren soziologischen Werkes. Da Verfasser aus mehrfachen Gründen die Vollendung dieser Arbeit hat zurückstellen müssen, so entschließt er sich zur Herausgabe der Skizze, um hoffentlich aus der Kritik der Fachgenossen, sei es für die Vertiefung, sei es für die Verbesserung seiner Anschauungen, neue Gesichtspunkte zu gewinnen, die der endgültigen Redaktion zugute kommen könnten. Für diese ist eine dogmengeschichtliche Einleitung und Würdigung der zeitgenössischen Geschichtsphilosophen bzw. Soziologen selbstverständlich in Aussicht genommen, die hier noch fehlt. Es finden sich lediglich Ansätze dazu, einzelne Zitate und noch seltenere polemische Ausführungen, schon in dem vorliegenden Text eine „Unstimmigkeit", die ich lebhaft bedauere, aber nicht mehr ändern kann. Es wird mir eine Ehrenpflicht sein, sobald wie möglich meinen Dank für vielfache Anregung, wie auch meine mannigfachen Bedenken gegen vorgetragene Anschauungen auszusprechen und zu begründen. Das bibliographische Bedürfnis nach Nachweisen über die soziologische Literatur wird ja durch Paul Barth's „Die Philosophie der Geschichte als Soziologie"1 in fast vollkommener Weise befriedigt, so daß ich mich begnügen darf, darauf hinzuweisen. Daß ich, meinem Studiengang entsprechend, außer durch die hier aufgeführten eigentlichen Soziologen und Geschichtsphilosophen, auch durch Historiker, Ethnologen und namentlich soziologisch interessierte Nationalökonomen vielfach angeregt worden bin, wird der Fachmann unschwer erkennen. Ich ziehe vor, lieber keinen Namen zu nennen, als aufs Geratewohl einige herauszugreifen. Die Soziologie, als die Krönung des stolzen Baues der Geisteswissenschaften, dankt so vielen Einzelzweigen der Forschung und in jedem Einzelzweige so vielen verdienten Forschern ihre Bausteine, daß eine vollständige Liste Bogen füllen würde. Hier konkurrieren außer Philosophie und Psychologie Geschichte und Ökonomik, Rechts- und Staatswissenschaft, Religions-, Sprach- und Kunstphilosophie, Anthropologie und Kulturgeschichte und weiter ohne Ende - eine unabsehbare Fülle der Erscheinungen, jedem und vor allem den auch äußerlich eingeengten Privatgelehrten nicht zu bewältigen. So mag dieser Versuch nachsichtige Beurteilung finden! Sein Verfasser weiß, was er der Universitas litterarum schuldet und denkt, seine Schuld bald getreulich abzahlen zu können.

1

Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Bd. I, Leipzig 1897.

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

271

I.

A.

Die Ursache der geschichtlichen Bewegung (Heroistische und kollektivistische Geschichtsauffassung)

Was ist Geschichte? Ich glaube, daß alle geschichtsphilosophischen Schulen ohne Zögern die folgende allgemeine Definition annehmen werden: Geschichte ist die Bewegung von Menschenmassen, Geschichtswissenschaft ist die Lehre von der Bewegung von Menschenmassen. Denn die Einzelhandlung gilt allgemein nur für „geschichtlich", insofern Massenbewegung auf sie folgt. Casars Mahlzeit ist eine Handlung Casars, aber keine geschichtliche Handlung. Die gleiche Ubereinstimmung glaube ich noch voraussetzen zu können, wenn es sich um die Beantwortung der allgemeinsten Frage nach der Ursache dieser geschichtlichen Massenbewegung handelt. Da alle menschliche Bewegung (d. h. alle willkürliche, die hier allein in Frage kommt, Reflexbewegungen interessieren uns hier nicht) auf Triebe hin erfolgt, Triebe aber nichts anderes sind, als zur Befriedigung drängende Bedürfnisse: so sind alle geschichtsphilosophischen Schulen, soweit ich sehen kann, darin einig, daß menschliche Bedürfnisse die Ursache der geschichtlichen Bewegung sind. Wessen Bedürfnisse? Hier scheiden sich die Geister. Die „heroistische" Geschichtsauffassung trennt sich so in der Beantwortung dieser Frage von der „kollektivistischen".

1.

Charakteristik

Die ältere „heroistische" Auffassung, die heute noch fast unbestritten die Universitäten beherrscht, nimmt an, daß es Bedürfnisse resp. Triebe einzelner Menschen, der „Genies", der „geborenen Herrscher", der „Heroen" sind, die die rudis indigestaque moles durch ihr schöpferisches „Es werde!" allein in Bewegung setzen. U n d sie spricht als die Bedürfnisse, die den Willen dieser Heroen lenken, selbstverständlich die „höheren Triebe" an: die egoistischen der Ruhm und Herrschsucht, die altruistischen der Volks- und Vaterlandsliebe, auf noch höherer Stufe der Menschenliebe (Christus) oder gar der allgemeinen Liebe zu allem Lebenden (Buddha). Die jüngere, „kollektivistische" Auffassung behauptet dagegen, daß die bewegende Kraft der Geschichte in der Massenseele zu suchen ist. Oder mit anderen Worten: daß es ein „Massenbedürfnis" ist, das die Masse in Bewegung setzt. Da nun aber die höheren und höchsten Triebe in den „Viel zu Vielen" keinen Raum haben, da die Triebe der „großen Persönlichkeit", durch die sie sich ja von der Masse unterscheiden soll, in dieser gleichen Masse nicht lebendig sein können, so wird meistens angenommen, daß keine anderen als die niedersten, die ökonomischen Bedürfnisse und Triebe die geschichtliche Bewegung verursachen, d. h. die Triebe zur Versorgung mit materiellen Genußgütern, namentlich mit der Nahrung, aber auch, je nach Klima und Wirtschaftsstufe, mit Kleidung und Behausung. In dieser Gestalt trägt die kollektivistische Theorie den Namen der „ökonomischen Geschichtsphilosophie" und wieder eine Abart dieser ökonomistischen ist die „materialistische", deren besondere Auffassung uns unten noch beschäftigen wird. Ich will sofort hier vorgreifend bemerken, daß ich schon die erste Fassung, geschweige denn die noch engere zweite, für zu eng halte und deshalb eine weiter spannende Theorie mit dem bezeichnenderen Namen: sozial-ökonomische Geschichtsphilosophie vorschlagen und begründen werde. Der Name „materialistisch" deutet glücklich einen ferneren Gegensatz zu der älteren Auffassung an. Diese pflegt gemeinhin

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

nicht nur „heroistisch", sondern auch „idealistisch" zu sein, d. h. sie glaubt, die Geschichte sei ein „sittliches Problem" (Mommsen); und zwar wird das meistens in dem Sinne geiaßt, als sei die Geschichte die fortschreitende Verwirklichung einer sittlichen Idee. Wenn diese Vorstellung weiter nichts besagen soll, als daß der Verlauf der Geschichte darauf hinaus kommt, die Menschheit empor zu führen von der Knechtschaft zur Freiheit (Hegel), von der kriegerischen zur friedlichen Tätigkeit (Saint-Simon), von der Barbarei zur Humanität (Herder), von der Natur zur Vernunft (Schleiermacher): dann ist die „materialistische" Auffassung mit solcher „idealistischen" durchaus vereinbar. - Wenn aber hier das Telos des Aristotelismus spukt, wenn die Lehre besagen will, daß die „Idee", indem sie ihrer Verwirklichung „zustrebt", die aktive Kraft der Geschichtsbewegung ist, oder mit anderen Worten, wenn das „Wertresultat" der Weltgeschichte nicht als ihr Ergebnis, sondern als ihr Ziel und Zweck gefaßt werden soll, dann freilich stellt sich die materialistische Auffassung als kausale Wissenschaft in den denkbar stärksten Gegensatz gegen die idealistische als teleologische Mystik, der gleiche Gegensatz wie zwischen der vorlamarckischen teleologischen und der nachlamarckischen kausalen Biologie, ein Gegensatz, der die ganze Geistesgeschichte der Menschheit umschließt. Denn das Teleologische ist immer auch das Theologische, und alle Wissenschaft und Philosophie ist nur erwachsen mit dem Masse ihrer Abkehr vom Theologisch-Teleologischen. Dies in der möglichsten mir erreichbaren Kürze der Unterschied der beiden Geschichtsphilosophien.

2. Kritische Würdigung der heroistischen und der Geschichtsauffassung

kollektivistischen

Die heroistisch-idealistische Geschichtsauffassung ist schon durch ihren Ursprung verdächtig, weil sie entstanden ist aus den Aufzeichnungen der Hofhistoriographen, die den Verlauf der Dinge unter den Gesichtswinkel des Nutzens und des Glorie-Bedürfnisses ihrer Herren sahen oder gezwungen waren zu sehen. Daß sich Fürsten, Kanzler, Generale und Gesetzgeber für die einzig maßgebenden Faktoren der Geschichte halten, ist bekannt, und so mußte die Geschichtsdarstellung selbst von diesem Glauben ausgehen und beherrscht werden. Die heroistische Theorie kann aber den geschichtlichen Verlauf gar nicht erklären. Gerade die allerwichtigsten geschichtlichen Massenbewegungen, die entscheidenden, sind ohne Vermittlung von „Heroen" erfolgt, die Wanderungen. Alle Weltgeschichte ist im Kern Geschichte von Wanderungen. Soweit wir rückwärts blicken können in den Nebel, der die Anfänge der Menschheitsentwicklung auf diesem Planeten verhüllt, fährt alle Bewegung der Kultur auf Bewegung von Menschenmassen im eigentlichen Sinne, auf Wanderung zurück. Durch Wanderung an Flüssen und Seeküsten entlang kam der primitive Tiermensch - so nimmt die Kulturgeschichte mit Wahrscheinlichkeit an, - in Berührung mit anderen Klimaten und geographischen Bedingungen; auf diese Weise allein entrann er aus den Händen seiner bald überzärtlichen, bald hysterisch aufwütenden Mutter, die ihr Kind verdarb, der Tropennatur, in die Zucht der strengen aber gütigen, alle Kräfte des Leibes und der Seele unermüdlich entwickelnden Lehrmeisterin, der kargeren Natur der gemäßigten Zonen; und so wuchsen durch die Wanderung und während unaufhörlicher Wanderung aus den dunklen, passiven Tropenrassen die hellen, aktiven Herrenrassen des Nordens empor, mit deren Eintritt in die Ebenen der großen Ströme die eigentliche Weltgeschichte erst beginnt. Und was ist diese in letzter Linie anderes als Wanderung? Welle auf Welle aus dem überquellenden Ozean kriegerischer Herrenmenschen in den großen Wüsten Zentralasiens und Arabiens bricht über die Deiche der Ackerbaustaaten in den reichen Schwemmebenen. Schicht lagert sich über Schicht; und kaum ist eine neue Herrschaft notdürftig gefestigt, so muß sie schon wieder die siegreichen Waffen rückwärts wenden, um die nachdringen-

Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung

273

den Verwandten abzuwehren. Anprall der Wanderer und ihr Rückstau oder ihr Einbruch: das ist der gewaltige Rahmen, in den alle Verfassungs-, Wirtschafts- und politische Geschichte des Altertums eingeschrieben ist. Und das Mittelalter beginnt mit jener ungeheuren Wanderbewegung, die wir „Völkerwanderung" engeren Sinnes zu nennen pflegen. Von Osten wälzt sich in zwei ungeheuren Strömen die wandernde Masse nach Westen, nördlich und südlich von der Mittelsee, und das ganze Feld der alten Kultur wird einer neuen Tiefpflügung unterworfen. Bei Xerez de la Frontera und Tours und Poitiers stauen sich die beiden Ströme aneinander empor, kommen notgedrungen zum Stillstande, und nun beginnt das eigentliche Mittelalter, die charakteristische Epoche der Feudalverfassung, verursacht hauptsächlich dadurch, daß die Mächtigen ihre kriegerischen Gelüste nunmehr nach innen kehrten, und daß das niedere Volk fortan nicht länger durch Auswanderung ihrem Drucke ausweichen konnte. Noch sind die neuen Reiche nicht gefestigt, so beginnen schon wieder die Angriffe neuer Wanderer: der Wikinge von Norden, der Avaren, Magyaren, Slawen, Tataren, Mongolen, Türken von Osten, der seeraubenden Sarazenen und Mauren von Süden, die abgewehrt werden müssen und auf die Verfassung und politische Lage Europas entscheidend einwirken. Und mitten inne geht die Rückwanderung, der Rückstau in den Kreuzzügen, in der Kolonisation der Levante, die die kapitalistische Wirtschaft vorbereitet, und vor allem in der ungeheuren Kolonisation der slawischen Länder östlich von Elbe und Saale und an der Donau, die das Feudalsystem im Kerne umgestaltet und die beiden Großmächte neu erschafft, die später die ersten Jahrhunderte der Neuzeit entscheidend mit beherrschen: Preußen und Osterreich. Aber damit sind die Einflüsse der Wanderung auf die Neuzeit und neueste Zeit bei weitem noch nicht erschöpft. Mit dem Wandervolke der Türken kämpft Europa bis tief ins 19. Jahrhundert. Und inzwischen erschafft die überseeische Auswanderung eine neue gewaltige Großmacht, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die ihr Schwert und ihr Gold sehr nachdrücklich in die Wage der Völkergeschichte zu werfen begonnen hat, und deren Einfluß auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung der alten Welt ganz und gar unübersehbar ist. Und inzwischen schafft ferner die binnenländische Abwanderung vom Lande in die Industriebezirke in England, Deutschland, Osterreich, Italien, Rußland die Bevölkerung des alten Kontinentes völlig um, verlegt den Schwerpunkt der politischen Macht und wirtschaftlichen Kraft auf eine ganz andere Stelle, verändert die Massenpsychologie von Grund auf, läßt alte Parteien verschwinden und stampft neue aus dem Boden, zerschlägt alte Worte und stellt neue über sich. Das wirkt alles die Wanderung, und sie allein! Vor diesem gewaltigen, allem Persönlichkeitswirken zur Voraussetzung dienenden Tatsachenkomplex muß jede andere Geschichtsauffassung als die kollektivistische ihren Bankrott erklären. W o sind hier die „Heroen" Carlyle's, die „Einzigen" Nietzsche's, die der ewig toten Masse ihren Geist einhauchten? Teutobod? Theodorich? Attila? Omar? Dschingis-Khan? Sie waren der Balken, den der Strom gegen die Brücke wirbelt: wer brach die Brücke? Der Strom, der lebende, oder der Balken, dem der Strom die Bewegung gab? Denn wer kennt die „Genies", die die Hyksos gegen Ägypten, die Mongolen und Mandschu gegen China, die Schwarzflaggen gegen Annam, die Zulu gegen Kapland, die Wahehe und Mafiti gegen Uganda, die Inka gegen die Peruaner, die alten Brahminen über den Indus führten?! Wer war der „Staatsmann", der den slawischen Osten mit Millionen deutscher Bauern besiedelte, wer der Gewaltige, der in einem Jahrhundert 18 Millionen Europäer zum Auszuge nach dem Lande der Streifen und Sterne entflammte, wer die „Persönlichkeit", die das europäische Landvolk zu Dutzenden von Millionen vom Lande fortfegte und in die Städte warf? Und was konnte selbst ein Staatsmann wie Otto Bismarck anderes leisten, als in dieser von ihm nicht geschaffenen, nicht gewünschten, aber nicht zu zügelnden oder zu dämmenden Strömung das Schiff des Staates, mit dem Vorteil seiner Klasse und dem Nutzen seiner Dynastie an Bord,

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

möglichst geschickt vor Wind und Wellen zu halten? Er selbst wußte das genau genug, der gedankenmächtige Riese, als er unter sein Bildnis das bescheidene Wort schrieb: „Unda fert nec regitur!" Aber die Gedankenschwachen wollen ihm und uns einbilden, er habe den Strom fließen und stillstehen lassen nach seinem Willen, wie Josua die Sonne stillstehen ließ in der Amoriterschlacht; und die Zwerge von heute wollen tun, was der Riese nie ungestraft versuchte, und lassen den Ozean mit Ketten peitschen, wenn er wogt, wie das Gesetz der Natur es ihm vorschreibt, das sich um Menschengesetz nicht kümmert. 1 Die heroistische Auffassung ist aber nicht nur ungenügend, weil sie die wichtigsten Erscheinungen nicht erklären kann, sondern sie ist auch noch zweitens da, wo sie glaubt erklären zu können, geradezu unwissenschaftlich! Ihre groteske Uberschätzung der Einzelkraft beruht lediglich auf einer liederlichen Fassung des Begriffs der „Ursache". Nach ihr ist der Heros resp. seine sich auf die Menschenmassen seiner Umgebung äußernde Seelenenergie die Ursache der geschichtlichen Massenbewegung. Der Begriff der Ursache ist aber ein wissenschaftlich streng bestimmter: „causa aequat effectum" ist die siegreiche Formel der Naturwissenschaft. Die Weigerung, sie als auch für die „Geisteswissenschaften", d. h. die Soziologie, gelten zu lassen, ist eine rein willkürliche, durch nichts begründete. Auch hier dürfen wir nur eine solche Kraft als Ursache annehmen, die der in der Wirkung entbundenen Kraft quantitativ gleich ist. Und man braucht das Problem nur so zu stellen, um sofort zu sehen, wie grotesk die heroistische Auffassung ihre Helden überschätzt. Eine Bewegung, die zwei Jahrtausende hindurch die Massen zu Millionen in Bewegung hielt, wie das Christentum, also Milliarden von „Menschenkräften" entband, kann unmöglich ihre Ursache, d. h. ihr Äquivalent, in der einen „Menschenkraft" Christi gehabt haben, und schätze man ihre relative Überlegenheit noch so hoch. Und ebensowenig kann ein zerstörender Taifun wie der Arabersturm sein Äquivalent in der einen Menschenkraft Mohammeds gehabt haben. Wenn das zugegeben werden muß, so muß auch zugegeben werden, daß die heroistische Auffassung unhaltbar ist. Denn Wissenschaft ist nach Kant nur insoweit vorhanden, wie Mathematik reicht, d. h. mit anderen Worten: wie feste quantitative Beziehungen zwischen den einzelnen Phänomen festgestellt werden. Diese einzig wissenschaftliche Frage hat sich die hier bekämpfte Auffassung noch nicht einmal vorgelegt, geschweige denn beantwortet. Die ganze Verwirrung ist sehr einfach darauf zurückzuführen, daß die Heroisten zwei sehr verschiedene Begriffe gleich setzen. Sie halten „Ursache" und „Veranlassung" für gleichbedeutend. Es ist das die naive vulgäre Auffassung, die den Funken, der ins Pulverfaß fällt, den Vogelflügel, der die Lawine löst, den Schlag der Spitzhacke, der einen Staudamm durchbricht, für die „Ursache" hält der Explosion, der Verschüttung, der Überschwemmung. Wissenschaftlich angesehen handelt es sich hier aber jedes mal um materielle Massen im labilen Gleichgewicht, die durch eine kleine „veranlassende" Störung in Bewegung gesetzt und erhalten werden, bis das stabile Gleichgewicht erreicht ist, oder, im energetischen Ausdruck: um Mengen latenter Energie, die durch eine „veranlassende" Gleichgewichtsstörung in lebendige Kraft umgesetzt werden. Hier sind „Ursache" und „Wirkung" augenscheinlich äquivalent. Gerade so deutet die kollektivistische Auffassung die geschichtliche Massenbewegung. Eine solche kann überhaupt nur dann eintreten, wenn ein allgemeines Bedürfnis vorhanden ist, „seine Lage zu verändern", d. h. latente Energie. Je stärker der Trieb, einer um so kleineren Veranlassung bedarf es, um die Masse aus ihrem labilen Gleichgewicht zu werfen, oder, um ihre latente Energie in lebendige Kraft umzusetzen. Und auch hier sind dann, wenn es geschah, Ursache und Wirkung völlig äquivalent.

1 [Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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Wenn wir im Lichte dieser quantitativen Auffassung die beiden oben angeführten Beispiele betrachten, so schwindet jede Schwierigkeit. Wir haben im Römerreiche kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung eine soziale und wirtschaftliche Lage der Massen, die ihre „latente Energie", das Bedürfnis, den Trieb nach einer Lageveränderung bis auf einen solchen Grad der Spannung angehäuft hatte, daß die geringste Veranlassung über den kritischen Punkt fortführen mußte. Denn der „soziale Gradient" war maximal. Ich habe diesen meteorologischen Begriff in die Sozialwissenschaft eingeführt, weil er in unübertrefflicher Deutlichkeit die sozialen Verhältnisse veranschaulicht. Der meteorologische Gradient bedeutet den Neigungswinkel einer Luftmasse von der Höhe des Maximum bis zur Tiefe des Minimum, gemessen an der absoluten Entfernung der Isobaren. Je kleiner der Gradient, d. h. je weiter die Isobaren voneinander entfernt sind, um so flacher ist der Trichter, um so geringer die Geschwindigkeit, mit der die Luftmasse seine Wandung hinabgleitet; je größer der Gradient, d. h. je näher die Isobaren einander liegen, um so steiler ist der Trichter, um so größer die Geschwindigkeit der Luftbewegung, d. h. um so stärker der Sturm.1 Im Römerreiche war der Gradient, wie gesagt, maximal. Die ganze Masse der Bevölkerung, entrechtet und ausgebeutet, lag unter einer Isobare außerordentlich hohen sozial-ökonomischen Drucks. Und, da die Mittelstände so gut wie vollkommen vernichtet waren, lagen die Isobaren bis zur Tiefe des wirtschaftlichen Minimum, zur Klassenlage der winzigen Herrenschicht der römischen Nobilität, dicht aneinander; die Trichterwand war ungeheuer steil, der Zug auf die Massen enorm, das labile Gleichgewicht dicht am kritischen Punkte. Die Lehre Christi war die Veranlassung zu seiner Überschreitung, und die latente Energie setzte in lebendige Kraft um. - Ganz ebenso erklärt sich der Arabersturm. Ein armes, aber in seinem Herrentum stark begehrliches, todverachtendes, religiös fanatisiertes Volk hat eine ungeheure Menge latenter Energie, einen gewaltigen Trieb zu einer Lageveränderung aufgespeichert; die Lehre Mohammeds entbindet die latente Energie in lebendige Kraft: der Sturm bricht los. Er wird aber erst zum Taifun, sobald er in das tiefe Minimum der antiken Sklavenwirtschaft hineinführt: ohne die Bestimmung des Koran, daß jeder Sklave frei wird, der den Islam bekennt, hätte der Arabersturm die alte Welt nie überrannt. Wenn ein Bild gestattet ist, so war Mohammeds Lehre die Schneeflocke, die über einen massigen Hang ballenden Schnees herabrollt und allmählich zur kleinen Lawine wird. Endete der Hang unten in eine flache Mulde, so zerstäubte sie harmlos. Er endete aber in eine steile Wand, auf der ungemessene Schneemassen gerade eben noch hafteten; diese warf sie durch ihren Anprall aus dem Gleichgewicht, und nun donnerte die Verheerung zu Tal, eine Riesenlawine, unendliche Massen von Schnee und Eis mit mitgewirbelten zersplitterten Wäldern und zertrümmerten Felsen. Und: „causa aequat effectum!" Also, um abzuschließen: die Ursache der geschichtlichen Bewegung ist latente Massenenergie, d. h. die Bedürfnisse der Masse zur Veränderung ihrer Lage. Um jedoch Mißverständnisse unmöglich zu machen, die sehr gewöhnlich sind, mögen hier einige Worte über die historische Bedeutung der starken Persönlichkeit eingeschaltet werden. Die heroistische Schule, um ihre schwache Position zu maskieren, pflegt es nämlich so hinzustellen, als wenn die kollektivistische Schule jede Bedeutung starker Persönlichkeiten für die geschichtliche Bewegung überhaupt leugne. Sie hat es dann leicht, den Gegner ad absurdum zu führen, wenn sie einen Julius Cäsar neben einen slowakischen Kesselflicker stellt, um sich über die dummen Kerls lustig zu machen, die beide für gleichwertig erklären. Das ist ein selbstgeschaffener Popanz, den die heroistische Schule zerfetzen kann, ohne daß es der kollektivistischen wehe tut. Sie leugnet die Bedeutung der historischen Persönlichkeit nicht im mindesten: sie weigert sich nur, ihre Uberschätzung mitzumachen. 1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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und

Demokratie

Derjenige kollektivistische Forscher, der in einem Buche jede Bedeutung der historischen Persönlichkeit leugnen wollte, würde sich schon dadurch selbst widerlegen: denn er schreibt ja sein Buch, um Massenvorstellungen und Massenhandlungen auszulösen. Karl Marx, der erfolgreichste Vertreter der kollektivistischen Auffassung, hätte gewiß weder die Internationale, noch die sozialdemokratische Partei begründet und geführt, wenn er der Ansicht gewesen wäre, daß seine eigene historische Bedeutung nicht größer sei als die des dumpfesten Proletariers. Das also kann die kollektivistische Auffassung nicht bedeuten. Was bedeutet sie in Wirklichkeit? Auch die stärkste Persönlichkeit, der Heros, dessen „Energie" (das Wort deckt glücklich physische und psychische Seite der Gabe) die durchschnittliche seiner Zeitgenossen um das Vielfache übertrifft, kann nur dann Massenbewegung auslösen, wenn die Massen, nahe dem kritischen Punkte, im labilen Gleichgewicht ruhen, so daß ein kräftiger „Reiz" oder „Anlaß" sie in Bewegung setzt. Wo das nicht der Fall ist, da bleibt die stärkste Persönlichkeit machtlos. Diese Erwägung führt erst zu der rechten Schätzung der „Genies". Sie erscheinen dem ersten Blicke als „singuläre" Menschen, weil sich an ihren Namen gewaltige Entladungen lebendiger Kraft knüpfen. Wir müssen aber annehmen, daß Menschen von gleicher „Energie" sich zu allen Zeiten in allen Völkern finden. Man sagt gewöhnlich, wenn Julius Cäsar zur Zeit der Pyrrhus-Kriege gelebt hätte, wäre er ein ausgezeichneter Konsul und General geworden; wenn Jesus Christus zur Zeit der Richter, oder Martin Luther im 12. Jahrhundert gelebt hätten, so wären sie vorzügliche Prediger oder Philanthropen oder Gelehrte geworden. In diesem „Wennsatz" erscheint der Sachverhalt in etwas kindlicher Form und stark verschleiert. Man muß statt dessen sagen: die Julius Cäsar, die Jesus und Luther in Zeiten mit kleinem „sozialen Gradienten" konnten die Massen nicht bewegen, weil sie zu weit vom kritischen Punkte waren. Diese Auffassung wird dadurch gestützt, daß in Zeiten mit großem sozialem Gradienten die Persönlichkeiten wild wachsen, ζ. B. in der Renaissance im Römerreich. Neben Cäsar stehen Marius, Sulla, Pompejus, Catilina, Sertorius: daß Cäsar der bedeutendste von allen war, ist wahrscheinlich: aber sicher ist, daß das Schicksal des römischen Reiches in den Hauptlinien ganz dasselbe gewesen wäre, wenn Cäsar als Kind gestorben oder bei Gergovia gefallen, oder bei der Überfahrt nach Dyrrhachium im Sturme untergegangen wäre, und wenn statt einer julischen eine pompeiische Dynastie das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnimg beherrscht hätte. Denn der Gradient war so groß, daß der Einsturz erfolgen mußte.1 Die heroistische Auffassung beruht, wie mir scheint, auf zwei Fehlschlüssen: erstens, wir bezeichnen als JAänner von Genie" Menschen von starken Erfolgen, und zwar täuschen wir uns über die Bedeutung des „Genies" infolge eines typischen Kreisschlusses. Zuerst schließen wir aus der Größe des Erfolges auf die Größe der Energie, und dann nennen wir die supponierte Energie die Ursache des Erfolges. Und zweitens können wir uns von dem dynastischen Gesichtspunkte nicht losmachen, verwechseln fortwährend das Schicksal einer Familie mit dem der Völker. Einige Beispiele für die ersten Fehler: wir nennen Karl: „den Großen", weil er beispiellose Erfolge hatte, und seine Nachfolger Schwächlinge, weil unter ihnen alles zusammenfiel. Und gewiß war Karl von größerer Energie, als die Ludwige und Arnulf. Aber nichts desto weniger ist sicher, daß bereits unter Karl, und ohne daß er es verhindern konnte, jene Desorganisation des Reiches einsetzte und fortschritt, die seinen Nachfolgern alle politische Macht aus den Händen spielte, die Verselbständigung der grundgesessenen Beamtenschaft zur Grundherrschaft und der Niedergang der gemeinfreien Bauernschaft. Gewiß war Otto v. Bismarck ein überlegener Mensch; aber nichts desto weniger ist sicher, daß die wirtschaftlichen Interessen der fahrenden Klassen West- und Ostdeutsch-

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[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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lands: Großkapitalismus und Großlandbesitz, zufällig gerade bis zu seinem Sturze parallel liefen (Zollschutz), so daß die Regierung Deutschlands ein leichtes Spiel war; und daß sie nach seinem Sturze auseinanderwichen, gegeneinander brandeten, so daß von nun an ein fester Kurs vorläufig unmöglich wurde. Dieser Interessengegensatz von Freihandelsbedürfnis und verstärktem Schutzbedürfnis entstand aber ganz unabhängig von den regierenden Männern durch die wirtschaftliche Entwicklung. Bismarcks größtes Glück war sein rechtzeitiger Sturz! Historische Mißerfolge und Erfolge nur auf die persönliche Energie der leitenden Persönlichkeit zurückführen, heißt alle kausale Forschung durch eine Scheinerklärung abschneiden. Ein Beispiel für den zweiten Fehler: daß eine der zwei Kolonialmächte Deutschlands, Preußen oder Sachsen (Osterreich als vorwiegend slawische Macht schied aus), die Vormacht Deutschlands werden mußte, war klar. Denn ihr aus Gründen des politischen Gleichgewichts relativ groß geschnittenes Gebiet mußte, einmal mit Menschen aufgefüllt, die kleineren Staatsbildungen des Stammlandes überwiegen. Daß in diesem Kampfe die Hohenzollern glücklicher, geschickter und kräftiger waren als die Wettiner, ist gewiß; aber ebenso sicher ist, daß die Geschichte Deutschlands in den Hauptlinien ebenso verlaufen wäre, wenn die Wettiner dem Protestantismus treu geblieben, und wenn August der Starke die Kraft seines Landes nicht in den polnischen Abenteuern verzettelt hätte: die Hauptstadt des durch die wirtschaftliche Entwicklung ganz ebenso geeinten Deutschland wäre dann Dresden statt Berlin, und die Wettiner trügen die Kaiserkrone. Die Völker aber, auch der Adel, wären ebenso loyale Sachsen, wie sie heute Preußen sind. Italien ward auch zum Einheitsstaat und hatte doch keinen Bismarck! „Genies" sind also Männer von Erfolg. Der Mensch ist der Anbeter des Erfolges. Sie sind freilich Männer von Erfolg, weil sie Männer von Verdienst sind, von überdurchschnittlicher Energie, die geborenen Führer. Ihre Energie kann der Anlaß zu Massenbewegungen werden, die sonst später eingetreten wären. Das ist Verdienst genug für Ruhm und Ehre, das ist genug von historischer Bedeutung. Daß die Zeitgenossen und Volksgenossen solche Männer ehren, ist sehr berechtigt. Denn für sie ist es von größter Wichtigkeit, daß eine Massenbewegung früher eintritt, als ohne den „Anlaß", den die Energie ihres Führers gab; und für sie ist von noch größerer Wichtigkeit, daß sie im Zusammenprall der verschiedenen Massen Hammer, und nicht Amboß spielen. Aber für das Geschick der großen, derart zusammengeschweißten Massen auf die Dauer ist die Persönlichkeit ohne viel Bedeutung. Ihr Können ist eingeschrieben in einen wenig elastischen Kreis, den die Lagerung der Masse bestimmt; und selbst ihr Wollen, ihre Zielsetzung, kann nur um ein geringes weiter spannen, als die ihrer durchschnittlichen Zeitgenossen. Sie sind nicht Schöpfer, sondern Geschöpfe ihrer Zeit. Das auch für künstlerische und wissenschaftliche Genies zu begründen, wäre eine reizvolle Aufgabe. Indessen gehört es nicht streng zu unserer Aufgabe, die uns ja nur eine Grundlegung, nicht aber die Ausführung der Geschichtsphilosophie als Thema stellte.' Also um zusammenzufassen: die kollektivistische Geschichtsauffassung denkt nicht daran, zu leugnen, daß durch besondere „Energie" über den Durchschnitt ihrer Zeitgenossen sich erhebende starke Persönlichkeiten existieren, die zu Führern der Masse prädestiniert sind. Nur ihre maßlose Uberschätzung lehnt sie ab. Und vor allem muß sie eine unabweisbare methodologische Forderung stellen: alle Geschichtswissenschaft hat die klare Aufgabe, zuerst und vor allem die kollektivistischen Strömungen und Bewegungsantriebe genau zu erforschen. Erst dann wird eine gerechte, wissenschaftliche, d. h. quantitative Bestimmung der Kraft und Leistung der historischen Persönlichkeit zuerst möglich

1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

werden, wenn der Rahmen genau bekannt ist, innerhalb dessen ihr eine gewisse Bewegungsfreiheit (im gewöhnlichen Sinne) vergönnt war. Diese Forderung wird auch derjenige Historiker als berechtigt anerkennen müssen, der die Uberzeugung hat, daß die starke Persönlichkeit in unserer Einschätzung allzu niedrig bewertet worden ist. Die einzige Möglichkeit, diese Schätzung zu widerlegen, ist der vorläufige Betrieb der kollektivistischen Geschichtsauffassung. Dritter und letzter Grund gegen die heroistische Geschichtsdarstellung: sie widerstreitet der Lehre von der Unfreiheit des Willens, dem Determinismus. Es ist hier nicht der Ort, um die allgemein philosophischen Gründe aufzufahren, die dazu zwingen, die menschliche Handlung als streng determiniert, als in die allgemeine Kausalität eingegliedert, aufzufassen. Hier genügt es, festzustellen, daß eine nicht-deterministische Sozialwissenschaft ein Unding wäre. Denn alle Wissenschaft sucht Gesetzmäßigkeit; und wie wäre eine Gesetzmäßigkeit der menschlichen Massenhandlung, das Thema der Sozialwissenschaft, möglich, wenn der menschliche Wille dem Kausalgesetz nicht unterworfen wäre? Willkür und Gesetz sind kontradiktorische Gegensätze. Daher ist die Unfreiheit des Willens der Ausgangspunkt, das „Axiom" aller Sozialwissenschaft. Unfreiheit des Willens bedeutet nichts anderes, als daß der Wille, der unbewußte wie der bewußte, in strenger Kausalität verursacht wird durch die gesamte Verumständung, d. h. das jeweilige „Milieu" des Menschen samt seinen ererbten und erworbenen Charaktereigenschaften. Hätten wir die Universalformel des Laplaceschen Weltgeistes, so könnten wir aus den Umständen Motiv und Handlung jedes einzelnen Menschen berechnen. Davon sind wir weit entfernt. Aber wir sind durch unsere unabweisbare Prämisse gezwungen, anzunehmen, daß eine bestimmte Verumständung im durchschnittlichen Menschen, d. h. im Bestandteil einer Menschenmasse, ein bestimmtes Bedürfnis erzeugen wird, das wieder eine bestimmte Handlung auslöst. Es ist klar, daß für eine solche Betrachtung das bewußte Motiv jede selbständige Bedeutung verliert. Die Soziologie interessiert sich ausschließlich für die menschliche Handlung in ihrer Gesetzmäßigkeit. Wenn diese objektiv determiniert ist durch die Verumständung, so ist es ihr gleichgültig, ob noch eine subjektive Spieglung dieses Prozesses im Bewußtsein nebenher geht, die ebenso streng determiniert ist. Sie hat dieses Phänomen der Psychologie zu überlassen. In ihrem eigenen Betriebe darf sie es ruhig vernachlässigen. Sie darf ohne weiteres die Verumständung als die Ursache, und die Handlung als ihre Folge ansprechen, ohne des bewußten Motivs überhaupt Erwähnung zu tun, das für das Zustandekommen der Handlung ganz ohne selbständige kausale Bedeutung ist. Dieser Auffassung widerstreitet freilich das Gefühl des Menschen auf das lebhafteste, der sich frei wähnt und, aller philosophischen Erkenntnis zum Trotz, immer frei wähnen muß, weil ihm seine Selbstbeobachtung vorspiegelt, daß er jeweils die freie Wahl zwischen mehreren objektiv möglichen Handlungen habe. Daß er tatsächlich nicht die freie Wahl hat, daß nur eine Handlung objektiv und subjektiv möglich ist, das kann er mit den Mitteln subjektiver Selbstbeobachtung unmöglich erkennen, da er wenig oder nichts von der Verumständung, der ,Motivation", weiß, die seine ihm zum Bewußtsein kommenden Motive in ihrer relativen Kraft erregt; und da er gar nichts weiß von den stärksten Motiven seiner Handlung, den unter- oder unbewußten. So erscheint dem getäuschten Menschen die subjektive Begleiterscheinung eines objektiven Zwanges als bewußtes Motiv einer freien Tat! Und zwar wird der Mensch ganz gesetzmäßig getäuscht. Da er ein vernünftiges und sittliches (d. h. soziales) Wesen ist, das sich frei wähnt, so erscheinen regelmäßig in seinem Bewußtsein diejenigen vermeintlichen „Motive", die seine Handlung als vernünftig oder sittlich, oder beides, rechtfertigen. Während er einem objektiven Bewegungszwange folgt, glaubt er als freies Wesen bewußten vernünftigen oder sittlichen Antrieben zu folgen, die ihm gerade diesen Weg mit gerade diesen Mitteln und Zielen als den besten erscheinen lassen.

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

279

Diese Auffassung ist von so großer Bedeutung für die gesamte Sozialwissenschaft und widerstreitet andererseits dem menschlichen Stolze so sehr, daß ich sie durch eine Erfahrung der experimentellen Psychologie dem Verständnis näher führen möchte. Es ist nicht selten möglich, ein empfindliches Individuum in posthypnotischer Suggestion zu gewissen Handlungen zu bringen. Es erhält im Zustande der Hypnose den Befehl, nach dem Erwachen, ohne sich des Befehls zu erinnern, zu bestimmter Zeit an einem bestimmten Orte eine bestimmte Handlung auszuführen, ζ. B. einen Mord. So war es in einem berühmt gewordenen Experiment der Nancyer Schule, wo zwischen Befehl und Ausführung eine lange Zeit, meiner Erinnerung nach 3 Monate, verstrichen. Daß Versuchsobjekt, ein harmloser gutmütiger Mensch, der während der gesamten Frist tatsächlich keine Spur einer Erinnerung an den Befehl hatte, erschien wirklich zur bestimmten Zeit am festgesetzten Orte und versuchte, die ihm bezeichnete, ihm bis dahin völlig fremde Person zu erstechen. Festgehalten und nach seinen Motiven befragt, erzählte er eine Geschichte von langjähriger Verfolgung usw., und zwar in der entschiedenen „Autosuggestion", daß sie das Motiv seines mißglückten Attentats sei. Hier können wir den Mechanismus, der uns interessiert, klar erkennen. Ein Mensch folgt einem Zwangsantriebe durch unterbewußte Motive, verursacht durch eine Verumständung, von der er nichts weiß. Er hat kein noch so schwaches verstandesmäßiges oder sittliches „Motiv" in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes als Ursache seiner Handlung: aber er muß sich solche Motive selbst schaffen. Muß! denn er müßte sich selbst verlieren, sich als vernünftiges, sittliches Wesen aufgeben, wenn er sich - nicht anderen - zugestehen müßte, motivlos zu handeln. Er müßte sich für „geisteskrank" halten: und dafür hält sich nicht einmal der Geisteskranke, solange er krank ist, sondern höchstens retrospektiv, wenn er auf seine früheren Handlungen zurückblickt. 1 Also Zwangsantrieb und Selbsttäuschung über das Motiv! Das hat Ludwig Gumplowicz in die knappe Formel geprägt: „Naturgesetzlich handelt der Mensch, und menschlich denkt er hintendrein!" Es heißt besser: „und menschlich denkt er nebenbeiΓ, denn die Handlung als objektiv sich äußernde Umsetzung psychischer Energie in Muskelbewegung einerseits, und das bewußte Motiv als subjektive Spieglung des Vorganges im Bewußtsein andererseits sind gleichzeitige Folgen derselben Ursache, des Bedürfnisses, des Triebes. Das bewußte Motiv ist also überhaupt nicht Ursache von Handlungen. Das Menschenleben erschöpft sich nach dem Worte des geistreichen Franzosen darin, „zu wollen, was man nicht tut, und zu tun, was man nicht will". Darum ist auch vom Standpunkte der Psychologie aus die Behauptung der heroistischen Schule abzuweisen, daß die bewußten Motive der „großen Persönlichkeiten" die Ursache der Massenbewegung seien. Die kollektivistische Auffassung, als streng deterministische, kausale Wissenschaft von der Geschichte, betrachtet natürlich die bewußten Motive der Masse als ebenso irrelevant wie die der einzelnen. Welche sittlichen oder verstandesmäßigen Gründe eine durch den Zwangsantrieb eines Massenbedürfnisses bewegte Masse sich autosuggerierte, um vor sich selbst, die sich frei handelnd wähnt, das nächste Mittel zur Befriedigung des Massenbedürfnisses zu rechtfertigen: das notiert sie als historische Tatsache, verfällt aber nicht in den Fehler, es für eine historische Ursache zu halten. Gerade dieser Fehler wird aber gegenwärtig von Historikern, Soziologen (und Nationalökonomen) häufig begangen, und zwar nicht nur von heroistisch gesinnten, sondern auch von offen kollektivistischen und solchen, die ein vermittelnde Stellung einnehmen. Just die bewußten Mo-

1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

tive erscheinen ihnen als die letzte Ursache des sozialen Geschehens. Ich werde mich demnächst in einer eigenen Arbeit mit den Vertretern dieser Auffassung kritisch auseinandersetzen: hier muß ich mich darauf beschränken, die prinzipiellen Gesichtspunkte zu skizzieren. Als Ausgangspunkt wähle ich eine kürzlich erschienene, angenehm scharf und präzis formulierte Darstellung Werner Sombarts. Er spricht eine weit verbreitete Anschauung aus, wenn er in dem Geleitwort zum ersten Bande seines „Modernen Kapitalismus" mit starkem Nachdruck betont, „daß wir uns niemals verleiten lassen sollten, als letzte Ursache, auf die wir soziales Geschehen zurückführen wollen, etwas anderes anzusehen, als die Motivation lebender Menschen"1. Er meint damit, dem gebräuchlichen Sinne des Wortes zuwider (Motivation bedeutet den psychischen Prozeß, aus dem die Motive hervorgehen), die bewußten „Motive oder Zweckreihen", die also als „primäre Ursachen oder treibende Kräfte des menschlichen Handelns" angesehen werden. Als seine Gründe für dieses Verbot, weiter zurück zu forschen, gibt er an: 1. „wir würden zu einem unbegrenzten Regressus gezwungen werden, der sein Ende erst bei der Einsicht in die Bewegung der kleinsten Teile und der Gesetze, welche diese regeln, finden könnte", 2. kämen wir „an die noch nicht überbrückte Kluft der psychologischen Verursachung, die eine andere als die mechanische Kausalität ist", 3. „gingen wir des unschätzbaren Vorteils verlustig, von bekannten Kräften (den in der unmittelbaren Erfahrung gegebenen Motiven menschlichen Handelns) zu unbekannten Kräften als bewirkenden Ursachen zurückzugehen". Sombart meint natürlich: „wir hätten den großen Nachteil usw.". „Als welches alles elementare Feststellungen sind, die mir der philosophische Leser verzeihen möge(!)" Sombart hält an dieser Vorschrift auch in einem Teile seines Werk fest: der „kapitalistische Geist", dessen Entstehung sehr geistreich verfolgt wird, wird als eine der Ursachen des Kapitalismus ausgerufen. Merkwürdigerweise aber überschreitet Sombart seine eigene Warnungstafel sehr wohlgemut, wo es sich um den Antipoden des kapitalistischen Geistes, um den ebenso sagenhaften „genossenschaftlichen Geist" handelt. Dieser wird ganz korrekt und im vollen Einverständnis mit meinen Arbeiten über diesen Gegenstand, nicht als Ursache, sondern als Folge der sozial-ökonomischen Verumständung nachgewiesen.2 Und ich meine nun, was dem genossenschaftlichen Geist recht ist, sollte dem kapitalistischen und allen anderen Geistern billig sein! Warum hier die Furcht vor einem „unbegrenzten Regressus"? Diese Furcht ist ganz gegenstandslos. Man hat nicht nötig, bis auf die Bewegung der kleinsten Teile und die Gesetze, welche diese regeln, zurückzugehen; und noch weniger an jene schauerliche erkenntnistheoretische Kluft, die die mechanische Kausalität von der psychologischen Verursachung trennt, sondern man hat nur auf die psychologische Ursache jeder menschlichen Handlung zurückzugehen, und zwar ist das nicht das „bewußte Motiv, die Zweckreihe", sondern das Bedürfnis. Das bewußte Motiv, die Zweckreihe aber ist überhaupt nicht Ursache menschlicher Handlung, sondern, wie wir wissen, nichts als ein begleitendes, subjektives Spiegelbild der Handlung, ist Folge des Bedürfnisses wie die Handlung selbst und niemals Ursache der Handlung. „Als welches alles elementare Feststellungen sind!" Wäre es aber auch mehr, was wäre damit für das wissenschaftliche Verständnis gewonnen? Worte anstatt der Begriffe, leere Tautologien! Was sagt es mir, wenn ich höre, der Kapitalismus ist die Folge des kapitalistischen Geistes, die Genossenschaft des genossenschaftlichen, das Handwerk des Handwerksgeistes, die Eroberung des kriegerischen Geistes?! Da ist es ganz genau dasselbe,

1 2

Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, N r . 26, S. 32. Vgl. meine Anzeige in der „Kultur", Köln 1903.

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

281

wenn mir ein Theologe die Lasterhaftigkeit einer Epoche als Folge der Sündhaftigkeit darstellt, und es kommt fast auf Onkel Breysigs nationalökonomische Theorie hinaus, daß die Armut von der Powerthee herstamme. Es muß dieser Freude am Wort entschieden entgegengetreten werden, weil sie sich in immer neuen soziologischen Konstruktionen ausspricht, die nichts fördern können. Wenn Kurt Breysig die ganze Weltgeschichte begreifen will als Kampf und Wechsel individualistischer und kollektivistischer Kräfte und Epochen; wenn Ferdinand Tönnies die beiden „Willen", den „Wesenswillen" der organisch urwüchsigen „Gemeinschaft", und die „Willkür" der mechanisch zusammengeschlossenen „Gesellschaft" zum Pol und Antipol des sozialen Lebens macht; wenn Carl Kindermann „Zwang und Freiheit" als die Pole hinstellt, oder Heinrich Ditzel Sozialismus und Individualismus, so bleiben wir immer noch an der Oberfläche der Geschehnisse. Wobei übrigens allen genannten Denkern, wie auch Sombart, der Dank und die Bewunderung des Verfassers nicht vorenthalten sein soll für das, was sie trotz ihrem unglücklichen Untersuchungsmittel geleistet haben. Aber daß es unglücklich ist, daß es die Forschung geradezu lähmt, weil es auf alte Fragen eine bequeme Antwort hat, das muß mit aller Kraft ausgesprochen werden. Und daß es keine „Wissenschaft" im strengen Sinne ist, nicht minder! Wo steckt hier vor allem Kants „Mathematik", die quantitative Bestimmtheit der Beziehungen?1 Nein, man muß hinter die bewußten Motive zurück, die man allenfalls, wenn auch mit größter Vorsicht, als die Indikatoren der wirklichen Ursache, der Bedürfnisse, benutzen mag. Tiefer kann man dann nicht mehr schürfen, aber so tief muß man auch schürfen. Es ist die klare Aufgabe aller Sozialwissenschaft, in den gesetzmäßigen denen die Menschenmassen

Veränderungen

der objektiven

stehen, die Ursache für die Gesetzmäßigkeit

Daseinsbedingungen,

der Massenhandlungen

unter zu ent-

decken. Jene Veränderungen erzeugen, vermehren, häufen, spannen gesetzmäßig latente Energie, die Bedürfnisse; und diese verwandelt sich gesetzmäßig in die lebendige Kraft der Bewegung, in Massenhandlung,

die sich wieder streng gesetzmäßig der verschiedenen Mittel der Bedürfnisbefriedigimg,

als der Zwischenziele, bemächtigt, um zum Endziel zu gelangen. Damit ist das Problem nach der Ursache menschlicher Massenbewegung erledigt, und wir können uns jetzt dem zweiten Problem der Geschichtsphilosophie zuwenden, der Frage nach der Richtung menschlicher Massenbewegung.

B.

Die Richtung menschlicher Massenbewegung

Daß Massenbewegung ganz im allgemeinen Befriedigung eines Massenbedürfnisses anstrebt und dadurch zur Massenhandlung wird, wissen wir bereits. Jetzt haben wir zu fragen, welche Massenbedürfnisse nach Befriedigung streben. Das ist die Frage nach den Endzielen

der Massenbewegung.

Und wenn wir das festgestellt haben, ersteht die zweite Frage nach den Zwischenzielen

der Massen-

bewegung, d. h. mit anderen Worten, nach ihren Mitteln. Denn ein Mittel ist immer Zweck zum Zwecke, seine Erlangung Ziel zur Erlangung eines ferneren Zieles.

1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

282

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

1. Das Endziel der Massenbewegung (Die geschichtlich wirksamen Massenbedürfnisse) a) Das ökonomische Massenbedürfnis Das „primäre", d. h. lebenswichtigste und daher mächtigste Bedürfnis des durchschnittlichen Menschen, dasjenige, dessen Befriedigungsmittel daher den größten „Grenznutzen" haben, ist das ökonomische nach Genußgütern zur Stillung von Hunger und Durst, je nach Klima und sozialer Stufe, auch das nach Kleidung und Behausung. Es ist daher a priori klar, daß es die weitaus mächtigste Ursache aller Massenbewegung sein muß; und in der Tat wird dieser Schluß durch die Tatsachen der Geschichte bestätigt (Wanderungen). Dieses Bedürfnis beansprucht daher die erste nähere Betrachtung. Es ist strenges Gesetz der wissenschaftlichen Methodik, überall da, wo mehrere Kräfte bei einer Bewegung zusammenwirken, sie einzeln zu untersuchen, um zu finden, wie die Bewegung verläuft, wenn nur Kraft a, oder nur Kraft b, usw. wirkt. Diese „isolierende Methode" bedient sich womöglich des Experimentes; wo das unmöglich ist, sucht sie wenigstens, soweit erreichbar, eine gedankliche Isolierung durchzufahren, indem sie sich einer genauen Induktion der zugänglichen einschlägigen Tatsachen bedient. Wo es festgestellt ist, daß eine der angreifenden Kräfte die stärkste ist, beginnt man selbstverständlich mit ihrer Isolierung. Sie erscheint dann als die eigentliche Ursache, die übrigen als „Störungen". Ein solcher Fall liegt hier vor. Psychologische Analyse und summarische Betrachtung (Wanderungen!) haben uns gezeigt, daß das ökonomische Bedürfnis die wichtigste und mächtigste Triebkraft der geschichtlichen Massenbewegung ist: daraus ergibt sich methodologisch die Forderung, es zunächst in isolierender Betrachtung als das einzige geschichtlich wirksame Massenbedürfnis zu behandeln. Ich nenne diese methodologisch notwendige vorläufige Behandlung des Problems die „ökonomistische Geschichtsbetrachtung" zur Unterscheidung von einer sich für endgültig haltenden Abart der kollektivistischen Geschichtsphilosophie, die ich als „ökonomistische Geschichtsauf· fasssung" unten näher würdigen werde. Das ökonomische Bedürfnis ist nicht das egoistische Bedürfnis. Beide unterscheiden sich sehr scharf. Ich habe bisher immer von Individuen als den Elementen der Menschenmassen gesprochen. Mit Recht! denn bisher handelte es sich um eine mechanisch-physikalische Auffassung. Solange es sich um nichts anderes als die Bewegung schlechthin der Masse handelte, konnte keine andere Auffassung Platz greifen als die atomistische: und das Individuum ist das A torn einer Masse. Sobald es sich aber wie hier in der Frage nach Art und Richtung der Bedürfnisse, nicht mehr um Bewegung schlechthin, sondern um Bewegung zur Befriedigung eines Bedürfnisses handelt, also um „Handlung": von diesem Augenblicke kommt man mit der atomistischen Betrachtung nicht mehr aus. Denn alle Handlung ist Tätigkeit eines organischen Wesens, und das „Element" eines organischen Wesens besteht nur aus Atomen, ist aber doch mehr als nur ein Aggregat von Atomen, ist selbst eine lebende Einheit, eine „Zelle". Als lebende Einheit der Masse aber ist das Individuum auch vom rein biologischen Standpunkte nicht anzusehen. Es kann sich - als Säugling - nicht selbst ernähren, und kann sich als Erwachsener nicht fortpflanzen. Die Fortpflanzung ist aber allen Lebens wichtigster Teil: die „Natur" kümmert sich bekanntlich sehr wenig um die Fortexistenz des Individuums, sobald der Bestand der Art gesichert ist. Die lebende Einheit der „Gesellschaft" - so nenne ich von jetzt an die zur Befriedigung von Massenbedürfnissen handelnde Masse - ist nicht das Individuum, sondern die Familie, nicht nur in ihrer engeren uns geläufigen, sondern sogar in der weiteren Bedeutung der Bluts-, der Großfamilie der primitiven Horde, des Urbildes von Ferdinand Tönnies' organisch gewachsener „Gemein-

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Geschichtsauffassung

283

schaft", von Ludwig Gumplowicz' „Gruppe"! Nur in solcher sozialer Einordnung ist der Mensch als „Individuum" überhaupt denkbar; ohne sie könnte er im Kampfe ums Dasein nicht bestehen. Und so entsprechen dieser Bedingung des natürlichen Lebens auch die natürlichen Bedürfnisse (Triebe), die wir ja nicht anders verstehen können, denn als durch Anpassung und Zuchtwahl erworbene, zweckmäßige Organe für den Kampf ums Dasein. Sie gehen von Anfang an nicht nur auf die Erhaltung des Individuums selbst, sondern auch auf Erhaltung der Art, sind von Anfang an ebenso sozial wie individuell, ebenso altruistisch wie egoistisch. Ich nenne dieses auf Erhaltung des organischen Gesellschaftselementes gerichtete Bedürfnis mit Julius Lippert das Bedürfnis (resp. Trieb) der Lebensfürsorge. Dies Bedürfnis äußert sich also nicht nur in der nackten Ich-Sucht des futtersuchenden Einzelwesens, nicht nur als Hunger, Durst, Frostgefühl, Mordgier und Trieb zur Flucht vor dem stärkeren Feinde, sondern auch als Kindes-, Verwandten- und Stammesliebe, als Opferwilligkeit für die anderen Mitglieder der „Gruppe" bis zum todverachtenden Heldentum. Man sieht, daß bei gehöriger Interpretation die „ökonomistische" Betrachtung kaum noch etwas von dem „platten Materialismus" übrig behält, den man ihr so häufig nachsagt. Dieses Bedürfnis der Lebensfürsorge für sich und die Seinen, für Familie, Stamm und Volk ist, um es zu wiederholen, wenn auch vielleicht nicht die einzige, so doch gewiß die mächtigste und überall wirkende Ursache der geschichtlichen Massenbewegung und namentlich der einflußreichsten von allen, der Wanderung. Das war auch häufig den Wanderscharen selbst klar bewußt. Die wandernden germanischen Völkerschaften, von den Kimbern an bis zu den Gothen, überschritten die Grenzen des römischen Reiches mit der klaren Bitte um Uberweisung von Ackerland; und die beiden Riesenwanderungen der Neuzeit, transatlantische Aus- und binnenländische Abwanderung erfolgen unbestreitbar und kaum bestritten ganz überwiegend ebenfalls aus dem ökonomischen Bedürfnis der Masse, ihre Lage zu verbessern. Aber auch den nicht friedlich „treckenden", sondern kriegerisch einfallenden Horden erschien mindestens in den Anfängen ihre Handlungsweise von keinem andern Bedürfnis verursacht, als von dem ökonomischen. Sie waren und nannten sich voller Stolz „Räuber". Man wird weder Geschichte noch Wirtschaftswissenschaft jemals verstehen, wenn man sich nicht klar macht, daß der Raub das erste und vornehmste aller Gewerbe ist. Erst viel später, nach langer Berührung mit der Kultur, maskiert sich der räuberische Erwerbstrieb mit „Motiven", die mittlerweile eine höhere Schätzung erlangt haben, ζ. B. Rassenstolz, Herrschsucht usw. Wir wissen, was wir von diesen angeblichen Motiven zu halten haben. Sie sind, wenn nicht bewußte Vorspiegelung, unbewußte Selbsttäuschung. Und wir befinden uns hier in glücklichster Ubereinstimmung mit den Überfallenen Grenznachbarn, die immer sehr genau wußten, daß die Grenzbarbaren über sie herfielen, weil sie Beute machen wollten, selbst wenn sie andere Gründe angeben! Die Fabel von Wolf und Lamm. Zwei Bedürfnisse namentlich sind es, die zur Widerlegung dieser Auffassung gewöhnlich von den „Idealisten" als ebenfalls massenbewegend angeführt werden, ohne daß sie dem ökonomischen Bedürfnis entsprängen: das Unabhängigkeitsbedürfnis, der „Freiheitsdrang" - und das religiöse Bedürfnis. Von diesen ist das erstgenannte zweifellos ein nur wenig veränderter subjektiver Reflex der Lebensfürsorge, und zwar sowohl der individuellen wie der sozialen Lebensfürsorge. Denn Unfreiheit und ökonomische Ausbeutung sind nur zwei Seiten desselben Phänomens. Brächte Gewaltherrschaft keinen Gewinn, so hätte sie niemand jemals angestrebt trotz der Last, den Kosten und den Gefahren ihrer Errichtung und Erhaltung. Und forderte Gewaltherrschaft nicht den Geld- und Blutzins, brächte sie gar statt dessen Geschenke oder Schutz, so hätten die Dithmarschen gegen Herzog Erich, und die Schweizer gegen Herzog Karl nicht so verzweifelt gekämpft. Die amerikanischen Kolonien fielen ab, weil das Mutterland sie knechtete, um sie mit Zöllen und Industrie- und

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Handelsmonopolen auszubeuten: die heutigen australischen Kolonien sind loyal, weil Großbritannien ihnen für den schwachen Schatten einer ohnmächtigen Souveränität die Verteidigungslast abnimmt. Es ist das ein ähnliches Verhältnis der „Oberhoheit", wie es einst zwischen den Kaisern von Byzanz und den Königen der Gothen und Hunnen bestand, die in Form von Hilfsgeldern Tribut erhielten und es sich dafür lachend gefallen ließen, daß der gekrönte Schwachkopf am Goldenen Horn sie als Vasallen bezeichnete. Von solchen scheinbaren Ausnahmen abgesehen, bedeutet Unfreiheit geschichtlich immer ökonomische Ausbeutung: und daher ist der Freiheitsdrang der Völker ein sozial-ökonomischer Trieb, veredelt durch den altruistischen Zug des „Einer für Alle!". Aber seine Wurzel hat das grandiose: „Lever duad as Slav" des Friesen dennoch im wirtschaftlichen „Egoismus" des einzelnen für sich und seine „Gruppe". b) Das religiöse Massenbedürfnis Nicht ganz sicher bin ich aber dieses Zusammenhanges für das religiöse Bedürfnis. Auf die Gefahr hin, von den fanatischen Tempelwächtern des Atheismus - es gibt nämlich auch solche - der reaktionären Gesinnung als überführt erklärt zu werden, muß ich meine Zweifel an der Allgemeingültigkeit der ökonomistischen Auffassung in diesem Punkte erklären. Wir finden das religiöse Bedürfnis und den daraus entspringenden Anstoß zu Handlungen bei den tiefstehenden Primitiven, die wir noch beobachten können. Keine Jäger- oder Fischerhorde ist religionslos. Ich weiß wohl, daß die Religion vielen bedeutenden Kulturhistorikern als eine Schöpfung der Lebensfürsorge, also als ein abgeleitetes Motiv, erscheint; und ich selbst zweifle nicht daran, daß hier tatsächlich ihre stärkste Wurzel steckt, nämlich in der Sorge, Dämonen und Ahnengeister günstig zu stimmen. Aber es will mir scheinen, als habe sie noch eine zweite selbständige Wurzel in dem höchsten und edelsten Bedürfnis des aufrecht Schreitenden, das ihn vom Tiere allein unterscheidet, im Kausalbedürfnis\ Und dann käme ihr neben dem ökonomischen Bedürfnis der Lebensfürsorge selbständige Bedeutung als Ursache geschichtlicher Massenbewegung zu. Dafür spricht manches Positive wie Negative! Positiv, daß Religionsbedürfnis und ökonomisches Bedürfnis in der Weltgeschichte häufig als gegeneinander spielende, nicht als parallel wirkende Kräfte erscheinen. Wir finden auf frühester Stufe über alle Welt verstreut die sogenannte „Wertvernichtung durch den Totenkult", die Grabmitgift oder Scheiterhaufenmitgift der Gestorbenen, durch die Ansammlung von „Kapital" auf dieser Stufe unglaublich aufgehalten wird: eine Handlungsweise, die der ökonomischen Selbsterhaltung prima facie geradezu entgegengesetzt ist, wenn sie natürlich auch aus der Lebensfürsorge, aus der Angst vor den Geistern erklärt werden kann. Wir finden ferner überall das Wesen des religiösen Büßer, Eremiten, Anachoreten, Klöster, das mit seinem Zölibat dem Triebe der Arterhaltung zuwiderläuft. Und schließlich finden wir überall, daß nur der Mißbrauch des religiösen Bedürfnisses durch Priesterschaften oder priesterliche Patriarchen imstande ist, zu erklären, wie aus der praktischen Anarchie des Jägerstammes die knechtische Unterwerfung des Ackervolkes unter einen tollen Despotismus sich entwickeln konnte, die die unglaublichste wirtschaftliche Ausbeutung ohne Murren erträgt. Dies als Andeutung der positiven Gründe für die mögliche Annahme, daß dem religiösen Bedürfnis eine selbständige Bedeutung als Ursache für geschichtliche Bewegungen beizumessen ist. Ein negativer und nicht minder wichtiger Grund ist, daß es bis jetzt nicht gelungen ist, eine genügende Parallelität zwischen den wirtschaftlichen und religiösen Stufen aufzufinden, wie sie für die wirtschaftliche und politische Verfassung zweifellos existiert, und wie sie auch hier nachweisbar sein müßte, wenn die ausschließlich ökonomistische Auffassung zu Recht bestände, nach der, um den Fachausdruck zu brauchen, einem bestimmten wirtschaftlichen „Unterbau" immer ein bestimmter „ideologischer Überbau" entsprechen sollte.

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Geschichtsauffassung

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Hier harren also noch Probleme ihrer Lösung, und bis dahin kann man nicht mit Sicherheit in Abrede stellen, das etwa in den Kreuzzügen und im Arabersturm das religiöse Bedürfnis als selbständige Ursache geschichtlicher Massenbewegung mindestens mitgewirkt habe. Mitgewirkt insofern, als es einen Teil der Kämpfer wirklich allein, ohne Mitwirkung der ökonomistischen Motive, in Bewegung setzte, und bei anderen die Bewegung verstärkte. Daß etwa alle Mitziehenden dieser großen Kampfzeiten ausschließlich von dem religiösen Bedürfnis in Bewegung gesetzt worden wären, ist nämlich nicht einmal für den ersten Kreuzzug anzunehmen - in den späteren überwog das „Fürsorge-Bedürfnis" notorisch alle anderen sehr bedeutend wenn auch alle von dem bewußten Motiv religiöser Begeisterung getragen zu werden glaubten. Es war diese Begeisterung gewiß bei vielen jener subjektive Reflex, den wir kennen. Das können wir mit Sicherheit aus einem Versuch isolierender Betrachtung der einschlägigen historischen Tatsachen schließen. Niemals hat sich eine religiöse Massenbewegung kriegerischer Art gegen Andersgläubige gerichtet, ohne daß ihre Güter oder die Menschen selbst, als Sklaven, den Lohn des Glaubenseifers gebildet hätten. Von Sklavenjagden abgesehen, haben sich ferner die religiösen Massenbewegungen immer gegen reichere Völkerschaften, nie gegen ärmere, ergossen. Das gilt für den Arabersturm so gut wie für die Kreuzzüge und die Conquista von Mexiko und Peru, und wie für die Albigenserkriege und den Dreißigjährigen Krieg. Warum hat das glaubenseifrige Spanien wohl gegen die Städte bewohnenden, ackerbauenden Inka, aber nicht gegen die nackten Patagonier einen Kreuzzug unternommen? Warum haben die Deutschritter zwar Preußen, Lithauer und Liven, aber nicht die wandernden, armseligen Lappen mit Heeresmacht zum Christentum gezwungen? Andererseits hat die Gleichheit des Glaubens das ärmere Volk niemals gehindert, das reichere weiter zu plündern, wenn es möglich war. Die Bergschotten haben sich durch ihre Bekehrung ebensowenig von ihren Raubzügen in die Tiefebene abhalten lassen, wie die Normannen von ihren Piratenfahrten: Wilhelm der Eroberer war kein schlechterer Katholik als Harald! Und ebensowenig hat jemals ein christliches Volk nach Unterwerfung seiner Gegner sich mit ihrer Bekehrung begnügt, sondern hat politische Entrechtung und ökonomische Ausbeutung der Besiegten wie selbstverständlich fortbestehen lassen. Aus alledem darf man, wie ich glaube, schließen, daß, wenn dem religiösen Bedürfnis als Ursache historischer Massenbewegung überhaupt eine selbständige Bedeutung zukommt, daß es dann für sich allein nur kurz dauernde, wenig folgenreiche Bewegungen auslösen wird. Wichtige Massenbewegungen wird es wahrscheinlich nur im Zusammenwirken mit dem mächtigen und nachhaltigen ökonomischen Bedürfnis verursachen, und zwar auch hier, wie mir scheint, vorwiegend negativ, und zwar durch Forträumung von Motiven, die vorher die schrankenlose Entfesselung des kriegerischen Erwerbstriebes verhindert hatten. Wenn die Kirche, die sonst gegen Christen Fehde und Raub verpönte, sie in den Kreuzzügen für heilige Pflicht erklärte: wenn Mohammed seinen gefallenen Glaubensstreitern den unmittelbaren Eintritt ins Paradies versprach, wenn Thomas Münzer seinen Bauern und der Mahdi seinen Derwischen verkündete, die Gefallenen würden sofort durch göttliche Gnade wieder erweckt werden, um fröhlich und gesund weiter zum Siege zu schreiten: dann mußte die Massenbewegung viel stärker werden, als ohne diese Ausschaltung der stärksten entgegenstehenden Triebe, Geisterfurcht und Todesfurcht. Aus diesen Betrachtungen ist man berechtigt zu schließen, daß die ökonomische Betrachtung imstande sein wird, alle mächtigen und dauernden Bewegungen der Masse mit genügender wissenschaftlicher Genauigkeit aus dem einen Massenbedürfnis der Lebensfürsorge zu erklären. Wenn ich also auch nicht mit Sicherheit in Abrede stellen kann, daß dem religiösen Bedürfnis eine selbständige Bedeutung beizumessen ist, so könnte ich mich doch, soweit die Ursache der geschichtlichen Bewegung in Frage steht, mit einer kleinen reservatio mentalis mit der „ökonomistischen Ge-

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

schichtsauffassung" einverstanden erklären, die jene selbständige Bedeutung entschieden leugnet. Ich könnte es um so mehr, als sehr wahrscheinlich ist, daß nur das Bedürfnis der Lebensfürsorge eine „immanente psychologische Kategorie" ist, während dasjenige der Religion höchst wahrscheinlich eine „historische Kategorie" ist, soweit Religion verstanden wird als Furcht vor einer übernatürlichen Macht. Als solche ist sie augenscheinlich auf dem Aussterbeetat und wird vermutlich in absehbarer Zeit gänzlich aus dem Bewußtsein der Kulturmenschheit verschwinden. Denn je mehr das Kausalbedürfnis durch die positive Wissenschaft befriedigt wird, um so weniger wird das Fürsorgebedürfnis durch die Sorge um die Gunst eines übernatürlichen Wesens zu Handlungen gedrängt. So verkümmern beide Wurzeln der „Superstition" (Dühring) gleichzeitig, und es wird kaum etwas anderes von ihr übrig bleiben, als das Sittengesetz, der reine Ausdruck des Fürsorgebedürfnisses in seiner sozialen, altruistischen Seite. Wenn diese Prognose richtig ist, darf man mit der ökonomistischen Auffassung das ökonomische Bedürfnis nicht nur als die weitaus stärkste, sondern sogar als die einzige immanente Triebkraft aller denkbaren menschlichen Geschichte bezeichnen. Diese Ubereinstimmung erreicht aber ihr Ende, sobald unsere Betrachtung den nächsten Schritt macht, nämlich bei der Frage nach den Zwischenzielen, den Mitteln der menschlichen Massenhandlung.

II. Die Zwischenziele der Massenbewegung (Die Mittel der Massenhandlung) A. Darstellung der geltenden Lehren 1.

Die ökonomistische

Geschichtsauffassung

Die allgemeine Frage nach den Mitteln der Massenhandlung ist, soweit ich sehen kann, bisher noch niemals einer eigenen Betrachtung unterworfen worden. Das wissenschaftliche Nachdenken hat sich bisher nur mit ihren Ursachen- und Endzielen beschäftigt, und glaubte damit das Problem der Zwischenziele implicite mit erledigt zu haben: arge Verwirrung, die alle Soziologie bisher gelähmt hat. Ein charakteristisches Zeichen dieser Verwirrung scheint zu sein, daß man die Worte: politische Ökonomie, Nationalökonomie, Sozialökonomie, Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, Sozialwirtschaftslehre usw. gemeinhin als Synonyma braucht, obgleich sie recht verschiedene Bedeutung erlangen, sobald man erst einmal darauf aufmerksam geworden ist, daß die Massenhandlung sich sehr verschiedener Mittel, politischer und ökonomischer, zur Befriedigung des Massenbedürfnisses bedient. Wenn bisher nur ungenügend in der Wirtschaftswissenschaft (Carey, Rodbertus, Dühring), und so gut wie gar nicht in der Geschichtswissenschaft sich die Aufmerksamkeit auf dieses Problem gerichtet hat, so glaube ich die Ursache des folgenschweren Ubersehens auf die Verwirrung durch ein vieldeutiges Wort zurückführen zu dürfen, das Wort: „ökonomistische Geschichtsauffassung". Indem man nämlich die kollektivistische Geschichtsauffassung, wie gezeigt, mit gutem Rechte als „ökonomistische" Geschichtsauffassung benannte, weil als Endziel der Massenhandlung die ökonomische Bedürfnisbefriedigung der Masse erkannt war, lag die Versuchung sehr nahe, nun auch ohne weitere Prüfung anzunehmen, daß ausschließlich oder vorwiegend auch ökonomische Mittel zur Erreichung des Endzieles angewandt werden.

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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Von dieser freilich nirgends zur vollen Klarheit durchgedrungenen Vorstellung ist die Geschichtsschreibung überall, wenn nicht beherrscht, so doch stark beeinflußt. Ich habe im ersten Kapitel des ersten Buches meines „Großgrundeigentum und soziale Frage" eine stattliche Anzahl von Belegen dafür zusammengetragen,1 die sich leicht vermehren ließen.2 Es ist nicht leicht, den Gedankeninhalt dieser Vorstellung scharf wiederzugeben, da er nirgend scharf gegeben ist. Man muß ihn zusammensetzen aus verstreuten gelegentlichen Bemerkungen, die sich zum Teil in Polemiken finden. Er ist ungefähr folgender: Aus einem Zustande sozialer und ökonomischer Gleichheit hat sich durch ökonomische Differenzierung allmählich ein Zustand politischer und ökonomischer Ungleichheit gebildet. Und zwar bedeutet ökonomische Differenzierung hier augenscheinlich Differenzierung durch ökonomische Mittel: die höhere wirtschaftliche Begabung schwang sich auf, die niedere sank. So entstanden die sozialen „Klassen", deren Interessengegensätze den Verlauf der Geschichte bestimmen in einem Kampfe, der wieder mit ökonomischen Mitteln geführt wird. Lorenz von Stein sagt klipp und klar: „Mit der Entstehung des Einzeleigentums entsteht durch die wirtschaftliche Kraft des letzteren der Prozeß der Massenbildung, den die ältere Verfassung nicht kennt." D. h. scharf gefaßt: aus wirtschaftlicher Tätigkeit, d. h. durch den Gebrauch wirtschaftlicher Mittel, entsteht Vermögensverschiedenheit; aus Vermögensverschiedenheit Klassenverschiedenheit, d. h. Verschiedenheit politischer Rechte. Die Auffassung stimmt mit den Beobachtungen des täglichen Lebens ausgezeichnet überein. Wenn eine Familie aus der untersten Schicht des Volkes sich zum Reichtum erhebt, so steigt sie auch in der Klasse, bis sie zuletzt auch gesellschaftlich die volle Ebenbürtigkeit erringt, wie ζ. B. die Nachkommen der ersten großen Fabrikbesitzer und Bankiers in ganz Europa. Umgekehrt hat der Vermögensverfall einer vornehmen Familie auch den Verlust der Klasse zur Folge. „Deklassiert" ist ein treffender Ausdruck dafür.3 Welche ökonomischen „Kräfte" oder Mittel es sind, die die Differenzierung vollziehen, auf diese Frage erhält man keine rechte Antwort. Es bleibt hier alles in einem gewissen Nebel der Worte, weil Begriffe fehlen. Es scheint, als wenn die Historiker im allgemeinen ebensoviel an die sogenannten Gesetze der „Verteilung", wie an die, der „Erzeugung" gedacht haben. Das „Gesetz der sinkenden Erträge" mit seinen drei Konsequenzen, dem Bevölkerungsgesetz, dem Rentengesetz und dem „ehernen" Lohngesetz, den „Gesetzen" der volkswirtschaftlichen Verteilung, spielen hier in der Historik eine bedeutende Rolle, beherrschen ζ. B. den gesamten Gedankengang Thomas Buckle's; dazwischen laufen dann, zum Teil davon abhängig, nebulöse Vorstellungen von der Größe der relativen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Kraft und Begabung.

2. Die materialistische Geschichtsauffassung Auf viel festerem Boden finden wir uns gegenüber der „materialistischen" Geschichtsauffassung, der Schöpfung von Marx und Engels. Sie gibt die Kräfte der Wirtschaft unzweideutig an, die nach ihrer Ansicht die Geschichte bewegen. Es sind dies ausschließlich die in der Gütererzeugung wirksamen Kräfte. Sie gestalten, indem sie sich entfalten und vermehren, die wirtschaftliche Grundlage der

1 2 3

Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, S. 13ff. [Derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 11-29; A.d.R.] Vgl. ζ. B. Meyer, Geschichte des Altertums, der dankenswerterweise in der Einleitung zum 1. Bande seine Prämissen scharf hinstellt. Diese falsche Prämisse ist auch darunter. [Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

Gesellschaft um, namentlich die Gesetze der Verteilung, die also als eine Funktion der Erzeugung aufgefaßt wird. Mit dem wirtschaftlichen „Unterbau" wälzt sich gesetzmäßig auch der „Oberbau" um, nämlich die politische Verfassung und die „Ideologien": Religion, Kunst, Wissenschaft, allgemeine Weltauffassung und Weltstimmung usw. Eine gewisse Milderung, die freilich auch ein wenig Unklarheit in die lapidare Kraft der ursprünglichen Formel bringt, erhält diese „produktionistische Spielart" der kollektivistischen Geschichtsauffassung durch die berühmte Engelssche Fassung: „das bestimmende Moment in der Geschichte ist die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens". Hier ist, wie die Ausführungen ergeben, neben die Gütererzeugung auch noch die Familienform als selbständiges, aber augenscheinlich als parallel verlaufend gedachtes, „bestimmendes Moment" gestellt. Diese Theorie ist eine Konsequenz aus dem Marxschen „Gesetz der kapitalistischen Akkumulation". Marx ist bekanntlich der Anschauung, daß im kapitalistischen Produktionsprozeß das gesellschaftliche „Kapitalverhältnis" selbst immer wieder reproduziert wird, das Klassenverhältnis, das zuerst durch „ursprüngliche Akkumulation", d. h. durch Gewalt geschaffen wurde, und auf dessen Grundlage die kapitalistische Wirtschaft allein entstehen konnte. Ich habe mich neuerdings bemüht1, den Nachweis zu führen, daß dieses Gesetz nicht existiert. Der von Marx dafür geführte deduktive Beweis ist formal unhaltbar; und die von ihm angeführten Tatsachen beweisen das Gegenteil seiner Behauptung, während er keine Tatsache beibringt, die für seine Behauptung beweisend wäre. Namentlich ist es nicht wahr, daß „die Maschine in der Gesamtindustrie Arbeiter freisetzt"; und ferner ist es unwahr, daß in der Landwirtschaft der Konkurrenzkampf statt hat, der zur ökonomischen Expropriation der Kleineren im Preiskampfe, und somit zur Akkumulation und Zentralisation des landwirtschaftlichen Kapitals führt. Die kapitalistische Entwicklung ist nicht nur in ihren Anfängen von Art, Richtung und Mitteln der Produktion gänzlich unabhängig, sondern wird auch in ihrem Fortgang „reproduziert" allein durch das Fortbestehen von Institutionen, die durch die ursprüngliche Akkumulation entstanden sind, ist also nicht bestimmt durch die Produktion, sondern durch die Distribution. Damit ist der einzige geschichtliche Beweis, den Marx-Engels für ihre spezifische Ausgestaltung der kollektivistisch-ökonomistischen Geschichtsphilosophie beigebracht haben, als widerlegt zu betrachten; und diese „produktionistische" Spielart steht ohne Stütze.

B. Die sozial-ökonomische Geschichtsauffassung Ich trete nunmehr den Beweis an, daß es nicht allein „ökonomische" Kräfte oder besser Mittel sind, deren sich das Massenbedürfnis zur Erreichung seines Endzieles bedient. Wenn mir das gelingt, so ist die ökonomistische, geschweige denn die noch engere materialistische Geschichtsauffassung als zu eng nachgewiesen. Als herrschende Vorstellung der ökonomischen Auffassung und ihrer Einschränkung, der materialistischen, haben wir oben folgende These festgestellt. „Aus wirtschaftlicher Tätigkeit d. h. durch den Gebrauch wirtschaftlicher Mittel entsteht Vermögensverschiedenheit; aus Vermögensverschiedenheit entsteht Verschiedenheit politischer Rechte, ,Klassenverschiedenheit'. " Die These ist an sich nicht falsch, wie oben schon zugegeben, sie ist aber falsch, weil sie sich für allein und allgemeingültig erklärt. Denn viel wichtiger für die geschichtliche Bewegung ist der genau

1

Oppenheimer, Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehren. Darstellung und Kritik, Berlin, 1903. [Derselbe, Gesammelte Schriften, Band I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 3 8 5 - 4 6 7 ; A.d.R.]

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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entgegengesetzte Zusammenhang, den ich als erste These meinen folgenden Ausführungen voranstelle: „Aus politischer Tätigkeit d. h. durch den Gebrauch politischer Mittel, entsteht Verschiedenheit politischer Rechte: Klassenverschiedenheit. Aus Klassenverschiedenheit entsteht Vermögensverschiedenheit." Beide Arten der sozialen Differenzierung gehen nebeneinander her, durchdringen und verschlingen sich. Aber die letztgenannte, ich nenne sie von jetzt an die politische Differenzierung, bildet die Voraussetzung und Bedingung aller ökonomischen Differenzierung, wie ich die erste nennen will. Ökonomische Differenzierung irgend größeren Umfangs und irgend längerer Dauer hätte sich nicht entwickeln können ohne die Voraussetzung der politischen Differenzierung. Es werden in der Geschichte offenbar zwei sehr verschiedene Mittel gebraucht, um einer Menschenmasse die ökonomischen Genußgüter zu schaffen. Das eine Mittel ist die Gewalt: Raub, Krieg mit nachfolgender Plünderung oder Unterwerfung zwecks dauernder Aneignung eines Teils der Arbeitsprodukte der Besiegten in den Formen des Tributs, der Steuer, Grundrente etc. Das ist also Bedürfnisbefriedigung durch fremde Arbeit. Daneben findet sich von Anfang an, und je höher in der kulturellen Entwicklung, um so mehr vorwiegend als Voraussetzung der gewaltsamen Aneignung, die Bedürfnisbefriedigung durch die eigene Arbeit, sei es durch Selbstverbrauch oder durch friedlichen Eintausch fremder Arbeitserzeugnisse gegen Hergabe einer im Wert gleichgeschätzten, äquivalenten Menge eigener Arbeitserzeugnisse. Dort Aneignung nach dem Rechte des Stärkeren ohne Gegenleistung, hier Aneignung nach dem Rechte der Gleichen für gerechte Gegenleistung. Die beiden Mittel sind offenbar Pol und Antipol und müssen sorgfältigst unterschieden werden; zu dem Zwecke ist eine terminologische Verabredung nötig: ich nenne die gewaltsame Aneignung ohne äquivalente Gegenleistung, das politische, - die eigene Arbeit und den äquivalenten Austausch eigener gegen fremde Arbeit das ökonomische Mittel der Bedürfnisbefriedigung.

1. Die politischen Mittel der

Bedürfnisbefriedigung

a) Die primitive Organisation der politischen Mittel (Krieg und Staat) Wir kennen das eine politische Mittel bereits aus vielen Andeutungen über die internationalen Beziehungen der verschiedenen menschlichen „Massen", namentlich aus den wichtigsten, den durch die Wanderung verursachten, internationalen Beziehungen. Hier ist das politische Mittel: der Krieg! Aber nicht minder wichtig ist das politische Mittel in den intranationalen Beziehungen einer und derselben menschlichen Masse. Hier trägt es den Namen: der Staat! Diese entscheidende Erkenntnis verdankt die Wissenschaft namentlich Ludwig GumplowiczGraz. Der Staat - das ungefähr ist der Inhalt der neuen Auffassung - ist nicht das Ergebnis eines „Gesellschaftsvertrages" freier gleicher Menschen; noch weniger die Verwirklichung einer „staatenbildenden Idee" oder gar die Schöpfung eines „staatenbildenden Volksgeistes", sondern er ist das „politische Mittel" κατ'εξοχήν der intranationalen Beziehungen innerhalb derselben „Gesellschaft", ist das Mittel eines Teiles der Masse zur Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse auf Kosten eines anderen Teiles derselben Masse. Und zwar entsteht der Staat, wie ich meines Wissens zuerst gezeigt habe,1 indem die internationalen Beziehungen der verschiedenen handelnden Menschenmassen allmählich, durch verschiedene Ubergänge, zu intranationalen Beziehungen, und die ehemalig selbständigen f a s s e n " nunmehr zu Bestandteilen einer größeren Masse, zu Schichten, Kasten oder Klassen werden: der Staat ist Schöpfung des Krieges! 1

Oppenheimer, Der soziologische Pessimismus, in: Neue Freie Presse (1901).

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Der typische Verlauf ist folgender: Reisige, in der Jagd gestählte, waffengeübte, in gemeinsamer Massenbewegung straff organisierte Nomaden überfallen die Grenznachbarn, friedliche, waffenentwöhnte, in loser Organisation staatenlos lebende Ackerbauern zuerst in unregelmäßigen Raubzügen, bei denen rücksichtslos geplündert, gesengt und gemordet wird. Das ist das erste Stadium der internationalen Beziehungen. Allmählich wird den Hirten klar, daß dieses Vorgehen nicht das zweckmäßigste Mittel der Bedürfnisbefriedigung ist, sintemalen ein totgeschlagener Bauer nicht mehr pflügen, und ein abgehauener Fmchtbaum nicht mehr tragen kann. Sie erkennen als ein zweckmäßiges Mittel, den Bauer leben und den Stamm stehenzulassen. Sie erscheinen daher fortan in regelmäßigen Zwischenräumen nach der Ernte, morden und sengen nur noch so viel, wie erforderlich, um den nötigen Respekt zu erhalten und etwaigen Widerstand niederzuschlagen, und nehmen nicht mehr die sämtlichen Arbeitserzeugnisse der Bauernschaften, sondern lassen ihnen Saatgut und notwendige Lebensmittel bis zur nächsten Ernte und nächsten Schätzung. Gleicht der Hirte im ersten Stadium dem Bären, der einen Bienenstock zerstört, indem er ihn plündert, so nähert er sich im zweiten dem Imker, der seinen Stock pfleglich behandelt, um „das Volk" in seinem Bestände nicht zu gefährden. Wir kennen solche internationale Beziehungen zwischen Nomaden und Ackerbauern aus der Sahara, wo der hackbauende Neger die Rolle der Bienen, die hellfarbigen Fulbe berberischer Rasse den Imker agieren. Schon in diesem Stadium entsteht eine Art von Schutzverhältnis zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Der Imker läßt natürlich den Bären nicht an „seinen" Stock, der Hirtenstamm verteidigt „seine" Bauern nach Kräften gegen andere Hirtenstämme, die Lust haben möchten, ihm durch „unlauteren Wettbewerb" das Geschäft zu verderben. Das dritte Stadium ist das der Zahlung von Tribut oder Schutzgeldern, die den Herren in ihre Zeltlager gesendet werden. Beide Teile haben nur Vorteile von dem Arrangement, die Bauern, weil sie den kleinen Unregelmäßigkeiten entgehen, die früher mit der Einziehung des Tributes durch die gesamte Hand unvermeidlich verbunden waren: einige niedergebrannte Hütten, ein paar Totschläge und Schändungen und sehr viel rossezerstampfte Felder. Die Hirten aber können sich der ihnen zugetragenen Güter erfreuen, ohne sich bemühen zu müssen; sie ersparen die „Geschäftsunkosten" oder können das „Geschäft erweitern", indem sie ihre freigewordene „Arbeitszeit" und „Arbeitskraft" auf die Unterwerfung neuer Ackervölker verwenden. Das vierte Stadium endlich verwandelt die internationalen in intranationale Beziehungen, wenigstens unter räumlichem Gesichtspunkte. Die Hirten setzen sich zwischen die Ackerbauer, aus irgend einem Grunde, sei es, weil ihnen ihre Heimat zu eng geworden ist, sei es, weil stärkere Stämme sie aus der Steppe gedrängt haben, sei es, weil sie die Aufgabe des Schutzes ihrer Tributpflichtigen gegen andere Hirten auf diese Weise am besten erfüllen können, oder schließlich, weil sie ihre Tributpflichtigen überwachen wollen, um die Organisation eines Aufstandes zu verhüten. Sie lassen aber den Unterworfenen ihre alte Verfassung, ihre Religion und Sprache und verlangen nichts als Zahlung des Tributs. Solche Fälle kennen wir ζ. B. in Arabien. Das letzte Stadium ist die Ausgestaltung des „Staates" im eigentlichen Sinne, d. h. Ausbildung einer gemeinsamen Verfassung, eines Staatsrechtes, einer Staatsreligion, die sämtlich den ausgesprochenen Zweck haben, den Bezug des Tributes (jetzt zur Steuer und Grundrente geworden) zu gewährleisten, aber andererseits das Steuersubstrat, Land und Leute, mindestens in seinem Bestände, zu erhalten. Hier ist die ursprünglich internationale Beziehung endlich in jedem Sinne eine intranationale geworden: denn unter dieser Verfassung verschmelzen die beiden stammverschiedenen Gruppen zur Nation, zum Volke eines Staates. Zwischen viertem und letztem Stadium kann es noch Zwischenglieder geben: so lebten die siegreichen Inka gemeinsam in der Hauptstadt als im wesentlichen kommunistische Adelsgenossen-

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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schaft von den Tributen der eroberten Stämme, die unter ihren angestammten Fürsten, in ihrer alten Verfassung und Religion weiter lebten wie vor der Unterwerfung. Also viertes Stadium! Aber in innere Streitigkeiten der Stämme oder gar in Streitigkeiten zwischen den Stämmen griffen die Inka schlichtend und richtend hinein, hatten auch für den Zweck eine Beamtenhierarchie unter dem Befehle des Königs organisiert. Das weist schon auf das fünfte Stadium und zeigt auch an, aus welchen Gründen der Klassenfürsorge, das vierte Stadium den Hirten selbst als auf die Dauer unhaltbar erscheinen mußte: alle innere Reibung schwächt augenscheinlich die Steuerkraft der Steuerpflichtigen: und das darf nicht geduldet werden. Bei anderen Staatsbildungen sind einzelne Zwischenstufen ausgefallen, zuweilen sprang die Entwicklung ohne Ubergang vom ersten bis zum letzten, so daß aus den Räubern von gestern der Adel von heute wurde. Beispiele: Meder, Ostgothen, Franken in Gallien, Normannen in Süditalien.1 Aber, wo immer ein Staat entstanden ist, da entstand er als politisches Mittel einer Menschengruppe zur geregelten Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse mittels Aneignung von Arbeitserzeugnissen anderer Menschengruppen ohne äquivalente Gegenleistung. Das ist eine durchaus allgemeine Tatsache, eine Regel ohne irgendeine Ausnahme, wie ζ. B. Friedrich Ratzel feststellt. Die geschilderte Entstehung des Staates ist nicht ein Typus, sondern der Typus schlechtweg. Betrachten wir einen solchen Staat, so finden wir ein bestimmtes Spiel der Kräfte. Einerseits haben wir einen polaren Gegensatz in dem besonderen ökonomischen Bedürfnis der beiden Gruppen. Das Interesse der ausbeutenden Gruppe geht dahin, das bestehende, ihr günstige Recht, das sie einseitig auferlegt hat, zu erhalten: sie ist „konservativ". Das Interesse der ausgebeuteten Gruppe geht im Gegenteil dahin, das bestehende Recht aufzuheben und durch das Recht der Gleichheit aller Mitglieder des „Volkes" zu ersetzen: sie ist „liberal" und „revolutionär". Hier steckt die Wurzel aller Klassen- und Parteienpsychologie. Kraft der oben dargestellten Selbsttäuschung beruft sich jede Gruppe auf Vernunft und Sittlichkeit, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Die herrschende Gruppe kommt überall schnell zu der Uberzeugung, daß sie selbst besseren Blutes, besserer Rasse ist als die unterworfene; daß diese, störrisch, tückisch, träg und feig, ganz unfähig ist, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; daß jede Auflehnung gegen ihre Herrschaft dem göttlichen Willen und dem göttlichen Sittengesetz zuwiderlaufe. Sie verbindet sich daher überall mit der Priesterschaft, die diese Religion zu verkünden hat, die das „Tabu" auf das Recht des Staates und den Besitzstand der herrschenden Gruppe legt, wofür sie einen Anteil an deren Rechten und Genußgütern erhält. So entsteht die charakteristische Psychologie jeder Herrenklasse: Rassenstolz, Verachtung der arbeitenden Unterschicht, überzeugte oder wenigstens äußerlich dokumentierte Frömmigkeit. Dazu tritt eine Neigung zum Verschwenden, die sich edler als Freigebigkeit darstellen kann: sehr begreiflich bei dem, der nicht weiß, „wie Arbeit schmeckt", und als schönster Zug die persönliche todverachtende Tapferkeit, erzeugt durch die Notwendigkeit einer Minderheit, jeden Augenblick ihre Rechte mit der Waffe zu verteidigen, und begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die den Körper in Jagd, Fehde und Sport auszubilden gestattet. Umgekehrt ist die unterworfene Gruppe natürlich „liberal". Sie hält den Rassen- und Adelsstolz für eine Anmaßung, sich selbst für mindestens so guter Rasse und guten Blutes, die Arbeit für die Quelle aller Ehre und allen Glücks, ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie mit ihren Ausbeutern verbunden sieht, und ist bei einiger intellektueller Entwicklung ebenso fest, wie der Adel vom Gegenteil, davon überzeugt, daß die Privilegien der herrschenden Gruppe gegen Recht und Vernunft verstoßen. Ihr steht es außerhalb jeden Zweifels, daß nur die Demokratie das Glück

1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

der Völker gewährleistet, und daß nur sie mit dem göttlichen Rechte, oder wenn sie diesen Anklang an die Religion vermeiden will, mit dem „Naturrechte" vereinbar ist. Unter diesem Widerstreite der Interessen müßte der junge Staat alsbald auseinanderfallen (oder vielmehr, er könnte gar nicht erst zur Bildung gelangen, da die Ausgebeuteten nur durch nackte Gewalt in ihrer Abhängigkeit gehalten werden könnten, so daß das vierte Stadium nie überschritten werden würde), wenn dieser Gegensatz nicht durch starke Gemeinsamkeiten der beiderseitigen Gruppeninteressen gemildert, unter Umständen sogar überkompensiert würde. Wir kennen dieses Gemeininteresse bereits. Es beruht darin, daß die herrschende Gruppe im Interesse der dauernden und reichlichen Versorgung mit ökonomischen Gütern das stärkste eigene „Fürsorgebedürfnis" hat, die beherrschte Gruppe mindestens in ihrem Bestände, „prästationsfähig", zu erhalten. Zu dem Zwecke schützt sie sie nach außen gegen andere Ausbeuter: die militärische Aufgabe des Staates; und nach innen gegen die Ubergriffe ihrer eigenen Mitglieder durch die „Satzung" eines beide Teile bindenden Rechtes: der Staat als Rechtsstaat! Dies gemeinsame Bedürfnis der Vereidigung und des Rechtsschutzes ist in der Regel stark genug, um die zentrifugale Kraft des Gegensatzes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten aufzuheben. Und dieses gemeinsame Bedürfnis macht die beiden, ursprünglich nur mechanisch in und gegeneinandergepreßten, häufig stamm- und sprachfremden, Massen nun zu einer organischen, „historischen" Masse mit einer gemeinsamen Massenpsychologie, für die die oben für jede menschliche Masse entwickelten Bewegungsgesetze natürlich volle Geltung haben. Dieser „primitive Staat", wie wir ihn nennen wollen, macht fortan eine ganz gesetzmäßige Entwicklung durch, deren Hauptzüge durch alles Arabeskenwerk der individualen - wenn das Wort hier gestattet ist - Schicksale deutlich zu erkennen sind. Die Ursachen der Bewegung sind auch hier Massenbedürfnisse, und sie bedienen sich sowohl der politischen wie der ökonomischen Mittel. Die Ge%0iichx.sdarstellung einer bestimmten Epoche wird daher genötigt sein, das zeitliche und räumliche Nebeneinander aufzuweisen, zu betrachten, wie das ökonomische und das politische Mittel sich wechselseitig beeinflussen, wie sich „Staat" und „Wirtschaft" gegenseitig beeinflussen, verschlingen, durchdringen, sich fördern und lähmen. Dazu bedarf es aber als der unumgänglichen Voraussetzung einer isolierenden Vorarbeit, die die verschlungenen Fäden auseinanderwirrt, jede einzelne Komponente für sich allein betrachtet und so dasjenige feststellt, was die marxistischen Hegelianer die „innere Dialektik" jedes der beiden geschichtlichen „Mittel" nennen würden. b) Die Entfaltung des politischen Mittels (Das Feudalwesen) Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, durch das sie geschaffen wurden. Der primitive Staat wurde geschaffen durch den Krieg: er kann nur erhalten werden durch den Krieg. Das ökonomische Bedürfnis hat keine Grenzen, kann niemals voll befriedigt werden, der Reiche ist sich niemals reich genug. Solange die herrschende Moral die des Faustrechtes ist, nach deren Kodex jeder - außerhalb des „Friedenskreises" seiner Gruppe - jedem nehmen darf, was er mag, wenn er kann: so lange muß Krieg aller gegen alle bestehen. Und diese Moral des Faustrechtes ist in primitiven Gruppen wie bekannt die allein herrschende. Der „Adel" - so werden wir von jetzt an die siegreiche Gruppe des primitiven Staates nennen, empfindet ein starkes „Bedürfnis" nach den Arbeitserzeugnissen der benachbarten, noch nicht unterworfenen Ackerbauern. Dieses negative „Bedürfnis" eines Mangels wird noch verstärkt durch das in gleicher Richtung wirkende „positive" Bedürfnis einer kräftigen, im Übermaß ernährten, arbeitsfreien Masse, eine „innere Schwüle" zu entladen, d. h. durch die „unruhige" (das Wort deckt den Begriff vortrefflich) Tatenbegier und Kampflust. Der Krieg ist dem Adel nicht nur politisches Mittel, sondern auch Selbstzweck, nämlich Sport\ So greift der Krieg über die Grenzen, unterwirft Bezirk nach Bezirk der lose organisierten Ak-

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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kerbauern, erweitert den Staat - bis seine „Interessensphäre" mit der eines anderen Staates gleicher Bildung zusammenstößt. Jetzt wird aus dem kriegerischen Raubzuge zum ersten Male ein wirklicher Krieg im engeren Sinne, da jetzt zum ersten Male gleich organisierte Massen gegeneinanderbranden; das Endziel des Kampfes bleiben immer Tribut, Beute, Steuer, Grundrente: aber der Kampf geht nicht mehr zwischen der Gruppe, die ausbeuten will, und derjenigen, die ausgebeutet werden soll, sondern zwischen zwei ausbeutenden Gruppen um die gesamte Beute, eine sehr wichtige neue Erscheinung der internationalen Beziehungen, die sich auf höherer Stufe in den intranationalen Beziehungen immer wieder reproduziert. Das Ergebnis des Zusammenstoßes ist immer das gleiche: Entstehung eines Staates von größerem Umfang und größerer Bevölkerung, indem der eine der beiden um die „Hegemonie", das „Prinzipat", kämpfenden Staaten den anderen angliedert. Welcher von beiden den anderen, das ist für die Hauptlinien der Entwicklung gleichgültig, und darum - ich verweise auf die oben gegebenen Ausführungen über den Fehlschluß dynastischer Geschichtsauffassung - liegt für die wissenschaftliche Geschichtsauffassung kein Grund vor, den siegreichen Führer als Heros zu verehren; wohl aber für die Zeit- und Volksgenossen! Denn für sie handelt es sich darum, wer Hammer und wer Amboß spielen soll in diesem weltgeschichtlichen Schweißungsprozeß. Am stärksten ist der „Adel" an dem Ausgange interessiert: für ihn handelt es sich nicht nur um ein Mehr oder Minder an wirtschaftlichen Genußgütern, sondern meistens um seine gesamte Existenz. Denn häufig wird die besiegte Adelsklasse ausgerottet (bayrischer und schwäbischer Volksadel durch die Franken); ebenso häufig zu einer Klasse minderen Rechtes herabgedrückt, entweder zu einer Mittelklasse, die noch einige Reste der alten Tributrechte behält (römische Possessoren in den Völkerwanderungsstaaten, angelsächsischer Adel nach der normannischen Eroberung Englands) oder ganz ins Proletariat herabgedrückt. Nur selten wird er als vollberechtigt rezipiert, von den siegreichen Adelsgruppen ins Konnubium aufgenommen, sozusagen adoptiert (sächsischer Adel im Karolingerreich, einzelne tuskische und latinische Familien in Rom, einige wendische Dynasten in Brandenburg, der slawische Adel in Mecklenburg und Pommern).1 Wie das im einzelnen ausläuft, ist nichts als eine Frage der relativen politischen Macht, denn es handelt sich um Festsetzung von Rechten, und jedes Recht im Staate ist „die jedesmalige Grenze, der erkämpften Machtsphäre" (Gumplowicz). Je gleicher die aufeinanderprallenden Kräfte, um so gleichmäßiger verteilen sich die Rechte im Friedensschluß, je ungleicher die Kräfte, um so bitterer büßt der Überwundene: vae victis! Die „Plebs", wie fortan die unterworfene Gruppe genannt sein mag, ist an dem letzten Ausgang des Kampfes der beiden Adelsklassen nicht interessiert; denn es ist ihr sehr gleichgültig, an welchen Grundherrn oder König sie Rente und Steuern bezahlt, namentlich wenn der Kampf zwischen rassen-, sprach- und etwa noch religionsverwandten Gruppen spielt. Wohl aber ist die Plebs sehr lebhaft interessiert an dem Verlaufe des Krieges. Denn der wird auf ihrem Rücken ausgefochten. Jede Adelsklasse hat das lebhafteste Interesse, die andere „bis zur Weiße zur Ader zu lassen", um ihre Kampfkraft zu schwächen. Diese Kraft wurzelt in dem Steuerrecht auf die Arbeitserzeugnisse der Plebs: folglich gebietet die Logik der Dinge, diese Wurzel auszurotten, die Steuerfähigkeit der Plebs zu zerstören. Daher die furchtbare Zerstörungswut der Kriege in dieser Epoche, das Niederbrennen der Hütten, das Niederstampfen der Kornfelder, die Zerstörung der Weinstöcke und Fruchtbäume, das Niedermetzeln der Herden und der Menschen selbst, soweit sie nicht als Sklaven fortgeführt werden können. Darum hat die Plebs ein ungeheuer starkes Interesse daran, den Krieg auf das Gebiet der Nachbarn zu verpflanzen; das „Gemeininteresse" ist stark genug, um den Gegen1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

satz der Sonderinteressen zu überwinden, und so läßt sich die Plebs willig vom Adel in den Krieg führen, um das Vaterland zu verteidigen, obgleich der Löwenanteil an der Beute dem Adel zufällt. Auf diese Weise wächst also der primitive Staat, oder vielmehr, um die Spencersche Weltformel anzuwenden, eine Anzahl von primitiven Staaten „integrieren" sich zu einem größeren Aggregat. Und im gleichen Schritt damit schreitet die „Differenzierung" voran. Das die ursprüngliche Gliederung in zwei Gruppen sich weiter untergliedern kann und häufig wirklich untergliedert in mehr Gruppen, je nachdem die relative Macht der kämpfenden Teile über ihr künftiges Recht entschied, haben wir bereits gesehen. Das ist aber nicht die einzige Kraft noch der einzige Grund der Differenzierung. Je größer das Staatsgebiet wird, um so weniger ist es möglich, es zentralistisch, von einem Punkte aus, zu verwalten, solange Nachrichten- und Transportwesen so gut wie ganz unentwickelt sind. Die Tendenz zur Zentralisation durch den Krieg führt als These, zu ihrer Antithese, der Dezentralisation in ihrer Verwaltung. Mitglieder der herrschenden Gruppe werden in den Provinzen also Satrapen, Prokonsuln, Grafen, Herzöge, Governadoren [sic] etc. mit der Vertretung der Gruppeninteressen betraut. Solange mangels einer Geldwirtschaft ein geordnetes fiskalisches System nicht möglich ist, müssen diese Beamten mit ihrem Gehalt und Etat auf das Steuersubstrat, Land und Leute, angewiesen werden: sie ziehen sich ihr persönliches Deputat von den allgemeinen Staatseinnahmen ab, disponieren selbständig über einen anderen Teil für die Zwecke der Wehrkraft, des Rechtsschutzes, der Kirche und der Wohlfahrtspolizei, soweit sie im Keime vorhanden ist (Straßenund Märktewesen etc.) und liefern den Rest ab. So beherrschen sie - der Himmel ist hoch und der Zar weit - ihren Amtsbezirk mit sehr großer Selbständigkeit, und es kann nicht ausbleiben, das sich in ihnen ein wirtschaftliches Bedürfnis entwickelt, das dem der Gesamtheit immer stärker entgegenläuft. Der an der Ostgrenze regierende Machthaber ist wenig geneigt, seinen Kriegsschatz, seine Garde und seine Bauerntruppen an die Bekämpfung eines Feindes zu setzen, der die ferne Westgrenze bedroht. Er hat das Bedürfnis, das Steueraufkommen seines Bezirkes für sich und die Erhöhung seiner Macht zu verwenden, statt es für Gruppengenossen und andere Bezirke herzugeben; er hat schließlich das stärkste Interesse, eine höhere Macht zu zerstören, die sich in die politischen Beziehungen zwischen ihm und seinen Untertanen mischt, als Appellationsinstanz ihnen den Rücken steift, ihn auf Schritt und Tritt beengt, ja in seiner Existenz bedroht. Denn natürlich kennt die regierende Klique im Zentrum die Gefahren des Satrapenwesens ebenso genau und ist ängstlich bemüht, die lokalen Machthaber nicht zu groß werden zu lassen. So verwandelt sich die Tendenz zur administrativen Dezentralisation in die bewußte Tendenz zur politischen Dezentralisation: im Gebäude des Einheitsstaates entstehen Risse. Zuletzt zerfällt er in eine Reihe von Kleinstaaten, die vielleicht noch durch eine fast nur noch formelle, ohnmächtige Zentralinstanz zusammengehalten werden, die aber dessenungeachtet miteinander in unaufhörlichem Kampfe liegen. Von dem ersten Stadium des Krieges aller gegen alle unterscheidet sich das jetzige nur dadurch, daß inzwischen die politische Differenzierung und die ökonomische Differenzierung, die uns sofort beschäftigen wird, mehr Gruppen mit eigenen Interessen erschaffen haben, die auf die Masse in der Richtung ihres Bedürfnisses wirken und das Spiel der Kräfte in einer anderen Diagonale vereinen. Jedoch sind die geschilderten politischen Kräfte (Krieg und Verwaltung) nicht die einzigen, die die Differenzierung vollziehen. Es bestehen noch innerhalb der herrschenden Gruppe selbst urwüchsige Verschiedenheiten, die Sonderinteressen, zentrifugale Tendenzen erzeugen. Auf diese urwüchsigen Verschiedenheiten war bisher keine Rücksicht zu nehmen, da sie für die bisher geschilderte Seite der Entwicklung ohne Einfluß waren: jetzt ist es Zeit, sie in Rechnung zu stellen. Der erobernde Hirtenstamm ist keine einheitliche Masse mehr, wenn er zur Staatsbildung schreitet. Er ist mindestens schon, und zwar durch das politische Mittel des Krieges, in zwei „Klassen", d. h. Bevölkerungsteile verschiedenen Vermögens und Rechtes, geschieden, in Freie und Skia-

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ven. Diese letztgenannten sind anfangs nur Kriegsgefangene, die von der Hirtenstufe an nicht mehr geschlachtet, aber auch nicht mehr als gleichberechtigte Genossen adoptiert werden, wie noch auf der Jägerstufe; und zwar, weil sie erst hier zu einem Mittel der wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung werden, da allein ihre Arbeitskraft es dem Sieger erlaubt, größere Herden zusammenzuhalten und gegen menschliche und tierische Feinde zu hüten. Aus dieser Zweiteilung entwickelt sich sehr bald regelmäßig eine Dreiteilung. Der große Herden- und Sklavenbesitzer heimst die Beute an neuen Herden und neuen Weideknechten allein ein, wenn er auf eigene Faust mit seinem Clan, seinen freien Verwandten und bewaffneten Knechten, auf Raub und Fehde auszieht; und er heimst einen größeren Teil ein, wenn er als Feldherr mit seiner Garde, seinem „Gefolge", an der Spitze des ganzen Stammes siegte. So akkumuliert sich das Vermögen der Nomadenführer; sie werden zu Fürsten, „Fürsten der Stammhäuser", wie die Bibel sie nennt. Unterstützt wird dieser Ausleseprozeß durch den Mißbrauch des religiösen Bedürfnisses der Masse als eines politischen Mittels: der „Patriarch", der väterliche Opferpriester, versteht es überall, das seiner Verwaltung anvertraute Stammesvermögen unmerklich in sein Privatvermögen zu verwandeln. Diese Akkumulation drückt zuweilen schon nach unten auf die kleineren, ärmeren Gemeinfreien durch. Sie sinken ab und zu in eine geminderte Freiheit, in „Klientel" zur Dienstpflicht herab, namentlich nach Unglücksfällen (Krieg, Seuchen, Dürre, Schneestürmen etc.), die mit ihrer kleinen Herde ihre Existenzgrundlage vernichteten. Dann müssen sie von dem Patriarchen, dem Stammfürsten oder dem einfachen „Reichen" Vieh auf Darlehn nehmen, ein fee-od, ein Vieh-Eigen: den Embryo aller „feodalen" Beziehungen; denn der Entleiher wird für immer oder bis zur Abzahlung, die meist mit schweren Wucherzinsen zu erfolgen hat, ein abhängiger treueverpflichteter „Mann" des Darleihers. Solche Verhältnisse wurden kaum als sehr drückend empfunden, da sogar die volle Sklaverei im Hirtenstamme eine keineswegs harte ist, noch auch dort sein kann, wo die Bewegungsfreiheit der Weidesklaven so groß ist. Die Sklaverei zeigt ihr schlimmes Wesen erst in der Geldwirtschaft, bei der kapitalistischen Ausbeutung der Unfreien für einen zahlungskräftigen Markt. Immerhin hält im Hirtenstamm die gemeinfreie Masse in der Regel noch das Heft in der Hand. Und so bildet der primitive Staat mindestens dort, wo der ganze Stamm als Eroberer auftrat, anfangs eine Art aristokratischer Demokratie, aus der sich einige reiche Geschlechtshäupter ein wenig herausheben, ohne eine ausschlaggebende politische Macht entfalten zu können. Sie sind zu den Heerführer- und Priesterstellen ceteris paribus prädestiniert, zu den ersteren ihrer kriegerischen Erfahrung und ihrer unentbehrlichen Gefolge halber, zu den letzteren durch ihren Reichtum (Opfer): aber sie stehen als Beamte unter scharfer und wirksamer Kontrolle der vollfreien Heeresund Ratsversammlung, der sie ζ. B. mit dem Leben für die Gunst der Götter haften, deren Dienst ihnen anvertraut ist: noch in historischer Zeit wurden von germanischen Völkerschaften „Borkenkönige" geopfert, unter deren Herrschaft das Volk Baumrinde hatte essen müssen, weil Mißwachs und Viehsterben herrschten. So stehen die kleinen Gaukönige der primitiven Staaten. Die polnische Szlachta im 10. Jahrhundert gibt ein ungefähres Bild solcher adeligen Demokratie. Unter ihr, rechtlos, unpolitische Wesen, schmachtet die Plebs. Ein wenig anders verläuft die Entwicklung da, wo ein vornehmer Edeling mit seinem Gefolge auf eigene Faust, ohne Gewähr des Stammes, hinauszieht und sich auf fremdem Lande festsetzt, wie Chlodwig in Gallien. Hier ist die Monarchie von vornherein viel fester errichtet, viel weniger konstitutionell beschränkt.1 Die Bildung des „Staates" wird Ursache einer viel stärkeren und folgenschwereren inneren Differenzierung der herrschenden Gruppe, als zuvor möglich war. Der Stamm mag die neugewonnene 1 [Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Beute, Acker, Land und Leute, sogar gerecht teilen, jedem Krieger soundso viel Bauern: dennoch entsteht sofort eine ungemein bedeutende Grundbesitzverschiedenheit, denn dem Fürsten wird soviel Ackerland angewiesen, wie er für seine - eigentumsunfähigen - Weidesklaven braucht, die er mit in den neuen Zustand inferierte. Da ein Begriff vom Werte des Bodens angesichts der ungeheuren noch nicht umbrochenen Fläche nicht existieren kann, geschieht diese Zuweisung oder Okkupation ohne jeden Hintergedanken. Fortan haben wir drei Hauptklassen zu unterscheiden: den Großgrund- und Großherdenbesitzer, den Edeling oder Fürsten des Gaus, mit zahlreichen zinspflichtigen Bauern und persönlichen Dienern und Kriegern, zweitens die Gemeinfreien mit kleinem Grundbesitz und wenigen Ackerknechten, und zuletzt diese selbst, die in mehrere Klassen zerfallen können, wenn die miteingebrachten Weidesklaven ein anderes Recht erhalten als die unterworfenen Ackerbauern, die wir als „Hörige" bezeichnen wollen. Aber diese Unterteilung ist für den großen Gesamtverlauf ohne Belang. Dieser zeigt folgende Hauptzüge: Aufstieg der großen Grundbesitzer und der Plebs, Niedergang der Zentralgewalt und der Gemeinfreien. Die großen Grundbesitzer, seien es nun die reichen Herdenbesitzer der ersten staatsbildenden Okkupation, oder seien es ihre Nachfolger im Besitz, die adeligen Beamten aus der siegreichen Gruppe des durch den Krieg zusammengeschweißten Einheitsstaates, dehnen ihre lokale Macht durch das politische Mittel mehr und mehr aus. Sie lassen durch ihre Sklaven und Hörigen im noch nicht okkupierten Lande roden; ihr vermehrtes Einkommen ermöglicht ihnen, ihr persönliches „Gefolge", ihre Garde, zu verstärken: mit ihr unternehmen sie immer weiter spannende Raub- und Eroberungszüge über die Grenzen und wohl auch in die Interessensphären benachbarter Beamten des gleichen Staatswesens, gewinnen neues Land zur Besiedelung mit abhängigen, zins- und heerdienstpflichtigen Männern, neue Mittel zur Verstärkung ihrer militärischen Hausmacht. So werden sie immer stärker und stärker. Im gleichen Maße wird die Zentralgewalt schwächer. Ihr entgleiten die Provinzen, die sich nun als selbständige Mächte neben ihr und gegen sie behaupten. Um in den Nöten der auswärtigen Verwicklungen, die kraft des inneren Bewegungsgesetzes des politischen Mittels nicht aufhören können, die Hilfe der lokalen Machthaber zu gewinnen, muß die Zentralgewalt die Zukunft für die Gegenwart verkaufen. Sie sieht sich gezwungen, die faktische Gewalt der lokalen Machthaber formell-rechtlich anzuerkennen, indem sie ihnen, eines nach dem andern, die staatlichen Hoheitsrechte abtritt. Die wichtigsten sind die Erblichkeit des Lehens, die Gerichtsbarkeit und die staatlichen Regalien, hier vor allem die Verfügung über das noch unbebaute Land, das nach gleichmäßigem Volksrecht überall dem Stamme als Gesamtheit gehört, dessen Verteilung dem Patriarchen, dem Geschlechtshaupte, dem Kuni, zusteht. Von diesem Augenblicke an sind die gemeinfreien Bauernschaften geliefert. Ihre Macht war schon ohnehin durch den Wechsel des Berufs geschwächt: aus dem kampffrohen Hirtenkrieger war der waffenentwöhnte Bauer geworden, während der Gaufürst seine politische Macht, sein Einkommen und seine Garde fortwährend verstärkte. Schon stand die Waage der Macht gleich: der Verzicht der Zentralgewalt auf ihre Rechte läßt die Schale der Gemeinfreiheit emporschnellen. Schon die Übertragung der Gerichtshoheit (Immunität) an den Territorialfürsten, der Verlust der Appellation an die Zentralgewalt, war ein nicht zu verwindender Schlag: er gab der Gewalt die Würde des Rechtes, deckte sie mit dem Tabu der Superstition. Aber noch viel vernichtender wirkte der Verlust der noch freien Ländereien. Der Machthaber sperrt sie fortan gegen die freie Siedlung ab, erschließt sie nur solchen Siedlungswilligen, die entweder schon seine Hörigen sind oder sich bereit erklären, es zu werden. Jetzt, nach dieser mit einem Schlage erfolgten ungeheuren Vermehrung des fürstlichen Großgrundeigentums, das alles noch freie Land usurpiert, hat es erst den Umfang erreicht, in dem es die ökonomische Differenzierung entscheidend zu beeinflussen vermag.

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Bisher hat der Zugang zu freiem Land die ökonomische und soziale Gleichheit den Gemeinfreien aufrechterhalten. Wenn ein Bauer zwölf Söhne hatte, so übernahm der Alteste die väterliche Hufe, und die elf anderen rodeten sich neue Hufen in der Gemeinen Mark. Das ist fortan unmöglich, denn die Mark ist gesperrt. Der Besitz von Bauernfamilien mit zahlreichen Kindern zersplittert, der anderer akkumuliert sich durch glückliche Heiraten und geschickte Darlehen, kann auch mit den gemieteten Kräften der durch die Bodenzersplitterung verarmten Dörfler fortan mit Erfolg bebaut werden: und so entsteht eine Dorfaristokratie auf der einen, ein Dorfproletariat auf der anderen Seite. Und das geschieht nicht, wie die „ökonomistische Geschichtsauffassung" es regelmäßig darstellt, weil das Land „voll besetzt", d. h. von so vielen Menschen besiedelt war, als es dem Stande der Technik entsprechend ernähren konnte, sondern, weil es durch das politische Mittel gesperrt war! Damit ist der Ruin der Gemeinfreiheit entschieden. Absolut geschwächt durch Verlust ihrer Wehrkraft, relativ geschwächt im Vergleich zu der täglich wachsenden militärischen und moralischen Macht des zum höchsten Richter aufgestiegenen, zu ihrem erblichen Fürsten gewordene Großgrundherrn, werden sie nun auch noch durch die Spaltung in mehrere Vermögensklassen mit verschiedenen, gegeneinander streitenden Interessen gelähmt. Die Folge ist ihr unaufhaltsames Versinken in die Hörigkeit, in die sie teils freiwillig eintreten, um Land zu erhalten, teils halb gezwungen, um den Schikanen des Gerichtsherrn zu entgehen oder in den ewigen Fehden einen Schutz zu haben, teils gepreßt durch brutale Gewalt und Mißbrauch der Gesetze. Der ewige Kriegsdienst im dynastischen Interesse, zu dem sie jetzt gezwungen werden, während sie vorher nur im Verteidigungskriege aufgeboten werden durften, legt durch den wirtschaftlichen Verfall den noch aufrechten Rest so gut wie ganz nieder, und das allerletzte tut dann die Usurpation der Gemeindemarken durch den zum Obermärker emporgestiegenen Grundherrn, der das Rückgrat aller Bauernwirtschaft, die Viehzucht, durch Beschränkung der Weiderechte zerbricht. Wenn ich mich hier der Ausdrücke des deutschen Wirtschaftslebens bediene, so will ich durchaus so verstanden werden, daß ich ganz allgemeine menschliche Geschichte skizziere. Nicht nur in Europa, nein auch in Indien, Java, Japan ist der Prozeß in den Hauptzügen völlig gleich verlaufen.1 Während die Freienschaft auf diese Weise sinkt, steigt die alte Plebs ebenmäßig empor. Denn in demselben Maße, wie das wirtschaftlich-politische Interesse des Fürsten sich gegen seine eigenen kleineren Stammesgenossen wendet, in demselben Maße identifiziert es sich mit dem seiner unmittelbaren Untertanen. Sie sind seine politische Macht; ihre Arbeit schafft ihm die Mittel, seine Garde zu unterhalten, ihre Arme schwingen seine Schwerter. Aber nicht nur ihr Gedeihen ist seine Macht, sondern auch seine Macht ist ihr Gedeihen. Die Interessengemeinschaft ist reziprok: denn nur, wenn ihr „Herr" emporsteigt, können sie mit emporsteigen, sein Fall ist ihr Fall. Das gilt schon von den unfreien Ackerbauern, über die der Herr seine schützende Hand hält, aber vor allem von den unfreien Kriegern seines Gefolges. Sie haben als Unfreie keine eigene „Ehre", nehmen nur an der Ehre des Herrn teil. Ihr Haß gegen die hochmütigen Gemeinfreien ist echt und gründlich, die ihnen Verkehr, Gemeinsamkeit des Gerichts und Konnubium versagen. Schon deshalb folgen sie dem Fürsten mit Begeisterung in den Kampf gegen die Bauern. Aber dieser Haß ist noch mehr als bloß das „Ressentiment" des sozialen Paria: er ist der Ausdruck eines tiefen Interessengegensatzes. Die Plebs kann nur empor, wenn die Gemeinfreiheit zertrümmert wird, sie muß sie zerstören. Und daher die unzerbrechliche Interessengemeinschaft mit dem Fürsten, der allein das Zerstörungswerk vollbringen kann.

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[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Das ist die Interessenwurzel der sagenverklärten „Gefolgentreue", die darum übrigens nicht an ihrer menschlichen Schönheit verliert, wie überhaupt nichts törichter sein kann, als die Verwechslung des historischen „Materialismus", wenn das gebräuchliche Wort hier einmal gestattet ist, mit dem Zynismus. Die Rose ist doch herrlich, wenn auch ihre Wurzel in den Kot taucht! Der Fürst selbst weiß die Interessengemeinschaft mit den kräftigen Repräsentanten des Plebs überall zu würdigen. Als seine Geschöpfe sind sie ihm sicherer als die eigenen Gruppengenossen, die durch ihren Stolz lästig und durch rechtliche Ansprüche auf Gleichheit, sowie durch ihre Familienbeziehungen gefährlich sind. Darum steigt überall der Freigelassene am Fürstenhofe über den Freien, der Ministerial über den Edeling. Und so tritt an Stelle des alten Volksadels der siegreichen ethnischen Gruppe ein neuer, ethnisch gemischter Hofadel, in den der Volksadel zum kleinen Teil eingeht, während der größte Teil in den Kriegen der Feudalepoche zugrunde geht, oder - die kleinen Gemeinfreien - in den Plebs hinabsinkt. Der sogenannte Uradel Deutschland ist ζ. B. ein Gemenge von Germanen, Kelten, Romanen und „Mestizen des Rassenchaos" (Chamberlain), die am Karolingerhofe in die Höhe kamen; der deutsche Schwertadel zum großen Teile Abkömmling unfreier Ministerialen, die von den meist aus dem Uradel entstandenen Territorialfürsten beamtet waren. Und so überall! Geht schon so durch die politische und die in ihrem Rahmen sich abspielende ökonomische Differenzierung die primitive Klassenscheidung nach ethnischen Merkmalen allmählich ganz verloren, so tut die biologische Vermischung der beiden ursprünglichen Gruppen den Rest. Die Herren erzeugen mit den Frauen der Unterworfenen Bastarde, die teils in die Herrenklasse rezipiert werden, teils als kriegerisch-revolutionäre Elemente die Widerstandskraft der Plebs stärken, ein Gesichtspunkt, auf den schon Graf Gobineau nachdrücklich hingewiesen hat. Das Schlußergebnis ist eine völlige Verwischung des alten Gruppengegensatzes und die Ausbildung neuer Gegensätze. Die Oberschichten, d. h. die sozial und wirtschaftlich Privilegierten werden jetzt gebildet durch Teile der alten Siegergruppe mit Teilen der alten Besiegtengruppe; und die ausgebeutete, Steuer und Rente bezahlende Schicht besteht jetzt aus den Resten der alten, nunmehr stark gehobenen Plebs, die mit dem Hauptteil der Siegergruppe, den Gemeinfreien, zu einer einheitlichen Klasse, den „Grundholden" des deutschen Rechts, verschmolzen ist. Das verkennt Gumplowicz, für den der spätere Klassengegensatz sich immer noch darstellt als Rassengegensatz, als „Rassenkampf": eine der Hauptwurzeln seines soziologischen Pessimismus! Wir werden diesen Fehler fortan zu vermeiden wissen.1 Um zu rekapitulieren, es geht mit der Differenzierung in neue Klassen an Stelle der alten ethnischen Gruppen der Zerfall des Einheitsstaates in selbständige Fürstentümer parallel, die um die Vorherrschaft und Alleinherrschaft kämpfen und kämpfen müssen, weil das innere Bewegungsgesetz des politischen Mittels es so mit sich bringt; weil, wer nicht Hammer sein will, Amboß werden muß; weil das Bedürfnis nach arbeitsfreiem Einkommen unbegrenzt ist! In diesen Kämpfen der Zentralisation werden immer wieder neue Einheitsstaaten unter neuen Dynastien gebildet, die immer wieder an der Notwendigkeit administrativer Dezentralisation verbluten, solange es unmöglich ist, lokale Beamte auf feste Besoldung zu setzen, solange man sie mit Land und Leuten belehnen muß. Und so würde denn alles Staatsleben in einem ewigen Kreislaufe von Organisation und Desorganisation ablaufen müssen, wenn nicht inzwischen in dem Rahmen, den das politische Mittel schuf, im Staate, das ökonomische Mittel neue Differenzierungen, neue Massen mit einheitlichen Bedürfnissen, d. h. neue Massenkräfte erzeugt hätte, die nun endlich jenen circulus vitiosus sprengen.

1 [Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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2. Die Entstehung des ökonomischen

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Mittels

Es kann an dieser Stelle nur eine ganz grobe Skizze der wirtschaftlichen Entwicklung gegeben werden, wie sie durch das ökonomische Mittel der Bedürfnisbefriedigung, Arbeit und äquivalenten Tausch, erzeugt wird. Wir kennen den Anfangszustand, der uns hier allein zu beschäftigen hat, den bei der Entstehung des Staates: die primitive Bauernwirtschaft wird meist im Hackbau betrieben (so in fast ganz Afrika), weil die Domestikation der großen Haustiere und ihre Einstellung zur Akkerarbeit, als Pflugtiere, erst von den Hirten mitgebracht wurde. Die Stoffveredelung ist noch durchaus auf Hausfleiß beschränkt (Töpferei, Weberei, Zimmerer- und Schmiedewerk). Hier und da ist der Dorfgemeinde wohl schon ein auf Naturaldeputat angewiesener „artisan-staff" (Indien) angegliedert. Der Handel beschränkt sich auf den Austausch von Luxusprodukten, seltener auf den Vertrieb der Erzeugnisse von Stamm- oder Dorfgewerben (afrikanische Schmiede, polynesische Töpferei und Schiffswerften etc.). Allmählich verdichtet sich die Bevölkerung auf der Flächeneinheit unter dem Friedensschutz des Staates, und gleichzeitig dehnt sich sein Gebiet. Beides zusammengenommen macht eine Vergrößerung des Marktes aus. Mit dem Markte wächst nach dem bekannten Grundgesetze der Ökonomik die Arbeitsteilung, da ein spezialisierter Beruf genug Abnehmer findet, um seinen Mann zu ernähren. Die bäuerliche Naturalwirtschaft und die „Großoikenwirtschaft" der großen Grundherrschaften gibt einen Zweig ihrer alten gewerblichen Eigenproduktion nach dem andern an die neu entstehenden Gewerbe ab: die von mir sogenannte „primäre Arbeitsteilung" zwischen Landwirtschaft und Industrie schreitet immer mehr voran. Die Gewerbetreibenden drängen sich teils aus politischen Gründen (Schutzbedürfnis) teils aus ökonomischen Gründen (Märkte) in den Städten als Bürgerstand zusammen, die zum Teil schon vorher als feste Plätze oder fürstliche Hofhaltungen oder Kultstätten bestanden hatten. In ihnen greift die sekundäre Arbeitsteilung Platz: der Zimmermann spaltet sich in Wagner, Tischler, Drechsler, Zimmerling, der Schmied in Schlosser, Spengler, Huf-, Kupfer-, Grobschmied etc.; und zuletzt die tertiäre Arbeitsteilung, die Vereinigung zahlreicher Arbeitskräfte in einem Betriebe, die das Maschinenwesen, den Großbetrieb vorbereitet. In gleichem Maße entfaltet sich der Handel, der, je größer die Stadt mit dem Wachstum ihres Marktes wird, um so mehr Rohstoffe und Nahrungsmittel aus immer größerem Umkreise heranzuschaffen und immer mehr Gewerbeerzeugnisse in gleichem Umkreise abzusetzen hat. Gewerbe und Handel können schon auf verhältnismäßig wenig entwickelter Stufe nicht mehr ohne einen bequemen Wertmesser auskommen: die Geldwirtschaft verdrängt in immer weiteren Kreisen den alten Naturaltausch. Sie entfaltet sich zunächst in den Städten zu immer größerer Reife; hier zuerst entsteht die moderne Steuerwirtschaft, und hier zuerst das auf ihr beruhende Wesen modernen Beamtentums, besoldeter Beamten\ Sobald sich Geldwirtschaft, Steuerwirtschaft und Beamtenbesoldung auch auf das Gebiet der Territorialfürstentümer erstreckt haben, ist jener circulus vitiosus gebrochen, der die Einheitsstaaten der Naturalwirtschaftsepoche immer wieder zersprengte. Fortan kann die unentbehrliche administrative Dezentralisation ohne Gefahr für die politische Zentralisation ins Werk gesetzt werden; denn niemand ist abhängiger und bleibt anhängiger von der Zentralinstanz als der von ihr besoldete Beamte. Selbst der Gedanke einer Verselbständigung kann ihm nicht kommen, im Gegenteil, sein Interesse ist identisch mit dem seiner Auftraggeber. Mehr noch! Die Geldwirtschaft ermöglicht nicht nur der Zentralinstanz, die leitenden Beamten der Provinzen fest in der Hand zu behalten: sie vernichtet noch dazu alle Keime selbständiger Gewalten, die sich etwa in ihrem Machtbereich noch finden mochten, schneller und gründlicher, als die furchtbarste Blutpolitik es hätte vollbringen können. Und zwar folgendermaßen: Das Endziel aller Handlung der kleineren Grundaristokraten, die in den Provinzen in halber Abhängigkeit, halber Unabhängigkeit als kleine Feudalherren sitzen, ist nach wie vor möglichst

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ausgiebige und gesicherte Versorgung mit ökonomischen Genußgütern. Das einzige praktische Mittel, um dieses Bedürfnis zu befriedigen, ist in der Naturalwirtschaft die möglichst kräftige Ausbildung ihrer militärischen Macht, mit der sie von der Zentralinstanz sowohl wie von der Plebs alles erhandeln, erpressen, erzwingen können, was sie begehren, mit der allein sie das, was sie bereits besitzen, verteidigen können. Sobald aber die Geldwirtschaft durchgedrungen ist, können sie ihr Bedürfnis viel ausgiebiger mit dem neuen Mittel, mit Geld, befriedigen. Viel ausgiebiger: denn wenn sie die Naturalleistungen ihrer Hintersassen fortan an die Städter verkaufen, statt die Hunderte von Mäulern ihrer Kriegsknechte samt Familien und Streitrossen zu füllen, so sind sie für ihre Begriffe ungeheuer reich und können alle die lockenden Luxuswaren des emporgeblühten Handels erwerben. Sie entlassen ihr Gefolge und scheiden somit als politische Machtfaktoren aus, und so ist auch von dieser Seite her das Feudalsystem plötzlich in der Wurzel ausgerottet. Die Herren selbst aber „bewirtschaften" fortan ihre Güter, d. h. sie pressen aus ihren Untertanen heraus, was sie irgend können, sei es Geldrente, sei es ungelohnte Arbeit, und drücken sie schließlich in die volle, kapitalistische Sklaverei hinab. Daraus ergibt sich eine vollkommen andere Konstellation der Kräfte im ganzen Staatsleben. Die urwüchsige Interessengemeinschaft zwischen halbfürstlichem, zum Vollfürstentum strebendem Feudaladel und seinen Hintersassen ist in ihr Gegenteil, einen entschiedenen Interessengegensatz, umgeschlagen. Bildete früher Zahl und Wohlstand der Hintersassen den Reichtum des Herrn, so ist er jetzt um so reicher, je mehr er ihnen entpreßt, d. h. je ärmer sie sind, und je weniger er von seinen Rohernten ernähren muß, d. h. je weniger zahlreich sie sind. - Hatte früher die Zentralinstanz in den kleinen Feudalherrn ihre natürlichen Gegner erblicken müssen, so werden sie fortan ihre natürlichen Verbündeten, da sie jetzt die Macht der Zentrale nicht entbehren können, um ihre ausgebeuteten Bauern in Räson zu halten und die formellen Gesetze durchzusetzen, die die volle Expropriation erst ermöglichen. Darum wird aus dem einst unversöhnlichen Adel in aristokratischen Staaten: patrizischer Adel, der mit dem älteren Stadtadel zusammen Bauernschaften und Kolonien ausbeutet; und in monarchischen Staaten wird er zum Hofadel, der den Roi Soleil umgibt und ebenfalls das ganze Land als ein Rittergut betrachtet, das der herrschenden Klasse möglichst viel Grundrente zu steuern hat. - Und schließlich schlägt auch das Verhältnis der Zentralinstanz zur noch freien Bevölkerung um. Bisher stützte sie sie nach Möglichkeit als die ihr noch verbliebene Rekrutierungs- und Steuerquelle und als Hebel ihres Kampfes gegen die immer mehr aufkommenden Feudalmächte. Jetzt, wo diese Gefahr gehemmt ist, wird auch die Zentralinstanz um so reicher und mächtiger, je mehr ihr Steuerfiskalismus die freie Bevölkerung auspowert. So sind alle alten Gegensätze verschwunden und neue entstanden, nur durch die Umwälzung von der Natural- zur Geldwirtschaft. Mehr als diese Andeutungen läßt sich hier kaum geben. Nur eins darf man im allgemeinen betonen, daß der Einfluß der ökonomischen Umwälzungen unmöglich überschätzt werden kann. So ζ. B. ist das Schicksal der antiken Staaten ganz wesentlich dadurch bestimmt worden, daß sie, um den großen Binnensee des Mittelmeers gelagert, schon in den frühesten Stadien ihrer Feudalentwicklung, ihres „Mittelalters", die Geldwirtschaft des Orients von den Handelsvölkern übernahmen. So kamen sie unmittelbar zur kapitalistischen Sklavenwirtschaft, an der sie zugrunde gehen mußten, ganz wie im Norden ein Jahrtausend später Polen daran zugrunde ging, daß es die Geldwirtschaft erhielt, ehe seine Feudalentwicklung in der Bildung fester staatlicher Territorialherrschaften und eines freien städtischen Mittelstandes zur Reife gelangt war. Im westlichen Europa aber fand die Einführung der Geldwirtschaft überall ein solches voll entfaltetes Feudalsystem vor; und daher konnte hier die Sklaverei überwunden und ein neuer Fortschritt der menschlichen Gesellschaft angebahnt werden.

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Daß zu diesem glücklichen Ausgange noch mancherlei mitwirkte: die ungeheure Größe des Siedellandes im Vergleich mit der Bevölkerung, das Christentum mit seinem unzerstörbaren demokratischen Gleichheitskern, das aber vor allem auch die folgenschwere Spaltung der weltlichen und geistlichen Macht erzeugte, in deren Wettkampf die Völker den tertius gaudens agierten, weil namentlich das Tabu der Superstition ins Wanken geriet; ferner der antike Humanismus mit seiner kosmopolitischen Wissenschaft und Philosophie, vielleicht auch ein Stück Rassebegabung der Germanen: das soll wahrlich nicht verkannt werden. Doch es ist hier nicht der Ort, es zu behandeln. Es gehört in eine spezielle Geschichtsdarstellung, nicht in eine allgemeine Geschichtsphilosophie. 1

3. Das Spiel der Kräfte im entfalteten Staate (Klassen, Klasseninteressen und Klassenkampf) Nachdem wir so in einem, soweit es die enge Verschlingung des Kausalkomplexes zuließ, isolierenden Verfahren die beiden Mittel der Massenbedürfnisbefriedigung einzeln betrachtet haben, ist es möglich, in einer kombinierenden Betrachtung eine allgemeine Darstellung der bewegenden Kräfte des entfalteten Staates zu skizzieren. Es besteht ein für alle Staatsangehörigen ungefähr gleiches Massenbedürfnis, ich nenne es das „Gemeininteresse", das mit gleichen Mitteln gleiche Endziele erstrebt. Es beschränkt sich ganz wie beim primitiven Staate auf militärischen Schutz nach außen und auf Rechtsschutz und etwas Wohlfahrtspolizei nach innen. Die Plebs muß vor den äußersten Ausschreitungen der Herrenschicht, diese vor Empörungen der Plebs geschützt werden, beide gemeinsam haben das gleiche Interesse an der Vermeidung von Bürgerkriegen mit ihren Verwüstungen, und ebenso daran, die auswärtigen Kriege im Feindeslande auszufechten. Neben dem Gemeininteresse wirken die Sonderbedürfnisse der verschiedenen Massen, die ich von jetzt an, da die ethnischen Gruppen nicht mehr existieren, als Klassen, deren Klassenbedürfnisse ich als Klasseninteressen bezeichnen werde. Unter einer Klasse verstehe ich einen Teil eines im Staate organisierten Volkes und zwar eine durch ein gemeinsames wirtschaftliches Bedürfnis zu gemeinsamer Handlung gedrängte, und daher vermeintlich von gemeinsamen bewußten Motiven geleitete Menschenmasse, die mit anderen „Klassen", d. h. anderen, durch ein anderes gemeinsames wirtschaftliches Bedürfnis zu gemeinsamer, anders gerichteter Handlung gedrängten Menschenmassen ein Volk zusammensetzt (das, wie gesagt, auch wieder nichts anderes ist, als eine größere durch ein gemeinsames wirtschaftliches Bedürfnis zu gemeinsamer Handlung gedrängte, entsprechend „motivierte" Menschenmasse). Wir erkennen jetzt die dritte Gliederung innerhalb derjenigen menschlichen Massen, die als geschichtlich handelnde für unsere Betrachtung von Interesse sind. Ihr mechanisches Element ist das Individuum, ihr organisches Element die Familie und schließlich ihr politisches Element die Klasse. Die Feststellung ist sehr wichtig. Denn sie belehrt uns über eine neue Richtung des Bedürfnisses der Lebensfürsorge. Wie der Mensch als Gesellschaftsatom für sich selbst, die Erhaltung des individuellen Lebens, handelt, wie er für das organische Element, dem er angehört, nämlich für seine Familie im weiteren Sinne, d. h. außer für Weib und Kind für die blutsverwandte Horde sich einsetzt, im Bedürfnis der „Erhaltung der Art", so identifiziert er auch sein Interesse als politisches Wesen mit dem seines politischen Elementes der Gesellschaft, der Klasse. Und zwar handelt er

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[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

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Demokratie

derart aus einem Triebe, der geradeso wie die ersten beiden als ein durch Anpassung und Selektion erworbenes zweckmäßiges Organ für den Kampf ums Dasein aufgefaßt werden muß. Denn der Mensch als politisches Wesen ist ebenso undenkbar ohne die Eingliederung in eine Klasse, die ihm im Kampfe um die Existenz den Rücken deckt, wie als organisches Wesen ohne die Eingliederung in die Familie. Daß die ersten „Klassen" nichts anderes sind, als die bei der Bildung des Staates aktiv und passiv beteiligten ethnischen „Gruppen", zeigt, durch welchen kontinuierlichen Seelenprozeß das Bedürfnis der „Klassenfürsorge" entstanden ist, das eine so mächtige Rolle in der Geschichte spielt. Wir werden fortan, da der ethnische Gegensatz so schnell verschwindet, nur noch von dem rein politischen Gegensatz der aus gleichen ethnischen Elementen gemischten Rang- und Vermögensklassen handeln. Das „Bedürfnis" jeder einzelnen Klasse stellt eine reale Menge assoziierter lebendiger Kraft dar, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf die Erreichung eines bestimmten Zieles hindrängt. Die Klasseninteressen samt dem Gemeininteresse sind also in buchstäblichster, streng mechanischer, nicht etwa bloß bildlicher Darstellung, die bewegenden Kräfte des Volks• und Staatslebens. Wenn wir vom Gemeininteresse absehen, daß in den bisherigen Geschichtsauffassungen mehr als genügend berücksichtigt worden ist, so ergibt uns die Betrachtung der Klasseninteressen das folgende Bild. Alle Klasseninteressen haben ein gemeinsames Ziel, das Gesamterzeugnis der auf die Güterherstellung gewandten produktiven Arbeit aller Staatsangehörigen, d. h. das Erzeugnis des „ökonomischen Mittels". Mit anderen Worten: Jede Klasse erstrebt einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt; und da alle das gleiche erstreben, bildet der Klassenkampf den Inhalt aller Staatengeschichte (immer abgesehen von den Handlungen des Gemeininteresses). Wir haben zwei Gruppen zu unterscheiden: die der bevorzugten Klassen, die einen Anspruch auf mehr Güter aus dem Nationalprodukt haben, als ihre eigene Arbeit erzeugt hat; und die Gruppe der ausgebeuteten Klassen, die einen Teil des Erzeugnisses ihrer eigenen Arbeit an jene abzutreten gezwungen ist. In jeder Gruppe können sich mehrere verschiedene Klassen finden. Ζ. B. haben wir im zeitgenössischen Deutschland mindestens drei verschiedene bevorzugte Klassen: die der großen Magnaten, deren Interesse ebensosehr mit der Grundrente, wie mit der Fabrik- und Hüttenrente verknüpft ist, zweitens die der kleinen Landjunker, die nur an der Grundrente, und drittens die der Großindustriellen, die nur mit der Industrierente verknüpft sind. Die ausgebeutete Klasse umfaßt mindestens die Kleinbauernklasse, die Landarbeiterklasse, die Industriearbeiterklasse und die Mehrzahl der niederen Staats-, Gemeinde- und Privatbeamten.1 Dazwischen stehen Übergangsklassen, die nach oben hin Tribut zu entrichten haben, ihn aber von unten her wieder einziehen dürfen: Großbauern, die zwar übermäßig zu den Steuern beitragen müssen, mit denen die privilegierten Klassen ihre Sonderbedürfnisse befriedigen, die aber Landarbeiter ausbeuten; kleinere Industrielle und Handwerker, denen Industriearbeiter und Privatbeamte die Steuern ersetzen müssen usw. Ja, ein Individuum kann mehreren Klassen angehören: ein adeliger Subalternbeamter mag eine Tochter im Adelsstift versorgen und als städtischer Hausbesitzer seine Mieter ausbeuten. Die Klassenangehörigkeit entscheidet auf die Dauer über die Parteiangehörigkeit. Eine Partei ist nichts anderes als die organisierte Vertretung einer Klasse. Wo eine Klasse durch die ökonomische oder politische Differenzierung in mehrere Klassen mit verschiedenen Sonderinteressen zerfällt, zerfällt in Kürze auch die entsprechende Partei in mehrere junge Parteien. Wo ein alter Klassenge-

1

[Im Original hervorgehobener Text; A.d.R.]

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

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gensatz durch die soziale Differenzierung (darunter fasse ich politische und ökonomische fortan zusammen) verschwindet, da verschmelzen in Kürze auch die beiden alten Parteien zu einer neuen. Alle Parteipolitik hat zum Ziele, ihrer Klasse einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt zu schaffen. Das will sagen: die Gruppe der bevorzugten Klassen will ihren Anteil mindestens auf seiner alten Höhe erhalten, womöglich noch vermehren; das Ideal ist, den ausgebeuteten Klassen nur gerade die Existenz und Prästationsfähigkeit zu lassen und das ganze Mehrprodukt der mit wachsender Volksdichte und Arbeitsteilung ungeheuer vermehrten Ergiebigkeit des ökonomischen Mittels zu beschlagnahmen. - Die Gruppe der ausgebeuteten Klassen will ihren Tribut höchstens in alter Höhe weiter entrichten, das gesamte Mehrprodukt der entfalteten Wirtschaft aber unter sich zur Verteilung bringen; womöglich aber den Tribut auch noch absolut vermindern. - Und die Gruppe der Ubergangsklassen will nach oben hin höchstens gleichviel, womöglich weniger abtragen, von unten aber mindestens gleichviel, womöglich mehr erhalten. Das ist Inhalt und Ziel des Kampfes. Sein Mittel ist zunächst für Jahrtausende der Verfassungskampf Nichts ist den Beteiligten klarer, als daß das „Recht" die Ursache der verschiedenen „Berechtigungen" ist. Die bevorzugten Klassen sind bis fast auf unsere Zeit die rechtlich privilegierten Klassen. Um diese Privilegien dreht sich der erste Kampf. Die Klasse der privilegierten Gruppen wollen sie konservieren, sind „konservativ", die der ausgebeutete Gruppen wollen sich davon liberieren, sind „liberal". Der Verfassungskampf wäre überall schnell entschieden ohne die Taktik der Ubergangsklassen. Diese sind als Vortruppen der liberalen Hauptmacht so lange liberal, bis sie ihre T r i b u t p f l i c h t abgeschüttelt haben; dann wenden sie die Waffen gegen die alten Kampfgenossen, werden konservativ, um ihre Ύtibx&rechte zu verteidigen. Da die soziale Differenzierung immer neue Ubergangsklassen erschafft, zieht sich der Verfassungskampf sehr in die Länge. Je nachdem das nächste Ziel des Kampfes die Durchsetzung oder Beseitigung eines ganz bestimmten Privilegs ist, gruppieren sich die Parteien zum Kampfe. Die verschiedenen Klassen der Gruppe der Privilegierten gehen meist zusammen, können sich aber auch heftig bekämpfen und dabei ihre Bundesgenossen in den Ubergangsklassen oder gar den unteren Klassen suchen: hier reproduziert sich der internationale Kampf der ursprünglichen Adelsgruppen der primitiven Kleinstaaten um die Beute im intranationalen Leben. - Die Ubergangsklassen fechten bald gemeinsam in einem Lager, bald spalten sie sich, um hier die oberen, dort die unteren Klassen zu verstärken. Jedesmal wird die Handlung durch das Klasseninteresse, das Klassenbedürfnis, gelenkt; nicht immer richtig, denn Parteien sind unter Umständen ebenso kurzsichtig, wie die Männer, die sie führen, können auch ebensogut wie einzelne für fremde Interessen mißbraucht, getäuscht werden. Aber auf die Dauer fühlt doch der Instinkt jeder Klasse, wo sie der Schuh am heftigsten drückt und strebt nach Erleichterung. Die antike Welt kommt über den politischen Verfassungskampf nicht hinaus. Sie geht an der Sklavenwirtschaft, dem politischen Mittel κατ'εξοχήν, zugrunde. Aber in dem modernen Völkerleben kommt einmal eine Zeit, wo die alte Zwingburg des politischen Mittels bis auf wenige Reste im Verfassungskampfe gebrochen ist, wo der „Liberalismus" siegreich das Schlachtfeld behauptet. Und nun zeigt sich, daß damit nicht alles, entfernt nicht alles, erreicht ist, was der Liberalismus sich und seinen Kämpfern verheißen. Das Feudalwesen ist zerstört, die bürgerliche Gleichheit erfochten und dennoch hat sich in der Verteilung des Nationalproduktes, dem Objekt des langen, blutigen Verfassungskampfes, wenig oder nichts geändert. Nach wie vor lebt die große Masse in bitterer Armut oder karger Dürftigkeit, in harter, zermalmender, geisttötender Arbeit, in Dumpfheit und Stumpfheit - und nach wie vor zieht eine schmale Minderheit, nur zum Teil aus anderen Bevölkerungselementen gebildet, den ungeheuren Tribut arbeitslos ein, um verschwenderisch zu genießen. Es gibt keine Privilegien mehr, und dennoch Klassen, Klasseninteressen, Klassenpolitik, Klassengesetzgebung, Klassenjustiz, Klassenverwaltung. Und darum herrscht nach wie vor der Klassenkampf.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

Aber er hat sein Angesicht geändert. Er ist nicht mehr der politische Verfassungskampf, den der Liberalismus führt, sondern der soziale Klassenkampf, den der Sozialismus führt. Er geht noch um dasselbe Objekt, um die Anteile am Nationalprodukt, aber mit anderen Mitteln. Der Kampf um die Verfassung tritt zurück, mit deren Umgestaltung man bisher in eitlem Wahne geglaubt hat, die „Verteilung" (Distribution) entscheidend mitumzugestalten: an seine Stelle tritt der direkte Lohnkampf zwischen Proletariat und Exploiteuren, „Kapitalisten". Seine Waffe sind nicht mehr die politische Demonstration, die Barrikade, der Stimmzettel, sondern Streik, die Gewerkschaft und die Genossenschaft. Statt der politischen wird die wirtschaftliche Organisation das Mittel des Klassenkampfes. So hat uns unser Uberblick bis zur Gegenwart geführt - und hier hat die Geschichtsphilosophie ihr Werkzeug niederzulegen. Die weiteren Aufgaben, die zu lösen sind, fallen dem zweiten Hauptteile der Soziologie, der Wissenschaft von den Gesetzen der wirtschaftlichen Bewegung, zu. Sie allein kann die Aufgabe lösen, in der Vergangenheit und Gegenwart die wirksamen Kräfte zu erkennen und von dieser Erkenntnis aus eine fundierte Prognose der Zukunft unserer Gesellschaft zu formulieren. Dazu ist hier nicht der Ort. Ich kann daher nur unter Verweisung auf die daselbst gegebenen deduktiven und induktiven Beweise den Hauptinhalt meiner früheren Arbeiten hier in kurzen Worten wiederholen: Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß der Kampf des Liberalismus gegen das Feudalwesen bereits beendet ist. Noch steckt, ökonomisch maskiert, die wichtigste Schöpfung des politischen Mittels als Fremdkörper in dem vermeintlich gänzlich auf dem ökonomischen Mittel aufgebauten Organismus der modernen Gesellschaft: das Großgrundeigentum·, und es wirkt als Fremdkörper, indem es eine spezifische Krankheit erzeugt, den „Kapitalismus". Das Großgrundeigentum ist nämlich ein Gebiet, über dem der wirtschaftliche und soziale Druck konstant ist, der auf der Bevölkerungsmasse lastet; infolgedessen strömt von hier aus eine ungeheure Wanderung in diejenigen Gebiete, wo mit der Bevölkerungsvermehrung und Arbeitsteilung der Druck regelmäßig absinkt, in Städte und Bauernbezirke; und nur dadurch stehen hier den Eigentümern von „Kapital" jene „freien" Arbeiter der Marxschen Terminologie immer in ausreichender Zahl zur Verfügung, ohne deren Vorhandensein nach Marx selbst Produktionsmittel nicht „Kapital" wären, d. h. „Mehrwert heckender Wert". Alle anderen Erklärungen der Herkunft dieser „freien" Arbeiter sind unhaltbar, sowohl die Malthussche, aus dem Gesetz der Bevölkerung abgeleitete, wie die Marxsche, aus dem Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals abgeleitete. Deduktion, Statistik und geschichtliche Beobachtung beweisen eindeutig, daß die einzige Quelle dieser freien Arbeiterbevölkerung das Großgrundeigentum ist. Nun geht dieser Feudalrest rettungslos zugrunde und zwar an seiner eigenen Einwirkung auf die freie Wirtschaft, an der Wanderung. Die Folge der^wswanderung über die Ozeane ist ein Sturz der Produktenpreise, und die Folge der ^Wanderung das unaufhaltsame Steigen der Löhne. So schrumpft die Grundrente, der letzte primäre Rest des politischen Mittels, und die Quelle aller sekundären Aneignung ohne äquivalente Gegenleistung, des Zinses und Profites, von zwei Seiten her zusammen, und wird in absehbarer Zeit gänzlich mit seinem materiellen Substrat, dem Großgrundeigentum, verschwunden sein, womit dann auch die übrigen „Gewaltanteile" an dem Ergebnis des ökonomischen Mittels verschwinden werden. Denn es läßt sich nicht nur theoretisch-deduktiv errechnen, sondern an einer ganzen Anzahl bedeutsamer Tatsachen erweisen, das überall da, wo mangels eines Großgrundeigentums keine Grundrente gesteuert wurde, auch die übrigen arbeitslosen Einkommen fortfielen, so daß ein hoher und gleichmäßiger Wohlstand aller Schaffenden bestand.

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

305

Die geschichtliche Entwicklung hat also die „Tendenz" zur Ausstoßung des letzten und wichtigsten Feudalrestes, und zur Herstellung eines Zustandes von Wohlstand und Gleichheit, wie ihn der Liberalismus verheißen hat. Diese Tendenz ist nichts anderes als die Fortsetzung derjenigen allgemeinen Tendenz, als deren Verwirklichung fast alle großen Geschichtsphilosophen den Verlauf der Weltgeschichte angeschaut haben: die allmähliche Ersetzung des Kriegs- oder Gewalt- oder „Nomaden"-Rechtes und seiner Organisationen im politischen Mittel des Staates und Gewalteigentums durch das Friedens- oder Tausch- oder Gleichheitsrecht und seine Organisationen im ökonomischen Mittel der Friedensgesellschaft und des auf eigener Arbeit beruhenden Privateigentums. Das ist das „Wertresultat" der Weltgeschichte, das alle bekannten Definitionen der Geschichtsphilosophie zusammenfaßt. Das bezeichnet den Gang der „Kultur": die Ausdehnung des Rechtes der Gleichheit und des äquivalenten Tausches von der Horde auf befriedete Märkte, Marktstraßen, Kaufleute, Städte; die Übernahme des Stadtrechtes in das Staatsrecht, in das internationale Recht, und schließlich die Beseitigung des letzten Restes des Gewaltrechtes durch die Folgen des grundlegenden Freiheitsrechtes, der Freizügigkeit. Mehr als diese Andeutung kann ich hier nicht geben. Ich stehe am Ende meiner Darstellung einer allgemeinen Geschichtsauffassung. Die wichtigsten allgemeinen Formeln der geschichtlichen Massenbewegung hoffe ich entwickelt zu haben. Es ist eine Sache der speziellen Gesdaicbxsdarstellung der einzelnen Völker- und Staatenschicksale, die Entstehung der Klassen aus den Klasseninteressen, dieser aus der sozialen (politischen und ökonomischen) Differenzierung, und den daraus folgenden Klassenkampf selbst zu untersuchen und das Ergebnis als die Diagonale aus dem Parallelogramm der geschichtlichen Kräfte quantitativ zu begreifen, indem man die Zahl, die örtliche Anordnung, die innere Gliederung, die wirtschaftliche Ausstattung usw. der einzelnen Klassen aufgrund möglichst genauer Erhebungen als bekannte oder möglichst genau geschätzte Kräfte in die Rechnung einstellt. Bleiben unerklärte Reste, d. h. wenn der Verlauf zweier Völkergeschichten unter sonst gleich erscheinenden Umständen verschieden ist, so wird man mit äußerster Vorsicht zur Theorie der Rassen seine Zuflucht nehmen dürfen, d. h. die Annahme machen, daß von gewissen ethnischen Gruppen oder Mischungen (Rassen) größere Energiemengen zur Entladung kommen als von anderen. Man wird wahrscheinlich recht haben mit der Annahme, daß die Rückständigkeit von Negern oder Australiern nicht ausschließlich auf der geringen faktischen Entwicklung, sondern auch auf einer geringeren Entwicklungsfähigkeit beruht: eine gleiche Annahme aber für die leiblich ähnlichen kulturtragenden Völker der weißen Rasse darf jedenfalls nur als ultimum refugium der Erklärung gemacht werden. Vielleicht bestehen auch hier gewisse, festgewordene Unterschiede des Charakters und der geistigen Anlagen, die unter sonst gleichen Umständen eine verschiedene Kraft und Richtung der Massenhandlung verursachen. Aber das kann nur a posteriori in einer eigenen Disziplin, der vergleichenden Rassenpsychologie, festgestellt werden, darf aber unter keinen Umständen als Voraussetzung a priori zum Axiom der Untersuchung erhoben werden; sonst wird die Theorie zur „Eselsbrücke" der Historik, wie der pythagoräische Lehrsatz als Eselsbrücke der Mathematik fungiert, nur mit dem Unterschiede, das er wahr ist. Und schließlich, wenn auch diese Hilfserklärung versagen sollte, - was übrigens nicht der Fall sein wird, da die sozial-ökonomische Auffassung allein alle Hauptlinien der Entwicklung erklärt dann erst wäre es gestattet, die überlegene Energie von „Heroen" zur Erklärung der letzten kleinen Differenzen zwischen Tatsachen und Rechnung heranzuziehen.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

4. Zusammenfassung der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung Ich nenne die hier entwickelte Geschichtsauffassung die „sozial-ökonomische", um durch die Zusammensetzving anzudeuten, das nicht ökonomische Kräfte allein das bestimmende Moment der Geschichte sind. Welche Faktoren dazu treten, soll durch das Wort „sozial" ausgedrückt werden, das in dieser Zusammenstellung mit „ökonomisch" kaum eine andere seiner vielen Bedeutungen im Hörer anklingen lassen wird, als die hier beabsichtigte der sozialen Rangstufen und Klassen. Dadurch aber, daß „ökonomisch" als Schlußwort den Hauptton erhält, soll angedeutet werden, daß das ökonomische Bedürfnis, der ökonomische Trieb, die entscheidende (eigentliche) „Ursache" der geschichtlichen Bewegung ist. In dieser letzten Auffassung ist sie identisch mit der bekannten „kollektivistischen", „materialistischen" Geschichtsauffassung. Sie unterscheidet sich von ihr scharf durch die strenge Unterscheidung der Mittel der Bedürfnisbefriedigung in das politische und das ökonomische Mittel. Wenn Karl Marx ζ. B. die Gewalt für eine „ökonomische Potenz" oder die Sklaverei für eine „ökonomische Kategorie" erklärt, so spricht er eine Halbwahrheit aus, die alle Sozialwissenschaft ärger verwirren muß, als eine Ganzunwahrheit es vermöchte, die man bald genug als solche erkennen würde. Die Sklaverei ist in der Tat „ökonomische Kategorie", soweit es sich um das zu deckende Bedürfnis handelt: aber sie ist „politische Kategorie", soweit es sich um das Mittel handelt. Wenn man hier nicht schärfstens unterscheidet so ist es unmöglich, die wichtigsten Zusammenhänge der Sozialwissenschaft zu erkennen. Es ist unmöglich, die Geschichte zu verstehen, wenn man nicht erkennt, daß sie zum hauptsächlichen Inhalt die Deckung ökonomischer Massenbedürfnisse hat das hat die materialistische Geschichtsauffassung zuerst in den Vordergrund des historischen Denkens gestellt: aber es ist ebenso unmöglich, die Wirtschaft zu begreifen, wenn man nicht berücksichtigt, das sie im Rahmen des Staates und seines Rechtes als der Schöpfungen des politischen Mittels, der Gewalt, abläuft. Und wenn man das nicht erfaßt, ist es auch unmöglich, über die allgemeinste Auffassung der Historik hinaus zu einer befriedigenden Darstellung im einzelnen zu gelangen. Kurz, um es in national-ökonomischer Terminologie auszudrücken: man muß sich darüber klar werden, daß alle Weltgeschichte, soweit sie Staatengeschichte, nichts anderes ist, als der internationale und intranationale Kampf um den Maßstab der Verteilung des durch das ökonomische Mittel, die Arbeit, geschaffenen Stammes von Genußgütem! Die Wirtschaftswissenschaft sucht seit langem die „Gesetze der Verteilung", und solche existieren auch, aber nicht, wie sie glaubte, als kausale Naturgesetze, als ewige immanente „ökonomische Kategorien", sondern als Normativgesetze, als menschliche Satzungen, den Besiegten vom Sieger auferlegt im Recht und der Verfassung des Staates, in der ursprünglichen Verteilung der Produktivmittel, also als historische, vergängliche „politische Kategorien". Das ist der Hauptinhalt der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung und der Sozialwissenschaft überhaupt: denn Historik und Ökonomik sind nur zwei verschiedene Ansichten desselben wissenschaftlichen Objektes, des menschlichen Kollektivlebens; jene stellt seine Entwicklungsgeschichte, diese seine Physiologie dar, jene arbeitet sozusagen mit Längs-, diese mit Querschnitten; beide zusammen erst geben die volle Erkenntnis. Das Grundgesetz der Bewegung haben ältere Ökonomisten als das Prinzip des „self-interest" oder des „Eigennutzes" oder des „kleinsten Mittels" usw. benannt. Ich habe es in meinen früheren Werken anders formuliert: „Die Menschen strömen vom Orte höheren sozial-wirtschaftlichen Druckes zum Orte geringeren sozial-wirtschaftlichen Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes." Ich habe diese Fassung gewählt, um anzudeuten, daß es sich lediglich um einen besonderen Fall des großen allumfassenden Gesetzes handelt, dem die anorganische wie die organische Welt gleichermaßen unterworfen ist; nach dem Gase und Flüssigkeiten sich bewegen, nach dem ebenso das Magma des Erdinneren in zerstörenden Ausbrüchen emportritt, wie das Blut in den Gefäßen der

Skizze der sozial-ökonomischen

Geschichtsauffassung

307

Menschen oder der Zellsaft in den zartesten Lücken seines Gewebes strömt nach dem, wie Friedrich Ratzel in seiner Studie: „der Lebensraum" jetzt wieder in universaler Betrachtung gezeigt hat, auch Pflanzen und Tiere wandern und sich verbreiten: von ungünstigeren zu günstigeren Existenzbedingungen! Um MißVerständnissen vorzubeugen, sei noch hinzugefügt, daß, um menschliche Massenbewegung zu erzeugen, der Druck sowohl wie der Druckunterschied psychologisch, als Bedürfnis, empfunden werden müssen, und das der letztere stark genug sein muß, um ein „Gefalle" herzustellen, das das natürliche Gesetz der Trägheit, des Beharrens, überwindet. Ferner, daß natürlich keine Bewegung stattfinden kann, wenn zwischen dem Ort, wo die Masse ruht, und dem Minimum sozial-wirtschaftlichen Druckes sich nur Orte noch höheren sozial-wirtschaftlichen Druckes finden. In diesem Falle führt eben keine „Linie des geringsten Widerstandes" vom Maximum zum Minimum, und die Masse bleibt so unbewegt, wie ein Gebirgssee, der keinen Abfluß hat; latente Energie kann sich nicht in lebendige Kraft verwandeln, solange die Barre nicht durchbrochen wird. „Auf der Linie des geringsten Widerstandes" strömt die bewegte Masse, d. h. sie bedient sich immer des „kleinsten Mittels", um zur Sättigung des Bedürfnisses zu gelangen. Kaum ein Satz ist in der Wissenschaft so arg mißverstanden worden, als dieser. Wenn ihn der Wirtschaftstheoretiker an die Spitze seiner Ausführungen stellt, als grundlegendes Axiom, dann bricht sofort der Lärm los. „Leere Konstruktion vom abstrakten Wirtschaftssubjekt." „Economical man!", „homo sapiens lombardstradarius" (Sombart), so schallt es von allen Seiten dem Toren entgegen, der eine „längst überwundene" Wirtschaftsauffassung wieder aufwärmen will. Diese Kontroverse gehört in eine national-ökonomische Auseinandersetzung. Hier sei nur gesagt, daß das „Prinzip des kleinsten Mittels" denn doch einen wesentlich anderen Inhalt hat, als die „historische" und die „ethische" Schule der deutschen Nationalökonomie glauben machen wollen. Wir brauchen unsere Untersuchungsergebnisse in bezug auf das Bedürfnis der Masse und ihre Mittel zu seiner Befriedigung nur noch einmal zusammenzufassen, um das zu erkennen. Erstens umfaßt das „ökonomische Bedürfnis", der Trieb der Lebensfürsorge, weit mehr als den Trieb der individuellen Futtersuche oder gar den Gelderwerbstrieb. Er ist Trieb zur Erhaltung nicht nur des mechanischen Elements der Gesellschaft, des Individuum, sondern auch zu Erhaltung derart, d. h. des organischen Elementes, der Familie, und des politischen Elementes, der Klasse. Und das „kleinste Mittel" zur Befriedigung dieses komplexen Bedürfnisses der Lebensfürsorge ist durchaus nicht immer und überall die exakte Kalkulation des kaufmännischen Hauptbuches, sondern das kleinste Mittel ist verschieden je nach der objektiven Verumständung, in der das Individuum lebt, nach der politischen Organisation und der wirtschaftlichen Stufe, in die es eingegliedert ist, nach der Klasse, zu der es gehört nach dem strategischen Aufmarsch und den relativen Kräften des Klassenkampfes. Für Jäger und Fischer ist das kleinste Mittel die okkupierende Arbeit und, wenn die Bevölkerung zu dicht wird, die gewaltsame Usurpation benachbarter Fisch- und Jagdgründe. Für Hirten ist das kleinste Mittel die kriegerische Eroberung benachbarter Weidegründe und Versklavung ihrer bisherigen Besitzer, die den Siegern fortan als Weideknechte zu dienen haben. Wo Jäger oder Hirten an wohlhabende Ackerbauern oder reiche Städter grenzen, ist das kleinste Mittel der Krieg und Raubzug oder die Beraubung oder Besteuerung der Handelskarawanen. Für den Ackerbauern ist das kleinste Mittel die friedliche Besetzung oder kriegerische Eroberung neuer Feldmarken, wenn die seinen menschenerfüllt sind, für den Städter die Eroberung der Stätten, wo seine Handelswaren wachsen, und die Erpressung von Frondiensten und Steuern von der einheimischen Bevölkerung. Erst unter einer ganz bestimmten objektiven Verumständung, d. h. im freien Verfassungsstaate, der die „Rente" gewährleistet, in der „kapitalistischen Wirtschaft", ist das kleinste Mittel der Einkauf der Waren und der Arbeitskraft auf dem billigsten, und der Verkauf der Waren auf dem teuersten Markte, d. h. die Gewinnung von Mehrwert im Klassenkampf der freien Konkurrenz. Nur hier

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

gedeiht der homo sapiens lombardstradarius und auch hier nur, insoweit er Wirtschafter, nicht aber, insoweit er Familienvater, Staatsbürger, Religiöser, Gelehrter oder Geschlechtswesen ist. Insofern sich also die Wirtschaftswissenschaft mit dem Menschen, soweit er Wirtschafter in der kapitalistischen Gesellschaft ist, zu beschäftigen hat, bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als nur den „economical man" zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung zu wählen, denn sie behandelt nur seine wirtschaftliche Handlung! Das er keine anderen, als wirtschaftliche Handlungen ausführe, hat sie nie behaupten wollen: aber diese gehören nicht in ihr Thema, sondern sie hat sie anderen Zweigen der Sozialpsychologie zu überlassen. Wenn sie sich auch damit beschäftigen wollte, so ertrinkt alle Wirtschaftswissenschaft rettungslos im uferlosen Ozean der Sozialpsychologie, die überhaupt erst fester Baugrund werden kann, nachdem mittels des isolierenden Verfahrens die sozialen Schöpfungen der einzelnen Motive herausgesondert worden sind. Nur hat freilich die nachklassische Ökonomik den schweren Fehler begangen, die kapitalistische Wirtschaft als die endgültige Form des Wirtschaftslebens, als letzte denkbare Stufe zu proklamieren. Dieser Fehler muß ausgemerzt werden: aber er ist keine Folge der isolierenden Methode, wie man bisher angenommen hat, sondern eines selbständigen Rechenfehlers. Die vier Spezies stimmen, aber der Ansatz des Regeldetri-Exempels ist falsch. Es ist die Aufgabe der national-ökonomischen Wissenschaft, den richtigen Ansatz aufzustellen; mir hat sich hier ergeben, das die Konstruktion des nach dem Prinzip des kleinsten Mittels wirtschaftenden „economical man" als Prämisse zu Deduktionen führt, die mit der Wirklichkeit vollkommen übereinstimmen.

Der Staat

[1907]

Inhalt

Einleitung

I.

312

a) Die Staatstheorien b) Die soziologische Staatsidee

312 313

Die Entstehung des Staates

315

a) b) c) d)

315 316 318 323

Politisches und ökonomisches Mittel Staatslose Völker (Jäger und Hackbauern) Vorstaatliche Völker (Hirten und Wikinge) Die Entstehung des Staates

II. Der primitive Feudalstaat a) b) c) d)

Die Form der Herrschaft Die Integration Die Differenzierung (Gruppentheorien und Gruppenpsychologie) Der primitive Feudalstaat höherer Stufe

ΙΠ. Der Seestaat a) b) c) d)

Der vorstaatliche Handel Der Handel und der primitive Staat Die Entstehung des Seestaates Wesen und Ausgang des Seestaates

IV. Die Entfaltung des Feudalstaates a) b) c) d) e)

Die Entstehung des Großgrundeigentums Die Zentralgewalt im primitiven Feudalstaat Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Feudalstaates Die ethnische Verschmelzung Der entfaltete Feudalstaat

V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates a) b) c) d)

Die Emanzipation der Bauernschaft Die Entstehung der Gewerbestadt Die Einflüsse der Geldwirtschaft Der moderne Verfassungsstaat

VI. Die Tendenz der staatlichen Entwicklung

331 331 333 334 338 342 342 346 348 352 357 357 359 361 367 370 371 372 373 375 378 381

[Dieses Werk erschien erstmals als eigenständige Publikation in der Reihe: Die Gesellschaft, Sammlung Sozialpsychologischer Monographien, hrsg. von Martin Buber, 14. und 15. Band, Frankfurt a. M. 1907; A.d.R.]

312

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Einleitung a)

Die Staatstheorien

Die Abhandlung, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, betrachtet den Staat lediglich vom soziologischen, d. h. zugleich geschichtsphilosophischen und ökonomisch-theoretischen Gesichtspunkt aus. Der juristische Gesichtspunkt kommt für sie nicht in Betracht. Sie will den Staat als sozialpsychologische Tatsache in seiner Entstehung und seiner Entfaltung bis zum modernen Verfassungsstaat verfolgen, und versuchen, darüber hinaus eine begründete Prognose seiner weiteren Entwicklung aufzustellen. Sie hat es auf sein inneres Wesen abgesehen und fragt nur wenig danach, in welchen äußeren Rechtsformen sich das internationale und intranationale Leben abspielt. Sie ist ein Beitrag zur Staatsphilosophie, und nur insofern zum Staatsrecht, wie dieses Recht in seiner allgemeinsten, allem Staatsleben eigentümlichen Form Problem ist. Aus diesem Grunde scheiden alle Staatsrechtslehren aus unserer Betrachtung von vornherein aus. Aber nicht minder zeigt eine schnelle Ubersicht der eigentlichen Staatstheorien, daß wir von ihnen über Entstehung, Wesen und Zweck des Staates keine Aufklärung erwarten dürfen. Sie stellen alle Schattierungen dar zwischen den äußersten denkbaren Extremen. Wenn Rousseau den Staat aus einem Gesellschaftsvertrage, Carey aber aus einer Räuberbande entstehen läßt; wenn Piaton und die Marxisten dem Staate die Omnipotenz zuschreiben, ihn zum absoluten Herrn des Bürgers in allen politischen und wirtschaftlichen, Piaton sogar in den geschlechtlichen Beziehungen erleben will, während der Liberalismus ihn zur Impotenz des „Nachtwächterstaates" verdammt, und der Anarchismus ihn gar gänzlich ausrotten will - dann ist ein Versuch, auf der mittleren Linie zwischen solchen sich ausschließenden Lehren zu einer zureichenden Auffassung des Staates zu gelangen, aussichtslos. Dieser unversöhnliche Zwiespalt der Theorien vom Staate erklärt sich daraus, daß keine von ihnen vom soziologischen Gesichtspunkte aus entstanden ist. Der Staat ist ein universalgeschichtliches Objekt und kann nur durch breit spannende universalgeschichtliche Betrachtung in seinem Wesen erkannt werden. Diesen Weg, den „Königsweg der Wissenschaft", hat bisher, außer der soziologischen, keine Staatstheorie beschritten. Sie alle sind als Klassentheorien entstanden. Jeder Staat - das muß vorgreifend ausgesprochen werden - war und ist Klassenstaat, und jede Staatstheorie war und ist Klassentheorie. Eine Klassentheorie aber ist nicht Ergebnis des forschenden Verstandes, sondern des begehrenden Willens; sie braucht Argumente nicht zur Ergründung der Wahrheit, sondern als Waffen im Kampfe um materielle Interessen; sie ist nicht Wissenschaft, sondern Mimicry der Wissenschaft. Und darum können wir wohl aus dem Verständnis des Staates das Wesen der Staatstheorien, aber nimmermehr aus dem Verständnis der Staatstheorien das Wesen des Staates erkennen. Stellen wir also zunächst in einer kurzen Übersicht der Klassentheorien vom Staat fest, was der Staat alles nicht ist: Der Staat ist nicht aus dem „Bedürfnis des Zusammenschlusses" entstanden, wie Piaton meint; er ist kein „Gebilde der Natur", wie ihm Aristoteles erwidert; und hat in specie nicht, wie Ancillon erklärt, „denselben Ursprung, den die Sprachen haben". Es ist durchaus unrichtig, wenn er annimmt, daß, „wie die Sprachen aus dem Bedürfnis und aus der Fähigkeit des Menschen, seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen, sich von selbst erzeugt und gebildet haben, so auch sich die Staaten aus dem Bedürfnis und aus dem Trieb der Geselligkeit entwickelt haben"; der Staat ist auch nicht „un droit gouvernement de plusieurs menages et de ce qui leur est commun avec puissance souveraine" (Bodin); der Staat ist auch nicht entstanden, um dem „bellum omnium contra omnes" ein Ende zu machen, wie Hobbes und nach ihm viele andere meinten; der Staat ist ebensowenig das Ergebnis eines „contrat social", wie schon lange vor Rousseau Grotius, Spinoza und Locke glauben

Der Staat

313

machen wollten; der Staat ist vielleicht „das Mittel für den höheren Zweck der ewig gleichmäßig fortgehenden Ausbildung des rein Menschlichen in einer Nation", wie Fichte behauptete; aber sicherlich hat der Staat nicht diesen Zweck, ist nicht zu diesem Zweck entstanden und wird nicht zu diesem Zweck erhalten; der Staat ist auch nicht „das Absolute", wie Schelling, und ebensowenig „die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Willen, der sich denkt und weiß und das, was er weiß, vollführt", wie Hegel ebenso schön, wie klar behauptet. Wir können auch Stahl nicht beistimmen, wenn er den Staat das „sittliche Reich menschlicher Gemeinschaft" und, „tiefer betrachtet, eine göttliche Institution" nennt. U n d ebensowenig Marcus Tullius Cicero, wenn er fragt: „quid est enim civitas nisi juris societas?" U n d noch weniger seinem Nachfolger Herrn von Savigny, wenn er in der „Staatsentstehung eine Art der Rechtserzeugung, die höchste Stufe der Rechtserzeugung überhaupt" erblickt und den Staat selbst als „die leibliche Erscheinung des Volkes" definiert. Ähnlich erklärt Bluntschli den Staat für eine „Volksperson" und leitet damit die Reihe jener Theoretiker ein, die den Staat, oder die Gesellschaft, oder eine irgendwie beschaffene Mischung beider für einen „Uberorganismus" erklären, eine Auffassung, die ebensowenig haltbar ist, wie die Behauptung von Sir Henry Maine, daß der Staat durch die Zwischenglieder: Geschlecht, Haus und Stamm, aus der Familie sich entwickelt habe. Der Staat ist auch keine „Verbandseinheit", wie der Jurist Jellinek annimmt. Der alte Böhmer kam der Wahrheit recht nahe, wenn er aussprach, daß „denique regnorum praecipuorum ortus et incrementa perlustrans vim et latrocinia potentiae initia fuisse apparebit"; und dennoch ist Carey auf dem Holzwege, wenn er den Staat als von einer Räuberbande gegründet betrachtet, die sich zu Herren ihrer Volksgenossen aufgeschwungen hat. In manchen dieser Erklärungen steckt ein größeres oder kleineres Teilchen Wahrheit, aber erschöpfend ist keine, und die meisten sind ganz falsch.

b)

Die soziologische Staatsidee

Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Der Staat ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände zu sichern. U n d die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger. Kein primitiver „Staat" der Weltgeschichte ist anders entstanden 1 ; wo eine vertrauenswerte Überlieferung anders berichtet, handelt es sich lediglich um Verschmelzung zweier bereits vollentwickelter primitiver Staaten zu einem Wesen verwickelterer Organisation; oder es handelt sich allenfalls um eine menschliche Variante der Fabel von den Schafen, die sich den Bären zum Könige setzten, damit er sie vor dem Wolfe schütze; aber auch in diesem Falle wurden Form und Inhalt des Staates völlig dieselben wie in den „Wolfsstaaten" reiner, unmittelbarer Bildung. Schon das bißchen Geschichtsunterricht, das unserer Jugend zuteil wurde, reicht hin, um diese generelle Behauptung zu erweisen. Uberall bricht ein kriegerischer Wildstamm über die Grenzen

1

„ D i e Geschichte vermag uns kein V o l k aufzuzeigen, bei dem die ersten Spuren der Teilung der Arbeit u n d des A c k e r b a u s nicht auch mit solcher wirtschaftlichen A u s b e u t u n g zusammenfielen, bei dem nicht die Last der Arbeit den einen, und deren Frucht den andern zugefallen wäre, bei dem, mit anderen Worten, die Teilung der Arbeit sich nicht in der F o r m der U n t e r w e r f u n g der einen unter die andern gebildet hätte." (Rodbertus-Jagetzow, Z u r Beleuchtung der sozialen Frage, Berlin 1890, S. 124.)

314

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

eines weniger kriegerischen Volkes, setzt sich als Adel fest und gründet seinen Staat. Im Zweistromlande Welle auf Welle und Staat auf Staat: Babylonier, Amoriter, Assyrer, Araber, Meder, Perser, Makedonien Parther, Mongolen, Seldschucken, Tataren, Türken; am Nil Hyksos, Nubier, Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken; in Hellas die Dorierstaaten, typischen Gepräges; in Italien Römer, Ostgoten, Langobarden, Franken, Deutsche; in Spanien Karthager, Römer, Westgoten, Araber; in Gallien Römer, Franken, Burgunder, Normannen; in Britannien Sachsen, Normannen. Welle auf Welle kriegerischer Wildstämme auch über Indien bis hinab nach Insulindien, auch über China ergossen; und in den europäischen Kolonien überall der gleiche Typus, wo nur ein seßhaftes Bevölkerungselement vorgefunden wurde: in Südamerika, in Mexiko. Wo es aber fehlt, wo nur schweifende Jäger angetroffen werden, die man wohl vernichten, aber nicht unterwerfen kann, da hilft man sich, indem man die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse von fern her importiert: Sklavenhandel! Eine scheinbare Ausnahme bilden nur diejenigen europäischen Kolonien, in denen es nicht mehr erlaubt ist, durch Import von Sklaven den Mangel einer seßhaften Urbevölkerung zu ersetzen. Eine dieser Kolonien, die United States, ist eins der gewaltigsten Staatengebilde der Weltgeschichte. Hier erklärt sich die Ausnahme so, daß sich die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse selbst importiert durch eine massenhafte Auswanderung aus solchen primitiven Staaten oder ihren höheren Entwicklungsstufen, in denen die Ausbeutung einen allzu krassen Grad erreicht hat, während die Freizügigkeit bereits erreicht ist. Hier liegt also sozusagen eine Ferninfektion mit „Staatlichkeit" von auswärtigen Seuchenherden vor. Wo aber in solchen Kolonien die Einwanderung, sei es durch die, hohe Übersiedlungskosten bedingende, übergroße Entfernung, sei es durch Einwanderungsbeschränkungen, sehr gering ist, da haben wir bereits eine Annäherung an dasjenige Endziel der Staatsentwicklung, das wir schon heute als notwendig kommend erkennen können, an einen Endzustand, für den uns aber noch der wissenschaftliche Terminus fehlt. Hier ist einmal wieder in der Dialektik der Entwicklung eine Änderung der Quantität in eine Änderung der Qualität umgeschlagen: die alte Form hat sich mit neuem Inhalt gefüllt. Wir haben noch einen „Staat", insofern er straffe, durch äußere Machtmittel gesicherte Regelung des sozialen Zusammenlebens einer großen Menschenmasse darstellt: aber er ist nicht mehr „Staat" im alten Sinne, ist nicht mehr Instrument der politischen Beherrschung und wirtschaftlichen Ausbeutung einer sozialen Gruppe durch die andere, ist nicht mehr „Klassenstaat", sondern ein Zustand, der ausschaut, als wäre er wirklich durch einen „Contract social" vereinbart worden. Diesem Stadium sehr nahe stehen die australischen Kolonien (mit Ausnahme des die halbversklavten Kanaken ausbeutenden feudalen Queensland); und fast erreicht ist er in Neuseeland. Solange nicht ein communis consensus über Ursprung und Wesen der historischen Staaten oder, was dasselbe ist, des „Staates" im soziologischen Sinne erzielt ist, wird es vergebens sein, für diese vorgeschrittensten Gemeinwesen einen neuen Namen durchsetzen zu wollen. Man wird sie trotz aller Proteste nach wie vor „Staaten" nennen, schon der ersprießlichen Verwirrung der Begriffe zuliebe. Bezeichnen wir sie in dieser Betrachtung, um für einen neuen Begriff einen Handgriff zu haben, als „Freibürgerschaften". Die summarische Ubersicht über die Staaten der Vergangenheit und Gegenwart müßte, wenn Raum wäre, noch ergänzt werden durch Prüfung der Tatsachen, die uns die Völkerkunde über diejenigen Staaten darbietet, die nicht in den Gesichtskreis unserer mit Unrecht so genannten „Weltgeschichte" fallen. Hier mag nur versichert werden, daß auch hier unsere allgemeine Regel keine Ausnahme duldet. Auch im malaiischen Archipel, auch in dem „großen soziologischen Laboratorium Afrika", kurz überall auf diesem Planeten, wo die Entwicklung der Stämme überhaupt eine höhere Form bereits erreicht hat, ist der „Staat" entstanden durch Unterwerfung einer Menschengruppe durch eine andere, und war und ist seine raison d'etre, sein „zureichender Grund", die ökonomische Ausbeutung der Unterworfenen.

Der Staat

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Uns mag aber in dieser Betrachtung die flüchtige Überschau, die wir soeben gemacht haben, nicht nur als Beweis des grundlegenden Satzes dienen, den wir, um den Bahnbrecher zu nennen, vor allem Ludwig Gumplowicz, dem Grazer Staatsrechtler und Soziologen, zu danken haben, sondern sie mag uns auch sofort in kurzem Blitzlichte den Weg erleuchten, den der „Staat" im Leidensgange der Menschheit zurückgelegt hat, und auf dem wir ihm jetzt folgen werden: vom primitiven Eroberungsstaat durch tausend Ubergänge zur Freibürgerschaft.

I.

Die Entstehung des Staates

Die einzige Kraft treibt alles Leben, eine einzige Kraft hat es emporentwickelt von der Eizelle, dem im warmen Ozean der Urzeit treibenden Eiweißklümpchen, bis zum Wirbeltier, bis zum Menschen: der Trieb der „Lebensfürsorge" (Lippert), gegabelt in „Hunger und Liebe". Von da an tritt die „Philosophie" mit in das Kräftespiel ein, das Kausalbedürfnis des Aufrechtschreitenden, um fortan mit „Hunger und Liebe den Bau der Menschenwelt zusammenzuhalten". Freilich ist die Philosophie, die „Vorstellung" Schopenhauers, in der Wurzel auch nichts anderes als ein Geschöpf der Lebensfürsorge, die er den „Willen" nennt; sie ist ein Organ der Orientierung in der Welt, eine Waffe im Kampfe ums Dasein. Aber dennoch werden wir das Kausalbedürfnis als eine selbständige Kraft des gesellschaftlichen Geschehens kennenlernen, als Mitbildner am soziologischen Entwicklungsgange. Zuerst, und auf der Anfangsstufe der menschlichen Gesellschaft mit ungeheurer Kraft, wirkt sich dieser Trieb in den oft so bizarren Vorstellungen der „Superstition" aus, die aufgrund völlig logischer Schlüsse aus unvollkommenen Beobachtungen Luft und Wasser, Erde und Feuer, Tiere und Pflanzen mit einem Heere gütiger oder ungnädiger Geister erfüllt glaubt; erst sehr spät, erst in der hellen Neuzeit, die nur wenige Völker erreichen, entsteht die jüngere Tochter des Kausaltriebes, die Wissenschaft, als das logische Ergebnis aus vollkommenerer Beobachtung der Tatsachen; die Wissenschaft, der nun die Aufgabe zufällt, die breit eingewurzelte, mit unzähligen Fäden in der menschlichen Gesamtpsyche verwurzelte Superstition auszurotten. Aber wie gewaltig immer namentlich in den Momenten der „Ekstase" 1 die Superstition geschichtsbewegend auftreten mag, wie kräftig immer sie auch in gewöhnlichen Zeiten an der Ausgestaltung des menschlichen Gemeindaseins mitwirken mag: die Hauptkraft der Entwicklung bleibt doch die N o t des Lebens, die den Menschen zwingt, für sich und die Seinen Nahrung, Kleidung und Behausung zu erwerben, bleibt doch der „ökonomische Trieb". Eine soziologische (und das bedeutet eine sozialpsychologische!) Betrachtung der Geschichtsentwicklung wird daher nicht anders vorgehen können, als daß sie die Methoden der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung in ihrer allmählichen Entfaltung verfolgt und die Einflüsse des Kausaltriebes an gehöriger Stelle in die Rechnung einsetzt.

a)

Politisches und ökonomisches Mittel

Es gibt zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, mit denen der überall durch den gleichen Trieb der Lebensfürsorge in Bewegung gesetzte Mensch die nötigen Befriedigungsmittel erlangen kann. Arbeit und Raub, eigne Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit. Raub! Gewaltsame

1

Achelis, D i e Ekstase in der kulturellen Bedeutung, in: K u l t u r p r o b l e m e der Gegenwart, Bd. I, Berlin 1902.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

Aneignung! Uns Zeitgenossen einer entwickelten, gerade auf der Unverletzlichkeit des Eigentums aufgebauten Kultur klingen beide Worte nach Verbrechen und Zuchthaus; und wir werden diese Klangfarbe auch dann nicht los, wenn wir uns davon überzeugen, daß Land- und Seeraub unter primitiven Lebensverhältnissen geradeso wie das Kriegshandwerk - das ja sehr lange auch nur organisierter Massenraub ist - die weitaus angesehensten Gewerbe darstellen. Ich habe aus diesem Grunde und auch deshalb, um für die weitere Untersuchung kurze, klare, scharf gegeneinander klingende Termini für diese sehr wichtigen Gegensätze zu haben, vorgeschlagen, die eigne Arbeit und den äquivalenten Tausch eigener gegen fremde Arbeit das „ökonomische Mittel", und die unentgoltene Aneignung fremder Arbeit das „politische Mittel" der Bedürfnisbefriedigung zu nennen. Das ist nicht etwa ein neuer Gedanke: von jeher haben die Geschichtsphilosophen den Gegensatz empfunden und zu formulieren versucht. Aber keine dieser Formeln zeigt den Gedanken völlig zu Ende durchgedacht. Nirgend kommt es klar zur Erkenntnis und Darstellung, daß der Gegensatz nur in den Mitteln besteht, mit denen der gleiche Zweck, der Erwerb ökonomischer Genußgüter, erreicht werden soll. Und gerade darauf kommt es an. Man kann es an einem Denker vom Range Karl Marx' beobachten, zu welcher Verwirrung es führen muß, wenn man ökonomischen Zweck und ökonomisches Mittel nicht streng auseinanderhält. Alle Irrtümer, die die großartige Theorie zuletzt so weit von der Wahrheit abführten, wurzelten im tiefsten in jenem Mangel an scharfer Unterscheidung zwischen Zweck und Mittel der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung, der ihn dazu führte, die Sklaverei „als ökonomische Kategorie" und die Gewalt als eine „ökonomische Potenz" zu bezeichnen: Halbwahrheiten, die gefährlicher sind als Ganzunwahrheiten, weil sie schwerer entdeckt werden und Fehlschlüsse kaum vermeidbar machen. Unsere scharfe Scheidung zwischen den beiden Mitteln zum gleichen Zweck aber wird uns dazu verhelfen, jeder Verwirrung auszuweichen. Sie wird uns der Schlüssel sein zum Verständnis der Entstehung, des Wesens und der Bestimmung des Staates; und, weil alle Weltgeschichte bis heute nichts anderes als Staatengeschichte war, zum Verständnis der Weltgeschichte. Alle Weltgeschichte bis heute, bis empor zu uns und unserer stolzen Kultur, hat und wird haben, bis wir uns zur Freibürgerschaft durchgekämpft haben, nur einen Inhalt: den Kampf zwischen dem ökonomischen und dem politischen Mittel.

b)

Staatslose Völker (Jäger und Hackbauern)

Der Staat ist die Organisation des politischen Mittels. Und darum kann ein Staat nicht eher entstehen, als bis das ökonomische Mittel einen gewissen Stamm von Gegenständen der Bedürfnisbefriedigung geschaffen hat, die kriegerischer Raub erwerben kann. Darum sind die primitiven Jäger staatenlos und auch die höheren Jäger bringen es nur dann zur Staatenbildung, wenn sie in ihrer Nachbarschaft Wirtschaftsorganisationen vorfinden, die sie unterwerfen können. Die primitiven Jäger aber leben durchaus in praktischer Anarchie. Große berichtet von den primitiven Jägern im allgemeinen: „Da es keine wesentlichen Vermögensunterschiede gibt, so fehlt eine Hauptquelle für die Entstehung von Standesunterschieden. Im allgemeinen sind alle erwachsenen Männer innerhalb des Stammes gleichberechtigt. Die älteren danken ihrer reicheren Erfahrung eine gewisse Autorität; aber niemand fühlt sich ihnen zum Gehorsam verpflichtet. Wo einzelne Häuptlinge anerkannt werden - wie bei den Botokuden, den Zentralkaliforniern, den Wedda und den Mincopie - ist ihre Macht außerordentlich gering. Der Häuptling hat kein Mittel, um seine Wünsche gegen den Willen der übrigen durchzusetzen. Die meisten Jägerstämme haben jedoch überhaupt keine

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Häuptlinge. Die ganze männliche Gesellschaft bildet noch eine homogene, undifferenzierte Masse, aus welcher nur diejenigen Individuen hervorragen, die man im Besitz magischer Kräfte glaubt."1 Hier besteht also kaum eine Andeutung von „Staatlichkeit" im Sinne irgendeiner Staatslehre, geschweige denn im Sinne der richtigen „soziologischen Staatsidee". Die Gesellschaftsbildungen der primitiven Ackerbauern haben kaum mehr Ähnlichkeit mit einem „Staate" als die Jägerhorden. Wo der mit der Hacke den Boden bearbeitende Bauer in Freiheit lebt - der Pflug ist schon immer Kennzeichen einer höheren Wirtschaftsform, die nur im Staate vorkommt, nämlich der von unterworfenen Knechten betriebenen Großwirtschaft2 - , da gibt es noch keinen „Staat". Isoliert voneinander, weithin zerstreut in einzelnen Gehöften, vielleicht Dörfern, durch Streitigkeiten wegen Gau- und Ackergrenzen zersplittert, leben sie bestenfalls in losen Eidgenossenschaften, nur locker von dem Bande zusammengehalten, das das Bewußtsein gleicher Abstammung und Sprache und gleichen Glaubens um sie schlingt. Selten nur, vielleicht einmal im Jahre, eint sie die gemeinsame Feier berühmter Ahnen oder der Stammgottheit. Eine über die Gesamtheit herrschende Autorität besteht nicht; die einzelnen Dorf-, allenfalls Gauhäuptlinge haben je nach ihren persönlichen Eigenschaften, namentlich nach der ihnen zugetrauten Zauberkraft, mehr oder weniger Einfluß in ihrem beschränkten Kreise. Wie Cunow3 die peruanischen Hackbauern vor dem Einbruch der Inka schildert, so waren und sind die primitiven Bauern überall in der Alten und Neuen Welt: „ein ungeregeltes Nebeneinander vieler unabhängiger, sich gegenseitig befehdender Stämme, die sich ihrerseits wieder in mehr oder weniger selbständige, durch Verwandtschaftsbande zusammengehaltene Territorialverbände spalteten". In einem solchen Zustande der Gesellschaft ist das Zustandekommen einer kriegerischen Organisation zu Angriffszwecken kaum denkbar. Es ist schon schwer genug, den Gau oder gar Stamm zur gemeinsamen Verteidigung mobil zu machen. Der Bauer ist eben immobil, bodenständig, wie die Pflanze, die er baut. Er ist durch seinen Betrieb auch dann tatsächlich „an die Scholle gebunden", wenn er rechtlich frei beweglich ist. Und welchen Zweck sollte ein Raubzug in einem Lande haben, das weithin nur von Bauernschaften besetzt ist? Der Bauer kann dem Bauern nichts nehmen, was er nicht selbst schon besitzt. Jedem von ihnen bringt wenig Arbeit in der extensiven Kultur eines durch Uberfluß an Feldland ausgezeichneten Gesellschaftszustandes so viel, wie er braucht; ein Mehr wäre ihnen überflüssig, seine Erwerbung verlorene Mühe, selbst wenn er das erbeutete Korn länger aufbewahren könnte, als in so primitiven Verhältnissen möglich, wo es schnell durch Witterungseinflüsse oder Ameisenfraß und dgl. zugrunde geht. Muß doch nach Ratzel der zentralafrikanische Bauer den überschüssigen Teil seiner Ernte schleunigst in Bier verwandeln, um ihn nicht ganz zu verlieren! Aus allen diesen Gründen geht dem primitiven Bauern der kriegerische Offensivgeist gänzlich ab, der den Jäger und Hirten auszeichnet: der Krieg kann ihm keinen Nutzen bringen. Und diese friedliche Stimmung wird noch dadurch verstärkt, daß ihn seine Beschäftigung nicht gerade kriegstüchtig macht. Er ist wohl muskelstark und ausdauernd, aber von langsamen Bewegungen und zögerndem Entschluß, während der Jäger und der Hirt durch ihren Beruf zu Schnelligkeit und rascher Tatkraft erzogen werden. Darum ist der primitive Bauer zumeist von sanfterer Gemütsart als jene.4 Kurz: in den ökonomischen und sozialen Verhältnissen des Bauerngaues besteht keine

1 2 3 4

Große, Formen der Familie, Freiburg/Leipzig 1896, S. 39. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, Leipzig/Wien 1894/95, S. 372. Cunow, Die soziale Verfassung des Inkareichs, Stuttgart 1896, S. 51. Dieser psychologische Gegensatz, der vielfach ausdrücklich bezeugt ist, ist doch nicht die absolute Regel. Große schreibt: „Einzelne Kulturhistoriker stellen freilich die Ackerbauer den kriegerischen Nomaden als

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Differenzierung, die zu höheren Formen der Integrierung drängte, besteht weder der Trieb noch die Möglichkeit zu kriegerischer Unterwerfung der Nachbarn, kann also kein „Staat" entstehen, und ist auch nie ein solcher entstanden. Wäre kein Anstoß von außen, von Menschengruppen anderer Ernährungsart gekommen - der primitive Bauer hätte den Staat nie erfunden.

c)

Vorstaatliche Völker (Hirten und Wikinge)

Dagegen finden wir beim Hirtenstamme, auch bei dem isoliert vorgestellten, eine ganze Reihe von Elementen der Staatenbildung vor, und in der Tat haben die vorgeschritteneren Hirten den Staat schon fast fertig ausgestattet bis auf das letzte Merkmal, das den Begriff im modernen Sinne ganz erfüllt, bis auf die Seßhaftigkeit im fest umgrenzten Staatsgebiete. Das eine Element ist ein ökonomisches. Auch ohne das Dazwischentreten von außerökonomischer Gewalt kann sich im Hirtenleben eine immerhin ziemlich bedeutende Differenzierung des Vermögens und Einkommens entwickeln. Nehmen wir selbst als Anfangszustand die volle Gleichheit des Herdenbestandes an, so kann und wird doch binnen kurzer Zeit der eine reicher, der andere ärmer sein. Ein besonders geschickter Züchter wird seine Herde schnell wachsen sehen, ein besonders aufmerksamer Wächter und kühner Jäger wird sie besser vor der Zehntung durch Raubtiere bewahren. Das Glück tut das Seinige dazu: der eine findet eine besonders gute Weidestelle und gesunde Wasserplätze, dem andern raubt eine Seuche oder ein Schneesturm oder ein Samum sein ganzes Vermögen. Vermögensunterschiede bringen überall Klassenunterschiede hervor. Der verarmte Hirt muß sich dem reich gebliebenen verdingen und sinkt dadurch unter ihn, wird von ihm abhängig. Das ist eine Erscheinung, die uns aus allen drei Erdteilen der Alten Welt berichtet wird, d. h. überall, wo Hirten leben. Meitzen berichtet von den lappischen Nomaden in Norwegen: „300 Stück pro Familie waren ausreichend; wer nur noch hundert hat, muß in den Dienst der Reichen treten, deren Herden bis zu 1.000 Stück zählen."1 Und derselbe Berichterstatter sagt von den zentralasiatischen Nomaden: „Eine Familie braucht 300 Stück Vieh zur Behaglichkeit; 100 Stück ist Armut; dann kommt Schuldnerschaft. Der Knecht muß den Acker des Herrn bauen."2 Aus Afrika berichtet Ratzel von den Hottentotten eine Art von „Commendatio": „Wer nichts hatte, suchte sich bei den Reichen zu verdingen; sein einziges Ziel war, in den Besitz von Vieh zu kommen."3 Laveleye, der das gleiche aus Irland berichtet, führt sogar Ursprung und Namen des Feudalsystems (systeme feodal) auf die Viehleihe der reichen an die armen Stammesgenossen zurück: danach war ein fee-od (Vieheigen) das erste Lehen, mit dem der Große den Kleinen als „seinen Mann" an sich band, so lange, bis er seine Schuld getilgt hatte. Wie sehr diese ökonomische und dann soziale Differenzieung durch das mit dem Patriarchat verbundene Ober- und Opferpriesteramt schon in friedlichen Hirtengesellschaften gefördert wer-

friedliebende Völker gegenüber. Man kann allerdings von ihrer Wirtschaftsform nicht wie von der Viehzucht behaupten, daß ihr Wesen zum Kriege erziehe und locke. Nichtsdestoweniger aber findet man gerade in dem Bereiche dieser Kultur eine Menge der kriegslustigsten und grausamsten Völker, die man überhaupt finden kann. Die wilden Kannibalen des Bismarckarchipels, die mordgierigen Vitianer, die Menschenschlächter von Dahome und Aschanti - sie alle betreiben die friedliche' Ackerwirtschaft; und wenn die übrigen Pflanzenbauer auch nicht ganz so schlimm sind, so scheint uns doch die Sanftmut der meisten mindestens fragwürdig." (Große, Formen der Familie, Freiburg/Leipzig 1896, S. 137.) 1 2 3

Meitzen, Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen, Bd. I, Berlin 1895, S. 273. Ebenda, S. 138. Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 702.

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den konnte, wenn der Älteste den Aberglauben seiner Clangenossen geschickt gebrauchte, um seinen eignen Herdenbesitz zu vergrößern, kann hier nur angedeutet werden. Indessen hält sich diese Differenzierung, solange das politische Mittel nicht einwirkt, in sehr bescheidenen Grenzen. Geschick und Tüchtigkeit sind nicht mit Gewißheit erblich, der größte Herdenbestand wird zersplittert, wenn viele Erben in einem Zelte wuchsen, und das Glück ist launisch. Noch in unseren Tagen ist der reichste Mann der schwedischen Lappen in kürzester Zeit so völlig verarmt, daß er von der Regierung unterhalten werden mußte. All diese Gründe wirken dahin, den ursprünglichen Zustand ökonomischer und sozialer Gleichheit immer wieder annähernd herzustellen. „Je friedlicher, ursprünglicher, echter der Nomade ist, um so weniger gibt es fühlbaren Unterschied des Besitzes. Die Freude ist rührend, womit ein alter Fürst der Tsaidam-Mongolen sein Tributgeschenk: eine Handvoll Tabak, ein Stück Zucker, und 25 Kopeken empfängt."1 Erst das politische Mittel zerstört diese Gleichheit auf die Dauer und im stärkeren Maße: „Wo Krieg geführt und Beute gemacht wird, gibt es größere Unterschiede, die im Besitz von Sklaven, Weibern, Waffen, edlen Reittieren zum Ausdruck gelangen."2 Der Besitz von Sklaven1. Der Nomade ist der Erfinder der Sklaverei und hat damit den Keimling des Staates geschaffen, die erste Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen. Auch der Jäger führt Kriege und macht Gefangene. Aber er macht sie nicht zu Sklaven, sondern tötet sie oder adoptiert sie in seinen Stamm. Was sollte er mit Sklaven anfangen? Jagdbeute läßt sich noch viel weniger aufspeichern, „kapitalisieren", als Korn. Der Gedanke, aus einem Menschen einen Arbeitsmotor zu machen, konnte erst auf einer Wirtschaftsstufe entstehen, auf der ein Vermögensstamm, ein Kapital, gebildet ist, das nur mit Hilfe abhängiger Arbeitskräfte vermehrt werden kann. Dieser Zustand ist erst auf der Hirtenstufe erreicht. Die Kräfte einer Familie reichen ohne fremde Hilfe nur hin, um eine Herde von sehr begrenzter Größe zusammenzuhalten und vor tierischen und menschlichen Feinden zu schützen. Ehe das politische Mittel eingreift, sind solche Hilfskräfte nur sehr spärlich vorhanden; in den erwähnten armen Clangenossen und in Flüchtlingen aus fremden Stämmen, die wir überall als Schutzbefohlene Abhängige in dem Gefolge der großen Herdenbesitzer finden.3 Hier und da tritt wohl auch ein ganzes armes Hirtenvolk halb freiwillig in den Dienst eines Reichen: „Ganze Völker nehmen ihrem Besitz entsprechende Stellungen zueinander ein. So bemühen sich die Tungusen, die sehr arm sind, in der Nähe von TschuktschenNiederlassungen zu leben, weil sie bei den an Rentierherden reicheren Tschuktschen als Hirten Verwendung finden; sie werden dann mit Rentieren bezahlt. Und die Unterwerfung der UralSamojeden durch die Sirjänen folgte der allmählichen Usurpation ihrer Weidegründe."4 Aber vielleicht mit Ausnahme des letztgenannten Falles, der schon stark staatsähnlich ist, reichen die paar im Clan vorhandenen kapitallosen Arbeitskräfte doch nicht hin, um sehr große Herden zu hüten. Und doch zwingt der Betrieb selbst dazu, sie zu teilen; denn ein Weidegrund darf nicht ohne Schaden „überstoßen", d. h. zu stark besetzt werden, wie man in der Schweizer Alpenwirtschaft sagt; und die Gefahr, den ganzen Bestand zu verlieren, mindert sich in dem Maße, wie man ihn auf verschiedene Weiden verteilt. Dann vernichten Seuchen, Stürme usw. nur einen Teil, und auch der Grenzfeind kann nicht alles auf einmal nehmen. Darum ist ζ. B. bei den Hereros „jeder nur etwas reichere Besitzer gezwungen, neben der eigentlichen Hauptwerfte immer noch

1

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 555.

2

Ebenda.

3

Ζ. B. bei den O v a m b o nach Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 214, wo sie sich zum Teil „in sklavischer Stellung

4

Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 648.

zu finden scheinen"; so nach Laveleye im alten Irland (Fuidhirs).

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Zweiter

Teil: Staat, Nationalismus

und

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einige Viehposten zu haben, worüber die jüngeren Brüder oder andere nahe Verwandte oder in Ermangelung dieser erprobte alte Knechte die Aufsicht führen" 1 . Darum schont der entwickelte Nomade den kriegsgefangenen Feind: er kann ihn als Weidesklaven brauchen. Wir können in einer Kultsitte der Skythen noch den Ubergang von der Tötung zur Verknechtung beobachten: sie opferten an ihren Gaumalstätten je einen von hundert gefangenen Feinden. Lippert, der die Tatsache berichtet, erblickt darin „eine eintretende Beschränkung, und der Grund derselben liegt sichtlich in dem Werte, welchen der gefangene Feind für ein Hirtenvolk als Knecht gewonnen hatte" 2 . Mit der Eingliederung der Sklaven in den Hirtenstamm ist der Staat - bis eben auf das in Seßhaftigkeit besessene festbegrenzte Gebiet - in seinen wesentlichen Elementen fertig. Er hat die Form der Herrschaft und den Inhalt der wirtschaftlichen Ausbeutung menschlicher Arbeitskräfte. Und nun kann die ökonomische Differenzierung und soziale Klassenbildung in ganz anderem Schrittmaß vorangehen. Die Herden der Großen, klug verteilt und von zahlreichen bewaffneten Knechten stärker bewacht, als die der kleinen Gemeinfreien, erhalten sich in der Regel auf ihrem Bestände und vermehren sich durch den größeren Anteil an der Beute, den der Reiche, entsprechend der von ihm ins Feld gestellten (unfreien!) Kriegerzahl, erhält, schneller als jene. Das Oberpriesteramt wirkt weiter mit, und so spaltet eine immer breitere Kluft die ehemals gleichen Clangenossen, bis ein echter Adel, die reichen Nachkommen der reichen Patriarchen, den kleinen Gemeinfreien gegenübersteht. „Die Rothäute haben auch in ihrer fortgeschrittensten Organisation keinen Adel und keine Sklaverei ausgebildet, 3 und dadurch unterscheidet sich ihre Organisation am wesentlichsten von der der Alten Welt. Beides erhebt sich erst auf dem Boden des Patriarchats tierzüchtenden Völker." 4 Und so finden wir denn bei allen entwickelten Hirtenvölkern die soziale Scheidung in drei verschiedene Klassen: Adel (Fürsten der Stammhäuser im biblischen Ausdruck), Gemeinfreie und Sklaven. Im besonderen haben nach Mommsen „alle indogermanischen Völker die Sklaverei als rechtliche Institution" 5 . Und was für die Arier und die Semiten Asiens und Afrikas (Masai und Wahuma usw.) und die Mongolen gilt, gilt auch für die Hamiten. Bei allen Fulbe der Sahara „teilt sich die Gesellschaft in Fürsten, Häuptlinge, Gemeine und Sklaven" 6 . Und wieder das gleiche finden wir, wie selbstverständlich, überall, wo die Sklaverei rechtlich besteht, bei den Hova 7 und ihren polynesischen Verwandten, den „See-Nomaden". Die Menschenpsyche wirkt sich überall unter gleichen Verhältnissen in gleichen Ordnungen aus, ganz unabhängig von Farbe und Rasse. So gewöhnt sich der Hirt allmählich an den Kriegserwerb und an die Bewirtschaftung des Menschen als verknechteten Arbeitsmotor. Und man muß anerkennen, daß seine ganze Lebensweise ihn dazu antreiben muß, von dem „politischen Mittel" immer mehr Gebrauch zu machen. Er ist körperlich stärker und ebenso gewandt und entschlossen wie der primitive Jäger, dessen Nahrungserwerb allzu unregelmäßig ist, als daß er zu der, der Gattung bestimmten höchsten Größe und Kraft aufwachsen könnte. Der Hirt aber, dem in der Milch seiner Herdentiere der Nahrungsquell ohne Unterbrechung fließt, und der Fleischnahrung hat, so oft er sie begehrt, wächst fast überall zum „Riesen", der arische Roßnomade nicht minder wie der Rinderhirt Asiens und Afrikas,

1 2 3 4 5 6 7

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 99. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. II, Stuttgart 1886, S. 302. Diese Angabe Lipperts ist nicht ganz korrekt. Die höheren seßhaften Jäger und Fischer Nordwestamerikas haben beides, Adel und Sklaven. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. II, S. 522. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. I, Berlin 1874, S. 17. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 518. Ebenda, Bd. I, S. 425.

Der Staat

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ζ. Β. der Sulu. Zum zweiten ist der Hirtenstamm an Kopfzahl viel stärker als die Jägerhorde, nicht nur, weil die Erwachsenen viel mehr Nahrung von einem gegebenen Gebiete erzielen können, sondern vor allem auch, weil die Verfügung über tierische Milch die Säugeperiode der Mütter abkürzt und eine größere Zahl von Geburten und den Aufzug von mehr Geborenen erlaubt. Daher sind die Weidesteppen der Alten Welt zu jenen unerschöpflichen Staubecken geworden, die periodisch in Überschwemmungen austraten, zu den „vaginae gentium". Eine bedeutend größere Anzahl wehrhafter Krieger also, als bei den Jägern, jeder einzelne stärker, und doch alle zusammen mindestens ebenso beweglich wie die Jägerhorde, die Reiter unter ihnen (Kamel- und Rossereiter) sogar ungleich beweglicher! Und diese größere Masse bester Einzelkräfte zusammengehalten durch eine Organisation, wie sie nur unter dem Schilde des sklavenhaltenden, herrschaftsgewöhnten Patriarchats möglich war, eine Organisation, die dem lockeren Gefolgsdienst der einem Chief geschworenen jungen Krieger der Jägerstufe gar nicht verglichen werden kann, und die schon durch den Beruf vorbereitet und ausgebildet ist. Der Jäger nämlich jagt am vorteilhaftesten allein oder in kleinen Gruppen: der Hirt aber bewegt sich am vorteilhaftesten in dem großen Zuge, in dem der einzelne am besten geschätzt ist, und der in jedem Sinne ein Heereszug ist, wie der Rastplatz in jedem Sinne ein Feldlager darstellt. So bildet sich ganz von selbst die Übung taktischer Manöver, strenger Ordnung, fester Disziplin aus. „Man geht wohl nicht fehl", bemerkt Ratzel, „wenn man zu den disziplinierenden Kräften im Leben des Nomaden die seit Urzeiten gleiche Zeltordnung rechnet. Jeder und alles hat hier seine feste, altbestimmte Stelle; daher die Raschheit und Ordnung im Auf- und Abbruch, NeuAufstellung und -Einrichtung. Unerhört, daß jemand ohne Befehl oder dringendsten Grund seinen Platz verändert. Nur dieser festen Ordnung ist es zu verdanken, daß das Zelt mit seinem ganzen Inhalt in Zeit von einer Stunde verpackt und verladen werden kann."1 Ganz dieselbe, uralt hergebrachte, in Jagd, Krieg und friedlicher Wanderung erprobte Ordnung beherrscht nun auch den kriegerischen Marsch des Hirtenstammes. Und dadurch werden sie zu berufsmäßigen und, bis der „Staat" nicht noch höhere und mächtigere Organisationen schafft, zu unwiderstehlichen Kämpfern. Hirt und Krieger werden identische Begriffe. Was Ratzel von den zentralasiatischen Nomaden ausspricht, gilt von allen: „Der Nomade ist als Hirt ein wirtschaftlicher, als Krieger ein politischer Begriff. Ihm liegt es immer nahe, aus irgend einer Tätigkeit in die des Kriegsmannes und Räubers überzugehen. Alles im Leben hat für ihn eine friedliche und kriegerische, eine ehrliche und räuberische Seite; je nach den Umständen kehrt er diese oder jene heraus. Sogar Fischerei und Seefahrt schlugen in den Händen der ostkaspischen Turkmenen in Seeräubertum um. (...) Der Gang des anscheinend friedlichen Hirtendaseins bestimmt den des Krieges; der Hirtenstab wird zur Waffe. Im Herbst, wenn die Pferde gekräftigt von der Weide herein kommen, und die zweite Schafschur vollendet ist, sinnt der Nomade, welchen Rache- oder Raubzug (Baranta, wörtlich Vieh machen, Vieh rauben) er bis dahin vertagt hatte. Das ist der Ausdruck eines Faustrechts, das in Rechtsstreitigkeiten, im Ehrenhandel und bei Blutrache Vergeltung und Unterpfand im Wertvollsten sucht, das der Feind besaß, in seinen Herdentieren. Junge Männer, die keine Baranta mitgemacht, haben sich den Namen Batir, Held, und Anspruch auf Ehre und Achtung erst zu erwerben. Zur Lust der Abenteuer gesellt sich die Freude am Besitz; und so entwickelt sich die dreifache, abwärtsführende Stufenreihe von Rächer, Held und Räuber."2

1 2

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 545. Ebenda, S. 390f.

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Demokratie

Ganz ähnlich wie bei den Landnomaden liegen die Verhältnisse bei den Seenomaden, den „Wikingen". Um so mehr, weil in den für die Universalgeschichte wichtigsten Fällen die Seenomaden nichts anderes sind als auf das Meer hinausgegangene Landnomaden. Wir haben soeben eine der unzähligen Tatsachen angeführt, die zeigen, daß der Hirt sich nicht lange besinnt, statt des Pferdes oder des „Schiffs der Wüste" die „Rosse der See" zum Raubkriege zu benutzen. Sie betraf die ostkaspischen Turkmenen.1 Ein anderes Beispiel geben die Skythen: „In dem Augenblicke, da sie den Nachbarn die Kunst ablernen, das Meer zu befahren, verwandeln sich die Wanderhirten Homers, verehrliche Rosselenker und Milchesser und Habelose, in die rechtlichsten Menschen (Qias ΧΙΠ, 3) genau wie die baltischen und skandinavischen Brüder in kühne Seefahrer. Strabo (Cas., S. 301) klagt: Seitdem sie sich aufs Meer wagten, sind sie, Seeraub treibend und die Stammfremden ermordend, schlechter geworden, und, mit vielen Volksstämmen verkehrend, nehmen sie an dem Kleinhandel und der Verschwendung dieser teil."2 Wenn die Phönizier wirklich „Semiten" gewesen sind, so bilden sie ein weiteres, für die Universalgeschichte unvergleichlich wichtiges Beispiel für die Umwandlung von Land- in See-„Beduinen", d. h. kriegerische Räuber. Und dasselbe gilt wahrscheinlich für die Mehrzahl der zahlreichen Völker, die von der kleinasiatischen, dalmatinischen und nordafrikanischen Küste aus von den frühesten Zeiten an, über die wir in den ägyptischen Denkmälern Nachrichten finden, (die Hellenen wurden in Ägypten nicht zugelassen)3 bis zur Gegenwart (Riffpiraten) die reichen Länder um das Mittelmeer brandschatzten. Die nordafrikanischen „Mauren", als Araber wie als Berber ursprünglich, beide Teile der Mischung, Landnomaden, sind vielleicht das berühmteste Beispiel dieser Wandlung. Indessen können Seenomaden, d. h. Seeräuber, auch ohne die Zwischenstufe des Hirtentums, unmittelbar aus Fischervölkern entstehen. Wir haben soeben die Ursachen kennengelernt, die den Hirten die Überlegenheit über die Hackbauern verliehen: die relativ bedeutende Volkszahl der Horden, bei einer Tätigkeit, die den einzelnen Mann zu Mut und schnellem Entschluß, und die Masse als Ganzes zu straffer Disziplin erzieht. All das gilt auch für den seeanwohnenden Fischer. Reiche Fischgründe gestatten eine bedeutende Volksdichte, wie die Nordwestindianer (Tlinkit usw.) zeigen; sie machen auch die Sklavenhaltung möglich, da der Sklave beim Fischfang mehr erwirbt, als seine Nahrung kostet; und so finden wir, hier allein unter den Rothäuten, das Institut der Sklaverei ausgebildet und finden daher auch bleibende ökonomische Unterschiede zwischen den Freien, die sich als eine Art von Plutokratie darstellen, ähnlich wie bei den Hirten. Der Befehl über Sklaven erzeugt hier wie dort die Gewohnheit der Herrschaft und den Geschmack am „politischen Mittel"; und hier wie dort kommt diesem Wunsche die straffe Disziplin zugute, die die Seefahrt ausbildet. „Beim gemeinsamen Fischfang ist nicht der letzte Vorteil die Disziplinierung der Mannschaften, die sich in den größeren Fischerbooten einen Anführer wählen, dem unbedingt zu gehorchen ist, da vom Gehorsam jeglicher Erfolg abhängt. Die Regierung des Schiffes erleichtert dann die des Staates. Im Leben eines gewöhnlich völlig zu den Wilden gerechneten Volkes, wie der SalomonInsulaner, ist unzweifelhaft das einzige, kräftezusammenfassende Element die Schiffahrt."4

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 390f. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. I, S. 471. Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalzinses. Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, 18. Bd., Jena 1899, S. 318. („Plünderer und bei der Dürftigkeit ihrer Heimat nach fremdem Land begierig", sagt Strabo.) Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 123.

Der Staat

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Wenn die Nordwestindianer keine so berühmten Seeräuber geworden sind, wie ihre altweltlichen Genossen, so liegt das nur daran, daß sich in ihrer erreichbaren Nachbarschaft keine reiche Hochkultur entfaltet hat: aber Piraterie treiben alle höheren Fischer. Aus diesen Gründen sind die Wikinge ebenso befähigt, das politische Mittel zur Basis ihrer wirtschaftlichen Existenz zu wählen wie die Hirten, und sie sind, wie sie, in großem Maßstabe Staatengründer geworden. Wir werden im folgenden die von ihnen gegründeten Staaten als „Seestaaten" von den durch Hirten (und in der Neuen Welt durch Jäger) gegründeten „Landstaaten" unterscheiden. Von den ersteren wird unten ausführlich zu handeln sein, wenn von den Ausgängen des entfalteten Feudalstaates die Rede ist. Fürs erste, solange wir von der Entstehung des Staates und von dem primitiven Feudalstaat zu handeln haben, dürfen wir uns aus dem Grunde im wesentlichen auf die Betrachtung des Landstaates beschränken und den Seestaat zurücktreten lassen, weil dieser zwar in allen grundsätzlichen Dingen genau dasselbe Wesen und dieselbe Entwicklung aufweist, aber doch den typischen Gang dieser Entwicklung minder klar erkennen läßt.

d)

Die Entstehung des Staates

Die an Zahl und auch an Wert des einzelnen Kämpfers unvergleichlich schwächeren Jägerhorden, mit denen die Hirten gelegentlich zusammenstoßen, können dem Anprall natürlich nicht widerstehen. Sie weichen aus in Steppen und Gebirge, in die ihnen die Hirten nicht folgen wollen und können, weil das Vieh dort keine Weide findet; oder treten zu ihnen in eine Art von Klientenverhältnis, eine Erscheinung, die sich namentlich in Afrika häufig und seit uralter Zeit findet. Schon mit dem Hyksos zogen solche abhängigen Jäger ins Nilland ein. Aber der Jäger zahlt wohl allenfalls einen geringen Tribut an Jagdbeute gegen Schutz und versteht sich zum Kundschafter- und Wächterdienst; aber er, der „praktische Anarchist", läßt sich eher vernichten, als zum regelmäßigen Arbeitsdienst zwingen. Daher wuchs aus solchen Zusammenstößen niemals ein „Staat" hervor. Auch der Bauer kann mit seiner undisziplinierten Landwehr, die aus ungeübten Einzelkämpfern besteht, dem Anprall der reisigen Hirten nicht auf die Dauer widerstehen, selbst wenn er in starker Uberzahl ficht. Aber der Bauer weicht nicht aus, denn er ist bodenständig; und der Bauer ist an regelmäßige Arbeit schon gewöhnt. Er bleibt, läßt sich unterwerfen und steuert seinem Besieger: das ist die Entstehung des Landstaates in der A Iten Welt! In der Neuen Welt, wo die großen Weidetiere, Rinder, Pferde, Kamele ursprünglich nicht vorhanden sind, tritt an die Stelle des Hirten der dem Hackbauern durch Waffengewandtheit und kriegerische Disziplin immer noch unendlich überlegene Jäger. „Der in der Alten Welt kulturzeugende Gegensatz von Hirten- und Ackerbauvölkern reduziert sich in der Neuen auf den Gegensatz von wandernden und ansässigen Stämmen. Wie Iran und Turan kämpfen mit den im Ackerbau aufgehenden Tolteken die von Norden hereinbrechenden wilden Scharen, deren militärische Organisation hochentwickelt war." 1 Das gilt nicht nur für Peru und Mexiko, sondern für das ganze Amerika, ein starker Beweis für die Meinung, daß die Grundanlage des Menschen überall gleich ist und sich unter den verschiedensten wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen durchsetzt. Wo er die Gelegenheit findet und die Macht besitzt, zieht der Mensch das politische Mittel dem ökonomischen vor. Und vielleicht nicht nur der Mensch: nach Maeterlincks „Leben der Bienen" soll ein Bienenstock, der einmal die Erfahrung gemacht hat, daß er den Honig, statt in mühsamer Tracht, auch aus einem fremden Stock

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 591.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

durch Raub gewinnen kann, fortan für das „ökonomische Mittel" verdorben sein. Aus Arbeitsbienen sind Raubbienen geworden. Lassen wir die neuweltlichen Staatenbildungen außer Acht, die ja ohnehin für die große Linie der Weltgeschichte keine Bedeutung gewonnen haben, so haben wir als Triebkraft aller Geschichte, als Entstehungsgrund aller Staaten zu betrachten den Gegensatz zwischen Ackerbauern und Hirten, zwischen Arbeitern und Räubern, zwischen Tiefland und Weidesteppe, wie Ratzel, der die Soziologie vom geographischen Zipfel aus faßte, es treffend ausdrückt: „Daß der Nomadismus nicht rein zerstörend der sedentären Kultur gegenübertritt, ruft uns die Tatsache ins Gedächtnis, daß wir es von nun an nicht nur mit Stämmen, sondern auch mit Staaten, und zwar Staaten mächtiger Art, zu tun haben. In dem kriegerischen Charakter der Nomaden liegt eine große staatenschaffende Macht, die sich vielleicht noch klarer als in den von Nomadendynastien und -armeen beherrschten großen Staaten Asiens: dem von Türken regierten Persien, dem von Mongolen und Mandschu eroberten und verwalteten China, den Mongolenund Radschputenstaaten Indiens, am Rande des Sudans ausspricht, wo die Verschmelzung der erst feindlichen, dann zu fruchtbarem Zusammenwirken vereinigten Elemente noch nicht so weit fortgeschritten ist. Nirgends zeigt es sich so klar wie hier auf der Grenze nomadisierender und ackerbauender Völker, daß die großen Wirkungen der kulturfördernden Anstöße der Nomaden nicht aus friedlicher Kulturtätigkeit hervorgehen, sondern als kriegerische Bestrebungen friedlichen zuerst entgegenwirken, ja schaden. Ihre Bedeutung liegt in dem Talent der Nomaden, die sedentären und leicht auseinanderfallenden Völker energisch zusammenfassen. Das schließt aber nicht aus, daß sie dabei viel von ihren Unterworfenen lernen können (...) Was aber alle diese Fleißigen und Geschickten nicht haben und nicht haben können, das ist der Wille und die Kraft, zu herrschen, der kriegerische Geist und der Sinn für staatliche Ordnung und Unterordnung. Darum stehen die wüstengeborenen Herren der Sudanstaaten über ihren Negervölkern wie die Mandschu über ihren Chinesen. Was anderes aber erfüllt sich hier als das von Timbuktu bis Peking gültige Gesetz, daß bevorzugte Staatenbildungen in den an weite Steppen grenzenden, reichen Ackerbauländern entstehen, wo eine hohe materielle Kultur sedentärer Völker gewaltsam in den Dienst energischer, herrschfähiger, kriegerischer Steppenbewohner gezogen wird?" 1 Bei der Entstehung des Staates aus der Unterwerfung eines Ackervolkes durch einen Hirtenstamm oder durch Seenomaden lassen sich sechs Stadien unterscheiden. Wenn wir sie in folgendem schildern, so ist nicht die Meinung, als wenn die reale historische Entwicklung gezwungen gewesen sei, in jedem einzelnen Falle die ganze Treppe, Stufe für Stufe, zu erklettern. Zwar ist hier nichts theoretische Konstruktion; jede einzelne Stufe findet sich in zahlreichen Vertretern in Weltgeschichte und Völkerkunde, und es gibt Staaten, die sie augenscheinlich sämtlich absolviert haben. Aber es gibt mehr, die eine oder mehrere der Stufen übersprungen haben. Das erste Stadium ist Raub und Mord im Grenzkriege: ohne Ende tobt der Kampf, der keinen Frieden noch Waffenstillstand kennt. Erschlagene Männer, fortgeführte Kinder und Weiber, geraubte Herden, brennende Gehöfte. Werden die Angreifer mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so kommen sie in stärkeren und stärkeren Haufen wieder, zusammengeballt durch die Pflicht der Blutrache. Zuweilen rafft sich wohl die Eidgenossenschaft auf, sammelt die Landwehr, und es gelingt ihr vielleicht auch einmal, den flüchtigen Feind zu stellen und ihm eine Zeitlang die Wiederkehr zu verleiden; aber allzu schwerfällig ist die Mobilmachung, allzu schwierig die Verpflegung in der Wüste für die Bauernlandwehr, die nicht, wie der Feind, ihre Nahrungsquelle, die Herden, mit sich führt - wir erlebten jetzt eben in Südwestafrika, was eine vorzüglich disziplinierte Überzahl

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 370.

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mit Train und Eisenbahnnachschub und den Millionen des Deutschen Reiches hinter sich dulden mußte, um eine Handvoll Hirtenkrieger zur Strecke zu bringen - und schließlich ist der Kirchturmsgeist mächtig, und daheim liegen die Acker brach. Darum siegt auch in solchen Fällen auf die Dauer fast immer die kleine, aber geschlossene bewegliche Macht über die größere zersplitterte Masse, der Panther über den Büffel. Das ist das erste Stadium der Staatsbildung. Sie kann Jahrhunderte-, vielleicht jahrtausendelang darauf stehenbleiben, wie das folgende, überaus charakteristische Beispiel zeigt: „Jedes Weidegebiet eines Turkmenenstammes grenzte einst an eine weite Zone, die man als sein Raubgebiet bezeichnen konnte. Der ganze Norden und Osten von Chorassan gehörte jahrzehntelang mehr den Turkmenen, Jomuden, Goklanen und anderen Stämmen der angrenzenden Steppen als den Persern, deren Herrschaft nur nominell war. Ahnlich waren Grenzstriche von Chiwa und Bochara den Raubzügen der Tekinzen verfallen, bis es gelang, andere Turkmenenstämme mit Gewalt oder durch Bestechung als Stoßkissen einzuzwängen. Die Geschichte der Oasenkette, die Ost- und Westasien quer durch die Steppen Zentralasiens verbindet, wo seit alter Zeit die Chinesen durch den Besitz weltgeschichtlicher Schlüsselpunkte wie der Oase Chami dominierten, gibt zahllose weitere Belege. Immer versuchten die Nomaden von Süden und Norden her an den Inseln fruchtbareren Bodens zu landen, die ihnen wie Inseln der Glückseligen erscheinen mochten, und jeder Horde stand, ob sie erfolgreich abzog oder geschlagen flüchtete, die schützende Steppe offen. Ward auch die schwerste Bedrohung durch die zäh fortgesetzte Schwächung des Mongolentums und die faktische Beherrschung Tibets beseitigt, so hat der letzte Dunganenaufstand gezeigt, wie leicht doch die Wellen eines beweglichen Volkstums über diesen Kultureilanden zusammenschlagen. Erst die Vernichtung des Nomadismus, die unmöglich solange es Steppen in Zentralasien gibt, vermöchte ihre Existenz ganz sicherzustellen."1 Zum ersten Stadium zu rechnen sind auch die aus der ganzen altweltlichen Geschichte bekannten Massenzüge, soweit sie nicht auf Eroberung, sondern lediglich auf Plünderung abzielten, Massenzüge, wie sie Westeuropa durch die Kelten, Germanen, Hunnen, Avaren, Araber, Magyaren, Tataren, und Mongolen und Türken vom Lande durch die Wikinge und Sarazenen vom Wasser her erlitten hat. Sie überschwemmten weit über das gewohnte Raubgebiet hinaus ganze Erdteile, verschwanden, kehrten wieder, versickerten und hinterließen nur eine Wüste. Häufig genug aber schritten sie in einem Teil des überfluteten Gebietes unmittelbar zum sechsten und letzten Stadium der Staatsbildung, indem sie eine dauernde Herrschaft über die Bauernbevölkerung errichteten. Ratzel schildert diese Massenzüge vortrefflich wie folgt: „Der Gegensatz zu dieser tröpfelnden und vorsichtigen Bewegung sind die Züge der großen Nomadenhorden, mit deren fürchterlicher Gewalt vor allem Mittelasien seine Nachbarländer übergoß. Die Nomaden dieses Gebietes, wie Arabiens und Nordafrikas, vereinigen mit der Beweglichkeit ihrer Lebensweise eine ihre ganze Masse zu einem einzigen Zwecke zusammenfassende Organisation. Gerade der Nomadismus ist ausgezeichnet durch die Leichtigkeit, womit er aus dem patriarchalischen Stammeszusammenhange despotische Gewalten von weitreichendster Macht entwickelt. Dadurch entstehen Massenbewegungen, die sich zu anderen in der Menschheit vor sich gehenden Bewegungen wie angeschwollene Ströme zu dem beständigen, aber zersplitterten Geriesel eines Quellgeäders verhalten. Ihre geschichtliche Bedeutung tritt aus der Geschichte Chinas, Indiens und Persiens nicht weniger klar hervor als aus der Europas. So wie sie in ihren Weideländereien umherzogen mit Weibern und Kindern, Sklaven, Wagen, Herden und al-

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 390f.

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ler Habe, brachen sie über ihre Nachbarländer herein; und was ihnen dieser Ballast an Schnelligkeit nahm, das gab er ihnen an Masse. Damit trieben sie die erschreckten Einwohner vor sich her und wälzten sich über die eroberten Länder aussaugend hin. So wie sie alles mit sich trugen, ließen sie sich auch am neuen Orte mit allem nieder; ihre Festsetzungen gewannen dadurch an ethnographischer Bedeutung. Wir erinnern an den Einzug der Magyaren in Ungarn, der Mandschu in China oder der Turkvölker in die Lande von Persien bis zur Adria."1 Was hier von hamitischen, semitischen, mongolischen und - sicherlich wenigstens teilweise - auch arischen Hirtenvölkern gesagt wird, gilt auch von den echten Negern, soweit sie eben ein Hirtendasein führen: „In den beweglichen, kriegerischen Hirtenvölkern der Kaffern ruht eine Expansionskraft, die nur eines verlockenden Zieles bedarf, um zur gewaltsamen Wirkung zu gelangen und die ethnologischen Verhältnisse weiter Gebiete von Grund aus umzugestalten. Ein solches Ziel bot das östliche Afrika, das zahlreichen friedlichen Ackerbauvölkern Raum zur Entwicklung gewährt hatte, ohne doch, wie die Länder des Inneren, aus klimatischen Gründen die Viehzucht zu verbieten und damit die Stoßkraft der Nomaden von Anfang an zu lähmen. Gleich verheerenden Strömen ergossen sich wandernde Kaffernstämme in die fruchtbaren Sambesiländer und bis an das Hochland zwischen dem Tanganyika und die Küste hinein, wo sie im Unyamwesi bereits den Vorposten einer von Norden kommenden hamitischen Völkerwelle, den Watusi, begegneten. Zum Teil sind die älteren Bewohner dieser Gebiete vernichtet, zum Teil bebauen sie als Hörige den ehemals freien Boden ihrer Heimat, zum Teil endlich haben sie den Kampf noch nicht aufgegeben oder hausen noch ungestört in Siedlungen, an denen der Sturm der Eroberung seitwärts vorüberbrauste."2 Was sich hier noch eben vor unseren Augen abgespielt hat und sogar noch abspielt, das hat seit vielen Jahrtausenden „ganz Ostafrika vom Sambesi bis zum Mittelmeere erschüttert". Der Einfall der Hyksos, Ägyptens mindestens halbtausendjährige Unterwerfung unter die Hirtenstämme der östlichen und nördlichen Wüsten, „Stammverwandte jener Völker, die heut noch zwischen Nil und Rotem Meer ihre Herden weiden"3, ist nur die erste uns bekannte dieser Staatsgründungen, denen im Nilland selbst und weiter südlich so viele andere nachfolgten, bis auf das Reich des Muata Jamvo am Südrand des mittleren Kongogebietes, von dem die portugiesischen Händler in Angola schon am Ende des 16. Jahrhunderts erfuhren, und bis auf das Kaiserreich Uganda, das erst in unseren Tagen der stärkeren Kriegsorganisation der Europäer erlag. „Wüste und Kulturland ruhen nie und nirgend kampflos nebeneinander; aber ihre Kämpfe sind einförmig und voll Wiederholungen."4 „Einförmig und voll Wiederholungen!" das ist die Weltgeschichte in ihren Grundzügen überhaupt, weil die menschliche Psyche ebenfalls in ihren Grundzügen überall die gleiche ist und auf die gleichen Einwirkungen der Umwelt gleichmäßig reagiert, bei allen Rassen aller Farben in allen Erdstrichen, in den Tropen, wie in den gemäßigten Zonen. Man muß nur weit genug zurücktreten, den Standpunkt so hoch wählen, daß das bunte Spiel der Einzelheiten uns die großen Massenbewegungen nicht mehr verbirgt; dann entschwinden unserem Blick die „Modi" der kämpfenden, wandernden, arbeitenden Menschheit, und ihre „Substanz", ihre ewig gleiche, ewig erneute, ihre im Wechsel dauernde, enthüllt uns ihre „einförmigen" Gesetze.

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 388f. Ebenda, S. 103f. Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. 4 (1901), S. 700f. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 404f.

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Allmählich entsteht aus diesem ersten Stadium das zweite, namentlich dann, wenn der Bauer, durch tausend Mißerfolge gekirrt, sich in sein Schicksal ergeben, auf jeden Widerstand verzichtet hat. Dann beginnt es selbst dem wilden Hirten aufzudämmern, daß ein totgeschlagener Bauer nicht mehr pflügen, ein abgehackter Fruchtbaum nicht mehr tragen kann. Er läßt im eigenen Interesse den Bauern leben und den Baum stehen, wenn es möglich ist. Die reisige Expedition kommt nach wie vor, waffenstarrend, aber nicht mehr eigentlich in Erwartung von Krieg und gewaltsamer Aneignung. Sie brennt und mordet nur so viel, wie erforderlich ist, um den heilsamen Respekt zu erhalten oder vereinzelten Trotz zu brechen. Aber im allgemeinen, grundsätzlich, nach einem fest gewordenen Gewohnheitsrecht - der erste Keim alles staatlichen Rechtes! - nimmt der Hirt nur noch den Überfluß des Bauern. D. h., er läßt ihm Haus, Geräte und Lebensmittel bis zur nächsten Ernte.1 Ein Vergleich: der Hirt im ersten Stadium ist der Bär, der den Bienenstock zerstört, indem er ihn ausraubt; im zweiten ist er der Imker, der ihm genug Honig läßt, um zu überwintern. Ein ungeheurer Schritt vorwärts zwischen erstem und zweitem Stadium! Wirtschaftlich und politisch ein ungeheurer Schritt! Denn zuerst war der Erwerb des Hirtenstammes rein okkupatorisch; schonungslos zerstörte der Genuß des Augenblickes die Reichtumsquelle der Zukunft; jetzt ist der Erwerb wirtschaftlich, denn alles Wirtschaften heißt weise haushalten, den Genuß des Augenblickes der Zukunft halber einschränken. Der Hirt hat gelernt, zu „kapitalisieren". Ein ebenso gewaltiger Schritt politisch: der blutsfremde Mensch, bisher vogelfreie Beute, hat einen Wert erhalten, ist als Reichtumsquelle erkannt; das ist zwar der Anfang aller Knechtschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch ein Anfang zu einer über die Verwandtschaftsfamilie hinausgreifenden höheren Gesellschaftsbildung; und schon spann sich, wie wir sahen, zwischen Räubern und Beraubten der erste Faden einer Rechtsbeziehung über die Kluft fort, die bisher zwischen den Nichts-alsTodfeinden klaffte. Der Bauer erhält eine Art von Recht auf die Lebensnotdurft; es wird ein Unrecht, den nicht Widerstehenden zu töten oder ganz auszuplündern. Und besser als das! Feinere, zartere Fäden knüpfen sich zu einem noch sehr schwachen Netze, menschlichere Beziehungen, als sie der brutale Gewohnheitspakt der Teilung nach dem Muster der partitio leonina enthält. Da die Hirten nicht mehr im Kampfzorn rasend mit den Bauern zusammentreffen, so findet auch wohl einmal eine demütige Bitte Erfüllung, oder eine begründete Beschwerde Gehör. Der kategorische Imperativ der Billigkeit, „was du nicht willst, das man dir tu", dem auch der Hirt im Verkehr mit seinen eigenen Bluts- und Stammesgenossen streng gehorcht, beginnt zum erstenmal, ganz schüchtern noch und leise, auch für den Blutsfremden zu sprechen. Hier ist der Keim zu jenem grandiosen äußeren Verschmelzungsprozeß, der aus den kleinen Horden die Völker und Völkerbünde geschaffen hat und dereinst den Begriff der „Menschheit" mit Leben erfüllen wird; hier ebenso der Keim zu der inneren Vereinheitlichung der einst Zersplitterten, die vom Haß der βάρβαροι zur allumfassenden Menschenliebe des Christentums und des Buddhismus führte. Volkstum und Staat, Recht und höhere Wirtschaft, mit allen Entwicklungen und Verzweigungen, die sie schon getrieben haben und noch treiben werden, entstanden gemeinsam in jenem Moment unvergleichlicher weltgeschichtlicher Bedeutung, in dem zuerst der Sieger den Besiegten schonte, um ihn dauernd zu bewirtschaften. Die Wurzel alles Menschlichen taucht nun einmal in das dunkle Erdreich des Tierischen, Liebe und Kunst nicht minder wie Staat, Recht und Wirtschaft. Bald kommt ein anderes hinzu, um jene seelischen Beziehungen noch enger zu knüpfen. Es gibt in der Wüste außer dem jetzt in den Bienenvater umgewandelten Bären noch andere Petze, die auch nach Honig lüstern sind. Unser Hirtenstamm sperrt ihnen die Wildbahn, er schützt „seinen" Stock

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„Viele Sklaven zu halten, verbietet die Schwierigkeit ihrer Ernährung. Man hält also ganze Bevölkerungen in Untertänigkeit, denen man alles nimmt, was über das Bedürfnis der Lebensfristung hinausgeht. Man wandelt ganze Oasen in Domänen um, die man zur Erntezeit besucht, um ihre Bewohner auszurauben: eine echt wüstenhafte Beherrschung." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 393, von den Arabern.)

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

mit der Waffe. Die Bauern gewöhnen sich, die Hirten herbeizurufen, wenn ihnen eine Gefahr droht; schon erscheinen sie nicht mehr als die Räuber und Mörder, sondern als die Schützer und Retter. Man stelle sich den Jubel der Bauern vor, wenn die Rächerschar geraubte Weiber und Kinder samt den abgehauenen Köpfen oder abgezogenen Skalpen der Räuber ins Dorf zurückbringt. Was sich hier knüpft, sind keine Fäden mehr, das ist ein Band von gewaltiger Festigkeit und Zähigkeit. Hier ist die vornehmste Kraft der „Integration" gezeigt, die im weiteren Verlauf aus den beiden ursprünglich blutsfremden, oft genug sprach- und rassefremden ethnischen Gruppen zuletzt ein Volk mit einer Sprache und Sitte und einem Nationalgefühl schmieden wird: gemeinsames Leid und Not, gemeinsamer Sieg und Niederlage, gemeinsamer Jubel und Totenklage. Ein neues gewaltiges Gebiet hat sich erschlossen, auf dem Herren und Knechte gleichen Interessen dienen; das erzeugt einen Strom von Sympathie, von Zusammengehörigkeit. Jeder Teil ahnt, erkennt im anderen mehr und mehr den Menschen; das Gleiche der Anlage wird herausgefühlt, während vorher nur das Verschiedene in der äußeren Gestalt und Tracht, in der fremden Sprache und Religion zu Haß und Widerwillen aufreizte. Man lernt sich verständigen, erst im eigentlichen Sinne, durch die Sprache, dann auch seelisch; immer dichter wird das Netz der seelischen Zusammenhänge. In diesem zweiten Stadium der Staatsbildung ist alles Wesentliche bereits in der Anlage enthalten. Kein weiterer Schritt kann sich an Bedeutung mit demjenigen messen, der von der Bären- zur Imkerstufe führte. Wir können uns darum mit kurzen Andeutungen begnügen. Das dritte Stadium besteht darin, daß der „Uberschuß" der Bauernschaften von ihnen selbst regelmäßig als „Tribut" in das Zeltlager der Hirten abgeliefert wird, eine Regelung, die augenscheinlich für beide Teile bedeutende Vorteile hat. Für die Bauern, weil die kleinen Unregelmäßigkeiten, die mit der bisherigen Form der Besteuerung verbunden waren: ein paar erschlagene Männer, vergewaltigte Frauen und niedergebrannte Gehöfte, nun ganz fortfallen; für die Hirten, weil sie, um sich ganz kaufmännisch auszudrücken, für dieses „Geschäft" keine „Spesen" und Arbeit mehr aufzuwenden haben und die frei gewordene Zeit und Kraft auf „Erweiterung des Betriebes" verwenden, d. h. mit andern Worten, neue Bauernschaften unterwerfen können. Diese Form des Tributs ist uns aus historischen Zeiten bereits sehr geläufig; Hunnen, Magyaren, Tataren, Türken zogen aus den europäischen Tributen ihre besten Einnahmen. Unter Umständen kann sich bereits der Charakter eines Tributes, den Unterworfene an ihre Herren zu bezahlen haben, hier mehr oder minder verwischen, und die Leistimg nimmt den Anschein eines Schutzgeldes oder gar einer Subvention an. Man kennt die Sage von Attila, den der kaiserliche Schwachkopf in Byzanz als seinen Lehnsfürsten abschildern ließ, weil ihm der Tribut als Hilfsgeld erschien. Das vierte Stadium bedeutet wieder einen sehr wichtigen Schritt vorwärts, weil es die entscheidende Bedingung für das Zustandekommen des „Staates" in seiner uns geläufigen äußeren Form hinzubringt: die räumliche Vereinigung der beiden ethnischen Gruppen auf einem Gebiete. 1 (Bekanntlich kann keine juristische Definition des Staates ohne den Begriff des Staatsgebietes auskommen.) Von jetzt an wandeln sich die ursprünglich internationalen Beziehungen beider Gruppen mehr und mehr in intranationale.

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Bei der Fulbe besteht sogar etwas wie ein Ubergangszustand zwischen den drei ersten und dem vierten Stadium, ein halb inter-, halb intranationaler Zustand der Herrschaft: „Das erobernde Volk streckt wie ein Polyp zahlreiche Arme hier- und dorthin zwischen die bestürzten Eingeborenen, deren Uneinigkeit eine Menge von Lücken bietet. So fließen langsam die Fulbe in die Benueländer hinein und durchdringen sie ganz allmählich. Mit Recht vermeiden es daher auch neuere Beobachter, bestimmte Grenzen anzugeben. Es gibt viele zerstreute Fulbeortschaften, die einen bestimmten O r t als Mittelpunkt und zugleich als Machtzentrum ansehen; so ist Muri Vor- und Hauptort der zahlreichen am mittleren Benue zerstreuten Fulbeniederlassungen, und ähnlich ist wohl die Stellung Yolas im Gebiet von Adamaua. Eigentliche Reiche, die sich fest gegeneinander und gegen die unabhängigen Stämme abgrenzen, gibt es noch nicht. Selbst diese Hauptorte sind übrigens noch weit davon entfernt, fest zu liegen." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 492.)

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Diese räumliche Vereinigung kann äußere Gründe haben: vielleicht haben stärkere Horden die Hirten vorwärtsgedrängt; vielleicht ist die Volksvermehrung in der Steppe über die Nährkraft der Weiden hinausgewachsen; vielleicht hat ein großes Viehsterben die Hirten gezwungen, die unbegrenzte Weite mit der Enge des Flußtales zu vertauschen. Im allgemeinen reichen aber schon innere Gründe hin, um die Hirten zu veranlassen, die Nachbarschaft der Bauern zu suchen. Die Schutzpflicht gegen die „Bären" zwingt sie, mindestens ein Aufgebot junger Krieger in der Nähe des Stokkes zu halten, und das ist gleichzeitig eine gute Vorsichtsmaßregel, um die Bienen von Aufruhrgelüsten oder einer etwaigen Neigung zurückzuhalten, einen anderen Bären als Bienenvater über sich zu setzen. Denn auch das ist nicht selten. So sind, wenn die Uberlieferung recht berichtet, Ruriks Söhne nach Rußland gelangt. Zunächst ist die räumliche Nachbarschaft noch keine staatliche Gemeinschaft im engeren Sinne, d. h. eine Einheitsorganisation. Wo sie es mit ganz unkriegerischen Unterworfenen zu tun haben, führen die Hirten, wandernd und weidend, ihr Nomadenleben ruhig weiter zwischen ihren Periöken und Heloten. So die hellfarbigen Wahuma1, „die schönsten Menschen der Welt" (Kandt) in Zentralafrika; so der TuaregClan der Hadanara vom Stamme der Asgar, der seine „Wohnsitze unter den Imrad genommen hat und zu wandernden Freibeutern geworden ist. Diese Imrad sind die dienende Klasse der Asgar, von der diese leben, obwohl jene imstande sind, zehnmal mehr Streiter zu stellen; ihre Stellung ist ungefähr wie die der Spartaner zu den Heloten" 2 . So die Teda im benachbarten Borku: „So wie das Land in nomadennährende Halbwüste und Gärten und Dattelhaine, so teilt sich seine Bevölkerung in Nomaden und Ansässige. Beide halten sich die Wa[a]ge, was ihre Zahl anbetrifft: es mögen 1012.000 insgesamt sein; aber es ist selbstverständlich, daß diese von jenen beherrscht werden."3 Und ähnliches gilt von der gesamten Hirtenvölkergruppe der Galla, Masai und Wahuma: „Während die Besitzunterschiede groß sind, gibt es wenige Sklaven als dienende Klasse. Sie werden durch niedriger gestellte Völker vertreten, die räumlich abgesondert leben. Das Hirtentum ist die Grundlage der Familie, des Staates und zugleich das Prinzip der politischen Bewegungen. In diesem weiten Gebiet gibt es zwischen Schoa und dessen südlichen Vorländern auf der einen und Sansibar auf der anderen Seite keine feste politische Macht, trotz der hochentwickelten sozialen Gliederung."4 Wo aber entweder das Land für Großviehzucht ungeeignet ist - wie ζ. B. Westeuropa fast überall oder wo eine weniger unkriegerische Bevölkerung Erhebungsversuche erwarten läßt, da wird die Herrenbevölkerung mehr oder weniger seßhaft, sitzt, natürlich an festen oder strategisch wichtigen Punkten, in Zeltlagern oder Burgen oder Städten. Von hier aus beherrschen sie ihre „Untertanen", um die sie sich im übrigen nicht weiter kümmern, als das Tributrecht es verlangt. Selbstverwaltung und Kultübung, Rechtsprechung und Wirtschaft ist den Unterworfenen völlig überlassen; ja, sogar ihre autochthone Verfassung, ihre lokalen Autoritäten bleiben unverändert. Wenn Frants Buhl 5 recht berichtet ist [sie], so war das der Anfang der israelitischen Herrschaft in Kanaan. Abessynien, diese uns als Vollstaat imponierende gewaltige Militärmacht, scheint auch noch nicht weit über das vierte Stadium hinaus zu sein. Wenigstens berichtet Ratzel:

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 165.

2

Ebenda, S. 485.

3

Ebenda, S. 480.

4

Ebenda, S. 165.

5

Buhl, Soziale Verhältnisse der Israeliten, Berlin 1899, S. 13.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

„Wie sich die orientalischen Monarchen in alter und neuer Zeit nie viel um die innere Regierung und Gerechtigkeitspflege der unterworfenen Völker bekümmerten, war und ist Hauptsorge der Abessynier der Tribut." 1 Das beste Beispiel aber für das vierte Stadium bietet uns die Geschichte in der Ordnung des alten Mexiko vor der Conquista: „Die Konföderation, an deren Spitze die Mexikaner standen, hatte etwas fortgeschrittenere Begriffe von Eroberung. Von ihr wurden nur die Stämme vernichtet, die Widerstand leisteten. Sonst aber wurden die Überwundenen bloß ausgeplündert und dann zu Tribut verpflichtet. Der geschlagene Stamm regierte sich wie vorher durch seine Vorgesetzten, kein Gedanke, wie in Peru, an Bildung eines zusammenhängenden Reiches begleitete den ersten Uberfall, nur Einschüchterung und Ausbeutung. So war denn das sogenannte Reich von Mexiko zur Zeit der Eroberung bloß eine Kette von eingeschüchterten Indianerstämmen, die, selbst untereinander scheu getrennt lebend, durch Furcht vor den Ausfällen aus einem unangreifbaren Raubnest in ihrer Mitte niedergehalten wurden." 2 Wie man sieht, ist hier von einem Staat im eigentlichen Sinne noch nicht die Rede. Ratzel stellt das in der nachfolgend wiedergegebenen Bemerkung trefflich fest: „Sieht man, wie weit die von Montezumas Kriegern unterworfenen Punkte durch nicht unterworfene Gebiete voneinander getrennt waren, so fühlt man sich versucht, Vergleiche mit der Hovaherrschaft über Madagaskar zu ziehen. Die Verstreuung einiger Garnisonen, besser: militärischer Kolonien, über das Land, die mühselig einen Beutekreis von ein paar Stunden in Unterwerfung halten, bedeutet uns nicht die Alleinherrschaft."3 Aber von diesem vierten führt die Logik der Dinge schnell zum fünften Stadium, das mm schon fast der volle Staat ist. Streitigkeiten entstehen zwischen benachbarten Dörfern oder Gauen, deren gewaltsamen Austrag die Herrengruppe nicht dulden kann, da dadurch die „Prästationsfähigkeit" der Bauern leiden müßte; sie wirft sich zum Schiedsrichter auf und erzwingt im Notfall ihren Spruch. Schließlich hat sie an dem „Hofe" jedes Dorfkönigs oder Gauhauptes ihren beamteten Vertreter, der die Macht ausübt, während dem alten Herrn der Schein der Macht bleibt. Für primitive Verhältnisse bildet der Inka-Staat das typische Beispiel dieser Ordnung. Hier saßen die Inka in Cuzko vereint, wo sie ihre Erbländereien und ihre Wohnungen hatten.4 Aber in jedem Bezirk residierte ein Vertreter der Inka, der Tucricuc, am Hofe des eingeborenen Häuptlings. Er „hatte die Aufsicht über alle Angelegenheiten seines Bezirkes; er hatte die Aushebung der Mannschaften für das Heer zu veranlassen, die Einlieferung der Abgaben zu überwachen, die Frondienste, Wege- und Brückenbauten anzuordnen, das Rechtswesen zu leiten, kurz alles, was seinen Bezirk betraf, unterstand seiner Aufsicht"5. Was amerikanische Jäger und semitische Hirten ausgebildet haben, findet sich auch im Bezirk der afrikanischen Hirten. In Ashanti ist das System der Tucricuc ebenfalls typisch ausgebildet,6 und

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 455. Ebenda, Bd. I, S. 628. Ebenda, S. 625. Cieza de Leon, Seg. parte de la cronica del Peru, S. 75, zitiert nach Cunow, Die soziale Verfassung des Inkareichs, S. 62 A n m . 1. Cunow, Die soziale Verfassung des Inkareichs, S. 61. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 346.

Der Staat

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auch die Dualla haben über den in abgesonderten Dörfern lebenden Untertanen „ein auf Eroberung begründetes Mittelding von Lehnswesen und Sklaverei"1 errichtet. Und von den Barotse berichtet derselbe Autor eine Verfassung, die schon fast völlig der mittelalterlichen Feudalordnung frühester Stufe entspricht: Ihre „Dörfer sind (...) in der Regel von einem Kranze von Weilern umgeben, wo Leibeigene wohnen, die in der nächsten Umgebung für ihre Herren Felder bestellen, Getreide anbauen oder auch Viehherden hüten müssen"2. Hier ist für unsere Begriffe nur fremdartig, daß die einzelnen Herren nicht in Burgen oder Hallen, sondern dorfweise zwischen den Unterworfenen hausen. Von den Inka zu den Doriern in Lakedämon, Messenien und Kreta ist nur noch ein ebenso kleiner Schritt, wie von den Fulbe, Dualla und Barotse zu den verhältnismäßig straff organisierten Feudalstaaten der afrikanischen Negerreiche Uganda, Unyoro usw. und zu den ganz entsprechenden Feudalreichen Ost- und Westeuropas und ganz Asiens. Die Dinge entwickeln sich überall kraft derselben sozialpsychologischen Logik zum gleichen Ziele. Die Notwendigkeit, die Unterworfenen in Raison und bei voller Leistungsfähigkeit zu erhalten, führt Schritt für Schritt vom fünften zum sechsten Stadium, nämlich zur Ausbildung des Staates in jedem Sinne, zur vollen Intranationalität und zur Entwicklung der „Nationalität". Immer häufiger wird der Zwang, einzugreifen, zu schlichten, zu strafen, zu erzwingen; die Gewohnheit des Herrschens und die Gebräuche der Herrschaft bilden sich aus. Die beiden Gruppen, erst räumlich getrennt, dann auf einem Gebiete vereint, aber noch immer nur erst nebeneinandergelegt, darin durcheinandergeschüttelt, eine mechanische „Mischung" im Sinne der Chemie, werden mehr und mehr zu einer „chemischen Verbindung". Sie durchdringen sich, mischen sich, verschmelzen in Brauch und Sitte, Sprache und Gottesdienst zu einer Einheit, und schon spannen sich auch Fäden der Blutsverwandtschaft von der Ober- zur Unterschicht. Denn überall wählt sich das Herrenvolk die schönsten Jungfrauen der Unterworfenen zu Kebsen, und ein Stamm von Bastards wächst empor, bald der Herrenschicht eingeordnet, bald verworfen und dann kraft des in ihren Adern rollenden Herrenblutes die geborenen Führer der Beherrschten. Der primitive Staat ist fertig, Form und Inhalt.

II. Der primitive Feudalstaat a)

Die Form der Herrschaft

Seine Form ist die Herrschaft. Die Herrschaft einer kleinen, kriegsfrohen, enggeschlossenen und -versippten Minderheit über ein fest begrenztes Landgebiet und seine Bebauer. Diese Herrschaft wird ausgeübt nach den Vorschriften eines durch Gewohnheit gewordenen Rechtes, das die Vorrechte und Ansprüche des Herren und die Gehorsamspflicht und Leistung der Untertanen regelt und zwar so regelt, daß die Prästationsfähigkeit der Bauern - das Wort stammt noch aus der friderizianischen Zeit! - nicht leidet. Durch Gewohnheitsrecht festgelegtes „Imkertum" also! Der Leistungspflicht der Bauern entspricht eine Schutzpflicht der Herren, die sich auf Ubergriffe der eigenen Klassengenossen ebenso erstreckt, wie auf Angriffe auswärtiger Feinde. Das ist der eine Teil des Staatsinhaltes; der andere, im Anfang ungleich wichtigere und größere, ist die ökonomische Ausbeutung, das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Der Bauer gibt einen Teil seines Arbeitserzeugnisses hin, ohne äquivalente Gegenleistung. „Im Anfang war die Grundrente!"

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 36f. Ebenda, S. 221.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Die Formen, in denen sich der Grundrentenbezug und -verzehr vollzieht, sind sehr verschieden. Bald sitzt die Herrengenossenschaft als geschlossener Verband in einem festen Lager und verzehrt kommunistisch den Tribut der Bauernschaften: so im Inkastaate. Bald ist schon jedem einzelnen Kriegsedeling ein bestimmtes Landlos zugewiesen; aber er verzehrt dessen Ertrag doch noch vorwiegend in der Syssitie mit seinen Klassengenossen und Waffengefährten.· so in Sparta. Bald ist der Grundadel über das ganze Gebiet zerstreut, haust einzeln mit seinen Gefolgen auf seinen Burgen und verzehrt individualistisch den Ertrag seiner Herrschaft. Aber noch ist er kein „Wirt"; er empfängt nur den Tribut von der Arbeit seiner Hörigen, die er weder leitet noch auch nur beaufsichtigt. Das ist der Typus der mittelalterlichen Grundherrschaft in den Ländern germanischen Adels. Und schließlich wird der Ritter zum Rittergutsbesitzer, die hörigen Bauern verwandeln sich in Arbeiter seines Großbetriebes, und der Tribut erscheint jetzt als Unternehmergewinn: das ist der Typus des ersten kapitalistischen Betriebs der Neuzeit, des Großgutsbetriebs im ehemals slawischen Kolonisationsgebiete. Zahlreiche Übergänge führen von einer Stufe zur anderen. Aber im Kerne überall derselbe „Staat". Sein Zweck überall das politische Mittel der Bedürfnisbefriedigung: Aneignung zunächst der Grundrente, solange noch keine Gewerbearbeit besteht, die angeeignet werden könnte. Seine Form überall die Herrschaft: die Ausbeutung als „Recht", als „Verfassung" auferlegt und streng, wenn nötig grausam, aufrecht erhalten und durchgesetzt, aber doch das absolute Eroberer-Recht im Interesse des dauernden Grundrentenbezuges ebenfalls rechtlich eingeengt. Die Leistungspflicht der Untertanen ist begrenzt durch ihr Recht auf Erhaltung bei der Leistungsfähigkeit; das Steuerrecht der Herren ist ergänzt durch ihre Schutzpflicht nach innen und außen - Rechtsschutz und Grenzschutz. Damit ist der primitive Staat reif, in seinen sämtlichen wesentlichen Elementen voll ausgebildet. Der embryonale Zustand ist überwunden; was noch folgt, sind lediglich Wachstumserscheinungen. Er stellt gegenüber den Familienverbänden zweifellos eine höhere Art vor; der Staat umschließt eine größere Menschenmenge in strafferer Gliederung, fähiger zur Bewältigung der Natur und Abwehr der Feinde. Er wandelt die halb spielende Beschäftigung in strenge methodische Arbeit und bringt dadurch zwar unendliches Elend über eine unabsehbare Reihe kommender Geschlechter, die nun erst im Schweiße ihres Antlitzes ihr Brot essen müssen, seit auf das goldene Zeitalter der freien Blutsgemeinschaft das eiserne des Staates und der Herrschaft folgte: aber er stellt auch eben durch die Erfindung der Arbeit im eigentlichen Sinne die Kraft in die Welt, die allein das goldene Zeitalter auf viel höherer Stufe der Gesittung und des Glückes aller wieder herbeiführen kann. Er zerstört, um mit Schiller zu sprechen, das naive Glück der Kinder-Völker, um sie auf schwerem Leidenswege zum „sentimentalischen", zum bewußten Glück der Reife emporzuführen. Eine höhere Art! Schon Paul v. Lilienfeld, einer der Hauptverfechter der Anschauung, daß die Gesellschaft ein Organismus höherer Art ist, hat darauf hingewiesen, daß hier eine besonders schlagende Parallele zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Organismus gegeben ist. Alle höheren Wesen pflanzen sich geschlechtlich fort, die niederen ungeschlechtlich, durch Teilung, Knospung, allenfalls Kopulation. Nun, und der einfachen Teilung entspricht genau das Wachstum und die Fortpflanzung der vorstaatlichen Blutsgenossenschaft; sie wächst, bis sie für den Zusammenhalt zu groß wird, schnürt sich ab, teilt sich, und die einzelnen Horden bleiben allenfalls in einem sehr losen Zusammenhang, ohne irgendwie straffere Gliederung. Der Kopulation ist die Verschmelzung exogamischer Gruppen vergleichbar. Der Staat aber entsteht durch geschlechtliche Fortpflanzung. Alle zwiegeschlechtliche Fortpflanzung vollzieht sich so, daß das männliche Prinzip, eine kleine, sehr aktive, bewegliche Schwärmzelle (das Spermatozoid), eine große, träge, der Eigenbewegung entbehrende Zelle (das Ovulum), das weibliche Prinzip, aufsucht, in sie eindringt und mit ihr verschmilzt, worauf ein Prozeß gewaltigen Wachstums, d. h. wundervoller Differenzierung mit gleichzeitiger Integrierung, sich vollzieht. Die

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träge, schollengefesselte Bauernschaft ist das Eichen, der bewegliche Hirtenstamm das Spermatozoid dieses soziologischen Befruchtungsaktes, und sein Ergebnis ist die Reifung eines höheren, in seinen Organen viel reicher gegliederten und viel kräftiger zusammengefaßten (integrierten) sozialen Organismus. Wer weitere Parallelen sucht, kann sie leicht finden. Die Art, wie unzählige Spermatozoide das Ovulum umschwärmen, bis endlich eines, das stärkste oder glücklichste, die Mikropyle entdeckt und erobert, ist den Grenzfehden, die der Staatsbildung vorangehen, wohl vergleichbar, und ebenso die fast magische Anziehungskraft, die das Ovulum auf die Schwärmzellen ausübt, dem Zuge der Steppensöhne in die Ebenen. „Als welches" übrigens für den „Organizismus" immer noch kein Beweis ist! Aber dies Problem kann hier nur angedeutet werden.

b)

Die Integration

Wir verfolgten die Entstehung des Staates vom zweiten Stadium an in seinem objektiven Wachstum als politisch-rechtliche Form und ökonomischer Inhalt. Wichtiger aber - denn alle Soziologie ist fast durchaus Sozialpsychologie - ist sein subjektives Wachstum, seine sozialpsychologische „Differenzierung und Integrierung". Sprechen wir zuerst von der Integrierung! Das Netz seelischer Beziehungen, das wir bereits im zweiten Stadium sich knüpfen sahen, wird immer dichter und enger in dem Maße, wie die materielle Verschmelzung, die wir schilderten, vorwärtsschreitet. Die beiden Dialekte werden zu einer Sprache, oder die eine der beiden, oft ganz stammverschiedenen, Sprachen verschwindet, zuweilen die der Sieger, häufiger die der Besiegten. Die beiden Kulte verschmelzen zu einer Religion, in der der Stammgott der Sieger als Hauptgott angebetet wird, während die alten Götter bald zu seinen Dienern, bald zu seinen Gegnern: Dämonen oder Teufeln werden. Der äußerliche Typus gleicht sich aneinander an unter den Einflüssen gleichen Klimas und ähnlicher Lebenshaltung; wo eine starke Verschiedenheit der Typen bestand und sich erhält, 1 füllen wenigstens die Bastarde die Kluft einigermaßen aus, und der Typus der Feinde jenseits der Grenzen wird allmählich von allen stärker als ethnischer Gegensatz, als „fremd" empfunden, als der noch bestehende Gegensatz der nunmehr vereinten Typen. Immer mehr lernen sich Herren und Knechte als „ihresgleichen" ansehen, wenigstens im Verhältnis zu den Fremden draußen. Zuletzt verschwindet die Erinnerung an die verschiedene Abstammung oft gänzlich; die Eroberer gelten als Söhne der alten Götter - sind es ja oft auch buchstäblich, da diese Götter nichts anderes sind als die durch Apotheose vergotteten Seelen der Ahnen. Je schärfer sich im Zusammenprall der benachbarten „Staaten", die ja viel aggressiver sind als vorher die benachbarten Blutsgemeinschaften, das Gefühl der Absonderung alter Insassen des staatlichen Friedenskreises von den auswärtigen Fremden ausprägt, um so stärker wird im Inneren das Gefühl der Zusammengehörigkeit; und um so mehr faßt der Geist der Brüderlichkeit, der Billigkeit hier Wurzel, der früher nur innerhalb der Horden herrschte und jetzt noch immer innerhalb der Adelsgenossenschaft herrscht. Das sind natürlich von oben nach unten ganz schwache Fäden; Billigkeit und Brüderlichkeit erhal-

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„Bei den Wahuma haben die Frauen eine höhere Stellung als bei den Negern und werden ängstlich von ihren Männern gehütet. Das trägt zur Erschwerung der Mischungen bei. Die Masse der Waganda wäre nicht noch heute ein echter Negerstamm von „dunkelschokoladefarbiger Haut und kurzem Wollhaar", wenn nicht die beiden Völker als Ackerbauer und Hirten, als Beherrschte und Herrscher, als Verachtete und Geehrte trotz der Beziehungen, die in ihren höheren Klassen geknüpft werden, schroff gegenüberständen. In dieser Sonderstellung sind sie eine typische Erscheinung, die man immer leicht wiedererkennt." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 177.)

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

ten nur so viel Raum, wie das Recht auf das politische Mittel es erlaubt: aber so viel Raum erhalten sie! Und vor allem ist es der Rechtsschutz nach innen, der ein noch stärkeres Band seelischer Gemeinschaft webt, als der Waffenschutz nach außen. Justitia fundamentum regnorum! Wenn die Junkerschaft als soziale Gruppe „von Rechts wegen" einen junkerlichen Totschläger oder Räuber hinrichtet, der die Grenze des Rechtes der Ausbeutung überschritt, dann dankt und jubelt der Untertan noch herzlicher als nach einer gewonnenen Schlacht. Das sind die Hauptlinien in der Entwicklung der psychischen Integration. Die Gemeininteressen an Rechtsordnung und Frieden erzeugen eine starke Gemeinempfindung, ein „Staatsbewußtsein", wie man es nennen kann.

c)

Die Differenzierung (Gruppentheorien und Gruppenpsychologie)

Auf der anderen Seite vollzieht sich pari passu, wie in allem organischen Wachstum, eine ebenso kräftige psychische Differenzierung. Die Gruppeninteressen erzeugen starke Gruppenempfindungen; Ober- und Unterschicht entwickeln ihren Sonderinteressen entsprechend je ein „Gruppenbewußtsein". Das Sonderinteresse der Herrengruppe besteht darin, das geltende von ihr auferlegte Recht des politischen Mittels aufrechtzuerhalten; sie ist „konservativ". Das Interesse der beherrschten Gruppe geht im Gegenteil dahin, dieses Recht aufzuheben und durch ein neues Recht der Gleichheit aller Insassen des Staates zu ersetzen: sie ist „liberal" und revolutionär. Hier steckt die tiefste Wurzel aller Klassen- und Parteienpsychologie. Und schon hier bilden sich nach strengen Seelengesetzen sofort jene unvergleichlich mächtigen Gedankenreihen aus, die noch Jahrtausende hindurch als „Klassentheorien" im Bewußtsein der Zeitgenossen die Gesellschaftskämpfe leiten und rechtfertigen werden. „Wo der Wille spricht, hat der Verstand zu schweigen", sagt Schopenhauer, und Ludwig Gumplowicz meint fast dasselbe, wenn er sagt: „Naturgesetzlich handelt der Mensch, und menschlich denkt er hinterdrein." Der Einzelmensch muß, streng determiniert, wie sein Wille ist, so handeln, wie seine Umwelt es gebietet; und das gleiche gilt für jede Menschengemeinschaft, für Gruppen, Klassen und Staat. Sie „strömen vom Orte höheren ökonomischen und sozialen Druckes zum Orte geringeren Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes". Da aber Einzelmensch und Menschengemeinschaft sich freihandelnd glauben, so zwingt sie ein unentrinnbares psychisches Gesetz, den Weg, den sie zurücklegen, als frei gewähltes Mittel, und den Punkt, auf den sie zutreiben, als frei gewähltes Ziel anzuschauen. Und weil der Mensch ein vernünftiges und sittliches, d. h. soziales Wesen ist, darum steht er unter dem Zwange, Mittel und Ziel seiner Bewegung vor Vernunft und Sittlichkeit, d. h. dem Sozialbewußtsein, zu rechtfertigen. Solange die Beziehungen der beiden Gruppen lediglich die internationalen zweier Grenzfeinde waren, bedurfte das politische Mittel keiner Rechtfertigung. Denn der Blutsfremde hat keinerlei Recht. Sobald aber die psychische Integration das Gemeingefühl des Staatsbewußtseins einigermaßen ausgebildet hat, sobald der hörige Knecht ein „Recht" erworben hat, und in dem Maße wie das Bewußtsein des Gleichseins sich vertieft, bedarf das politische Mittel der Rechtfertigung, und in der Herrengruppe entsteht die Gruppentheorie des „Legitimismus". Der Legitimismus rechtfertigt Herrschaft und Ausbeutung überall mit den gleichen anthropologischen und theologischen Gründen. Die Herrengruppe, die ja Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden des Mannes anerkennt, erklärt sich selbst, die Sieger - und von ihrem Standpunkte aus ganz mit Recht - als die tüchtigere, bessere „Rasse", eine Anschauung, die sich verstärkt, je mehr die unterworfene Rasse bei harter Arbeit und schmaler Kost herabkommt. Und da der Stammesgott der Herrengruppe in der neuen, durch Verschmelzimg entstandenen Staatsreligion

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zum Obergott geworden ist, so erklärt sie - wieder von ihrem Standpunkte ganz mit Recht - die Staatsordnving für gottgewollt, für „tabu". Durch einfache logische Umkehrung erscheint ihr auf der andern Seite die unterworfene Gruppe als solche schlechterer Rasse, als störrisch, tückisch, trag und feig und ganz und gar unfähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; und jede Auflehnung gegen die Herrschaft muß ihr notwendig als Empörung gegen Gott selbst und sein Sittengesetz erscheinen. Darum steht die Herrengruppe überall in engster Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen ergänzt und an ihren politischen Rechten und ökonomischen Privilegien ihren Anteil hat. Das war und ist noch heute die Klassentheorie der Herrenklasse; kein Zug ist fortgefallen, keiner hinzugekommen. Selbst jene sehr moderne Behauptung, mit der der Grundadel ζ. B. Frankreichs und Ostelbiens die Ansprüche der Landbevölkerung auf Grundeigentum zurückzuweisen versuchte, daß ihm das Land von Anfang an gehört habe, während die Ackerknechte es nur von ihm zum Lehen erhalten haben, findet sich auch bei den Wahuma1 und wahrscheinlich noch vielfach anderwärts. Und wie ihre Klassentheorie, so war und ist auch ihre Klassenpsychologie überall die gleiche. Der wichtigste Zug ist der „Junkerstolz", die Verachtung der arbeitenden Unterschicht. Sie sitzt so tief im Blute, daß die Hirten sogar dann, wenn sie nach dem Verlust ihrer Herden in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten sind, ihren Herrenstolz bewahren: „Selbst die Galla, die nördlich von Tana durch die Somal ihres Herdenreichtums beraubt und dadurch zu Hirten fremder Herden, am Sabaki selbst zu Ackerbauern wurden, sehen mit Verachtung auf die ihnen unterworfenen suaheliähnlichen, ackerbauenden Wapokomo herab, weniger auf die gallaähnlichen und den Galla tributären Jägervölker der Waboni, Wassania und Walangulo (Ariangulo)."2 Und die folgende Schilderung der Tibbu paßt wie angegossen auf Walter Habenichts und die übrigen armen Ritter, die in den Kreuzzügen Beute und Herrenland suchten; und nicht minder auf manchen adligen Schnapphahn des deutschen Ostens und manchen verlumpten Schlachzizen oder Hidalgo: „Es sind Menschen voll Selbstgefühl. Sie mögen Bettler sein, aber sie sind keine Paria. Viele Völker wären unter diesen Umständen elender und gedrückter; die Tibbu haben Stahl in ihrer Natur. Sie sind zu Räubern, wie zu Kriegern und Herrschern trefflich geeignet. Imponierend ist bei aller schakalhaften Gemeinheit selbst ihr Raubsystem. Diese verlumpten, mit äußerster Armut und beständigem Hunger kämpfenden Tibbu erheben die unverschämtesten Ansprüche in scheinbarem oder wirklichem Glauben an ihr Recht. Das Schakalsrecht, das die Habe des Fremdlings als gemeines Gut betrachtet, ist Schutz gieriger Menschen vor Entbehrung. Die Unsicherheit eines fast beständigen Kriegszustandes kommt hinzu, um dem Leben etwas Forderndes und sogleich auf Erfüllung Dringendes zu geben!"3 Und es ist ebensowenig eine auf Ostafrika beschränkte Erscheinung, wenn es vom abessinischen Soldaten heißt: „So ausstaffiert kommt er daher. Stolz blickt er auf jeden nieder: ihm gehört das Land, für ihn muß der Bauer arbeiten."4

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 178. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 476. Ebenda, S. 453.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

So tief der Junker überall das ökonomische Mittel und seinen Träger, den Bauern, verachtet, so naiv bekennt er sich zum politischen Mittel. Ehrlicher Krieg und „ehrlicher" Raub sind seine Herrengewerbe, sind sein gutes Recht. Sein Recht reicht - gegenüber den nicht demselben Friedenskreise Angehörigen - genau so weit, wie seine Macht. Nirgend wohl findet sich eine kennzeichnendere Lobpreisung des politischen Mittels als in dem bekannten dorischen Tischliede: „Ich habe große Schätze; den Speer, dazu das Schwert; Dazu den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt. Mit ihnen kann ich pflügen, die Ernte fahren ein, Mit ihnen kann ich keltern den süßen Traubenwein, Durch sie trag ich den Namen ,Herr' bei den Knechten mein. Die aber immer wagen, zu führen Speer und Schwert Auch nicht den Schirm des Leibes, den Stierschild altbewährt, Die hegen mir zu Füßen am Boden hingestreckt, Von ihnen, wie von Hunden, wird mir die Hand geleckt; Ich bin ihr Perserkönig - der stolze Name schreckt."1 Spricht sich in diesen übermütigen Strophen der Stolz des kriegerischen Herren aus, so mögen die nachstehenden, nach Werner Sombart zitierten Verse aus einem ganz anderen Kulturgebiete zeigen, daß noch immer der Räuber im Krieger steckte, trotz Christentum, Gottesfriede und heiligem römischen Reich teutscher [sie] Nation. Auch sie preisen das politische Mittel, aber in seiner krassesten Form, dem simplen Raub: „Wiltu dich erneren du junger edelman, folg du miner lere sitz uf, drab zum ban! halt dich zu dem grünen wald wan der bur ins holz fert so renn in freislich an! derwüsch in bi dem kragen erfreuw das herze din nimm im was er habe span uss die pferdelin sin!"2 Sombart fährt fort: „Wenn er es nicht vorzog, auf edleres Wild zu pirschen und den Pfeffersäcken ihre Ladungen abzujagen. Der Raub bildete immer mehr die selbstverständliche Erwerbsart des vornehmen Mannes, dessen Renten allein nicht ausreichten, um den wachsenden Anforderungen an täglichem Aufwand und Luxus zu genügen. Das Freibeutertum galt als durchaus ehrenhafte Beschäftigung, weil es dem Geiste des Rittertums entsprach, daß jedermann das an sich bringe, was der Spitze seines Speeres und der Schärfe seines Schwertes erreichbar war. Bekannt ist, daß der Edle Raubritterei lernte, wie der Schuster die Schusterei. Und im Liede heißt es lustig:

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Kopp, Griechische Staatsaltertümer, Berlin 1893, S. 23. Uhland, Alte hoch- und mitteldeutsche Volkslieder, Bd. I, Stuttgart und Tübingen 1844, S. 339, zitiert nach Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. I, Leipzig 1902, S. 384f.

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,Ruten, roven, det en is gheyn schade dat doynt di besten van dem lande.'"1 Zu diesem Hauptzuge alter Junkerpsychologie tritt als zweites, kaum weniger charakteristisches Kennzeichen oder wenigstens nach außen stark betonte Frömmigkeit. Vielleicht ist nichts bezeichnender für die Fähigkeit, mit der sich unter gleichen gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder dieselben Vorstellungen aufzwingen, als die Tatsache, daß Gott noch heute der Herrenklasse als ihr Spezialstammesgott erscheint, und zwar vorwiegend als Kriegsgott. Das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer aller Menschen, auch der Feinde, und, seit dem Christentum, als dem Gott der Liebe, vermag nichts gegen die Kraft mit der sich die Klasseninteressen ihre zugehörigen Ideologien formen [sie]. Nennen wir noch, um das Bild der Herrenpsychologie zu vervollständigen, die Neigung zum Verschwenden, die sich oft edler als Freigiebigkeit darstellen kann: leicht verständlich bei dem, der „nicht weiß, wie die Arbeit schmeckt", und als schönsten Zug die todverachtende Tapferkeit, erzeugt durch den der Minderheit auferlegten Zwang, in jedem Augenblicke ihre Rechte mit der Waffe zu verteidigen, und begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die den Körper in Jagd, Sport und Fehde auszubilden gestattet; ihr Zerrbild ist die Rauflust und die bis zur Verrücktheit gehende Überspitzung des persönlichen Ehrgefühls. Eine kleine Nebenbemerkung: Cäsar fand die Kelten Galliens gerade in einem Stadium der Entwicklung, in dem das Junkertum zur Herrschaft gelangt war. Seitdem gilt seine klassische Schilderung dieser Klassenpsychologie als Rassenpsychologie des Keltentums; selbst ein Mommsen ließ sich fangen, und nun geht der handgreifliche Irrtum unzerstörbar durch alle Bücher über Weltgeschichte und Soziologie, obgleich ein einziger Blick genügt, um zu zeigen, daß alle Völker aller Rassen im gleichen Stadium der Entwicklung ganz den gleichen Charakter hatten (in Europa Thessaler, Apulier, Campaner, Germanen, Polen usw.), während die Kelten und speziell die Franzosen auf anderen Entwicklungsstadien ganz andere Charakterzüge aufwiesen. Stufenpsychologie, nicht Rassenpsychologie! Auf der anderen Seite entsteht als Gruppentheorie der Unterworfenen überall dort, wo die den „Staat" heiligenden religiösen Vorstellungen schwach sind oder werden, heller oder dunkler die Vorstellung des „Naturrechts". Die Unterklasse hält den Rassen- und Adelsstolz für eine Anmaßung, sich selbst für mindestens so guter Rasse und guten Blutes, und wieder mit vollem Recht, weil für sie Arbeitsamkeit und Ordnung die einzigen Tugenden darstellen. Sie ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie mit ihren Gegnern verbunden sieht, und ist ebenso fest, wie der Adel vom Gegenteil, davon überzeugt, daß die Privilegien der Herrengruppe gegen Recht und Vernunft verstoßen. Auch hier hat alle spätere Entwicklung den ursprünglich gegebenen Bestandteilen keinen wesentlichen Zug beifügen können. Von diesen Gedanken heller oder dunkler geleitet, kämpfen beide Gruppen fortan den Gruppenkampf der Interessen, und der junge Staat müßte unter der Wirkimg dieser zentrifugalen Kräfte auseinanderbersten, wären nicht in der Regel die zentripetalen Kräfte des Gemeininteresses, des Staatsbewußtseins, stärker. Der Druck der Fremden, der gemeinsamen Feinde, von außen überwindet den Druck der widerstreitenden Sonderinteressen, von innen. Man denke an die Sage von der secessio plebis und der erfolgreichen Mission des Menenius Agrippa! Und so würde der junge Staat in alle Ewigkeit, einem Planeten gleich, in der durch das Parallelogramm der Kräfte vorgeschriebenen Bahn kreisen, wenn nicht die Entwicklung ihn selbst und seine Umwelt wandelte, neue äußere und innere Kräfte entfaltete.

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[Uhland, Alte hoch- und mitteldeutsche Volkslieder, Bd. I, Stuttgart und Tübingen 1844, S. 339, zitiert nach Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. I, Leipzig 1902, S. 384f.; A.d.R.]

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d)

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

Der primitive Feudalstaat höherer Stufe

Wichtige Wandlungen bringt schon sein Wachstum mit sich; und wachsen muß der junge Staat. Dieselben Kräfte, die ihn ins Leben gestellt haben, drängen ihn, sich auszudehnen, seinen Machtbezirk zu erweitern. Und wäre selbst ein solcher junger Staat „satt", wie es mancher moderne Großstaat zu sein behauptet: er müßte dennoch sich recken und dehnen, bei Strafe seines Unterganges. Denn in diesen primitiven Gesellschaftszuständen heißt es mit härtestem Nachdruck: „Du mußt steigen oder fallen, siegen oder unterliegen, Hammer oder Amboß sein." Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip, durch das sie geschaffen wurden. Der primitive Staat ist Schöpfung des kriegerischen Raubes: er kann nur durch den kriegerischen Raub erhalten werden. Das ökonomische Bedürfnis der Herrengruppe hat keine Grenzen; der Reiche ist sich niemals reich genug. Das politische Mittel wird gegen andere, noch nicht unterworfene Bauernschaften oder auf neue, noch nicht gebrandschatzte Küstenländer angewendet; der primitive Staat wächst - bis er mit einem anderen, ebenso entstandenen primitiven Staate auf dem Grenzgebiete der beiderseitigen „Interessensphären" zusammenstößt. Jetzt haben wir anstatt des kriegerischen Raubzuges zum ersten Male einen wirklichen Krieg engeren Sinnes, da jetzt gleich organisierte und disziplinierte Massen aufeinandertreffen. Das Endziel des Kampfes ist noch immer dasselbe; das Ergebnis des ökonomischen Mittels der arbeitenden Massen, Beute, Tribut, Steuer, Grundrente: aber der Kampf geht nicht mehr zwischen einer Gruppe, die ausbeuten will, und einer zweiten, die ausgebeutet werden soll, sondern zwischen zwei Herrengruppen um die ganze Beute. Das Endergebnis des Zusammenstoßes ist fast immer die Verschmelzung der beiden Staaten zu einem größeren. Dieser greift natürlich aus den gleichen Ursachen wieder über seine Grenzen, frißt die kleineren Nachbarn und wird vielleicht zuletzt von einem größeren selbst gefressen. Die Knechtsgruppe ist am Ausgange dieser Herrschaftskämpfe wenig interessiert, ob sie der oder der Herrenklasse steuert, ist ihr ziemlich gleichgültig. Um so stärker ist sie am Verlaufe des Kampfes interessiert: denn der wird auf ihrem Rücken ausgefochten, und ihr „Staatsbewußtsein" leitet sie richtig, wenn sie ihrer angestammten Herrengruppe nach Kräften Kriegshilfe leistet - abgesehen von Fällen allzu krasser Mißhandlung und Ausbeutung. Denn wenn ihre Herrengruppe nicht Sieger bleibt, dann trifft alle Vernichtung des Krieges am schwersten die Untertanen. Sie kämpfen also buchstäblich für Weib und Kind, für Herd und Haus, wenn sie dafür kämpfen, keinen fremden Herrn einzutauschen. Dagegen ist die Herrengruppe mit ihrer ganzen Existenz mit dem Ausgange der Herrschaftskämpfe verknüpft. Im schlimmsten Falle droht ihr die völlige Ausrottung (Volksadel der germanischen Stämme im Frankenreich). Fast ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer, muß ihr die Aussicht erscheinen, in die Knechtsgruppe hinabgestoßen zu werden. Zuweilen sichert ihr ein rechtzeitiger Friedensschluß wenigstens die soziale Stellung als Herrengruppe niederen Ranges (Sachsenadel im normannischen England, Suppane im deutschen Slawengebiet) und zuweilen, bei ungefährer Gleichheit der Kräfte, verschmelzen die beiden Herrengruppen zu einem gleichberechtigten, im Konnubialverbande stehenden Adel (einzelne Wendendynasten im slawischen Okkupationsgebiete, albanische und tuskische Geschlechter in Rom). Auf diese Weise kann die herrschende Gruppe des neuen „primitiven Feudalstaates höherer Stufe", wie wir ihn nennen wollen, in eine Reihe mehr oder minder mächtiger und berechtigter Schichten zerfallen, eine Gliederung die noch an Vielfältigkeit gewinnen kann durch die uns bekannte Tatsache, daß häufig bereits im primitiven Feudalstaat die Herrengruppe in zwei ökonomisch und sozial subordinierte Schichten zerfiel, die sich schon im Hirtenstadium ausgebildet hatten: die großen Herden- und Sklavenbesitzer und die kleinen Gemeinfreien. Vielleicht kann man

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die geringere Standesgliederung der von Jägern geschaffenen Staaten der neuen Welt darauf zurückführen, daß sie diese nur bei Herdenbesitz mögliche, Urscheidung der Klassen nicht in den Staat mitbrachten. Wir werden noch zu betrachten haben, mit welcher Kraft diese Unterschiede im Rang und Vermögen der beiden Herrenschichten auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung des altweltlichen Staates einwirken sollten. Ein ganz entsprechender Differenzierungsprozeß spaltet nun, wie die Herrengruppen, so auch die beherrschten Gruppen der „primitiven Feudalstaaten höherer Stufe" in verschiedene mehr oder minder leistungspflichtige und verachtete Schichten. Es sei hier nur an den sehr starken Unterschied in der sozialen und rechtlichen Stellung der bäuerlichen Bevölkerung in den Dorierstaaten Lakedämon und Kreta, und bei den Thessalern erinnert, wo die Periöken ein gutes Besitzrecht und leidliche politische Rechte besaßen, während die Heloten, resp. Penesten fast recht- und besitzlos waren. Eine Zwischenklasse zwischen der Gemeinfreiheit und Hörigkeit fand sich auch im alten Sachsenlande: die Liti. 1 Augenscheinlich haben diese und zahlreiche andere geschichtlich überlieferte Fälle gleicher Art ähnliche Ursachen, wie die oben beim Adel dargestellten: wenn zwei primitive Feudalstaaten verschmelzen, so lagern sich ihre sozialen Schichten in vielfach verschiedener Weise, etwa vergleichbar den Kombinationen, die zwei Häufchen von Spielkarten ergeben können, wenn man sie zusammenmischt. Daß diese mechanische Durchmischung durch politische Kräfte auch an der Entstehung der Kasten, d. h. erblicher Berufsstände, die zugleich eine Hierarchie sozialer Klassen bilden, beteiligt ist, ist sicher. „Kasten sind häufig, wenn nicht immer die Folgeerscheinung der Eroberung und Unterjochung durch Fremde."2 Aber, soweit dieses noch nicht völlig aufgehellte Problem sich bisher überschauen läßt, haben ökonomische und religiöse Einflüsse sehr stark mitgewirkt. Man wird sich die Entstehung der Kasten etwa so vorstellen dürfen, daß vorhandene ökonomische Berufsgliederungen von den staatsbildenden Kräften durchdrungen und angepaßt wurden und dann unter der Wirkung religiöser Vorstellungen erstarrten, die übrigens auch an ihrer Entstehimg ihren Anteil gehabt haben mögen. Darauf deutet wenigstens die Tatsache, daß schon zwischen Mann und Weib sozusagen tabuierte unüberschreitbare Berufssonderungen vorkommen: während ζ. B. bei allen Jägern der Ackerbau der Frau zufällt, übernimmt ihn bei vielen afrikanischen Hirten der Mann von dem Augenblick an, wo der Ochsenpflug zur Anwendung kommt: das Weib darf, ohne zu freveln, das Herdentier nicht gebrauchen.3 Derartige religiöse Vorstellungen werden überall da, wo stammoder dorfweise ein bestimmtes Gewerbe betrieben wurde - und das ist bei den Naturvölkern überall häufig, wo ein Handel leicht möglich ist, namentlich bei Inselvölkern - darauf hingewirkt haben, den Beruf erblich, und zwar zwangserblich zu machen. Wurde dann ein Stamm, der solche erbliche Berufsgruppen enthielt, von anderen Stämmen unterworfen, so bildeten sie in dem neuen Staatswesen eine echte „Kaste", deren soziale Stellung teils von der Achtung abhing, die sie schon vorher unter den ihren genossen hatten, teils von der Schätzung, die ihr Beruf bei dem neuen Herrn fand. Schob sich etwa noch, wie so häufig der Fall, Erobererwelle über Welle, so konnte die Bildung der Kasten sich vervielfältigen, namentlich, wenn inzwischen die ökonomische Entwicklung zahlreiche Berufsstände entwickelt hatte. Am besten wird sich diese Entwicklung voraussichtlich an der Gruppe der Schmiede verfolgen lassen, die fast überall eine eigene, halb gefürchtete, halb verachtete Stellung einnehmen. Schmiedekundige Völker finden sich namentlich in Afrika seit Urzeiten im Gefolge und in Abhängigkeit namentlich von den Hirten. Schon die Hyksos brachten solche Stämme mit ins Nilland und dank-

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Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I, Leipzig 1879, S. 59. Westermarck, History fo human marriage, London 1891, S. 368. Entsprechend gibt es auch (nordasiatische Jägerstämme), wo es den Weibern streng verboten ist, das Jagdgerät zu berühren oder eine Spur zu kreuzen. (Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 650.)

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

ten vielleicht den von ihnen gefertigten Waffen ihren entscheidenden Sieg; und bis vor kurzem hielten die Dinka die eisenkundigen Djur in einer Art von Untertänigkeitsverhältnis. Dasselbe gilt u. a. von den Sahara-Nomaden, und auch aus unseren nordischen Sagen klingt noch der alte Stammesgegensatz zu den „Zwergen" und die Furcht vor ihrer Zauberkraft. Hier waren die Elemente zu einer schroffen Kastenbildung im entfalteten Staat sämtlich gegeben.1 Die Mitwirkung religiöser Vorstellungen bei der Entstehung dieser Bildungen läßt sich an einem Beispiel aus Polynesien gut aufzeigen: „[Hier] steht der Schiffbau, obgleich viele Eingeborene dazu fähig sind, nur einer privilegierten Klasse zu: so eng war das Interesse der Staaten und Gesellschaften mit dieser Kunst verbunden! Nicht nur früher in Polynesien, auf Fidschi bilden noch heute die fast nur Schiffbau treibenden Zimmerleute eine besondere Kaste, führen den hochklingenden Titel ,des Königs Handwerker' und haben das Vorrecht eigener Häuptlinge. (...) Alles geschieht nach altem Herkommen; das Legen des Kieles; die Fertigstellung des Ganzen, der Stapellauf findet unter religiösen Zeremonien und Festen statt."2 Wo die Superstition stark entwickelt ist, kann sich auf solchen, teils wirtschaftlichen, teils ethnischen Grundlagen leicht ein echtes Kastensystem ausbilden; so ist ζ. B. in Polynesien schon die Klassengliederung durch die Anwendung des Tabu einem „schroffest durchgeführten Kastensystem" 3 sehr ähnlich geworden. Ähnlich in Südarabien.4 Welche Bedeutung die Religion für Entstehung und Erhaltung der Kastensonderung in Ägypten hatte und in Indien noch heute hat, ist zu bekannt, als daß es näherer Ausführungen bedürfte.5 Das sind die Elemente des primitiven Feudalstaates höherer Stufe. Sie sind vielfältiger und zahlreicher als im niederen primitiven Staate, aber Recht, Verfassung und volkswirtschaftliche Verteilung sind grundsätzlich die gleichen, wie dort. Das Ergebnis des ökonomischen Mittels ist noch immer das Ziel des Gruppenkampfes, der nach wie vor das Movens der inneren Politik des Staates ist, und das politische Mittel ist ebenfalls nach wie vor das Movens der äußeren Staatspolitik in Angriff und Abwehr. Und immer noch rechtfertigen sich oben und unten Ziele und Mittel der äußeren und inneren Kämpfe durch die gleichen Gruppentheorien. Aber die Entwicklung kann nicht stillstehen. Wachstum ist mehr als nur Massen-Vergrößerung: Wachstum bedeutet auch immer steigende Differenzierung und Integrierung. Je weiter der primitive Feudalstaat seinen Machtbezirk erstreckt, je zahlreicher die von ihm beherrschten Untertanen werden, und je dichter sie siedeln, um so mehr entfaltet sich die volkswirtschaftliche Arbeitsteilung und ruft immer neue Bedürfnisse und ihre Befriedigungsmittel hervor; und um so mehr verschärfen sich die Unterschiede der ökonomischen (und damit der sozialen) Klassenlage nach dem „Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne", wie ich es genannt habe. Diese wachsende Differenzierung wird entscheidend für die Weiterentwicklung und namentlich den Ausgang des primitiven Feudalstaates. Nicht von einem Ausgang im mechanischen Sinne soll hier die Rede sein, also weder vom Staatentod, der einen primitiven Feudalstaat höherer Stufe im Zusammenstoß mit einem stärkeren Staat gleicher oder höherer Entwicklungsstufe verschwinden läßt, wie ζ. B. die Mogulenstaaten Indiens oder Uganda im Kampf mit Großbritannien; auch nicht von der Versumpfung in die beispielsweise

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Vgl. Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 81. Ebenda, S. 156. Ebenda, S. 259f. Ebenda, Bd. II, S. 434. Im übrigen scheint es nach Ratzel (Völkerkunde, Bd. II, S. 596) mit der Starrheit des indischen Kastenwesens nicht gar so arg zu sein. Die Zunft scheint ebenso oft die Grenzen der Kaste zu überschreiten, wie umgekehrt.

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Persien und die Türkei verfallen sind, und die ja augenscheinlich nur eine Pause der Entwicklung darstellt, da diese Länder entweder aus eigenen Kräften oder durch erobernde Gewalt bald wieder weitergestoßen werden müssen; auch nicht von der Erstarrung ζ. B. des riesigen chinesischen Reiches, die gleichfalls nur so lange dauern konnte, als nicht mächtigere Fremdvölker mit dem Schwerte an die geheimnisvollen Pforten klopften. 1 Sondern hier soll von den Ausgängen im Sinne einer Weiterentwicklung des primitiven Feudalstaates die Rede sein, die für die Gesamtauffassung der Weltgeschichte als eines Prozesses von Bedeutung sind. Solcher Ausgänge gibt es, wenn wir nur die Hauptlinien der Entwicklung ins Auge fassen, zwei grundsätzlich verschiedene, und zwar ist diese polare Gegensätzlichkeit bedingt durch die polare Gegensätzlichkeit der ökonomischen Machtmittel, an denen sich das „Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne" bestätigt. Hier ist es der mobile, dort der immobile Reichtum, hier das Handelskapital, dort das Grundeigentum, das sich in immer weniger Händen anhäuft und dadurch die Klassengliederung und mit ihr das ganze Staatswesen grundstürzend umwälzt. Der Träger der ersten Entwicklung ist der Seestaat, der der zweiten der Landstaat. Der Ausgang der ersten ist die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der Ausgang der zweiten zunächst der entfaltete Feudalstaat. Die kapitalistische Sklavenwirtschaft, der typische Ausgang der sogenannten „antiken", der mittelländischen Staaten endet - nicht in Staatentod, was nichts bedeutet - , sondern in Völkertod durch Völkerschwund. Sie bildet daher am entwicklungsgeschichtlichen Stammbaum des Staates einen Nebenast, von dem keine weitere unmittelbare Fortbildung ausgehen kann. Dagegen stellt der entfaltete Feudalstaat den Hauptast, die Fortsetzung des Stammes und daher den Ursprung der weiteren Entwicklung des Staates dar, die von da zum Ständestaat, zum Absolutismus und zum modernen Verfassungsstaat schon geführt hat und, wenn wir recht sehen, zur „Freibürgerschaft" weiterführen wird. Solange der Stamm nur in einer Richtung wuchs, d. h. bis einschließlich des primitiven Feudalstaates höherer Stufe, konnte auch unsere genetische Darstellung einheitlich vorgehen. Von jetzt an, wo der Stamm sich gabelt, muß auch unsere Darstellung sich gabeln, um jedem der Äste bis in seine letzte Verzweigung zu folgen. Wir beginnen mit der Entwicklungsgeschichte der Seestaaten. Nicht weil sie die ältere Form wären! Im Gegenteil, soweit wir, durch den Nebel der Geschichtsanfänge hindurchschauen können, haben sich die ersten starken Staatsbildungen in Landstaaten vollzogen, die aus eigenen Kräften die Stufe des entfalteten Feudalstaates erstiegen haben. Aber darüber hinaus sind wenigstens die uns Europäer am meisten interessierenden Staaten nicht gelangt, sondern sind stehengeblieben oder den Seestaaten erlegen und, mit dem tödlichen Gift der kapitalistischen Sklavenwirtschaft infiziert, gleich ihnen zugrunde gegangen. Die weitere Emporentwicklung des entfalteten Feudalstaates zu höheren Stufen konnte erst erfolgen, nachdem die Seestaaten ihren Lebensgang vollendet hatten: mächtige Herrschaftsformen und Gedanken, die hier erwachsen waren, haben die Ausgestaltung der auf ihren Trümmern entstandenen Landstaaten gewaltig beeinflußt und gefördert. Darum gebührt der Darstellung des Schicksals der Seestaaten als der Vorbedingung der höheren Staatsformen der Vorrang. Wir werden erst dem Nebenaste nachgehen, um dann zu seinem Ausgangspunkte, dem primitiven Feudalstaate, zurückzukehren und den Hauptstamm bis zur Entwicklung des modernen Verfassungsstaates, und, vorschauend, zur Freibürgerschaft der Zukunft zu verfolgen. 1

China wäre übrigens einer genaueren Besprechung wohl wert, da es sich in mancher Beziehung der „Freibürgerschaft" schon viel mehr genähert hat als die westeuropäischen Völker. Es hat den Feudalstaat viel mehr überwunden als wir, hat das Großgrundeigentum früh genug unschädlich gemacht, so daß sein Bastard, der Kapitalismus, kaum zur Entstehung kam, und hat das Problem der genossenschaftlichen Produktion und Verteilung sehr weit geführt. Hier fehlt mir leider der Raum zur näheren Ausführung dieser uns fremdartigen Entwicklung eines Feudalstaates.

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III. Der Seestaat Der Lebens- und Leidensweg des von den Seenomaden begründeten Staates ist, wie oben gesagt, bestimmt durch das Handelskapital, so wie der Weg des Landstaates durch das Bodenkapital, und, fügen wir hinzu, der des modernen Verfassungsstaates durch das Produktivkapital. Aber der Seenomade hat Handel und Kaufmannschaft, Messen, Märkte und Städte nicht erfunden, sondern vorgefunden und nur seinen Interessen gemäß ausgestattet. All das war im Dienste des ökonomischen Mittels des äquivalenten Tausches, längst ausgebildet. Zum erstenmal in unserer Betrachtung stoßen wir hier auf das ökonomische Mittel nicht als Ausbeutungsobjekt des politischen Mittels, sondern als mitschaffendes Subjekt bei der Entstehung des Staates, als die Kette sozusagen, die in den vom Feudalstaate geschaffenen Aufzug eingeht, um mit ihm ein reicher gewirktes Gebilde zu weben. Die Genesis des Seestaates würde nicht zur vollen Klarheit gelangen, wenn wir ihr nicht die Entwicklung des vorstaatlichen Marktverkehrs vorausschickten. Und es ist unmöglich, dem modernen Staat die Prognose zu stellen, wenn man nicht die Bildungen kennt, die das ökonomische Mittel im Tauschverkehr selbständig geschaffen hat.

a)

Der vorstaatliche Handel

Die psychologische Erklärung des Tausches hat uns die Grenznutzentheorie gegeben: ihr größtes Verdienst. Danach wird die subjektive Wertschätzung eines wirtschaftlichen Gutes um so geringer, je mehr von derselben Art sich im Besitz desselben Wirtschaftssubjektes befinden. Kommt dieses mit einem anderen Wirtschaftssubjekt zusammen, das eine Anzahl ebenfalls gleichartiger, aber von denen des ersten verschiedener, Güter besitzt, so werden sie gern tauschen - wenn die Anwendung des politischen Mittels sich verbietet, d. h. bei augenscheinlich gleicher Kraft und Bewaffnung oder, auf der allerfrühesten Stufe, innerhalb des Blutfriedenskreises. Beim Tausch erhält jeder ein Gut von sehr hohem subjektiven Wert gegen ein Gut von sehr geringem subjektiven Wert, beide gewinnen also. Der Wunsch des Primitiven, zu tauschen, muß bei seiner kinderhaften Art, die das Besessene wenig achtet, das dem Fremden eigene aber mit heißer Leidenschaft begehrt und von rechnenden wirtschaftlichen Erwägungen kaum erheblich beeinflußt wird, naturgemäß noch viel stärkere Wirkungen auf ihn ausüben, als auf uns. Im übrigen soll nicht verschwiegen werden, daß es eine Anzahl von Naturvölkern geben soll, die für den Tausch nicht das mindeste Verständnis haben. „Cook erzählt, daß es in Polynesien Völkerschaften gab, mit denen kein Verkehr angebahnt werden konnte, denn Geschenke machten nicht den geringsten Eindruck auf sie und wurden später weggeworfen; alles, was, man ihnen vorzeigte, betrachteten sie mit Gleichgültigkeit, sie begehrten nicht das Geringste davon, und von ihren eigenen Sachen wollten sie, als Entgelt nichts überlassen - kurz, sie hatten nicht den geringsten Begriff davon, was Handel und Tausch ist." 1 Auch Westermarck ist der Meinung, daß „Tausch und Handel verhältnismäßig späte Erfindungen sind". Gegen Peschel, der den Menschen schon auf seiner allerfrühesten uns zugänglichen Stufe tauschen läßt, bemerkt er, wir hätten keinen Beweis dafür, „daß die Höhlenbewohner von Perigord

1

Bei Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalzinses, S. 317, folgen weitere Beispiele.

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aus der Rentierperiode den Bergkristall, die atlantischen Muscheln und die Hörner der polnischen Saiga-Antilope auf dem Wege des Tausches erhalten haben" 1 . Trotz jener Ausnahmen, die auch andere Erklärungen zulassen mögen (vielleicht fürchteten die Eingeborenen Zauberei), beweist doch die Völkerkunde, daß die Lust zu Tausch und Handel eine allgemein menschliche Eigenschaft ist: kann sich dieser Trieb erst betätigen, wenn beim Zusammentreffen mit Freunden neue lockende Güter in den Gesichtskreis des Urmenschen treten; denn im Kreise der eigenen Blutsverwandten hat jeder dieselben Arten von Gütern und, bei dem naturwüchsigen Kommunismus, auch im Durchschnitt dieselbe Menge. Bei dem Zusammentreffen mit Fremden aber kann es zu gelegentlichem Tausch, der der Anfang alles regelmäßigen Handels sein muß, nur dann kommen, wenn dieses Zusammentreffen friedlich ist. Ist denn nun solches friedliche Zusammentreffen mit Fremden möglich? Steht nicht das ganze Leben der Urmenschen - wir sprechen hier von den Anfängen des Tausch Verkehrs! - unter dem Zeichen: „homo homini lupus"? In der Tat ist auch der Handel auf den höheren Stufen in der Regel von dem „politischen Mittel" stark beeinflußt. „Der Handel folgt im allgemeinen dem Raube." Aber seine ersten Anfänge sind doch vorwiegend dem ökonomischen Mittel zu danken, sind Ergebnis nicht des Kriegs-, sondern des Friedensverkehrs. Die internationalen Beziehungen der primitiven Jäger untereinander dürfen nicht mit denen der Jäger und Hirten zu Hackbauern oder der Hirten untereinander auf eine Stufe gestellt werden. Wohl gibt es Fehden aus Blutrache oder wegen Weiberraubes oder wohl auch wegen Grenzverletzung der Jagdgebiete: aber ihnen fehlt jener Stachel, der nur aus der Habgier wächst, aus dem Wunsch, fremde Arbeitserzeugnisse zu rauben. Darum sind die „Kriege" der primitiven Jäger in der Regel weniger wirklicher Krieg als Raufereien und Einzelkämpfe, die häufig genug sogar, unseren deutschen Studenten-Mensuren nicht unähnlich, nach einem bestimmten Zeremoniell und nur bis zu einem leichteren Grade der Kampfunfähigkeit, sozusagen „auf einen Blutigen" gehen.2 Diese an Kopfzahl sehr schwachen Stämme hüten sich mit Recht, mehr Opfer zu bringen als - ζ. B. im Falle der Blutrache - unerläßlich, und vor allem davor, neue Blutrache herauszufordern. So sind denn auch unter diesen Stämmen und ebenso unter den primitiven Hackbauern, bei denen gleichfalls der Stachel des politischen Mittels fehlt, die friedlichen Beziehungen zu den Nachbarn gleicher Wirtschaftsstufe ungleich stärker als unter den Hirten. Wir kennen eine ganze Anzahl von Fällen, wo sie zur gemeinsamen Ausbeutung von Naturschätzen friedlich zusammenkommen. „Schon auf primitiven Kulturstufen sammeln sich größere Bevölkerungen zeitweilig an Stellen, wo nützliche Dinge in größeren Mengen vorkommen. Die Indianer eines großen Teiles von Amerika wallfahrten nach den Pfeifensteinlagern, andere versammeln sich alljährlich zur Ernte bei den Zizaniasümpfen der nordwestlichen Seen; die so zerstreut lebenden Australier des Barkugebietes kommen von allen Seiten zu Erntefesten bei den Sumpfbeeten körnertragender Marsiliaceen."3

1

Westermarck, History of human marriage, London 1891, S. 400. Auch hier ist eine Anzahl ethnographischer Beispiele gegeben.

2

Vgl. Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 318, 540.

3

Ebenda, S. 106.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

„Wenn der Bunga-Bunga-Baum in Queensland seine mehlige Frucht reichlich trägt, ist der Vorrat größer, als der Stamm verbrauchen kann, und fremden Stämmen wird gestattet, davon mitzuessen." 1 „Mehrere Stämme einigen sich über den gemeinsamen Besitz bestimmter Striche, auch über den an Phonolithbrüchen für die Beile." 2 Wir hören auch von gemeinsamen Beratungen und Gerichtssitzungen der Altesten mehrerer australischer Stämme, bei denen die ganze übrige Bevölkerung die Korona, den „Umstand" der germanischen Thingordnung [sie] bildet. 3 Es ist nur natürlich, daß sich bei solchen Zusammenkünften ein Tauschverkehr einstellt, und vielleicht sind die „Wochenmärkte, die von den Negervölkern Zentralafrikas mitten im Urwald unter besonderem Friedensschutz abgehalten werden, 4 derart entstanden, und ebenso die großen Messen der Polarjäger, der Tschuktschen usw., die uralt sein sollen. Alle diese Dinge setzen die Ausbildung friedlicher Verkehrsformen zwischen benachbarten Gruppen voraus. Und solche Formen finden wir denn auch fast überall. Sie konnten auf der hier betrachteten Stufe leicht entstehen; dennoch ist die Entdeckung nicht gemacht, daß der Mensch als Arbeitsmotor dienen kann, und darum wird der Blutsfremde nur „in dubio" als Feind betrachtet. Kommt er in augenscheinlich friedlicher Absicht, so wird er auch friedlich empfangen. Und es hat sich ein ganzer Kodex von völkerrechtlichen Zeremonien herausgebildet, die dazu bestimmt sind, die Friedfertigkeit des Ankömmlings zu erweisen. 5 Man stellt die Waffen fort und zeigt die wehrlose Hand; man sendet Parlamentäre voran, die überall unverletzlich sind.6 Es ist klar, daß diese Formen eine Art von Gastrecht darstellen, und in der Tat wird der friedliche Handel durch das Gastrecht erst ermöglicht, und der Austausch von Gastgeschenken scheint den eigentlichen Tauschhandel einzuleiten. Aus welchen seelischen Wurzeln wächst nun das Gastrecht? Nach Westermarck in seinem soeben erschienenen monumentalen Werke: „Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe" 7 beruht die Sitte der Gastfreundschaft außer auf der Neugier, die von dem weither Kommenden Nachrichten zu empfangen hofft, vor allem auch auf der Furcht vor etwaigen Zauberkräften des Fremden, die ihm eben als Fremden zugetraut werden. 8 (Noch in der Bibel wird die Gastfreundschaft mit der Begründung empfohlen, daß man nie wissen könne, ob der Fremde nicht ein Engel sei.) Das abergläubische Geschlecht fürchtet seinen Fluch (die Erinnys der Griechen) und beeilt sich, ihn günstig zu stimmen. Ist er als Gast aufgenommen, so ist er unverletz-

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 335. Ebenda, S. 346. Ebenda, S. 347. Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1898, S. 301. Dahin gehört auch der heute noch hier und da gebräuchliche Gruß: Friede sei mit dir! Es ist bezeichnend f ü r die Verblendung des alt gewordenen Tolstoi, daß er dieses charakteristische Kennzeichen eines grundsätzlichen Kriegszustandes als den Rest eines goldenen Zeitalters des Friedens ansieht. (Tolstoi, Die Bedeutung der russischen Revolution, [ohne Ort und Jahr], deutsch von A . Heß, S. 17.)

6

Vgl. Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 271, von den Ozeaniern: „Der Verkehr von Stamm zu Stamm ist unverletzlichen Herolden übertragen, mit Vorliebe alten Weibern. Diese vermitteln auch den Handel im Tauschverkehr." Vgl. auch S. 317 für Australier. Ins Deutsche übersetzt von L. Katscher, Leipzig 1907. Daher vielleicht die beliebte Verwendung alter Weiber zu Heroldsdiensten. Sie haben den doppelten Vorzug, vom Standpunkte des Krieges aus ungefährlich zu sein und im Rufe besonderer Zauberkraft zu stehen (Westermarck), noch mehr als alte Männer, die man auch vorsichtig behandelt, weil sie bald „Geister" sein werden.

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lieh und genießt das Friedensrecht der Blutsgruppe mit, als deren Angehöriger er während seines Aufenthaltes gilt; und so ergreift ihn auch der urwüchsige Kommunismus, der hier herrscht. Der Wirt fordert und erhält, was ihm ansteht, und gibt dafür dem Gast, was er begehrt. Wird der friedliche Verkehr häufiger, so kann sich aus dem gegenseitigen Gastgeschenk allmählich ein Handel entwickeln, weil der Kaufmann gern dorthin zurückkehrt, wo er gute Aufnahme und vorteilhaften Tausch fand und wo er das Gastrecht schon besitzt, das er anderwärts erst, vielleicht unter Lebensgefahr, erwerben muß. Voraussetzung für die Ausbildung eines regelmäßigen Warenhandels ist natürlich die Existenz einer „internationalen" Arbeitsteilung. Und solche besteht auch früher und in größerer Ausdehnung, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. „Es ist ganz falsch, anzunehmen, daß die Arbeitsteilung erst auf einer höheren Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung eintrete. Innerafrika hat seine Dörfer von Eisenschmieden, ja von solchen, die nur Wurfmesser anfertigen; Neuguinea seine Töpferdörfer, Nordamerika seine Pfeilspitzenverfertiger."1 Aus solchen Spezialitäten entwikkelt sich ein Handel, sei es durch hausierende Kaufleute, sei es durch Gastgeschenke oder Friedensgeschenke von Volk zu Volk. In Nordamerika handeln die Kaddu mit Bögen; „Obsidian ward überall zu Pfeilspitzen und Messern verwandt: am Yellowstone, am Snake River, in Newmexiko, vor allem aber in Mexiko. Dann verbreitete sich der kostbare Stoff über das ganze Land bis nach Ohio und Tennessee: ein Weg von fast 3.000 km." 2 Entsprechend berichtet Vierkandt: „Aus der geschlossenen Hauswirtschaft der Naturvölker ergibt sich eine von den modernen Verhältnissen völlig abweichende Art des Handels bei ihnen (...). Jeder einzelne Stamm hat gewisse besondere Fertigkeiten entwickelt, die zu einem Austausche Anlaß geben. Selbst bei den verhältnismäßig tiefstehenden Indianerstämmen Südamerikas finden wir bereits derartige Verschiedenheiten (...). Durch einen derartigen Handel können Produkte außerordentlich weit verbreitet werden, aber nicht auf direktem Wege durch gewerbsmäßige Händler, sondern durch allmähliche Verbreitung von einem Stamm zum andern. Der Ursprung eines solchen Handels ist, wie Bücher ausgeführt hat, auf den Austausch von Gastgeschenken zurückzuführen."3 Außer aus den Gastgeschenken kann sich ein Handel aus den Friedensgeschenken entwickeln, die sich die Gegner nach einem Zusammenstoß als Zeichen der Versöhnung überreichen. „Waren Völker", so berichtet Sartorius über Polynesien, „von verschiedenen Inseln aufeinandergestoßen, so konnten die Friedensgaben für jeden etwas Neues sein, und wenn dann Geschenk und Gegengeschenk beiden gefielen, so wiederholte man dieselben und war auch hier bei dem Gütertausch angelangt. Aber im Gegensatz zu den Gastgeschenken war hier die Voraussetzung eines dauernden Verkehrs gegeben. Es hatte nicht die Berührung von Individuen, sondern von Stämmen, von Völkern stattgefunden. Dabei sind die Frauen das erste Objekt des Austausches: sie bilden das Bindeglied zwischen den fremden Stämmen und zwar werden sie - wie viele Quellen beweisen - gegen Vieh ausgetauscht."4 Wir stoßen hier auf ein Objekt des Austausches, das auch ohne „internationale Arbeitsteilung" tauschbar ist. Und es scheint sogar, als wenn vielfach der Frauentausch dem Gütertausch die Wege geebnet habe, als wenn er der erste Schritt zur friedlichen Integration der Völker gewesen sei, die neben der kriegerischen durch die Staatsbildung einhergeht.

1

Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 81.

2

Ebenda, S. 478f.

3

Vierkandt, Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Naturvölker, S. 177f.

4

Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalztnses, S. 320f.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

Lippert 1 glaubt freilich, noch älter sei der friedliche Feuertausch. Da er aber die gewiß sehr alte Sitte nur aus Kult- und Rechts-Rudimenten erschließen kann, während sie unserer unmittelbaren Beobachtung nicht mehr zugänglich ist, wollen wir hier davon absehen. Dagegen ist der Frauentausch eine überall beobachtete Erscheinung, und zweifellos muß man ihm eine außerordentlich starke Einwirkung auf die Ausgestaltung des friedlichen Verkehrs zwischen benachbarten Stämmen und die Vorbereitung des Gütertausches beimessen. Die Sage von den Sabinerinnen, die sich zwischen ihre zum Kampf antretenden Brüder und Gatten warfen, muß im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechtes tausendfach Wahrheit gewesen sein. Uberall fast gilt die Verwandtenehe als Frevel, als „Blutschande", aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen können; 2 ζ. B. überall richtet sich der Geschlechtstrieb auf die Frauen der Nachbarn, und ist der Weiberraub ein Teil der ersten intertribalen Beziehungen; und fast überall, wo nicht starke Rassengefühle entgegenwirken, wird der Raub allmählich durch Tausch und Kauf abgelöst: ist doch die eigene Blutsverwandte dem Mann als Substrat des Geschlechtsverkehrs von ebenso geringem subjektiven Wert wie die Fremde von hohem! Die so geknüpften Beziehungen werden nun, wenn Arbeitsteilung überhaupt den Gütertausch ermöglichte, diesem nutzbar gemacht; die exogamischen Gruppen treten in ein im regelmäßigen Verlauf friedliches Verhältnis ein. Der Friede, der die Blutsverwandtschaftshorde umhegt, erstreckt sich fortan über einen weiteren Kreis. Ein einziges Beispiel aus unzähligen: „Jeder der beiden Kamerunstämme hat seine eigenen ,bush countries', Ortschaften, mit denen seine Leute Handel treiben, und wo sie durch gegenseitige Verheiratungen Verwandtschaft besitzen. So wird die Exogamie auch hier völkerverbindend." 3 Das sind die Hauptlinien der Entfaltung des friedlichen TauschVerkehrs: aus dem Gastrecht und dem Frauentausch, vielleicht auch dem Feuertausch, zum Gütertausch. Fügen wir noch hinzu, daß die Märkte und Messen, vielfach auch die Händler, wie wir schon mehrfach anmerkten, sehr oft, fast regelmäßig als unter dem Schutze einer den Frieden schützenden und den Friedensbruch rächenden Gottheit stehend betrachtet werden, und wir haben die Grundzüge dieser überaus wichtigen, soziologischen Erscheinung bis zu dem Punkte geführt, wo das politische Mittel störend, umformend, weiterführend in die Schöpfungen des ökonomischen Mittels eingreift.

b)

Der Handel und der primitive Staat

Der Räuberkrieger hat zwei wichtige Gründe, solche Märkte und Messen, die er in seinem mit dem Schwerte erworbenen Einflußgebiete vorfindet, pfleglich zu behandeln. Der eine, außerwirtschaftliche, ist der, daß auch er die abergläubische Furcht vor der den Friedensbruch rächenden Gottheit empfindet. Der andere, wirtschaftliche, und wahrscheinlich mächtigere ist der - ich glaube, hier zum erstenmal auf diesen Zusammenhang hinzuweisen - , daß er selbst des Marktes nicht wohl entraten kann. Seine Beute enthält auf primitiver Stufe viele Güter, die sich für seinen unmittelbaren Verzehr und Gebrauch nicht eignen. Er hat Güter nur von wenigen Arten, von diesen aber so viele Exemplare, daß der „Grenznutzen" jedes einzelnen für ihn sehr gering ist. Das gilt vor allem für den wichtigsten Erwerb des politischen Mittels, für die Sklaven. U m zunächst vom Hirten zu sprechen,

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Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 1, S. 266ff. Vgl. Westermarck, History of human marriage, London 1891. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 27.

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so ist sein Sklavenbedarf durch die Größe seiner Herde begrenzt: er ist durchaus geneigt, den Überschuß gegen andere Güter einzutauschen, die für ihn von Wert sind: Salz, Schmuck, Waffen, Metalle, Webestoffe, Geräte usw. Darum ist der Hirt nicht nur immer auch Räuber, sondern immer auch Kaufmann, Händler, und schützt den Handel. Er schützt den Handel, der zu ihm kommt, um ihm seine Beute gegen Güter eines fremden Kulturkreises abzutauschen; von jeher haben die Nomaden die ihre Steppen oder Wüsten durchziehenden Karawanen gegen Schutzgeld geleitet; und er schützt den Handel auch an den schon vor der Staatsentstehung von ihm eingenommenen Plätzen. Ganz die gleichen Erwägungen, die den Hirten dazu brachten, vom Bären- zum Imkerstadium überzugehen, müssen ihn veranlaßt haben, alte Märkte und Messen zu erhalten und zu schützen. Eine einmalige Plünderung heißt auch hier die Henne töten, die die goldenen Eier legt; viel vorteilhafter ist es, den Markt zu erhalten, seinen Frieden eher noch zu befestigen; und außer dem Vorteil des Eintausches fremder Güter gegen Beute auch noch das Schutzgeld, die Herrensteuer, zu empfangen. Daher haben überall die Fürsten des Feudalstaates aller Stufen die Märkte, Straßen und Kaufleute unter ihren besonderen Schutz und „Königsfrieden" genommen, oft genug sogar sich das Monopol des Fremdhandels vorbehalten. Wir sehen sie ebenfalls überall eifrig beschäftigt, durch Verleihung von Schutz und Rechten neue Märkte und Städte ins Leben zu rufen. Dieses Interesse am Marktwesen läßt es auch durchaus glaublich erscheinen, daß Hirtenstämme vorhandene Märkte ihres Einflußgebietes so weit respektierten, daß sie ihnen mit jeder Betätigung des politischen Mittels völlig fernblieben, nicht einmal die „Herrschaft" über sie einrichteten. Was Herodot erstaunt von dem geweihten Markte der Argippäer im gesetzlosen Lande der skythischen Hirten berichtet, daß ihre waffenlosen Einwohner wirksam durch den heiligen Frieden ihrer Marktstätte geschützt waren, ist an sich wohl glaublich und wird durch manche ähnliche Erscheinung noch glaublicher: „Kein Mensch tut diesen ein Leid an, denn sie gelten für heilig; auch haben sie gar keine kriegerischen Waffen; dabei sind sie es, welche die Streitigkeiten der Nachbarn schlichten, und wer zu ihnen als Flüchtling entkommen ist, dem tut niemand etwas zu leide."1 Ahnliches findet sich häufig: „Das alles ist immer wieder die selbe Argippäergeschichte, die Geschichte von den .heiligen', .gerechten', .waffenlosen' handeltreibenden und streitschlichtenden Stämmchen inmitten einer beduinenhaft nomadischen Bevölkerung."2 Als ein Beispiel viel höherer Stufe sei Cäre genannt, dessen Einwohner nach Strabon „bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit viel galten, und weil sie, so mächtig sie waren, des Raubes sich enthielten". Mommsen, der die Stelle anführt, fügt hinzu: „Nicht der Seeaub ist gemeint, den der chäritische Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird, sondern Cäre war eine Art von Freihafen für die Phönizier wie für die Griechen."3 Cäre ist nicht, wie der Markt der Argippäer, ein Markt des Binnenlandes im Landnomadengebiet, sondern ein befriedeter Hafen im Seenomadengebiet. Wir stoßen hier auf eine der typischen Bildungen, die in ihrer Bedeutung m. E. bisher nicht nach Gebühr eingeschätzt sind. Sie haben, wie mir scheint, auf die Entstehung der Seestaaten einen mächtigen Einfluß ausgeübt. 1 2 3

Herodot IV, 23; zitiert nach Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. I, S. 459. Lippert, Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. II, S. 170. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. I, Berlin 1874, S. 139.

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und

Demokratie

Die inneren Gründe nämlich, aus denen wir die Landnomaden zum Handel und, wenn nicht zur Marktgründung, so doch zur Marktschonung kommen sahen, mußten mit noch vermehrter Kraft die Seenomaden zu dem gleichen Verhalten zwingen. Denn der Transport der Beute, namentlich Herden und Sklaven, der auf den Wüsten und Steppenpfaden schwierig und - wegen der Langsamkeit der Fortbewegung, die eine Verfolgung erleichtert - auch gefährlich ist, ist im Kriegskanoe und „Drachen" leicht und gefahrlos. Darum ist der Wiking in noch ganz anderem Grade Kaufmann und Marktbesucher als der Hirt. „Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen", heißt es im „Faust".

c)

Die Entstehung des Seestaates

Auf diesen Handel mit der Beute des Seehandels ist, glaube ich, in vielen Fällen die Entstehung derjenigen Städte zurückzuführen, um die als ihre politischen Vororte sich die Stadtstaaten der „alten Geschichte", d. h. der mittelländischen Kultur, auswuchsen; in sehr vielen anderen Fällen hat der gleiche Handel mitgewirkt, um sie zum gleichen Ziel der politischen Ausgestaltung zu führen. Man wird die Entstehung dieser Markthäfen im allgemeinen auf zwei Typen zurückführen können: sie erwuchsen entweder als Seeräuberburgen unmittelbar durch feindliche Festsetzung an einer fremden Küste oder als „Kaufmannskolonien", die aufgrund friedlichen Vertrages in Häfen fremder primitiver oder entfalteter Feudalstaaten zugelassen waren. Für den ersten Typus, der dem vierten Stadium unseres Schemas genau entspricht, für die Festsetzung einer bewaffneten Piratenkolonie also an einem kommerziell günstigen und strategisch verteidigungsfähigen Punkt der Küste in fremdem Gebiet, haben wir eine Anzahl wichtiger Beispiele aus der antiken Geschichte. Das bedeutsamste ist Karthago; und eine ganze Kette gleicher Seeburgen legten die hellenischen Seenomaden, Ionier, Dorer, Achäer, an der adriatischen und tyrrhenischen Küste Süditaliens, auf den Inseln dieser Meere und an den Golfen Südfrankreichs an. Phönizier, Etrusker1, Hellenen, nach neueren Forschungen angeblich auch die Karer, haben um das Mittelmeer nach demselben Typus ihre „Staaten" gegründet, mit ganz derselben Ständegliederung in Herren und fronende Ackerer der Nachbarschaft.2 Einige dieser Küstenstaaten haben sich zu Feudalstaaten von genau dem Typus der Landstaaten ausgewachsen: die Herrenklasse wurde eine Grundbesitzeraristokratie. Maßgebend dafür waren erstens geographische Verhältnisse: der Mangel an guten Häfen, ein weites, von friedlichen Bauern besiedeltes Hinterland; und andererseits wohl auch die aus der Heimat mitgebrachte ständische Organisation. Flüchtige Edelinge waren es. Besiegte innerer Fehden, oder jüngere Söhne, zuweilen ein ganzer „heiliger Frühling", die „auf den Wiking" zogen: waren sie schon daheim als Landjunker erzogen, so suchten sie auch in der Fremde wieder „Land und Leute". Die Besetzung Englands durch die Angelsachsen und Süditaliens durch die Normannen sind solche Fälle, ebenso die spanisch-portugiesische Kolonisation von Mexico und Südamerika. Weitere, sehr wichtige Beispiele für diese Bildung von Landfeudalstaaten durch Seenomaden sind die achäischen Kolonien Großgriechenlands: 1

2

Ob die Etrusker ein zu Lande nach Italien eingewandertes und dann zum Seenomadentum übergegangenes Kriegesvolk gewesen oder bereits als Seenomaden in ihre Sitze an dem nach ihnen benannten Meere gelangt sind, ist nicht festgestellt. Ganz ähnlich liegen die Dinge in Insulindien. Hier sind die Malaien die Wikinge. „Die Kolonisation spielt als überseeische Eroberungund Ansiedlung (...) eine an Griechenlands Wanderzeit erinnernde große Rolle. (...) Jede Küstenlandschaft weist fremde Elemente auf, die ungerufen und oft den Altansässigen schädlich eindrangen. (...) Das Recht der Eroberung wurde von den Herrschern von Tomate an adlige Häuser verliehen, die dann halbsouveräne Statthalter auf Buru, Ceram usw. wurden." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 409.)

Der Staat

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„Dieser achäische Städtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Städte waren ohne Häfen nur Kroton besaß eine leidliche Reede - und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaßen die Griechen hier nicht nur den Küstensaum, sondern herrschten von Meer zu Meer (...); die eingeborene ackerbauende Bevölkerung mußte in Klientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und Zinsen."1 Ahnlich werden die meisten dorischen Kolonien in Kreta organisiert gewesen sein. Doch, mögen diese „Landstaaten" häufiger oder seltener gewesen sein, für den Verlauf der Universalgeschichte erlangten nicht sie Bedeutung, sondern diejenigen Seestädte, die ihr Schwergewicht auf Handel und Kaperwesen verlegten. Mommsen stellt den achäischen Landjunkern die „königlichen Kaufleute" der übrigen hellenischen Kolonien in Süditalien scharf und glücklich gegenüber: „Auch sie verschmähten den Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phönizischer Art an einer befestigten Faktorei genügen zu lassen. Aber wohl waren diese Städte zunächst und vor allem des Handels wegen gegründet, und darum denn auch, ganz abweichend von den achäischen, durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt."2 Wir dürfen wohl anehmen - für die ionischen Kolonien ist es sicher -, daß hier die Städtegründer nicht Landjunker, sondern schon seefahrende Kaufleute gewesen sein werden. Aber solche Seestaaten oder Seestädte eigentlichen Sinnes entstanden nicht nur durch kriegerische Eroberung, sondern auch aus friedlichen Anfängen durch eine mehr oder weniger gemischte „penetration pacifique". Wo die Wikinge nämlich nicht auf friedliche Bauern, sondern auf wehrhafte Feudalstaaten der primitiven Stufe stießen, nahmen und boten sie Frieden und ließen sich als Kaufmannskolonien nieder. Wir kennen solche Fälle aus aller Welt, in Häfen und Landmärkten. Uns am nächsten stehen die Niederlassungen der Kaufleute in den Nord- und Ostseeländern: der Stahlhof in London, die Hansa in Schweden und Norwegen, auf Schonen und in Rußland: Nowgorod. In Wilna, die Hauptstadt der litauischen Großfürsten, befand sich eine solche Kolonie, und der Fondaco dei Tedeschi in Venedig ist auch ein Beispiel dafür. Fast überall sitzen die Fremden in geschlossener Masse, mit eigenem Recht und unter eigener Gerichtsbarkeit und sehr oft erlangen sie großen Einfluß, der sich häufig bis zur Herrschaft über den Staat steigert. Man glaubt eine zeitgenössische Schilderung der phönizischen oder hellenischen Invasion der Mittelmeerländer etwa aus dem Anfang des ersten Jahrtausends vor Christi zu hören, wenn man die folgende Mitteilung Ratzels von den Küstenländern und Inseln des indischen Ozeans liest: „Ganze Völkerschaften sind durch den Handel gleichsam verflüssigt, so vor allem die sprichwörtlich geschickten, eifrigen, allgegenwärtigen Malaien sumatranischer Abkunft und die ebenso gewandten wie verräterischen Bugi von Celebes, die von Singapur bis Neu-Guinea auf keinem Platz fehlen und neuerdings besonders in Borneo auf Aufforderung einheimischer Fürsten in Massen eingewandert sind. Ihr Einfluß ist so stark, daß man ihnen gestattet, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu regieren, und sie fühlen sich so stark, daß es an Versuchen, sich unabhängig zu stellen, bei ihnen nicht gefehlt hat. Die Atchinesen nahmen ehemals eine ähnliche Stellung ein: nach dem Sinken des von sumatranischen Malaien zum Emporium gemachten Malakka war einige Jahrzehnte lang in der weltgeschichtlichen Wendezeit um den Beginn des

1 Mommsen, Römische Geschichte, Bd. I, S. 132. 2 Ebenda, S. 134.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

17. Jahrhunderts Atchin die lebhafteste Reede dieses fernen Ostens."1 Einige andere Beispiele, aus zahllosen herausgegriffen, mögen folgen, um die allgemeine Verbreitung dieser Siedelform zu zeigen: „In Urga, wo sie politisch dominieren, sind die Kaufleute in eine besondere Chinesenstadt zusammengedrängt."2 In den israelitischen Staaten befanden sich „kleine Kolonien von fremden Kaufleuten und Handwerkern, denen man bestimmte Viertel der Städte überließ, wo sie, unter dem Schutz des Königs stehend, nach ihren eigenen religiösen Sitten leben konnten"3. „Der ephraimitische König Omri sah sich durch die kriegerischen Erfolge seines Gegners, des damaszenischen Königs, gezwungen, den aramäischen Kaufleuten gewisse Teile der Stadt Samaria zu überlassen, wo sie unter könglichem Schutz Handel treiben konnten. Als später das Kriegsglück seinem Nachfolger Ahab günstig war, verlangte dieser vom aramäischen Könige dasselbe Vorrecht für die ephraimitischen Kaufleute in Damaskus."'1 „Uberall standen die Italiker zusammen als festgeschlossene und organisierte Massen, die Soldaten in ihren Legionen, die Kaufleute jeder größeren Stadt als eigene Gesellschaften, die in dem einzelnen provinziellen Gerichtssprengel domizilierten, oder verweilenden römischen Bürger als ,Kreise' (conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschworenenliste und gewissermaßen mit Gemeindeverfassung."5 Wir wollen noch an die Ghetti der Juden erinnern, die vor den großen Judenverfolgungen des Mittelalters nichts anderes waren als solche geschlossenen Kaufmannskolonien; und wollen darauf aufmerksam machen, daß auch heute noch die europäischen Kaufleute in den Küstenstädten stärkerer exotischer Reiche ganz ähnliche „conventus" mit eigener Verfassung und (Konsular-)Gerichtsbarkeit bilden; China muß das noch heute dulden, ebenso die Türkei, Marokko usw., während Japan erst kürzlich diese diminutio capitis hat abschütteln können. Für unsere Betrachtung ist an diesen Kolonien das interessante, daß sie überall die Tendenz haben, ihren politischen Einfluß bis zur vollen Herrschaft auszudehnen. Das hat nichts erstaunliches. Die Kaufleute haben einen Reichtum an beweglichen Gütern, der durchaus geeignet ist, in den politischen Wirren, denen alle Feudalstaaten fortwährend ausgesetzt sind, entscheidend einzuwirken, sei es bei internationalen Fehden zwischen zwei Nachbarstaaten, sei es bei intranationalen Kämpfen, ζ. B. um die Thronfolge. Dazu kommt, daß hinter den Kolonisten häufig die starke Macht ihres Mutterlandes steht, auf die sie sich verlassen können, weil verwandtschaftliche Bande und ungemein starke kommerzielle Interessen sie verbinden, und daß sie selbst in ihrem krieggewöhnten Schiffsvolk ihren zahlreichen Sklaven häufig eine für die kleinen Verhältnisse bedeutende Eigenmacht ins Feld stellen zu können. Die folgende Schilderung der Rolle, die arabische Kaufleute in Ostafrika gespielt haben, scheint mir einen bisher viel zuwenig beachteten geschichtlichen Typus darzustellen: „Als Speke 1857 als erster Europäer diesen Weg machte, waren die Araber Kaufleute, die als Fremde im Lande wohnten; als er 1861 denselben Weg zum zweitenmal betrat, glichen die Araber schon großen Gutsherren mit reichem Landbesitz und führten Krieg mit dem angestammten Herrscher des Landes. Dieser Prozeß, der sich ja auch in manchen anderen Ländern Innerafrikas wiederholt hat, ergibt sich mit Notwendigkeit aus den Verhältnissen. Die fremden Kaufleute,

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 160. Ebenda, Bd. II, S. 558. Buhl, Soziale Verhältnisse der Israeliten, S. 48 [vgl. 1. Kg. 20, 34; Anm. d. Verfassers]. Ebenda, S. 78f. Mommsen, Römische Geschichte, Bd. II, S. 406.

Der Staat

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Araber und Suaheli, bitten um die Erlaubnis des Durchzuges, wofür sie zollen, gründen Warenlager, die den Häuptlingen genehm sind, weil sie ihrer Erpressungssucht und Eitelkeit zugute zu kommen scheinen, bereichern sich dann und erwerben Verbindungen, machen sich hierdurch verdächtig, werden gedrückt und verfolgt, weigern sich, die mit dem Wohlstand gestiegenen Zölle und Steuern zu zahlen; endlich ergreifen die Arbeiter bei einem der vermeindlichen Thronstreite Partei für einen Prätendenten, der ihnen fügsam zu sein verspricht, und werden dadurch in die oft inneren Streitigkeiten des Landes gezogen und in oft endlose Kriege verwickelt." 1 Diese politische Tätigkeit der kaufmännischen Metöken ist ein immer wiederkehrender Typus. „Auf Borneo erwuchsen aus den Ansiedlungen chinesischer Goldgräber eigene Reiche."2 Und die ganze europäische Kolonisationsgeschichte ist eigentlich nur eine einzige Reihe von Beispielen für das Gesetz, das bei irgend überlegener Macht der Fremden aus Faktoreien und größeren Niederlassungen Herrschaft entstehen läßt, wenn sie nicht dem ersten Typus der einfachen Piraterie näherstehen, wie die spanisch-portugiesische Konquista und die Eroberungen der ostindischen Kompanien, der englischen so gut wie der holländischen. „Es liegt ein Raubstaat an der See, zwischen dem Rheine und der Scheide", klagt Multatuli sein Vaterland an. Alle ostasiatischen, amerikanischen und afrikanischen Kolonien aller Völker sind nach einem der beiden Typen entstanden. Nicht immer kommt es zur unbedingten Herrschaft der Fremden. Zuweilen ist der Gaststaat zu stark, und sie bleiben politisch ohnmächtige Schutzgäste: so ζ. B. die Deutschen in England. Zuweilen erstarkt der schon unterworfene Gaststaat so sehr, daß es ihm gelingt, die Fremdherrschaft abzuschütteln: so ζ. B. verjagte Schweden die Hansa, die ihm schon die Herrschaft auferlegt hatte; zuweilen kommt ein stärkerer Eroberer über Kaufmannskolonie und Gaststaat und unterwirft beide: so ζ. B. machten die Russen den Republiken von Nowgorod und Pskow ein Ende. Häufig aber verschmelzen die fremden Reichen mit den einheimischen Edlen zu einer Herrenklasse, nach dem Typus, den wir auch bei der Landstaatenbildung dort auftreten sahen, wo zwei ungefähr gleich starke Herrengruppen zusammenstießen. Und dieser letztgenannte Fall scheint mir für die Genesis der wichtigsten Stadtstaaten des Altertums, für die griechischen Seestädte und für Rom, die wahrscheinlichste Annahme. Wir kennen die griechische Geschichte, um mit Kurt Breysig zu reden, nur von ihrem „Mittelalter", die römische gar nur von ihrer „Neuzeit" an. Auf das, was vorher liegt, dürfen wir nur mit äußerster Vorsicht Analogieschlüsse wagen. Es will mir aber scheinen, als seien Tatsachen genug verbürgt, die den Schluß zulassen, daß Athen, Korinth, Mykene, Rom usw. nach der hier geschilderten Weise zu bekannten Staaten geworden sind, selbst wenn die uns hier bekannten Daten aus aller bekannten Völkerkunde und Geschichte nicht von solcher Allgemeingültigkeit wären, daß sie den Schluß an sich gestatten. Wir wissen genau aus Ortsnamen (Salamis: Insel des Friedens-Marktinsel), aus Heroennamen, aus Baudenkmälern und aus unmittelbarer Uberlieferung, daß in vielen griechischen Hafenstädten phönizische Faktoreien bestanden, deren Hinterland von kleinen Feudalstaaten der typischen Gliederung in Edelinge, Freie und Sklaven eingenommen war. Mögen einzelne phönikische, vielleicht auch einige der noch ziemlich rästelhaften karischen Kaufleute in das Konnubium der Edlen aufgenommen worden und zu Vollbürgern oder gar zu Fürsten geworden sein oder nicht daß die Ausbildung dieser Stadtstaaten durch die fremden Einflüsse mächtig gefördert wurde, kann gar nicht ernsthaft bestritten werden. Dasselbe gilt von Rom. Hören wir, was ein so vorsichtiger Autor wie Mommsen darüber sagt:

1 2

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 191, vgl. auch S. 207f. Ebenda, Bd. I, S. 363.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und

Demokratie

„Daß Rom, wenn nicht seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhältnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von ganz anderem Gewicht sind, als die Angaben historischer Noveletten. Daher rühren die uralten Beziehungen zu Cäre, das für Etrurien war, was für Latium Rom, und denn auch dessen nächster Nachbar und Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbrücke und des Brückenbaues überhaupt in dem römischen Gemeinwesen; daher die Galeere als städtisches Wappen. Daher der uralte römische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhältnismäßige Vorkommen des gemünzten Geldes, der Handelsverträge mit überseeischen Staaten in Rom. In diesem Sinne mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die jüngste als die älteste sein."1 Es wäre Gegenstand einer ein Leben erfüllenden historischen Untersuchung, die hier angedeuteten Möglichkeiten, oder besser, Wahrscheinlichkeiten zu prüfen und daraus auf die Verfassungsgeschichte dieser überaus wichtigen Stadtstaaten die - sehr notwendigen - Schlüsse zu ziehen. Mir scheint, als wäre auf diesem Wege über manche noch sehr dunkle Frage Licht zu gewinnen, wie über die etruskische Herrschaft in Rom, über den Ursprung der reichen Plebejerfamilien, über die athenischen Metöken und vieles andere. Hier können wir nur den einen Faden verfolgen, der uns durch das Labyrinth der historischen Überlieferung zum Tore zu leiten verspricht.

d)

Wesen und Ausgang des Seestaates

All diese Staaten, mögen sie nun entstanden sein aus Seeräuberburgen, aus Häfen an der Küste des Gebietes seßhaft gewordener Landnomaden, die dann spontan zu Wikingern wurden, aus Kaufmannskolonien, die zur Herrschaft kamen, oder aus Kaufmannskolonien, die mit der Gruppe des Gastvolkes verschmolzen, - sie alle sind echte „Staaten" im soziologischen Sinne. Sie sind nichts anderes als die Organisation des politischen Mittels, ihre Form ist die Herrschaft, ihr Inhalt die ökonomische Ausbeutung der Untertanen durch die Herrengruppe. Grundsätzlich unterscheiden sie sich also in keinem wichtigen Punkte von den durch Landnomaden gegründeten Staaten. Aber dennoch haben sie aus inneren und äußeren Gründen andere Formen angenommen und zeigen eine andere Psychologie ihrer Klassen. Nicht als ob etwa die Klassenstimmung grundsätzlich eine andere wäre als in den Landstaaten! Die Herrenklasse sieht mit derselben Verachtung auf den Untertanen herab, auf den „Banausen", den „Mann mit den blauen Nägeln", wie der mittelalterliche Patrizier Deutschlands sich ausdrückte, und wehrt ihm die Ehegemeinschaft und den gesellschaftlichen Verkehr, auch dem Freigeborenen. Und ebensowenig unterschiedet sich die Klassentheorie der καλοικάγαθοι (der Wohlgeborenen) oder der Patrizier (Ahnenkinder) von der der Junker. Aber die andere Verumständung erzeugt doch auch hier Abwandlungen, natürlich ganz dem Klasseninteresse gemäß. In einem von Kaufleuten beherrschten Gebiet kann der Straßenraub unmöglich geduldet werden, und er gilt denn auch, ζ. B. bei den Seehellenen, als ein gemeines Verbrechen: die Theseussage hätte im Landstaat nicht die Spitze gegen die Wegelagerer erhalten. Dagegen wurde der

1

Mommsen, Römische Geschichte, [ohne Bandangabe] S. 46.

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„Seeraub von ihnen in den ältesten Zeiten als ein keineswegs entehrendes Gewerbe angesehen (...), wovon noch in homerischen Gedichten zahlreiche Beweise vorhanden sind; noch in viel späterer Zeit hatte Polykrates auf Samos einen wohlorganisierten Räuberstaat gebildet"1. Auch im Corpus juris ist die Rede von einem solonischen Gesetz, nach welchem die Piratenassoziation (επί λείαν οϊχόμενοί) als eine erlaubte Gesellschaft aufgefaßt wird.2 Aber abgesehen von solchen Geringfügigkeiten, die nur deshalb verzeichnet zu werden verdienen, weil sie ein helles Licht auf die Entstehung des „ideologische Oberbaus" überhaupt zu werfen geeignet sind,3 haben ihre von denen der Landstaaten sehr verschiedenen Existenzbedingungen in den Seestaaten zwei universalgeschichtlich überaus wichtige Tatsachen geschaffen: die Ausbildung einer demokratischen Verfassung, mit der jener Gigantenkampf in die Welt trat zwischen orientalischem Sultanismus und okzidentaler Bürgerfreiheit, der nach Mommsen den eigentlichen Inhalt der Weltgeschichte ausmacht; - und zweitens die Ausbildung der kapitalistischen Sklavenwirtschaft, an der alle diese Staaten schließlich zugrunde gehen müssen. Betrachten wir zunächst die inneren, die sozialpsychologischen Ursachen dieses entscheidenden Gegensatzes zwischen Land- und Seestaat. Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip aus dem sie entstanden. Eroberung von Land und Leuten ist die ratio essendi des Landstaates, und durch neue Eroberung von Land und Leuten muß er wachsen, bis seine natürliche Grenze an Gebirge, Wüste oder Meer oder seine soziologischen Grenze an anderen Landstaaten findet, die er nicht unterwerfen kann. Der Seestaat aber ist entstanden aus Seeraub und Handel, und durch Seeraub und Handel muß er seine Macht zu mehren suchen. Zu dem Zwecke braucht er aber kein ausgedehntes Landgebiet in aller Form zu beherrschen. Er kann auf die Dauer in den neuen Gebieten seiner „Interessensphäre" mit jedem der ersten Stadien der Staatenentstehung bis zum fünften einschließlich auslangen und schreitet nur selten, sozusagen gezwungen, zum sechsten vor, zur vollen Intranationalität und Verschmelzung. Es genügt ihm im Grunde, wenn er andere Seenomaden und Händler fernhält, sich das Monopol des Raubes und des Handels sichert, die „Untertanen" durch Burgen und Garnisonen in Räson hält, und nur wichtige Produktionsstätten, namentlich Bergwerke, einzelne reiche Kornbreiten, Wälder mit gutem Bauholz, Salinen, wichtige Fischplätze usw. wirklich „beherrscht", d. h. dauernd verwaltet, oder, was dasselbe sagt, durch Untertanen bearbeiten läßt. Der Geschmack an „Land und Leuten", d. h. an Rittergütern für die Herrenklasse außerhalb der Grenzen des engeren originären Staatsgebietes, kommt erst später, wenn der Seestaat durch Eingliederung unterworfener Landstaaten eine Mischung von See- und Landstaat geworden ist. Aber auch dann ist, im Gegensatz zu den Landstaaten, der Großgrundbesitz nur Geldrentenquelle und wird fast durchaus als Absenteebesitz [sie] verwaltet. So in Karthago und im späteren Römerreich! Die Interessen der Herrenklasse, die den Seestaat so gut wie jeden anderen Staat zu ihrem Vorteil lenkt, sind eben andere als in den Landstaaten. Gibt dem feudalen Grundherren die Macht, d. h. der Besitz an Land und Leuten, den Reichtum, so gibt umgekehrt dem Patrizier der Seestadt sein Reichtum die Macht. Kann der Großgrundbesitzer seinen „Staat" nur durch die Zahl der von ihm unterhaltenen Krieger beherrschen, und muß er, um diese zum Höchstmaß zu steigern, seinen Landbe-

1

Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Altertum; zitiert nach Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalzinses, S. 319.

2

Goldschmidt, Geschichte des Handelsrechts; zitiert nach Kulischer, Zur Entwicklungsgeschichte des Kapitalzinses, S. 319.

3

Wie bezeichnend für diese Zusammenhänge ist es, daß Großbritannien, der einzige „Seestaat" Europas, noch heute nicht auf das Kapitalrecht verzichten will!

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

sitz und die Abgaben der hörigen Bauern soviel wie möglich vermehren: so kann der Patrizier seinen Staat nur durch seinen mobilen Reichtum beherrschen, mit dem er starke Fäuste mietet und schwache Seelen besticht; und diesen Reichtum gewinnt er schneller und leichter im Seeraub und Handel, als im Landkriege und vom Großgrundeigentum im fernen Lande. Auch müßte er seine Stadt verlassen, um solches Eigentum auszunützen, müßte darauf Wohnsitz nehmen und ein echter Feudaljunker werden: denn in einer noch nicht zur vollen Geldwirtschaft und ausgiebigen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land entwickelten Gesellschaft ist die Ausnützung eines Großgrundeigentums nur in der Naturalwirtschaft möglich, und der Absenteebesitz [sie] als Rentenquelle undenkbar. So weit aber hat uns unsere Betrachtung noch nicht geführt; noch sind wir in primitiven gesellschaftlichen Verhältnissen. Und hier gewiß wird es keinem Stadtadligen einfallen, seine lebhafte, reiche Heimat zu verlassen, um sich in der Wildnis unter den Barbaren zu vergraben und damit ein für allemal auf jede politische Rolle in seinem Staat Verzicht zu leisten. Seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen drängen ihn mit aller Einseitigkeit zum Seehandel. Nicht das Grundkapital, sondern das mobile Kapital ist sein Lebensnerv. Aus diesen inneren Gründen ihrer Herrenklasse haben selbst die wenigen Seestädte, denen die geographischen Bedingungen ihres Hinterlandes die räumliche Expansion ins Weite erlaubten, den Schwerpunkt ihrer Existenz immer mehr auf und über See gesucht als auf dem Lande. Selbst für Karthago ist sein riesiger Landbesitz nicht entfernt von der Wichtigkeit wie seine Seeinteressen. Es erobert Sizilien und Korsika mehr, um die griechischen und etraskischen Handelskonkurrenten zu schädigen, als um des Landbesitzes willen; es dehnt seine Grenzen gegen die Libyer mehr aus dem Grunde aus, weil es den Landfrieden schützen muß; und wenn es Spanien erobert, so ist der erste Beweggrund der Besitz der Bergwerke. Die Geschichte der Hansa bietet manchen interessanten Vergleichspunkt dazu. Die meisten dieser Seestädte jedoch waren gar nicht in der Lage, ein großes Gebiet unter ihre Herrschaft zu bringen. Äußere geographische Bedingungen hätten es auch dann verhindert, wenn der Wille bestanden hätte. Uberall am Mittelmeer, mit Ausnahme weniger Stellen, ist das Küstenland außerordentlich gering entwickelt, ein schmaler Saum am Abhang hoher Gebirge. Das war eine Ursache, die die meisten dieser um einen Handelshafen gruppierten Staaten hinderte, eine für unsere Begriffe irgendwie bedeutende Größe zu erreichen, während in den breiten Landgebieten, in denen der Hirte herrscht, schon sehr früh große, ja ungeheuere Reiche entstanden. Die zweite Ursache für die anfängliche Winzigkeit dieser Staaten ist der Umstand, daß im Hinterland, in den Bergen, aber auch in den wenigen breiten Ebenen des mittelländischen Gebietes zumeist kriegerische Stämme hausten, die nicht leicht zu unterwerfen waren, entweder Jäger, die, wie gesagt, überhaupt nicht zu unterwerfen sind, oder kriegerische Hirten oder primitive Feudalstaaten derselben Herrenrasse. So in Hellas überall im Binnenlande! Aus allen diesen Gründen bleibt der Seestaat auch bei stärkstem Wachstum immer zentralisiert, man möchte fast sagen: zentriert um den Handelshafen, während der Landstaat, schon von Anfang an stark dezentralisiert, sich lange Zeit im Maße seiner Ausdehnung zu immer stärkerer Dezentralisierung entwickelt. Wir werden unten sehen, daß erst seine Durchdringung mit den im „Stadtstaat" ausgebildeten Verwaltungseinrichtungen und ökonomischen Errungenschaften ihm die Kraft verleihen kann, sich die um einen Schwerpunkt sicher schwingende Organisation zu geben, die unsere modernen Großstaaten auszeichnet. Das ist der erste große Gegensatz zwischen den beiden Formen des Staates. Der zweite, nicht minder entscheidende Gegensatz besteht darin, daß der Landstaat sehr lange im Zustande der Naturalwirtschaft verharrt, während der Seestaat sehr schnell zur Geldwirtschaft kommt. Auch dieser Gegensatz wächst aus den Grundbedingungen ihrer Existenz. Im Naturalstaat ist Geld ein überflüssiger Luxus, so überflüssig, daß schon eine entwickelte Geldwirtschaft verfällt, wenn ein Wirtschaftskreis in die Naturalwirtschaft zurücksinkt. Karl der

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Große hatte gut Münzen schlagen: die Wirtschaft stieß sie aus, denn Neustrien - von Austrasien gar nicht zu reden - war im Sturm der Völkerwanderung zur Naturalwirtschaft zurückgekehrt. Und die braucht kein Geld als Wertmesser, denn sie hat keinen entwickelten Marktverkehr. Die Hintersassen steuern Naturalien, die der Herr mit seinem Gefolge unmittelbar konsumiert; und Schmuck, feines Gewebe, edle Waffen und Rosse, Salz usw. handelt er im Warentausch von Haustieren gegen Sklaven, Rinder, Wachs, Pelze und andere Erzeugnisse der kriegerischen Naturalwirtschaft ein. Dagegen kann das Stadtleben unmöglich auf irgend höherer Entwicklungsstufe des Wertmessers entraten. Der freie städtische Handwerker kann nicht auf die Dauer sein Erzeugnis unmittelbar gegen das eines anderen Handwerkers tauschen; und schon der unentbehrliche städtische Kleinhandel mit Nahrungsmitteln macht Münze unentbehrlich, wo jeder fast alles einkaufen muß. Und noch weniger kann der Handel im engeren Sinne, der Handel nicht zwischen Kaufmann und Kunden, sondern zwischen Kaufmann und Kaufmann, eines Wertmessers entraten. Man stelle sich vor, daß ein Schiffsherr, der in einen Hafen Sklaven importiert, um sie gegen Gewerbe einzutauschen, die er anderswohin zu führen gedenkt, zwar einen Gewerbehändler findet, aber erfährt, daß dieser nicht Sklaven, sondern etwa Eisen oder Rinder oder Pelze eintauschen will. Dann müßten vielleicht ein Dutzend Zwischentausche stattfinden, ehe das Ziel erreicht ist. Das ist nur vermeidbar, wenn eine Ware existiert, die von allen begehrt ist. In der Naturalwirtschaft der Landstaaten können Pferde oder Rinder, die schließlich jeder brauchen kann, ganz gut diese Stelle einnehmen: aber der Schiffer kann kein Vieh als Zahlungsmittel laden, und so wird das Edelmetall zu „Geld". Aus diesen beiden notwendigen Eigenschaften des See- des Stadtstaates, wie wir ihn fortan nennen werden, aus der Zentralisation und der Geldwirtschaft, folgt sein weiteres Schicksal mit Notwendigkeit. Schon die Psychologie des Städters und gar des Einwohners einer Seehandelsstadt ist eine ganz andere als [die] des Landbewohners. Sein Blick ist freier und weitspannend, wenn auch oft genug mehr an der Oberfläche haftend; er ist lebhafter, weil in einem Tage von mehr Reizen getroffen, als der Bauer in einem Jahre, und ist, weil an fortwährende Neuigkeiten und Neuerungen gewöhnt, immer „novarum rerum cupidus". Von der Natur entfernter und viel weniger abhängig als der Landmann, empfindet er weniger Furcht vor den „Geistern", und darum folgt der Untertan mit viel weniger Respekt den „tabuierenden" Verordnungen, die der erste und zweite Stand ihm auferlegen. Und weil er schließlich in dichten Massen zusammenhaust und daher seine, in der Mehrheit liegende Kraft deutlich empfindet, ist der Untertan trotziger und aufsässiger als der hörige Bauer, der in solcher Vereinzelung lebt, daß er sich seiner Masse nie bewußt werden kann, und daß der Herr mit seinem Gefolge in jedem Streit fast immer die Ubermacht haben wird. Schon das bedingt eine immer mehr vorschreitende Lockerung des starren Unterordnungsverhältnisses, das der primitive Feudalstaat geschaffen hat. Nur die „Landstaaten" von Hellas haben ihre Untertanen lange in der alten Knechtschaft gehalten: Sparta seine Heloten, Thessalien seine Penesten. Überall in den Stadtstaaten aber finden wir schon früh die Plebs im Aufstiege, dem die Herrenklasse keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzen kann. Wie die Siedlungsverhältnisse, so wirken auch die ökonomischen Dinge auf das gleiche Ziel hin. Der mobile Reichtum hat nicht entfernt die starre Stabilität des Grundeigentums: das Meer ist launisch, und das Glück des Seekrieges und Seeraubes nicht minder. Der Reichste kann schnell alles verlieren, der Ärmste durch eine Drehung von Fortunas Rad nach oben geschleudert werden. Armut aber verliert, Reichtum gewinnt in einem ganz auf den Reichtum gestellten Gemeinwesen Rang und „Klasse". Der reiche Plebejer wird zum Führer der Volksmasse bei ihrem Verfassungskampfe um die Gleichberechtigung und setzt alle Mittel dafür ein; und die Stellung der Patrizier wird unhaltbar, wenn sie notgedrungen einmal nachgegeben haben: die legitimistische Verteidigung des Geburtsrechtes ist für immer unmöglich, sobald der erste Plebejer Aufnahme gefunden hat. Von da an heißt es: was dem einen recht ist, ist dem andern billig, und dem aristokratischen folgt erst das

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

plutokratische, dann das demokratische und schließlich das ochlokratische Regiment, bis eine fremde Eroberung oder die Tyrannis eines „Säbelheilands" dem wüsten Treiben ein Ende macht. Was aber dieses Ende nicht nur des Staates, sondern meist auch des Volkes selbst, diesen buchstäblich zu nehmenden Völkertod, herbeiführt, das ist eine gesellschaftliche Einrichtung, die in jedem auf Seeraub und Seehandel begründeten, geldwirtschaftlich entfalteten Stadtstaat unvermeidbar eintreten muß, die kapitalistische Sklavenwirtschaft. Die Sklaverei, aus dem primitiven Feudalstadium übernommen und anfangs, wie in allen Naturalwirtschaften, harmlos, wird zum fressenden Kanker, der das ganze Staatsleben zerstört, sobald sie „kapitalistisch" ausgebeutet wird, d. h. sobald Sklavenarbeit nicht mehr für eine feudale Naturalwirtschaft, sondern für die Versorgung eines mit Geld zahlenden Marktes angewendet wird. Seeraub, Kaperei und Handelskriege schaffen zahllose Sklaven ins Land. Die Kaufkraft des reichen Marktes gestattet intensive Landwirtschaft, die Grundbesitzer im Stadtgebiet ziehen immer steigende Renten aus ihrem Besitz und werden immer landgieriger. Der kleine Gemeinfreie auf dem Lande, durch Kriegsdienste im Interesse der Großkaufleute überlastet, verschuldet sich immer mehr, wird Schuldsklave oder wandert als habeloser Bettler in die Stadt. Aber auch hier findet er keine Arbeitsstelle, im Gegenteil: die Verdrängung des Bauern hat schon die vorher in der Stadt ansässigen Handwerker und Kleinhändler schwer geschädigt; denn der Bauer kaufte in der Stadt, aber die durch das Bauernlegen immer mehr anschwellenden „Großoikenwirtschaften" auf dem Lande decken ihren Bedarf an Gewerbewaren ebenfalls durch eigene Sklavenproduktion. Und weiter frißt das Übel! Auch der Rest der städtischen Gewerbe, diejenigen, die für die Stadt selbst tätig sind, werden mehr und mehr von den Unternehmern besetzt, die die billige Sklavenarbeit ausbeuten. So verarmt der Mittelstand, und ein nichtshäbiger, nichtnutziger Pöbel, ein wahres „Lumpenproletariat" ist dank der inzwischen erfochtenen demokratischen Verfassung der Souverän des Staatswesens. Daran muß es früher oder später politisch und militärisch zugrunde gehen; aber auch ohne eine fremde Invasion, die nicht ausbleiben kann, würde es sozusagen physisch an der ungeheuren Entvölkerung an der, wörtlich zu nehmenden Völkerschwindsucht zugrunde gehen, die alle diese Staaten schnell vernichtet. Ich kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen. Nur ein einziger Stadtstaat hielt sich lange Jahrhunderte, und zwar aus dem einen Grunde, weil er, der zuletzt übrig bleibende Sieger, die Bevölkerungsschwindsucht immer wieder durch das einzige Mittel der Heilung, ausgiebige Neuschaffung städtischer und ländlicher Mittelstände durch gewaltige Bauernkolonisationen, zu bekämpfen vermochte, auf Ländereien, die er den Besiegten abgenommen hatte. Dieser Staat war das Römische Reich. Selbst dieser riesenhafte Organismus erlag zuletzt der Völkerschwindsucht der kapitalistischen Sklavenwirtschaft. Aber inzwischen hatte er das erste Imperium, d. h. den ersten straff zentralisierten Großstaat geschaffen, indem er alle Landstaaten des Mittelmeergebietes und seiner Nachbarländer überwand und sich eingliederte, und hatte für alle Zukunft das Muster solcher Herrschaftsorganisation in die Welt gestellt. Und ferner hatte er inzwischen Städtewesen und Geldwirtschaft so weit entwickelt, daß sie niemals ganz wieder verschwinden konnten; und so erhielten unmittelbar oder mittelbar die feudalen Landstaaten, die sich nach Roms Fall auf seinem ehemaligen Herrschaftsgebiet aufgerichtet hatten, die neuen Anstöße, die sie über den Zustand des primitiven Feudalstaates weiter emporführen konnten.

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IV. Die Entfaltung des Feudalstaates a)

Die Entstehung des Großgrundeigentums

Wir kehren jetzt verabredetermaßen zu jenem Punkte zurück, wo der primitive Feudalstaat den Nebenast des Stadtstaates aussandte, um nunmehr dem Hauptaste, dem nach oben führenden, weiter zu folgen. Wie des Stadtstaates Geschick bestimmt war durch die Agglomeration desjenigen Reichtums, um den das Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwang, des Handelskapitals: so ist des Landstaates Geschick bestimmt durch Agglomeration desjenigen Reichtums, um den sein Staatswesen als seinen Schwerpunkt schwingt, des Grundeigentums. Wir haben oben die ökonomische Differenzierung im Hirtenstamm verfolgt und uns überzeugt, daß schon hier das Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne von dem Augenblicke an kräftig genug wirksam wird, wo das politische Mittel in Gestalt des Raubkrieges und vor allem der Sklaverei mit ins Spiel kommt. Schon spaltete sich der Stamm in Edelinge und Gemeinfreie, unter denen als dritter Stand der politisch rechtlose Sklave sich ordnet. Diese in den primitiven Staat mit eingebrachte Verschiedenheit des Vermögens und damit des sozialen Ranges verschärft sich nun ungemein mit der Seßhaftigkeit, durch die das private Grundeigentum geschaffen wird. Starke Unterschiede des Bodenbesitzes müssen bereits bei der ersten Entstehung des primitiven Feudalstaates entstehen, wenn die Gliederung des Hirtenstammes in große Sklaven- und Herdenfürsten und in kleine Gemeinfreie schon stark ausgeprägt war. Die Fürsten okkupierten mehr Land als die Kleinen. Das geschieht zunächst ganz naiv und ohne die Spur eines Bewußtseins von der Tatsache, daß der große Grundbesitz das Mittel einer bedeutenden sozialen Macht- und Reichtumsmehrung sein wird. Davon kann keine Rede sein; auch hätten die Gemeinfreien in diesem Stadium noch sehr wohl die Macht besessen, die Bildung des Großgrundeigentums zu verhindern, wenn sie gewußt hätten, daß es seine Spitze einst gegen sie kehren könnte. Aber niemand konnte das ahnen: Land hat in dem Zustande, den wir beobachten, keinerlei Wert. Darum war auch nicht das Land an sich Ziel und Preis des Kampfes, sondern das Land samt den an die Scholle gefesselten Bauern, Arbeitssubstrat und Arbeitsmotor, aus deren Verbindung das Ziel des politischen Mittels erwächst, die Grundrente. Von dem massenhaft vorhandenen unbebauten Lande aber mag sich jeder soviel nehmen, wie er braucht und bebauen will oder kann. Man denkt so wenig daran, jemand aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat zuzumessen, wie aus dem Vorrat an atmosphärischer Luft. Die Fürsten der Stammhäuser erhalten wohl in der Regel nach dem Brauch des Hirtenstammes schon von Anfang an mehr „Land und Leute" als die Gemeinfreien. Das ist ihr Fürstenrecht als Patriarchen, Feldherren und Soldherren ihres kriegsgewöhnten Gefolges an Halbfreien, Knechten und Schutzhörigen (Flüchtlingen usw.); und das bedeutet schon einen vielleicht erheblichen primitiven Größenunterschied des Bodeneigentums. Aber das ist nicht alles. Die Fürsten brauchen auch von dem „Land ohne Leute" eine größere Fläche als die Gemeinfreien. Denn sie bringen Knechte, Sklaven, mit, die nicht rechtsfähig sind und daher nach allmenschlichem Volksrecht kein Grundeigentum erwerben können: aber Land müssen sie haben, um leben zu können, und so nimmt es ihr Herr für sich, um sie darauf anzusetzen. Je reicher der Nomadenfürst war, um so größer wird der Grundherr! Damit ist nun zunächst der Reichtum und mit ihm der soziale Rang ungleich fester und dauerhafter konsolidiert als im Hirtenstamm. Denn die größte Herde kann verlorengehen, aber Grundeigen ist unzerstörbar, und arbeitspflichtige Menschen, die ihm Rente abgewinnen, wachsen auch

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nach den furchtbarsten Gemetzeln schnell genug wieder nach, selbst wenn sie nicht durch Sklavenjagden in erwachsenem Zustande beschafft werden können. Aber um diesen festen Reichtumskern agglomeriert sich nun auch das Vermögen mit ganz anderer Geschwindigkeit. So harmlos die erste Okkupation war, so muß doch alsbald die Erkenntnis sich einstellen, daß man um so mehr Renten zieht, je mehr Sklaven man hat und auf freiem Lande ansetzt. Fortan geht die Außenpolitik des Staates nicht mehr nur auf Land und Leute, sondern auch auf Leute ohne Land, die man als Sklaven heimführt, um sie neu anzusetzen. Führt der ganze Staat den Krieg oder Raubzug, so erhalten die Edelinge den Löwenanteil; sehr häufig aber ziehen sie auf eigene Faust, nur mit ihrem Gefolge, aus, und der daheim gebliebene Gemeinfreie erhält keinen Anteil an der Beute. Und nun geht's im Zirkel immer schneller voran mit dem Größenwachstum des adligen Grundeigentums: je mehr Sklaven der Edeling hat, um so mehr Grundrente zieht er, um so mehr kriegerische Gefolgsleute kann er unterhalten: Knechte, arbeitsscheue Kleinfreie und Flüchtlinge; und um so mehr Sklaven kann er mit ihrer Hilfe erbeuten und zur Vergrößerung seiner Rente ansetzen. Dieser Prozeß vollzieht sich auch da, wo eine Zentralgewalt besteht, der nach allgemeinem Volksrecht die Verfügung über das unbebaute Land zusteht, und zwar nicht nur unter ihrer Duldung, sondern häufig genug unter ihrer ausdrücklichen Sanktion. Solange nämlich der Feldherr der ergebene Vasall der Krone ist, liegt es in ihrem Interesse, ihn so stark wie möglich zu machen, um seine Kriegsmacht, die er als Feudalleistung unter die Fahne des Herrschers zu stellen hat, nach Möglichkeit zu vergrößern. U m zu zeigen, daß dieser uns aus den westeuropäischen Feudalstaaten wohlbekannte Zusammenhang auch unter völlig verschiedenen Umständen zur Erscheinung kommen muß, sei eine einzige Stelle angeführt: „Die Hauptleistung auf Fidschi lag im Kriegsdienst, der bei siegreichem Ausgang zu neuer Schenkung von Land samt den darauf Wohnenden als Sklaven und damit zur Übernahme neuer Verpflichtungen führte." 1 Diese Anhäufung des Grundeigentums in immer gewaltigeren Massen in den Händen des Grundadels führt nun den primitiven Feudalstaat zu höherer Stufe zum „entfalteten Feudalstaat" mit ausgebildeter feudaler Staffelung. Ich habe den Kausalzusammenhang an anderer Stelle2 für das deutsche Stammgebiet ausführlich nach den Quellen geschildert und dort bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß es sich um einen in sämtlichen Hauptzügen typischen Prozeß handelt. Nur so ist ζ. B. die Tatsache zu erklären, daß in Japan das Feudalsystem sich bis in die Einzelheiten typisch entwickelte, obgleich das Land von einer von der arisch grundverschiedenen Rasse bewohnt ist und zudem (ein starkes Argument gegen allzusehr zugespitzte matrialistische Geschichtsauffassung) eine ganz andere technische Grundlage seiner Wirtschaft besitzt: Hackbau, nicht Pflugkultur. Hier, wo es sich, wie überhaupt in dieser ganzen Abhandlung, nicht um das Schicksal eines einzelnen Volkes, sondern darum handelt, die überall aus der gleichen Menschennatur folgenden gleichen Grundzüge typischer Entwicklung zu zeichnen, werde ich die beiden großartigsten Beispiele des entfalteten Feudalstaates, Westeuropa und Japan, als bekannt voraussetzen, mich im wesentlichen auf weniger bekannte Fälle beschränken und auch hier das ethnographische Material vor dem historischen im engeren Sinne bevorzugen.

1 2

Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 263. Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, Kap. I, [siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 127-156; A.d.R.].

Der Staat

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Der Prozeß, den wir jetzt darzustellen haben, ist eine allmählich sich vollziehende grundstürzende Umgestaltung der politischen und sozialen Gliederung des primitiven Feudalstaates: die Zentralgewalt verliert ihre politische Macht an den Grundadel, der Gemeinfreie sinkt, und der „Untertan" steigt.

b)

Die Zentralgewalt im primitiven Feudalstaat

Der Patriarch des Hirtenstammes hat bei allem Ansehen, das ihm sein Heerführer- und Priesteramt gewährt, doch gemeinhin keinerlei despotische Gewalt, und ebenso hat der „König" der kleinen, seßhaft gewordenen Völkerschaft ganz allgemein nur sehr beschränkte Macht. Dagegen pflegt die erste Zusammenfassung zahlreicher Hirtenstämme zu einer gewaltigen Heeresmasse durch kriegerische Genies zumeist in despotischen Formen zu erfolgen,1 wie denn überhaupt im Kriege das homerische „ ούκ άγαθή πολυκοφανιή εις κοίρανος έστω, εις βασιλεύς!" eine selbst von den unbändigsten Völkern anerkannte und bestätigte Wahrheit ist. Der freie primitive Jäger leistet seinem gewählten Häuptling auf dem Kriegspfade unbedingten Gehorsam; die freien Kosaken der Ukraine, die in Friedenszeiten keinerlei Autorität anerkannten, räumten im Kriege ihrem Hetman die volle Gewalt über Tod und Leben ein. Dieser Gehorsam dem Feldherrn gegenüber ist ein gemeinsamer Zug aller echten Krieger-Psychologie. Wie an der Spitze der großen Nomadenzüge allmächtige Despoten stehen: ein Attila, ein Omar, ein Dschinghis-Khan, ein Tamerlan, ein Mosilikatse, ein Ketschwäyo, so pflegt auch in den aus kriegerischer Zusammenschweißung einer Anzahl von primitiven Feudalstaaten entstandenen Großstaaten zu Anfang eine starke Zentralgewalt zu bestehen. Als Beispiele seien Sargon, Cyrus, Chlodwig, Karl der Große, Boleslaw der Rote genannt. Zuweilen, namentlich solange der Großstaat seine - geographische oder soziologische - Grenze erreicht hat, bleibt die Zentralgewalt in den Händen einer Anzahl kräftiger Monarchen noch stark, und ihre Macht kann bis zum tollsten Despotismus und Cäsarenwahnsinn ausarten: namentlich das Zweistromland und Afrika bieten dafür charakteristische Beispiele. Wir können auf die, für den allgemeinen Verlauf übrigens wenig bedeutungsvolle Regierungsform dieser Staaten hier nur kurz eingehen; nur so viel sei gesagt, daß die Ausbildung des despotischen Regierungsform vor allem davon abhängt, welche religiöse Stellung der Herrscher neben dem Feldherrenamt einnimmt, und ob er das Handelsmonopol besitzt oder nicht. Der Cäsaropapismus neigt überall dazu, die krasseren Formen des Despotismus auszubilden, während bei Teilung der geistlichen und weltlichen Gewalt ihre Träger sich gegenseitig hemmen und mäßigen. Charakteristisch dafür sind die Verhältnisse in den Malaienstaaten Insulindiens, echten „Seestaaten", deren Entstehung ein genaues Gegenstück zu den griechischen Seestaaten bildet. Hier ist im allgemeinen der Fürst geradeso machtlos, wie etwa der König zu Beginn der uns bekannten attischen Geschichte. Die Gauhäupter (in Sulu die Datto, in Atschin die Panglima) haben, wie in Athen, die Gewalt. Wo aber, „wie in Tobah dem Herrscher noch religiöse Motive die Stellung des kleinen Papstes einräumen, wendet sich das Blatt. Die Panglima hängen dann ganz vom Radscha ab, sind nur Beamte."2

1

2

„Gerade der Nomadismus ist ausgezeichnet durch die Leichtigkeit, womit er aus dem patriarchalischen Zusammenhang despotische Gewalten von weitreichendster Macht entwickelt." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. Π, S. 388f.) Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 408.

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Demokratie

Es darf hier an die altbekannte Tatsache erinnert werden, daß die aristokratischen Gauhäuptlinge Athens und Roms, als sie das alte Königtum abschafften, doch wenigstens den alten Titel einem sonst machtlosen Mitträger der Gewalt verliehen: die Götter müssen ihre Opfer in gewohnter Weise haben. Aus demselben Grunde bleibt häufig der Nachkomme des alten Stammkönigs als im übrigen ganz ohnmächtiger Würdenträger erhalten, wenn schon längst die eigentliche Regierungsgewalt auf einen Kriegshäuptling übergegangen ist: wie im späteren Merowingerreiche der karolingische Hausmeier neben dem „rex crinitus" aus dem Geschlecht Merowechs, so steht in Japan der Shogun neben dem Mikado, und im Inkareich der Inkaheerführer neben dem mehr und mehr auf die priesterlichen Funktionen beschränkten Hullicaum. 1 Außer durch das Oberpriesteramt erhält die Macht des Staatsoberhauptes häufig eine gewaltige Vermehrung durch das Handelsmonopol, das dem Häuptling auf primitiver Stufe zumeist zusteht: eine natürliche Folge der oben von uns geschilderten Anfänge des friedlichen Handels aus Gastgeschenken. Solch' Handelsmonopol hatte ζ. B. Salomo.2 Die Negerhäuptlinge sind in der Regel „Monopolisten des Handels"3. So auch der Sulukönig. 4 Bei den Galla ist das Oberhaupt, wo es anerkannt ist, „selbstverständlich auch der Handelsmann seines Stammes; keiner seiner Untertanen darf direkt mit den Fremden handeln"5. Bei den Barotse und Mabunda ist der König „streng nach dem Rechte der einzige Kaufmann seines Landes"6. Ratzel würdigt die Bedeutung dieser Tatsache treffend wie folgt: „Mit der Zauberkraft verbindet sich zur Steigerung der Macht des Häuptlings das Monopol des Handels. Indem der Häuptling der Vermittler des Handels ist, bringt er alles in seine Hand, was seinen Untertanen begehrenswert ist und wird der Spender guter Gaben, der Erfüller der heißesten Wünsche. In diesem System liegt sicherlich eine Quelle der Macht."7 Wenn sich in den Eroberungsgebieten, wo die Regierungsgewalt an sich schon stärker zu sein pflegt, das Handelsmonopol noch dazu gesellt, kann das Königtum sehr mächtig werden. Im übrigen scheint die Regel zu sein, daß selbst in den äußerlich krassesten Fällen von Despotismus doch kein monarchischer Absolutismus besteht. Der Herrscher kann ungestraft gegen seine Untertanen wüten, namentlich gegen die unterworfene Klasse: aber er ist doch durch feudale Mitregierung stark beschränkt. Ratzel bemerkt dazu im allgemeinen: „der sogenannte ,Hofstaat' afrikanischer oder altamerikanischer Fürsten ist wohl immer der Rat (...) Die Willkürherrschaft, deren Spuren wir dennoch überall bei Völkern auf niederer Stufe begegnen, auch wo die Regierungsform republikanisch ist, hat ihren Grund nicht in der Stärke des Staates oder Häuptlings, sondern in der moralischen Schwäche des Einzelnen, der fast widerstandslos der über ihm waltenden Macht anheimfällt."8 Das Königtum der Sulu ist ein beschränkter Despotismus: sehr mächtige Minister (Induna), bei anderen Kaffernstämmen ein Rat, der häufig Volk und Fürsten beherrscht, stehen ihm zur Seite.9

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Cunow, Die soziale Verfassung des Inkareichs, S. 66f., Ähnlich bei den Ozeaniern, vielfach so ζ. B. in Radak. (Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 267.) Buhl, Soziale Verhältnisse der Israeliten, S. 17. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 66. Ebenda, S. 118. Ebenda, S. 167. Ebenda, S. 218. Ebenda, Bd. I, S. 125. Ebenda, S. 124. Ebenda, S. 118.

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T r o t z d e m wurde „unter Tschaka jedes Niesen und Räuspern in Gegenwart des Tyrannen und jedes trockene Auge beim T o d e eines Anverwandten des Königshauses mit dem T o d e bestraft" 1 . G a n z dasselbe gilt von den durch ihre furchtbare Blutwirtschaft berüchtigten westafrikanischen Reichen D a h o m e y und Aschanti. „ T r o t z der Verwüstung der Menschenleben in Kriegen, Sklavenhandel und Menschenopfer herrschte nirgends unbeschränkter Despotismus. (...) Bowditch hebt die Ähnlichkeit des (in Aschanti bestehenden ständischen) Systems mit dem persischen hervor, wie Herodot es beschreibt." 2 Wir müssen uns, u m es nochmals zu betonen, sehr hüten, Despotismus und Absolutismus gleichzusetzen. Auch in den westeuropäischen Feudalstaaten war des Herrschers Gewalt über Leben und T o d häufig ganz unbeschränkt, und dennoch war er ohnmächtig, wenn die Großen gegen ihn waren. Solange er die Klassengliederung nicht antastet, mag er seiner Grausamkeit die Zügel schießen lassen und sogar einmal einen der großen Herren opfern: aber wehe ihm, wenn er es wagen sollte, die ökonomischen Vorrechte seiner Großen anzutasten. Sehr charakteristisch ist diese nach der einen Seite (rechtlich) ganz freie, nach der anderen (politisch) eng begrenzten Macht in den großen afrikanischen Reichen zu studieren gewesen: „Die Regierung der Waganda und Wanyoro ist so, daß der Theorie nach der König das ganze Land beherrscht, doch ist dies nicht viel mehr als eine Scheinregierung, denn in Wahrheit gehört das Land den obersten Häuptlingen des Reiches. Z u Mtesas Zeit verkörperten sie den Widerstand des Volkes gegen fremde Einflüsse, und Muanga fürchtet sich vor ihnen, wenn er neues einführen möchte. Wenn nun auch das Königtum in Wirklichkeit beschränkt ist, so k o m m t ihm doch eine imposante Stellung im Äußerlichen, im Formalen, zu. Der Masse des Volkes steht der Herrscher als unbeschränkter Gebieter gegenüber, denn er verfügt frei über Leben und T o d und fühlt sich nur im engen Kreise der obersten Höflinge gebunden." 3 U n d wieder ganz dasselbe gilt, u m auch den letzten der großen staatsbildenden Kreise zu nennen, von den Ozeaniern: „Nirgends feht ganz eine repräsentative Vermittlung zwischen Fürst und Volk. (...) Das aristokratische Prinzip korrigiert (...) das patriarchalische. Daher beruht der hochgesteigerte Despotismus mehr auf Klassen- und Kastendruck als auf den übermächtigen Willen eines Einzelnen." 4

c)

Die politische und soziale Zersetzung des primitiven Feudalstaates

Wir können an dieser Stelle nicht näher auf die unzähligen Abschattungen eingehen, in denen sich die patriarchalisch-aristokratische (resp. plutokratische) Mischung der Regierungsform des primitiven Feudalstaates für die ethnographisch-historische und juristische Betrachtung darstellt. Sie ist auch für den Verlauf der Entwicklung von geringster Bedeutung. So groß nämlich auch die Machtgewalt des Herrschers im Anfang sein mag, ein unvermeidbares Geschick zersplittert sie dennoch in kurzer Zeit, und zwar u m so schneller, je größer jene Macht, d. h. je größer das Gebiet des primitiven Feudalstaates höherer Stufe war.

1 Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 125. 2 Ebenda, S. 346. 3 Ebenda, Bd. II, S. 245. 4 Ebenda, Bd. I, S. 267f.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

Schon die Machtvermehrung der einzelnen Adligen durch den oben geschilderten Prozeß der immer vermehrten Okkupation und Besiedelung des ungenützten Landes mittels neuerworbenen Sklaven kann ihn mächtiger machen, als der Zentralgewalt lieb sein kann. „Wenn in einem Clan", berichtet Mommsen von den Kelten, „der etwa 80.000 Waffenfähige zählte, ein einziger Adliger mit 10.000 Knechten, ungerechnet die Hörigen und die Schuldner, auf dem Landtage erscheinen konnte, so ist es einleuchtend, daß ein solcher mehr ein unabhängiger Dynast war, als ein Bürger seines Clans."1 Und ähnliches mag für den „Heiu" der Somal gelten, den „großen Grundbesitzer der Hunderte auf seinem Boden in Abhängigkeit hält, so daß man sich bei den Somal an unsere mittelalterlichen Feudalzustände erinnert finden könnte"2. Wenn solche Ubermacht einzelner Grundherren schon im primitiven Feudalstaat niederer Stufe entstehen kann, so erreicht sie doch ihren höchsten Grad erst im Feudalstaat höherer Stufe: im feudalen Großstaat; und zwar durch die Machtvermehrung, die der Großgrundbesitz durch die Amtsgewalt erhält. Je mehr sich der Staat dehnt, um so mehr Amtsgewalt muß die Zentrale den Verwaltern der durch Krieg und Aufstände am meisten bedrohten Grenzbezirke der Marken übertragen. Ein solcher Beamter muß die höchste kriegerische Machtbefugnis mit den Funktionen eines obersten Verwaltungsbeamten vereinen, um seinen Amtsbezirk mit Sicherheit dem Staat erhalten zu können. Kommt er mit ganz wenigen Zivilbeamten aus, so braucht er doch eine ständige Kriegsmacht. Wie soll sie besoldet werden? Steuern, die zur Zentralstelle zusammenfließen, um wieder über das Land verteilt zu werden, kennt (vielleicht mit einer einzigen Ausnahme, von der unten zu sprechen sein wird) nur der geldwirtschaftlich entfaltete Staat. Von Geldwirtschaft und Geldsteuern kann aber hier, im naturalwirtschaftlichen „Landstaate", noch nicht die Rede sein. Darum bleibt der Zentrale nichts anderes übrig, als den Grafen, oder Kastellan, oder Satrapen auf die Naturaleinkünfte seines Amtsbezirkes anzuweisen. Er zieht die Abgaben der Untertanen an sich, verfügt über ihre Fronden, erhält die Sportein und Strafleistungen an Vieh usw. und hat dafür die bewaffnende Macht zu unterhalten, bestimmte Truppenmengen zur Verfügung der Zentrale zu stellen, Straßenund Brückenbauten auszuführen, den Herrscher samt seinem Gefolge oder seine „Königsboten" zu verpflegen, und schließlich eine bestimmte Abgabe in hochwertigen und sonst leicht transportablen Gütern an den Hof zu liefern: Pferde, Rinder, Sklaven, Edelmetalle, Wein usw. Mit anderen Worten: Er erhält ein ungeheuer großes Dienstlehen und wird schon dadurch, selbst wenn er nicht, was meistens der Fall sein wird, schon ohnehin der Größte im Lande war, der mächtigste Grundherr seines Amtsbezirkes. Daß er als solcher genau das gleiche tut, wie seine nichtbeamteten Standesgenossen, nur in noch viel größerem Maßstab, nämlich immer neues Land mit immer neuen Hörigen besetzt, um seine Kriegsmacht immer mehr zu verstärken, ist selbstverständlich und muß von der Zentrale sogar gewünscht und sogar gefördert werden. Denn das ist ja das Verhängnis dieser Staaten, daß sie diese lokalen Mächte selbst groß füttern müssen, die sie verschlingen werden. Es kommen Gelegenheiten, wo der Markgraf Bedingungen stellen kann, wenn man seine Kriegshilfe verlangt, namentlich in den hier nie fehlenden Erbfolgefehden. Er erlangt irgendeine wichtige Konzession, vor allen anderen die formelle Erblichkeit seines Amtslehens, das nun dem eigentlichen Feudallehen völlig gleichsteht. So wird er allmählich immer selbständiger, und das trübe Wort des

1 Mommsen, Römische Geschichte, Bd. IV, S. 234f. 2 Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 167.

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Muschik: „Der Himmel ist hoch und der Zar weit", wird unter jedem Himmel Wahrheit. Ich gebe ein charakteristisches Beispiel aus Afrika: „Das Lundareich ist ein absoluter Lehnsstaat. Die Häuptlinge (Muata, Mona und Muene) können in allen inneren Angelegenheiten selbständig handeln, solange es dem Muata Jamvo gefällt. Gewöhnlich schicken die großen und ferner wohnenden Häuptlinge einmal im Jahre ihre Tributkarawanen nach der Mussumba; aber weitab wohnende unterlassen wohl für längere Zeit jede Tributzahlung, während die kleineren Häuptlinge in der Nähe der Residenz sogar mehrmals im Jahre Tribut senden."1 Nichts kann deutlicher zeigen, als diese Mitteilung wie sehr in diesen lose zusammengehaltenen Naturalstaaten mit ihrem unzureichenden Transportsystemen die räumliche Entfernung politisch wirksam ist. Man könnte fast sagen, daß die Selbständigkeit der Feudalherren wächst wie das Quadrat der Entfernung vom Sitze der Zentralgewalt. Die Krone muß ihre Dienste immer teurer erkaufen, um ihnen eins der gesamtstaatlichen Hoheitsrechte nach dem anderen formell übertragen, oder es dulden, wenn sie es nehmen: Die Erblichkeit der Lehen, Straßen- und Handelsrecht (auf höherer Stufe auch das Münzrecht), die Gerichtshoheit, die staatlichen Fronrechte und die Verfügung über den Kriegsdienst der Freien im Lande. So gelangen die Machthaber der Grenzprovinzen allmählich zu immer größerer, zuletzt zu voller tatsächlicher Selbständigkeit, wenn auch das formale Band der Lehenshoheit die neu entstandenen Fürstentümer noch lange scheinbar zusammenhalten kann. Dem Leser drängen sich die Belege für diesen typischen Vorgang auf; die ganze mittelalterliche Geschichte ist eine einzige Kette davon; nicht nur das Merowinger- und Karolingerreich, nicht nur Deutschland, sondern auch Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Böhmen, Ungarn und auch Japan und China2 haben, nicht ein-, sondern mehrfach diesen Zerfallsprozeß durchgemacht. Nicht minder die Feudalstaaten im Zweistromlande: die hier einander ablösenden Großstaaten bersten immer wieder auseinander, um sich immer wieder zusammenzuballen. Von Persien heißt es ausdrücklich: „Einzelne Staaten und Provinzen erlangen durch glücklich vollbrachten Abfall auf längere Zeit die Freiheit, und der ,Großkönig' in Susa hatte nicht immer die Macht, sie zum Gehorsam zurückzuführen; in anderen herrschten Satrapen oder kriegerische Häuptlinge willkürlich, treulos und gewalttätig entweder auf eigene Hand oder als zinspflichtige Teilfürsten oder Unterkönige des Großherrschers. Eine Anhäufung von Staaten und Landschaften ohne gleichmäßiges Gerichtswesen, ohne Ordnung und Gesetzeskraft, ging das persische Weltreich unrettbar seiner Auflösung entgegen."3 Dem Nachbar im Nillande erging es nicht anders: „Aus den Okkupatorenfamilien, den freien Grundherren, die wohl nur dem Könige zinsten, gehen die Fürsten hervor, welche über gewisse Landstriche, Gaue (...) geboten. Diese Gaufürsten regieren ein von ihrem Familieneigen getrenntes besonderes Amtsland. Spätere kriegerische Ereignisse mit glücklichem Ausgang, die vielleicht die Lücke zwischen dem alten und mittleren Reich füllen, verbunden mit der Erbringung von Kriegsgefangenen, die als Arbeitskräfte verwendet werden konnten, veranlaßten eine strengere Ausnützung der Unterworfenen, eine genaue Festsetzung der Abgaben. Die Macht der Gaufürsten steigt im mittleren Reich

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Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 229. Ebenda, Bd. I, S. 128. Webers Weltgeschichte, Bd. III, S. 163.

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zu gewaltiger Höhe empor, und große Hofhaltungen werden von ihnen eingerichtet, der Prunk des Königshofes imitiert." 1 „Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Amter in ihren Familien erblich zu machen."2 Aber natürlich ist auch dieses geschichtliche Gesetz nicht auf die „geschichtlichen" Völker beschränkt. „Auch außerhalb Radschistans", sagt Ratzel von den indischen Feudalstaaten, „erfreuten sich die Adligen oft eines großen Maßes von Unabhängigkeit, so daß selbst in Haiderabad, nachdem sich der Nizam die Alleinherrschaft angeeignet hatte, die Umara oder Nabobs eigene Truppen, unabhängig von der Armee des Nizam, hielten. Den in neuerer Zeit höher gesteigerten Anforderungen in der Verwaltung indischer Staaten sind seltener noch als die großen Fürsten diese kleineren nachgekommen." 3 Und gar in Afrika kommen und vergehen die feudalen Großstaaten wie Blasen, die aus dem Strom des ewig gleichen Geschehens auftauchen und wieder zerplatzen. Das gewaltige Aschantireich ist binnen anderthalb Jahrhunderten auf ein Fünftel seines Gebietes eingeschrumpft,4 und viele der Reiche, mit denen die Portugiesen zusammenstießen, sind seitdem spurlos verschwunden. Und doch waren auch das starke Feudalreiche: „Pomphafte und grausame Negerreiche, wie Benin, Dahomey oder Aschanti bilden in ihrer Umgebung politisch desorganisierter Stämme manche Vergleichspunkte mit dem alten Peru oder Mexiko. Der streng gesonderte Erbadel der Mfumu, dem hauptsächlich die Distriksverwaltung oblag, und daneben der vergänglichere Standesadel bildeten in Loango starke Säulen des Herrschertums."5 Ist derart das einstige Großreich in eine Anzahl staatsrechtlich oder nur faktisch voneinander unabhängiger Teilstaaten zerfallen, so beginnt der alte Prozeß von neuem. Der Große frißt den Kleinen, bis ein neues Großreich entstanden ist. „Die größten Grundherren werden später Kaiser", sagt Meitzen lakonisch von Deutschland.6 Aber auch diese große Hausmacht verflüchtigt, zersplittert sich an der Notwendigkeit, die Grundherrschaft an kriegerische Vasallen zu verlehnen. „Die Könige selbst hatten sich dabei verschenkt; ihr großer Grundbesitz im Delta war zerronnen", sagt Schneider7 von den Pharaonen der sechsten Dynastie. Und ebenso verarmte im fränkischen Reiche die Hausmacht der Merowinger und Karolinger, in Deutschland die der Sachsen und der Staufer.8 Wir brauchen weitere Belege dafür nicht anzuführen; sie sind in jedermanns Besitz. Welche Kräfte den primitiven Feudalstaat aus diesem Hexenkreis, in dem die Zusammenballung mit dem Zerfall ohne Ende abwechselt, schließlich befreit haben, werden wir unten betrachten. Zunächst aber haben wir nach der politischen die soziale Seite dieses geschichtlichen Vorganges zu betrachten. Er verändert die Klassengliederung in der einschneidensten Weise. Mit furchtbarer Gewalt trifft er überall die Gemeinfreien, die untere Schicht der Herrengruppe. Sie versinken in Hörigkeit. Ihr Verfall muß mit der Zentralgewalt parallel gehen; denn beide,

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Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 702f. Ebenda, S. 712; vgl. Schneider, Kultur und Denken der alten Ägypter, Leipzig 1907, S. 38. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 599. Ebenda, S. 362. Ebenda, S. 344. Meitzen, Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen, Bd. II, S. 633. Schneider, Kultur und Denken der alten Ägypter, S. 38. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I, S. 140f.

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gleichmäßig von der um sich greifenden Macht der großen Grundherren bedroht, sind natürliche Verbündete. Die Krone hält den Grundherrn so lange in der Hand, wie das Aufgebot der Gemeinfreien des Bezirkes seiner Garde, seinem Gefolge, überlegen ist. Aber die fatale Notwendigkeit, die wir schilderten, zwingt die Krone, die Bauern dem Junker auszuliefern, indem sie seine Hausmacht mehrt; und im Augenblick, wo seine Garde stärker wird, als das Gau-Aufgebot, ist der freie Bauer geliefert. Wo der Grundherr die staatlichen Hoheitsrechte delegiert erhalten hat, d. h. zum mehr oder weniger unabhängigen Landesherren geworden ist, da geschieht die Niederwerfung des Freien wenigsten zum Teil unter scheingesetzlichen Formen: man ruiniert ihn durch den Kriegsdienst, der um so häufiger gefordert wird, je mehr das dynastische Interesse der Landesherren nach neuem Land und neuen Leuten strebt; man mißbraucht seine Fronpflicht, man mißbraucht die Justiz. Den Rest aber gibt dem Stande der Gemeinfreien die formelle Delegation oder tatsächliche Usurpation des wichtigsten Kronregals, der Verfügung über das noch nicht okkupierte Land. Das gehört ursprünglich dem „Volke", d. h. den Freien zur gesamten Hand; aber nach einem wohl überall geltenden Urrecht hat der Patriarch die Verfügung darüber. Auch dieses Verfügungsrecht geht mit den anderen Kronrechten an den „Landesherrn" über - und damit hat er das Mittel in die Hand bekommen, den Rest der Freien zu erdrosseln. Er erklärt das gesamte noch unbebaute Land für sein Eigentum, sperrt es gegen die Okkupation freier Elemente, gewährt nur denen noch den Zugang, die seine Oberherrschaft anerkennen, d. h. sich in irgendeine Art von Abhängigkeit, von Hörigkeit begeben. Das ist der letzte Nagel zum Sarge der Gemeinfreiheit. Bisher war die Gleichheit in der Vermögenslage einigermaßen gewährleistet. Und wenn der Bauer zwölf Söhne hatte: das Erbgut blieb unzersplittert, denn elf rodeten sich neue Hufen in der Gemeinen Mark oder dem noch nicht an Gemeinen aufgeteilten Volkslande. Das ist fortan unmöglich; die Hufen zersplittern, wo viele Kinder aufgezogen wurden, andere werden zusammengelegt, wo Erbsohn und Erbtochter die Ehe eingingen: jetzt gibt es ja „Arbeiter", die die größere Fläche bestellen helfen, nämlich jene Halb-, Viertel- und Achtelhufner. So wird die freie Dorfschaft in Arme und Reiche zerklüftet; schon das löst das Band, das bisher das Bündel Pfeile unzerbrechbar machte; und wenn dann gar Unfreie in die Dorfgemeinde eindringen, weil ein allzu arg geplagter Genösse, dem Drucke weichend, sich dem Herrn „kommendierte", oder weil der Herr einen durch Tod oder Uberschuldung des Inhabers erledigten Hof mit einem seiner Hörigen besetzte, dann ist jeder soziale Zusammenhalt gelöst, die durch Klassen- und Vermögensgegensätze zerspellte Bauernschaft dem Machthaber wehrlos preisgegeben. Im übrigen verläuft der Vorgang auch da nicht anders, wo der Magnat keine staatlichen Hoheitsrechte vorschützen kann; dann tut offenbare Gewalt, frecher Rechtsbruch die gleichen Dienste, und der ferne, ohnmächtige Herrscher, auf den guten Willen der Rechtsbrecher und Gewalttäter angewiesen, hat weder die Macht noch Möglichkeit, einzugreifen. Auch für diese Dinge braucht man kaum Beispiele anzuführen. In Deutschland hat die freie Bauernschaft diesen Vorgang der Enteignung und Deklassierung wenigstens dreimal durchgemacht. Einmal in keltischer Zeit.1 Das zweite Mal traf der Niederbruch die freien Bauern des Stammlandes im neunten und zehnten Jahrhundert, und die dritte Tragödie derselben Art spielte sich vom fünfzehnten Jahrhundert an im Kolonisationsgebiet des ehemaligen slawischen Landes ab.2 Am schlimmsten ging es den Bauern dort, wo überhaupt keine monarchische Autorität bestand, deren natürliche Interessensolidarität mit den Untertanen doch fast überall mildernd wenigstens auf die

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Mommsen, Römische Geschichte, Bd. V, S. 84. Vgl. die ausführliche Darstellung in: Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, Kap. III [siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 151; A.d.R.].

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äußere Form der Unterdrückung einwirkte, nämlich in den „Adelsrepubliken". Das keltische Gallien zu Cäsars Zeit bildet eines der frühesten Beispiele. „[Hier] vereinigten die großen Familien in ihrer Hand die ökonomische, kriegerische und politische Ubermacht. Sie monopolisierten die Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. Sie nötigten die Gemeinfreien, die die Steuerlast erdrückte, bei ihnen zu borgen und zuerst tatsächlich als Schuldner, dann rechtlich als Hörige sich ihrer Freiheit zu begeben. Sie entwickelten bei sich das Gefolgswesen, d. h. das Vorrecht des Adels, sich mit einer Anzahl gelöhnter reisiger Knechte, sogenannter Ambakten zu umgeben und damit einen Staat im Staate zu bilden; und gestützt auf diese ihre eigenen Leute trotzten sie den gesetzlichen Behörden und dem Gemeindeaufgebot und sprengten tatsächlich das Gemeinwesen (...) Schutz fand nur noch der hörige Mann bei seinem Herrn, den Pflicht und Interesse nötigten, die seinem Klienten zugefügte Unbill zu ahnden; die Freien zu beschirmen, hatte der Staat die Gewalt nicht mehr, weshalb diese zahlreich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben."1 Genau die gleichen Verhältnisse finden wir anderthalb Jahrtausende Später in Kurland, Livland, Schwedisch-Pommern, Ost-Holstein, Mecklenburg und namentlich in Polen. Wie dort dem Landjunker der freie Bauer, so erliegt ihm hier der freie adlige Schlachziz. „Die Weltgeschichte ist eintönig", sagt Ratzel. Hat doch derselbe Prozeß schon im alten Ägypten die Bauernschaft niedergeworfen: „Die nach einem kriegerischen Zwischenspiel folgende Periode des mittleren Reiches bringt auch den Bauern des Südens eine Verschlechterung ihrer Lage. Die Zahl der freien Herren sinkt, während ihr Landbesitz und ihre Macht steigt. Die Abgaben der Bauern werden auf dem Wege einer genauen Qualifikation der Güter durch eine Art von Kataster streng fetsgesetzt. Unter diesem Drucke strömen viele Bauern wohl zu den Fronhöfen und Städten der Gaufürsten zu, um sich dort als Knechte, Handwerker oder selbst als Beamte dem Wirtschaftsorganismus der Höfe einzuordnen. So tragen sie im Verein mit etwaigen Kriegsgefangenen dazu bei, die fürstliche Domanialverwaltung zu erweitern, und das Verjagen von Bauern aus ihren Besitzungen, wie es damals üblich gewesen sein dürfte, zu fördern."2 Nichts kann klarer für die Unvermeidlichkeit dieses Prozesses zeugen, als das Beispiel des Römerreiches. Hier ist der Begriff der Hörigkeit bereits verschollen, als es zum erstenmal in voller „Neuzeit" die Bühne betritt: nur die Sklaverei ist bekannt. Und dennoch versinken anderthalb Jahrtausende später die freien Bauern wieder in die echte Hörigkeit, nachdem Rom zu einem übermäßig gedehnten Großstaat geworden ist, dessen Grenzbezirke sich mehr und mehr vom Zentrum gelöst haben. Die großen Grundbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizeiverwaltung auf ihren Gütern übertragen ist, haben „ihre Hintersassen, auch wenn sie ursprünglich freie Eigentümer von ager privatus vectigalis waren, in eine hofrechtliche Stellung gebracht", haben „in einer Art von Immunität die faktische glebae adscritio entwickelt"3. Die einwandernden Germanen konnten diese Feudalordnung in Gallien und anderen Provinzen fertig übernehmen. Schon war der ehemals so ungeheure Unterschied zwischen Sklaven und freien Kolonien völlig verwischt, in der wirtschaftlichen Lage zuerst und natürlich bald auch in der Rechtsverfassung. In gleichem Maße, wie überall der Gemeinfreie in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit von den großen Grundherren der Nachbarschaft, in Hörigkeit verfällt, steigt die ehemals unterworfene Schicht empor. Die beiden Schichten kommen sich entgegen, treffen sich auf halbem Wege 1 2 3

Mommsen, Römische Geschichte, Bd. III, S. 234f. Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 771. Meitzen, Siedlung und Agranvesen der Westgermanen, Bd. I, S. 362f.

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und verschmelzen zuletzt. Was wir soeben an den freien Kolonien und den Ackersklaven des späten Rom beobachtet haben, vollzieht sich überall. So verschmelzen in Deutschland die Gemeinfreien mit den ehemaligen Hörigen zu der wirtschaftlich und rechtlich einheitlichen Schicht der „Grundholden"1. Die Hebung der ehemaligen „Untertanen", nennen wir sie der Kürze halber die „Plebs", folgt mit der gleichen Konsequenz, wie der Niedergang der Freien, aus der Grundvoraussetzung, auf der diese ganze Staatsordnung beruht, aus der Agglomeration des Grundvermögens in immer wenigeren Händen. Die Plebs ist der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn diese ist ihr Besieger und Besteuerer; und der Gemeinfreien - denn sie wird von ihnen verachtet und politisch unterdrückt, wie wirtschaftlich zurückgedrängt. Der große Magnat ist ebenfalls der natürliche Gegner der Zentralgewalt - denn sie ist das Hindernis auf seinem Wege zur staatlichen Unabhängigkeit; und ist ebenfalls der natürliche Gegner der Gemeinfreien, die nicht nur die Stützen der Zentralgewalt bilden, sondern auch mit ihrem Besitz räumlich die Ausdehnung seiner Herrschaft hindern und mit ihrem Anspruch auf Gleichheit der Rechte seinem Fürstenstolz unbequem sind. Ubereinstimmung der politischen und sozialen Interessen muß den Landesfürsten und die Plebs zu Bundesgenossen machen; jener kann nur zur vollen Unabhängigkeit kommen, wenn er bei seinen Machtkämpfen gegen Krone und Gemeinfreie über zuverlässige Krieger und willige Steuerzahler verfügt; die Plebs kann wirtschaftlich und gesellschaftlich nur dann aus ihrer Pariastellung erlöst werden, wenn die verhaßten, übermütigen Freien niedergerissen werden. Es ist die Solidarität zwischen dem Fürsten und seinen Untertanen, der wir hier zum andernmal begegnen. Das erstemal fanden wir sie schwach angedeutet schon in unserem zweiten Stadium der Staatsbildung. Diese Solidarität veranlaßt den Halbfürsten, seine hörigen Hintersassen mit ebensoviel Milde zu behandeln, wie die Freien seines Gebietes mit Härte: um so williger werden sie für ihn fechten und steuern, und um so williger werden die geplagten Freien dem Druck nachgeben, namentlich da ihre Teilsouveränität mit dem Verfall der Zentralgewalt doch nur der Schatten eines Wortes geworden ist. Hier und da - in Deutschland gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts geschah es mit vollem Bewußtsein2 - übt der Landesfürst ein besonders „mildes" Regiment, um die Untertanen benachbarter Machthaber zu sich herüberzuziehen und sich selbst dadurch an militärischer und steuerlicher Kraft um ebensoviel zu stärken, wie jene, seine natürlichen Gegner, zu schwächen. So erhält die Plebs formell oder faktisch mehr und mehr Rechte, besseres Besitzrecht, wohl auch Selbstverwaltung und eigene Gerichtsbarkeit in Gemeindeangelegenheiten, und steigt derart in gleichem Schrittmaß aufwärts, wie die Gemeinfreien abwärts, bis beide sich unterwegs treffen und zu einer rechtlich und wirtschaftlich ungefähr gleichen Schicht verschmelzen. Halb Hörige, halb Staatsuntertanen, bilden sie eine charakteristische Bildung des Feudalstaates, der noch keine klare Scheidung zwischen Staats- und Privatrecht kennt: eine unmittelbare Folge aus seiner historischen Entstehung, die staatliche Herrschaft um ökonomische Privatrechte halber setzte.

d)

Die ethnische Verschmelzung

Die rechtliche und soziale Verschmelzung der gesunkenen Freien und der gehobenen Plebs wird nun selbstverständlich auch zur ethnischen Durchdringung. Wurde zuerst dem Unterworfenen das commercium und connubium streng verwehrt, so findet die Mischung jetzt kein Hindernis mehr;

1 2

Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I, S. 373, 386. Vgl. Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, [derselbe, Gesammelte Schriften Bd. I: Theoretische Grundlegung, S. 151; A.d.R.].

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

im Dorfe entscheidet nicht mehr das Herrenblut, sondern der Reichtum über die soziale Klasse. Und oft genug mag der reinblütige Abkömmling der Hirtenkrieger bei einem ebenso reinblütigen Nachkommen der Leibeigenen den Ackerknecht spielen müssen. Die soziale Gruppe der Untertanen ist jetzt zusammengesetzt aus einem Teil der alten ethnischen Herrengruppe und einem Teil der alten Untertanengruppe. Nur aus einem Teil der letztgenannten! Denn ihr anderer Teil ist jetzt mit dem anderen Teil der alten ethnischen Herrengruppe ebenfalls zu einer einheitlichen sozialen Gruppe verschmolzen. D. h.: ein Teil der Plebs ist nicht nur bis zu dem Punkte aufgestiegen, bis zu dem die Masse der Gemeinfreien absank, sondern weit darüber hinaus, bis sie die volle Rezeption in die jetzt ebenso ungeheuer gehobene wie an Zahl verminderte Herrengruppe erlangte. Auch das ist ein universalgeschichtlicher Vorgang, weil er überall mit gleicher zwingender Gewalt aus den Bedingungen der feudalen Herrschaftsordnung folgt. Der primus inter pares, der, sei es als Inhaber der Zentralgewalt, sei es als örtlicher Machthaber, die Fürstenstellung innehat, braucht gefügigere Werkzeuge seiner Herrschaft als seine „Pairs" es sind. Diese vertreten eine Klasse, die er herabdrücken muß, wenn er selbst steigen will - und das will jeder, muß jeder wollen, denn Machtstreben ist hier identisch mit Selbsterhaltungsstreben. In diesem Streben stehen ihn die widerhaarigen, steifnackigen Vettern und Edelinge im Wege - und darum finden wir an jeder Hofhaltung, vom Großkönig des mächtigsten Feudalreiches bis herab zum Herrn einer fast rein privaten „Großoikenwirtschaft", Männer dunkler Herkunft als vertraute Beamte neben den Vertretern der Herrengruppe, die häufig unter der Maske fürstlicher Beamten eigentlich „Ephoren" sind, Mitinhaber der Fürstenmacht als Bevollmächtigte ihrer Gruppe. Ich erinnere an die Induna am Hofe des Bantukönigs. Kein Wunder, wenn der Fürst sich, lieber als diesen lästigen und anspruchsvollen Ratgebern, Männern vertraut, die ganz seine Geschöpfe sind, deren ganze Stellung unlösbar mit der seinen verknüpft ist, die sein Sturz mit ins Verderben reißen muß. Auch hier wieder sind historische Belege überflüssig. Jedermann weiß, daß an den Höfen der westeuropäischen Feudalreiche neben Verwandten des Königs und einigen edlen Vasallen auch Elemente der Untergruppe in hohe Stellungen einrückten: Geistliche, schwertgewandte Plebejer. Zu den Antrustiones Karls des Großen stellten alle Rassen und Völker seines Reiches ihr Kontingent. Auch in der Dietrichsage spiegelt sich dieses Emporkommen tapferer Söhne der unterworfenen Völker. Ich bringe auch hier einige, weniger bekannte Belege: Im Pharaonenland fand sich bereits im alten Reichte neben der Reichsbeamtenschaft aus dem feudalen Adel der Hirten-Eroberer, die die Gaue als Vertreter der Krone mit der ganzen Machtfülle von Statthaltern verwalteten, „eine für die einzelnen Regierungsfunktionen bestimmte Hofbeamtenschaft. [Diese] ist aus der Zahl der an den Höfen der Herrenfürsten eingestellten Dienerschaft Kriegsgefangenen, Flüchtlingen usw. - hervorgegangen"1. Noch die Josefssage zeigt als eine diesem Zeitalter geläufige Erscheinung das Aufsteigen eines Sklaven zum allmächtigen Minister. Und auch heute noch ist solche Karriere an allen orientalischen Höfen, in Persien, der Türkei, Marokko usw. durchaus nichts Unerhörtes. Der alte Derfflinger mag aus viel späterer Zeit und aus einem Stadium des Uberganges vom entfalteten Feudal- zum Ständestaat ein Beispiel geben, dem unzählige andere tapfere Haudegen an die Seite zu stellen wären. Und noch einige Belege von den „Geschichtslosen". Ratzel berichtet vom Bornu-Reich: „Die Freien haben das Bewußtsein ihrer freien Herkunft den Sklaven des Scheichs gegenüber nicht verloren, aber die Herrscher hegen zu den Sklaven mehr Vertäuen als zu ihren eigenen Verwandten und freien Stammesgenossen und rechnen auf ihre Ergebenheit. Nicht nur Hofämter, sondern auch die Verteidigung des Landes wurde von alters her vorzugsweise Sklaven anver-

1

Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 706.

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traut. Die Brüder des Fürsten, wie auch die ergeizigeren oder tatkräftigeren Söhne werden mit Argwohn betrachtet; während man die wichtigsten Hofämter in den Händen von Sklaven findet, sind die Posten fern vom Regierungssitz in denen der Prinzen. Die Einkünfte der Amter und Provinzen müssen für die Gehälter aufkommen." 1 „[Bei den Fulbe] teilt sich die Genossenschaft in Fürsten, Häuptlinge, Gemeine und Sklaven. Eine große Rolle spielen die Sklaven der Könige, die Soldaten und Beamte sind und auf die höchsten Stellen im Staate Anspruch machen dürfen."2 Dieser Hofadel kann unter Umständen auch zur Reichsbeamtenschaft zugelassen werden, so daß ihm der geschilderte Weg zum Landesfürsten offen steht; er stellt dann im entfalteten Feudalstaat den hohen Adel dar und pflegt seinen Rang selbst dann zu bewahren, wenn er durch Verschlucken seitens eines mächtigeren Nachbarn mediatisiert worden ist. Der fränkische Hochadel enthält sicher solche Elemente aus der ursprünglichen Untergruppe; 3 und da aus seinem Stamm der Hochadel des ganzen europäischen Kulturkreises zum großen Teil hervorgegangen ist, mindestens in indirekter Linie durch Verschwägerung, so finden wir die ethnische Verschmelzung, wie in der jetzigen Untertanengruppe, so auch in der höchsten Schicht der Herrengruppe. Dasselbe gilt für Ägypten: „Beim Sinken der königlichen Autorität in der Verfallszeit nützen die höheren Beamten ihre Macht für persönliche Zwecke, um ihre Amter in ihren Familien erblich zu machen und so einen ethnisch nicht von der übrigen Bevölkerung sich abhebenden Beamtenadel zu schaffen."4 Und schließlich ergreift der gleiche Prozeß aus den gleichen Gründen die jetzige Mittelklasse, die Unterschicht der Herrengruppe, die Beamten und Offiziere der großen Lehenträger. Zuerst besteht noch ein gesellschaftlicher Unterschied zwischen den freien Vasallen, die der große Grundherr mit Unterlehen begabt hat: Verwandten, jüngeren Söhnen anderer adliger Familien, verarmten Bezirksgenossen, einzelnen freigeborenen Bauernsöhnen, freien Flüchtlingen und berufsmäßigen Raufbolden freier Abkunft, - und den sozusagen subalternen Offizieren der Garde, die aus der Plebs stammen. Aber die Unfreiheit steigt, und die Freiheit sinkt im sozialen Werte, und auch hier verläßt sich der Fürst sicherer auf seine Geschöpfe als auf seine pares. Und so kommt es auch hier früher oder später zur vollen Verschmelzung. In Deutschland steht der hörige Hofadel noch 1085 im Range zwischen servi et litones, aber hundert Jahre später bereits bei den liberi et nobiles.5 Im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts verwächst er völlig mit der freien Vasallität zum ritterschaftlichen Adel, dem er inzwischen wirtschaftlich gleichgestellt ist: beide haben Unterlehen, Dienstlehen, gegen Verpflichtung zur Heeresfolge; und die Dienstlehen der Hörigen, der „Ministerialen", sind inzwischen ebenso erblich geworden, wie die der freien Vasallen, und wie es die Erbgüter der wenigen noch aufrechten, der Umklammerung durch das Landesfürstentum noch nicht verfallenen, kleineren Grundherren des alten Adels von jeher waren. Ganz analog ist der Prozeß in allen anderen Feudalstaaten Westeuropas verlaufen, und sein genaues Gegenstück findet sich im äußersten Osten der eurasischen Landmasse, in Japan. Die Daimio sind der Hochadel, die Samurai die Ritterschaft, der Schwertadel.

1 2 3

Ratzel, Völkerkunde, Bd. Π, S. 503. Ebenda, S. 518. Meitzen, Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen, Bd. I, S. 579: „Bei Erlaß der lex salica ist der alte Geschlechtsadel bereits zu Gemeinfreien herabgedrückt oder vernichtet. Aber die Beamten haben schon dreifaches Wergeid [sie] (600 solidi, und wenn er ,puer regis' ist, 300)."

4 5

Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 712. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. II, S. 61.

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e)

Der entfaltete Feudalstaat

Damit ist der Feudalstaat völlig zur Entfaltung gelangt. Er bildet politisch-sozial eine Hierarchie von zahlreichen Schichten, von denen immer die untere der nächst oberen leistungsverpflichtet, die obere der nächst unteren schutzverpflichtet ist. Die Grundlage unten bildet das arbeitende Volk, immer noch zum Hauptteil aus Bauern bestehend; der Uberschuß ihrer Arbeit, die Grundrente, der gesamte „Mehrwert" des ökonomischen Mittels, dient dem Unterhalt der oberen Schichten. Diese Grundrente fließt von der Mehrzahl der Grundstücke, soweit sie nicht unmittelbarer, unverlehnter Besitz der Landesherren oder des Kronenträgers sind, an die kleinen Lehensträger; diese haben dafür ihre vertragsmäßige Heeresfolge zu leisten und auch in gewissen Fällen wirtschaftliche Leistungen zu erfüllen; der größere Lehensträger ist in gleicher Weise dem großen, dieser wenigstens formellrechtlich dem Träger der Zentralgewalt verpflichtet ; und der Kaiser, König, Sultan, Schah, Pharao gilt wieder als Vasall des Stammesgottes: so steigt vom Ackerboden, dessen Bebauer alles trägt und nährt, bis zum „Himmelskönig" eine kunstvoll gestaffelte Rangordnung auf, die das ganze Staatsleben so umklammert, daß der Sitte und dem Rechte nach kein Stück Land und kein Mensch sich ihr entziehen kann. Sind doch alle ursprünglich für die Gemeinfreien geschaffenen Rechte verfallen oder durch den Sieg des Landesfürstentums zweckwidrig umgebogen worden; wer nicht im Lehenswesen steht, ist in der Tat vogelfrei, ohne Schutz und ohne „Recht", d. h. ohne die Macht, die allein Recht schafft. Und so war das Gesetz, das uns so leicht als Ausfluß junkerlichen Ubermuts erscheint: „nulle terre sans seigneur" in Wirklichkeit nichts anderes, als die Kodifikation eines fertigen neuen Rechtszustandes und allenfalls die Forträumung einiger veralteter, nicht mehr zu duldender Reste des völlig überwundenen primitiven Feudalstaates. Was haben nicht die Verfechter der Rassenlehre als eines geschichtsphilosophischen Hauptschlüssels für Schlüsse aus der angeblichen Tatsache gezogen, daß nur die Germanen kraft ihrer überlegenen „Staatsbegabung" den kunstvollen Bau des entfalteten Feudalstaates zustande gebracht haben! Dies Argument hat schon viel an Kredit verloren, seit man sich davon überzeugen mußte, daß auch die mongolische Rasse in Japan ganz das gleiche geleistet hat. Vielleicht hätte der Neger es auch dann in Japan so weit gebracht, wenn ihm nicht die Invasion stärkerer Kulturen den Weg abgeschnitten hätte, obgleich sich Uganda ζ. B. nicht gar so sehr von dem Reiche der Karolinger oder des roten Boleslaw unterscheidet mit Ausnahme der „Traditionswerte" aus der mittelländischen Kultur: und die waren nicht ein Verdienst der germanischen Rasse, sondern ein Geschenk, das sie vom Geschick als Mitgift erhielt. Aber lassen wir den Neger beiseite! Auch der „Semit", dem angeblich die Staatsfähigkeit so ganz abgehen soll, hat vor Jahrtausenden ganz dasselbe Feudalsystem aufgebaut, wenigstens wenn die Gründer des ägyptischen Reiches Semiten waren. Klingt es nicht wie eine Schilderung aus der Stauferzeit, wenn Thurnwald berichtet: „Wer sich in die Gefolgschaft eines Machthabers begab, stellte sich dadurch unter dessen Schutz, wie unter den eines Familienhauptes. Dieses Verhältnis (...) bezeichnet ein der Vasallität ähnliches Treue-Verhältnis. Dieses Schutz- gegen Treue-Verhältnis wird zur Basis der gesamten Gesellschaftsorganisation Ägyptens. Es liegt ebenso den Beziehungen des Feudalherren zu seinen Dienstmannen oder Bauern, wie des Pharao zu seinen Beamten zugrunde. Auf dieser Form beruht der Zusammenschluß der Einzelnen zu Gruppen unter gemeinsame Schutzherren bis hinauf zum Gipfel der Gesellschaftspyramide, zum König, der selbst als Platzhalter seiner Väter', als Vasall der Götter auf Erden gilt. (...) Wer außerhalb dieser sozialen Klammerung lebt, der ,Mann ohne Meister' (-Schutzherr), ist schutzlos und daher rechtlos."1

1

Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 705.

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Wir haben bisher die Hypothese einer besonderen Rassenbegabung nicht gebraucht und werden sie auch in Zukunft nicht brauchen. Sie ist, wie Spencer sagt, der dümmste Versuch einer Geschichtsphilosophie, der denkbar ist. Die vielfache Staffelung der Stände in einer einzigen Pyramide gegenseitiger Abhängigkeit ist das erste Kennzeichen des entfalteten Feudalstaates. Die Verschmelzung der ursprünglich gesonderten ethnischen Gruppen zu einem Volkstum ist sein zweites Kennzeichen. Das Bewußtsein der einstigen /?d5senverschiedenheit ist völlig verschwunden. Nichts bleibt als die A7iissercverschiedeoheit. Fortan haben wir es nicht mehr mit ethnischen Gruppen, sondern mit sozialen Klassen zu tun. Der soziale Gegensatz beherrscht allein das Leben des Staates. U n d entsprechend wandelt sich das ethnische Gruppenbewußtsein zum Klassenbewußtsein, die Gruppentheorie zur Klassentheorie. Sie ändert ihr Wesen dabei nicht im mindesten. Die neuen Herrenklassen sind genauso legitimistischrassenstolz, wie die alte Herrengruppe es war; auch der neue Schwertadel versteht es, seinen Ursprung aus der besiegten Gruppe schnell und gründlich zu vergessen. U n d auf der anderen Seite schwört der deklassierte Freie oder der gesunkene Edeling genauso auf das „Naturrecht", wie früher nur die Unterworfenen. U n d ebenso ist der entfaltete Feudalstaat noch immer grundsätzlich genau dasselbe Wesen, das er bereits im zweiten Stadium der primitiven Staatsbildung war. Seine F o r m ist die Herrschaft, sein Wesen die politische Ausbeutung des ökonomischen Mittels, begrenzt durch ein Staatsrecht, das den Berechtigten des politischen Mittels die Schutzpflicht auferlegt und das Recht der Verpflichteten des politischen Mittels auf Erhaltung bei der Prästationsfähigkeit gewährleistet. A m Wesen der Herrschaft hat sich nichts geändert, sie ist nur vielfältiger abgestuft, und das gleiche gilt für die Ausbeutung oder das, was die ökonomische Theorie als „Verteilung" bezeichnet. N a c h wie vor kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des jetzt zum Klassenkampf gewandelten Gruppenkampfes - und aus der zentripetalen Kraft des Gemeininteresses vorschreibt. U n d nach wie vor wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Streben seiner Herrenklasse nach neuem Land und Leuten, ein Streben auf Erweiterung, das gleichzeitig noch immer Trieb der Selbsterhaltung ist. Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, ist der entfaltete Feudalstaat mithin nichts anderes als der zu seiner Reife gelangte primitive Staat.

V. Die Entfaltung des Verfassungsstaates Wenn wir den Begriff der „Ausgänge" wieder wie oben fassen, als eine organische, aus inneren Kräften bedingte Weiterentwicklung des entfalteten Feudalstaates nach vor- oder rückwärts, nicht als ein von äußeren Kräften bedingtes mechanisch herbeigeführtes Ende - dann kann man aussprechen, daß seine Ausgänge lediglich durch die selbständige Entwicklung der vom ökonomischen Mittel begründeten gesellschaftlichen Schöpfungen bestimmt werden. Solche Einflüsse können auch von außen, aus fremden Staaten kommen, die dank einer weiter gediehenen wirtschaftlichen Entwicklung straffere Zentralisation, bessere militärische Gliederung und größere Stoßkraft besitzen. Wir haben solche Fälle schon gestreift: die selbständige Entwicklung der mittelländischen Feudalstaaten wurde durch ihren Zusammenstoß mit den ökonomisch viel reicheren, straff zentralisierten Seestaaten, Karthago und vor allem R o m , abgeschnitten. Auch die Zerstörung des Perserreiches durch Alexander darf hier angezogen werden, da Makedonien damals bereits die ökonomischen Errungenschaften der hellenischen Seestaaten sich angeeignet hatte. Das beste Beispiel für solche Fremdeinflüsse bietet aber wieder die neueste Zeit in Japan,

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dessen Entwicklung durch die kriegerischen und friedlichen Einwirkungen des westeuropäischen Kulturkreises in fast unglaublicher Weise abgekürzt wurde. In kaum einem Menschenalter hat es den Weg vom entfalteten Feudalstaat zum voll ausgebildeten modernen Verfassungsstaat zurückgelegt. Mir scheint, als handle es sich hier eben nur um eine Abkürzung des Prozesses. Soweit wir zu sehen vermögen - denn jetzt werden die historischen Belege sehr selten, und die Ethnographie bietet uns überhaupt keine mehr -, müssen innere Kräfte auch ohne starke, fremde Einflüsse den entfalteten Feudalstaat mit strenger Folgerichtigkeit immer denselben Weg zum gleichen Ausgang führen. Die Schöpfungen des ökonomischen Mittels, die diesen Gang beherrschen, sind das Städtewesen und die in den Städten entwickelte Geldwirtschaft, die die Naturalwirtschaft allmählich verdrängt und damit die Achse, um die das ganze Staatsleben kreist, an eine ganz andere Stelle verlegt: an die Stelle des Grundvermögens rückt allmählich das mobile Kapital.

a)

Die Emanzipation der Bauernschaft

All das folgt mit Notwendigkeit aus den Grundvoraussetzungen des feudalen Naturalstaates. Je mehr sich das Großgrundeigentum zum Landesfürstentum auswächst, um so mehr muß im gleichen Schrittmaß die feudale Naturalwirtschaft zerfallen. Solange das Großgrundeigentum noch verhältnismäßig klein ist, läßt sich der primitive Imkergrundsatz, der dem Bauern gerade die Lebensnotdurft läßt, durchführen: wenn sie sich aber räumlich ins Gewaltige dehnt und, wie regelmäßig der Fall, durch Fehdegang, Kommendation kleiner Grundherren, Erbschaft und Ehepolitik einen weit um den eigentlichen Kern umherliegenden Streubesitz einschließt, dann läßt sich die Imkerpolitik nicht mehr durchführen. Will der Grundherr nicht eine Unzahl von Aufsichtsbeamten besolden, was teuer und politisch nicht ungefährlich ist, so muß er den Bauern eine irgendwie begrenzte Abgabe (halb Rente, halb Steuer) auflegen. Die wirtschaftliche Notwendigkeit einer Verwaltungsreform kommt also der politischen Notwendigkeit, die „Plebs" zu heben, die wir oben betrachteten, entgegen. Je mehr nun der Grundherr aufhört, privatwirtschaftliches Subjekt zu sein, je ausschließlicher er öffentlich-rechtliches Subjekt wird, nämlich Landesfürst: um so mehr setzt sich die oben dargestellte Solidarität zwischen Fürst und Volk durch. Wir sahen, daß die einzelnen Magnaten schon in der Ubergangsperiode zwischen Großgrundeigentum und Fürstentum das größte Interesse daran hatten, eine „milde" Regierung zu führen, nicht nur um die eigene Plebs zu kräftigem Staatsbewußtsein zu erziehen, sondern auch, um den noch aufrechten Gemeinfreien den Übertritt in die Hörigkeit zu erleichtern und den Nachbarn und Rivalen das kostbare Menschenmaterial zu entziehen. Dieses Interesse muß dem zur vollen faktischen Selbständigkeit gelangten Landesfürsten das Verharren auf dem einmal eingeschlagenen Wege dringend anempfehlen. Vor allem aber wird er, wenn er nun wieder selbst Land und Leute an seine Beamten und Offiziere verlehnt, das dringendste politische Interesse daran haben, ihnen seine Untertanen nicht mit Haut und Haaren auszuliefern. Um sie in der Hand zu behalten, beschränkt der Fürst das Rentenrecht der „Ritter" auf bestimmte Leistungen in Naturalien und Fronden, während er andere, im Landesinteresse nötige (Wege-, Brückenfronden usw.) für sich vorbehält. Wir werden sofort erkennen, wie sehr der Umstand, daß der Bauer im entfalteten Feudalstaat mindestens an zwei Herren zu leisten hat, für seinen späteren Aufstieg entscheidet. Aus allen diesen Gründen muß im entfalteten Feudalstaat der Bauer auf irgendwie begrenzte Abgaben gestellt werden. Aller Uberschuß gehört von jetzt an ihm zur freien Verfügung. Damit ist der Charakter des Grundeigentums völlig umgeschlagen: gehörte ihm bisher von Rechts wegen der

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gesamte Ertrag, abzüglich des notdürftigen Unterhaltes des Bebauers, so gehört jetzt der gesamte Ertrag von Rechts wegen dem Bebauer abzüglich einer festen Rente für den Eigentümer: der Großgrundbesitz ist Grundherrschaft geworden. Das ist der zweite große Schritt, den die Menschheit zu ihrem Ziele tut. Das erste war der Ubergang vom Bären- zum Imkerstadium, der die Sklaverei erfand·, dieser hebt sie auf Der arbeitende Mensch, bisher nur Objekt des Rechtes, ist jetzt zum ersten Male Rechtssubjekt geworden. Der rechtlose Arbeitsmotor seines Herren, der nur auf Leib und Leben eine notdürftige Gewähr besaß, ist jetzt steuerpflichtiger Untertan eines Fürsten geworden. N u n spannt das ökonomische Mittel, seines Erfolges zum ersten Male sicher, ganz anders seine Kräfte an. Der Bauer arbeitet mit unvergleichlich mehr Fleiß und Sorgfalt, erzielt Überschüsse, und damit ist die „Stadt" im strengen ökonomischen Sinne geschaffen, die Gewerbestadt. Bäuerliche Uberschüsse bedeuten Nachfrage nach Gütern, die die bäuerliche Wirtschaft nicht selbst erzeugt; und Intensivierung des bäuerlichen Betriebes bedeutet Verminderung der gewerblichen Güter, die bisher der bäuerliche Hausfleiß erzeugte: denn der Bodenbau und die Viehzucht absorbieren mehr und mehr von der Arbeitskraft der bäuerlichen Familie. Arbeitsteilung zwischen Urproduktion und Gewerbe wird möglich und notwendig; das Dorf wird vorwiegend der Sitz der ersteren, die Gewerbestadt entsteht als Sitz der letztgenannten.

b)

Die Entstehung der Gewerbestadt

Man verstehe nicht falsch: nicht die Stadt entsteht, sondern die Gewerbestadt. Die reale historische Stadt besteht längst, und keinem entfalteten Feudalstaat fehlt sie. Sie ist entstanden entweder aus dem reinen politischen Mittel als Burg* oder aus dem Zusammenwirken des politischen mit dem ökonomischen Mittel als Meßplatz, oder aus dem religiösen Bedürfnis als Tempelbezirk.2 Wo solche Städte im historischen Sinne in der Nachbarschaft bestehen, gliedert sich die neu erwachsende Gewerbestadt ihr an; sonst entsteht sie spontan aus der nunmehr entfalteten Arbeitsteilung und wird in der Regel sich nun ihrerseits auch als Burg und Kultstätte ausbauen. Aber das sind zufällige historische Beimengungen. Im streng ökonomischen Sinne bedeutet „Stadt" den Ort des ökonomischen Mittels, des äquivalenten Tauschverkehrs zwischen Urproduktion und Gewerbe. Dem entspricht auch der Sprachgebrauch: eine reine, wenn auch noch so große Festung, eine noch so große Anhäufung von Tempeln, Klöstern und Wallfahrtsstätten, wenn sie ohne Markt möglich wären, würde man immer nur nach ihren äußeren Merkmalen als „stadtähnlich" oder „stadtartig" bezeichnen. So wenig sich an dem Äußeren der historischen Stadt geändert haben mag, so gewaltig ist doch die innere Umwälzung, die ihr Entstehen ankündigt. Die Gewerbestadt ist der Gegenpol und Widerpart des Staates-, wie er das entfaltete politische, so ist sie das entfaltete ökonomische Mittel! Der große Kampf, der die Weltgeschichte erfüllt, ja bedeutet, spielt hinfort zwischen städtischem und staatlichem Wesen.

1

„Die größten Heerlager der Rheinarmee erhielten teils durch die Handelsleute, die dem Heer sich anschlossen, teils und vor allem durch die Veteranen, die in ihren gewohnten Quartieren auch nach Entlassung verblieben, einen städtischen Anhang, eine von den eigentlichen Militärquartieren gesonderte Budenstadt (canabae); überall und namentlich in Germanien sind aus diesen bei den Legionslagern und besonders den Hauptquartieren mit der Zeit eigentliche Städte erwachsen." (Mommsen, Rom. Geschichte, Bd. V, S. 153.)

2

„Zu den Verehrungsstätten kommen immer Priesterwohnungen, Schulen, Pilgerherbergen." (Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 575.) Natürlich wird jeder große Wallfahrtsort Mittelpunkt eines starken Marktverkehrs. Nicht umsonst heißen unsere nordeuropäischen Großhandelsmärkte nach religiöser Zeremonie „Messen".

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Die Stadt, als ein politisch wirtschaftlicher Körper, unterhöhlt das Feudalsystem mit politischen und wirtschatftlichen Waffen. Mit der ersten entwindet, mit der zweiten entlockt sie der feudalen Herrenklasse die Macht. Auf dem politischen Felde vollzieht sich dieser Prozeß dadurch, daß die Stadt als Zentrum eigener Macht in das politische Kräftespiel eingreift, das den entfalteten Feudalstaat bewegt, zwischen Zentralgewalt, örtlichen Grundherren und Untertanen. Als Festungen und Wohnstätten kriegerischer Männer, wie als Lagerplätze der für die Kriegsführung erforderlichen Güter (Waffen usw.) und später als Zentren der Geldwirtschaft sind sie in den Kämpfen zwischen der Zentralgewalt und den werdenden Landesfürsten oder zwischen diesen untereinander wichtige Stützpunkte und Bundesgenossen und können bei kluger Politik bedeutende Rechte erwerben. In der Regel stehen die Städte in diesen Kämpfen auf Seiten der Zentralgewalt gegen die feudalen Junker und zwar aus sozialen Gründen, weil der Landedelmann dem Patrizier die gesellschaftliche Stellung versagt, die der Reichere doch fordert; - aus politischen Gründen, weil die Zentrale, kraft der Solidarität zwischen Fürst und Volk, doch viel mehr das Gemeininteresse im Auge hat, als der nur seinen Privatinteressen dienende Großgrundbesitzer; - und schließlich aus wirtschaftlichen Gründen, weil das Städtewesen nur in Frieden und Sicherheit gedeihen kann. Das Faust- und Fehderecht und der Stegreif sind mit dem ökonomischen Mittel nicht vereinbar: darum stehen die Städte meistens in Treue zu dem Friedens- und Rechtsschützer, zuerst zu dem Kaiser, dann zu den souveränen Landesherren; und wenn die bewaffnete Bürgerschaft ein Raubnest bricht und ausräuchert, so spiegelt sich im Tropfen nur der gleiche gewaltige Gegensatz wie im Weltmeer der Geschichte. Um diese politische Rolle mit Erfolg spielen zu können, muß die Stadt möglichst viele Bürger heranziehen, ein Bestreben, das auch durch rein wirtschaftliche Erwägungen geboten wird. Denn mit der Bürgerzahl wächst Arbeitsteilung und Reichtum. Darum fördert die Stadt die Einwanderung mit allen Kräften und zeigt auch hierdurch wieder die Polarität ihres Wesensgegensatzes gegen den Landedelmann. Denn die neuen Bürger, die sie heranzieht, entzieht sie den Feudalgütern, die sie dadurch an Steuer und Wehrkraft ebenso schwächt, wie sie selbst sich stärkt. Die Stadt tritt als mächtiger Mitbieter in jene Auktion ein, in der der hörige Bauer an den Meistbietenden (die meisten Rechte Bietenden) versteigert wird. Sie bietet ihm die volle Freiheit, zuweilen auch noch Haus und Hof. Der Grundsatz „Stadtluft macht frei" wird durchgekämpft, und die Zentralgewalt, froh die Städte zu stärken und die aufsässigen Edlen zu schwächen, setzt gemeinhin gern ihr Siegel unter das neu entstandene Recht. Der dritte große Fortschritt der Weltgeschichte: Die Ehre der freien Arbeit ist entdeckt oder besser wiederentdeckt; sie war verschollen seit jenen fernen Zeiten, in denen der freie Jäger und der noch nicht unterworfene Hackbauer den Ertrag ihrer Arbeit genossen. Noch trägt der Bauer das Pariazeichen des Unfreien, und noch ist sein Recht schwach: aber in der mauerumgürteten, wehrhaften Stadt trägt der Bürger das Haupt hoch, als ein Freier in jedem rechtlichen Sinne. Zwar gibt es noch Rangstufen der politischen Berechtigung innerhalb der Stadtmauer. Die Alteingesessenen, die Ritterbürtigen, die Altfreien, die reichen Grundbesitzer weigern dem Zugezogenen, dem unfrei Geborenen, dem armen Handwerker und Hölzer das Mitregiment. Aber wie wir es schon oben bei der Schilderung der Seestädte sahen: in der Stadtluft können solche Rangstufen nicht erhalten bleiben. Die intelligente, skeptische, straff gegliederte und zusammengefaßte Mehrheit erzwingt die Gleichberechtigung. Nur dauert der Kampf im entfalteten Feudalstaat gemeinhin länger, weil hier die Parteien ihre Sache nicht unter sich allein abzumachen haben; die großen Grundherren der Nachbarschaft und die Fürsten greifen hemmend in das Kräftespiel ein. Dieser tertius gaudens existierte nicht in den antiken Seestaaten, wo außerhalb der Stadt kein mächtiges Feudalherrentum bestand. Das sind die politischen Waffen der Stadt im Kampf gegen den Feudalstaat: Bundesgenossenschaft mit der Krone, unmittelbare Offensive, und Fortlocken der Hintersassen in die freie Stadt-

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luft. Nicht minder wirksam aber ist ihre wirtschaftliche Waffe, die vom städtischen Wesen unzertrennliche Geldwirtschaft, die den Natural- und damit den Feudalstaat völlig zerstört.

c)

Die Einflüsse der Geldwirtschaft

Der soziologische Prozeß, den die Geldwirtschaft auslöst, ist so bekannt und in seiner Mechanik so allgemein anerkannt, daß wir uns mit kurzen Andeutungen begnügen dürfen. Stärkung der Zentralgewalt bis zur Allmacht und Schwächung der Lokalgewalten bis zur Ohnmacht, das ist auch hier, wie in den Seestaaten die Folge der eindringenden Geldwirtschaft. Die Herrschaft ist nicht das Ziel, sondern das Mittel der Herren zu ihrem eigentlichen Ziele, dem arbeitslosen Genuß möglichst vieler, möglichst kostbarer Genußgüter. Im Naturalstaat ist die Herrschaft das einzige Mittel dazu: dem Markgrafen und Landesherrn gibt seine politische Macht den Reichtum. Je mehr Bauern ihn dienen, um so größer seine Streitmacht, um so mehr dehnt er seinen Herrschaftsbezirk und damit seine Einkünfte. Zahlt aber erst ein reicher Markt Produkte der Landwirtschaft mit verlockenden Waren, so ist es für jedes noch vorwiegend privatwirtschaftliche Subjekt, d. h. für jeden, noch nicht zum Landesfürstentum aufgestiegenen Grundherrn - und dazu gehören jetzt die Ritter - viel rationeller, die Zahl der Bauern nach Möglichkeit zu vermindern und nur so viel übrigzulassen, wie mit äußerster Anstrengung möglichst viel Produkte aus dem Acker ziehen können, und ihnen von diesen Produkten so wenig wie möglich zu lassen. Das gewaltig vermehrte „produit net" des Grundeigentums wird nun aber, wieder ganz rationell, nicht mehr zur Unterhaltung einer streitbaren Garde verwendet, sondern auf den Markt geführt und gegen Waren verkauft. Das Gefolge wird aufgetöst, der Ritter ist zum Rittergutsbesitzer geworden. Damit ist wie mit einem Schlage die Zentralgewalt (Reichskönig oder Landesherr) der Rivalen um die Herrschaft ledig, ist politisch allmächtig geworden. Die trotzigen Vasallen, die den Schattenkönig zittern machten, haben sich bald, nach einem kurzen Intermezzo der Mitregierung im Ständestaat, in geschmeidige Höflinge verwandelt, die den roi soleil umschranzen; jetzt sind sie auf ihn angewiesen; denn nur die militärsche Macht, die er jetzt allein (als Soldheer) in Händen hat, kann sie davor schützen, daß ihre bis zum Äußersten getriebenen Hintersassen ihr Joch abwerfen. Stand in der Naturalwirtschaft die Krone fast immer mit Bauern und Städten im Bunde gegen den Adel, so haben wir jetzt das Bündnis des aus dem Feudalstaat geborenen Absolutismus mit dem Adel gegen die Vertreter des ökonomischen Mittels. Seit Adam Smith pflegt man diese grundstürzende Umwälzung so darzustellen, als habe der dumme Junker sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft, indem er die Herrschaft für törichte Luxuswaren verschacherte. Nichts kann falscher sein. Der einzelne irrt häufig in der Wahrung seiner Interessen: eine Klasse irrt niemals auf die Dauer! Die Wahrheit ist, daß die Geldwirtschaft unmittelbar, ohne das Dazwischentreten der agrarischen Umwälzung, die Zentralgewalt politisch so sehr stärkt, daß ein Widerstand des Grundadels sinnlos wäre. Wie die Geschichte des Altertums beweist, ist das Heer einer finanziell starken Zentralgewalt dem feudalen Aufgebot immer überlegen. Mit Geld kann man Bauernjungen vortrefflich bewaffnen und zu Berufssoldaten drillen, deren geschlossene Masse der lockere Verband des Ritterheeres nicht gewachsen ist. Und dazu kann der Fürst in diesem Stadium noch auf die wehrhaften Batallione der städtischen Innungen rechnen. Die Feuerwaffe tat in Westeuropa das übrige, auch sie ein Produkt, das nur in der Gewerbewirtschaft der wohlhabenden Stadt entstehen konnte. Aus diesen militärtechnischen Gründen muß selbst derjenige Feudalherr, der den Luxus nicht achtet und den Wunsch hat, seine relative Selbständigkeit zu erhalten oder zu steigern, sein Gebiet der gleichen agrarischen Umwälzung unterwerfen: denn, um stark zu sein, braucht auch er jetzt vor allem Geld, das nunmehr der nervus rerum geworden ist, um Waffen zu kaufen und Berufssoldaten zu dingen.

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Die geldwirtschaftliche Umwälzung schafft den zweiten kapitalistischen Großbetrieb; neben die Großlandwirtschaft; tritt die Großunternehmung des Krieges: die Kondottieri erscheinen auf der Bühne. Söldnermaterial ist ja jetzt genug auf dem Markte, um Heere zusammenzubringen: die entlassenen Feudalgardisten und die exportierten Bauern. Auf diese Weise kann wohl einmal ein Junker als Kondottiere noch zum Landesfürstentum aufsteigen, wie es in Italien öfters geschah, und wie es Albrecht Wallenstein schon erreicht hatte. Aber das ist individuelles Schicksal, das am Schlußergebnis nichts ändert. Die lokalen Mächte verschwinden aus dem politischen Kräftespiel als selbständige Machtzentren, behalten nur solange noch ein Restchen ihres ehemaligen Einflusses, wie sie dem Fürsten als Finanzquelle nötig sind: der Ständestaat. Die unendliche Machtvermehrung der Krone wird nun noch gesteigert durch eine zweite Schöpfung der Geldwirtschaft, das Beamtentum. Wir haben den „Hexenkreis" ausführlich dargestellt, den der Feudalstaat zwischen Zusammenballung und Zerfall ohne Ausweg durchlaufen mußte, solange er gezwungen war, die Beamten mit „Land und Leuten" zu besolden und dadurch zu selbständigen Machtfaktoren aufzufüttern. Die Geldwirtschaft zerbricht den Hexenkreis. Fortan vollzieht die Zentralgewalt die Funktionen durch besoldete Beamte, die von ihr dauernd abhängig sind.1 Von jetzt an ist einer straff zentralisierten Regierung die Dauer ermöglicht, und Reiche entstehen, wie sie seit den geldwirtschaftlich entfalteten Seestaaten nicht mehr existiert hatten. Diese Umwälzung der politischen Kräftekonstellation hat sich, soweit ich sehen kann, überall an die Ausbildung der Geldwirtschaft angeschlossen - vielleicht mit einer einzigen Ausnahme: Ägypten. Hier scheint - von irgendeiner Gewißheit ist nach mir gewordener sachverständiger Auskunft keine Rede - die Geldwirtschaft sich erst in der griechischen Zeit entfaltet zu haben. Bis dahin leistet der Bauer Naturalzinse. 2 Dennoch finden wir schon nach der Austreibung der Hyksos im neuen Reiche den königlichen Absolutismus voll ausgebildet: „Die militärische Macht wird durch ausländische Söldner gestützt, die Verwaltung durch ein in der Hand des Königs zentralisiertes Beamtentum geführt, die Lehensaristokratie ist verschwunden."3 Indessen bestätigt gerade diese Ausnahme die Regel. Ägypten ist ein Land von einzigartigem geographischen Charakter. Schmal zwischen Wüste und Gebirge eingepreßt, wird es in seiner ganzen Länge von einer natürlichen Straße durchzogen, die dem Transport von Massengütern viel weniger Schwierigkeiten entgegenstellt, als die prächtigste Landstraße: die Wasserstraße des Nil. Und diese Straße ermöglichte es dem Pharao, die Steuern sämtlicher Gaue in seinen eigenen Magazinen, den „Häusern"4 zu zentralisieren und von da aus Beamte und Garnisonen mit naturalibus zu besolden. Darum bleibt Ägypten, nachdem es einmal zu einem Großstaat geeinigt war, auch zentralisiert, bis fremde Mächte seinem staatlichen Dasein ein Ende bereiten. „Der Umstand, daß im Zustande der Naturalwirtschaft der Herrscher unmittelbar und ausschließlich über die Genußgüter verfügt, und von den gesamten Einkünften nur eine solche Menge und solche Art von Gütern an seine Beamten abgibt, wie es ihm wünschenswert und

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Eisenhart, Geschichte der Nationalökonomik, Jena 1881, S. 9: „Mit Hilfe des neuen liquideren Soldmittels konnte nunmehr ein neuer abhängigerer Kriegs- und Beamtenstand aufgestellt werden. Seine terminweise Auszahlung gestattete demselben nicht ferner, sich von dem gemeinsamen Soldherrn unabhängig zu machen und selbst wider ihn zu kehren." Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 773. Ebenda, S. 699. Ebenda, S. 709.

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nützlich erscheint, und die Verteilung der Luxusgüter ebenfalls fast ausschließlich in seiner Hand ruht, ist die Quelle seiner ungeheuren Machtfülle." 1 Mit dieser einen Ausnahme, wo ein gewaltiger Strom die Aufgaben der Zirkulation löst, hat wohl immer die Geldwirtschaft die Auflösung des Feudalstaates bewirkt. Die Kosten der Umwälzung tragen Bauern und Städte. Im Friedensschluß liefern sich Krone und Junker den Bauern gegenseitig aus, teilen ihn sozusagen in zwei ideelle Hälften; die Krone bewilligt dem Adel den größten Teil des Bauernlandes und den größten Teil der Arbeitskraft der nicht gelegten Bauern; der Adel bewilligt der Krone die Rekrutenaushebung und Steuern auf Bauernschaften und Städte. Der Bauer, der schon in der Freiheit reich geworden war, sinkt in Armut und damit in soziale Deklassierung zurück. Die Städte werden durch die nunmehr verbündeten ehemaligen Feudalgewalten unter das Knie gebogen, wo sie nicht selbst, wie ζ. B. in Oberitalien, schon feudale Zentralgewalten geworden waren. (Auch dann noch verfallen sie zumeist der Herrschaft der Kondottieri.) Die Angriffsmacht der Gegner ist stärker, ihre eigene Macht ist schwächer geworden. Denn mit der Kaufkraft der Bauern verfällt ihr Wohlstand, wie er mit ihr entstanden war. Die kleinen Landstädte stagnieren und verarmen und verfallen wehrlos dem fürstlichen Absolutismus; die großen, wo die Luxusnachfrage der Herren ein starkes Gewerbe auferzieht, zerklüften sozial und verlieren dadurch an politischer Kraft. Denn die Masseneinwanderung, die jetzt in ihre Mauern erfolgt: entlassene Gardisten, gelegte Bauern, verarmte Handwerker der Kleinstädte, ist eine proletarische. Zum erstenmal erscheint der „freie Arbeiter" der Marxschen Terminologie massenhaft auf dem städtischen Arbeitsmarkte; und nun tritt wieder das „Gesetz der Agglomeration" Vermögens- und klassenbildend in Wirksamkeit und zerklüftet die Stadtbevölkerung in heftigen Klassenkämpfen, durch deren Ausnützung der Landesfürst fast immer die Herrschaft gewinnt. Nur wenige echte „Seestaaten", „Stadtstaaten" können sich auf die Dauer dieser Umklammerung durch das Fürstentum entziehen. Wieder hat sich, wie in den Seestaaten, die Achse des Staatslebens auf eine andere Stelle verlegt. Statt um das Grundvermögen kreist es jetzt um das Kapitalvermögen (denn auch das Grundeigentum ist jetzt „Kapital" geworden). Warum mündet nun die Entwicklung nicht, wie hei den Seestaaten, in die kapitalistische Sklavenwirtschaft einf Dafür sind zwei Gründe maßgebend: ein innerer und ein äußerer. Der äußere ist der, daß eine ergiebige Sklavenjagd kaum irgendwo noch möglich ist, wo fast alle Länder in erreichbarem Umkreise ebenfalls als starke Staaten organisiert sind. Wo sie möglich ist, wie ζ. B. in den amerikanischen Kolonien der Westeuropäer, bildet sie sich sofort aus. Der innere Grund aber ist der, daß der Bauer hier, im Gegensatz zum Seestaat, nicht einem, sondern mindestens zwei 2 Berechtigten leistungspflichtig ist: dem Grundbesitzer und dem Landesherrn. Beide halten sich die Hände fest, um dem Bauern den Rest von Prästationsfähigkeit zu erhalten, der für ihre Interessen nötig ist. Namentlich haben starke Fürsten, ζ. B. die brandenburgisch-preußischen, viel für die Bauern getan. Aus diesem Grunde blieb der Bauer, wenngleich jämmerlich ausgebeutet, überall da persönlich frei und Rechtssubjekt, wo das Feudalsystem voll entfaltet gewesen war, als die Geldwirtschaft einsetzte. Daß diese Erklärung richtig ist, ergibt sich klar aus den Verhältnissen derjenigen Staaten, die von der Geldwirtschaft ergriffen wurden, ehe das Feudalsystem fertig gestaffelt war. Das sind die ehemals slawischen Gebiete Deutschlands, namentlich aber Polen. Hier hatte sich der Feudalstaat noch nicht so kunstvoll gestaffelt, als der Getreidebedarf der großen Gewerbezentren des Westens den

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Thurnwald, Staat und Wirtschaft im alten Ägypten, S. 711. Im mittelalterlichen Deutschland zinst der Bauer oft außer an den Grund- und den Landesherrn noch an Obermärker und Vogt.

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Ritter, das staatsrechtliche Subjekt, in den Rittergutsbesitzer, das privatwirtschaftliche Subjekt, verwandelte. Daher war der Bauer nur einem einzigen Herrn, dem Grundherrn, leistungspflichtig, und daher entstehen hier die schon gekennzeichneten Adelsrepubliken, die der kapitalistischen Sklavenwirtschaft so nahekommen, wie der Druck der staatlich vorgeschritteneren Nachbarn es irgend gestattet.1 Das, was jetzt noch folgt, ist so allgemein bekannt, daß einige Worte genügen. Die Geldwirtschaft, zum Kapitalismus entfaltet, tritt klassenbildend neben den Grundbesitz; der Kapitalist fordert Gleichberechtigung und erzwingt sie schließlich, indem er die niedere Plebs revolutioniert und zum Sturme gegen die alte Herrschaftsordnung führt, selbstverständlich unter dem Banner des „Naturrechts". Kaum ist der Sieg errungen, wendet die Klasse des mobilen Reichtums, die Bourgeoisie, die Waffen rückwärts, schließt mit dem alten Gegner Frieden und bekämpft die Plebs im Namen des Legitimismus oder wenigstens einer üblen Mischung legitimistischer und Scheinliberaler Argumente. So hat sich allmählich der Staat entfaltet: vom primitiven Raubstaat zum entfalteten Feudalstaat, zum Absolutismus, zum modernen Verfassungsstaat.

d)

Der moderne Verfassungsstaat

Betrachten wir Mechanik und Kinetik des modernen Staates etwas näher. Er ist grundsätzlich noch dasselbe Wesen, wie der primitive Raub- und der entfaltete Feudalstaat. Nur ein neues Element ist hinzugetreten, das wenigstens die Bestimmung hat, im Interessenkampfe der Klassen das Gemeininteresse des Staatsganzen zu vertreten: die Beamtenschaft. Inwieweit sie tatsächlich dieser Bestimmung gerecht wird, werden wir an seiner Stelle betrachten. Zunächst studieren wir den Staat in denjenigen Charakterzügen, die er aus seinen Jugendstufen mit herübergebracht hat. Noch immer ist seine Form die Herrschaft, sein Inhalt die Ausbeutung des ökonomischen Mittels, diese noch immer begrenzt durch das Staatsrecht, das einerseits die hergebrachte „Verteilung" des nationalen Gesamtproduktes schützt, andererseits die Leistungspflichtigen bei der Prästationsfähigkeit zu erhalten sucht. Noch immer kreist die Innenpolitik des Staates in derjenigen Bahn, die ihm durch das Parallelogramm aus der zentrifugalen Kraft des Klassenkampfes und der zentripetalen Kraft des staatlichen Gemeininteresses vorgeschrieben wird; und noch immer wird seine Außenpolitik bestimmt durch das Interesse der Herrenklasse, das jetzt aber außer dem landed auch das moneyed interest umfaßt. Grundsätzlich sind nach wie vor nur zwei Klassen zu unterscheiden: eine herrschende, der vom gesamten Erzeugnis der Volksarbeit (des ökonomischen Mittels) mehr zufällt, als sie beigetragen hat, und eine beherrschte, der weniger zufällt, als sie beigetragen hat. Jede dieser Klassen zerfällt je nach dem Grade der ökonomischen Entwicklung, in mehr oder weniger Unterklassen und -schichten, die sich nach der Gunst und Ungunst des für sie geltenden Verteilungsschlüssels abstufen. In hochentwickelten Staaten findet sich zwischen den beiden Hauptklassen eine Ubergangsklasse eingeschoben, die ebenfalls untergeschichtet sein kann. Ihre Mitglieder sind nach oben leistungspflichtig, nach unten leistungsberechtigt. Um ein Beispiel zu wählen, so sind im modernen Deutschland in der herrschenden Klasse mindestens drei Schichten vertreten: die großen Landmagnaten, die

1

Vgl. dazu Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, Kap. III [siehe derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 218-265; A.d.R.].

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zugleich Industrie- und Bergherren sind, die großen Industriellen und Bankokraten, die oft zugleich schon Großgrundbesitzer sind und daher schnell mit der ersten Schicht verschmelzen (Fürsten, Fugger, Grafen Donnersmarck), und drittens die kleinen Landjunker. Die beherrschte Klasse besteht mindestens aus Kleinbauern, Landarbeitern, Industriearbeitern samt kleinen Handwerkern und Unterbeamten. Die Uberklassen sind die „Mittelstände": Groß- und Mittelbauern, die kleinen Industriellen und bessersituierten Handwerker und diejenigen reichen Bourgeois, die noch nicht reich genug geworden sind, um gewisse traditionelle Schwierigkeiten zu überwinden, die ihrer Aufnahme in den Konnubialverband entgegenstehen (}uden). Sie leisten nach oben unentgolten und empfangen von unten unentgolten; es ist individuelles Schicksal, was auf die Dauer überwiegt; danach bestimmt sich der Ausgang, den die Schicht oder das Individuum erlebt: volle Rezeption nach oben oder volles Versinken nach unten. Aszendent sind von den Ubergangsklassen Deutschlands jetzt ζ. B. der Großbauer und Mittelindustrielle, deszendent die Mehrzahl der Handwerker. Damit sind wir schon zur Kinetik der Klassen gelangt. Das Interesse jeder Klasse setzt eine reale Menge assoziierter Kräfte in Bewegung, die mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf die Erreichung eines bestimmten Zieles hindrängen. Dieses Ziel ist für alle Klassen dasselbe: das Gesamterzeugnis der auf die Gütererzeugung gewandten produktiven Arbeit aller Staatsangehörigen. Jede Klasse erstrebt einen möglichst großen Anteil an Nationalprodukt; und da alle dasselbe erstreben, bildet der Klassenkampf den Inhalt aller Staatsgeschichte (immer abgesehen von den durch das Staatsinteresse erzeugten gemeinsamen Handlungen, von denen wir hier absehen dürfen, weil sie von der bisherigen Geschichtsbetrachtung - zumeist mit größter Einseitigkeit - in den Vordergrund gerückt worden sind). Dieser Klassenkampf stellt sich historisch dar als Parteienkampf. Eine Partei ist ursprünglich und auf die Dauer nie etwas anderes als die organisierte Vertretung einer Klasse. Wo eine Klasse durch die soziale Differenzierung in mehrere Klassen mit verschiedenen Sonderinteressen zerfällt, da zerfällt alsbald auch die Partei in entsprechend viele junge Parteien, die je nach dem Grade der Divergenz der Klasseninteressen Bundesgenossen oder Todfeinde sein werden. - Wo umgekehrt ein alter Klassengegensatz durch die soziale Differenzierung verschwindet, da verschmelzen auch in Bälde die beiden alten Parteien zu einer neuen. Als Beispiel für den ersten Fall mag die Abspaltung der mittelständischen und antisemitischen Parteien vom deutschen Liberalismus genannt werden, als Folge davon, daß jene deszendente, dieser aszendente Schichten vertreten; den zweiten Fall mag die politische Verschmelzung charakterisieren, die den ostelbischen Kleinjunker mit dem westelbischen Großbauern im Bunde der Landwirte zusammenführt. Da jener sinkt und dieser steigt, treffen sie sich auf halbem Wege. Alle Parteipolitik hat nur einen Inhalt: der vertretenen Klasse einen möglichst großen Anteil am Nationalprodukt zu verschaffen. Mit anderen Worten: die bevorzugten Klassen wollen ihren Anteil mindestens auf der alten Höhe halten, womöglich noch vermehren bis auf ein Maximum, das den ausgebeuteten Klassen gerade noch die Prästationsfähigkeit läßt (ganz wie im primitiven Imkerstadium) und das ganze Mehrprodukt des ökonomischen Mittels beschlagnahmt, ein Mehrprodukt, das mit wachsender Volksdichte und Arbeitsteilung ungeheuer anwächst; - die Gruppe der ausgebeuteten Klassen will ihren Tribut womöglich auf Null vermindern, das gesamte Nationalprodukt selbst verzehren; - und die Übergangsklassen streben danach, den Tribut nach oben soviel wie möglich zu vermindern, das unentgoltene Einkommen von unten soviel wie möglich zu vermehren. Das ist Ziel und Inhalt des Parteienkampfes. Die herrschende Klasse führt ihn mit allen Mitteln, die ihr die überkommene Herrschaft in die Hand legt. Sie gibt die Gesetze, die zu ihrem Zwecke dienen (Klassengesetzgebung) und wendet sie so an, daß die scharfe Schneide immer nach unten, der stumpfe Rücken immer nach oben gerichtet ist (Klassenjustiz). Sie handhabt die Staatsverwaltung zwiefach im Interesse ihrer Klassenangehörigen, indem sie erstens alle hervorragenden Stellungen, die Einfluß und Gewinn bringen, ihnen vorbehält (Heer, obere Verwaltung, Justiz), und zweitens die Staatspolitik durch diese ihre Geschöpfe leitet (Klassenpolitik: Handelskriege, Kolonialpolitik,

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Schutzzollpolitik, Arbeiterpolitik, Wahlpolitik usw.). Solange der Adel herrscht, beutet er den Staat wie ein Rittergut aus; sobald die Bourgeoisie ans Ruder kommt, exploitiert sie ihn wie eine Fabrik. Und die Klassen-Religion deckt alles mit ihrem Tabu, solange es geht. Noch bestehen im Staatsrecht eine Anzahl politischer Privilegien und wirtschaftlicher Machtpositionen zugunsten der Herrenklasse: plutokratisches Wahlsystem, Koalitionsbeschränkung, Gesindeordnung, „Liebesgaben" usw. Und darum ist der Verfassungskampf, der Jahrtausende hindurch das Staatsleben beherrschte, noch nicht beendet. Er vollzieht sich zumeist friedlich in den Parlamenten, aber auch zuweilen durch Straßendemonstrationen, Massenstreiks und Revolten. Aber die Plebs hat begriffen, daß nicht, wenigstens nicht mehr, in diesen Resten der feudalen Machtpositionen die Zitadelle der Gegner zu suchen ist. Nicht politische, sondern wirtschaftliche Ursachen müssen es sein, die es bewirken, daß auch im modernen Verfassungsstaate sich die „Verteilung" grundsätzlich nicht geändert hat. Nach wie vor lebt die große Masse in bitterer Armut, bestenfalls in karger Dürftigkeit, in harter, zermalmender, verdumpfender Fron - und nach wie vor zieht eine schmale Minderheit, eine aus Altprivilegierten und Emporkömmlingen gemischte neue Herrenklasse den ins Ungeheure gewachsenen Tribut unentgolten ein, um verschwenderisch zu genießen. Diesen wirtschaftlichen Ursachen der mangelhaften Verteilung gilt fortan mehr und mehr der Klassenkampf als unmittelbarer Lohnkampf zwischen Proletariat und Exploiteuren mittels Streik, Gewerkschaft, Genossenschaft. Die wirtschaftliche Organisation tritt erst gleichberechtigt, darin führend neben und vor die politische. Die Gewerkschaft beherrscht zuletzt die Partei. So weit ist die Entwicklung des Staates in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bisher gediehen. Viel feiner differenziert, viel mächtiger integriert, wäre auch der Verfassungstaat also nach Form und Inhalt grundsätzlich nichts anderes, als seine Vorstufen, wenn nicht die Beamtenschaft als neues Element in ihn eingetreten wäre. Grundsätzlich ist der Beamte, aus Staatsmitteln besoldet, dem ökonomischen Interessenkampf entrückt, und daher gilt in jeder tüchtigen Bürokratie die Beteiligung des Beamten an Erwerbsunternehmungen mit Recht als nicht dem Amte angemessen. Wäre das Prinzip völlig durchführbar, und brächte nicht auch der beste Beamte die Staatsauffassung der Klasse mit, aus der er entstammt, so wäre in dem Beamtentum in der Tat jene schlichtende und ordnende Instanz oberhalb des Interessenkampfes gegeben, die den Staat seinen neuen Zielen zuführen könnte. Sie wäre der Punkt des Archimedes, von dem aus die Welt des Staates bewegt werden könnte. Aber leider ist weder das Prinzip völlig durchführbar, noch sind die Beamten abstrakte Menschen ohne Klassenbewußtsein. Ganz abgesehen davon, daß die Beteiligung an einer bestimmten Art der Unternehmung, der Großlandwirtschaft, in allen Staaten so lange geradezu als höhere Qualifikation des Beamten gilt, wie der Grundadel überwiegt, wirken auf zahlreiche Beamte, und gerade auf die einflußreichsten, gewaltige ökonomische Interessen ein und ziehen sie unbewußt und gegen ihren Willen in den Kampf mit hinein. Väterliche und schwiegerväterliche Zuschüsse, ererbter Besitz und nahe Verwandtschaft mit Interessenten des landed oder moneyed interest verstärken die aus der „Kinderstube" mitgebrachte Solidarität mit der herrschenden Klasse, aus der diese Beamtenschaft fast ausnahmslos hervorgeht, während diese Solidarität bei Fortfall solcher ökonomischen Beziehungen leichter durch das reine Staatsinteresse zurückgedrängt wird. Aus diesem Grunde finden wir in der Regel die tüchtigste, objektivste, unparteilichste Beamtenschaft in armen Staaten; Preußen ζ. B. verdankte früher vor allem seiner Armut jenen unvergleichlichen Beamtenstand, der es sicher durch alle Klippen steuerte. Seine Mitglieder waren wirklich der Regel nach von allem Erwerbsinteressen, unmittelbaren und mittelbaren, völlig gelöst. In reicheren Staatsgebilden ist dieses ideale Beamtentum seltener zu finden. Die plutokratische Entwicklung zieht den einzelnen mehr oder weniger mit in den Strudel, nimmt ihm einen Teil seiner Objektivität, seiner Unparteilichkeit. Dennoch erfüllt der Beamtenstand noch immer eini-

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germaßen die Aufgabe, die ihm zugefallen ist, das Staatsinteresse gegen die Klasseninteressen zu wahren; und, wenn auch wider Willen oder wenigstens ohne klares Bewußtsein davon, wahrt er es so, daß das ökonomische Mittel, das den Beamtenstand schuf, in seinem langsamen Siegesgang gegen das politische Mittel gefördert wird. Gewiß: die Beamten treiben die Klassenpolitik, die die Konstellation der Kräfte im Staate ihnen vorschreibt; gewiß: sie sind im Grunde nur Vertreter der Herrenklasse, der sie entstammen. Aber sie mildern die Schärfe des Kampfes, sie treten Ausschreitungen entgegen, sie bewilligen Änderungen des Rechtes, die durch die soziale Entwicklung reif geworden sind, ehe der offene Kampf darum entbrennt. Wo ein tüchtiges Fürstengeschlecht herrscht, dessen jeweiliges Haupt sich gleich Friedrich nur als „den ersten Beamten des Staates" betrachtet, gilt das Gesagte in verstärktem Maße von ihm, da sein Interesse, als des dauernden Nutznießers des Dauerwesens Staat, ihm vor allem gebietet, die zentripetalen Kräfte zu verstärken und die zentrifugalen zu schwächen. Wir haben im Laufe der Betrachtung öfters die natürliche Solidarität zwischen Fürst und Volk als segensreiche geschichtliche Kraft kennengelernt: im vollendeten Verfassungsstaat, in dem der Monarch nur noch in unendlich geringem Maße privatwirtschaftliches Subjekt, und fast ganz „Beamter" ist, drückt diese Interessenverknüpfung noch viel stärker durch als im Feudalstaat und absoluten Staat, wo die Herrschaft noch wenigstens zur einen Hälfte Privatwirtschaft ist. Die äußere Form der Regierung ist auch im Verfassungsstaate nicht von entscheidender Bedeutung: der Klassenkampf wird in der Republik mit den gleichen Mitteln geführt wie in der Monarchie und führt zum gleichen Ziele. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, daß ceteris paribus in der Monarchie die Kurve der Staatsentwicklung gestreckter, mit geringeren sekundären Einbuchtungen verläuft, weil der Fürst, für Tagesströmungen weniger empfindlich als ein auf kurze Jahre gewählter Präsident, eine vorübergehende Einbuße an Volkstümlichkeit weniger zu scheuen braucht und daher seine Politik auf längere Zeiträume spannen kann. Noch ist einer Abart des Beamtentums zu gedenken, deren Einfluß auf die Höherentwicklung des Staatswesens nicht unterschätzt werden darf, des wissenschaftlichen Beamtentums der Hochschulen. Es ist nicht nur Schöpfung des ökonomischen Mittels, wie das Beamtentum überhaupt, sondern gleichzeitig Vertreter einer geschichtlichen Kraft, die wir bisher nur als Bundesgenossen des Eroberungsstaates kennengelernt haben, des Kausalbedürfnisses. Dieses Bedürfnis sahen wir auf primitiver Stufe die Superstition erschaffen; und deren Bastard, das Tabu, fanden wir überall als starke Waffe in den Händen der Herrenklasse. Aus demselben Bedürfnis aber ist nunmehr die Wissenschaft entstanden, die nun die Superstition angreift und zertrümmert und dadurch der Entwicklung den Weg bereiten hilft. Das ist die unschätzbare geschichtliche Leistung der Wissenschaft und namentlich der Hochschulen.

VI. Die Tendenz der staatlichen Entwicklung Wir haben die Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Forscher ähnlich, der einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für ihn Unerforschliche. Breit und gewaltig rollt auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatsgeschichte - an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er „dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz sinkt"? Ist eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung möglich?

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Demokratie

Ich glaube, daß sie möglich ist. Die Tendenz1 der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das „entfaltete politische Mittel" zu sein und wird „Freibürgerschaft" werden. D. h.: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein, die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bürokratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der „Staat" der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete „Gesellschaft" sein. Man hat Bibliotheken geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten. Der „Staat" ist der Inbegriff aller durch das politische, die „ Gesellschaft" der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen von Mensch zu Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen: in der „Freibürgerschaft" wird es keinen „Staat", nur noch „Gesellschaft" geben. Diese Prognose der Staatsentwicklung ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen Geschichtsphilosophen das „Wertresultat" der Weltgeschichte zu geben versuchten. Sie enthält den „Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit zur friedlichen Arbeit" Saint-Simons ebenso wie die „Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit" Hegels-, die „Entfaltung der Humanität" Herders ebenso wie das „Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur" Schleiermachers. Unsere Zeit hat den frohen Optimismus der Klassiker und Humanisten eingebüßt: der soziologische Pessimismus beherrscht die Geister. Die hier gestellte Prognose kann kaum irgendwo auf Anhänger rechnen. Nicht nur, daß sie den Nutznießern der Herrschaft kraft ihrer Klassenstimmung unglaublich erscheinen muß: auch die Angehörigen der beherrschten Klasse stehen ihr mit dem äußersten Skeptizismus gegenüber. Die proletarische Theorie sagt zwar grundsätzlich den gleichen Endzustand voraus, aber sie hält ihn nicht auf dem Wege der Evolution, sondern nur auf dem Wege der Revolution für möglich und stellt ihn sich unter dem Bilde einer, von der historisch gewordenen gänzlich abweichenden Gestalt der „Gesellschaft", d. h. der Organisation des ökonomischen Mittels, vor: als marktlose Wirtschaftsordnung, als Kollektivismus. - Die anarchistische Theorie hält Form und Inhalt des „Staates" für untrennbar, Schrift und Kopf derselben Münze: keine „Regierung" ohne Ausbeutung! Sie will daher Form und Inhalt des Staates zerschlagen und den Zustand der Anarchie herbeiführen, selbst wenn dabei alle ökonomischen Vorteile der großen arbeitsteiligen Volkswirtschaft geopfert werden müßten. - Sogar der bedeutende Denker, der zuerst den Grund zu der hier vorgetragenen Staatslehre gelegt hat, Ludwig Gumplowicz, ist soziologischer Pessimist, und zwar aus denselben Gründen, wie die von ihm so heftig befehdeten Anarchisten. Auch er hält Form und Inhalt, Regierung und Klassenausbeutung, für ewig untrennbar: da er aber mit Recht - ein Zusammenleben vieler Menschen ohne eine mit Zwangsgewalt ausgestattete Regierung nicht für möglich hält, so erklärt er den Klassenstaat für eine „immanente" nicht bloß für eine historische Kategorie. Nur das kleine Häuflein der Sozialliberalen oder der liberalen Sozialisten glaubt an die Evolution einer Gesellschaft ohne Klassenherrschaft und Klassenausbeutung, die neben der politischen auch die ökonomische Bewegungsfreiheit des Individuums, natürlich innerhalb der Grenzen des ökonomischen Mittels, gewährleistet. Das war das Kredo des alten, vormanchesterlichen, sozialen Liberalismus, wie ihn Quesnay und namentlich Adam Smith verkündeten, und wie es in der Neuzeit von Henry George und Theodor Hertzka aufgenommen wurde.

1

„Tendenz, d. h. ein Gesetz, dessen absolute Durchführung durch gegenwirkende Umstände aufgehalten, verlangsamt, abgeschwächt wird." (Marx, Das Kapital, Bd. III, Kap. I, S. 215.)

Der Staat

383

Diese Prognose läßt sich zwiefach begründen, geschichtsphilosophisch und volkswirtschaftlich, als Tendenz der Staats- und als Tendenz der Wirtschaftsentwicklung, die beide deutlich einem Punkte zustreben. Die Tendenz der Staatsentwicklung enthüllte sich uns als ein steter, siegreicher Kampf des ökonomischen Mittels gegen das politische. Das Recht des ökonomischen Mittels, das Recht der Gleichheit und des Friedens, sahen wir im Anfang auf den winzigen Kreis der Blutsverwandtschaftshorde beschränkt, eine Mitgift schon aus vormenschlichen Gesellschaftszuständen;1 rings um dieses Friedenseiland tobte der Ozean des politischen Mittels und seines Rechtes. Aber weiter und weiter sahen wir die Kreise sich spannen, aus denen das Recht des Friedens seinen Widerpart verdrängt hat, und sahen sein Vordringen überall geknüpft an das Vordringen des ökonomischen Mittels, des als äquivalent betrachteten Tauschverkehrs der Gruppen untereinander. Zuerst vielleicht durch den Feuertausch, dann durch den Frauentausch und schließlich durch den Gütertausch dehnte sich das Gebiet des Friedensrechtes immer weiter; es schützte die Marktplätze, dann die zum Markt führenden Straßen, dann die auf den Straßen ziehenden Kaufleute. Wir haben ferner gesehen, wie der „Staat" diese Friedensorganisation in sich aufnimmt, sie fortbildet, und wie sie dann im Staate selbst das Gewaltrecht immer weiter zurückdrängt, Kaufmannsrecht wird Stadtrecht; die Gewerbestadt, das entfaltete ökonomische Mittel, unterhöhlt durch seine Waren- und Geldwirtschaft den Feudalstaat, das entfaltete politische Mittel; und die städtische Bevölkerung vernichtet zuletzt im offenen Kampf die politischen Reste des Feudalstaates und erstreitet der gesamten Bevölkerung des Staates die Freiheit und das Recht der Gleichheit zurück. Stadtrecht wird Staatsrecht, zuletzt Völkerrecht. Nun sehen wir nirgend eine Kraft, die dieser bisher dauernd wirksam gewesenen Tendenz jetzt noch hindernd in den Weg treten könnte. Im Gegenteil: die bisherigen Hemmungen des Prozesses werden augenscheinlich immer schwächer. Die Tauschbeziehungen der Nationen gewinnen international eine die kriegerisch politischen Beziehungen immer mehr überwiegende Bedeutung; und durch den gleichen Prozeß ökonomischer Entwicklung überwiegt international das mobile Kapital, die Schöpfung des Friedensrechtes, immer mehr das Grundeigentum, die Schöpfung des Kriegsrechtes. Gleichzeitig verliert die Superstition immer mehr an Einfluß. Und so muß man schließen, daß die Tendenz sich bis zur vollen Ausscheidung des politischen Mittels und seiner Schöpfungen, bis zum vollen Siege des ökonomischen Mittels durchsetzen wird. Aber, wird man einwerfen: dieser Sieg ist ja bereits errungen. Im modernen Verfassungsstaat sind ja alle erheblicheren Reste des alten Kriegsrechts ausgemerzt! Nein, es besteht noch ein solcher Rest, aber ökonomisch maskiert, dem Anschein nach kein rechtliches Privileg, sondern ein ökonomisches Eigentum, das Großgrundeigentum, die erste Schöpfung und die letzte Zitadelle des politischen Mittels. Seine Maske hat es davor bewahrt, das Schicksal der übrigen feudalen Schöpfungen zu erleiden; und dieser letzte Rest des Kriegsrechtes ist zweifellos das letzte, einzige Hindernis auf dem Wege der Menschheit; und zweifellos ist die Wirtschaftsentwicklung jetzt im Begriff, ihn zu vernichten. Ich habe diese Behauptung, deren Beweis an dieser Stelle mir der Raum nicht gestattet, in eigenen Werken als wahr erwiesen, auf die ich hinweisen muß.2 Hier kann ich nur die Hauptsätze aneinanderreihen:

1 2

Vgl. das treffliche Werk von Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, [ins Deutsche übersetzt] von Gustav Landauer, Leipzig 1904. Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Berlin 1896; derselbe, Großgrundeigentum und soziale Frage, Berlin 1898 [siehe Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995; A.d.R.].

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Die Verteilung des Gesamterzeugnisses des ökonomischen Mittels unter die einzelnen Klassen der Verfassungsstaaten, die „kapitalistische Verteilung", unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der feudalen Verteilung. Die Ursache ist nach der übereinstimmenden Auffassung der sämtlichen bedeutenden volkswirtschaftlichen Schulen einzig darin zu suchen, daß das Angebot „freier" (d. h. nach Karl Marx politisch freier und zugleich wirtschaftlich kapitalloser) Arbeiter die Nachfrage dauernd übertrifft, d. h., daß das „Kapitalverhältnis" besteht. Es „laufen stets, zwei Arbeiter einem Unternehmer nach, unterbieten sich", und so bleibt der Kapitalistenklasse der „Mehrwert" übrig, während der Arbeiter nie dazu gelangt, selbst Kapital zu bilden und Unternehmer zu werden. Woher stammt das Überangebot freier Arbeiter? Die Erklärung der bürgerlichen Theorie, wonach dieses Uberangebot durch Erzeugung zu vieler Proletarierkinder hervorgerufen wird, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen.1 Die Erklärung der proletarischen Theorie, wonach der kapitalistische Produktionsprozeß selbst die „freien Arbeiter" durch „Freisetzung" immer wieder in genügender Anzahl reproduziert, beruht logisch auf einem Fehlschluß und widerspricht allen bekannten Tatsachen.2 Alle Tatsachen zeigen vielmehr, und die Deduktion kann es widerspruchsfrei ableiten, daß das Massenangebot „freier Arbeiter" vom Großgrundeigentum stammt: Ab- und Auswanderung sind die Ursachen der kapitalistischen Verteilung. Nun geht zweifellos die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung auf Ausstoßung des Großgrundeigentums. Es verblutet rettungslos an der rechtlichen Befreiung seiner Hintersassen, die ihm die städtische Entwicklung aufzwang. Die Freizügigkeit führte zur Landflucht; die Auswanderung schuf die „überseeische Konkurrenz" und den Sturz der Produktenpreise, die Abwanderung erzwingt dauernd steigende Löhne. So wird die Grundrente von beiden Seiten her verringert und muß allmählich auf Null sinken, da auch hier keine Gegenkraft erkennbar ist, die den Prozeß ablenken könnte.3 So geht das Großgundeigentum zugrunde. Ist es aber verschwunden, dann gibt es kein Überangebot freier Arbeiter mehr, „zwei Unternehmer laufen einem Arbeiter nach und «Verbieten sich", es bleibt kein „Mehrwert" für die Kapitalistenklasse übrig, der Arbeiter kann selbst Kapital bilden und selbst Unternehmer werden. Das politische Mittel ist in seiner letzten noch aufrechten Schöpfung vernichtet, das ökonomische Mittel herrscht allein. Der Inhalt dieser Gesellschaft ist die „reine Wirtschaft"4 des äquivalenten Tausches von Gütern gegen Güter oder von Arbeitskraft gegen Güter - und die politische Form dieser Gesellschaft ist die „Freibürgerschaft". Diese theoretische Ableitung wird nun bestätigt durch die historische Erfahrung. Wo immer eine Gesellschaft existierte, in der kein Großgrundeigentum wachsende Rente zog, bestand die „reine Wirtschaft", näherte sich die Form des Staates der „Freibürgerschaft". Solch ein Gemeinwesen war Deutschland fast vierhundert Jahre lang,5 von etwa dem Jahre 1000 nach Christi, wo das primitive Großgrundeigentum sich in die sozial harmlose Großgrundherrschaft umwandelte, bis etwa zum Jahre 1400, wo das durch das politische Mittel, den Raubkrieg, im Slawenlande neu erstandene Großgrundeigentum dem Siedler aus dem Stammlande das Siedelland

1 2 3 4 5

Vgl. Oppenheimer, Das Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus. Darstellung und Kritik, Berlin/Bern 1901, [derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 281-384; A.d.R.]. Vgl. derselbe, Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre. Darstellung und Kritik, Berlin 1903, [derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 385-467; A.d.R.]. Vgl. ebenda, Kap. XII, S. 128ff. [derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1995, S. 456-463; A.d.R.]. Vgl. ders., Großgrundeigentum und soziale Frage, Systematischer Teil, Kap. II, Abschn. 3: Physiologie des sozialen Körpers, S. 57ff. [derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1995, S. 37-56; A.d.R.]. Vgl. ebenda, Historischer Teil, Kap. II, Abschn. 3 [siehe Gesammelte Schriften, ebenda, S. 179-218; A.d.R.].

Der Staat

385

sperrte.1 Ein solches Gemeinwesen war - und ist noch fast unverändert der Mormonenstaat Utah, wo eine weise Bodengesetzgebung nur Klein- und Mittelbauern duldete.2 Ein solches Gemeinwesen war Grafschaft und Stadt Vineland3 in Jowa, U.S., so lange, wie jeder Siedler Land ohne Zuwachsrente erhalten konnte. Ein solches Gemeinwesen ist vor allem Neuseeland, dessen Regierung den Klein- und Mittelgrundbesitz mit allen Kräften fördert, während sie den - mangels freier Arbeiter übrigens so gut wie rentenlosen - Großgrundbesitz mit allen Mitteln einengt und auflöst.4 Uberall hier ein erstaunlicher, erstaunlich gleichmäßig - nicht mechanisch gleich! - verteilter Wohlstand, aber kein Reichtum. Denn Wohlstand ist die Herrschaft über Genußgüter, Reichtum aber die Herrschaft über Menschen. Nirgend sind hier Produktionsmittel „Kapital"; sie hecken keinen Mehrwert: es gibt eben keine „freien" Arbeiter und kein „Kapitalverhältnis". Und die politische Form dieser Gemeinwesen steht überall, soweit es der Druck der noch nach dem Kriegsrecht organisierten Umwelt gestattet, der Freibürgerschaft sehr nahe und nähert sich ihr immer mehr. Der „Staat" verfällt oder kommt auf neuem Lande, wie in Utah oder Neuseeland, nur keimhaft zur Entwicklung, und die freie Selbstbestimmung freier Menschen, die kaum einen Klassenkampf kennen, setzt sich immer kräftiger durch. Im Deutschen Reiche ζ. B. ging dem politischen Aufstieg der Städtebünde und dem Verfall des Feudalstaates die Emanzipation der Gewerke, die damals noch die ganze „Plebs" der Städte umfaßten, und der Verfall des Patriziats der Geschlechter in gleichem Schritte parallel. Nur die Errichtung neuer primitiver Staaten an der Ostgrenze konnte diese segensreiche Entwicklung unterbrechen und ihre wirtschaftliche Blüte knicken. Wer an einen bewußten Zweck in der Geschichte glaubt, mag sagen: die Menschheit mußte erst noch durch eine neue Leidensschule gehen, ehe sie freigesprochen werden konnte. Das Mittelalter hatte das System der freien Arbeit entdeckt, aber noch nicht zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entwickelt. Die neue Sklaverei des Kapitalismus mußte erst noch das unvergleichlich wirksamere System der kooperierenden Arbeit, die Arbeitsteilung in der Werkstatt, entdecken und ausgestalten, um den Menschen zum Herrn der Naturkräfte, zum König des Planeten, zu krönen. Antike und kapitalistische Sklaverei waren nötig: jetzt sind sie überflüssig geworden. Standen neben jedem freien Bürger Athens angeblich fünf menschliche Sklaven, so haben wir neben jeden Bürger unserer Gesellschaft schon das Vielfache von Sklaven gestellt, von Sklaven aus Stahl, die nicht leiden, wenn sie schaffen. Jetzt erst sind wir reif geworden für eine Kultur, die so hoch über der Kultur des perikleischen Zeitalters stehen wird, wie Volkszahl, Macht und Reichtum unserer Reiche über dem winzigen Kleinstaat Attika. Athen mußte zugrunde gehen - an der Sklavenwirtschaft, am politischen Mittel. Von hier aus führte kein Weg in die Zukunft als in den Völkertod. Unser Weg führt zum Leben! Die geschichtsphilosophische Betrachtung, die die Tendenz der Staatsentwicklung, und die volkswirtschaftliche Befrachtung, die die Tendenz der Wirtschaftsentwicklung beobachtete, kommen demnach zu dem gleichen Ergebnis: das ökonomische Mittel siegt auf der ganzen Linie, das politische Mittel schwindet in seiner ältesten und lebenszähesten Schöpfung aus dem Gesellschaftsleben: mit dem Großgrundeigentum und der Grundrente verfällt der Kapitalismus. Das ist der Leidens- und Erlösergang der Menschheit, ihr Golgatha und ihre Auferstehung zum ewigen Reich: vom Krieg zum Frieden, von der feindlichen Zersplitterung der Horden zur friedlichen Einheit der Menschheit, von der Tierheit zur Humanität, vom Raubstaat zur Freibürgerschaft.

1

Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Historischer Teil, Kap. III, [derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 2 1 8 - 2 6 5 ; A.d.R.].

2

Vgl. Oppenheimer, Die Utopie als Tatsache, [im vorliegenden Band siehe S. 3 - 1 4 ; A.d.R.].

3

Oppenheimer, Die Siedlungsgenossenschaft, Berlin 1896, S. 477ff.

4

Vgl. Andre Siegfried, La democratic en Nouvelle-Zelande, Paris 1904.

Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie

[1913]

Die rassentheoretische

Geschichtsphilosophie

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Meine Herren! 1 Das Thema, das ich zu behandeln habe, fordert viel mehr Raum, als mir hier in einer kurzen Stunde zur Verfügung steht. Ich werde Ihnen daher nur Umrisse geben können und behalte mir vor, das überreiche Material später zu veröffentlichen. Die Rassentheorie ist eine geschichtsphilosophische Lehrmeinung, die mit dem Anspruch auf der Bühne steht, den gesamten Ablauf der Weltgeschichte in ihren Hauptzügen aus den Rasseneigenschaften der sozialen Gruppen erklären zu können.2 Als solche fordert sie von dem Soziologen eine doppelte Betrachtung und kritische Untersuchung. Sie ist erstlich selbst eines der Objekte der soziologischen Forschung. Denn sie ist eine „Ideologie"; wollen Sie das Wort hier zunächst in seiner rein objektiven Bedeutung auffassen, der noch keinerlei Werturteil beigemengt ist; wir wollen unter dem Begriff „Ideologie" nichts anderes verstehen als die sozialpsychologischen Wertungen und Überzeugungen, die als Teil des „Oberbaus", um marxisch zu reden, auf einem gegebenen materiellen Unterbau, einer gegebenen politisch-sozial-ökonomischen Grundlage ruhen. Diese Ideologien sind, darüber sind wir uns einig, als solche eines der bedeutsamsten soziologischen Forschungsobjekte. Es handelt sich um das Problem, ob überhaupt zwischen Unter- und Oberbau regelmäßige Beziehungen von Ursache und Wirkung bestehen, ob sie von unten nach oben oder von oben nach unten reichen oder reziprok sind usw. So werden wir denn auch die Rassentheorie, die eine typische Ideologie ist, als eines unserer Forschungsobjekte zu betrachten haben. Wir haben zu fragen, unter welchen Umständen sie entsteht, welchen Bedürfnissen sie dient usw. Das ist eine im wesentlichen sozialpsychologische Untersuchung. Dieser aber hat nun zweitens eine logische Untersuchung an die Seite zu treten [sie], die Untersuchung auf den Wahrheitsgehalt der einzelnen konkreten Lehren, durch die immanente Prüfung von Prämissen und Schlußverfahren und durch die Prüfung ex consequentibus. Denn diese Theorie, obgleich ein soziologisches Objekt, tritt doch auch - und das ist ein wohl in keiner anderen Wissenschaft mögliches Geschehen - gleichzeitig als soziologisches Subjekt auf. Sie will die gesellschaftliche Entwicklung wissenschaftlich erklären, tritt mit logisch geordneten Argumenten auf den Plan und darf ihre wissenschaftliche Würdigung fordern. Diese Würdigung soll unsere erste Aufgabe sein. Die geschichtsphilosophische Rassentheorie tritt, wie gesagt, mit dem Anspruch auf, den gesamten Gang der Weltgeschichte aus ihrem einen Prinzip der verschiedenen Rassenbegabung erklären zu können. Es gibt Sachkenner genug, die ihr jede Berechtigung absprechen und behaupten, auch der Neger und Papua hätten bei ungestörter Weiterentwicklung aus eigenen Kräften die Höhe der Kultur ersteigen können. So weit wollen wir unser Thema nicht stecken; lassen wir die Frage offen, ob Neger, Papua und Indianer der Tierheit dauernd näher stehen als wir; kommen wir dem Examinanden sogar so weit entgegen, daß wir die Frage nach der Kulturfähigkeit der gelben Rasse aus der Diskussion ausscheiden, trotz des sehr unbequemen Postens Japan in der Bilanz - dann bleibt das übrig, was wir in überheblicher pars pro toto die „Weltgeschichte" zu nennen pflegen, die Entwicklung der weißen Rasse, und hier heißt es dann: hic Rhodus, hic salta! An diesem Prüfstein hat sich die Lehre zu bewähren; sie darf nicht versuchen, mit Neger- und Kuli-Argumenten sich zu drücken. Der erste wissenschaftliche Schöpfer einer Rassentheorie war der Graf Gobineau, ein französischer Diplomat und Dichter von hohem Rang, dessen „Renaissance" und „asiatische Novellen" zu

1

2

[Dieses Referat hielt Franz Oppenheimer auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag, vom 20. bis 22. Oktober 1912 in Berlin. Abgedruckt wurde der Text in: Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentages. Reden und Vortrage, Tübingen 1913, S. 98-139; A.d.R.] Diese Definition sollte, so dachte ich, zu keinerlei Mißdeutungen Anlaß geben. Dennoch bin ich, wie die erregte Debatte bewies, so verstanden worden, als wollte ich jede Bedeutung der Rassen für die Geschichte leugnen. Ich erkläre ausdrücklich, daß ich die ersten Absätze meines Vortrages wörtlich abgelesen habe.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

den Schätzen der Weltliteratur gehören. Er stammte von südfranzösischen Stadtpatriziern ab; da aber seit Saint-Simon die - übrigens sehr wenig vertrauenswürdige - Theorie in Frankreich viel Ansehen genoß, daß der dortige Adel aus Germanenblut und die populace aus Kelto-Romanenblut stamme, so erhob er sich durch eine überaus kühne genealogische Konstruktion selbst zum Odinsprossen und wurde dadurch zum ersten Opfer einer Geisteskrankheit, die kurz vorher in dem Enthusiasmus der napoleonischen Zeiten in Deutschland ausgebrochen war, der Germanomanie. Ich glaubte, das Wort geprägt zu haben, es stammt aber schon aus dem Jahr 1815, ist der Titel einer kleinen satirischen Schrift1, in der Saul Ascher aus Berlin den Teutschtümler Adam Müller und die christlich-deutsche Tafelgesellschaft verspottet. Dank dieser Germanomanie ist Gobineau in dem vorwiegend keltomanischen Frankreich als Soziologe zu einer komischen Figur geworden, während er in gewissen Kreisen Deutschlands umgekehrt natürlich als Weltgenie ausgerufen wird. Diese Monomanie hat die wunderbarsten Blüten getrieben. Wo in der Welt irgendein Genie oder ein kriegerischer herrschbegabter Stamm auftaucht, wird er als germanisch, mindestens als arisch ausgerufen. Daß die Führer der Türken zum großen Teile den aus geraubten Christenkindern gebildeten Janitscharen entstammen, ist noch die mildeste Behauptung. Woltmann wittert sogar in den Inka, ja selbst in den Herrschern von Tahiti „europäisches Erobererblut"2. Und er macht Ramses den Großen zum Nordarier, weil er blondes Haar habe. Ich habe die Mumie gesehen, sie hat allerdings einen spärlichen Rest flachsartiger Haare; wäre nicht Woltmanns Autorität, so hätte ich vermutet, daß das vielleicht schon ergraute Haare des großen Pharao durch die Mumifizierungsmittel gebleicht worden sei. Difficile est, satiram non scribere! Gerade jetzt hat der heitere Plan einer germanisch-eugenischen Zuchtanstalt, einer Art von Menschengestüt, die Öffentlichkeit amüsiert. Er geht wie viele der schlimmsten Tollheiten, auf Vacher de Lapouge zurück. Züchterische Bestrebungen müssen diesen Theoretikern ja überhaupt nahe liegen; auch Schallmayer, Driesmans in seinen „Wahlverwandtschaften" u. a. träumen von einer Verbesserung der Rasse durch zweckmäßige Zuchtwahl in der Ehe, wie auch der Nibelungen-Dichter Jordan in seinem seltsamen Roman „Zwei Wiegen" ähnlichen Bestrebungen Ausdruck gegeben hat; selbstverständlich sind diese Ideen, wenn auch Einwänden ausgesetzt, nicht mit den oben genannten Tollheiten in einem Atem zu nennen. Kommen wir nun zu Gobineau zurück, dem wir als dem ersten Vertreter der Rassentheorie der Weltgeschichte etwas mehr Raum geben müssen. Das Gobineausche Buch über die Ungleichheit der Menschenrassen ist interessant genug, das Werk eines geistreichen, belesenen und sogar scharfsinnigen Mannes. Es betrachtet die gesamte Weltgeschichte als das Resultat eines Rassenkampfes zwischen niederen und edlen Rassen. Die edleren Rassen, denen allein das Geschenk staatenbildender Kraft verliehen ist, unterwerfen kraft ihrer Herrschertugenden die unedlen Rassen und gründen mächtige Reiche, die eine Zeitlang blühen, dann aber mit verhängnisvoller Geschwindigkeit welken und dahinsinken, und zwar ausschließlich durch den Verfall der Herrscherrasse, der sich im wesentlichen durch zwei Umstände vollzieht. Erstens durch Bastardierung: die Männer der Herrenrasse verschmähen es nirgends, sich mit den Frauen der beherrschten Rasse zu vereinigen, und so entsteht eine meist sehr zahlreiche Schicht von Bastarden, die dem väterlichen Blut in ihren Adern eine höhere Kraft und Staatsbegabung verdanken. Werden sie ohne weiteres, wie es zuweilen geschieht, in den Herrenstand mit aufgenommen, so sinkt er durch die Mischung mit dem unedlen Blut. Bleiben sie, wie es häufiger

1 2

Ascher, Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde, Berlin 1815; zitiert nach S. Rahmer, Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter, Berlin 1909. Nach Gumplowicz, Geschichte der Staatstheorien, Innsbruck 1905, S. 548.

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geschieht, von dem Herrenstand ausgeschlossen, so werden sie, dank ihrer höheren Begabung, die Führer der unterworfenen Volksmasse gegen die Herren. Dieser Rassenkampf oder Klassenkampf im Innern der Reiche muß schließlich zur Vernichtung der Herrschaft der Edelrasse führen, weil das Verhältnis der Zahl für sie ein immer ungünstigeres wird, und das ist der zweite Grund für den Verfall der Reiche. Denn erstens vermehrt sich die Edelrasse nicht mit der Geschwindigkeit wie die „kaninchenhaft" sich vermehrende beherrschte Schicht - die Fabel von der Löwin, die nur ein junges zur Welt bringt, ist eine echt aristokratische Klassenfabel. Und zweitens ist die Lebensbedrohung der Herrenklasse im Felde eine viel größere als die der gemeinen Masse. So verfällt das Reich allmählich und wird zur Beute eines neuen Volksstammes der hohen Rasse, der mit ungemischtem Blute und daher ungebrochener Kraft aus der Steppe oder Wüste hervorbricht. So schichtet sich Reich über Reich, bis zuletzt das Reservoir der adligen Völker reinen Blutes erschöpft ist. Den Gang der Geschichte schildert Gobineau derart, daß erst die Gelben die Schwarzen unterwerfen, daß dann die Weißen die Kultur zu noch höherer Stufe emporführen, bis schließlich das reinste, edelste, höchststehendste Volk, das der Planet erzeugt hat, die Germanen, die Bühne betreten. Aber auch dieses Edelvolk verliert seine Rassen- und Blutreinheit, bastardiert sich und sinkt. Das Rassenchaos verschlingt gleich einer Sintflut alle Kultur, die Götterdämmerung ist hereingebrochen. Denn nun ist kein Volk mehr auf dem Planeten zu entdecken, das die Kulturlast der Germanen auf seine Schultern nehmen könnte, und so muß alle höhere Menschlichkeit im Weltenbrande zugrunde gehen. Diese Theorie hat also unzweifelhaft etwas Bestechendes, und man konnte sie zu ihrer Zeit immerhin als eine wissenschaftliche Leistung gelten lassen. Heute ist das nicht mehr möglich. Zunächst wurde es nämlich unzweifelhaft klargestellt, daß die Sprache nichts für die Rasse beweist; das war im ersten Enthusiasmus über die Erfolge der jungen Sprachvergleich, namentlich den Nachweis der indogermanischen Sprachgemeinschaft, übersehen worden. Man mußte sich eingestehen, daß die Völker schon zu der Zeit, wo sie zum ersten Male die historische Bühne betraten, so gut wie immer aus verschiedenen ethnischen Elementen gemischt sind, um gar nicht von der überaus starken Durchmischung der entwickelten historischen Nationen, der späten Römer, der Franzosen, der Engländer, der mindestens aus Slawen, Kelten und Germanen gemischten Deutschen, oder von den Juden zu sprechen, die immer noch, neuerdings von Sombart, als eine seit uralter Zeit, seit mindestens der Wüstenwanderung, einheitliche, und zwar semitische Rasse angesprochen werden, weil sie ursprünglich eine semitische Sprache besaßen, während doch sicher scheint, daß sie schon zur Zeit ihrer Seßhaftigkeit in Palästina aus mehreren völkischen Elementen gemischt waren: echten Semiten, Hethitern und vielleicht „Ariern"; wenigstens nimmt das Chamberlain an. Max Müller 1 spricht sein Bedauern darüber aus, daß man Sprachwissenschaft und Ethnologie in Zusammenhang gebracht habe. „Die Sprachwissenschaft", sagt er, „und die Ethnologie litten beide darunter, daß man sie nicht genug voneinander schied. Die Klassifikation der Sprachen und der Rassen sollte voneinander ganz unabhängig sein. Denn Menschenrassen wechseln ihre Sprachen; dafür liefert uns die Geschichte Beispiele genug; eine Rasse kann sich verschiedener Sprachen bedienen und verschiedene Rassen können dieselben Sprachen sprechen."2 An anderer Stelle3 sagt er:

1 2 3

Müller, Vorlesungen über die Sprachwissenschaft, Bd. I, Leipzig 1873, 8. Vorlesung. Gumplowicz, Allgemeines Staatsrecht, Innsbruck 1907, S. 67. Derselbe, zitiert in: Hertz, Moderne Rassentheorien, Wien 1904, S. 68ff.

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„Für mich ist ein Ethnologe, der von .arischer Rasse', ,arischem Blut', ,arischen Augen und Haaren' spricht, ein ebenso großer Sünder wie ein Sprachforscher, der von einem dolichokephalen Wörterbuch oder einer brachykephalen Grammatik redet. Es ist ärger als die babylonische Verwirrung - ja geradezu ein Betrug. Wenn ich von Ariern rede, so meine ich (...) einfach diejenigen, die eine arische Sprache sprechen." R. Hartmann sagt, er halte die „Arier" nicht für ein Urvolk, sondern für eine Erfindung der Studierstube. Diese Erkenntnis, daß die Sprachgemeinschaft nicht auf Rassengemeinschaft schließen läßt, stellte dem rassengläubigen Germanomanen eine schwere Aufgabe. Es handelte sich darum festzustellen, welchem Urbestandteil der völkischen Mischung das einzelne geschichtlich wirksam gewordene Individuum, die einzelne wichtige Gruppe entstammt, ganz oder doch der Hauptsache nach. Dabei war zu finden - thema probandum der Gruppen-Ideologie - , daß alle bedeutenden Männer von Verdienst und Erfolg Germanen, mindestens Arier gewesen sind, während die Gegner als Nicht-Germanen, womöglich sogar als Nicht-Arier zu entlarven waren. Diese Aufgabe zu lösen, suchte man zuerst nach leiblichen, somatischen „guten" Kennzeichen im Sinne der Zoologie, nach einem Kennzeichen, das so sicher gestattet, den Edeltypus aus dem Rassengemenge herauszufinden, wie es etwa die Hautfarbe und die blauen Halbmonde der Fingernägel angeblich gestatten1, Abkömmlinge von Negern aus einer reinblütig weißen Bevölkerung herauszufinden und den Grad ihrer Bastardierung zu bestimmen. Daß solche „guten Kennzeichen" existieren müssen, daran haben die Rassefanatiker von jeher wie an ihre Existenz geglaubt. Hans Delbrück berichtet, daß die ersten französischen Anatomen sehr erstaunt gewesen sind, so gar keine Unterschiede des Baus zwischen aristokratischen und plebejischen Leichen entdecken zu können. Der Adel selbst war wahrscheinlich noch viel erstaunter darüber. Nun, ebensowenig wie Klassenmerkmale konnte die anatomische Wissenschaft Rassenmerkmale finden, die zwischen den Angehörigen des gleichen Volkes zu unterscheiden erlaubten. Man hat alles untersucht, und alles hat versagt. Die Farbe der Augen und Haare beweist für das einzelne zu bestimmende Exemplar so gut wie nichts, abgesehen davon, daß es sich hier um eine besonders labile Eigenschaft zu handeln scheint, die sehr stark von dem Milieu abhängt; es scheint, daß bei längerem Leben in städtischen Verhältnissen, wo Sonne und Wind viel weniger stark einwirken, die Neigung zu dunklerer Pigmentierung besteht. Auch die Körpergröße ist kein sicheres Symptom: wir wissen, daß bei kräftiger Ernährung die Durchschnittsgröße steigt, bei elender Ernährung herabgeht, beim Menschen nicht anders als beim Haustier. Wir kommen auf diesen Punkt noch einmal zurück. Wie mit der Körpergröße, so ist es mit allen anderen körperlichen Eigenschaften, die man untersucht hat. Es läßt sich kein „gutes Kennzeichen" auffinden. Sogar eine sehr minutiöse Untersuchung, die sich auf das populärste aller Rassenmerkmale, die Judennase, richtete, hat trotz aller Sorgfalt der äußeren und inneren Messung keine verwertbaren Kennzeichen herausbringen können. So hat sich denn diese Theoretik zuletzt auf ein einziges körperliches Symptom zurückziehen müssen, das der Schädelform. Nach der orthodoxen Lehre zeichnet sich die Edelrasse der Arier und namentlich der Germanen, durch eine ausgesprochene Dolichokephalie, Langköpfigkeit, aus, während der Index der unedlen Rassen Mesokephalie, Brachykephalie und sogar Hyperbrachykephalie,

1

Auch dieses Kennzeichen trügt, wie Experimente von D r . Pearce Kintzing erwiesen haben. Siehe American Medicine, Juli 1904; zitiert in: Finot, Das Rassevorurteil, Berlin 1906, S. 379.

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Kurzköpfigkeit aufweist. Das soll nun das Kennzeichen sein, an dem die Germanen und die vorwiegend germanischen Mischlinge aus der Völkermischung herausgefunden werden können. Leider steht es auch damit sehr schlimm. Schon die Methode ist so unsicher 1 , daß die Messungen zweier verschiedener Beobachter gar nicht mit Sicherheit zusammengenommen werden dürfen. Aber viel schlimmer ist folgendes: Die Rassengläubigen gehen von dem axiomatisch postulierten, geradezu durch eine petitio principii gewonnenen Satze aus, daß der Schädel ein konstantes Rassezeichen ist, durch nichts verändert werden kann als durch Rassenmischung. Danach werden die Tatsachen gedeutet. Wenn ζ. B. als festgestellt betrachtet wird, daß in den alten europäischen Reihengräbern sich um so mehr langköpfige Schädel finden, je älter, und um so mehr kurzköpfige, je jünger die Gräber sind, dann ziehen diese Theoretiker daraus den Schluß, daß die ursprünglich rein arische edle Bevölkerung des homo europaeus septentrionalis sich mehr und mehr mit dem unedlen kurzköpfigen homo alpinus gemischt habe. Der Schluß steht und fällt mit der Voraussetzung der Schädelkonstanz. 2 Diese Voraussetzung ist durch nichts bewiesen, ja, sie ist sogar durch eine ganze Reihe von Tatsachen als mindestens verdächtig, wenn nicht als ganz falsch erwiesen. Virchow sagt nach Brehmer 3 , daß „die besonders kräftige Ausbildung des Kauapparates der Grund sein kann für eine allmähliche Umgestaltung des ganzen Schädels. U m Raum für den Ansatz der Kaumuskeln, welche an der Seite des Schädels liegen, zu schaffen, soll der Schädel der Eskimo innerhalb großer Zeitläufe die ausgesprochene Langform angenommen haben". Wenn das wahr ist, und es ist vom physiologisch-anatomischen Standpunkt sehr wahrscheinlich, dann würde nicht nur die Menge und Güte, sondern auch die Art und Bereitung der Nahrung mächtig auf das Skelett, namentlich den Schädel einwirken. Die Langform des Schädels ebenso wie der Prognathismus der Urvölker wäre auf die Muskelarbeit beim Kauen roher Nahrung zu beziehen, und die Abnahme der Langschädel in jenen Gräbern könnte leicht erklärt werden dadurch, daß mit fortschreitender Kultur jene Gräberstämme zu gekochter, leichter kaubarer Nahrung übergegangen sind. Ebenso leicht ist möglich, daß die Schädelform, wie so viele andere körperliche Eigenschaften, sich dem geographischen und vielleicht sogar dem sozialen Milieu anpaßt: die Tatsache, daß Bergvölker in der Regel kurzköpfig sind, könnte als eine der bekannten Korrelativ- und Kompensationsvarianten auf die Anpassung an das Bergsteigen und das Bergklima, den breiteren Thorax, das hämoglobinreichere Blut, das stärkere Herz usw. zurückgeführt werden. Alle diese Dinge werden von den Kraniometristen überhaupt nicht in die Debatte gezogen. Für sie ist die Konstanz der Schädelform ein Dogma, an dem nur ein Ketzer zweifeln darf. Ein wunderlicher Heiliger, wie Amonn, baut eine ganze Soziologie, nämlich eine volle Geschichts- und Wirtschaftsphilosophie, auf diesem unsicheren Fundament auf. Die eigentlichen Fachkenner verhalten sich, soweit ich sehen kann, durchaus ablehnend. Eine kleine Blütenlese aus sehr großem Material.

1 2 3

Nach Manouvier; zitiert in: Finot, Das Rassenvorurteil, Berlin 1906, S. 88. Nährwert und Geldwert unserer Nahrung, [ohne Ort und Jahr], S. 28. Diese Voraussetzung scheint darauf zu beruhen, daß sich bei gewissen sehr abgeschlossen lebenden Bergvölkern namentlich des Kaukasus, nach anthropologischen Untersuchungen die Schädelform in Jahrtausenden sich nicht verändert hat. Nehmen wir die Tatsache als gegeben, - beweisen tut sie nichts. Denn hier sind eben auch alle Verhältnisse des .Milieu', nicht nur das Klima, sondern auch die soziale Verfassung und Wirtschaft während dieser Zeit unverändert geblieben; es fehlte also jede Ursache für eine Variation der Schädelform.

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Demokratie

Johannes Ranke, wohl unser bester Anthropologe, schreibt: „Die langköpfigsten Rassen sind die ,edlen' Typen der Australneger, Eskimo, Kaffern, Polynesien Abessinier usw. usw. Zahlreiche Autoren nehmen an, daß das Gebirgsleben Brachykephalie begünstigt. Durch Messungen an aus verschiedenen alten Gräbern stammenden Schädeln und jetzt lebenden Typen ist konstatiert worden, daß auch bei den Ägyptern und Juden der kurze Schädel den langen verdrängt hat. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Veränderung überall Rassenmischung zugrunde liegt. Auch Krankheiten, wie ζ. B. die Rhachitis, an der in den Großstädten ein Drittel aller Kinder leidet, bewirken Schädeldeformationen."1 Kruse lehnt die Schlüsse Amonns und der Seinen als aus willkürlichen Voraussetzungen abgeleitet, völlig ab, bezeichnet sie als „zweifelhafte Spekulationen, die sogar wenig wahrscheinlich sind". „An sich ist es schon wenig wahrscheinlich, daß sich die von Anfang an kinderreichen germanischen Völker, die jetzt schon mehrere andere Erdteile bevölkert haben, von anderen so leicht hätten überwuchern lassen. Die Kurzköpfe sind noch vor tausend Jahren nur in kleinen Prozentsätzen vertreten gewesen, später hat natürlich durch Einwanderung und Kriege eine Beimischimg fremden Blutes stattgefunden, aber auch diese kann nicht sehr erheblich gewesen sein" 2 . Friedrich Hertz führt aus: „Es steht fest, daß insbesondere die Kaumuskeln einen großen Einfluß auf den Gesichtsschädel ausüben, ein Einfluß auf den Gehirnschädel ist sehr wahrscheinlich. Man bedenke, welch große Leistungen heute noch das Gebiß ausübt, nachdem wir nicht mehr, wie der Naturmensch, rohe und zähe Nahrung mit den Zähnen bewältigen müssen; das Aufbeißen eines Fruchtkerns bedeutet einen Druck von mehreren Zentnern. So wird das breite oder schmale Gesicht und damit einer der wichtigsten Rassencharaktere sehr erheblich durch die Nahrung bedingt. Neuerdings hat Nyström-Stockholm die auf den Schädel wirkenden Faktoren untersucht. Als solche bezeichnet er den Druck des Gehirns und Blutes, den er experimentell feststellt, und der den Schädel nach dem Pascalschen Prinzip in die Breite zu drängen sucht. Andererseits wirkt der Zug der Nakkenmuskeln, den eine vorgebeugte Haltung erzeugt, auf die Streckung des Schädels in die Länge. Der Einfluß der Geburt auf die Schädelform sei nur erwähnt. Durch Resorption von Knochenmassen an der Innenfläche und Apposition neuen Stoffes außen bleibt der Schädel lange Zeit erweiterungsfähig. Körperliche Arbeit, die eine Anspannung der Nackenmuskeln bedingt, wird also auf Dolichokephalie hinwirken, die Maschinenverwendung, die den Arbeiter aus der gebückten Haltung befreit und aufrecht stehen läßt, kann so, wie Nyström ausführt, eine wesentliche Änderung der Schädelform herbeiführen. Andererseits muß eine erhöhte Gehirntätigkeit natürlich eine Tendenz zur Brachykephalie bewirken. Tatsächlich fand Nyström durch Messungen an 500 Schweden (die nach Amonn rein dolichekephale Germanen sein sollen), daß die höheren und gebildeten Klassen einen viel größeren brachykephalen Prozentsatz haben als die niederen und ungebildeten. Von 100 Dolichokephalen gehörten 76,6 den niederen, 23,5 den höheren Klassen an; von ebensoviel Brachykephalen aber nur 41,6 den Ungebildeten und 58,4 den Gebildeten. Hochgradige Brachykephalie fand Nyström bei 27 höher Gebildeten und 8 anderen, hochgradige Dolichokephalie bei nur 3 Gebildeten gegenüber 8 Mindergebildeten. Auch stellt Nyström fest, daß die Brachykephalen in größerer Menge aus den niederen in höhere Stände übergehen; natür-

1 2

Ranke, Der Mensch, Leipzig 1894, S. 2 1 1 u. 213. Kruse, „Entartung", in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Nr. 6 (1903).

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lieh kann man auch sagen, daß sie bei diesem Übergang erst brachykephal werden. Dies ist eine direkte Widerlegung der Amonnschen Theorie. Dieselbe Tendenz scheint sich übrigens auch an den Schädeln großer Männer bemerkbar zu machen. Napoleon, Bismarck, Laplace, Pascal, Raffael sind einige Beispiele von Rundköpfen, Schillers Schädel mit seinem Index von 84 ist beinahe schon hyperbrachykephal (die Hyperbrachykephalität beginnt bei 85), und Kant mit seinem Index von 88 wird nur von den beinahe kreisrunden Schädeln der Altperuaner und einiger Tiroler übertroffen. Der Ubergang zur höheren Kultur scheint also die brachykephale Tendenz entschieden zu begünstigen, ohne daß wir genötigt sind, überall Rassenmischungen zu sehen."1 Um dieses tragikomische Kapitel zu schließen, will ich noch mitteilen, daß nach Zeitungsnachrichten es gelungen sein soll, dolicho- und brachykephale Menschen nach Wunsch zu fabrizieren. Je nachdem man die Neugeborenen auf der Seite oder auf dem Rücken liegen läßt, gibt es danach Lang- oder Kurzschädel; in einer Geburtsklinik soll der Professor auf diese Weise von zwei Zwillingsbrüdern dem einen den „edlen" Typus der Nordeuropäer, Neger, Eskimo etc., dem anderen den unedlen Typus Schillers und Kants beigebracht haben. Ob daraufhin bereits eine Klage gegen den Sünder wegen Kunstfehlers eingeleitet worden ist, weiß ich nicht zu vermelden. Danach wäre es möglich, daß sich Dolichokephalie oder Brachykephalie ausbildet, je nach der Gewohnheit der Mütter eines bestimmten Volkes, ihre Säuglinge zu betten und herumzutragen. Übrigens ist es weit bekannt, daß bei manchen Wildstämmen, so ζ. B. bei manchen Nordindianern, die Kopfform Sache der Mode ist: die Mütter sorgen durch Einschnüren in Bretter und dgl. dafür, daß ihr Säugling die moderne, für schön oder edel gehaltene Kopfform erhält. Trotzdem alle diese Dinge längst publici juris sind, existieren sie für Amonn, Lapouge und die ihren noch immer nicht. Mit Amonn sich zu beschäftigen, dürfte sich für eine wissenschaftliche Gesellschaft erübrigen, nachdem Ferdinand Tönnies ihn ein für allemal erledigt hat; was aber selbst vernünftigere Autoren unter dem Banne solcher Gruppenideologien fertig bekommen, dafür möchte ich Ihnen aus einem Werke des verstorbenen Ludwig Woltmann „Die Germanen in Frankreich" einiges beibringen dürfen: Woltmann legt das Hauptgewicht seiner Untersuchungen in diesem Bande auf die Ausgestaltung einer im Keime auch schon früher angewandten Methode, nämlich auf die Zuteilung der führenden Genies der Kulturvölker zu einer der drei hypothetischen Rassen, aus denen die europäischen Völker sämtlich schon in vorhistorischen Zeiten zusammengemischt sein sollen, des homo mediterraneus, des langköpfigen Brünetten; des homo alpinus, des kurzköpfigen, klein gewachsenen Brünetten, und des homo europaeus, des hochgewachsenen langköpfigen Blonden. Aus Portraits, zeitgenössischen Beschreibungen usw. will er den Typus dieser meist längst verstorbenen Männer, deren Schädel unglücklicherweise nur in den seltensten Fällen noch der kraniometrischen Untersuchung zugänglich sind, mit solcher Sicherheit feststellen, daß ihre Zuordnung zu einer jener drei Rassen möglich ist. Es wäre das selbst dann fast unmöglich, wenn derjenige, der diese Untersuchung heute anstellt, mit der vollen Unbefangenheit des Forschers an sein Material heranträte, dem es ganz gleichwertig ist, ob das oder das Ergebnis herauskommt. Denn man braucht ζ. B. bloß die Fülle der Goethe-Porträts zu vergleichen, um zu sehen, wie ungeheuerlich schwer es ist, das Aussehen eines Verstorbenen nachträglich zu rekonstruieren; und es mag in diesem Zusammenhange darauf hingewiesen werden, daß es sich eben gerade jetzt als unmöglich erwiesen hat, durch Umfrage bei seinen sehr zahlreichen noch lebenden Bekannten mit Sicherheit herauszubekommen, von welcher Farbe der berühmte Schnurrbart Napoleons ΙΠ. gewesen ist.

1

Hertz, Moderne Rassentheorien, in: Socialistische Monatshefte, Nr. 2 (1902), S. 962ff.

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Aber selbst wenn diese Schwierigkeiten nicht gegeben wären: einem Rassentheoretiker geht jene notwendige Objektivität, trotz größter subjektiver Gewissenhaftigkeit, völlig ab. Er hat den Wunsch, daß irgend jemand, den er aus Gründen seiner persönlichen Weltauffassung für einen besonders hervorragenden Mann hält, der von ihm vor allem verehrten Rasse angehöre; und aus diesem Grunde bedeutet er Bild und Uberlieferung unwillkürlich so, daß das gewünschte Resultat herauskommen muß. Ein einziges Beispiel sei angeführt: für Woltmann ist Napoleon Bonaparte unzweifelhaft ein Mitglied der nordeuropäischen Erobererrasse, eine Ansicht, die er durch genealogische Studien zu stützen sucht, über deren Gewißheit er sich wohl selbst keinen Täuschungen hingegeben haben dürfte. Daß „dieser kleine fette Korse" dem von ihm selbst präkonisierten Edeltyp des homo europaeus nicht im mindesten entsprach, muß er natürlich selbst zugeben; aber er hilft sich damit, daß er das Vorkommen besonders „graziler" Varianten dieser Edelrasse supponiert. Mir erscheint das besonders charakteristisch. Die scheinbar feste anthropologische Grundlage dieser Theoretik erhält so viel willkürliche Ausnahmen von den Regeln, daß schließlich alles beweisbar wird. Wenn ein Fanatiker des homo alpinus oder mediterraneus aufträte, so könnte er mit genau derselben Methode und mit genau derselben wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit einen sehr großen Prozentsatz der von Woltmann als nordeuropäisch beanspruchten Genies als zu seiner eigenen Lieblingsrasse gehörig erklären. Während sich dieser Bankrott der anthropologisch und kraniometrisch vorgehenden Germanomanie unaufhaltsam vollzog, hatte noch eine zweite wichtige Erkenntnis sich durchgesetzt, die das Gobineausche Gedankengebäude noch stärker erschütterte: der Urbegriff, mit dem er operierte, hatte sich mit ganz neuem, ja entgegengesetztem Inhalt gefüllt. Für ihn, der noch in der vordarwinschen Zeit lebte, war die „Rasse" ein Anfang, für uns bedeutet sie heute ein Ende. Gobineaus Auffassung war noch beherrscht von der Uberzeugung, daß jede Art, jede Varietät, jede „Rasse", jede für sich, durch einen eigenen Schöpferakt fertig in die Welt gestellt sei, mit ganz bestimmten Eigenschaften des Körpers und der Seele. Es war im Geiste seiner Zeit und vom Standpunkte der damaligen Wissenschaft durchaus einwandfrei, wenn Gobineau annahm, daß auch die menschlichen Rassen, jede für sich, als „gute Art" durch einen solchen Schöpferakt entstanden seien, und so konnte er nicht nur Neger, Gelbe und Weiße, sondern auch Gräkoitaliker, Kelten, Germanen und Slawen als eigene, wohl charakterisierte, leiblich und geistig durch „gute Kennzeichen" voneinander geschiedene, von Anfang an differente Rassen auffassen. Diese Grundlage seines Denkens ist heute geschwunden. Unsere ganze Zeit wird beherrscht von dem Gedanken der Entwicklung: unerschütterlich fest steht uns die Tatsache, daß Arten, Varietäten und Rassen nicht durch je einen eigenen Schöpferakt entstanden sind und sich seitdem als unveränderlich und unverändert erhalten haben, sondern daß eine aus der anderen durch langsame Entwicklung entstanden ist. Das gilt auch für die Menschenrassen; auch sie sind kein Anfang, sondern ein Ende, auch sie sind nicht unveränderlich, sondern im höchsten Maße bildsam und anpassungsfähig. Dieser neuen Erkenntnis gibt Albrecht Wirth, der nur in sehr begrenztem Sinne den Rassenphilosophen zugerechnet werden darf, in seinem Buche „Volkstum und Weltmacht" die Formel. Für ihn ist die Rasse nichts rein Naturgegebenes, sondern ein Produkt von leiblichen Anlagen, geistiger Kultur und Einflüssen der natürlichen klimatischen Umgebung, und zwar vermutet er, daß die Bildung einer Rasse in diesem Sinne nicht Jahrtausende, sondern zumeist nur wenige Menschenalter erheischt. Dafür sind ihm Yankees und Buren Beispiele: „Die Entstehung dieser Völker weist darauf, daß der Ursprung eines Volkes und einer Rasse nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklungsreihe liegt. Rasse wird gezüchtet. Sie entsteht durch Zusammensetzung und Mischung, sowie längere Isolierung des Mischungsergebnisses. Es gibt weder Urrassen noch Ursprachen. Rasse ist beständig im Fluß, rastlose Umbildung

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ist ihr Lebensgesetz; ähnlich den Elementen, die fast nie ungemischt vorkommen, findet sich so gut wie nirgends eine ganz reine Rasse. Eine solche ist lediglich Postulat unseres Denkens." 1 Ahnlich sagt Ratzenhofer: „Wir sprechen also von einer besonderen Rasse dort, wo sich die ererbten Anlagen, durch das inhärente Interesse geleitet, den konkreten Lebensbedingungen in der Generationenfolge und unterstützt durch Auslese derart angepaßt haben, daß eine gewisse Harmonie zwischen Anlagen und Lebensbedingungen besteht, und wo sich durch Inzucht die Anlagen derart gefestigt haben, daß sie der Einwirkung geänderter Lebensbedingungen relativ dauernd widerstehen."2 Dieser neue Begriff der „Rasse" stammt uns aus den Erfahrungen der Züchter an Pferde-, Rinder-, Hunde-, Tauben-, Rosenrassen usw. Der Züchter weiß, wie sie entstehen, denn er macht sie selbst. Eine Rasse entsteht dadurch, daß man ausgewählte Eltern miteinander kreuzt, von dem Nachwuchs die geeignetsten Exemplare auswählt, wieder miteinander kreuzt usw., bis diejenigen Eigenschaften wohl ausgebildet sind, deren Erzielung der Zweck des Züchtungsvorganges gewesen ist. Es ist bekannt, daß die lebende Substanz so plastisch ist, daß die unglaublichsten Variationen in verhältnismäßig kurzer Zeit erzielt werden können. Man kann Pferde auf Zugkraft oder Geschwindigkeit, Hunde auf Größe oder Kleinheit, bestimmte Färbung und bestimmte Eigenschaften ζ. B. Jägereigenschaften, Tauben auf fast jede beliebige Form und Farbe züchten usw. Die Bedingungen sind immer dieselben: geeignete Auswahl der Eltern und Isolierung der Zuchtprodukte gegen die Kreuzung mit solchen Exemplaren, die die gewünschten Eigenschaften nicht besitzen. Hieraus ist es klar, daß Menschenrassen nur dann zu bestimmten charakteristischen Eigenschaften des Leibes und der Seele gelangen können, wenn die Natur oder die Geschichte selbst als Züchterin beiden Postulaten genügt. Aber beide Postulate sind in der freien Natur viel schwerer zu erfüllen als im Garten oder Stall des Züchters. Schon die Auswahl der Eltern ist unverhältnismäßig schwieriger, denn die Natur hat auch die weniger „edlen" Wesen mit leistungsfähigen Zeugungsorganen versehen, deren sie sich rücksichtslos bedienen, wenn kein menschlicher Wille vorhanden ist, der sie abschließt, tötet oder der Organe beraubt. Und aus demselben Grunde ist es unverhältnismäßig schwieriger, die schon einmal durch irgendwelchen Zufall erreichte Veredelung der Rasse vor ihrer Wiederzerstörung durch die Panmixis zu bewahren. Um diesen Schwierigkeiten gedanklich auszuweichen, haben einige neuere Rassentheoretiker eine Konstruktion ersonnen, die an Kühnheit der Phantastik Jules Verne weit hinter sich läßt. Sie benutzen die Eiszeit als Deus ex machina. Die Vorstellung ist die, daß eine Gruppe der primitiven Menschen, die noch sehr tief in der Kultur standen, durch die erste Eiszeit in einem Polargebiet abgeschlossen worden seien; hier habe die Härte und Rauhigkeit des Klimas, die Schwierigkeit der Lebensfürsorge die schlaffen und schwachen Elemente vernichtet und nur die besten und stärksten, energischsten und tatkräftigsten übriggelassen. Da die Eisbarre das Eindringen der südlichen Verwandten Tausende von Jahren wirksam verhinderte, so hat sich hier allmählich in der glücklichen Isolierung eine höhere Rasse mit festen guten Kennzeichen entwickelt, die dann, ganz wie bei echten Zuchtrassen, stabil, konstant blieben. So entstand aus der schwarzen, noch sehr affenähnlichen Urrasse die gelbe Rasse. Die zweite Eiszeit Schloß dann wieder einen Teil der gelben Rasse ab und züchtete sie zur weißen Rasse, und schließlich entstand durch die dritte Eiszeit die Rasse der Rassen, die Edelblüte der Menschheit, die Germanen.

1

Wirth, Volkstum und Weltmacht in der Geschichte, München 1901, S. 7.

2

Ratzenhofen, Soziologie, Leipzig 1907, S. 37.

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Das Gute bei dieser ganzen Theorie ist nur das, daß sie uns die Hoffnung übrig läßt, es könne auch noch nach den Germanen eine noch edlere Rasse von Nietzscheschen Ubermenschen entstehen. Denn die Möglichkeit, daß noch einige Eiszeiten kommen, ist ja, gottlob, nicht gänzlich ausgeschlossen. Wollte man selbst dieser baren Phantasterei allen Kredit gewähren - über die große Schwierigkeit hilft auch sie nicht fort, wie es möglich sein soll, aus dem Völkergemisch die edlen Elemente herauszufinden. Darum sind denn auch die Eiszeitler, soweit ich sehen kann, immer noch Vertreter der anderen Phantasterei von der Schädelkonstanz und der diagnostischen Beweiskraft der Dolichobzw. Brachykephalie. Aber sie haben nur noch wenig Kredit. Die Führerschaft der Germanomanie ist übergegangen auf einen Mann, der klug genug war, die völlig zusammengeschossene Bastei der Kraniometrie aufzugeben, auf Houston Stuart Chamberlain. Er gibt mit Resignation zu „von der anatomischen Wissenschaft sei nur wenig nützliche, für das praktische Leben verwertbare Belehrung zu erwarten", und operiert nur noch nebenher, zur Unterstützung sozusagen, mit den lieben alten anatomischen Kennzeichen. Das Hauptgewicht aber legt er auf seelische, psychologische Kennzeichen. Die Theorie ist, trotzdem Chamberlain in der Frage der „Rasse" sich den modernen Anschauungen zuneigt, der Gobineauschen außerordentlich ähnlich. Die Weltgeschichte zeigt auch ihm, daß es eigentlich nur eine kulturtragende historische Rasse gibt, eben den „homo europaeus", den Arier; und daß wieder innerhalb dieses engeren Kreises der Menschheit ein engster als besonders hochgezüchtetes Vollblut sich abhebt, der Nordarier, der „Germane" in einer besonderen Fassung, der hochgewachsene blonde, blauäugige, wesentlich dolichokephale Nordeuropäer, der Kelto-Germano-Slawe, den unser Autor als einheitliche „Rasse" anspricht. Die antike Welt ist zugrunde gegangen, weil ihre fahrenden Nationen nicht die ausreichende Rassenkraft besaßen, um Bleibendes zu schaffen, weil - ganz Gobineau - außerdem die vorhandenen arischen Rassentugenden durch fortwährende Kreuzungen mit den niederen Rassen des Mittelmeerbeckens allmählich verdünnt oder zerstört wurden. Was sie übrigließen, ihre Erbschaft, fiel drei verschiedenen „Erben" zu, dem „Rassenchaos" und zwei reinen „Rassen", dem Germanen in jener eigentümlich weiten Fassung und - dem Juden. Der Jude ist eine Kreuzung aus vorwiegend „hethitischem" Blut - in Parenthese: wir wissen vom Hethiter so gut wie nichts, und Chamberlains Auffassung gründet sich augenscheinlich auf einige hethitische Bildnisse mit ausgesprochen mosaischem Profil - also aus vorwiegend hethitischem Blut mit starken semitischen und spärlichen europäischen (Amoriter) Beimengungen, zu denen vielleicht noch andere, mongolische etc., Elemente getreten sind. Daraus hat sich eine wohlcharakterisierte Rasse gebildet dank namentlich der strengen Isolierung nach dem babylonischen Exil, der strengen Abschließung von der Ehemischung mit anderen Völkern, eine Rasse, der Chamberlain sehr viel Schlechtes und nur wenig Gutes nachzusagen hat. Sie ist phantasie- und im tiefsten Kerne auch religionslos, für höhere Wissenschaft und Kunst unbegabt, aber fanatisch und intolerant - sie hat den Glaubenswahn und die Verfolgungswut in die Welt gebracht sie ist dem „Germanen" von Natur Todfeind, sein einziger, wirklich gefährlicher, weil rassenreiner Feind, mit ganz anderen „plis de la pensee" im Gehirn, unfähig, ihn auch nur zu verstehen, seine siegfriedische Sorglosigkeit schlau ausnutzend, kurz, das ganze Kredo des „gebildeten Antisemitismus", der sich roher Schimpfworte enthält. Das sind die Erben. Die Erbschaft aber besteht außer aus griechischer Kunst und Philosophie und römischem Recht hauptsächlich aus dem Gedanken des Imperiums, dem rassenfeindlichen, völkernivellierenden, kosmopolitischen, wie ihn das „Völkerchaos" gebar, und wie ihn die spätere, semitisierte, oder hethitisierte christliche Kirche in ihrem Verfall ausgestattete, und dem Christentum, das Chamberlain als historischen Faktor so hoch einschätzt, daß er auf das Jahr 1 einen der beiden großen Abschnitte der Weltgeschichte datiert. Seine Rassentheorie, nach der ein derartiger „echt-germanisch" religiöser Genieblitz unmöglich aus dem in ganz andere „Falten des Gedankens"

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gelegten Gehirn eines Rassejuden stammen kann, rettet er, indem er eine ganze Anzahl von Beweisen dafür zusammenträgt, daß in Jesu Heimat, in Galiläa, der „europäische", blonde, dolichokephale Stamm vorgeherrscht habe: Jesus war reiner „Amoriter". Diese Kräfte sind die Komponenten, aus deren Zusammenwirken nach dem Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte die Weltgeschichte weiter bewegt worden ist. Die Germanen treten die Erbschaft der antiken Welt an, infizieren sich mit den für ihren Rassencharakter unvereinbaren Elementen des Imperialismus und Kosmopolitismus, gewinnen dagegen immer neue Kraft aus dem eigentlichen, unrömischen resp. antirömischen Christentum - der Germane ist der geborene Protestant - , haben mit den anderen Erben, den „Mestizen des Rassenchaos" einerseits und den Juden andererseits harte Kämpfe zu bestehen und vermögen es dennoch, kraft ihrer unvergleichlichen Rassentugend, den Bau der Kultur auf allen seinen Flügeln immer höher empor zu führen. Aber latet anguis sub herba! Wenn der sorglose Germane im sicheren Gefühle seiner Kraft sich nicht vorsieht, wenn er das Ungermanische und Antigermanische nicht schonungslos ausrottet, soweit es nicht voll assimiliert werden kann, dann droht ein Weltuntergang: denn keine Rasse ist mehr vorhanden, begabt genug, um die Germanen an dem Bau der Kultur abzulösen, wenn sie zugrunde gehen. Das ist eine, wenn man will, künstlerische Konzeption des weltgeschichtlichen Verlaufs, wenn auch, trotz aller Polemik Chamberlains gegen Gobineau, dem er sie in fast allen Zügen verdankt, keine neue. Aber sie ist als solche nicht im mindesten Wissenschaft; sie kann es nur werden, wenn es möglich ist, die einzelnen, geschichtlich bedeutsamen Gruppen und Persönlichkeiten mit genügender Sicherheit ihrer Rasse nach zu bestimmen, und wenn aus dieser Prüfung im einzelnen sich die allgemeine Auffassung mit genügender Genauigkeit bestätigt. Mit anderen Worten: wo ein herrschbegabter, innerlich religiöser, kulturfördernder Stamm oder Mann erscheint, muß er wenigstens als Arier, bei hoher Begabung sogar als Nordarier festgestellt werden können, - und wo umgekehrt ein herrschunbegabter, äußerlich fanatischer, kulturzersetzender Stamm oder Mann erscheint, da muß er als Nicht-Arier, als Bastard des Rassenchaos oder als Semit festgestellt werden können. Erwiese sich das Gegenteil auch nur in einem irgend beträchtlichen Prozentsatz der Fälle als wahr, so wäre die ganze Grundkonzeption als irrig dargetan. Woran aber Stämme und Menschen sozusagen eichen? Somatische Merkmale von beweisender Kraft gibt es leider nicht. Bleibt nichts anderes als psychische Merkmale. Wie sie im allgemeinen bestimmen? Wie sie im einzelnen Falle feststellen? Wie sie messen? Die Antwort ist charakteristisch. „Gefühl ist alles." Das „Gefühl der Rasse im eigenen Busen" wird als der souveräne unfehlbare Schiedsrichter hingestellt. Dieses Gefühl gibt unserem Geschichtsphilosophen die Kenntnis von seinen und seiner Rasse eigenen Eigenschaften, und, warnend, von den Eigenschaften des Rassefremden. Es erkennt fehllos, durch Sympathie, den Blutsfreund und ebenso fehllos, durch Antipathie, den Fremden. Sub hoc signo vinces: mit dieser Wünschelrute in der Hand kann der selbst rassereine Mensch alle Rätsel der Geschichte lösen, alle Stämme und Männer mit Sicherheit ihrer Rasse nach bestimmen. Wie Chamberlain dieses diagnostische Hilfsmittel handhabt, dafür ein einziges, charakteristisches Zitat: Er schreibt vom späten Römerreich: „Nun könnte man freilich einwerfen, es seien aus dem damaligen Völkerchaos sehr bedeutende Männer hervorgegangen. Hierdurch wird die unwiderlegbare Erkenntnis von der Bedeutung der Rasse für das Menschengeschlecht durchaus nicht aufgehoben. Mitten in einem Chaos könnten einzelne Individuen noch ganz reiner Rasse sein, oder wenn das nicht, doch vorwiegend einer bestimmten Rasse angehören. Ein solcher Mann wie Ambrosius ζ. B. ist ganz gewiß aus echtem edlen Stamme, aus jener starken Rasse, der Roms Größe gemacht hatte: zwar kann ich es nicht

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beweisen (...) es kann aber auch niemand das Gegenteil beweisen, und so muß es seine keit entscheidenΓ

Demokratie Persönlich-

Das ist Chamberlains Methode in Reinkultur! Aus bestimmten psychologischen Eigenschaften wird auf die Rassenzugehörigkeit geschlossen, und nun werden dieselben Eigenschaften als Rassenmerkmale angesprochen: ein typischer Kreisschluß! Die Beispiele für diese Methode ließen sich häufen: er nimmt immer an, was ihm gerade in den Beweis paßt. Ich greife noch eins heraus: nirgends hat sich das „Völkerchaos" so lange, so ungestört und so gründlich gemischt, wie in Süditalien, wo achäische, jonische und dorische Griechen, Sabeller, Samniter, Römer, Karthager im Altertum durcheinandergerührt wurden, wo während der Römerzeit das ganze Mittelmeerbecken samt den Hinterländern bis zum Niger, Äthiopien, Hindukusch, Kaspi-See, und Nord- und Ostsee seine Einwohner als Sklaven deponierte, wo dann später Deutsche, Normannen, Araber, Türken etc. eintraten: dennoch spricht Chamberlain 1 Männer wie Bruno und Campanella als Germanen an, weil sie dem Katholizismus entgegentreten. Beweis: es sollen dort dolichokephale Schädel relativ häufig sein(!). Die haben aber nach seiner Feststellung auch reine „Semiten". Ich meine, das genügt wohl für die Charakterisierung der Methode und die Würdigung der Beweise. Immerhin: trotz aller Mißmethodik - der Mann könnte doch recht haben! Es ist schon mehrfach vorgekommen, daß Genies intuitiv die größten Entdeckungen erflogen haben, die dann die mühsam nachhinkende, methodisch arbeitende Wissenschaft verwundert bestätigen mußte. Gibt es nun ein Kriterium, an dem wir, Methodik hin, Methodik her, die objektive Wahrheit der Chamberlainschen Grundauffassung prüfen können? Ich glaube, es gibt eins! Wenn das Gefühl der Rasse im eigenen Busen in der Tat Wahrheit lehrt, so muß es wenigstens in der Mehrzahl der rassereinen Menschen untrüglich sprechen und von jeher gesprochen haben. Fragen wir also die Geschichte! Da zeigt sich nun: soweit wir die Menschheitsgeschichte rückwärts verfolgen können, finden wir die Selbstschätzung der Völker auf Kosten ihrer Nachbarn gegründet auf das Rassenvorurteil. Sprechen wir nicht von dem Hochmut der Ägypter gegen alles Fremde, da sie ja wirklich eine eigene „Rasse" gebildet haben mögen, die sich körperlich und seelisch von dem „homo europaeus" des Mittelmeerbeckens unterschied: aber auf welchen objektiven Erscheinungen baute der Hochmut des arischen Griechen gegen den arischen Perser, Mazedonier und Thraker, der Dünkel des spartiatischen Doriers gegen den achäischen Periöken und Messenier, des Atheners gegen den Böotier, des Römers gegen den Gallier? Es ist in der Neuzeit nicht anders. Der Sachse empfindet sich noch heute als eine andere „Rasse" wie der Preuße, obgleich beide eine aus den gleichen Bestandteilen gekreuzte Mischung von Germanen engeren Sinnes und Nordslawen sind. Das beste argumentum ad hominem aber ist: Chamberlain selbst sieht sich genötigt, drei der kostbarsten nationalistischen Eier in seinen Teig zu schlagen, um seinen Kuchen gar zu bekommen, und zwar mit seiner Konstruktion vom „Germanen" weiteren Sinnes, der die Kelten und Slawen mit umfaßt. Der alte Klemm, auch ein Kirchenvater der Germanomanie, hat Iren und Slawen im Gegensatz zu den aktiven Germanen als passive Rassen bezeichnet; und diese Bewertung entsprach durchaus dem „Gefühl der Rasse im eigenen Busen" der germanischen Herren. Seit einem Jahrtausend und mehr empfindet sich der Deutsche als Rassenfeind des Franzosen und Slawen, der anglosaxo-normannische Brite als Rassenfeind des Iren und Schotten; der Panslawismus erhebt das Rassenpanier zum Kampfe gegen den „faulen Westen", und uns predigt man mindestens seit der Teilung Polens unaufhörlich, daß „der Slawe" in alle Ewigkeit

1

[Chamberlain, Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts], S. 519 Anm.

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unfähig bleibe, Staaten zu bilden und zu führen, wenn das germanische (engeren Sinnes) Kriegerund Regentengenie nicht den Sauerteig in den faden Brei liefere. In Böhmen kennen sich Deutsche und Tschechen geradesogut an den „Nasen" und ekeln sich vor dem widerlichen „Seelenduft", um mit Jäger zu sprechen, wie manche Antisemiten vor dem des Juden - und nun ist das alles nicht mehr wahr! Es gibt gar keine Rassenverschiedenheit, nur „Germanen" mit kleinen Meinungsverschiedenheiten, aber denselben plis de la pensee, derselben Begabung und denselben Ansprüchen auf die Weltherrschaft! Sollte dann jenes Rassengefühl wirklich mehr Wert haben als die unter Protestanten der niedersten Klasse weit verbreitete Meinung, daß die Katholiken „falsch" seien? Ich möchte um Himmels willen nicht falsch verstanden werden. Gerade in dieser allumfassenden Konstruktion des „Germanen" erblicke ich das einzige bleibende Geschenk des Chamberlainschen Buches. Es ist die höchste Zeit, daß einmal von nationalistischer Seite selbst dem ebenso gefährlichen wie törichten Nationalismus entgegengetreten wird, der die Völker Europas miteinander verhetzt. Aber ich behaupte, daß ein Prinzip, das hier preisgegeben werden muß, weil es Unfug und Unheil stiftet, nicht seelenruhig an anderer Stelle als geschichtsphilosophischer Hauptschlüssel angewandt werden darf. Ich meine, damit dürfte die psychologische Variante der Germanomanie wissenschaftlich ebenso erledigt sein wie die anatomische. Ich kann nur zu dem Ergebnis gelangen, daß das Werk Houston Stuart Chamberlains in der Hauptsache vollkommen verfehlt ist. Es hat wohl in Einzelheiten, aber nicht im mindesten als Ganzes den geringsten Erkenntniswert, ausgenommen denjenigen, daß es kräftigen Widerspruch erwecken wird, weil es viel gelesen und besprochen wird. Daß Chamberlain selbst sich je von der Richtigkeit der ihm entgegengehaltenen Argumente überzeugen lassen wird, ist mir unwahrscheinlich. Er ist nicht nur ein völlig unwissenschaftlicher Kopf, sondern auch noch stolz darauf. Und solche Patienten pflegen unheilbar zu sein. Sie finden sich namentlich unter feinsinnigen Ästheten, charakteristischerweise! Denn im Ästhetischen, im rein Subjektiven ist in der Tat das „Gefühl im eigenen Busen" die einzig mögliche Richtschnur, und Menschen, die sich des siegreichen Geschmacks bewußt sind, sind selten davon zu überzeugen, daß er sie in den Sumpf lockt, sobald sie sich auf das Gebiet des Objektiven wagen. Ein solcher besonders feinsinniger Ästhet soll Chamberlain sein, wie man mir sagt und darum liegt der Fall wahrscheinlich hoffnungslos. Zum Glück für mich finde ich, daß die ernste Kritik mit - soweit ich sehen kann - staunenswerter Einhelligkeit zu demselben Ergebnis gelangt, daß die „Grundlagen" wissenschaftlich vollkommen wertlos sind. Sonst würde ich mir die Frage vorlegen müssen, ob nicht meine spezifische Hirnanlage mich dauernd verhindere, die plis de la pensee des reinen Germanen zu begreifen. Glücklicherweise bestätigt mir das gleichlautende Urteil meiner arischen Mitkritiker, daß es doch nur eine Logik in der Welt gibt, die auch „allmenschlich" ist wie Hunger und Liebe. Die mittelalterlichscholastische Weisheit von der zweifachen Wahrheit, des Glaubens und der Wissenschaft, ist doch wohl nicht wieder ins Leben zu rufen ... Gegen sämtliche Varianten dieser modernen Rassentheorie, die die Rasse als ein Ende (nicht aber wie die ältere, als einen Anfang) anschaut, läßt sich folgendes, wie mir scheint, sehr starkes Argument gebrauchen, das ich, soweit ich sehe, zuerst angewendet habe. Sie berufen sich immer auf die Erfahrungen der Züchter. Der Züchter aber ist ein Experimentator, der als solcher immer nur einen Faktor des Versuchs variiert, während er die anderen Faktoren konstant erhält. Der variable Faktor des züchterischen Experimentes ist die Blutkreuzung, und darum spricht er nur von ihr, wenn er berichtet. Der konstante Faktor aber ist die gute und gleichmäßige Fütterung, Behausung und Behandlung der Zuchtergebnisse; sie versteht sich von selbst, und darum spricht der Züchter niemals von ihr.

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Demokratie

Wenn man ihn aber fragen würde, ob Fütterung usw. seiner Zöglinge von Einfluß auf ihre Rasse sein könnten, so wird jeder Züchter mit einem Kopfschütteln über die törichte Frage ohne Besinnen mit Ja! antworten. Sein Wahlspruch ist ja, daß die halbe Rasse durch den Mund eingeht. Nichts ist gewisser, als daß die edelste Rasse durch lange Unterernährung, schlechte Stallungen, Versagen freier Bewegung und rohe Behandlung auf das äußerste heruntergebracht werden kann, wenn auch nur edelstes Vollblut zur Kreuzung kommt. Und umgekehrt ist ebenso gewiß, daß unedle Rassen trotz fortgesetzter Panmixis bei guter Fütterung und Behandlung unendlich an Qualität gewinnen. Das gilt für Menschen nicht minder wie für Tiere. Wir haben, als wir den rassendiagnostischen Wert der Leibesgröße und Kraft besprachen, bereits ausgeführt, daß notorisch die Körpergröße von der Ernährung stark abhängt. All das existiert für die Rassentheoretiker nicht im mindesten. Sie sehen nicht oder wollen nicht sehen, daß im Laufe der Geschichte die Ernährung, Behausung und Behandlung der menschlichen Zuchtergebnisse durchaus kein konstanter, sondern ein im höchsten Maße variabler Faktor gewesen ist; und deshalb beziehen sie alles auf den einen Faktor der Blutkreuzung. Dabei ist nichts gewisser als daß die menschlichen Rassen in erstaunlichstem Maße das besitzen, was ich vorgeschlagen habe als „Plastizität der Rasse" zu bezeichnen, eine erstaunliche Fähigkeit, sich allen Einflüssen ihrer Umgebung physisch und psychisch auf das schnellste anzupassen, so daß Albrecht Wirth wahrscheinlich recht hat, wenn er annimmt, eine Rasse brauche zu ihrer Entstehung nur wenige Generationen. Ein paar Beispiele: Vor 150 Jahren wog eine Kuh in Deutschland im Mittel 4, heute 12-14 Zentner, eine Bulle damals 6, heute bis zu 20 Zentner. Nach Retzius und Fürst1 hat man, wie in Baden, Holland und England auch in Schweden ein Größerwerden der Bevölkerung beobachtet; sie nahm von 1840 bis 1898 um ca. 1,8 cm zu. Umgekehrt berichtet Karl Marx 2 nach Justus von Liebig, daß während der Zeit des schlimmsten Raubbaues an der Volkskraft, während der frühkapitalistischen Periode um 1800, die Größe der Männer und ihre Militärtauglichkeit überall enorm zurückging. Von Holland sagt ein Bericht: „Der sich in diesen Ziffern ausdrückende Fortschritt ist kolossal: 1863: 13 Männer auf 100 unter 155 cm Höhe, 1898: 3; 1863: 23 Männer von 1,70 m Länge und mehr, 1893 über 37!" In Frankreich machten nach einer Notiz der Zeitschrift für Sozialwissenschaft die wegen Kleinheit zum Heeresdienst Untauglichen 1817/24 fast 20% der Stellungspflichtigen aus; die Zahl nahm dann aber rapid und weiterhin langsam ab, bis zu 6-7% in den 60er Jahren. Nach Carret 3 hat von 1811/12 bis 1872/79 die Größe der savoyardischen Konskribierten um nicht weniger als 6 cm zugenommen, „und zwar infolge des gesteigerten Wohlstandes und der besseren Ernährung". Ähnliches gilt von allen anderen Kulturländern mit halbwegs leidlicher Verwaltung, während aus Rußland, dem hungernden Rußland, mitgeteilt wird, daß Größe und Kraft des Volkes sichtlich verfallen. Leider stehen mir hier keine Zahlen zur Verfügung. Dagegen kann ich auf die wohlbekannten Untersuchungen von Landsberger und Roberts für Deutschland, von Livi und Pagliani für Italien, von Erismann u. a. verweisen, die ziffernmäßig an Schulkindern und Jugendlichen den Beweis erbracht haben, daß Körpergröße und Wohlstand in direktem Verhältnis zueinander stehen. Und so erscheint die Frage, die nach einer Zeitungsmeldung der verstorbene Kaiser von Japan vor einigen Jahren an sein Ministerium gerichtet haben soll, gar nicht als irrationell, ob es

1

Retzius/Fürst, Anthropologica suecica, Stockholm 1902; zitiert nach: Zeitschrift für Sozialwissenschaft,

2 3

Nr. 4 (1903), S. 40. Marx, Das Kapital, 4. Aufl., Berlin 1890, Bd. I, S. 200f. Anm. 46. Carret, Artikel: Rasse, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. Von L. Elster, A . Weber, F. Wieser, Bd. 1, Jena 1926, S. 395.

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angebracht sei, durch eine Veränderung der Volksnahrung die Japaner zu größerer Körperlänge zu züchten. „Nach einem bekannten Ausdrucke der Tierzüchter geht die Hälfte der Rasse durch den Mund", sagt Kruse1 und fährt fort: „In dieser Beziehung verfolgen Kultur des Menschen und Zucht der Haustiere dieselben Ziele (...), haben auch wohl ähnliche Erfolge erreicht gegenüber dem sog. Naturzustande." Und Kruse stimmt hier mit niemand Geringerem als Ratzel überein, der die Kleinheit der Zwergvölker auf ihre elenden Lebensverhältnisse zurückführt. Er erklärt sie geradezu für „soziale Rassen"2, wie er auch sonst überall den Einfluß der Ernährung auf die Größe und Kraft betont, so ζ. B. sagt er, „die an der Küste wohnenden Eweer sind bei reichlicher Fleischnahrung und der Beschäftigung auf der See stärker und größer als die des Inneren". An anderer Stelle sagt er: „Sind doch auch andere waldbewohnende und jagende Stämme verkümmert: in den Wäldern am Lulua leben Baschilange, die, klein und mager, Wißmann sofort an die zwerghaften Batua erinnerten. Der nahrungsarme Wald Afrikas kann ebensogut den Wuchs verkleinern, wie harte Arbeit und schlechte Ernährung in unseren Industrieländern. Wo nun Gemeinden von 15-20 Mann in enger Siedelung beisammen wohnen, wie bei den Alongo, ist Inzucht geboten und heilsame Kreuzung erschwert. Und die nahverwandten Buschmänner werden ja von hervorragenden Anthropologen als eine Rasse mit den Merkmalen des Rückganges und der Heruntergekommenheit angesehen."3 Ahnlich sagt Karl Bücher4, daß die niederen Jäger nicht degeneriert, sondern die Hirten und Ackerbauern dank besserer Ernährung stark fortgeschritten sind. Ratzel erwähnt Fälle erstaunlicher Anpassung. Er sagt wörtlich: „Der Araber als Hirt, Nomade, Reiter, Räuber erhält mit der Zeit anders gebaute Gliedmaßen als der Ägypter, der seit Jahrtausenden Lasten trägt, hackt, pflügt, Wasser schöpft."5 Und er berichtet von dem Fischervolk der Wenia in der Nähe der Stanley-Fälle: „Sicher lebt es seit vielen Geschlechtern in dieser Region und hat seit lange die Gewohnheit, einen großen Teil der Tage und selbst der Nächte in den Kähnen zuzubringen; daher herkulisch in Brust und Armen, verkümmert in den Beinen." 6 An anderer Stelle führt er aus: „Die Rasse ist außerdem nach zwei Richtungen hin durch soziale Einflüsse auseinander gegangen. Regelmäßige harte Arbeit prägt einzelnen Völkern die Züge von Kulturrassen auf, die ans Pathologische streifen. So stehen die Milano Borneos an Gestalt und Regelmäßigkeit der Züge weit hinter den Malayen zurück; sie sind von Farbe hell, aber mit einem oft ungesunden Ton; da sie ihr ganzes Leben hindurch Sago aus dem Palmenmark heraustreten oder pressen, so werden ihre Füße breit; ihre Figuren sind stämmig und untersetzt. Die seit Jahrhunderten indischen,

1

Kruse, Artikel: „Entartung", in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Nr. 6 (1903), S. 364.

2

Ratzel, Völkerkunde, Leipzig und Wien 1894/95, Bd. II, S. 170.

3

Ebenda, Bd. I, S. 716.

4

Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1901, S. 14.

5 6

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 404. Ebenda, S. 286.

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chinesischen und europäischen Einwirkungen ausgesetzten, hochkultivierten Javanen und Maduresen sind zarter, edler gebaut als ihre Nachbarn. Wenn die Orang Laut, die Seemalayen der Halbinsel, die den größten Teil ihres Daseins auf dem Wasser zubringen, dunkel von Farbe sind, so ist das nur natürlich. Wald- und Bergstämme sind durch ihr wildes, ärmliches, unregelmäßiges Leben verändert: so sind die Lubu, Ut, teilweise die Badju, die verschiedenen Philippinenstämme, die die Spanier fälschlich unter dem Namen Igorroten zusammenfassen, auch im Äußeren echte Parias. Aber auf solche leichtere Abwandlungen Einteilungen in Rassen und Unterrassen zu gründen, ist doch nicht angängig."1 Ratzenhofer sagt: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß zahlreiche Merkmale, wie Zurückbleiben der Körpergröße, schwache Muskulatur, entstellte Gesichtszüge u. a. m., einer Dauerform zuzurechnen sind, die als krankhafte Anlage gelten kann. Wenn wir ζ. B. die auffallende Körpergröße des Adels bei den arischen Völkern den günstigen Lebensbedingungen der Entwicklungsreihe, also einer artgemäßen Prosperität, zuschreiben dürfen, so müssen wir das rapide Sinken der Körpergröße, des Brustumfangs und der Muskulatur bei der armen Städtebevölkerung Europas als krankhafte Entartung der Rassen erkennen."2 Umgekehrt führt das Leben unter günstigen Bedingungen selbst Angehörige der niedersten Menschenrassen schon anatomisch zu höherem Typus empor. „Eine Bemerkung G. Fritschs konstatiert eine auffallende Annäherung dieser zivilisierten Kaffern auch in körperlicher Beziehung an die Weißen: die Gesichtsbildung der Fingu macht den Eindruck .stärkerer Vermischung durch Annäherung an den europäischen Typ'. Besonders von den Kaffern des östlichen Teils der Kolonie und Britisch-Kaffrarias unterscheiden sie sich durch die meist stärker entwickelte Nase und die breite Stirn."3 Die Neger der Vereinigten Staaten nähern sich nach vielen Berichten in Typus und Farbe mehr und mehr den Weißen, ihr spezifischer Geruch ist angeblich verschwunden. Übrigens sollen die Japaner gleichfalls am Europäer einen unangenehmen Geruch wahrnehmen. Von diesen Erfahrungen geleitet, stellt Ratzel folgende grundsätzliche Erwägungen über den Zusammenhang von körperlicher „Rasse" und Milieu an, die allen Rassefanatikern sehr ans Herz gelegt zu werden verdienen: „Wir kommen hier zuerst zu dem Wunsche, daß man den Begriff Kulturrasse mit Rücksicht auf die Menschheit eingehender prüfe, als es bis jetzt geschehen ist. Man würde, das läßt sich voraussagen, finden, daß zunächst im Körperbau der Kulturvölker Eigenschaften auftreten, die durch die Kultur hervorgerufen sind, ebenso wie andererseits der Körper der Naturvölker in gewissen Zügen deutlich die Wirkungen einer Lebensweise aufweist, die durch den Mangel an fast allem bezeichnet wird, was wir gewohnt sind, Kultur zu nennen. Gustav Fritsch, ein Anatom, der die Naturvölker mitten in ihrer Natur studiert hat, stellt den Satz auf, daß die harmonische Entwicklung des menschlichen Körpers nur unter dem Einfluß der Kultur möglich sei; und man gewinnt aus seinen Schilderungen der Hottentotten, Buschmänner und selbst der Kaffern die Uberzeugung, daß gut entwickelte, plastisch schöne Körper bei ihnen seltener sind als bei uns angeblich abgelebten Kulturmenschen."4

1 2 3 4

Ratzel, Völkerkunde, Bd. I, S. 362. Ratzenhofen, Soziologie, S. 61. Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 130. Ebenda, Bd. I, S. 15.

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„Man muß es mit der größten Entschiedenheit betonen, daß der Begriff Naturvölker nichts Anthropologisches, nichts Anatomisch-Physiologisches in sich hat, sondern ein rein ethnographischer, ein Kulturbegriff ist. Naturvölker sind kulturarme Völker! Es können Völker von jeder Rasse, von jedem Grade natürlicher Ausstattung entweder noch nicht zur Kultur fortgeschritten oder in der Kultur zurückgegangen sein. Die alten Deutschen und Gallier traten der römischen Kultur verhältnismäßig nicht minder kulturarm gegenüber als uns die Kaffern oder Polynesier, und manches, was sich heute zum Kulturvolk der Russen zählt, war zur Zeit Peters des Großen noch reines Naturvolk. In der Tat ist die Kluft des Kulturunterschiedes zweier Gruppen der Menschheit nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig von der Größe des Unterschiedes ihrer Begabung. Man erwäge, daß in dem, was die Höhe der Kulturstufe ausmacht, in dem gesamten Kulturbesitz eines Volkes, eine Fülle von Zufälligkeiten wirksam ist, die uns höchst behutsam machen sollte, daraus zugleich Schlüsse auf die körperliche, geistige und seelische Ausstattung des Volkes zu ziehen. Hochbegabte Völker können kulturlich arm ausgestattet sein und dadurch den Eindruck einer allgemein niederen Stellung innerhalb der Menschheit machen. Chinesen und Mongolen gehören derselben Rasse an und doch, welcher Unterschied der Kultur! Noch größer ist dieser, wenn wir an die Stelle der Mongolen irgend einen der barbarischen Stämme setzen, die sich in den Grenzprovinzen Chinas, wie Inseln aus der höher zivilisierten Menschenflut abheben, die sie rings umgibt und bald überflutet haben wird. Nach neueren Forschungen möchte es scheinen, daß manche von den Aino, den Urbewohnern der nördlichen japanischen Inseln, der kaukasischen Rasse näher stünden als der mongolischen. Und doch sind sie ein Naturvolk, sogar in den Augen der mongolischen Japaner. Die Rasse hat mit dem Kulturbesitz an sich nichts zu tun. Es wäre zwar töricht, zu leugnen, daß in unserer Zeit die höchste Kultur von der sog. kaukasischen oder weißen Rasse getragen wird; aber andererseits ist eine ebenso wichtige Tatsache, daß seit Jahrtausenden in aller Kulturbewegung die Tendenz vorherrscht, alle Rassen heranzuziehen zu ihren Lasten und Pflichten und dadurch Ernst zu machen mit dem großen Begriff ,Menschheit', dessen Besitz zwar als eine auszeichnende Eigenschaft der modernen Welt von allen gerühmt, an dessen Verwirklichbarkeit aber von vielen noch nicht geglaubt wird. Blicken wir aber nur über den Rahmen der kurzen und engen Begebenheiten hinaus, die man anmaßend die Weltgeschichte nennt, so werden als Träger der jenseits liegenden Ur- und Vorgeschichte Glieder aller Rassen anzuerkennen sein."1 Diese monumentalen Sätze des Schöpfers der Anthropogeographie haben uns schon von der Anpassung des Körpers zu der Anpassung der Seele an das Milieu, an den monde ambiant GeoffroySt. Hilaires, geführt. Auch davon weiß der Germanomane nichts! Und doch sollte auch hier ein Blick auf die züchterische Praxis und das Leben genügen, um vor der Überschätzung des Kreuzungsfaktors zu warnen. Jeder Züchter weiß, daß ein ungeschickter Reiter das edelste Vollblut zum miserabelsten Verbrecher verderben, daß ein ungeschickter oder roher Jäger den edelsten Jagdhund zum niederträchtigsten Köter verprügeln oder verwöhnen kann. Oder ein anderes: ich erwähnte bereits, daß vor 150 Jahren in Deutschland ein Bulle etwa 6, heute 18 ja 20 Zentner und darüber schwer ist. Ist das rein physisch? Seele und Leib sind eines nur! Der kleine schwache Stier von 1750 war nicht einmal einem Wolf gewachsen, der gewaltige Riese von heute nimmt es spielend mit einem Bären auf. Im Menschlichen ist es nicht anders. Selbstverständlich wandelt sich der Charakter mit dem Leib. Ein riesengroßer, gut ernährter, muskelstarker, in Selbstachtung und Körpertraining aufgewachsener Mann hat mindestens einen ganz anderen physischen Mut als ein schlecht ernährter, von

1 Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, S. 17f.

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Jugend auf verfolgter, gehetzter, verachteter Knirps. Und Mut ist wieder die Grundlage von Sorglosigkeit, Großherzigkeit, Persönlichkeitsbewußtsein usw. Nur ein gänzlich voreingenommener Mensch kann übersehen, daß der Charakter überall variiert mit der Verumständung. Alle Völker mit Naturwirtschaft üben die schöne Sitte der unbeschränkten Gastfreundschaft - die Geldwirtschaft rottet sie aus. Die Bauern und die Landarbeiter des deutschen Ostens waren 1811 noch eine ungeschiedene gleichartige „Rasse"; es war fast überall der reine Zufall, der die einen zu selbständigen Besitzern, die anderen zu Proletariern machte - und heute sind sie nicht nur an Kraft, Größe und Gesundheit, sondern auch psychisch zwei gänzlich verschiedene „Rassen": der Bauer selbstbewußt, fleißig, redlich, der Tagelöhner ein fauler, sklavischer, oft tückischer und diebischer Knecht. Und sind Enkel derselben Großväter! Wir haben allen Grund, in Deutschland heute von der unerfreulichen Psychologie der Festbesoldeten zu sprechen, dem Typus des feigen, ängstlichen Urphilisters, und Henry George entrollt das erfreuliche Gegenbild, wenn er von dem Charakter seiner Landsleute spricht: „Die allgemeine Intelligenz, der weitverbreitete Komfort, der tätige Erfindungsgeist, die Fähigkeit der Anpassung und Assimilation, der freie unabhängige Geist, die Energie und das Selbstvertrauen, die unser Volk auszeichnen, sind nicht Ursachen, sondern Wirkungen - sie sind aus dem freien Grund und Boden erwachsen. Das öffentliche Gebiet ist die umgestaltende Kraft gewesen, die den schlaffen, Ehrgeiz nicht kennenden europäischen Bauern in den selbstvertrauenden Landmann des Westens verwandelt hat. (...) In Amerika hat es in jedem Fall doch immer noch das Bewußtsein, daß das öffentliche Gebiet hinter ihm liege, und die Kenntnis dieses Umstandes hat in Aktion und Reaktion den ganzen Volkscharakter durchdrungen und demselben Großmut, Unabhängigkeitsgefühl, Elastizität und Ehrgeiz verliehen."1 Diese Abhängigkeit des menschlichen Charakters von dem gesamten geographischen und sozialen Milieu ist universal, ist so mächtig, daß wir imstande sind, typische Gruppen und Klassencharaktere aufzustellen, die unter den gleichen Bedingungen der Umwelt in allen Zonen, bei allen Rassen aller Farben wiederkehren. Der primitive Jäger ist überall der Künstler und praktische Anarchist, der einen anderen Willen über sich nicht duldet und wohl zu vernichten, aber nicht zu unterwerfen ist; der Hirt ist überall der stolze, rassenstolze Krieger, der in aristokratischer Demokratie, ein Gleicher mit Gleichen, von der Arbeit seiner Sklaven lebt, undiszipliniert im Frieden, streng diszipliniert im Kriege; der primitive Hackbauer ist überall der wehrlose, harmlose Knecht, der die wechselnde Herrschaft der Nomaden über sich hinstürmen läßt, wie sein Ackerhalm die Gewitter, um sich hinter ihnen unzerstörbar wieder aufzurichten; und bei den höheren Ackerbauern, wo ein Adel oben und eine Bauernschaft unten einen „Staat" im eigentlichen Sinne bilden, haben wir ganz typische Klassencharaktere, die mit der wirtschaftlich-politischen Entwicklung, mit dem Ubergang ζ. B. von der Naturalzur Geld- und Kreditwirtschaft, zur Städtekultur, zum Getreidehandel, zur Beamtenregierung usw. wieder in völlig typischer Weise wechseln, ohne daß die Rasse einen erkennbaren Unterschied bedingte. Das schlagende Beispiel ist wahrscheinlich die Ausgestaltung eines Feudalsystems in Japan, das dem westeuropäischen bis in die kleinste Einzelheit des äußeren Aufbaues, vor allem aber in der Psychologie, in dem hochgespannten Ehrbewußtsein usw., zum Staunen gleich ist. Und doch sind die Japaner reine Mongolen und ihre Landwirtschaft kennt weder Zugvieh noch Pflug; aber die soziale Bedingung der Klassenschichtung war die gleiche wie in Westeuropa. „Stufenpsychologie, nicht Rassenpsychologie", sagt Kurt Breysig; ja, aber vor allem A7dssenpsychologie!

1

George, Fortschritt und Armut, Berlin 1892, S. 345f.

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Ernst Große prägt diesen Sachverhalt in folgenden Sätzen aus: „Wir stehen vor der Aufgabe, die verschiedenen Kulturformen, mit denen uns Geschichte und Völkerkunde bekannt machen, als höher und niedriger entwickelte in eine Stufenfolge einzuordnen. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß es sich hier nicht um die physische, sondern um die kulturelle Eigenart der verschiedenen Menschengruppen handelt, denn man hat das Problem bekanntlich oft genug heillos verwirrt, indem man es vom anthropologischen Standpunkte aus zu lösen versuchte. Die Konstruktion der kulturellen Stufenleiter der Völker ist eine Aufgabe der Ethnologie, mit der die physische Anthropologie zunächst nicht das geringste zu schaffen hat. Die Anthropologie könnte höchstens eine physische Stufenleiter der Rassen liefern. Rassen und Völker aber sind sehr verschiedene Dinge. Die Eigenschaften, welche die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Rasse bezeichnen, entscheiden nicht über seine Zugehörigkeit oder Befähigung zu einer bestimmten Kulturform. Man könnte die verschiedenen Rassencharaktere mit weit größerem Rechte für die Wirkungen verschiedener Kulturformen erklären, als umgekehrt annehmen, daß die Kulturformen durch die Rassencharaktere bedingt seien. Gerade unsere Untersuchungen über die primitive Kunst werden einen neuen Beweis dafür erbringen, wie gering der Einfluß des Rassencharakters auf die Gestaltung der Kultur ist." 1 Und er schließt diese Gedankenreihe grundsätzlich wie folgt: „Diese durchgängige Einförmigkeit beweist unmittelbar, daß der Charakter der Rasse keine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Kunst besitzt. Die Einheit der primitiven Kunst steht in dem schärfsten Gegensatz zu der Verschiedenheit der primitiven Rassen. Die Australier und die Eskimos sind einander in anthropologischer Beziehung so unähnlich, wie es zwei menschliche Rassen nur sein können; und nichtsdestoweniger sind die Ornamente der einen denen der anderen häufig so ähnlich, daß es zuweilen sehr schwer sein würde, die Herkunft eines solchen Musters zu bestimmen, wenn man nicht in der Form und dem Material des ornamentierten Gegenstandes einen Anhalt fände. Wer nur einmal die Felszeichnungen der Australier und der Buschmänner, und sodann die Australier und die Buschmänner selbst verglichen hat, wird es kaum noch wagen, die Lehre Taines, daß die Kunst eines Volkes in erster Linie der Ausdruck seines Rassencharakters sei, aufrecht zu halten, - wenigstens nicht in der allgemeinen Gültigkeit, welche Taine dafür in Anspruch nimmt. (...) Der einheitliche Charakter der primitiven Kunst weist unzweideutig auf eine einheitliche Ursache hin; und diese einheitliche Ursache haben wir in demjenigen Kulturfaktor gefunden, der bei den Jägerstämmen aller Rassen und Zonen einen völlig einheitlichen Charakter besitzt, und der zugleich bei allen Völkern auf alle übrigen Teile des kulturellen Lebens den mächtigsten Einfluß übt, - in dem Nahrungserwerbe." 2 Wer diese Zusammenhänge nicht beachtet, kann die historischen Dinge niemals vollkommen verstehen. Und sie werden wenig beachtet. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, zu zeigen, wie weit ζ. B. Lamprecht bei der Aufstellung seines geistreichen psychologischen Entwicklungsschemas durch dieses Übersehen abgelenkt worden ist; oder wie Sombart in seiner Analyse der jüdischen Rasseneigenschaften dank diesem Übersehen in die Irre geführt worden ist - der angeblich aus der Wüstenwanderung mitgebrachte Rassencharakter ist der typische Charakter einer vielsprachigen, verstädterten ehemaligen Herrenklasse - aber die Zeit steht mir nicht zur Verfügung. Nur ein einziges charakteristisches berühmtes Beispiel möchte ich mir anzuführen erlauben.

1

G r o ß e , Die Anfänge der Kunst, Freiburg i. Brsg., S. 32f.

2

Ebenda, S. 295f.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Cäsar hat den Charakter der Kelten meisterhaft scharf und knapp umrissen, und seit ihm hat alle Historik, Mommsen einbegriffen, diese Psychologie zum Haupterklärungsmittel der französischen Geschichte gemacht. Man braucht aber nur hinzusehen, um zu finden, daß ganz derselbe Charakter in all seinen Hauptzügen sich bei Deutschen, Polen, Böhmen, Ungarn, im Altertum bei der böotischen, thessalischen, lukanischen und kampanischen Ritterschaft usw. in gewissen Epochen ihrer Geschichte zeigt. Und wenn man dann näher hinschaut, so findet man die merkwürdige Tatsache, daß diese „Keltenpsychologie" die regelmäßige Begleiterin eines Entwicklungsstadiums ist, dem eben die Grundaristokratie über die vollfreie Bauernschaft hinauswächst. Nicht umsonst sind die Polen, die nie über die erste Stufe des Feudalismus fortkamen, die „Franzosen des Nordens". Wie ist es zu verstehen, daß nicht nur Dilettanten, sondern erprobte Männer der Wissenschaft so groben Irrtümern verfallen können? Darüber wird uns die zweite Art der Betrachtung einigen Aufschluß geben können, zu der ich jetzt übergehe, zu der Betrachtung der Rassentheorie als eines Forschungso£>/e&te5 der Soziologie. Dabei kann ich mich leider bei dem noch stark chaotischen Zustande unserer jungen, noch im Werden begriffenen Wissenschaft auf keine allgemein anerkannten Sätze stützen. Ich kann nur mein eigenes Kredo geben und befinde mich dabei in der traurigen Lage, es aus Zeitnot kaum begründen zu dürfen. Wie ich die Dinge sehe, ist der Hauptträger allen gesellschaftlichen Lebens nicht das Individuum, sondern die soziale Gruppe, eine Anzahl von Menschen, die durch ein gemeinsames Interesse verbunden sind. Dieses Interesse, Ratzenhofers „inhärentes" Gruppeninteresse, besteht darin, auf der Linie des geringsten Widerstandes von einem Ort höheren, d. h. als höher empfundenen, psychischen Druckes zu einem Orte geringeren Druckes zu gelangen, wobei ich in Parenthese bemerken will, daß es sich in der Regel, wenn auch nicht immer, um ein sozialökonomisches „Seelengefälle" handelt, wenn das Wort gestattet ist. Eine solche strömende Masse hat, wie alle anderen strömenden Massen, die diesem universalen Gesetz des kleinsten Kraftmaßes folgen, in jedem gegebenen Augenblick nur eine mögliche Bewegungsrichtung, die ihr einerseits ihr geographisch klimatisches Milieu, andererseits ihr soziales Milieu, d. h. der Gegendruck anderer, anders gerichteter Gruppen vorschreibt. Der übermenschliche Soziologe, der diese gesamte Verumständung bis in die letzte Einzelheit kennen würde, würde auch die Bewegung auf das genaueste vorhersagen können, geradeso wie ein Ingenieur aufgrund genauester Karten exakt angeben kann, wohin eine Wassermenge sich richten wird, wenn sie auf einen gegebenen Punkt ausgeschüttet wird. 1 Und nun, meine Herren! wie ich es sehe: dieser selbe übermenschliche Soziologe, der die Strömung genau kennen würde, würde auch die Ideologie der Gruppe genau kennen. Sie ist vollkommen durch die Strömung determiniert, wie diese durch die Verumständung. Ich bedaure, das reiche Tatsachenmaterial, das mich zu dieser Uberzeugung geführt hat, hier nicht anführen zu können: nur als Andeutung, daß die Gruppentheorie ganz gesetzmäßig sich verändert, sobald die Strömungsrich-

1

Diese umfassende, wenn nicht alle, so doch viele Momente berücksichtigende „Milieutheorie" ist von dem, was man im allgemeinen so nennt, recht verschieden. Ich habe diese meine sozialökonomische Geschichtsauffassung [siehe im vorliegenden Band, Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung, S. 267-308; A.d.R.] in Barth's „Archiv für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie" theoretisch begründet und praktisch, als Methode der Geschichtsschreibung in meinem Staat (Frankfurt a. M. 1907) [siehe im vorliegenden Band, S. 309-385; A.d.R.] und meinem Großgrundeigentum und soziale Frage (Berlin 1898) [siehe Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Band I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 1-280; A.d.R.] angewendet und, wie ich hoffe, als brauchbar und ausreichend nachgewiesen. Vgl. auch meine Kritik der Sombartschen Rassentheorie, in: Neue Rundschau (1912).

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tung sich verändert; das glorreichste Beispiel dafür ist der Umschlag in der Klassentheorie der deutschen ostelbischen Groß-Kornproduzenten: sie waren Freihändler pur sang, solange Deutschland Getreide exportierte, und wurden in einer Metamorphose von fast komischer Schnelligkeit ebenso fanatische Hochschutzzöllner in dem Augenblick, wo Deutschland begann, Getreide zu importieren. Ahnliches gilt von der Ideologie gewisser nordamerikanischer Halb-Sklavenstaaten usw. Dieser Zusammenhang von Ursache und Wirkung äußert sich darin, daß die Gruppe psychisch gezwungen ist, alles das für gut, vernünftig und gerecht zu halten, was die Strömung des Augenblicks gerade in dieser Richtung, gerade zu diesem Ziele fördert, und umgekehrt alles das für schlecht, ungerecht und unvernünftig zu halten, was die Strömung ablenkt und aufhält. Nun ist ein Hauptteil alles geschichtlichen sozialen Lebens bisher der Gruppenkampf gewesen, miernational in den Kämpfen der politischen Gesellschaften, auf höherer Stufe also der Staaten, und intranational in den Kämpfen der sozialen Klassen. Die eine Gruppe betritt in ihrer Bewegung zum Orte ihres niederen Druckes notwendigerweise das Gebiet einer anderen, der Kampf mit kriegerischen oder anderen Waffen wird unvermeidlich. Und das hat nun die Folge, daß jetzt die gegnerische Gruppe unserer ersten, in ihrer Bewegung gehemmten Gruppe als aus Menschen zusammengesetzt erscheint, die sich aus Bosheit der guten Sache, aus Ungerechtigkeit der gerechten Forderung, aus Torheit der Vernunft widersetzen. Das gilt namentlich, und das ist einigermaßen paradox, auch von denjenigen Gruppen, die aktiv, aggressiv in das Rechts- und Machtgebiet anderer Gruppen einbrechen, um sie und ihr Eigentum für sich anzueignen, auszubeuten, zu bewirtschaften. Hier kooperiert das eben angeführte sozialpsychologische Hauptgesetz, wonach die Gruppentheorie durch die Strömungsrichtung determiniert ist, in sehr eigentümlicher Weise mit einer, wie es scheint, allmenschlichen Seelenanlage, nämlich mit dem „kategorischen Imperativ", dessen Inhalt das Sprichwort bezeichnet: „Was Du nicht willst, daß man Dir tu, das füg' auch keinem Andern zu." Dieser Imperativ scheint schon bei den tiefststehenden Völkern sehr laut zu sprechen von dem Augenblick an, wo im Menschen der Nachbarhorde der Mensch erkannt ist, d. h. wo er nicht mehr einfach als jagdbares Wild erscheint. Von diesem Augenblicke an wird Gewalttat und Unterdriikkung, Raub, Ausbeutung und Bewirtschaftung zwar nicht etwa unterlassen, - wohl aber vor Vernunft und Sittlichkeit gerechtfertigt durch eine typische Gruppentheorie, die ich vorgeschlagen habe, die Jegitimistische" zu nennen. Ihr Inhalt ist demgemäß der folgende: die angegriffene, unterworfene, beherrschte, ausgebeutete Gruppe verdient ihr Schicksal, denn sie ist von schlechterer Art als ihre Besieger oder Herren; ja, dieses Schicksal ist sogar im Grunde ihr Glück, ihre einzige Rettung vor dem völligen Untergange: denn ihre Art ist so schlecht, ihr Verstand so gering, ihre Sittlichkeit so tief, daß sie sich selbst niemals erhalten, verwalten, regieren könnten; sie „würden sich gegenseitig auffressen", wie der Kraftausdruck der modernen Legitimisten lautet. Mit diesen Argumenten rechtfertigt sich die Gewalt und Unterdrückung in allen Zonen, unter jeder Hautfarbe, auf jeder Kulturstufe auf diesem Planeten, rechtfertigt sich, wie gesagt, vor dem nie schweigenden Richter in jeder Menschenbrust, dem ethischen Postulat des kategorischen Imperativs. „Jede Fratze zeugt für den Gott, den sie entstellt", sagt Richard Dehmel. Soweit diese Theorie sich in wissenschaftlichem Gewände gibt, tritt sie in verschiedenen, einander recht nahe verwandten Formen auf, die ich als das „Gesetz von den zyklischen Katastrophen" zusammengefaßt habe. Sie vertreten sämtlich das Prinzip „Autorität, nicht Majorität", und beweisen aus der Geschichte, namentlich aus einer, wie ich meine, grundfalschen Analyse der Geschichte der antiken Stadtstaaten, daß nur die Herrschaft der Besten, der Kaloikagathoi, die Völker davor bewahren kann, in den Abgrund des Verderbens zu rollen. Eine dieser Varianten der legitimistischen Theorie der zyklischen Katastrophen ist die Rassentheorie der Weltgeschichte. Damit ist unsere sozialpsychologische Aufgabe zu einem Teile gelöst, wenn die gesamte Grundlage der hier vorgetragenen Auffassung als richtig gelten darf. Wir haben das Objekt, das unserer

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Forschung vorliegt, im allgemeinen bestimmt, seine Entstehung und seinen Inhalt sozialpsychologisch abgeleitet. Aber das ist erst ein Teil unserer sozialpsychologischen Aufgabe. Denn wir haben es hier ja nicht nur mit der Rassentheorie im allgemeinen, sondern mit den einzelnen Rassentheorien zu tun, die von individuellen Gelehrten oder vielleicht Pseudogelehrten ausgedacht und ausgearbeitet sind. Ist hier mit einer objektiven, rein kausalen Erklärung noch weiterzukommen? Meine Herren, wir rühren hier an das Problem, das nach meiner Uberzeugung das tiefste Problem aller Geschichte und daher aller Soziologie ist, an das Problem von den Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner sozialen Gruppe. Auch hier kann ich nicht mehr als mein persönliches Kredo geben, ohne es ausführlich begründen zu können; aber hier glaube ich, soweit ich sehen kann, mich mit der Mehrzahl der heutigen Forscher einig, ζ. B. mit meinem verehrten Freunde Vierkandt, dessen Buch Stetigkeit im Kulturwandel zum großen Teile diesem Kernproblem gewidmet ist, und sogar mit scheinbaren Gegnern, wie ζ. B. Sommerlad. Also, wieder, wie ich die Dinge sehe: Gruppe und Individutim stehen in Wechselwirkung zueinander, aber doch so, daß die Einwirkungen der Gruppe auf das Individuum unendlich viel stärker sind als die Einwirkungen des Individuums auf seine Gruppe. Selbst den seltenen Starken, den führenden Persönlichkeiten, ist nur ein sehr enger Kreis der Wahl- und Bewegungsfreiheit gegönnt; für die Masse ist dieser Kreis als nahezu punktförmig zu betrachten, und ihn zieht und begrenzt das inhärente Gruppeninteresse, der Zwang, die Strömungsrichtung des gegebenen Augenblicks einzuhalten und vor Vernunft und Sittlichkeit zu rechtfertigen. So ist das Individuum, abgesehen von jenem winzigen Kreise, soziologisch nicht anders denn als ein Gruppenbestandteil zu betrachten; es wertet, denkt und handelt unter einem objektiven Zwange, wie das inhärente Gruppeninteresse das fordert, wobei es kraft der wohlbekannten Selbsttäuschung optima fide völlig davon überzeugt bleibt, daß es nur ewig gültigen ethischen Grundsätzen und logischen Vernunftschlüssen folgt. Dieser psychologische Mechanismus scheint sehr allgemein anerkannt zu sein; die verschiedensten Schulen lehren seine Existenz. Wenn Roß in der social control und Durckheim in der force coercitive die eigentlich soziale Tatsache erblicken, so haben sie außer der äußeren zwingenden Gewalt von Recht und Staat auch diesen inneren unbewußten Zwang im Auge; wenn Ludwig Gumplowicz sagt: „Naturgesetzlich handelt der Mensch, und menschlich denkt er hintendrein", so hat er dasselbe im Auge und drückt es noch nicht einmal so hart aus wie sein sonstiger Antipode Gabriel Tarde, der das Individuum geradezu als einen „Somnambulen" bezeichnet, weil er es als einen, des eigenen Willen und Bewußtseins fast völlig Beraubten, sozusagen nur als Kreuzungspunkt derjenigen Energien auffaßt, die von der Gruppe ausstrahlen - übrigens ein interessantes Analogon zu der Aufassung der modernsten Physik vom Atom! Wir kommen danach - immer abgesehen von jenem selbst für die führenden Persönlichkeiten sehr engen Kreise der Wahl- und Bewegungsfreiheit - zu dem folgenden strengen, fast mechanischen, rein kausalen Zusammenhange: die causa causans ist das Milieu, die gesamte natürliche und soziale Verumständung und ihre Veränderungen; dadurch ist streng determiniert die Gruppenströmung nach Richtung und Tempo, dadurch streng determiniert die Gruppenideologie nach Wertung und Uberzeugung, und dadurch schließlich ebenso streng determiniert ist Wertung, Uberzeugung und Handlung des Individuums. Das Ganze ist eine Ableitung aus, oder vielleicht eine Bestätigung der Schopenhauerschen Lehre vom Primat des Willens über den Intellekt. Wenn der Lakai Verstand schon dort zu gehorchen hat, wo der individuelle „Wille" befiehlt, um wie viel mehr muß er gehorchen, d. h. rechtfertigen, wenn das immanente Gruppeninteresse, der „Gruppenwille" spricht, der ja in der Regel viel stärker ist, als der Individualwille, wie alle Natur- und Menschengeschichte lehrt. Meine Herren! Wir stehen am Schlüsse unserer kritischen Untersuchung. Sie hat ergeben, was erwartet werden durfte: die rassentheoretische Geschichtsphilosophie ist keine Wissenschaft, son-

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dem Pseudowissenschaft, ist die typische legitimistische Gruppenideologie der herrschenden Oberklasse; sie hat keine sicheren Fundamente; und namentlich das „Gefühl der Rasse im eigenen Busen" enthüllt sich uns als Wirkung jenes sozialpsychologischen Hauptgesetzes, demzufolge der Einzelne als Gruppenbestandteil immer so wertet, denkt und handelt, wie es im inhärenten Gruppeninteresse erforderlich ist. Es handelt sich um durchaus nichts Besseres als um eine wissenschaftliche Mimicry; es ist der uralte Nachbarhaß und die ebenso alte Klassenverachtung, die sich hier unter gestohlenem Mantel in die Halle der Wissenschaft einschmuggeln will. Immer hat sich die Herrschaft mit den gleichen Argumenten vor dem Richter in der eigenen Brust gerechtfertigt. Kaum war der fränkische Hofadel, ein Gemisch von Kelten, Romanen, Germanen und „Mestizen" des „Rassenchaos", zu ausschlaggebender Macht in den Grafschaften und Herzogtümern gelangt, so empfand er sich schon als „besseren Blutes" als die vollfreien urgermanischen Bauerschaften seiner Bezirke; und er preßte sie als „unbotmäßige, freche, unbändige" Menschen, die nur mit Gewalt gehalten werden können, bona fide in die Hörigkeit herab. Derselbe Umwertungsvorgang verwandelte einige Jahrhunderte später den ehemals hörigen, ministerialischen Schwertadel in „Männer besseren Blutes", die ersten städtischen Patrizier desgleichen; und heute haben wir genau denselben Vorgang vor Augen, der den jung emporkommenden Geld- und Industrieadel in typischer Weise psychisch feudalisiert und ihn die Arbeitermassen geradezu als Menschen von schlechterer Rasse, als Kulturdünger betrachten gelehrt hat. Es gibt keine rassenstolzeren Arier als getaufte Juden und ihre Abkömmlinge, namentlich wenn sie dem Adel angehören; und der schneidige Fabrikant in Björnsons „Uber unsere Kraft" spricht das bekanntlich der Deputation gegenüber mit aller Brutalität aus. Er empfindet sich so sehr als den Angehörigen einer „individualisierten, moralisch und intellektuell gekennzeichneten Rasse", daß ihm ebenso wie Chamberlain das Vorhandensein „anatomischer Charaktere, die zur Klassifikation verwertbar sind"1, eine Frage ganz untergeordneten Ranges ist. Ja, die Identität dieses Klassendünkels mit dem älteren Rassendünkel geht so weit, daß der genannte Fabrikant - ganz Gobineau das Aufflackern gewaltsamer Rebellion gar nicht anders deuten kann als daß durch außereheliche Kreuzung das bessere „Blut" des neuen Adels in einzelne Arbeiter hineingelangt ist. Und dieser Mann ist nichts weniger, als eine bloße dichterische Konstruktion. Wir finden seine Auffassung in lebenden Zeitgenossen überall in gleicher Kraft. Eine ganze Anzahl von Nationalökonomen verfechten sie mit mehr oder minder Schärfe. Die Lehre, die den Profit des Unternehmers als „Genielohn" rechtfertigen möchte, ist sehr weit verbreitet; ich nenne von deutschen Autoren nur Ehrenberg, Julius Wolf, Reinhold. Der mehrfach genannte Amonn hat diese Lehre sehr naiv auf Rassenunterschiede aufgebaut, und kein geringerer als Gustav Schmoller bildet sozusagen das Bindeglied zwischen ihm und jenen Volkswirten. Karl Bücher polemisiert in seiner „Entstehung der Volkswirtschaft" gegen ihn und Riehl und widerlegt seine Meinung, daß „alle höhere Gesellschaftsordnung auf fortgesetzter, durch die Arbeitsteilung hervorgerufener Differenzierung beruhe", wirksam mit der Entartung des deutschen Handwerks, die sich vollzog, trotzdem „die Meisterstellen sich mit verschwindenden Ausnahmen vom XVI. bis zum X V i n . Jahrhundert vom Vater auf den Sohn vererbten". Er fährt fort: „Jene Vererbungstheorie trägt darum, ihrem Urheber gewiß ganz unbewußt, die unerfreulichen Gesichtszüge einer sozialen Philosophie der beati possidentes (...). Ich könnte glauben, so schließt er, daß man den auffallenden Schlußsatz Schmollers unbedenklich umkehren und sagen kann: die Verschiedenheit des Besitzes und Einkommens ist nicht die Folge der Arbeitsteilung, sondern ihre Ursache."

1

Björnson, Ü b e r unsere Kraft, München 1900, S. 495.

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Wenn selbst Männer der Wissenschaft und sogar so hohen Ranges solchen klassenmäßigen Suggestionen ihren Tribut zahlen müssen, dann ist es kein Wunder, wenn die große Masse der beati possidentes darin geradezu schwelgt. Es ist so süß, im Genuß aller guten Dinge das gute Gewissen in dem Bewußtsein haben zu dürfen, daß man das alles nicht dem Zufall verdankt, sondern lediglich der eigenen guten Art; und nach all der Elendskunst und der Periode des großen sozialen Mitleids auf das Gehudel unter sich herabblicken zu dürfen mit dem Bewußtsein, daß den Fronenden nur ihr Recht geschieht, daß sie erhalten, was ihrer schlechten Art und Rasse zukommt. Darin, daß sie die sozialen Gegensätze verschärft und verbittert, daß sie den Besitzenden das Rückgrat steift selbst gegen gerechte Forderungen der Masse, daß sie allen Widersinn unserer Ordnung rechtfertigt - darin liegt die ungeheure Gefahr dieser Theorie und das allein ist der Grund, warum sich ernste Wissenschaft mit ihr kritisch beschäftigen muß. An sich, als angeblich wissenschaftliche Leistung, ist sie ihres Schwertes unwürdig. Man tut der Klassenlehre kein Unrecht, wenn man sie grob und deutsch als eine Reihe von Varianten über das eine Thema bezeichnet: „Jedem Narren gefällt seine Kappe." Man kann aus jedem dieser Bücher ohne weiteres die sichersten Schlüsse auf den Autor ziehen. So habe ich einmal öffentlich die Wette angeboten, daß Herr Chamberlain dunkelhaarig ist oder in seiner Jugend war, und man sagte mir, daß ich sie gewonnen hätte. Ich hatte ihn nie gesehen, aber er legt einen überaus verdächtigen Nachdruck auf die Feststellung, daß es auch dunkelhaarige echte Germanenfamilien gibt. Darf ich zum allerletzten Schlüsse noch ein anderes heiteres Beispiel dafür geben, wie jeder einzelne dieser Autoren immer gerade sein besonderes Steckenpferd reitet, d. h. wie jeder mit der gleichen sogenannten Methode immer gerade das Gegenteil dessen herausbringt, was der andere herausbringen wollte und wirklich zu seiner unsagbaren Freude auch gefunden hat. Gobineau war Graf und starrer Aristokrat, Woltmann war Bürgerlicher und stand dem Sozialismus recht nahe. Beiden bedeutete die französische Revolution den Kampf zwischen den edlen Germanen und den unedlen Keltoromanen. Aber selbstverständlich erklärt Gobineau die Aristokraten, und Woltmann die Führer der siegreichen Revolution für die reinblütigen Germanen. Chamberlain ist überzeugter Christ - und zwar protestantischer Christ - , wie er überzeugter Arier - und zwar Germane ist. Für ihn kann daher Jesus unmöglich ein Sproß des religionslosen „allein abseits stehenden" Judenvolkes sein, sondern er ist rassereiner Europäer aus der „vorwiegend blonden" amoritischen Nation. Wäre er Antisemit Dühringscher Observanz, erblickte er also gerade in dem Christentum das Nessushemd der arischen Kultur, so hätte er nicht die mindeste Schwierigkeit, Christus als rassereinen Semiten anzusprechen, wie Dühring in der Tat getan hat. Es sei nebenbei bemerkt, daß nach einer Auskunft von sachverständigster ägyptologischer Seite gerade die Amoriter auf ägyptischen Bildwerken in krummen Nasen und spitzen Ziegenbärten einen ausgesprochen hebräischen Typus aufweisen sollen, während die Cheta (Hethiter) nichts davon beobachten lassen. Tr[ei]bsand! Chamberlain ist, wie gesagt, Protestant aus Herzensüberzeugung. Als solcher ist ihm die Katholisierung, die Veräußerlichung und der Imperialismus des entfalteten Christentums ein Greuel. Sie sind ihm eine Folge des Völkerchaos, aller Kampf dagegen von Arius bis auf Dante und Luther aber Ausfluß des Germanentums. Es ist aber ein katholischer Germanomane moderner Richtung denkbar (Gobineau war es und deutete daher manche Erscheinung gerade entgegengesetzt), der von demselben grundsätzlichen Standpunkt der Rassentheorie mit genau derselben scheinbaren Stringenz das gerade Gegenteil beweist, daß nämlich die Reformation das Werk ungermanischen Geistes ist, während der Katholizismus geradezu die fine fleur des Germanismus darstellt. Wenn es ihm nicht gelingen sollte, nachzuweisen, daß der heilige Augustinus, den Chamberlain nicht anders als einen „afrikanischen Mestizen" nennt, weil er ihn vor allem für die Umwandlung verantwortlich macht, daß also Augustin ein rassenreiner „homo europaeus" war, so wird er mit Leichtigkeit ein Dutzend anderer Patres und Bischöfe finden, die es sicher gewesen sind. Er wird Dante aufgrund

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seiner krummen Nase und vielleicht der großartigen Systematik seines Gedichtes für einen unzweifelhaften Abkömmling der unbotmäßigen Semitenrasse erklären, Luther vielleicht für einen Vollslawen, und in Konrad von Marburg den eigentlich germanischen Glaubenskämpfer präkonisieren. Er wird vielleicht wahrscheinlich machen, daß Ignatius von Loyola, Chamberlains rassenreiner Antigermane, ein im Baskenland angesessener Hidalgo rein gothischer Abstammung, und Pedro de Arbuez ein Amalungen-Enkel war. Wenn er dieselbe „Methode" anwendet wie Chamberlain selbst, so gibt es positiv nichts, was nicht bewiesen werden kann. Ich bin am Schlüsse und möchte mit einer Verwahrung schließen. Ich bin durchaus nicht der Meinung, daß es keine Unterschiede der Rassenbegabung gibt, und daß sie keinerlei historische Wirkung ausüben. Im Gegenteil: Rasse wird und wirkt und wirkt fort, vielleicht noch lange fort, nachdem die Bedingungen der Umwelt längst verschwunden sind, die sie erschufen. Das sehen wir deutlich. Aber ich wende mich mit aller Schärfe gegen die plumpe Art, mit dem einen Schlagwort alle Rätsel der Geschichte lösen zu wollen, statt dem wunderbar reizvollen Gegenspiel der Kräfte ehrfurchtsvoll nachzuspüren, die sie bewegen. Zu diesen Kräften gehört auch die Rassenanlage. Wie es möglich ist, sie in ihrer Bedeutung zu erfassen, ihre Mitwirkung zu messen, das ist ein Kapitel für sich.

Demokratie [1914]1

Die Aufgabe Was ist Demokratie? Nun, zunächst einmal ein Wort, das ursprünglich der Verkehrssprache angehörte und dann ein Begriff der Soziologie geworden ist. Und das bedeutet, daß bei seiner Erklärung, Bestimmung und Behandlung dem Schriftsteller, der darüber schreiben will, alle drei Schwierigkeiten in den Weg treten, die überhaupt existieren: die sachlichen, die sprachlichen und die persönlichen. Die sachlichen Schwierigkeiten sind grundsätzlich immer die gleichen, welches auch das Thema der wissenschaftlichen Betrachtung sein mag. Sie können größer oder geringer sein, je nachdem der Gegenstand von großem oder kleinem Umfang, von großer oder geringer Komplikation, leicht oder schwer zugänglich ist - aber immer ist die Aufgabe, alle Daten zusammenzutragen, zu ordnen, zu verbinden, zu erklären. Eine Reihe von Gegenständen bietet weiter keine als solche sachlichen Schwierigkeiten dar, vor allem die naturwissenschaftlichen. Wenn jemand über die Kohlenminen von Spitzbergen oder über die Retina der Froschlarven oder über das unterschweflig-saure Natron Untersuchungen anstellen will, so weiß er selbst, und wissen seine Leser ganz genau, was gemeint ist. Aber es gibt viele Themata, wo die Leser nicht ohne weiteres wissen, was der Autor behandelt, auch wenn er es klar sagt, ja, wo der Autor selbst nicht genau weiß, was er behandelt, obgleich er sein Thema klar bezeichnet. Das ist immer der Fall, wo es sich um Worte handelt, die entweder niemals einen klaren, eindeutigen Sinn gehabt haben - solche Worte gibt es unzählige -, oder die zwar einmal einen eindeutigen Sinn gehabt haben, aber im Laufe der Sprachentwicklung sich kapillarisch über einen immer weiteren Bezirk ausgebreitet haben, etwa wie ein Tintentropfen auf einem Löschblatt und nun keine scharfen Grenzen mehr besitzen. Sollen solche Worte behandelt werden, so muß die wissenschaftliche Kunstsprache die allgemeine Verkehrssprache korrigieren, muß ganz genau erklären, in welchem Sinne sie das vieldeutige oder unbestimmte Wort gebrauchen will; und dann besteht immer die Gefahr, daß nicht nur die Leser die Definition nicht festzuhalten imstande sind, sondern auch, daß der Autor selbst wider Willen den sprachlichen Assoziationen zum Opfer fällt. Das sind die sprachlichen Schwierigkeiten wissenschaftlicher Arbeit. Manche glauben, aus diesen Schwierigkeiten herauskommen zu können, wenn sie auf die etymologische Urbedeutung des Wortes zurückgreifen. Das hilft aber nur selten und bringt im Gegenteil oft nur neue Verwirrung. Es kann mir ζ. B. gar nicht helfen, zu wissen, daß „Person" ursprünglich die schallverstärkende Vorrichtung in der Maske der antiken Schauspieler bedeutete; es kann mich nur verwirren, daß „Nation" von nasci, geboren werden, herstammt, denn, was wir heute unter Nation verstehen, hat mit der Blutsverwandtschaft nichts mehr zu tun. Solche sprachlichen Schwie-

1

[Dieser Aufsatz erschien erstmals in: Der Staatsbürger, 5. Jg., Heft 1, 2 (1914). Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 159-187; A.d.R.]

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rigkeiten treten namentlich dem Philosophen in den Weg, weil hier die Termini der Kunstsprache im Laufe der Jahrtausende immer wieder neuen Inhalt erhalten haben, ohne ihren alten ganz zu verlieren. Darauf zielt jene bekannte boshafte Definition: „Philosophie ist der konsequente Mißbrauch einer eigens zu diesem Zwecke geschaffenen Terminologie." Noch viel schlimmer steht es nun aber in soziologischen Dingen. Hier treten regelmäßig auch noch die persönlichen Schwierigkeiten hinzu. Denn hier sind so gut wie alle wichtigen Worte „wunschbetont", und zwar verschieden wunschbetont, je nach der Klassenlage dessen, der sie braucht, bald sympathisch, bald antipathisch. Ist doch das oberste Gesetz der Sozialpsychologie, daß das Individuum unwiderstehlich gezwungen ist, so zu denken, zu werten, zu urteilen, zu handeln, wie es das „inhärente Interesse" seiner besonderen sozialen Gruppe verlangt. Dieses Gesetz, auf dem im internationalen Leben aller Chauvinismus und Rassenhaß, im nationalen Leben aller Klassenhaß und Parteienhaß beruht, schließt eine Verständigung mit den Gegnern auf dem Wege logischer Argumentation so gut wie völlig aus - aber es schließt auch sogar fast immer die Verständigung schon über die Begriffe aus. Ein Wort mag noch so exakt definiert worden sein, es bleibt für den Autor und für den Leser dennoch immer das wunschbetonte, geliebte oder verhaßte Wort und das um so mehr, wenn es sich um ein Schlagwort, um einen Bannerspruch, um ein Schibboleth des gesellschaftlichen Klassenkampfes handelt. Solch ein Bannerspruch ist das Wort „Demokratie", und ist es seit fast zweieinhalb Jahrtausenden, seit der Zeit Solons von Athen. Etymologisch bedeutet es „Volksherrschaft" - aber diese Kenntnis nützt uns so wenig wie unsere Kenntnis von dem Ursprung des Wortes „Persönlichkeit"; denn noch heute dreht sich aller Streit darum und hat sich wohl schon zu Solons Zeit darum gedreht, was unter „Volk" und was unter „Herrschaft" zu verstehen sei. Heute braucht man es bald, um eine Verfassung der Geschichte oder der Gegenwart zu bezeichnen; man nennt wohl auch einen Staat, der diese oder eine ähnliche Verfassung hatte oder hat, eine Demokratie. Für andere ist es eine „Weltanschauung", eine politische Theorie, ein politisches Ideal. Und so fort. In so trübem Wasser läßt sich gut fischen. Und so wird denn das so glücklich vieldeutige Wort von den Gassenhelden des politischen Kampfes durch alle Gossen geschleppt. Wenn wir jetzt unsererseits versuchen wollen, festzustellen, welche Urbedeutung den verschiedenen heutigen Anwendungen des Wortes „Demokratie" zugrunde liegt, so wollen wir uns des alten Kunstgriffes bedienen, der darin besteht, nach dem Gegensatz zu fragen, der über oder unter der Bewußtseinsschwelle regelmäßig mitgedacht oder wenigstens mitgefühlt wird, wenn man solche komplexen Begriffe gebraucht. Hier handelt es sich wohl immer um Begriffspaare, die zusammen einen ganzen Bezirk von Tatsachen umspannen; und man findet die Grenzen des einen, wenn man die seines Korrelativbegriffes feststellt. Nun, der Gegenbegriff gegen Demokratie ist Oligokratie, Herrschaft weniger über eine Gesamtheit. Unter ihren Begriff fällt die Herrschaft jeder Minderheit (es kann auch ein einzelner sein, dann ist es Monokratie) und zwar ist die rechtliche Verfassung überall von wenig Bedeutung. Ob die Monokratie patriarchalisches Fürstentum, absoluter Cäsarismus, Militärdespotie oder konstitutionell beschränkte Monarchie; ob die Oligokratie im engeren Sinne, als Herrschaft einer mehrköpfigen Minderheit, eine Blutsaristokratie oder eine Plutokratie oder eine Bürokratie ist, ist ebenso gleichgültig für den Begriff wie die Tatsache, ob sie drückend oder milde, im Einklang oder im Gegensatz zu den Gesetzen und der Verfassung ausgeübt wird. In dieser weitesten Bedeutung des Wortes hat die Oligokratie in ihren verschiedenen Formen und mit ihrer verschiedenen faktischen und rechtlichen Begründung alle bisherige Menschheit und Menschheitsgeschichte beherrscht. Sie ist keine „Weltanschauung", keine „Theorie", kein „Ideal", sondern eine ungeheure Tatsache. Und die „Demokratie" ist ursprünglich ebensowenig eine Weltanschauung, eine Theorie, ein Ideal, sondern sie ist nichts anderes, als die auf jene ungeheure Tatsache notwendig eintretende

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Reaktion, die sich je nach den Umständen verschieden äußert: kritisch als Weltanschauung, logisch als Theorie, ästimativ, vor dem Werturteil, als Ziel, praktisch als Politik der Reform oder der Revolution. Sobald aber die „demokratische" Reaktion anfängt, sich in dieser Weise zu äußern, reflektiert sich der Prozeß wieder auf die Oligokratie zurück. War sie bis dahin eine einfache Tatsache, naiv auferlegt, naiv angenommen, so wird auch sie jetzt Gegenstand des Bewußtseins und wird in dessen verschiedenen Formen ausgestattet: reaktiv tritt die aristokratische Kritik der demokratischen als aristokratische Weltanschauung gegenüber, die Logik rechtfertigt sie als Theorie, der Wille erhebt sie zum Ideal, die Handlung orientiert sich als aristokratische Politik an der Taktik und Strategie der Gegner, die sie zu bekämpfen hat. Daß dem so ist, beweist die Entstehung des Wortes selbst. In Athen herrscht, wie überall, ursprünglich die Oligokratie der Grundherren und fährt, wie überall, ein hartes Regiment. Man darf nie vergessen, daß die „drakonischen Gesetze" nur eine Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechtes waren. Die Reaktion setzt ein. Was verlangt sie? An Stelle der Herrschaft der wenigen die der Gesamtheit des Volkes: Demokratie. Was aber ist der Demos, das Volk? Es ist wichtig, sich das klarzumachen. Er umfaßt nicht etwa die ganze Bevölkerung Anikas, nicht einmal die gesamte erwachsene Bevölkerung, ja, nicht einmal die gesamten männlichen Erwachsenen, sondern nur die erwachsenen männlichen Freien. Die zahlreiche Sklavenschaft gehört nicht zum Demos, kommt politisch überhaupt nicht in Betracht. Es bedurfte vieler Jahrhunderte, des Untergangs zahlloser Gemeinwesen, der Ausbildung des großen helleno-römischen Kulturkreises, ehe der der Antike ganz fremde Gedanke aufkommen konnte, daß der Anteil an der Staatsregierung nicht Bürgerrecht, sondern schlechthin Menschenrecht sei. Die Tatsache aber, daß in Hellas überall, in Rom und den Pflanzstädten, der Begriff der Demokratie so eng begrenzt war, zeigt klarer als irgend etwas anderes, daß sie keine „Weltanschauung", kein „Ideal" war, sondern lediglich eine Reaktion. Die Oligokratie bestand und lastete auf den Beherrschten, wie jede Herrschaft ihrem Begriff nach mehr oder weniger lasten muß - und als Reaktion dagegen entsteht in gewissen Schichten der Beherrschten der einfache Wunsch, mitzuherrschen, aus der politisch minderberechtigten und ökonomisch benachteiligten Schicht aufzusteigen in die politisch vollberechtigte und ökonomisch privilegierte Schicht. Noch deutlicher wird das, wenn man sich alle die uns genauer bekannten Verfassungskämpfe der Weltgeschichte näher anschaut. Uberall, in Athen und Korinth, in Rom und Tarent, in Florenz und Venedig, in Frankfurt und Lübeck, in England und Frankreich, Deutschland und Rußland, steht an der Spitze der Kämpfe um die „Demokratie" gegen die Oligokratie der reiche Bourgeois, der Vertreter des moneyed interest - und überall zeigt der Verlauf, daß es ihm nicht auf „Volksherrschaft", sondern nur auf die eigene Mitherrschaft angekommen ist. Unmittelbar nach dem Siege der verbündeten Klassen schließen diese Financiers und Bankokraten, diese Großindustriellen und Großhändler ihren Sonderfrieden mit den alten Nutznießern des Staates, den Vertretern des landed interest, formieren mit ihnen die neue Oligokratie der „Nobilität" oder „nuova gente" und weigern ihren Mitstreitern aus der armen Unterschicht die Mitherrschaft. Und da sie oft fortfahren, sich dabei der „demokratischen" Redewendungen zu bedienen, bekommt das Wort eine recht sonderbare Prägung. Es wird jetzt von oben und von unten her gebraucht, um genau entgegengesetzte Theorien und Handlungen zu rechtfertigen und genau entgegengesetzten Zielen zu dienen. Die antiken Stadtstaaten sind über einen gewissen Punkt der Entwicklung nicht hinausgelangt. Sie mußten unerbittlich daran zugrunde gehen, und zwar im ernstesten Sinne des Wortes: physisch, an Entvölkerung, an Völkerschwindsucht zugrunde gehen, weil sie eben noch „Kratien" waren, weil auf der Grundlage unfreier Arbeit ein gesundes Gesellschaftsleben unmöglich ist. Die Sklaverei wirkt in der entfalteten Wirtschaft des kapitalistischen Marktverkehrs auf die Gesellschaft wie eine Infektion mit massenhaften hochvirulenten Infektionsträgern.

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Aber die modernen Völker hatten diesen Krankheitsstoff bereits früh ausgeschieden und konnten über jene Stufe hinaus gedeihen, die die antiken Völker noch erklimmen konnten. Ihre Wirtschaftsordnung baut auf freier Arbeit, und darum ist ihr Los nicht Völkerschwund, sondern Völkerwachstum, nicht Tod, sondern Leben. Und darum erstieg auch ihr Verfassungskampf höhere Stufen. Schicht nach Schicht erzwang in den vorgeschrittenen Staaten der westlichen Zivilisation die Gleichberechtigung zunächst in der Verfassung und vor dem Recht. Am weitesten voran stehen die englischen Kolonien, namentlich Australien, und hier wieder Neuseeland; dann folgen die United States, England, Frankreich und in einem weiteren Abstände die mitteleuropäischen Staaten auf immer tieferen Stufen des überall gleich ablaufenden Streites, während in Osteuropa und Asien eben erst vor unseren Augen seine ersten Schlachten geschlagen werden. Und dabei zeigt sich nun allerdings deutlicher und deutlicher, daß die „Demokratie" sich auch als Begriff in einer kräftigen Entwicklung zu einem bestimmten Ziele hin befindet. War sie anfangs nur instinktive, dann bewußte Reaktion, so will sie jetzt allerdings Weltanschauung, Theorie und Ideal werden. Der früher enge Begriff des „Demos" erweitert sich immer mehr. Umfaßte er einst nur bestimmte Teile der Gesamtbevölkerung, so zeigt er jetzt die Tendenz, sie ganz zu umfassen. Seit der vierte Stand der Vermögenslosen, der „Nichts-als-Arbeiter", sich der Vormundschaft des dritten Standes, der ihn verraten hatte, entzogen und sein eigenes Banner als politische Partei des Sozialismus entfaltet hatte, dieser vierte Stand, der grundsätzlich den letzten Stand, die Basis der Pyramide darstellt - seitdem bedeutet das Wort „Demokratie" in ihrem Munde in der Tat die Herrschaft der Gesamtheit aller Bürger. Wenigstens grundsätzlich und in ihrem eigenen Bewußtsein. Nur ist ihre Anschauimg oft noch beengt: sie sehen nur sich selbst und ihre Bedürfnisse, sind blind dagegen, daß neben ihnen noch andere Schichten existieren, die die gleichen Ansprüche geltend machen dürfen. Die deutsche Sozialdemokratie ζ. B. ist stark geneigt, sich zur einseitigen Vertretung der Industriearbeiter zu entwikkeln, während doch der Landarbeiter auch existiert, leidet und aufwärts will. Und es gibt Sozialisten genug, die der politisch-rechtlichen Emanzipation der einen Hälfte, vielleicht des größeren Teiles der Menschheit, noch Widerstand leisten, der Frauen. Immerhin: der Gedanke marschiert, gewinnt reißend an Boden und ist augenscheinlich dabei, sein Gebiet völlig zu erfüllen; die „Mitherrschaft" aller Erwachsenen beider Geschlechter wird zur Weltanschauung, zum Inhalt der Theorie und als Ideal zum Ziel der praktischen Politik. Dieser unwiderstehliche Zug der Zeit ist des Oligokraten Scham und Schmerz, des demokratisch Gesinnten Stolz und Freude; aber beide scheinen selten zu bemerken, daß der Begriff der Demokratie bei diesem Ausweitungsprozeß seinen alten Inhalt allmählich verliert und sich mit neuem Inhalt füllt; um mit Hegel und Marx zu sprechen: „Die Quantität schlägt in die Qualität um". Je weiter sich der eine Teil der Begriffsverbindung, der „Demos", ausdehnt, um so mehr schrumpft der zweite Teil, die „Kratie", ein. Und wenn einmal die erste Komponente ihren vollen Umfang erreicht haben wird, dann wird die zweite bis auf das leergelaufene, allen Inhaltes beraubte Wort verschwunden sein, vergleichbar jenen unglücklichen Föten, die durch das Wachstum ihrer stärkeren Zwillinge im Mutterleibe an die Wand gedrückt und immer mehr komprimiert werden, bis sie schließlich, wenn jene, reif geworden, entbunden werden, als „foeti papyracei", als „Papierföten", als jämmerliche Membranen, mit ihnen auf diesem Planeten erscheinen. Solch ein foetus papyraceus wird am Tage, wo der Demos in dem weitesten Begriff des Wortes zum Lichte geboren sein wird, die „Kratie" sein, ein papierenes Wort, ein ausgeronnener Begriff. Denn, wenn alle Erwachsenen beider Geschlechter zur vollen „Mitherrschaft" berufen sind: über wen oder was sollen sie „herrschen"? Uber sich selbst? Über die Unerwachsenen? Über die Natur? Wer eine dieser Antworten geben wollte, würde damit nur beweisen, daß er nicht weiß, was historisch „Herrschaft", „Kratie" bedeutet. Und dann muß man es ihm sagen. Trotz aller Philoso-

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phen, die mit untauglichen Mitteln die Herrschaft zu idealisieren versuchen: Herrschaft war nie etwas anderes als die rechtliche Form einer wirtschaftlichen Ausbeutung. Da man nun die „Herrschaft über sich selbst" nicht dazu gebrauchen kann, sich selber auszubeuten; da die Ausbeutung der Kinder durch ihre natürlichen Vormünder wohl hier und da traurigerweise vorkommen mag, namentlich durch solche Eltern, die selbst ihrerseits hart „beherrscht" und ausgebeutet werden; da aber diese Ausbeutung niemals kraft Rechtens, sondern zu Unrecht erfolgt - denn alle Gesetze und Sitten der Welt verleihen den Eltern und Vormündern ihr Verfügungsrecht nur unter der Bedingung, daß sie es im Interesse und zum Vorteil des Mündels brauchen -, und da schließlich die Natur nicht „ausgebeutet" werden kann, weil das nur gegenüber moralischen Wesen möglich ist, so ist damit bewiesen, daß bei voller Verwirklichung der Demokratie die Demokratie aufhört, Kratie zu sein, und - Akratie wird. Und das ist nun in der Tat ein Ideal der Menschheit, und zwar das höchste ihrer Ideale, geträumt und begründet von ihren erlauchtesten Denkern. Von Piatons „Politeia" an bis auf die „Utopia" des Morus und die Geschichte der Sevarambier, bis auf Quesnays „Ordre naturel", Lessings „Weltstaat" und Kants „Vereinigung frei wollender Menschen", bis auf Saint-Simons „Industrialismus" und Marx' „Zukunftsstaat" haben alle Utopien die Akratie als Ideal über der Menschheit aufgepflanzt. „Halt!" sagen die Kenner der Literaturgeschichte. Auf Lessings und Kants Vorstellungen trifft das zu, aber nicht auf die anderen Utopisten. Sie alle statuieren die Herrschaft als notwendig. Piaton, Morus, Campanella die Herrschaft der Philosophen oder Priester, Saint-Simon die der großen Unternehmer, Quesnay, der Träumer und Theoretiker des aufgeklärten Despotismus, die Herrschaft des unbeschränkten Monarchen, der gleichzeitig Arzt und Erzieher seines Volkes ist, und gar Marx die einer ungefügen Bürokratie, die alles wirtschaftliche Leben, alle Produktion und Verteilung der Güter reguliert, die Bürger an die Arbeit stellt, und mit Gütern versorgt. Richtig, und doch waren sie alle Gläubige der „Akratie". Ich habe absichtlich dieses wenig gebräuchliche Wort angewendet, weil ich ein gebräuchlicheres und bekannteres für einen anderen Begriff brauche, der häufig mit dem ersten verwirrt und verwechselt wird. Akratie ist nicht „Anarchie". Akratie ist das Ideal einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlösten Gesellschaft, Anarchie das Ideal einer von jeder Autorität, jeder zwingenden, gesetzlich berechtigten Gewalt freien Gesellschaft. Das sind zunächst einmal begrifflich zwei recht verschiedene Dinge. Die Anarchisten werden erwidern: „Was bekümmern uns begriffliche Haarspaltereien? Praktisch - und nur darauf kommt es an - ist Akratie ohne Anarchie undenkbar. Wo immer Autorität bestand, bestand Ausbeutung. Und wo immer Autorität bestehen wird, wird Ausbeutung bestehen. Und darum gibt es nur ein Mittel zur Herbeiführung der Akratie, nämlich die Anarchie." Die Meinung ist sehr weit verbreitet, unter Freunden und Gegnern. Ludwig Gumplowicz, der Mitschöpfer der deutschen Soziologie, der Todfeind des Anarchismus, hat gerade aus dieser Grundvoraussetzung heraus, die er mit dem Anarchismus teilte, seinen tieftraurigen soziologischen Pessimismus abgeleitet, in etwa folgendem Schluß: „Ohne Autorität ist kein gesellschaftliches Zusammenleben möglich; das Chaos würde hereinbrechen. Autorität aber ohne Ausbeutung ist undenkbar. Folglich ist gesellschaftliches Leben ohne Ausbeutung undenkbar." Das Problem, das hier vor uns aufsteht, ist hochernst. Es ist das ernsteste Problem der Menschheit. Haben wir wirklich nur die Wahl zwischen der Verewigung der Ausbeutung auf der einen Seite und der Vernichtung aller Kultur und allen Reichtums im Chaos des Kampfes aller gegen alle auf der anderen Seite? Muß das Schifflein der Menschheit, um die Skylla zu vermeiden, wirklich an der Charybdis scheitern? Die Anarchisten geben vor, zu glauben, und einige Phantasten glauben es vielleicht wirklich, daß die Menschheit sich auch ohne Autorität werde völlig verwalten können. Das ist pures Phantasma. Wenn wir die Gesellschaft der Akratie durchdenken, so finden wir freilich, daß sie, namentlich als

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„Weltstaat" lessingisch gedacht, mit sehr wenig „Autorität" auskommen wird. Das Heer, die Polizei, die Gefängnisbeamten, das Richterpersonal werden zum Teil ganz verschwinden, zum Teil auf einen Minimalbestand herabsinken, den wenige heute für möglich halten. Aber niemals wird ein Gemeinwesen, das größer ist als ein Dorf, auskommen ohne ein Recht und ohne die Beamten, die es sprechen und im Notfall die Macht haben, es zu erzwingen; ohne ein Strafrecht namentlich und ein Expropriationsrecht. Ohne ein Strafrecht fallen wir mit fataler Notwendigkeit in die wilden Zeiten der Blutfehden, der Vendetta und des Richters Lynch zurück, und das sind ehrwürdige Institutionen, die von einer gewissen Höhe der Wirtschafts- und Kulturstufe an nicht mehr geduldet werden können; und ohne ein Expropriationsrecht im Interesse der Gesamtheit ist der Narr, der Querkopf und der Böswillige ihr Herr und ihr Ausbeuter. Und ferner kann keine größere Gemeinschaft auskommen ohne ein gewisses Gemeineigentum, mindestens an Wegen, an Bildungsanstalten, an Schulen, vielleicht Kirchen - wer will im anarchistischen Reich Kirchen verbieten? - ; solche Dinge müssen verwaltet und geschätzt werden, und dazu gehören Beamte, die man besolden muß, und dazu Steuern. Die kann man aus Gründen der Gerechtigkeit dort, wo es sich um allgemeine Interessen handelt, auch nur als Zwangsumlage von allen Berechtigten einziehen. Und selbst wenn wir uns allen Staat aufgelöst denken in lauter freie, auf Freiwilligkeit beruhende Genossenschaften: einige von ihnen werden doch örtliche Genossenschaften sein müssen, und das sind dann eben Gemeinden mit Gemeindebedürfnissen, die autorisierte Beamte und öffentliche Mittel erfordern. Und sind trotz alledem Gemeinden, die sich zu gewissen größeren, sonst nicht erreichbaren Zwecken - man denke nur an Kanal-, an Deich-, an Wasserbauten usw. - einigen müssen, um die gemeinsamen Zwecke zu verwirklichen. Die zu Ende gedachte Anarchie ist die Zersplitterung der Menschheit in lauter kleine Horden, die sich gegenseitig bekämpfen, ist die Vernichtung aller gesellschaftlichen Kooperation, d. h. fast aller gütererzeugenden Kraft, und daher die Vernichtung des größten Teiles der heute lebenden Menschheit, da in so schwacher Arbeitsteilung der Quadratkilometer kaum mehr als einen Kopf ernähren kann. Dieser Weg der Abschaffung aller Autorität und zwingenden Gewalt ist also keineswegs gangbar; er würde, anstatt zur Verminderung, zur unmeßbaren Vermehrung des menschlichen Elends und der menschlichen Unfreiheit führen: denn wer ist elender und unfreier als der Primitive, obgleich gerade er nach Ernst Großes treffendem Wort „ein praktischer Anarchist" ist? Ist denn nun die anarchistische Behauptung wahr, daß Autorität und Ausbeutung in aller Vergangenheit untrennbar verknüpft waren und in aller Zukunft untrennbar verknüpft sein werden? Was die Vergangenheit anlangt, so wollen wir den Satz im allgemeinen zugeben, müssen aber betonen, daß hier und da seltene Ausnahmen von der Regel aufzufinden sind, die bei genauerer Analyse die Regel zwar nicht aufheben, wohl aber auf das von ihr wirklich beherrschte Gebiet beschränken. Wir finden hier und da in völlig freien Gemeinschaften Beamte, die während ihrer Amtsdauer eine sehr weitgesteckte Gewalt genießen, ohne daß es ihnen oder ihren Untergebenen jemals in den Sinn käme, daß auch nur der Versuch eines Mißbrauchs dieser Amtsgewalt zu persönlicher Bereicherung oder Machterweiterung gemacht werden könnte. Ich denke hier an die gewählten Hetmans der freien Kosaken am Dnjester, die während des Kriegszustandes Herren über Leben und Tod ihrer Wähler waren, ferner an die Schultheißen und Kriegshauptleute freier Bauernschaften, wie ζ. B. der Dithmarschen, in einigen Perioden auch der Schweizer; und glaubt jemand, daß die Marius, Sulla und Cäsar, die in Rom zur Zeit der Samniterkriege lebten - und sie haben damals, wie zu allen Zeiten, gelebt - , auch nur auf den Gedanken hätten kommen können, die Staatsordnung in ihrem persönlichen Interesse umzuwälzen, ihr konsularisches oder tribunisches Amt zu mißbrauchen? Solche Ausnahmen beweisen an sich noch nicht, daß die Behauptung der Anarchisten und des soziologischen Pessimismus falsch ist. Denn sie sind sehr selten und beziehen sich außerdem noch auf verhältnismäßig kurze Zeiträume. Die Vermutung wäre immerhin gestattet, daß jene Kräfte, die

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von der Autorität zur Ausbeutung leiten, hier und da für kurze Zeit durch Gegenkräfte persönlicher oder sozialer Art paralysiert oder doch gehemmt werden können. Aber jene Ausnahmen zeigen doch klar genug, daß die behauptete Verbindung von Autorität und Ausbeutung doch nicht eine unmittelbare sein kann, sondern daß sie durch Mittelglieder hergestellt wird, die irgendwie mit der sozialen und ökonomischen Lage des Staatswesens zusammenhängen müssen. Und so entsteht das wissenschaftliche Problem, diese Mittelglieder aufzufinden und mit soziologischen Mitteln aus ihren Ursachen abzuleiten. Erst daraus kann sich ergeben, ob jener häufige, fast regelmäßige Zusammenhang eine „immanente Kategorie" des Gesellschaftslebens, also auch eine unvermeidliche Notwendigkeit aller Zukunft ist, oder eine „historische Kategorie", Folge vermeidlicher, nicht notwendiger Ursachen. Erst diese Untersuchung kann uns Klarheit bringen; solange sie nicht durchgeführt ist, ist die Behauptung des Anarchismus nichts Besseres als ein Analogieschluß aus der Vergangenheit auf die Zukunft. Und Analogieschlüsse beweisen nichts! Selbst einen Aristoteles hat die Geschichte ad absurdum geführt: auch er hielt per analogiam die Sklaverei für eine immanente Kategorie alles künftigen, weil alles vergangenen Gesellschaftslebens. Diese Untersuchung anzustellen, wird jetzt unsere Aufgabe sein, um herauszufinden, ob in der Tat die Demokratie im Sinne der Akratie ein ewig unerreichbares Ideal der Menschheit ist. Alle Soziologie hat auszugehen von den menschlichen Bedürfnissen. Denn die Gesellschaft ist nichts anderes als das kleinste Mittel zur möglichst vollkommenen Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Unter diesen Bedürfnissen nehmen diejenigen den höchsten Rang ein, die für den einzelnen die Bedürfnisse höchster Dignität, d. h. Dringlichkeit sind, diejenigen, die er zum Teil mit dem Tiere gemeinsam hat, die Bedürfnisse nach Sachgütern, zunächst der Nahrung und des Obdachs, später der Kleidung, der Werkzeuge, des Luxus. Nun hat der Mensch zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, um sich die Güter zu beschaffen, deren er bedarf. Das eine Mittel ist die eigene Arbeit an der Natur und auf höherer Stufe der als äquivalent betrachtete Austausch seiner Arbeitserzeugnisse gegen fremde. Weil es sich hier um die beiden Tätigkeiten handelt, die die Wirtschaftsgesellschaft begründen, habe ich dieses Mittel das „ökonomische Mittel" genannt.1 Das zweite Mittel, dessen sich der Mensch bedient, um sich die Güter zu beschaffen, ist die unentgoltene Aneignung durch Gewalt, und zwar durch körperliche Gewalt oder den Mißbrauch geistlicher Gewalt durch Patriarchen und Priesterschaften. Dieses Mittel habe ich als das „politische Mittel" bezeichnet. Warum „politisches Mittel"? Weil es im internationalen und im intranationalen Leben alle Politik beherrscht. Der Urtypus aller internationalen Beziehungen ist der Krieg, und der hatte oft genug zwar einen anderen Vorwand, aber wohl kaum jemals einen anderen Grund als die Bereicherung einer Nation auf Kosten der anderen, oder die Abwehr eines solchen Bestrebens. Wird doch selbst heute noch sogar der internationale Handel nach der Weise des Merkantilismus von vielen als ein Mittel betrachtet, um nicht-äquivalente Tausche zu vollziehen, d. h. den Händlern des eigenen Landes auf Kosten der fremden Händler einen Mehrwert an Gütern zuzuführen. Vor allem aber beherrscht das politische Mittel auch das wichtigere intranationale Leben durchaus. Es hat den Staat geschaffen. Der Staat ist nichts anderes als das politische Mittel in seiner Entfaltung. Der Gedanke ist nur der Form nach neu; dem Inhalt nach ist er alt genug. Er verdankt namentlich dem französischen Genius seine allmähliche Ausgestaltung. Die Genealogie geht von Rousseau über J. B. Say und Saint-Simon zu Proudhon. Man hat fanatisch um ihn und gegen ihn gekämpft; und das ist wohl verständlich, denn es ist vielleicht der revolutionärste Gedanke, den man aussprechen kann. Er ist der Hebel, um die festesten Zwingburgen und Bastillen zu erschüttern.

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Vgl. Oppenheimer, Der Staat, Frankfurt a. M., 1907. [Im vorliegenden Band, siehe S. 309-385; A.d.R.]

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Diese Auffassung des Staates widerstreitet der geltenden Staatsphilosophie auf das heftigste. Nach einigen Philosophen ist der Staat die Verwirklichung des göttlichen Gedankens auf Erden oder irgendwelcher anderen wertvollen künftigen Dinge. Darauf ist zu erwidern, daß wir nicht theologisch oder teleologisch fragen, wozu der Staat bestimmt ist, wozu er sich entwickeln soll, sondern soziologisch-kausal, was der Staat ist, aus welchen Ursachen, aus welchen menschlichen (nicht überirdischen) Zwecken er entstanden ist. - Andere Philosophen behaupten seit Epikur, der Staat sei die Organisation des Grenzschutzes nach außen und des Rechtsschutzes nach innen. Darauf ist zu erwidern erstens, daß das ganz richtig ist, aber den Staatsinhalt bei weitem nicht erschöpft und zweitens, daß es sehr darauf ankommt, zu untersuchen, welcher Art das Recht ist, das der Staat schützt. Die einzige Erklärung vom Wesen und von der Entstehung des Staates, die der wissenschaftlichen Prüfung standhält, ist die folgende, die im wesentlichen von Ludwig Gumplowicz-Graz stammt: der Staat ist eine Rechtsinstitution, einer beherrschten Schicht einseitig, durch körperliche oder geistliche Gewalt aufgezwungen von einer herrschenden Schicht, mit dem einzigen ursprünglich vorhandenen Zwecke, die Unterschicht zugunsten der Oberschicht zu bewirtschaften, und d. h.: nach dem Prinzip des kleinsten Mittels „mit dem geringsten Aufwande zum größten dauernden Erfolge" auszubeuten. Dieser für den ersten Blick paradoxe Satz wird erstens bewiesen durch die Induktion. Die Geschichte kennt keinen einzigen gut beobachteten Fall von originärer Staatsentstehung, der nicht nach diesem Typus verlaufen wäre. (Bei den Kolonien tritt die Gewalt oft unerkennbar zurück: ihre Begründer bringen die Verfassung des Mutterlandes mit in die neue Heimat und das ist eben die inzwischen zu Recht gewordene ursprüngliche Gewalt.) Vor allem läßt sich unsere Behauptung auch durch die Deduktion beweisen. Und zwar folgendermaßen: Notorisch, unbestritten und unbestreitbar waren alle Staaten der Vergangenheit und sind alle Staaten der Gegenwart „Klassenstaaten", das heißt Hierarchien von übereinander liegenden Schichten verschiedener politischer Berechtigung und verschiedener ökonomischer Ausstattung. Diese Klassenscheidung beruhte bis zum Anbruch der neuen Zeit und für viele Staaten bis tief in die Neuzeit hinein auf einem Rechte, das unbestreitbar nichts anderes war als rechtlich fixierte, durch das Recht und die Verfassung geschützte und gewährleistete frühere Gewalt, Gewalt des Schwertes oder des Meßbuches und Beichtstuhles. Die Sklaverei der Antike und die Hörigkeit des Mittelalters sind unzweifelhaft rechtlich fixiertes, einseitig auferlegtes politisches Mittel gewesen. Und da der Staat der Antike gar nichts anderes war als das „rechtliche Gehäuse" der Sklaverei, der des Mittelalters gar nichts anderes als das rechtliche Gehäuse der Leibeigenschaft, so ist für diese beiden großen Geschichtsepochen unsere Behauptung erwiesen. Wie steht es aber mit den Staaten der Gegenwart, in denen die Sklaverei und Hörigkeit rechtlich nicht mehr existieren? Mit den Staaten vor allem, die bereits „demokratisch" reif sind, das allgemeine Stimmrecht, die allgemeine Wehrpflicht und die volle Gleichheit vor dem Gesetz haben? Sind auch sie entfaltetes „politisches Mittel"? Unzweifelhaft sind sie es, und das läßt sich stringent beweisen. Daß sie immer noch „Klassenstaaten" sind, mindestens ökonomisch, wird niemand zu leugnen versuchen; und fast alle werden zugeben, daß sie auch politisch noch immer mehr oder weniger Klassenstaaten sind, d. h. daß der Einfluß der Wohlhabenden auf Gesetzgebung, Verwaltung und Politik nach innen und außen, in Krieg und Handel weit stärker ist, als ihrer Verhältniszahl entspräche, und daß dieser Einfluß nicht immer ausschließlich im Interesse der Unterschicht ausgeübt wird. Nun wohl, wir behaupten: auch ein moderner, rechtlich freier Klassenstaat kann nichts anderes sein als entfaltetes politisches Mittel; alle Klassenscheidung kann nur bestehen aufgrund einer Verfassung und eines Rechtes, das ehemalige Gewalt sanktioniert und gewährleistet; alle Klassenschei-

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dung muß sofort aufhören, sobald dieses Recht verschwindet. Dieses Recht ist das der Bodensperrung. Der große Turgot scheint es gewesen zu sein, der zuerst den Satz aufgestellt hat, daß nicht eher eine Arbeiterklasse entstehen kann, als bis „jedes Stück Land seinen Herrn gefunden hat", - und daß daher auch nicht eher arbeitsloses Einkommen und Großvermögen an Grund und Boden oder „Kapital" entstehen kann - denn all das setzt die Existenz einer Klasse besitzloser, in der Marxschen Sprache „freier" Arbeiter voraus. Daß alles Land bereits zur Zeit Turgots „seinen Herren gefunden hatte", war klar, denn es existierte ja seit langer Zeit schon eine Arbeiterklasse, existierte Großvermögen und arbeitsloses Einkommen. Aber wie hatte es seinen Herrn gefunden? Durch das ökonomische Mittel, d. h. durch die Besitznahme von Bauern, die die Scholle selbst pflügten, oder durch das politische Mittel, d. h. durch die Besitznahme von Leuten, die es nur sperrten, um andere dazu zu zwingen, ihnen einen Teil ihres Arbeitsertrages abzutreten? Weder Turgot noch einer seiner Nachfolger (außer vielleicht der irische Sozialist Thompson) haben diese Frage gestellt. Sie haben gar nicht entdeckt, daß hier eine zweifache Erklärung möglich ist. Sondern sie haben folgendermaßen geschlossen: „Gäbe es genug Land für das Bedürfnis der Gesellschaft, so könnte keine Klassenscheidung und kein Großeigentum vorhanden sein. Nun ist das alles aber vorhanden, folglich gibt es nicht genug Land." Der Schluß ist falsch. Er vernachlässigt die Möglichkeit, daß zwar an sich, von Natur aus genug Land vorhanden sein, aber durch das Recht des Eigentums gegen die Besitznahme durch die Landbedürftigen gesperrt sein könnte. Ist das etwa der Fall, so sind die Folgen für die gesellschaftliche Klassenschichtung offenbar ganz die gleichen, als wäre das gesperrte Land gar nicht vorhanden. Wie nun diese Frage entscheiden? Nun, sehr einfach durch Rechnung und Statistik. Wir müssen fragen, wieviel Land zu selbständiger bäuerlicher Wirtschaft nötig ist und dann feststellen, wie groß die heute vorhandene landbedürftige Bevölkerung und wie groß der Vorrat an Ackerland ist. Zeigt sich dann, daß der Vorrat nicht ausreicht, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen natürlich bedingt, notwendig, immanente Kategorie der menschlichen Gesellschaft: und der Klassenstaat von heute ist grundsätzlich unabänderlich. Zeigt sich aber, daß der Vorrat den Bedarf übersteigt, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen rechtlich bedingt, ist Konsequenz einer Sperrung des Bodens und dann ist der Klassenstaat von heute historische Kategorie, Schöpfung und rechtliches Gehäuse des politischen Mittels. Nun, die Rechnung ergibt zweifellos, daß der zweite Fall der Wahrheit entspricht. Damit ist bewiesen, daß die alte Auffassimg Turgots und seiner Nachfolger falsch, daß die Klassenscheidung Werk des politischen Mittels, und daß mithin der Klassenstaat das entfaltete politische Mittel ist. Ohne die Bodensperre gäbe es noch heute und auf unabsehbare Zeit hinaus keine Klassenscheidung, keine Arbeiterklasse, kein Großeigentum an Grund und Boden und an Kapital. Was haben wir damit für unser Problem gewonnen? Nun, der Anarchismus behauptet, daß, weil der Staat immer mit Ausbeutung verbunden gewesen ist, er es auch in Zukunft immer sein wird. Daß dieser Schluß als einfacher Analogieschluß nicht zieht, haben wir bereits festgestellt; jetzt aber dürfen wir behaupten, daß er mit Sicherheit falsch ist, weil er das Wort „Staat" auf zwei verschiedene Phänomene anwendet, auf den Klassenstaat der Vergangenheit und Gegenwart und auf den klassenscheidungsfreien Staat der Zukunft, zwei Phänomene, die einander gerade so kontradiktorisch gegenüberstehen wie ihre Grundwurzeln, das politische und das ökonomische Mittel. Daß im Klassenstaat der bisherigen Weltgeschichte alle Beamtenautorität, jedes Amt als Richter, als Feldherr, als Bürgermeister oder Gaukönig, als Volksvertreter usw. seinen Träger leicht zum Mißbrauch verführen konnte, verstehen wir ohne Schwierigkeit. Denn überall stützt sich der Beamte auf die eine Klasse, um durch sie die andere zu beherrschen und zu plündern. Marius stützt sich

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auf den Pöbel gegen die Besitzenden, Sulla auf die Besitzenden gegen den Pöbel; immer steht Zahl gegen Zahl, Macht gegen Macht, eine Kollektivkraft, ein Kollektivinteresse gegen das andere. Auf wen sollte sich aber in der bis zur Akratie vollendet gedachten Demokratie, in der klassenlosen politischen Gemeinschaft ein Beamter stützen wollen, um seine Autorität zur Ausbeutung zu mißbrauchen? Es gibt keine klassenmäßigen Interessengegensätze, wo es keine Klassen gibt. Ein Beamter kann zum Verbrecher werden, gewiß: aber es gibt hier keine Macht, die ihn gegen den Zorn der öffentlichen Meinung schützen könnte; denn es gibt hier nur eine öffentliche Meinung, und nicht, wie im Klassenstaat, so viel Meinungen wie Klassen. Ein Beamter kann ferner vielleicht die Gesamtheit auf einen Weg führen, der zu ihrem Schaden ist; aber er kann sie nicht dazu zwingen, diesen Weg zu betreten, und ebensowenig, darauf zu verharren. Er steht allein gegen die Gesamtheit, mächtig nur, wenn er ihren Willen tut, ihr Interesse fördert, ohnmächtig, wenn er es versuchen wollte, gegen ihren Willen, gegen ihr Interesse zu handeln. Das ist das Ergebnis unserer Überlegung, und das ist auch die Erklärung jener seltenen Ausnahmen, von denen wir vorhin sprachen. Autorität führt zur Ausbeutung überall dort, wo die Autorität sich auf ganze Klassen stützen kann, die von der Ausbeutung nicht nur nicht mitbetroffen werden, sondern ihren Vorteil mitgenießen. Daran scheiterte ζ. B. die sogenannte Demokratie der antiken Staaten: hier war der Klassenstaat doppelt fundiert, auf der Bodensperre und außerdem noch auf der Sklaverei; daher bestand eine schroffe Klassenscheidung, und das allein ermöglichte Demagogen und Prätendenten ihr wüstes Treiben: sie stützten sich immer auf die eine Klasse gegen die andere. Und im modernen Europa ist es grundsätzlich nicht anders. Wo aber dieses Zwischenglied, die Klassenscheidung, nicht gegeben ist, da kann Autorität niemals straflos, und sicher nicht auf die Dauer, zur Ausbeutung mißbraucht werden. Wenn das wahr ist, und wir sehen nicht, wie es bestritten werden könnte, dann fällt das einzige Argument in sich zusammen, das die Oligokratie gegen die demokratischen Forderungen erheben kann, seitdem der „göttliche Wille" nicht mehr als Rechtfertigung der Herrschaft vorgeschützt wird: jenes einzige Argument, daß die Demokratie zur Anarchie, zur Unordnung, ja, zum Chaos führen müsse. D. h.: Akratie und Anarchie verwechseln. Der klassenlose Staat der Zukunft, die von allen Resten des politischen Mittels gereinigte „Freibürgerschaft" meiner Terminologie, wird die stärkste richterliche und administrative Autorität besitzen, Beamte mit allen Machtvollkommenheiten, derer sie bedürfen, Steuern und Leistungen, Strafrecht und Strafrichter - sie wird nicht im mindesten Anarchie und dennoch durchaus Akratie sein.

Die Lösung „Nun gut", könnte man sagen, „die volle Demokratie ist nach deiner Anschauung möglich durch Beseitigung des letzten Restes des politischen Mittels, nämlich der Bodensperre; die Klassenscheidung und der Klassenstaat können verschwinden und diese Gemeinschaft soll ewige Dauer versprechen, weil sie beamtete Autoritäten einsetzen kann, ohne Mißbräuche befürchten zu müssen. Alles sehr schön: aber beweist das im entferntesten, daß dieser Zustand wünschenswert ist? Steht hier nicht Weltanschauung gegen Weltanschauung, Ideal gegen Ideal, politische Theorie gegen politische Theorie? Was beweist uns, daß die oligarchische Auffassung schlecht und die demokratischakratische gut ist?" Ein wichtiges Problem und ein neues Problem! Das Problem des Wertmaßstabes der Soziologie, die sich in demselben Augenblicke zur Sozialphilosophie erhebt, wo sie dieses Problem aufwirft. Denn die Soziologie ist die Wissenschaft von Ursachen aus Wirkungen, vom Sein und Werden der menschlichen Gesellschaft, und die Sozialphilosophie ist die Wissenschaft von den Zwecken

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und Zielen, von den Wertmaßstäben und Wertergebnissen, vom Sollen der menschlichen Gesellschaft. Zwei Maßstäbe haben wir, um die Oligokratie mit der Demokratie auf ihren Wert hin zu vergleichen, einen inneren und einen äußeren, einen praktischen und einen ethischen. Der praktische äußere ist ihre Leistung für die menschliche Gesellschaft, der innere ethische ist das uns immanente Sittengesetz. Sprechen wir zuerst von dem äußeren Maßstabe der Bewertung, von der Leistung der beiden politischen Systeme. Dabei tritt uns eine bedeutende Schwierigkeit entgegen; wir haben wohl Pseudodemokratien in Menge, historische und gegenwärtige, aber keine reine Demokratie im Sinne der Akratie. Wir können daher nicht unmittelbar und nicht mit voller Beweiskraft unsere Vergleiche anstellen, sondern können nur mittelbar vergleichen und nur Wahrscheinlichkeiten feststellen. Aber freilich Wahrscheinlichkeiten, die nicht mehr viel von der vollen Gewißheit entfernt sind! Was immer wir vergleichen mögen, dasselbe Volk, das eine Mal unter der Herrschaft einer Oligokratie und das andere Mal unter der einer Demokratie in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. einer Herrschaft, die nicht einer sehr kleinen Klasse allein vorbehalten ist, - oder ob wir verschiedene Länder vergleichen, deren eines oligokratisch, deren zweites demokratisch regiert wird, immer ist das Ergebnis das gleiche: eine unendlich viel höhere Gesamtleistung der Gesellschaft gegenüber allen erdenklichen Kriterien. Vergleichen wir ζ. B. das Frankreich des Feudalismus oder der Louis mit der heutigen Republik, oder das Preußen der Junkerherrschaft zu Beginn der Neuzeit mit dem heutigen konstitutionellen Staat: welcher ungeheure Unterschied in der Lebensdauer, der geistigen Bildung und Freiheit, dem Geschmack, dem Wohlstand, der politischen Kraft, dem Bürgersinn, bis herab zum Ertrag der Äcker, der sich verdreifacht und vervierfacht hat, und zum Ertrag der Gewerbe, der sich verhundertfacht hat! Und vergleichen wir ζ. B. die heutigen Vereinigten Staaten mit dem heutigen Rußland. Wir haben zwei ungeheure Gebiete von fast gleicher Volkszahl und Ausdehnung, beide vom Polargebiet bis in die Subtropen erstreckt, beide mit den gleichen Naturschätzen: Eisen, Petroleum, Kohlen, Holz, Gold usw. verschwenderisch ausgestattet, beide mit natürlichen Binnenschiffahrtsstraßen, vermittelt durch ungeheure, meerähnliche Süßwasserseen, wie sie sonst kaum auf diesem Planeten zu finden sind: zwei Objekte, die ein spöttisch-wohltätiger Genius uns geradezu nebeneinander gestellt zu haben scheint, um sie zu vergleichen und aus dem Vergleich zu lernen, was Oligokratie und Demokratie leisten können. Denn unendlich hoch, von jedem Gesichtspunkte der Bewertung aus, in geistiger und materieller Kultur, in Reichtum und Macht, im Glück seiner Bevölkerung, steht die Demokratie der Neuen Welt über der Oligokratie der Alten, noch viel höher als das neue Frankreich über dem alten. Nichts spricht mehr dafür als die Grundstimmung der Bevölkerung: in Rußland dumpfe Verzweiflung, Lebensflucht, Mystik und religiöser Fanatismus, in Amerika ein überquellender Optimismus, helle Lebensbejahung, Feuer und Kraft. Gewiß, es gibt, um von dem stark oligokratisch beherrschten Preußen-Deutschland zu schweigen, noch Schäden und Schwären genug, auch in diesen beiden demokratisch am weitesten vorgeschrittenen Großstaaten Frankreich und Amerika. Namentlich in den Vereinigten Staaten beklagen wir eine ausschweifende Plutokratie, Bestechlichkeit der Beamten, Mißbrauch des Parlaments für die schamlose Ausbeutung der Konsumenten, grausamsten Raubbau an den Arbeitern, die zu Myriaden dem Dollar hingeopfert werden. Gewiß, und es gibt gütige und kluge Männer genug, die gerade durch diese traurigen Tatsachen an dem Ideal der Demokratie irre geworden sind, die jetzt der Meinung zuneigen, daß so schwere Ausschreitungen dort unmöglich sind, wo eine straffe oligokratische Autorität die individuelle Raubgier im Zaume hält. Wenn wir diesen Männern erwidern wollten, daß diese Ausschreitungen nur dadurch zu erklären sind, daß jene Demokratien eben noch keine vollen Akratien sind, daß sie namentlich die Bo-

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densperre als Erbschaft der Vergangenheit übernommen und in ihrer Verfassung und ihrem bürgerlichen Rechte sanktioniert haben, so sind sie berechtigt, diese Beweisgründe abzulehnen. Sie können sagen, daß ζ. B. in Amerika die Demokratie wenigstens politisch durchgeführt ist, und daß man, wäre das Prinzip richtig, davon bessere Ergebnisse fordern dürfte. Man kann versuchen, diesen Einwand durch das Mittel einer sehr ausgebreiteten historischen und statistischen Vergleichung zu widerlegen. Man kann zeigen, daß alle Nationen der Geschichte und Gegenwart dem Ideal der Leistungsfähigkeit und des allgemeinen Kulturglückes um so ferner standen und stehen, je weniger, um so näher, je mehr demokratische Elemente ihre Verfassung und Eigentumsverteilung enthielt und enthält. Man kann zeigen, daß in oligokratischen Staaten eine noch viel graulichere Korruption und Mißwirtschaft, ein noch viel grausamerer Raubbau an der Volkskraft die Regel war und ist, als sie in Amerika angeblich bestehen. Man denke an die sprichwörtliche Käuflichkeit des englischen Unterhauses in einer lang vergangenen Zeit, in der eine sehr kleine Schicht allein wahlberechtigt war, an die grauenhafte Korruption, die immer noch ganz Rußland verwüstet, an die Korruption des Kirchenstaates, an die Wahlmanöver und Massenbestechungen im feudalen Galizien und Ungarn. Und man denke an den nie wieder, wenigstens im Westen, erreichten Raubbau an der englischen Volkskraft während der ersten Dezennien der kapitalistischen Entwicklung, an die furchtbare Sterblichkeit namentlich der Säuglinge, an die Herabpressung der gesamten niederen Bevölkerungsschicht auf den Kulturzustand von weißen Hottentotten: alles das sind Erscheinungen, die erst gemildert wurden durch die vorschreitende Demokratisierung der Verfassung; man denke an die Kindersklaverei im oligokratisch beherrschten, monarchisch regierten Unteritalien und Sizilien, an die Hölle der Schwefelbergwerke und das Inferno der Reisfelder und, wenn von Korruption gesprochen wird, an Camorra und Mafia. Und man halte dagegen, daß in den dem demokratischen Ideal am meisten angenäherten Staaten der Welt, namentlich im freien Kanada und in dem australischen Commonwealth, vor allem in Neuseeland, aber auch in den meisten Kantonen der altdemokratischen Schweiz und durchaus im sehr demokratischen Norwegen, trotz seiner natürlichen Armut, allgemeiner Wohlstand, hohe Kultur, reges politisches Verständnis, opferfreudiger Bürgersinn und die erfreuliche Gesundheit und Langlebigkeit einer kraftvollen Rasse besteht. Aber, das mögen alles starke Beweisgründe sein: durchaus überzeugend sind sie nicht, namentlich nicht für den, der nicht überzeugt werden will. Ein hartnäckiger Gegner könnte erklären, alle Extreme seien gleich schädlich, eine unkontrollierte Klassenherrschaft nicht minder als eine unkontrollierbare Pöbelherrschaft; die Wahrheit liege auch hier in der Mitte; das Ideal sei eine durch eine starke Autorität gezügelte und gemilderte Mitherrschaft nur der gebildeten und besitzenden Massen. Und jene Erfahrungen aus den Kolonien bewiesen nur, daß dort günstige Verhältnisse bestehen, wo noch eine große terra libera den Nachwuchs der Bevölkerung aufnehmen könne. Hier ist nichts Entscheidendes zu erreichen, Meinung steht gegen Meinung. Und darum ist es gut, daß man ein stärkeres und nach meiner Meinung schlagendes Argument beibringen kann, das den Streitfall erledigt. Es läßt sich beweisen, daß an den Schäden der heutigen demokratischen Staaten nichts anderes die Schuld trägt als die oligokratischen Staaten. Herbert Spencer sagt einmal in seiner Ethik, man könne in einer unvollkommenen Gesellschaft keinen vollkommenen Menschen erwarten. Dasselbe gilt im größeren Kreise: man kann in einer unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat erwarten. Die internationalen Einflüsse auf die Entwicklung der Demokratie sind bisher nie ausreichend beachtet worden. Ich möchte das an den beiden „großen" Beispielen zeigen, die regelmäßig als unwiderlegliche Beweise für die Verderblichkeit der Freiheit angeführt werden: an der Entartung der französischen Revolution von 1789, und der heutigen plutokratischen Entartung der Vereinigten Staaten. Was die erste anlangt, so scheint es mir nach sorgfältiger Erwägung aller Geschehnisse und Cha-

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raktere als nahezu sicher, daß die Revolution von 1789 niemals zu den Schreckenstagen geführt hätte, wenn die oligokratischen Nachbarstaaten sich nicht eingemischt hätten. Die Verschwörung des Adels und Hofes mit den auswärtigen blutsverwandten Dynastien, die Angst und Empörung, die die Drohung der Invasion fremder Heere hervorrief, tragen vor allem die Schuld daran, daß die Marat und Robespierre ihre Gedanken und fixen Ideen dem Volke suggerieren konnten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ohne dies die gemäßigten Elemente die Massen in der Hand behalten hätten, zumal dann auch viele der schweren Schädigungen fortgefallen wären, die der Kriegszustand und schon die Kriegspanik mit sich führte: die Depression der Volkswirtschaft, die Geld- und Kreditkrisis mit ihrem Gefolge von Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend, und vor allem die Anhäufung dieser Armen mit ihren Hungerdelirien in den großen Städten, denen sie massenhaft zuströmten, und in denen sie das eigentlich gefährliche, das feuergefährliche Element darstellten. Wenn solche Zusammenhänge schon in der großen pragmatischen Geschichtsschreibung übersehen oder doch viel zu wenig beachtet werden: was soll man da erst dort erwarten, wo es sich um jene großen Unterströmungen der Geschichte handelt, die sich langsam und unauffällig, ohne großen Lärm und ohne die Mitwirkung „hervorragender" Persönlichkeiten vollziehen! Und doch läßt sich, das meine ich beweisen zu können, zeigen, daß auch der zweite Pfeil, den die oligokratische Weltanschauung auf die demokratische abzuschießen liebt, auf den Schützen zurückprallt, sobald man ihm den Schild der Erkenntnis der internationalen Beziehungen entgegenhält. Ich spreche von der amerikanischen Korruption und dem wüsten amerikanischen Mammonismus. Male man ihn so schwarz, wie man will - und unsere oligokratischen Theoretiker haben für ihn zentnerweise schwarze Deckfarbe zur Verfügung, während sie die ungleich ärgere russische Mißwirtschaft rosa zu rasieren versuchen -, die Oligokratie ist allein schuld daran, die Demokratie ist unschuldig. Die Vereinigten Staaten sind nur politisch, aber nicht ökonomisch als Demokratie in die Geschichte eingetreten. Die politische Freiheit der Washington-Verfassung ging sehr weit - aber das Recht der Bodensperre hatte der Freistaat aus dem Mutterlande importiert, und mit ihm die Möglichkeit der Klassenscheidung, des Grundrentnertums und des Kapitalismus und Mammonismus. Ja, sie hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Praxis der Bodensperre mit übers Meer gebracht. „Die Zeitgenossen Washingtons trieben", so sagt Max Sering, „einen krämerhaften Handel mit dem Lande der Nation." Die Verkaufsbedingungen bei der öffentlichen Versteigerung der Staatsländereien waren so gestellt, daß nur die reichste Oberschicht kaufen konnte, quadratmeilenweise: klar gewollte Bodensperre, Absperrung aller Ärmeren, allen Nachwuchses, aller neuen Einwanderer von dem unerschöpflichen Naturschatz des Landes, nur um sie zur Rentenzahlung an die Besitzer zu zwingen. Politisches Mittel in Reinkultur! Und trotzdem: die gute Absicht wäre dennoch mißlungen, es hätte sich trotz alledem gezeigt, daß im demokratischen Staate keine Ausbeutung möglich ist, wenn das Wachstum der Bevölkerung nur durch ihren eigenen Geburtenüberschuß erfolgt wäre. Das Land ist von so ungeheurer Ausdehnung, daß es unter solchen Umständen Jahrhunderte gedauert hätte, bis das gesperrte Land wirklich dringlich gebraucht worden wäre, und darum wäre die Spekulation auf Grundrente kläglich zusammengebrochen. Denn ein Dollar auf Zins und Zinseszins macht schon in einem Jahrhundert eine so ungeheure Summe aus, daß sie beim Verkauf niemals hätte herauskommen können, und so hätte die Konkurrenz der vielen Besitzer der großen Flächen um die wenigen Pächter und Ansiedler den Bodenpreis auf unabsehbare Zeit hinaus dicht an Null halten müssen. Wo eine Bevölkerung gar nicht oder nicht im Verhältnis zur neu erschlossenen Fläche wächst, kann der Bodenwert auch nicht durch Sperrung emporgetrieben werden; das sehen wir am heutigen Frankreich, dessen Pachtrenten so ziemlich feststehen, trotzdem die Erträge des Ackers und Stalles fortwährend wachsen; und das sehen wir ζ. B. auf dem Wohnungsmarkte von Groß-Berlin, wo die Mieten seit zwanzig Jahren eher sinken, wenigstens im Verhältnis zu den gebotenen Bequemlichkeiten, weil die

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Konkurrenz der vielen selbständigen Gemeinden viel mehr Bauland erschließt, als selbst die stark wachsende Bevölkerung braucht. Trotz alledem ist in Amerika die Spekulation der Bodensperrung glorreich gelungen. Wie war das möglich? Weil die Bevölkerung nicht langsam, sondern ungeheuer schnell wuchs, nicht nur durch ihren eigenen Bevölkerungszuwachs, sondern durch eine unendlich viel stärkere Einwanderung und deren Geburtenüberschuß. Diese Einwanderung war die Ursache des Grundrentnertums und des Kapitalismus; die Bodensperre war nur ihre Bedingung. Und woher kam diese Masseneinwanderung? Aus den Oligokratien Europas! Aus den Ländern des Feudalismus und der extremen Bodensperre, aus dem damals noch nicht einmal pseudodemokratischen Großbritannien zuerst, und hier vor allem aus dem unglücklichen, von einer kleinen Oligokratie auf das furchtbarste ausgesogenen Irland; dann aus Deutschland, und hier wieder vor allem aus dem von einer kleinen Feudaloligokratie ausgeplünderten Ostdeutschland; dann aus Italien, aus Rußland und Ungarn, Galizien und Rumänien usw., kurz aus allen Oligokratien der Alten Welt! Etwa fünfundzwanzig Millionen Einwanderer, fast sämtlich den unteren Volksschichten angehörig, vorwiegend im kräftigsten und vor allem im zeugungskräftigsten Alter, haben sich in einem einzigen, kontinuierlichen, immer mehr anschwellenden Strome seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ergossen, die gewaltigste Völkerwanderung aller bisherigen Geschichte. Und sie selbst und ihre unzähligen Nachkommen haben jene Spekulation der frommen „demokratischen" Pilgerväter zu Ehren gebracht, haben die ungeheuren Landwerte geschaffen, die sie selbst jährlich zu verzinsen gezwungen sind. Die Klassenstaaten der Alten Welt haben den Klassenstaat der Neuen Welt geschaffen! Die Oligokratie der Heimat hatte ihnen die Heimat verleidet, denn es war die Unterschicht überall, es war der Arbeiter und der landarme kleine Bauer, die über den Ozean zogen, und nicht der Edelmann, der Großkaufmann und der hohe Beamte. Hätte nicht das oligokratische Bodenrecht bestanden, die Demokratie hätte selbst diese ungeheure Menschenflut glatt aufgenommen und akklimatisiert. So aber gab es und gibt es schwere Stokkungen, namentlich seit das Werk der Bodensperrung von Ozean zu Ozean ganz durchgeführt ist. Jetzt dauert es eine, zwei Generationen, bis die Einwanderer und ihre Nachkommen genügend amerikanisiert und zivilisiert sind, um sich aus der Umklammerung durch den Kapitalismus herauszuarbeiten: aber an den neuen Ankömmlingen, diesen „Tieren ohne Seele", namentlich in neuester Zeit an den armseligen Flüchtlingen aus Mexiko und Rußland, diesen zu Sklaven erzogenen Kulis, die der Sprache und der Sitten der neuen Heimat nicht mächtig sind, mästet sich der Mammonismus in Orgien, die Hekatomben über Hekatomben verschlingen, in einem Raubbau von fürchterlicher Brutalität. Was aber ist die Ursache dieses Kapitalismus, dieses unerhörten Mammonisimus und der mit ihm verbundenen kolossalen öffentlichen Korruption? Nichts anderes als die gleiche Masseneinwanderung aus den gleichen europäischen Oligokratien! Der Kapitalismus ist unmöglich ohne die Verfügung über massenhafte „freie", d. h. vermögenslose Arbeiter. Ohne die frühere Einwanderung solcher Arbeiter in Massen hätte in Amerika niemals ein Kapitalismus entstehen können; ohne die Fortdauer dieser Einwanderung würde er auf das schnellste zusammenbrechen! Stellt euch vor, daß nur ein Jahrzehnt, vielleicht nur ein einziges Jahrfünft hindurch der Strom der Einwanderung versiegt, der heute jährlich rund eine Million von Kulis an den atlantischen Strand wirft, und fragt, was nach Ablauf dieser Zeit aus dem amerikanischen Kapitalismus und der amerikanischen Korruption geworden ist! Die Löhne der Arbeiter sind bei dem sinkenden Angebot enorm gestiegen und steigen weiter, weil der steigende Lohn eine stark steigende Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen und d. h. schließlich nach Arbeitern hervorruft. Die Gewerkschaften, schon heute sehr mächtig, sind übermächtig geworden und setzen den niedergeworfenen Trusts das Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge. Die Profite fallen, weil die Löhne steigen, und fallen noch mehr, weil die Gewerkschaften die Herren der Lage sind. Die Reservear-

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mee der Arbeitslosen ist aufgesaugt, die sweating shops und slums sind entleert: wo finden die Bosse von Tammany-Hall jetzt noch die Massen hungernder und verzweifelter Kulis, die für einen Dollar ihre Stimme verkaufen? Und wie sollten die Trustmagnaten noch Millionen von Dollar aufbringen können, um Stimmen zu kaufen, wenn die Profite so tief sinken? Was ist also die amerikanische Korruption und der amerikanische Mammonismus? Einfach die Folge davon, daß die amerikanische „Demokratie" noch keine vollkommene Akratie ist, und daß sie infolgedessen nicht imstande war und ist, die ungeheure Zuwanderung europäischer Kulis schnell genug politisch und ökonomisch zu verdauen. Stellt man sich die Schöpfung Washingtons und Franklins als aus ihren internationalen Beziehungen isoliert vor, so funktioniert sie ohne Tadel, trotz dem schweren Fehler ihrer Verfassung, dem antidemokratischen Bodenrecht. Ist es, unter diesem Gesichtspunkt, nicht genau die Fabel vom Wolf und dem Lamm, wenn heute der Oligokrat dem Demokraten die Trübung des öffentlichen Wassers in den Staaten vorwirft? Er steht oben am Strome der verhängnisvollen Wanderbewegung der Massen, er allein hat sie verschuldet - und beschuldigt das Lamm unten! Welche unverschämte Zumutung an die Demokratie ist es, daß sie in einem Jahrhundert den in Jahrtausenden der Gewalt und der skrupellosen Anwendung des politischen Mittels verseuchten Boden der ganzen Kulturwelt sanieren soll! Daß sie ungezählte Millionen von Sklaven und Hintersassen im Handumdrehen in Bürger verzaubern soll! Was die unvollständige amerikanische Demokratie unter diesen Umständen dennoch geleistet hat, ist ein Werk von unerhörter Großartigkeit. Begreift man jetzt, warum die Männer der großen Revolution von 1789 den Krieg über die Grenzen tragen mußteni Sie hatten verstanden, daß eine Demokratie nicht gesund bleiben kann, solange aus dem Pestherde der benachbarten Oligokratien die Ansteckungskeime über die Grenzen stieben. Wenn es in einer unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat geben kann, so ist die Aufgabe der Demokratie klar vorgeschrieben: sie muß eine democratia militans werden, um die Welt und damit sich selbst auf die Dauer zu sanieren und zu sichern. Internationale politische Hygiene, das ist das Programm der nächsten Zukunft. So viel von der Bewertung der Demokratie am ersten unserer Maßstäbe, dem der praktischen Leistung. Wie steht es nun um ihre Sache vor dem zweiten Richterstuhl, dem Oberappellationsgericht der Menschheit, dem Sittengesetz? In der Regel wird der Streit zwischen Oligokratie und Demokratie so aufgefaßt, als handle es sich um ethisch gleichwertige Anschauungen, etwa wie bei dem Meinungskampf zwischen den Anhängern Darwins und denen Lamarcks oder zwischen den Realisten und Idealisten in der Philosophie. Dieser Indifferentismus wird nur noch gestützt, wenn man den Streit im Lichte der Soziologie betrachtet, diese Wissenschaft in ihrer engeren Bedeutung gefaßt, als reine, kausal verbindende Seiwwissenschaft. Sie zeigt uns, daß von Anbeginn des Staatslebens an sich die gleichen beiden Gruppen- bzw. Klassentheorien gegenüberstehen: der oligokratische „Legitimismus" oben und das demokratische „Naturrecht" unten, die gleichen beiden Theorien, die in den Staaten aller Zeitalter, Klimate und Rassen immer dieselben charakteristischen Züge aufweisen. Der Legitimismus rechtfertigt überall die Herrschaft und Ausbeutung damit, daß die Herrengruppe von besserer Art oder Rasse sei als die Gruppe der Untertanen. Jene besäße allein die Begabung, die von ihnen gegründeten Staaten sicher durch alle Klippen zu steuern; ja, ihre Herrschaft sei das einzige Mittel, um die Untergruppe vor dem schwersten Schaden zu bewahren; denn diese bestehe aus so schlechten, törichten und charakterschwachen Elementen, daß der Krieg aller gegen alle losbrechen müßte, ließe die Herrenklasse die Zügel aus der Hand. Dagegen erklärt die naturrechtliche Auffassung der Unterklasse überall den Adels- und Rassenstolz der Oligokratie für lächerliche Anmaßung und behauptet, die Unterklasse sei mindestens ebenso fähig, den Staat zu lenken; erst die volle Durchführung der Demokratie verbürge das hoch-

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ste Glück der Gesamtheit, das unter der Oligokratie schwer verkürzt werde. Wenn man diese beiden Auffassungen gegeneinanderstellt, so scheint es auf den ersten Blick unmöglich, sich für eine von beiden zu entscheiden. Sie erscheinen ethisch gleichwertig, erscheinen beide als Ausdruck des grundsätzlich gleichen Klassenegoismus. Und so hört man denn auch oft genug, daß das Naturrecht verächtlich mit dem Ausdruck „Sklavenphilosophie" abgetan wird. Dennoch enthüllt sich bei näherer Betrachtung die Erkenntnis, daß die beiden Bekenntnisse sich doch in einem Punkte wesentlich unterscheiden: der Legitimismus ist eine ausschließende, das Naturrecht eine einschließende politische Theorie. Jener verweigert der Mehrheit der Bürger das politische Mitbestimmungs- und Selbstbestimmungsrecht - dieses mag vielleicht den Adel verwerfen, aber es ist seinen Anhängern niemals in den Sinn gekommen, den Spieß umzukehren und den Adligen die Bürgerrechte zu verweigern. Dieser Unterschied wächst aus der tiefen Wesensverschiedenheit der beiden Anschauungen. Der Legitimismus der Oberklasse widerspricht dem Sittengesetz, das Naturrecht ist seine Verwirklichung. Hier, wo es sich nicht mehr um Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen handelt, sondern um Wertmaßstäbe und Wertungen, hat nicht mehr die Seinswissenschaft der Soziologie das Wort, sondern die Sollwissenschaft der Sozialphilosophie. Vor ihr Forum allein gehört der große historische Streit, der uns beschäftigt. Und er liegt so klar, daß wir voller Vertrauen dem Gegner selbst seine Entscheidung überlassen dürfen. Denn in jedem Menschen, er sei denn geistes- oder gemütskrank, auch in dem Oligokraten, spricht laut und unzweideutig das Sittengesetz als kategorischer Imperativ: „Handle so, daß dein Handeln die Maxime allen Handelns sein könnte" - oder „Du sollst niemanden tun, was du nicht wollen kannst, daß andere dir tun." Dieses Sittengesetz wird täglich und stündlich unzählige Male verletzt, wir wissen es gut genug; unzählige Male werden täglich und stündlich Menschen von anderen Menschen beraubt und ausgebeutet, geschädigt und beschämt: aber niemals geschieht das ohne Verbeugung vor dem Imperativ! D. h.: Niemand, er sei denn ein Kranker, wird jemals zu behaupten wagen, Raub und Ausbeutung, Schädigung und Unterdrückung seien an sich gut, seien an sich Recht, sondern er wird immer eine Entschuldigung vorbringen, wenn er dem Imperativ nicht gehorcht. Er wird bestreiten, daß die bemängelte Handlung dem Sittengesetz widerspreche, oder er wird, wie unsere Nietzscheaner und Sozialdarwinisten, behaupten, die Ausbeutung der Gegenwart sei eine bittere Notwendigkeit, ein notwendiges Opfer für das höhere Glück der Zukunft, etwa für die Erziehung des Ubermenschen oder die Vervollkommnung der Rasse; - oder er wird schließlich behaupten, es handle sich um die schmerzliche Wahl zwischen zwei Übeln, der Anarchie auf der einen und der Herrschaft mit all ihrer zugestandenen Ausbeutung und Unterdrückung auf der anderen Seite: aber niemand wird, wir wiederholen es, jemals zu behaupten wagen, die Ausbeutung sei an sich kein Übel, sondern ein Gut. Niemand wird es wagen, auch nicht der verbissenste Oligokrat und Legitimist. Und mehr brauchen wir nicht, um den Streitfall zu entscheiden, als diese sehr wider Willen erfolgende Zustimmung aller unserer möglichen Gegner zu unserem Prinzip. Sie können nicht bestreiten, daß die Oligokratie vor dem Sittengesetz unter allen Umständen ein Übel ist, und werden sich damit begnügen müssen, zu erklären, es sei leider ein notwendiges Übel. Und sie können ebensowenig bestreiten, daß die Demokratie oder besser: die Akratie vor dem Sittengesetz unter allen Umständen ein Ideal ist; nur daß sie sagen werden, es sei leider ein unerreichbares Ideal. Und darum sind wir berechtigt, mit allen Kräften zu protestieren, wenn man uns zu sagen versucht, bei dem Kampfe zwischen Oligokratie und Demokratie „stehe Ideal gegen Ideal". Nichts kann falscher und gefährlicher sein. Die Oligokratie ist ohne Zweifel eine Verletzung des Sittengesetzes, die Demokratie in ihrer Vollendung ist ohne Zweifel seine Erfüllung. Jene ist die als „Recht" und Verfassung kodifizierte Ungerechtigkeit, diese die vollendete Gerechtigkeit; jene das Recht des

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politischen Mittels, diese das Recht des ökonomischen Mittels; jene die Gewalt und gewaltsame unentgoltene Aneignung, diese die friedliche Arbeit und der gerechte Verkehr. Viele der Besten unserer Zeit fühlen den Glauben an die Demokratie, den beglückenden Glauben an eine Zukunft des Glücks und der Gerechtigkeit, in sich erschüttert und leiden bitterlich darunter. Es ist meine tiefste Uberzeugung, daß diese Zweifel und diese Verzweiflung keinen Grund haben. Was uns heute kränkt und beleidigt, die Ausschreitungen und LJbertreibungen, der laute Lärm des Marktes und der Rednertribünen, die Pöbelhaftigkeit des Kampfes und die Niedrigkeit der nächsten Ziele, der Phrasenschwulst der Demagogen und der Schacher hinter den Kulissen der Politik - das alles sind Zeichen einer Krisis, die der Menschheit nach langer schwerer Krankheit die Heilung bringt. Lassen wir uns nicht irre machen! Am nächtlichen Sturmhimmel unserer Zeit strahlt unverrückbar durch alle Wolken hindurch ein heller Stern erster Größe, der Polarstern, nach dem wir fehllos das Schiff der Gesellschaft steuern können, den wir niemals aus den Augen verlieren sollen, - das höchste und heiligste Ideal der Menschheit, die Verwirklichung aller Gerechtigkeit, die Erfüllung des Sittengesetzes, die Befreierin, die Sättigerin, die Beglückerin, die Erheberin: die Demokratie.

Wir - und die Anderen Gedanken zur Völkerpsychologie

[1915]1

Dieser Krieg enthüllt uns Gegensätze der Weltauffassung und Weltanschauung zwischen unserem Volke und unseren Gegnern, die ernstes Nachdenken hervorrufen müssen. Nicht davon spreche ich, daß sie sich ihrer Mehrzahl nach geradeso wie wir als die Vertreter des schmachvoll gekränkten Rechts betrachten, daß sie geradeso wie wir selbst für der Menschheit höchste Ziele und Güter zu kämpfen glauben. Das kann niemand wundern, der die Weltgeschichte mit klaren Augen studiert hat: noch niemals hat ein Volk sich in Unrecht geglaubt; der Wolf oben am Fluß war immer fest überzeugt, daß das Lamm unter ihm aus Bosheit das Wasser trübe und daß er ein Recht habe, es zu zerreißen. Denn „natürlich handelt der Mensch und menschlich denkt er hinterdrein"; so hat Gumplowicz das Urgesetz aller Sozialpsychologie formuliert. D. h.: das Volk strömt nach dem Gesetz des kleinsten Zwanges vom Orte höheren zum Orte geringeren sozialen Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes und schafft sich mit gleicher Gesetzlichkeit die Motive, die gerade diese Bewegung zu diesem Ziele als die Forderung von Sitte und Gesetz rechtfertigen. Es gibt daher wohl ein objektives, aber niemals ein subjektives Unrecht oder Verbrechen, das ein Volk begeht; es ist in der Bewegung, die ihm als freigewollte Handlung erscheint, immer gutgläubig, immer von seinem Rechte durchdrungen. Nur prospektiv oder retrospektiv, vor oder nach der Handlung, ist es einer Bewertung nach objektiven Maßstäben zuweilen fähig, wenn auch selbst dann zumeist nur dumpf und halbbewußt. Nicht also um die Frage von Recht oder Unrecht soll und kann es sich hier handeln. Die wird das Weltgericht, die Weltgeschichte dereinst beantworten, wir, die wir mit heißer Liebe und heißem Hasse mitten im Kampfe stehen, in unserem Besten und Herrlichsten bedroht, haben nicht zu urteilen, sondern zu kämpfen. Wir fragen also nicht, warum wir besser sind als unsere Feinde. Dem Soziologen verbietet sein Wissen um das sozialpsychologische Urgesetz diese Frage, die allen anderen der gute Geschmack verbieten sollte; bisher wenigstens hat der Deutsche die Schimpfduette nie gebilligt, mit denen die Helden Homers ihre Zweikämpfe begannen. Aber wir dürfen wohl fragen, warum wir anders sind als unsere Feinde, und dürfen hoffen, auch mitten im Kampf die Objektivität aufzubringen, die für die Antwort auf diese moralisch nicht oder doch kaum betonte Frage erforderlich ist. Daß wir anders sind als unsere Feinde, in tiefen Wesenheiten des Volkscharakters anders, das steht wohl außer Zweifel. Wir verstehen sie nicht in ihren Motiven, und sie verstehen uns nicht. Um mit unserem anständigsten Gegner Frankreich zu beginnen, so verstehen und billigen wir wohl durchaus die Bündnistreue, die das unglückliche Land in den Krieg für Rußland mitriß, aber nicht die, ich finde kein edleres Wort, „Verbiesterung", mit der es vierundvierzig Jahre hindurch dem Gedanken an die „Schmach der Niederlage" und die „verlorenen Provinzen" nachgehangen hat. Wenn der Deutsche „Ruhm" sagt, so ist das etwas ganz anderes als das französische „gloire" - und unsere Vergeltung hat einen tieferen, aus Sittlichkeitstiefen stammenden Erzklang als das französische „revanche". 1

[Erstmals erschienen in: Die neue Rundschau, 26. Jg., Bd. 2, Berlin 1915; S. 1585-1604; A.d.R.]

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Noch weniger verstehen wir die russische Friedens- und Kriegswirtschaft. Die kalte Brutalität und zynische Offenheit, mit denen der russische Herrenstand die Volksmasse ausplündert und zu Hunderttausenden in den Tod hetzt, ohne auch nur den leisesten Gedanken einer sittlichen Verpflichtung dieser Masse gegenüber, ohne auch nur das Verpflichtungsgefühl des Hirten seiner Herde gegenüber, die er doch Jahr für Jahr scheren will und deshalb „hütet" - das alles ist dem deutschen Wesen von heute durchaus fremd und feindlich. Ich sage ausdrücklich: von heute! Denn vor hundert Jahren haben auch deutsche Landesväter ihre Landeskinder zu Tausenden als Soldknechte verkauft, um schamlos zu genießen. Fast noch weniger ist uns die englische Gemütskälte verständlich, die leidenschaftslos und planvoll die Völker auf dem politisch-wirtschaftlichen Welt-Schachbrett hin und her schiebt und gar nicht zaudert, durch „glänzende Figurenopfer" das „Matt" zu erzwingen, handle es sich bei den Figuren auch um Millionen verblutender Männer und verhungernder Frauen und Kinder. Flößt uns die russische Politik Schrecken und vielleicht Schauder ein, so empfinden wir den Engländern gegenüber ein Grauen und Entsetzen. Was schließlich die Italiener anlangt, so wollen wir von ihrer verräterischen Politik nicht sprechen. Betrachten wir sie mit dem deutschen Gerichtshof, der soeben einen deutschen Gastwirt zur Zahlung des Gehaltes an italienische Musiker verurteilte - ein solches Urteil wäre kaum in einem einzigen der feindlichen Länder möglich - als das Werk einer kleinen Gruppe, an dem das Volk im ganzen unschuldig ist! Und billigen wir meinethalben selbst dieser kleinen Gruppe das Motiv der patriotischen Besorgnis vor der unbeschränkten deutschen Hegemonie zu, von der Salandra sprach. Nicht auf einzelne Handlungen soll sich ja überhaupt unsere Betrachtung erstrecken, sondern auf die ganze Haltung, die aus dem Wesen des Volkscharakters selbst folgt. Und da ist uns eins vor allem am Italiener durchaus unverständlich: die Fähigkeit der Masse, sich an Phrasen und Wortklang zu berauschen. Die Rolle, die Gabriele d'Annunzio in Quarto und Rom gespielt hat, der Einfluß, den er ausgeübt hat, ist in Deutschland undenkbar. Schon die Vorstellung hat für uns etwas unsagbar Lächerliches, daß eine deutsche Regierung sich einem Dichter verschreiben könnte, um eine große Aktion volkstümlich zu machen. Und noch dazu ein Mann von diesem Leumund! Die Gegensätze sind da und verlangen ihre Erklärung. Bescheidene Köpfe werden mit einem Schlagwort schnell fertig sein: „Rasse"! So bescheiden denken wir nicht zu sein! Statt einer Erklärung ein Wort zu haben, alle wirkliche Untersuchung durch die Erfindung einer „qualitas occulta" in der Wurzel abzuschneiden, kann uns nicht genügen, zumal auch die unbequeme Tatsache: „Großbritannien" den Rassetheoretikern alle ihre Zirkel verwirrt hat. Houston Stuart Chamberlain, ihr geistliches Oberhaupt, hat gegenüber der Tatsache, daß hier der angeblich rassemäßig so edle „homo europaeus septentrionalis" sich so rassewidrig aufführt, alle Haltung verloren und der von ihm bisher bekämpften Theorie von dem entscheidenden Einfluß der sozialen und wirtschaftlichen Umgebung soviel einräumen müssen, daß - jeder außer ihm selbst und seiner Gruppe muß das einsehen - die ganze Rassentheoretik auch vor dem Forum der öffentlichen Meinung ebenso bankrott ist, wie schon längst vor dem Tribunal der Wissenschaft. Wir folgen der bewährten Methode der Logik, wenn wir zuerst die gehörige Generalisation vornehmen, um ihr erst dann die Spezifikation folgen zu lassen. Daß alle Menschen einen Grundstock gemeinsamer Anlagen haben, steht fest; ebenso, daß sie im großen und ganzen auf gleiche Einwirkungen gleichmäßig reagieren. Ferner steht fest, daß der weiße Europäer im ganzen eine leiblich und seelisch wohlcharakterisierte Gruppe innerhalb der Menschheit darstellt, deren sämtliche Mitglieder wieder auf bestimmte Einwirkungen gleichmäßig reagieren. Daß der Nordeuropäer sich vom Südeuropäer in manchen Dingen unterscheidet, ist ebenfalls sicher: es fragt sich nur, ob diese Unterschiede rassenmäßig begründet sind, d. h. aus der ursprünglichen Anlage der in der Kreuzung eingegangenen Elemente stammen - oder ob hier die Einflüsse des Klimas und der Geschichte aus ursprünglich gleichen Substraten verschiedene Formen der Menschlichkeit entwickelt haben. Das

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ist es gerade, was wir zu untersuchen unternommen haben. Wir werden hoffen dürfen, unsere Aufgabe einigermaßen gelöst zu haben, wenn es uns gelingt, daß das Verhalten auch des „Nordeuropäers" unter unseren Gegnern, Englands, aus unserem Erklärungsprinzip einigermaßen abzuleiten. Nach der von mir vorgenommenen, grundsätzlichen Erweiterung der allzu engen „ökonomistischen" Geschichtsauffassung - von der wieder die Marx-Engelssche „materialistische" eine noch engere Variante ist - wirken auf Seelenbeschaffenheit, Haltung und Handlung der Völker nicht nur die wirtschaftlichen, sondern vor allem die sozialen Dinge, d. h. die aller Wirtschaft als Voraussetzung zugrunde liegende Klassenscheidung und -Schichtung, gewaltig ein. Versuchen wir es, vom Standpunkt meiner „sozialökonomischen Geschichtsauffassung" dem Problem näher zu kommen, das uns beschäftigt. Was wir bis jetzt von der allmenschlichen und in specie alleuropäischen Psychologie beachtet haben, ist nicht allzuviel. Es beschränkt sich auf einen tiefen Gegensatz der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsauffassung. Oben glaubt man an den „Legitimismus", unten an das „Naturrecht". Ich darf meinen „Staat" zitieren: „Der Legitimismus rechtfertigt Herrschaft und Ausbeutung überall mit den gleichen anthropologischen und theologischen Gründen. Die Herrengruppe, die ja Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden des Mannes anerkennt, erklärt sich selbst, die Sieger - und von ihrem Standpunkte aus ganz mit Recht - als die tüchtigere, bessere ,Rasse', eine Anschauung, die sich verstärkt, je mehr die unterworfene Rasse bei harter Arbeit und schmaler Kost herabkommt. Und da der Stammesgott der Herrengruppe in der neuen, durch Verschmelzung entstandenen Staatsreligion zum Obergott geworden ist, so erklärt sie - wieder von ihrem Standpunkte ganz mit Recht - die Staatsordnimg für gottgewollt, für ,tabu\ Durch einfache logische Umkehrung erscheint ihr auf der anderen Seite die unterworfene Gruppe als solche schlechterer Rasse, als störrisch, tückisch, träg und feig und ganz und gar unfähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; und jede Auflehnung gegen die Herrschaft muß ihr notwendig als Empörung gegen Gott selbst und sein Sittengesetz erscheinen. Darum steht die Herrengruppe überall in engster Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen ergänzt und an ihren politischen Rechten und ökonomischen Privilegien ihren Anteil hat. (...) Auf der anderen Seite entsteht als Gruppentheorie der Unterworfenen überall dort, wo die den .Staat' heiligenden religiösen Vorstellungen schwach sind oder werden, heller oder dunkler die Vorstellung des ,Naturrechts'. Die Unterklasse hält den Rassen- und Adelsstolz für eine Anmaßung, sich selbst für mindestens so guter Rasse und guten Blutes, und wieder mit vollem Recht, weil für sie Arbeitsamkeit und Ordnung die einzigen Tugenden darstellen. Sie ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie mit ihren Gegnern verbunden sieht, und ist ebenso fest, wie der Adel vom Gegenteil, davon überzeugt, daß die Privilegien der Herrengruppe gegen Recht und Vernunft verstoßen. Auch hier hat alle spätere Entwicklung den ursprünglich gegebenen Bestandteilen keinen wesentlichen Zug beifügen können." Das ist, wie gesagt, nicht viel. Aber es gibt neben diesem kontradiktorischen Gegensatz auch noch eine Gemeinsamkeit, die bisher von Soziologen und Historikern nicht genügend beachtet worden ist. Sie besteht darin, daß die Lebenshaltung und Lebensauffassung der Oberklasse überall das Vorbild der Unterklasse ist, dem sie nacheifert und das sie zum wenigsten überall da bewundert, wo sie die Unmöglichkeit einsieht, auch nur vom fernsten sich ihm nähern zu können. Mögen die zuerst dargestellten Gegensätze dem Menschen der Unterklasse noch so stark und noch so klar bewußt sein, wie es ζ. B. in den modern-kapitalistischen Staaten bei den Arbeitern der Fall ist; trotz alledem wirkt hier einmal das Gesetz der „Nachahmung", das Gabriel Tarde in krasser Ubertreibung zum Hauptschlüssel aller Sozialpsychologie machen will, mit voller Kraft.

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Wir treffen es überall. Die Tracht der „Herren" wird bei allen Völkern von der Unterklasse nachgeahmt, wo nicht Luxusgesetze streng durchgeführt werden. Die „Volkstrachten" von heute sind längst als Abkömmlinge alter Herrentracht erkannt worden; unsere deutschen Dienstmädchen sind im Sonntagsstaat von ihren „Damen" nur für ein scharfes Auge unterscheidbar. Ja, man glaubt sogar, daß die Flachkopf-Indianerinnen die weichen Köpfchen ihrer Säuglinge deshalb zwischen Bretter schnüren, weil sie den Wunsch haben, ihnen die hochgeschätzte Kopfform ihrer oberen Klasse zu verleihen. Das gilt aber nicht nur für die Tracht, sondern fast noch stärker für die gesamte Haltung des Lebens und Trachtens. Wie der oft gehaßte, aber immer bewunderte Halbgott der Herrenklasse sich hält, das ahmt der Mensch der Unterklasse getreulich, oft genug „sklavisch" nach - es ist kennzeichnend, daß man von sklavischer Nachahmung sprechen darf! - sein Haß und seine Liebe, seine Antipathien und Sympathien, seine Ideale, vor allem wirken gewaltig nach unten in die Tiefe und Breite - soweit nicht jener große durchgreifende Gegensatz in der Bewertung von Staat, Recht und Wirtschaft in Frage kommt. Es ist fast unnötig, Beispiele anzuführen. Immerhin mag an einiges erinnert werden. Der deutsche Arbeiter ist im tiefsten Herzen trotz alles theoretischen Anti-Militarismus und Pazifismus ein glühenden Bewunderer unseres Heerwesens und seines kriegerischen Ruhmes. Der britische Arbeiter liest nichts mit so viel Leidenschaft wie die echt englische, immer wiederkehrende Erzählung von dem armen Knaben oder Offizier oder sonst etwas, der durch einen glücklichen Unglücksfall zu einer Lordschaft samt dem zugehörigen Rieseneinkommen gelangt. „Peter Simpel", „Die Ansiedler in Canada", „Der kleine Lord": Immer dieselbe Geschichte, die ihn doch wahrhaftig wenig angeht, da er keine Peership zu erwarten hat, selbst wenn seine sämtlichen männlichen Verwandten plötzlich hingerafft würden. Die „poor white" der Südstaaten waren mindestens so fanatische AntiAbolitionisten wie die Sklavenhalter selbst, obgleich ihre Notlage und Entwürdigung offenbar in der Sklaverei wurzelte. Die gehobenen Arbeiter der ganzen anglo-sächsischen Welt, vor allem in Neuseeland, haben keinen größeren Ehrgeiz, als das Leben von „Gentlemen" in jeder Beziehung, wenn nicht zu führen, so doch nachzuahmen: sie halten sogar, zum starken Unterschied gegen die meisten ihrer Klassengenossen in Europa, an dem „gentlemanliken" allsonntäglichen Kirchenbesuch eisern fest. Und daß die Mittelklasse aller Welt sich mit Erfolg bemüht, sich durch ihre Nachahmung der oberen lächerlich und unausstehlich zu machen, braucht kaum erwähnt zu werden: Humoristen und Satiriker aller Literaturen haben hier den reichsten Stoff der Komik gefunden. Unter diesen Umständen ist es offenbar von der größten Wichtigkeit, den Charakter der Herrenklasse eines Volkes, das Modell, zu studieren und womöglich zu erklären, wenn die Aufgabe gestellt ist, die Psyche des Volkes selbst, der Nachahmung, zu analysieren. Wo so starke Unterschiede der Lebens- und Weltanschauung der Völker bestehen, wie die, von deren Feststellung wir ausgegangen sind, da soll man aufmerken, ob nicht vielleicht die Oberklassen sich von einander entsprechend unterscheiden, und warum sie sich unterscheiden? Finden sich keine Unterschiede, oder scheinen sie zur Erklärung nicht hinzureichen, so mag man traurig auf die nichtssagende Scheinerklärung aus der „Rasse" zurückgreifen, aber nur als vorläufige Beruhigung, bis zur besseren Erkenntnis. Die Oberklasse als gesellschaftliches Modell und Ideal, das ist in Europa noch fast überall der Großgrundbesitzer - wohl nur in den Vereinigten Staaten steht seit dem Sezessionskriege der Großherr des mobilen Kapitals an der Spitze der sozialen Pyramide. Wo immer sonst, wenigstens in den größeren Staatengebilden, das alte Blutpatriziat des Grundadels sich schon mit dem neuen Kapitalsadel zu einer Nobilität oder Nuova gente verschmolzen hat, da mag in allen politischen und wirtschaftlichen Dingen der neue Adel seine Sonderinteressen durchsetzen: in gesellschaftlicher Haltung und allgemeiner Auffassung unterliegt er der gleichen gewaltigen Suggestion der alten, als vornehm geltenden, als vornehm seit langen Zeiten eingebürgerten Lebensform und Lebensan-

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schauung. Nicht ganz und gar, nicht restlos, selbstverständlich! Daß ζ. B. in Großbritannien das Duell völlig außer Übung gelangt ist, beweist zusammen mit der kühlen Verachtung des Wehrstandes, auch des Offiziersstandes, daß das moneyed interest auf der ganzen Linie über das landed interest gesiegt hat. Schon v. Ihering hat gezeigt, daß des Kaufmanns Ehre in seinem Kredit steckt, wie die des Grundadeligen in seinem kriegerischen Mut und des Bauern in seinem Landbesitz: und so hat jeder Stand seinen eigenen Ehrenstandpunkt und Ehrenschutz, und Großbritanniens Kaufmannsadel braucht kein Duell mehr. Aber im übrigen ist das alte Ideal des „gentle man", des Edelings, noch heute das des „Gentleman". Wer es sich irgend leisten kann, strebt nach Grundbesitz, „um damit zu spielen", wie Lloyd George sagte, ehe er andere Sorgen hatte als die Heranschaffung der nötigen Munition gegen die Barbaren. Luxusbesitz mit alten halls und riesigen Kaminen, mit Ritterrüstungen, Fasanengehegen und Forellenbächen, Fuchsjagden und Golfplätzen - das muß der reiche Brite haben, um ganz zur großen Gesellschaft zu gehören. In Deutschland und Osterreich ist es nicht anders: die neugebackene Plutokratie sucht krampfhaft Verschwägerung mit dem alten Adel und strebt über eigenen Grundbesitz und womöglich Fideikommisse die volle eigene Aufnahme in den begehrten Stand an. Wo sich noch keine starke Oberschicht des mobilen Besitzes gebildet hat, wie in Rußland, Italien, Rumänien - da herrscht natürlich die Grundaristokratie politisch und gesellschaftlich völlig unumschränkt. Nur, daß die Bojaren und Knese eines barbarischen Landes ihre Modelle auswärts, in der bewundernswerten Oberklasse eines reicheren und vorgeschritteneren Landes, suchen und finden - vor allem in Paris und auf den Landbesitzen der Engländer. Nicht darin unterscheidet sich also unser Deutschland und sein Verbündeter von unseren Gegnern, daß der Großgrundbesitzer das Vorbild und Muster der nichtagrarischen Oberklasse, der Mittelklasse und weithin auch der Unterklasse ist: wohl aber unterscheidet sich der deutsche durchschnittliche Grundbesitzer von den Standesgenossen der feindlichen Länder durch einen, wie ich glaube, entscheidenden Zug: er arbeitet und sie nicht! Er ist Selbstwirtschafter und sie sind Rentenbezieher. Der Unterschied beruht nicht auf der „Rasse"; denn der Hauptstock allen west-, mittel- und südeuropäischen Adels rühmt sich ja mit mehr oder weniger Recht, des gleichen germanischen Blutes zu sein: Franken, Sachsen Burgunden, Langobarden, Normannen, Ost- und Westgoten haben von der Nordsee bis nach Nordafrika und Sizilien ihre schwerterprobten Männer als Waffenadel über die unterworfenen Provinzen des Römerreiches gesetzt. Es liegt auch nicht daran, daß das germanische Blut sich in Deutschland besonders rein von keltischer, ligurischer, rätischer, romanischer Beimischung gehalten hat - sondern es liegt an der geschichtlichen Entwicklung der Klassen und der gegenwärtigen wirtschaftlich sozialen Verumständung. In ganz Westeuropa, auch überwiegend in Westdeutschland, - und das beweist, daß die Rassenmischung unschuldig ist, - hat die Entwicklung mit Notwendigkeit dahin geführt, das der Großgrundbesitz sehr überwiegend zur reinen Rentenanstalt geworden ist, - während nur auf dem „Kolonialboden" östlich der Elbe und Saale und an der Donau, da wo das Germanentum unterwerfend und organisierend in das Slawentum eingedrungen ist, die Entwicklung der Selbstbewirtschaftung günstig war, ja oft sie fast erzwang. Das sind Dinge, die jedem Kenner der Agrargeschichte geläufig sind. Nirgend aber drängte die Entwicklung im Osten so gebieterisch zur Selbstbewirtschaftung des Großgrundbesitzes, wie auf dem Gebiete der beiden starken Staaten deutscher Herrschaft und überwiegend slawischer Landbevölkerung: in Brandenburg-Preußen und Deutsch-Österreich. Denn hier war der Ritterbesitz ursprünglich mit geringen Ausnahmen klein und arm und hat sich durchschnittlich niemals zu so bedeutender Einzelgröße erheben können, wie weiter östlich in Polen, Böhmen, Rußland, Ungarn und Rumänien, wo eine wieder anders verlaufende Entwicklung durchschnittlich viel größere Einzelbesitzungen ins Leben stellte. Ich will nur andeuten, daß hier überall die Geldwirtschaft schon einsetzte, ehe die feudale Staffelung ihre volle Reife erlangt hatte, ehe also

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der primäre Eroberungsgroßbesitz durch massenhafte Vergebung an den Grundadel zweiter Stufe, die Ministerialen, so stark gestückelt und zersplittert war, wie weiter westlich. Und daß infolgedessen kein starkes Fürstentum vorhanden war, das den Bauern vor der Aufsaugung durch den Grundadel so wirksam schütze wie in Altpreußen - im spät gewonnenen Schwedisch-Pommern war es anders - und in Deutsch-Österreich. Hier allein war im großen - einzelne Ausnahmen von Großgrundrentnern in diesem Gebiet beweisen ebensowenig gegen die Regel wie einzelne Selbstwirtschafter ζ. B. in Französisch-Lothringen und weiter westlich und in Großbritannien - hier allein war der Ritterbesitz einerseits geschlossen genug, um Selbstbewirtschaftung zu erlauben, und klein und arm genug, um sie von dem Augenblick an zu erzwingen, wo man dem Besitz ein größeres Einkommen abfordern mußte, um die Lebenshaltung von Mitgliedern der Oberklasse bestreiten zu können. Denn die Verpachtung kann natürlich niemals das Einkommen abwerfen wie die Selbstbewirtschaftung. „Das Auge des Herrn läßt Vieh und Feld gedeihen" - und auf kleinerer Fläche drückt sich die persönliche Qualifikation des Wirtes in Ziffern aus, die neben der reinen Grundrente gewaltig zu Buche schlagen können. So ist durch einen Komplex historischer Bedingungen und wirtschaftlicher Faktoren, der Herrenstand Deutschlands in seiner großen Masse ein Stand von Arbeitern, wenigstens von Wirten geworden, während die Herrenklassen unserer sämtlichen Gegner Stände von reinen Rentenbeziehern geworden sind. Die Behauptung wird man uns für Großbritannien, Italien, Rußland und Japan, vielleicht mit Einschränkungen, zugeben; für Frankreich aber werden manche geneigt sein, sie zu bestreiten. Das wäre aber falsch. Frankreich ist allerdings in weit überwiegendem Maße ein Land des Kleinbetriebes, aber durchaus nicht des Kleinbesitzes. Es hat einen Großgrundbesitz, der an Zahl der Einheiten und Wert dem Deutschlands kaum nachsteht, wenn auch die Durchschnittsgröße bedeutend geringer ist. Die Zahlen sind nicht vergleichbar, weil man in Deutschland die Betriebe nach der landwirtschaftlichen Nutzfläche, in Frankreich aber nach der Gesamtfläche ordnet: immerhin nahmen 1892 die Betriebe über vierzig Hektar - und das sind für französische Verhältnisse mindestens so gut Großbetriebe wie solche über hundert Hektar in Deutschland - 37% der landwirtschaftlich genützten und 37,1% der Gesamtfläche ein. Diese größeren Betriebe sind überwiegend verpachtet, und das gleiche gilt von unzähligen Mittel- und Kleinbetrieben. Der Grundbesitz ist also vorwiegend Rentensubstrat, nicht aber das Produktionsmittel eigener Bewirtschaftung, genau wie in England. Wenn ein Unterschied besteht, so ist es der, daß die englische Grundrente zum allergrößten Teile sehr wenigen Riesenbesitzern zufließt, die infolgedessen den maßlosesten Luxus entfalten können, während in Frankreich die Rente sich auf viel mehr und infolgedessen viel weniger reiche Besitzer verteilt. Hier überwiegt der Typus des städtischen Rentners, der einen Teil seines Kapitals in Grund und Boden angelegt hat und durch Verpachtung verwertet. Italien steht mit seinen grundbesitzenden und renteziehenden städtischen Patriziern im Norden und seinem agrarischen Großbesitz im Süden etwa in der Mitte. Hier haben wir also einen wichtigen Unterschied in der wirtschaftlichen Lagerung unserer Herren· und sozialen Modellgruppe gegenüber denen unserer Gegner. Versuchen wir, ihn sozialpsychologisch auszuwerten. Unser Gutsbesitzerstand in seiner großen Masse arbeitet. Namentlich auf den kleinen Gütern, die die Masse des Großgrundbesitzes bilden, dirigiert der Eigentümer die Wirtschaft oft ganz selbständig mit Hilfe untergeordneter Beamter von geringerer Fachtüchtigkeit als seine eigene. Selbst dort, wo ein gehobener Fachmann den Betrieb mit mehr oder minder Selbständigkeit als Beamter leitet, leistet der Besitzer in der Regel die Arbeit der Aufsicht, der Kontrolle, der letzten Entscheidung über Maßnahmen und Änderungen des Betriebes, die obere Finanzverwaltung usw. Arbeit aber ist das einzig mögliche Fundament aller Sittlichkeit und Tüchtigkeit. Daß wir Deutschen das sämtlich im Tiefsten empfinden, würde nicht viel beweisen: es könnte aufgefaßt werden

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als erste Wirkung jenes sozialpsychologischen Grundgesetzes, kraft dessen die Ideale der Oberschicht die des ganzen Volksbaues sind: aber zum Glück ist alle Ethik seit Aufhebung der Sklaverei in dieser Beziehung einig. Wer nicht arbeitet - es muß nicht auf Erwerb zielende Arbeit sein, und es braucht nicht wirtschaftliche Arbeit, es kann auch geistige oder künstlerische Arbeit sein, wenn es nur ernste, stetig auf ihr Ziel gerichtete Arbeit, kein Spiel, kein Dilettantismus ist - wer nicht arbeitet, kann nicht tüchtig, nicht eigentlich sittlich sein. Denn nur, wer in diesem Sinne und Geist arbeitet, hat ein über-, ein außerpersönliche Ziel seines Lebens. Mag die Arbeit zuerst nur als Mittel des Erwerbs erscheinen und es sekundär immer bleiben: wer recht arbeitet, dem wird die Arbeit Selbstzweck, Freude, Lebensinhalt, hebt ihn über die persönliche Selbstsucht empor, rückt ihm die großen, allgemein bleibenden Zwecke in den Mittelpunkt und seine eigenen kleinen, flüchtigen Sonderzwecke weit in die Peripherie des Geschehens. Das Werk wird ihm wichtiger als die Person, er wird stark zu Opfern, eben weil es wichtiger ist: hier liegt allen Bürgersinns tiefste Wurzel bloß. So freudige, adelnde Arbeit kann der Mensch überall leisten, wo er nicht zum Maschinenteil entwürdigt ist: an der Hobelbank, am Schreibtisch des Gelehrten, an der Staffelei des Künstlers, am Rechentisch des Kaufmanns, auf der Kommandobrücke eines Seeschiffes. Aber kaum irgendwo ist es so freudig zu arbeiten, zwingt sich dem Arbeitenden die Demut der eigenen Stellung und die Heiligkeit des Werkes so stark auf wie in der Landwirtschaft, wo die ewige Natur mitarbeitet und widerstrebt. Ist gar die Scholle, auf der man arbeitet, Urväterscholle, Heimat des Geschlechtes seit langer Zeit, so wachsen die seinen Blüten Selbstverzicht und Hingabe an das Große, das Volk, das Vaterland, die Menschheit nirgend leichter zu reifen Früchten aus als hier. Das gilt vor allem für den erbgesessenen Bauern, denn wie in seiner Arbeit, so ist auch in seinen Rechten nichts, was vor den strengsten Forderungen der Ethik nicht zu bestehen vermöchte. Sein Eigentum beruht ganz und gar auf „eigenem Tun", ganz auf dem „ökonomischen" und durchaus nicht auf dem „politischen Mittel" meiner Bezeichnung; es ist nicht im mindesten „Monopol", d. h. ein Eigentum, dessen Wert darauf beruht, daß andere vom gleichen Eigentum ausgeschlossen und daher faktisch zur ungenügend entgoltenen Arbeit bei den Monopolisten gezwungen sind. Es gilt weniger für den Großgrundbesitzer, auch den selbstwirtschaftenden, arbeitenden. Denn sein Eigentumsrecht an sich kann vor dem Grundgesetz der Ethik nicht bestehen. Es beruht auf dem „Tun anderer"; es verdankt seine Entstehung dem politischen und nicht dem ökonomischen Mittel, d. h. es führt nicht auf Arbeit, sondern auf Gewalt und Eroberung als seine letzte Wurzel zurück; - und es ist Monopol: sein Wert beruht auf nichts anderem als darauf, daß die große Masse, vom eigenen Besitz durch seine Existenz selbst ausgesperrt, gezwungen ist, auf ihm gegen eine Entlohnung zu dienen, die dem Eigentümer das arbeitslose Einkommen der „ Grundrente" übrigläßt. Darum stehen Recht, Ordnung und Sittlichkeit überall dort am höchsten, wo der freie Bauer als oberste Schicht den Ton des nationalen Lebens angibt. Wir denken an die Schweiz, an Württemberg, an Friesland, an Norwegen, das niemals einen Großgrundbesitz und einheimischen Adel gekannt hat. Wo aber der Großgrundbesitzer als herrschende Klasse den Ton angibt, da haben wir zunächst die immer böse doppelte „Moral": eine für die Herren und eine für die Untertanen. Und die der Herren ist auch in den besten Fällen nicht die beste. Neben hohem persönlichen Mut und einer oft erfreulichen Freigebigkeit, die allerdings leicht in Verschwendungssucht entartet, charakterisiert sie - selbstverständlich bei so leichten Lebensbedingungen! - immer eine starke Leichtlebigkeit, namentlich die Neigung zu dem dreifachen W: Wein, Weiber und Würfel. Der weinfrohe, integrierende und meuternde, und in Liebesangelegenheiten mehr als nur freie Olymp der Hellenen ist das auf den Himmel projizierte getreue Bild einer ritterlichen Adelsklasse. Darum unterscheiden sich Bauernvölker und Junkervölker in ganz typischer Weise voneinander. Dort eine überaus große Gewissenhaftigkeit gegenüber den Verpflichtungen, ehrbare Lebenshaltung, große Keuschheit und Nüchternheit bis zum sittlichen Rigorismus - hier Liebenswürdigkeit

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und Laxheit und eine viel geringere Zuverlässigkeit. Die Geschichte hat uns zwei Gegensätze der Art auf den Präsentierteller gelegt; in beiden Fällen handelt es sich um Nationen von der nächsten Rassenverwandtschaft, in deren einer der Bauer, in deren andere der Junker herrscht. Das eine Paar ist das Bauernland Norwegen, in dem die einwandernden Nordgermanen nur Nomaden und Jäger vorfanden, die vor ihnen in die Polarwüsten zurückwichen - und das Adelsland Schweden, wo schon ein seßhafter Bauernstand bestand und unterworfen wurde. Jeder mit Skandinavien Handel treibende Kaufmann weiß, daß der altväterische, etwas schwerfällige Norweger seinen Verpflichtungen immer, der glänzende, fröhliche, leichtlebige Schwede aber - nicht immer nachkommt. Gösta Berling und seine Kavaliere sind in Norwegen undenkbar. Noch viel krasser ist der Gegensatz, den das zweite Paar von nahen Rassenverwandten bietet: Japan und China. Der chinesische Kaufmann hält sein Wort ohne jede schriftliche Verpflichtimg, die hier ganz ungebräuchlich ist, ohne Wanken; er wird Frau und Kinder verkaufen, aber er wird zum Termin bezahlen. Das ist die Psychologie des reinen Bauernlandes, das, wenn es je ein Feudalsystem mit Großgrandbesitz gehabt haben sollte, es gewiß seit unvordenklichen Zeiten überwunden hat. Der japanische Kaufmann aber ist überall als das unzuverlässigste und gewissenloseste Exemplar seiner Art bekannt; die japanischen Banken halten sich, bezeichnenderweise, durchweg Chinesen als Kassierer! Das ist die Psychologie eines Feudal- und Junkerlandes, κατ' έί,οχήν, wie Japan es ist! Wenn wir ein wenig nachdenken, werden wir auch in der Psychologie Gesamtdeutschlands einige Züge finden, die sich zwanglos darauf zurückführen lassen, daß auch seine Herrenklasse ein altdeutscher Stand von Großgrundbesitzern und Großrentenbeziehern ist. Auch wir sind durchaus nicht frei von der „doppelten Moral" für oben und unten, von einer gewissen Laxheit und Leichtlebigkeit. Aber das alles muß natürlich um so mehr zurücktreten, je mehr der „Junker" seiner ganzen Lage und Haltung nach sich dem Bauern nähert, d. h.: je kleiner der durchschnittliche Besitz ist, und je angespannter der Eigentümer auf ihm mitarbeitet. Das Einkommen des selbstwirtschaftenden Großgrundbesitzers setzt sich aus zwei sehr verschiedenen Bestandteilen zusammen: der arbeitslos ihm zufließenden Grundrente und dem „Untemehmerlohn" seiner Arbeit. Der erste ist als Monopoleinkommen ethisch illegitim, der zweite durchaus legitim; je mehr der zweite den ersten überwiegt, und das ist um so stärker der Fall, je kleiner das Gut und je intensiver es bewirtschaftet wird, um so mehr beherrscht der Eigentümer selbst - und damit das ganze Volk, dessen Modell er ist, die Psychologie der freien Bauern, um so weniger die des Junkers. Nun ist der ostelbische Großgrundbesitz im Verhältnis zu dem anderer Länder durchschnittlich klein, und er wird je länger je intensiver bewirtschaftet. Daraus folgt, wenn der Obersatz anerkannt wird, von dem wir ausgehen, daß in Deutschland die Psychologie des freien Bauern sich von jeher stark mit der des Grundrentners gemischt und immer mehr Raum gegen sie in dem Maße gewonnen hat, wie der Anteil des Unternehmerlohnes am Gesamteinkommen immer größer, der der Rente immer kleiner wurde. All das folgt bereits aus der Tatsache, daß der deutsche Herrenstand arbeitet. Aber man kann noch mehr ableiten, wenn man die Sonderart seiner Arbeit ins Auge faßt. Es ist ein landwirtschaftlicher Betrieb, in dem er tätig ist, und das bedingt gegenüber den städtischen Betrieben des Handels und der Gewerbe einen starken, auch ethisch bedeutsamen Gegensatz, den ich zuerst aufgedeckt habe. Es besteht nämlich zwischen den Landwirten eine ganz andere Art der Konkurrenz wie zwischen gewerblichen Unternehmen. Herrscht hier der „feindliche Wettkampf" bis aufs Messer mit dem Ziele der Vernichtung des Nebenbuhlers, so herrscht zwischen den Landwirten der „friedliche Wettbewerb", der den Fachgenossen nicht zu vernichten, sondern lediglich durch höhere Leistung zu übertreffen trachtet. Dort Disharmonie, Zersplitterung, hier Harmonie und Solidarität als Folge. Der große Kitt allen sozialen Lebens, das Gefühl: „Einer für alle

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und alle für einen", ist im Landmann gegenüber den Nachbarn lebendig, nicht aber im Städter, der sozialpsychologisch gerade umgekehrt gelagert ist. Weiter: dieser Betrieb ist ein Großbetrieb. Und darum muß der Eigentümer erstens alle Eigenschaften des Organisators entwickeln; die sorgfältig durchdachte Ineinanderordnung von Stoffen und Menschenkräften; Voraussicht: schnelle Anpassung an den Wechsel der Witterung, der Märkte, der Technik; die Kunst der Menschenbehandlung und Menschenführung, um die höchste Leistung herauszuhämmern. Und er muß zweitens auf die strengste, peinlichste Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit das höchste Gewicht legen. Denn ohne das strömt bekanntlich der Reinertrag eines Großbetriebes aus unzähligen kleinen Löchern fort. Schmutz deckt die Löcher zu, und Unordnung und Unpünktlichkeit verhindern ihre Entdeckung. Das alles gilt noch mehr vom landwirtschaftlichen als vom städtischen Großbetriebe, der bei gleichem Umsatz und Umfang durchschnittlich viel weniger vielseitig und vielfältig ist. Und schließlich: es ist ein landwirtschaftlicher Großbetrieb. Das bedeutet Vorausberechnung und Disposition für eine Frist, wie sie in wenigen Fabrik- und Handelsbetrieben überspannt werden muß, auf ein Jahr zum mindesten im Wirtschaftsplan, auf viele Jahre in Bauten, Forst- und Obstkultur usw. Das muß die Eigenschaften des Organisators und Disponenten noch höher entwickeln als beim durchschnittlichen städtischen Unternehmer. Und ferner: die Fläche ist begrenzt, ist keiner Erweiterung in sich fähig wie ein städtischer Betrieb, der ins Grenzenlose wachsen kann. Aber die Aufgabe stellt sich gebieterisch, der begrenzten Fläche immer steigende Erträge abzuringen. Denn mit der Kulturentwicklung steigen die persönlichen Ansprüche an die Lebenshaltung und auf der anderen Seite die Kosten des Betriebes: die Löhne und leider auch die Schuldzinsen. Wer nicht „unter den Schlitten kommen will", muß daher trotz allem Konservatismus im Politischen ein Neuerer in allem Technischen sein, ein Experimentator, ein Fachmann, der alle Fortschritte seiner Kunst verfolgt, ein Neuerer, ein Wagender. Es darf keinen alten Schlendrian geben, das kostet Geld; eine erprobte Neuerung muß eingeführt werden, und das Geld dafür muß beschafft werden; Schwierigkeiten sind nur dazu da, um überwunden zu werden, nichts darf unmöglich heißen. Was einmal beschlossen wurde, muß sorgfältig vorbereitet und dann mit letzter Zähigkeit durchgehalten werden, unter den größten Opfern, Verzichten und Anstrengungen; sonst geht die soziale Stellung und das geliebte Werk verloren, und die Auswahl des Angepaßten im Kampf ums Dasein setzt einen besseren oder glücklicheren Mann an die erledigte Stelle, der leisten kann, was sie von ihm erfordert. Wenn derart alles erfreulich ist, was sich aus der Sonderart der technischen Arbeit im landwirtschaftlichen Großbetrieb für den Besitzer ergibt, so ist weniger erfreulich, was sich ihm nach der sozialen Seite hin ergibt. Er ist auf die Mitarbeit von Menschen angewiesen, die sein Recht entrechtet, die sein Eigentum enterbt hat, und die sich dieser Tatsache mehr oder weniger klar bewußt sind. Daraus müssen sich Gegensätze ergeben, die es nur in Ausnahmefällen möglich sein wird [sie], mit sanfter Hand und sanften Worten zu überwinden. In der Regel werden sie nicht anders als mit großem Nachdruck der Worte und Gesten zu überwinden sein, und das muß fast mit Notwendigkeit herrische Schroffheit und äußerlich auftrumpfende Schneidigkeit bei den Arbeitsleitern erzeugen. Wenn wir in Deutschland nicht mit Unrecht über den „Unteroffizierston" und den übertriebenen Schneid vieler, nicht nur der grundbesitzenden Kreise zu klagen haben, so liegt hier, wie ich glaube, die Hauptwurzel dieser in der Tat unholden Art bloß, die uns im Auslande viel mehr geschadet hat als sie wert ist. Der Fremde sieht eben nur die Außenseite, die wenig gepflegte Fassade mit der „borussischen Wolfsfratze", wie Hugo Ganz das Wesen einmal genannt hat, sieht nur den zwar pünktlichen und unbestechlichen, aber kurz angebundenen und in Konfliktfällen gründlich groben Polizisten oder Bahn- oder Postbeamten und ist über die „Barbarei" entrüstet. Könnte er durch die Fenster ins deutsche Haus hineinsehen oder gar durch die Tür hineintreten, so würde er merken, daß es sich hier vielmehr um eine eingewurzelte, allerdings nicht gerade liebenswürdige

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und kultivierte Form als um einen argen Inhalt handelt; um eine Form noch dazu, die mit einem gewissen, freilich nur dem Deutschen selbst und eigentlich nur sogar dem Preußen verständlichen Humor ausgebildet worden ist und angewendet wird. Wir Preußen, vor allem die „Gedienten", wissen, daß selbst die saftigsten „Kasernenhofblüten" im Grunde gutmütig gemeint sind. Es wäre ja gut, wenn wir sie uns abgewöhnen könnten, namentlich nach außen, nach dem Auslande hin - aber wir wollen uns unser gemütliches, sicheres, sauberes, ordentliches Heimathaus, in dem wir freier sind als fast alle sogenannten demokratischen Völker, nicht beschimpfen lassen, weil eine bärbeißige Fratze am Giebel droht. Das ungefähr ist, was die sozialökonomische Analyse aus der „Verumständung" des deutschen Grandbesitzers abzuleiten vermag. Wie steht es um die reinen Rentenbezieher in der Oberklasse unserer Nachbarn und Gegner? Wenn Arbeit aller Tüchtigkeit und eigentlichen Sittlichkeit einzige Grandlage ist, so entbehren sie dieser Grandlage an sich durchaus. Sie können sie sich selbstverständlich durch Arbeit auf irgendeinem anderen Gebiet schaffen und tun es auch oft genug, indem sie die vortreffliche materielle Versorgung, deren sie sich erfreuen, vornehm benützen. Eine Reihe glänzender Gelehrter, großer Künstler, tiefer Denker hat die Oberklasse Englands, Frankreichs, sogar Rußlands hervorgebracht: Männer wie Saint-Simon, Shaftesbury, Tolstoi stehen ebenbürtig unter allen anderen. Es ist denn auch ein Argument, das die Verteidiger der reinen Grundrentner seit fast zwei Jahrhunderten immer wieder den Angriff der Gegner auf die „Drohnen" entgegenhalten, daß eine von keinen wirtschaftlichen Sorgen beschwerte Klasse vorhanden sein müsse, um die höchst notwendigen „Luxusfunktionen" der Völker zu übernehmen, die Leistungen, die nicht der Notdurft des Tages, sondern der Bereitung der Zukunft und Verschönerung der Gegenwart dienen. Es liegt uns also durchaus fern, behaupten zu wollen, daß die sozialökonomische Lagerung des reinen Grundrentners ihn verhindert, sich nützliche Arbeit und damit das Fundament der Tüchtigkeit und Sittlichkeit zu schaffen. Aber das ist der springende Punkt, daß er eines besonderen Triebes oder Anstoßes bedarf, um diesen Boden zur Entwicklung seiner „Persönlichkeit" zu finden, und einer ganz besonderen Anlage, um sich beharrlich auf ihm zu halten, während Leben und Beruf selbst unseren deutschen Grandbesitzer darauf stellen und, mag er wollen oder nicht, darauf festhalten. Wer den Menschen und seine angeborene Trägheit und die Kraft der Versuchungen kennt, die gerade den Reichen ablenken wollen, der wird zu dem Schlüsse gelangen, daß die Lagerung in Westeuropa wahrscheinlich einige besonders hervorragende Männer mehr hervorbringen wird, die ihre Muße den großen Dinge der Ewigkeit widmen - daß aber die Lagerung der Klasse in Deutschland unbedingt einen weit besseren, tüchtigeren Durchschnitt ergeben muß. In der Tat ist in den Grundrentenländern die Zahl der Männer, die durchaus nichts Ernstes tun, der reinen Drohnen der Gesellschaft, im Verhältnis zu Deutschland sehr groß, und weitaus der größte Teil der jeunesse doree geht zum wenigsten durch eine lange, die eigentlichen Saatjahre des Mannes umfassende Periode der absoluten Untätigkeit und Unnützheit. Der in den letzten Jahrzehnten von England aus sich immer weiter verbreitende Sport, der als Gegengewicht ernster Arbeit unschätzbar ist, kann natürlich die ethischen Werte ernster Arbeit niemals erzeugen: Sport ist Spiel, und wer mit dem Leben nur Spiel treibt, muß minderwertig bleiben. Nun bietet sich von jeher, vom Attika und Rom der Antike bis zum Großbritannien, Frankreich und Italien der Gegenwart dem müßigen Herrenstande eine Beschäftigung vor allem dar: die Politikl Sie ist des Edlen vornehmste Arbeit: diese Uberzeugung ist so stark eingewurzelt, daß selbst ein liberaler Bahnbrecher wie Franko is Quesnay, der Begründer der wissenschaftlichen Nationalökonomie, der Schöpfer des physiokratischen Systems, hierin den Existenzgrund der ganzen Klasse sah. Sie ist die „classe disponible": eine Schicht muß in einem gesunden Staatswesen, dem „ordre naturel", vorhanden sein, die, weil von allem Kampf um das persönliche Dasein entbunden, dem Staatsoberhaupt für alle höheren allgemeineren Zwecke zur Verfügung steht, als Krieger, Staatsien-

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ker, Richter. Die an sich großartige Konstruktion des platonischen „besten Staates" klingt hier an; auch dort sind die „Wächter" von allem Wirtschaftsstreben gelöst, zur Verfügung des regierenden „Philosophen"; nur freilich: hier haben sie eben gerade des Lebens anständige Notdurft, aber keinen üppigen Reichtum. Jedenfalls drängen sich die Männer der Grundrentnerklasse in all den Ländern dieser sozialen Schichtung mit Vorliebe zur Laufbahn des Politikers, namentlich in dem reiferen Alter, dem das bloße Spiel mit der Existenz schon zuwider geworden ist. Welche Politik ist von ihrer sozialpsychologischen Lagerung zu erwarten? Nun, sie haben - gutgläubig in der Regel, denn es ist aller sozialen Seelenkunde Grundgesetz, daß jeder Stellung und Vorteil seiner Klasse als das Fundament aller Sittlichkeit und den Urquell aller Gerechtigkeit anschauen muß - sie haben die Stellung und das Interesse ihrer Gruppe zu vertreten. Mag das Mäntelchen, das sie sich umhängen, im ernsten Schwarz des katonischen Konservatismus oder in den hellen Farben des sogenannten „Liberalismus" erscheinen; mögen sie, wo die Mischung bereits vollzogen ist, mehr das landed oder mehr das moneyed interest verfechten, der Körper der Politik, den der Mantel deckt, bleibt der gleiche: Erhaltung der bestehenden Klassenscheidung, der bestehenden Klassenprivilegien, der bestehenden Verteilung des nationalen Einkommens; und das bedeutet hier: des bloßen Grundrentnertums mit seiner politischen und sozialen Stellung und des arbeitslosen Einkommens überreicher Müßiggänger. Das aber läßt sich mit keinem logischen und keinem ethischen Grunde in Wahrheit verteidigen, wenigstens nicht in Nationen, die sich zu der guten Botschaft des Christentums bekennen. Der Ethik und Gesellschaftslehre der katholischen Kirche war der Reichtum immer verdächtig, und gar noch müßiger Reichtum und vor allem verspielt vergeudender Reichtum war ihr immer ein Greuel. Das Wort „dives aut inquus aut iniqui heres" hat von Hieronymus und Tertullian bis auf den Bischof Ketteier das Denken und Fühlen der Kanoniker sehr stark mitbeherrscht; es gibt für den Reichtum nur eine Rechtfertigung, und das ist, ihn als officium, als Amt zu betrachten und zu verwenden. Der prassende verspielte Müßiggänger aber treibt Mißbrauch mit dem ihm von Gott verliehenen Amte. Und diese urchristliche Auffassung ist die aller natürlichen Ethik, muß sie sein! Politik treiben im Dienste einer ganzen Klasse überreicher prassender Müßiggänger heißt also: das Verurteilte verteidigen, das Unentschuldbare entschuldigen, das klare Unrecht zu Recht, die klare Unmoral zur Ethik umtauschen. Das geschieht - ausdrücklich sei es wiederholt - in der Regel gutgläubig: und dennoch bedeutet es mit Notwendigkeit in allem Moralischen den „Cant", in allem Logischen die „Phrase". Mit aller Notwendigkeit muß sich in diesen Politikern die ganze Kunst des Advokaten entwickeln, die klingende und oft klingelnde Beredsamkeit, die den Hörer nicht überzeugen, sondern überreden und womöglich überrumpeln will, die Scheinmoral der bösen Sophistik, die klaffende Gegensätzlichkeit von Bekenntnis und Handlung. Es muß zu Ärgerem noch führen, zu Dingen, die weit über das persönliche Schicksal hinaus verderbend und verpestend wirken. Kein einziger Mensch - er sei denn geistes- oder gemütskrank -, und gewiß kein ganzes Volk kann existieren, wenn es nicht seine Existenz in Ubereinstimmung weiß - oder glaubt mit den großen Richtlinien der Menschheit, die auf die ewigen Ideale der Ethik hin orientiert sind: „Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Die wahren Ideale zu bekennen verhindert diese Politiker ihre Klassenlage, die vor jenem Forum der Ethik ohne Berufung verdammt ist - und so schaffen sie sich falsche, täuschen sich und dem Volke Irrlichter als Gestirne vor. Erst war es der „Glauben", dessen Erhaltung das letzte Ziel völkischer Anstrengung sein sollte: ein Zerrglaube, der statt Liebe Haß predigt, statt zu Gott zu dem Teufel betet. Dann war es das „Vaterland": ein Zerr-Vaterland, das aller anderen Länder Stief-Vaterland sein wollte; oder es war der „Ruhm", die „gloire": ein Zerr-Ruhm, der nicht durch die Tüchtigkeit und Sittlichkeit, sondern durch äußere Herrlichkeit und rohe Gewalt glänzen wollte. Und jetzt sind alle Masken gefallen und es geht um die „Zivilisation": um eben diese Zerr-Kultur, die auf dem Grunde des

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absoluten Drohnentums erwachsen ist und vor der „Barbarei" des Honigbienentums geschützt werden soll! Freilich: daß die Drohnen die Bienen fürchten und hassen, hat seinen guten Grund! Dergestalt muß aus dem fauligen Untergrunde der sozialökonomischen Lagerung hier überall eine kernfaule Zivilisation erwachsen. Wo wahre Ideale fehlen, muß die Phrase sie ersetzen, wo die wahre Begeisterung keinen Gegenstand hat, muß der Rausch vortäuschen. Das fälscht das individuelle Leben, und Aristoteles behält recht, der αίκία και μοιχεία, Ubermut und Geilheit als die Laster seiner, jeder Grundrentner-Aristokratie bezeichnet; und es fälscht das Leben der ganzen Nation, indem es sie auf verderbliche Ziele hin hypnotisiert. Dabei kann, fast muß diese Zerr- und AfterZivilisation dem flüchtigen Blick eine sehr hohe Kultur vortäuschen; alle Elemente zu einer solchen Fassade Potemkinscher Bauten sind gegeben. Wo nur Advokatenkunst der immer schlechten Sache zu neuen Siegen helfen kann, wird die Kunst der Rede sich zu weit höherer Vollkommenheit ausbilden, als dort, wo die guten und klaren Dinge selbst in der schlichten Sprache der Wahrheit für sich reden und durchdringen dürfen. Sollte die berühmte Suada der „Romanen" wirklich nur auf der „Rasse" beruhen? Daß die heitere Sonne und der Wein ihrer Heimat eine Rolle dabei spielen, soll zugegeben sein. Und weiter: wo eine reiche Klasse das Leben von Müßiggängern und Feteurs führt, da ist nichts so selbstverständlich, als daß sich alle die Freimaurerformen und -formein der „guten Gesellschaft" bis zur Vollkommenheit ausbilden und jeden ergreifen, der der Klasse angehört. Die Eleganz der Kleidung, die Durchbildung der gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche, die „Korrektheit" - die deutsche Sprache hat kein Wort dafür - der Haltung ist ja hier Selbstzweck, ist ja neben dem Vergnügen der einzige Zweck des Lebens. Eine solche Gesellschaft ruht in ihrer Statik; jede Form ist sicher, alles ist vorgesehen, jede Bahn glatt eingeschliffen, alles greift reibungslos ineinander und läuft ohne Knarren und Stockung umeinander; selbst für Konflikte ist die Form vorrätig: gewiß eine in sich vollkommene Welt, ein Kosmos, der zwar nicht „Kultur" ist, ihr aber täuschend ähnlich sieht. In diese heiligen Hallen bricht auch so leicht keine Störung von der Außenwelt der Nicht-dazuGehörigen ein - es sei denn die Störung der Zerstörung in Revolutionen, wie sie 1648 über die englischen und 1789 über die französischen Halbgötter hereinbrachen. Aber in halbwegs normalen Zeiten bleibt jene Außenwelt auch wirklich draußen. Nicht nur, weil die Herren sie sich mit jener grenzenlosen Verachtung vom Leibe halten, die ihr einziger Selbstschutz ist, die sie sich autosuggerieren müssen, um ihre Vorrechte sittlich ertragen zu können - sondern vor allem, weil sie mit dieser Außenwelt in gar keiner organisierten Verbindung stehen. Sie empfangen ihre Rente durch das Medium der Pächter oder Zwischenpächter: mit dem eigentlichen Arbeiter kommen sie nicht als Wirtschaftssubjekte, sondern allenfalls nur als patriarchalische Halbfürsten in Berührung, die Gnaden austeilen, der Herr fürstliche Trinkgelder, die Damen Wochensuppen und Almosen, beide freundliche Worte und gnädige Blicke. So schweben sie sozusagen im leichten Äther oberhalb des eigentlichen Lebens, wo die Dinge sich so hart stoßen, wo Menschen gröblich aneinanderecken, und wo oft ein rauhes Wort oder gar eine grobe Geste erforderlich scheinen, um alle schnell an ihre rechte Stelle zu bringen. Und so haben sie es leicht, die Heiterkeit der Olympier und die nie versagende liebenswürdige Form des Verkehrs mit allen, auch den Niedersten, zu bewahren. Kurz: die einmal gewonnene Form des Lebens wird fast nie von außen her gestört, die glatte Lasur blättert nie ab, die grobe Natur hat keine Veranlassung, durch den Firnis hindurchzubrechen; kein Windhauch zerzaust sozusagen jemals die korrekte, künstlich ondulierte und hochtupierte Frisur dieser Scheinkultur. Und das verstärkt die Täuschung, macht sie für nicht sehr scharfe Augen unerkennbar. Es lebt sich gut und angenehm in diesem Olymp, sobald einem einer der „goldenen Stühle" erst einmal eingeräumt ist. Eine arbeitende Herrenklasse kann so zu hoher Vollkommenheit niemals gelangen. Was sie hervorbringt, auch das höchst gezüchtete Exemplar, bleibt den Vollkommenen von der anderen Seite

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immer der „Junker". Er hat nicht die Zeit, um sich selbst als Juwel zu immer neuen, blitzenden Flächen abzuschleifen, die Mode zu behorchen, immer „im letzten Schiff zu fahren"; hat nicht die Zeit, um von allem zu lesen und zu wissen, was in der Welt vorgeht - nicht einmal aus Zeitungen nicht die Zeit, um es im Tennis oder Fechtsport zur letzten Meisterschaft zu bringen. Er braucht sein Geld für trivialere Dinge als Tänzerinnen und Krawattensammlungen, ζ. B. für Dreschmaschinen und Drainage seiner Acker. Er hat zu harte Dinge zu hart anzufassen, um vollkommene Hände und Nägel zu haben, und hat widerstrebende Menschen zu kraftvoll zu rücken und zu setzen, als daß er sich immer der Ausdrücke und Bewegungen befleißigen könnte, die im Salon einer geistreichen Frau geboten sind. Er wird trotz aller Wohldüfte - und er wird selten das „schicke" Parfüm des Tages haben - immer ein wenig nach Kuhstall riechen, nicht nur nach dem Pferdestall, der ja erlaubt ist und bleibt. Zugegeben: er führt ein sittliches und tätiges Leben, seine Existenz hat einen Grund und Zweck, er leistet seinem Volke das Seinige: aber er ist und bleibt der „Barbar", dem die eigentliche letzte „Kultur" ewig verschlossen bleibt. Und diese Gegensätze filtrieren nach unten durch bis in die tiefsten Schichten der gesellschaftlichen Pyramide hinab. Hierauf, so glaube ich, darf man die Tatsache zurückführen, daß es in Deutschland für eine Schande gilt, nichts zu tun, selbst für den Sohn des größten Magnaten und des reichsten Industriellen. Natürlich gibt es auch bei uns Drohnen, aber sie maskieren sich als Arbeitsbienen. Seinen „Doktor" muß man wenigstens gemacht haben und seinen Schreibtisch besitzen, an dem man angeblich gelehrte Werke schreibt oder „dichtet". In Frankreich aber, in England und Italien maskieren sich umgekehrt die Arbeitsbienen gerne als Drohnen; dort ist das vornehmste, nichts zu tun. Hierauf ist ferner, so glaube ich, die großartige Begabung der Organisation zurückzuführen, die unser ganzes Volk kennzeichnet, die ihm in diesem Kampf gegen fast die ganze Welt den Sieg bringt, die auch die Gewerkschaften und Genossenschaften der Arbeiter auszeichnet. Hierauf die zähe Ausdauer, der willige Opfermut, das großartige Staatsgefühl, die unermüdliche Arbeitslust. Bei uns „stirbt man in den Sielen", - wie unsere Herrenklasse, bei unseren Gegnern ist das Ziel, von seinen Renten zu leben wie ihre Herrenklasse. Wir haben verschiedene Begriffe von Vornehmheit, weil unsere Vornehmen verschieden leben. Der zähe Verzicht, mit dem zwei, drei Generationen von Franzosen entbehren, arbeiten und sparen, um Enkel oder Urenkel zu bloßen Rentiers zu erheben, ist uns Deutschen unverständlich. Darin sind wir den Amerikanern gleich, deren Herrenklasse ebenfalls arbeitet - und hier tritt der Sohn des Milliardärs mit zehn Dollar wöchentlich als Clerk ein, um sich emporzudienen. Und hierauf beruht, so glaube ich, schließlich die Gegensätzlichkeit unseres Lebensstils: Generalquartiermeister von Stein gegen Gabriele d'Annunzio! Und so scheint mir, daß die sozialökonomische Geschichtsbetrachtung auch hier einiges hat leisten können. Es geht auch ohne qualitas occulta und Rasse! Ich bin ein alter Gegner des deutschen Großgrundeigentums in seiner heutigen Ausdehnung. Ludwig Gumplowicz hat mich nicht mit Unrecht den „Latifundien-Marx" genannt. Und ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, daß wir nichts so dringend brauchen, wie eine starke innere Kolonisation und den Ersatz vieler Großgrundbesitzer durch Bauern und Bauerngenossenschaften. Aber ich habe niemals das Institut mit seinen Trägern verwechselt. Oft und oft habe ich es ausgesprochen, daß unsere Großgrundbesitzer eines der wertvollsten Elemente für den Neubau des Volkstums sind und dabei kaum entbehrt werden könnten. Jetzt wird man mir vielleicht glauben, daß es mir damit eben so sehr ernst war, wie mit meinem Kampf für die Bauernsiedlung. Mag ich ein „Latifundien-Marx" sein, - ich bin gewiß nicht, und war es nie, ein „Junkerfresser". Ich möchte die tüchtige Klasse als „Arbeitende" erhalten und als Rentner verschwinden sehen, zumal sie auf einem lecken Schiff fahren, von dem man sie so bald als möglich erretten sollte, um sie dem Volkstum zu erhalten. Führer der freien Bauernschaft der Zukunft, das möchte ich aus ihnen machen.

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Sollte aber die gesellschaftliche Entwicklung den entgegengesetzten Weg gehen - manche fürchten es -; sollte eine neue Oberklasse reicher Städter reiner Nur-Rentner unsere Großgrundbesitzer zu ersetzen drohen, dann würde ich zu jedem Opfer bereit sein, um diese Entwicklung zu dämpfen, und die „Junker" würden den berüchtigten „Junkerfresser" an ihrer Seite finden. Soll „an deutschem Wesen noch einmal die Welt genesen", so wird das wahrscheinlich nur möglich sein, wenn der freie stolze Bauer das Diapason der Nation bestimmt; aber es wird sicherlich unmöglich sein, wenn die Psychologie der bloßen Drohne sie beherrscht. Dann soll tausendmal lieber alles beim alten bleiben!

Nationale Autonomie [1917]1

Jahrzehnte hindurch hat es geschienen, als sei die nächste und dringendste Aufgabe der Menschheit die Lösung des sozialen Problems, der schicksalsschweren Frage, wie es möglich sei, der arbeitenden Masse einen größeren, für die Existenz als Kulturmenschen ausreichenden Anteil am Gesamterzeugnis der Volkswirtschaft zuzuführen. Jetzt aber, nachdem diese Aufgabe in Staaten höherer Kultur wenigstens so weit gelöst ist, daß man von einem eigentlichen Elend der großen Schichten nicht mehr sprechen kann, zeigt es sich, daß ein anderes, ein politisches Problem immer dringender, nein drohender seine Lösung, zum wenigsten seine Teillösung fordert; es ist das Problem der Nationalität. Bisher schien die Aufgabe nur denjenigen Staaten zuzufallen, die innerhalb ihrer Grenzen Nationen von verschiedener Abstammung, Art und Sprache umfassen. Jetzt aber stellt sie sich als paneuropäische, mindestens als westeuropäische Aufgabe. Dieser furchtbare Krieg ist nichts anderes als der katastrophale Versuch Europas, die politische Form zu finden, die seiner längst vollzogenen Verschmelzung zu einem großen einheitlichen Wirtschaftsgebiet entspricht. Wenn der Versuch mißlingt, werden neue Kämpfe folgen, neue Millionen verbluten; die Staaten werden sich mit unerträglichen Schulden belasten - und die Kultur wird sich nach den Vereinigten Staaten von Amerika flüchten müssen, wo ein ungeheures, nach Sprache, Art und Lebensgewohnheiten ganz einheitliches, noch sehr dünn bevölkertes Wirtschaftsgebiet über eine Milliarde Menschen umfassen wird ohne Kanada und Mexiko, die selbstverständlich früher oder später dem Gesetz der politischen Gravitation zufolge angegliedert werden müssen - , wenn es auch nur die durchschnittliche Volksdichte des heutigen Deutschland erreicht haben wird. Dann wird hier ein unerhörter Reichtum sein, wie er nur in einem einheitlichen Marktgebiet von so kolossaler Kaufkraft denkbar ist; ihm wird die Macht zu Lande und zur See entsprechen; Europa als Ganzes wird den Amerikanern vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen wie uns heute der Balkan erscheint, als ein Haufen interessanter Nationalitäten, die sich gegenseitig für verblaßte Ideen die Hälse abschneiden, und wird zu einem Gegenstück des heutigen Vorderasien herabsinken, zu einer wenigstens relativ armen und menschenleeren Wüstenei. Man sieht, das Problem ist ernst genug, um ins Auge gefaßt zu werden und es handelt sich nicht etwa um eine Aufgabe, die reichlich Zeit hat, in der kommenden Friedensperiode mit behaglicher akademischer Breite behandelt zu werden, sondern sie ist von der allerhöchsten Aktualität, verlangt sofort in Angriff genommen zu werden. Schon während des Krieges haben Graf Tisza den Rumänen Ungarns und Graf Berchtold den Italienern Österreichs kräftige Konzessionen gemacht, aus guten Gründen; und alle Vorstellungen, die man sich heute überall von der Neuordnung der politischen Landkarte Europas durch den Frieden macht, kreisen um das gleiche Problem. Wenn ein namhafter Berliner Gelehrter zum Beispiel mit wahrem Entsetzen jede Angliederung polnischen

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[Erstmals erschienen in: Neue Rundschau, Februar 1917; Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 189-206; A.d.R.]

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Sprachgebietes, in welcher staatsrechtlichen Form auch immer, an das Deutsche Reich ablehnte, so war sein Argument die Verzweiflung daran, daß das Problem des Friedens zwischen den Nationalitäten auch nur im groben lösbar sei. Also: ein furchtbar ernstes und unmittelbar drängendes Problem, dessen Erörterung nicht länger verschoben werden kann. Vier Staaten gibt es in Europa, die in ihren Grenzen mehrere Sprachstämme umfassen: die Schweiz, Belgien, Österreich-Ungarn und Rußland, um von den Einsprengungen kleinerer Splitter in sonst einheitlichen Nationalstaaten zu schweigen, wie den Polen, Dänen und Franzosen in Deutschland. Und ein staatlich zersplittertes Gebiet, in dem die Nationalitäten durcheinanderhausen: den Balkan. Hier überall mußte das heute europäisch gewordene Problem zuerst nach seiner Lösung im kleineren Rahmen verlangen. In der Schweiz, wo drei, mit dem Räto-Romanen sogar vier Sprachstämme nebeneinander leben, ist die Aufgabe weit genug gelöst, um gefährliche Spannungen nicht aufkommen zu lassen, fast ebenso in Belgien. Auf dem Balkan dauert der Versuch noch an, das Problem durch das Schwert, durch Ausrottung und gewaltsame Unifizierung zu lösen: das ist die Methode, die wir gerade zu umgehen wünschen. Im heutigen Rußland hat der Versuch gewaltsamer Entnationalisierung und Russifizierung sein Ziel jedenfalls nicht erreicht; und die nächste Zeit wird zu zeigen haben, ob das versuchte System noch die Kraft hat, sich aufrecht zu erhalten. Von Osterreich aber ist hier ganz besonders ausführlich zu handeln. Die Donaumonarchie hat nämlich in ihrer absolutistischen Periode, bis 1848, gleichfalls mit zäher Beharrlichkeit versucht, den herrschenden Sprachstamm, hier die Deutschen, zum staatlichen Maß aller Dinge zu machen, alle anderen Stämme zurückzudrängen, womöglich zu entnationalisieren. Der Versuch, den das humanere Reich nicht mit allen Mitteln des russischen Terrorismus betreiben konnte und mochte, scheiterte vollkommen. Von dem Deakschen Ausgleich an gab es zunächst zwei herrschende Sprachstämme in der Monarchie, die Magyaren in Trans-, die Deutschen in Zisleithanien. Während es aber den Magyaren (die relativ bedeutend zahlreicher sind - sie machen fast die Hälfte aller Einwohner von Trans aus, die Deutschen nur etwa ein Drittel von Zis und die von ihrer Landaristokratie politisch weit besser geführt wurden als die Deutschen von ihrer Bourgeoisie) gelang, sich als herrschender Stamm durchzusetzen und zu erhalten, wurden die Deutschen durch die Tschechen, Polen, Italiener, Slowenen usw. von Zugeständnis zu Zugeständnis gedrängt, ohne daß es darüber zur Zufriedenheit der Nationalitäten kommen wollte. Im Gegenteil, die Zwistigkeiten flammten immer heller auf, und zeitweilig schien der Zusammenhalt des Reiches ernstlich bedroht. Wenn auch die große Probe dieses Krieges seine Festigkeit erwiesen hat; jedenfalls war der Glauben an seine Brüchigkeit ein starker Posten in der Rechnung unserer Feinde - und einige schmerzliche Einzelerfahrungen haben ja in der Tat ihren Erwartungen entsprochen. Kein Wunder daher, daß Osterreich es war, das die ersten Schritte zur Lösung des Problems tat. Die Praxis tastete nach einem Ausweg aus der Sackgasse, in die man sich verrannt hatte, und die Denker suchten danach. Und so bildete sich allmählich der Anfang dessen heraus, was man seither die „Autonomie der Nationalitäten" zu nennen gelernt hat. Den Auftakt gab der Reichstag zu Kremsier im Jahre 1848. In der damals beschlossenen Verfassung heißt es: „Alle Volksstämme des Reiches sind gleich berechtigt. Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache insbesondere. (...) Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate gewährleistet."

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Als die Monarchie endgültig aus der absolutistischen in die konstitutionelle Regierungsform übertrat, wurde in dem berühmten und fast berechtigten § 9 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 der Kremsierer Entwurf fast wörtlich zum Gesetz erhoben und wie folgt ergänzt: „In den Ländern, in denen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält." Damit war der Entwicklung eines halben Jahrhunderts das Ziel gesteckt: ein Ziel, das jeder ohne weiteres erschauen und erfassen konnte, der das Schiff eines Staates nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu steuern entschlossen war. Aber damit war noch nicht einmal der Anfang des Weges betreten, der allein zu diesem Ziele führen konnte. Denn der § 19 gab wohl theoretische Rechte, aber er bezeichnete keine legitimen Träger dieser Rechte, und niemand dachte daran sie zu schaffen. Was ein „Volksstamm" ist, blieb im Dunkel des allgemeinen Sprachgebrauches, wurde nicht zu der juristischen Klarheit gebracht, die überall herrschen muß, wo Pflichten auferlegt oder Rechte gewährt werden. Und so konnte, nein, so mußte es dahin kommen, daß aus Wohltat Plage wurde, daß dem Kampf und Zwist der Stämme als Waffe dienen mußte, was im Interesse des Friedens erdacht und ausgesprochen worden war. Alle die Sprach- und namentlich die Schulkämpfe, die seither das öffentliche Leben Österreichs zerrissen und verbittert haben, kreisen mehr oder minder um jenen unglücklichen Paragraphen der Verfassung. Aber - der Kampf ist aller Dinge Vater. Irgendwie mußte man sich einigen, da man auf demselben Boden nebeneinander lebte, an dem zum Beispiel Tschechen und Deutsche doch auch gemeinsame wirtschaftliche, gesellschaftliche, intellektuelle, vor allem gesamtstaatliche Interessen hatten; und der Staat mußte im Notfall schlichtend und ordnend eingreifen. Und so wurden die Kämpfenden mitten im bitteren Kampf immer mehr dahin gedrängt, halb unbewußt den Boden mehr und mehr zu verlassen, auf dem der Austrag des Streites ganz und gar unmöglich ist, den der territorialen Ordnung, und den Boden zu betreten, auf dem wenigstens ein modus vivendi gefunden werden kann, den der personalen Ordnung, der „nationalen Autonomie". Der Versuch der Beilegung des Streites im territorialen Rahmen mußte gerade Osterreich sehr nahe liegen, das ja heute noch deutlicher als die meisten anderen Reiche seinen Ursprung aus dem „Territorialstaat", dem Staate der zusammeneroberten, zusammengeheirateten und zusammengeerbten Territorien erkennen läßt. Diese Territorien, die „Kronländer", sind von alters her wirtschaftliche und politische Einheiten, um ihren eigenen Schwerpunkt gruppiert, und noch nicht völlig zum Einheitsstaat verschmolzen. Hier ist das Denken der Staatslenker sozusagen räumlich orientiert und so mußte ihr erster Gedanke sein, die Streitfrage durch räumliche Abgrenzung zu ordnen. Das geht aber nun nicht. Erstens gibt es selbst dort, wo die einzelnen Volksstämme in geschlossenen Massen nebeneinander hausen, meistens Grenzbezirke der Mischung, die über die Linie der politischen Grenze nach beiden Seiten hinübergreifen. Und so gibt es selbst in national einheitlichen Ländern in der Regel Minoritäten: wir Reichsdeutschen haben mit dem Problem in PosenWestpreußen, Schleswig und Elsaß-Lothringen keine kleine Mühe und Last. Aber bei uns handelt es sich schließlich nur um winzige Minderheiten, die im nationalen, politischen Leben ohne allzu große Gefahr niedergehalten werden können: nur etwa bei internationalen Verwicklungen könnten sie in dem Falle ernstlich unbequem werden, wo jenseits der Grenze ihre Konnationalen in großer Anzahl als Gegner oder Feinde aufstehen. Gerade das aber ist schon im Frieden des nationalen Lebens die Lage, in der sich ein national gemischter Staat befindet: die Mehrheit des einen Bezirks, Territoriums oder Kronlandes ist in dem nächsten Bezirk Minderheit und die Minderheit Mehrheit.

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Und da muß jeder Versuch, hier zu zwingen oder zu vergewaltigen, dort naturgemäß Gegenmaßregeln hervorrufen. Zweitens aber verschieben sich in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Grenzen einer „Nationalität" häufig mit großer Geschwindigkeit, während die Grenzen des Territoriums naturgemäß starr sind. Uberall dort, wo es freien Zug hat, wandert das Landproletariat den Zentren des gewerblichen Lebens zu und zwar ebensogut in das sprachfremde, wie das sprachverwandte Gebiet. So sind in unseren Tagen nicht nur Posen und Westpreußen, sondern sogar das kerndeutsche Westfalen in steigendem Maße polonisiert worden; so ist Nordböhmen weithin tschechisiert worden. Auf diese Weise muß jede territoriale Lösung des Nationalitätenproblems fatalerweise den Charakter eines kurzlebigen Provisoriums tragen: die noch so fein ausgeklügelte Abgrenzung ist nach kurzer Zeit nicht mehr passend und neue Sorgen heben an. Noch eins: selbst ohne Änderung der relativen Zahl kann sich doch eine Änderung des relativen Gewichtes der miteinander gemischten Volksstämme herausbilden. Wenn eine bis dahin wesentlich als agrarische Unterklasse lebende Mehrheit einen eigenen Mittelstand entwickelt, so wird der Druck auf die bisher allein herrschende anderssprachige Oberklasse viel stärker. Denn der Nationalismus ist ein charakteristisches Kennzeichen der Bourgeoisie, eine Maske der in ihren Reihen wütenden wirtschaftlichen Konkurrenz. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist Prag eine fast rein tschechische Stadt geworden, und würde Posen rein polnisch werden, wenn nicht die starke Hand der rein deutsch gerichteten, durch keine Gegenkräfte gehemmten Reichsregierung es zu hindern die Macht hätte. Aus allen diesen Gründen ist eine endgültige Regelung auf territorialer Basis schon dort auf die Dauer unmöglich, wo die Volksstämme in ihren historischen Sitzen gut voneinander geschieden sind. Sie ist aber selbstverständlich dort ganz und gar unmöglich, wo sie stark gemischt untereinander hausen. Hier vollends gibt es auf dem Boden des Territorialprinzips nur die eine mögliche „Lösung", nämlich dem einen Stamm die Hegemonie über den oder die anderen zu geben - und das führt dann notwendig zu jenen unendlichen Streitigkeiten, deren Gefährlichkeit wir geschildert haben. Oder mit anderen Worten: jenes Endziel der Gerechtigkeit, das der Kremsierer Reichstag aufstellte, ist auf diesem Wege schlechthin unerreichbar. Und so mußten notgedrungen die Theorie und die Praxis dazu gelangen, die Lösung auf dem zweiten möglichen Wege, dem des „Personalismus", zu erstreben. Man mußte sich an den Gedanken gewöhnen, daß Rechte auf einem begrenzten Gebiete nur mittelbar haften können, daß der Träger eines Rechtes immer nur eine Person oder ein Personenverband sein kann und daß ein Recht nur insoweit „Landesrecht" sein kann, wie der Rechtsträger mit den Insassen des Landes übereinstimmt. Man mußte, kurz gesagt, zu der ursprünglichen germanischen Grundauffassung in freilich modernerer Form zurückkehren, nach der das „Recht nicht das eines Territoriums, sondern eines Personenverbandes, des Stammes, ist".1 Der Ubergang vollzog sich nicht leicht und ist auch heute noch durchaus nicht vollendet, kaum schon weit gediehen. Aber die Logik der Dinge setzt sich doch allmählich gegen alle Widerstände durch, so folgerichtig durch, daß Lukas schreiben kann: „Dermalen sind die Ansätze dazu wohl noch etwas schwach entwickelt, - die stetige Entwicklung des österreichischen Nationalitätenrechtes weist aber auf eine Zukunft hin, in der personales Partikularrecht auf nationaler Grundlage einen relativ breiten Raum in der österreichischen Gesamtrechtsordnung einzunehmen haben wird."2

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Lukas, Territoriais- und Personalitätsprinzip im österreichischen Nationalitätenrecht. Jahrbuch des österreichischen Rechts, Bd. II, 1908, S. 349. Ebenda, S. 360.

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Die größte Schwierigkeit bestand darin, den Personenkreis rechtswirksam zu bestimmen und abzugrenzen, der der Träger der Rechte und Pflichten sein soll. Was ist eine „Nation" oder „Nationalität"? Was ist ein „Volksstamm"? Darüber herrscht noch immer ein erbitterter Streit. Die älteste Auffassung faßt den Begriff territorialistisch: jeder gehört dem Volksstamm an, der das Gebiet bewohnt, in dem der Volksstamm vorherrscht. Diese Anschauung wird dadurch gefördert, daß es häufig für den Einwohner des Territoriums und den Angehörigen der vorherrschenden Nationalität nur ein einziges Wort gibt. So ζ. B. ist das Wort „Pole" doppeldeutig: es bezeichnet ebensowohl den seiner Sprache und Kultur nach zur polnischen Nationalität gehörigen, wie den auf polnischem Verwaltungsgebiet ansässigen Mann. Unter diesen Umständen ist es nicht immer leicht zu verstehen, daß jemand (im politischen Sinne) ein vortrefflicher „Pole", d. h. Bürger seines Landes, sein kann, während er (im sprachlich-nationalen Sinne) ein Nichtpole ist. Die Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß das Wort „national" ebenfalls doppeldeutig ist; es bedeutet im politischen Sinne die Eigenschaft der Treue und Hingebung an die territoriale Gemeinschaft, - und im sprachlich-kulturellen Sinne die Treue und Hingebung an die personale Gemeinschaft. Und darum ist es den meisten fast unmöglich, zu verstehen, daß man ein „nationaler Pole" sein kann, aber es ablehnt, ein „Nationalpole" zu sein. Oder umgekehrt: wenn die Polen von den sprachfremden Angehörigen ihres Territoriums verlangen, sie sollen gute nationalpolnische Gesinnung haben, so fordern sie nur Selbstverständliches, sobald sie das Wort im politischen Sinne verstehen; aber das Wort selbst verführt gar leicht dazu, im sprachlich-kulturellen Sinne verstanden zu werden. Uber dieses Stadium der primitivsten Mißverständnisse sind sehr viele heute noch nicht fort, und zwar nicht nur etwa in Polen, das lediglich des Beispiels wegen herangezogen worden ist, sondern überall, auch in Ungarn, auch in Deutschland gegenüber den Polen, Dänen und Elsässern. Von denen aber, die schon erkannt haben, daß mit dieser noch rein territorialistischen Auffassung nicht weiterzukommen ist, scheiterten viele an dem Begriff der „Nationalität" oder des „Volkstums". Auch hier täuschte das „verräterische Wort". „Nation" stammt von nasci, geboren werden, und so glaubt man noch heute vielfach, die Blutsgemeinschaft oder die sogenannte „Rassengemeinschaft" müsse das entscheidende Kennzeichen abgeben. Damit ist nun gar nichts anzufangen. Schon der Ausgangspunkt ist falsch: denn allenfalls in der primitiven Blutsverwandtschaftshorde kann von ethnischer Reinheit der Abstammung die Rede sein; jede höhere Gesellschaftsform entsteht durch Mischung verschiedener ethnischer Bestandteile, zumeist durch die Unterwerfung einer Gruppe unter die andere, die den Staat erschafft. Aber davon ganz abgesehen: die Abstammung ist kein Kriterium, auf das der Gesetzgeber aufbauen könnte. Sie ist immer unsicher; solche Rassenmerkmale, die etwa den Germanen vom Slawen unterscheiden lassen könnten, gibt es nicht, so wenig, daß Chamberlain vom „Kelto-Germano-Slawen" als einer einheitlichen Rasse spricht, - und wo bliebe man, wenn es solche Kriterien gäbe, mit den zahllosen Mischlingen? Wollte man die Rechte auf die Abstammungsgemeinschaft übertragen, so würde man in die ungeheuerlichsten Situationen geraten, in „Seelenfangprozesse" von erschütternder Tragikomik ohne Zahl. Man suchte also ein anderes objektives Kennzeichen der Nationalität und glaubte, es in der Sprache finden zu können. Damit war die Bluts- und Rassenidee aufgegeben, denn sonst wäre ja ein englisch sprechender Neger Angelsachse, und ein deutscher Jude Germane. Man kam damit der Lösung schon näher. Denn eine Sprachgemeinschaft ist mindestens in bezug auf die Sprache auch Interessengemeinschaft, und auf diese Weise muß sich, wie wir sofort sehen werden, der Personalverband aufbauen, den wir brauchen. Aber hier entstanden neue Schwierigkeiten. Ganz abgesehen davon, daß es Unmündige gibt, die noch nicht sprechen, und Stumme, die überhaupt nicht sprechen: welche Sprache soll man wählen? Die „Muttersprache", in der der einzelne Staatsbürger als Kind erzogen worden ist, die „Haussprache", deren er sich in seiner Familie bedient, oder die „Umgangssprache" des täglichen Verkehrs? Wohin gehört der Mann, der in seiner Kindheit tsche-

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chisch gesprochen hat, jetzt aber in Reichenberg oder Eger lebt, eine Deutsche zur Frau hat, in einem deutschen Geschäft oder Amt tätig ist, und im Hause deutsch spricht? Oder welche Sprache entscheidet bei den vielen Menschen, die mehrere Sprachen als Umgangssprache gebrauchen? Kurz: die Sprache mag bei Volkszählungen als Kennzeichen der „Nationalität" leidlich brauchbar sein, wenn keine Rechtsfolgen daran geknüpft werden: dann wird die Zählung nur mehr oder weniger falsch. Werden aber Rechts- und Pflichtenfolgen daran geknüpft, so bildet die Sprache eine nicht tragfähige Grundlage, zumal die in gemischtsprachigen Ländern besonders beliebten Methoden gewisser außergesetzlicher Einflüsse die Erklärung des einzelnen Gezählten stark beeinflussen würden. Wenn es ζ. B. auf ein oder wenige Prozente ankommt, die eine Nationalität eines Bezirks bei der Volkszählung gewinnen muß, um ein bestimmtes Recht, ζ. B. auf eine Mittelschule, zu erlangen, so werden leicht alle Mittel, von sanfter Überredung bis zum Terrorismus, ζ. B. des Boykotts, angewendet, um diesen statistischen Zuwachs zu erzielen. Weil Rasse und Sprache die einzigen objektiven Kennzeichen einer Nationalität sind, so mußte man, da beide unbrauchbar sind, ein subjektives Kennzeichen aufzufinden versuchen, wenn die Aufgabe einmal gestellt war, die „Nation" als Träger bestimmter Rechte und Pflichten staatsrechtlich zu konstruieren. Dieses subjektive Kennzeichen kann nichts anderes sein als der freie, unbeeinflußte Wille eines jeden großjährigen verfügungsberechtigten Bürgers. Der Gedanke, die „Nationalität" durch freien Willensakt statt durch objektive Kennzeichen bestimmen zu lassen, hat im ersten Augenblick etwas Paradoxes. Und doch zeigt ein auch nur ein wenig tieferes Hinschauen, daß das schon heute die unbewußt herrschende Praxis ist. Natürlich kann ein Neger nicht, wie der alte Scherz sagt, „aus der äthiopischen Rasse ausscheiden": aber innerhalb der kaukasischen Rasse finden fortwährend freiwillige Übertritte statt und werden in der Regel von den Mitgliedern der neuen Gruppe willig und freudig aufgenommen, während die Verlassenen allerdings über „Verrat" zu schelten pflegen. Gegen die Aufnahme getaufter Juden in die Nationalität ihres Landes wird nur noch von den Sonderlingen der Rassentheorie zuweilen Einspruch erhoben: aber sonst braucht man nur die Namen der nationalen Führer anzuschauen, um zu finden, daß zum Beispiel ebensogut Männer mit mindestens stark germanischer Blutmischung, jedenfalls mit deutschem Namen, Führer der Tschechen, wie umgekehrt Männer tschechischen Namens Führer der Deutschen sind. „Nationalität" bedeutet eben längst nicht mehr Rassen- und Blutsgemeinschaft, sondern Sprach- und Kultur- und insofern Interessengemeinschaft; und namentlich dort ist jeder Fremde, wie Lukas treffend hervorhebt, als „Konnationaler" willkommen, wo der Kampf am härtesten tobt und Waffenbrüder gebraucht werden: Er schreibt: „Wenn die Rechtsordnung von der Existenz der Volksstämme im Staate Notiz nimmt, so tut sie es deshalb, weil diese sozialen Gebilde zugleich wichtige Interessenverbände darstellen. Nim ist es eine soziale Erfahrungstatsache, daß diese nationalen Interessenverbände jeden als Mitglied willkommen heißen, der sich mit ihren nationalen Sonderinteressen identifiziert, und das auch dann, wenn der Betreffende, vermöge seiner ganzen Vergangenheit, soziologisch zweifellos einer fremden Nationalität angehört. Es genügt, daß er durch Wort oder Tat seinen Willen zu erkennen gibt, er wolle jenem anderen nationalen Interessenverband angehören. Diese soziale Einrichtung der nationalen Kooptation liefert nun der Rechtsordnung einen geeigneten Anhaltspunkt dafür, wie sie die nationale Zugehörigkeit des Individuums bestimmen kann: es ist gesetzgebungspolitisch vollkommen gerechtfertigt, wenn die Rechtsordnung die Nationalität des Individuums einfach dadurch als gegeben ansieht, daß das Individuum durch eine ausdrückliche Erklärung oder durch konkludente Handlungen (soziales Verhalten) seine Zugehörigkeit zu dem betreffenden Volksstamme deklariert."1

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Lukas, Territoriais- und Personalitätsprinzip im österreichischen Nationalitätenrecht, S. 398f.

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Auch Bernatzik schreibt in Übereinstimmung damit: „Sollen in einem Staat mehrere Nationalitäten bestehen, so muß sich der Wunsch, nur von Angehörigen der eigenen Nationalität regiert, verwaltet und gerichtet zu werden, Beschränkungen gefallen lassen; die Nationalitäten müssen sich der staatlichen Regierung einordnen, ohne daß deshalb eine Nationalität zur herrschenden gemacht zu werden brauchte. So auf das mit der Einheitlichkeit des Staates Vereinbare beschränkt, aber ausgedehnt auf alles damit Vereinbare, nennt man jenes Verfassungsprinzip die .nationale Autonomie'." 1 Und er sagt später: „Also was ist es, worin die Angehörigkeit an eine Nationalität eigentlich besteht? Ohne Zweifel der eigene freie Wille, ihr anzugehören. Die Nationalität ist eben heute keine bloße Abstammungsgemeinschaft mehr - obwohl sie das immer für die große Mehrzahl bleiben wird, sie ist eine Kulturgemeinschaft, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das nur im eigenen Willen bestehen kann."2 Ganz ähnlich sagt Rudolf Hermann v. Herrntritt: „Die Nationalität erscheint hiernach als ein vorzüglich geistiges Band, als eine Kulturgemeinschaft, die sich besonders unter dem Einfluß staatlichen Zusammenlebens trotz ethnischer Unterschiede aufgrund gemeinsamer Anschauungen und Interessen allmählich ausbildet."3 Ludwig Gumplowicz, der Altmeister der deutschen Soziologie, bezeichnet „Nationalität als eine durch ein gemeinsames Staatswesen hervorgebrachte und geförderte Kultur- und geistige Interessengemeinschaft". Auch Alfred Freiherr v. Offermann4 nimmt den gleichen Standpunkt in der Frage der nationalen Autonomie ein. Diese Begrenzung des Begriffes der Nationalität stimmt mit der vorgeschrittensten soziologischen durchaus überein. Der „soziologische Kitt jeder Gruppe" ist das, was Giddings die „Consciousness of kind" nennt, das Bewußtsein, gleicher Art zu sein: und das ist für alle Sprachverwandten und Kulturverwandten ohne weiteres gegeben, ganz gleichgültig, von welcher Abstammung sie seien. Der erste, der diesen Gedanken, die „Nationalität" durch den Willensakt der Bürger zu konstituieren, ausgearbeitet hat, war der geistvolle österreichische Reichstagsabgeordnete Karl Renner (Springer, Synoptikus), der ihn in einer Anzahl von Schriften, am ausführlichsten in seinem Buche „Der Kampf der österreichischen Nationalitäten um den Staat"5 dargestellt hat. Er empfiehlt seine Vorschläge mit einer schlagenden Parallele. Der Grundsatz: „cujus regio ejus religio" hat jahrhundertelang Europa verheert und an den Rand des Abgrundes gebracht. Heute ist der Anspruch aufgegeben; das Recht eines jeden, seine Konfession frei zu bestimmen, ist in allen Kulturstaaten in der Verfassung gewährleistet, und die auf diese Weise, durch freien Entschluß aller Beteiligten, - denn jeder kann seine Konfession überall, außer in Rußland, ohne Schaden wechseln gebildeten personalen Körperschaften regeln ihre Angelegenheiten in einem bequemen, vom Staate für alle gleichmäßig gesetzten Rahmen selbst, indem sie ihre Angehörigen kraft der Verleihung öffentlicher Finanzbefugnisse entsprechend besteuern. Ganz das gleiche sollte in allen gemischt-sprachigen Bezirken geschehen, damit der freilich nirgends mit Gesetzeskraft ausgesprochene Grundsatz „cujus regio ejus lingua", der heute Europa an den Rand des Abgrundes zu bringen droht, gleichfalls aus dem Verfassungskampf verschwinde, indem man gleichfalls das Recht der „Nationalitäten" auf ihre Sprache und Kultur und alles, was damit zusammenhängt (Schulen, Theater, Museen, usw.) unangreifbar in der Verfassung verankert. Jeder Bürger in gemischt-sprachigen Bezirken soll in einer eigenen Verhandlung vor einer unpartei-

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Bernatzik, Die Ausgestaltung des nationalen Gefühls im Neunzehnten Jahrhundert, in: Beiträge zur staatsund rechtswissenschaftlichen Forschung, Heft 6, S. 28. Ebenda, S. 32. v. Herrntritt, Nationalität und Recht, Wien 1899, S. 18. v. Offermann, Die Bedingungen des konstitutionellen Osterreich, Wien und Leipzig 1900. Renner, Der Kampf der österreichischen Nationalitäten um den Staat, Leipzig und Wien 1902. Zuletzt in: Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus, Wien 1910.

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ischen Behörde erklären, zu welcher Sprach- und Kulturgemeinschaft er sich rechnet. Auf diese Weise entstehen nationale „Kataster" oder „Matriken", deren Mitglieder eine in allen Fragen der Schule usw. autonome Korporation bilden, die, mit eigenem Steuerrecht ausgestattet, ihre Angelegenheiten selbständig in dem für alle Nationalitäten gleichmäßig von der Verfassung gespannten Rahmen verwaltet. Renner, der den Plan bis in die letzten Einzelheiten so fein ausgearbeitet hat, daß einer seiner Kritiker bei aller Anerkennimg der genialen Konzeption doch von einer Art von „Zukunftsstaat" spricht, - wir können hier auf Einzelheiten nicht eingehen - erwartet von seiner Ausführung eine Befriedung des wütenden Sprachenkampfes mindestens insoweit, daß die Bedrohung des Gesamtzusammenhaltes aufhört. Erstens wird eine Mehrheit in einem Kreise sich hüten, die Minderheit zu schikanieren, wenn sie sicher sein muß, daß ihren eigenen Minderheiten in anderen Bezirken mit gleicher Münze bezahlt wird. Dieses Verhältnis drängt sie zum „Reziprozitätsvertrag"1. „Daraus entwickelt sich das merkwürdige Verhältnis, daß gerade die Minoritätsbezirke, die heute Kampffaktoren sind, zu Friedensfaktoren werden, und die beachtenswerte Tatsache, daß sie eben durch die Konstituierung der Majorität erst fähig werden, sich zu vertragen."2 Zweitens wird die nationale Begehrlichkeit stark abflauen, wenn die Begehrlichen als Steuerzahler ihrer Gemeinschaft mit dem eigenen Säckel für ihre Wünsche einzutreten haben, statt wie jetzt den namenlosen Säckel aller, den Fiskus, zu beanspruchen. Und schließlich werden sich nach Fortfall dieses Erisapfels der nationalen Sprachenfragen die sozialen Gruppen neu und rationell ordnen. Bourgeois zu Bourgeois, Arbeiter zu Arbeiter, Bauer zu Bauer, usw., quer durch die nationalen Lager hindurch: und das Gemeininteresse der Bewohner eines Bezirkes an wirtschaftlichen und sozialen Beschwerden und Besserungen wird sich durchsetzen. Renner glaubt daher, mit der Ordnung der Sprachenfrage im Sinne der Autonomie und des Personalprinzips sei alles für den Augenblick Nötige getan; namentlich sei es nicht erforderlich, eine eigene politische Vertretung der einzelnen Nationalitäten zu schaffen, das sogenannte „Kurien-System", sondern man könne die Vertretungswahl zum Reichsrat nach wie vor territorialistisch ordnen, weil nach Ausmerzung des Sprachenkampfes nur noch territoriale Interessen übrig bleiben. „Ein Fortschritt Österreichs," sagt er, „ist überhaupt nur denkbar, wenn den Nationen unentziehbare Rechtspositionen eingeräumt werden, die ihnen die ständige Erhaltung einer nationalen Kampfgruppe im Parlamente ersparen und es ihnen möglich machen, sich wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zuzuwenden."3 Diese Gedanken sind nicht durchaus und im einzelnen neu. So ζ. B. hat der sogenannte „Fundamental-Landtag" von Böhmen von 1871 beschlossen, das gesonderte Steuerrecht der Nationalitäten für die Bildungsanstalten ihrer Sprache einzuführen.4 Der Entwurf war von der Regierung vorgelegt worden. Der Beschluß wurde in Abwesenheit der deutschen Abgeordneten, also von der tschechischen Mehrheit, gefaßt. Leider wurde infolge des inzwischen stattgehabten politischen Umschwunges, auf Betreiben der deutschen Minderheit, dem Entwurf die kaiserliche Sanktion versagt. Heute würden sich die Deutschen, durch schwere Erfahrungen belehrt, wahrscheinlich anders zu dem Gedanken stellen als damals; wenigstens hat 1909 einer ihrer Parteiführer, Chiari, es als eine reiflich zu überlegende Frage bezeichnet, ob nicht eine Überweisung bestimmter Steuerkategorien in die Selbstverwaltung der Nationen möglich sei, um die Befriedigung der nationalen Bedürfnisse auf eigene Kosten jeder Nation herbeizuführen. Und es war die deutsche Landtagsmehrheit in Mähren, die, von der Entwicklung in Böhmen belehrt, im Jahre 1905, „selbst sich zu einem ausgiebigen

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Renner, Der Kampf der österreichischen Nationalitäten um den Staat, S. 206. Ebenda, S. 190-192. Ebenda, S. 29. Vgl. Lukas, Territoriais- und Personalitätsprinzip im österreichischen Nationalitätenrecht, S. 360f.

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rechtlichen Schutz der beiderseitigen Kollektiv-Interessen bereit erklärte", und zwar gleichfalls auf dem Boden des Personalprinzips, des nationalen Katastersystems. Hier, in Mähren, ist denn auch zuerst der nationale Ausgleich aufgrund des Personalprinzips im Jahre 1906 zustande gekommen, freilich in einer Richtung, die von der von Renner vorgeschlagenen sehr stark abweicht. Statt der Schul- und Sprachenfragen hat man mit dem Matrikensystem die Wahlfragen zum Landtag und zum Reichstag geordnet. Das an und für sich schon ungeheuer komplizierte österreichische Wahlrecht wird dadurch noch komplizierter. Die Wählerklassen der Städte, der Gewerbe- und Handelskammern, der Landbevölkerung und schließlich die „allgemeine Wählerklasse" wählen aufgrund des nationalen Katasters entweder einen Tschechen oder einen Deutschen, „so daß ein und dasselbe Territorium sowohl zu einem Wahlbezirk tschechischer als auch zu einem solchen deutscher Nationalität gehört". Auf diese Weise entstehen zwei nationale „Kurien", die bestimmte Rechte haben; als dritte steht neben ihnen, die Kurie des Großgrundbesitzes. Ahnlich sind die Dinge 1910 in der Bukowina geordnet worden. Nur daß hier nicht zwei, sondern entsprechend der stärkeren Sprachenmischung vier Matriken und Kurien geschaffen worden sind; die deutsche, polnische, ruthenische und rumänische. Nach den Entwürfen des Landtages hätten es sogar fünf sein sollen, aber die Regierung ließ die beantragte jüdische Kurie nicht zu.1 Man kann sich vorstellen, wie verwickelt sich das Wahlsystem hier gestaltet, da die vier Nationalitäten in den vier Wählerklassen getrennt wählen. Bernatzik, dem wir diese Mitteilung2 verdanken, fügt hinzu, daß demnächst wohl eine ähnliche Reform der Landesordnung in Böhmen, Istrien und vielleicht noch in anderen Ländern vollzogen werden dürfte. Die auf diese Weise geschaffenen nationalen Kurien „haben freilich keine sachliche Kompetenz; man gab ihnen das Bestimmungsrecht nicht, welches ihnen der böhmische Entwurf von 1871 bereits zugestanden hatte; sie haben auch das Vetorecht nicht, das ihnen dieser Entwurf zugedacht hatte (...) die Kurie hat vielmehr bloß Wahlen und Besetzungsvorschläge vorzunehmen"3. Aus diesem Grunde, weil ihnen die Kompetenzen und vor allem das Steuerrecht nicht gegeben ist, ist diese Regelung der Nationalitätenfrage nur als eine Abschlagszahlung zu betrachten. Sie gibt den einzelnen Angehörigen der Nationalität nur Rechte, aber keine Pflichten und öffnet dadurch allen Mißbräuchen Tür und Tor. Das erkannte der Gesetzgeber wohl: „Man befürchtete schikanöse Eintragungen in die gegnerischen Listen, um den Willen der nationalen Gruppen zu verfälschen, und gelangte so dazu, bei der Anfertigung der Wählerlisten ein eigentümliches Zusammenwirken von behördlicher Tätigkeit und Parteierklärung eintreten zu lassen, das ich hier nicht eingehender schildern kann. Ich will nur soviel hervorheben, daß im Wege eines Richtigstellungs- und eines Reklamationsverfahrens die Behörden und schließlich eventuell das Reichsgericht durch Urteil entscheiden sollen, gegebenenfalls also auch entgegen der ausdrücklichen Erklärung des Wählers entscheiden sollen, welcher Nationalität der Wähler in Wirklichkeit,angehöre'. Daß es hier eine Gefahr zu vermeiden galt, läßt sich nicht bestreiten. Der Weg aber (...) ist vollständig verfehlt. Was hier von den Behörden und Gerichten verlangt wird, ist einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Man hat da zwei Begriffe der Nationalität miteinander zu verschmelzen gesucht, die sich nicht verschmelzen lassen, weil sie ganz verschiedenes bedeuten."4

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Der Abgeordnete Prof. Kosch erklärt soeben in einem Aufsatz der „Neuen jüdischen Monatshefte", daß es vom deutschen Standpunkt als ein Mißgriff bezeichnet werden muß, daß man den Juden die eigene Kurie verweigert hat. Die Deutschen würden an politischem Einfluß gewinnen, wenn das geschähe. Bernatzik, Über nationale Matriken, Wien 1910, S. 23. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 22f.

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Demokratie

Diese Schwierigkeiten sind die einfache Folge davon erstens, daß man das Personalprinzip gerade auf das Gebiet angewandt hat, wo es am wenigsten leisten kann und vielleicht ganz entbehrlich ist: auf das Gebiet der Vertretungswahlen, wo das Territorialprinzip die Oberhand behalten muß. Und zweitens sind jene Schwierigkeiten die Folge der Halbheit, daß man Rechte gab, denen man keine Pflichten gegenüberstellte. Es ist vollkommen klar, daß Schikanen der angedeuteten Art, wenn überhaupt, nur viel seltener vorkommen können, wenn die Eintragung in ein nationales Kataster nicht nur das Recht zu wählen, sondern auch die Pflicht zu zahlen mit sich bringt. An Warnungen vor dieser Halbheit hatte es nicht gefehlt. Renner hatte schon 1902 geschrieben: „Wäre die Nationalitätserklärung eine bloße Demonstration, so träfe dies alles (Furcht vor Schikanen) zu. Aber sie ist ein rechten- und pflichtenerzeugender Akt. Durch sie verpflichtet sich der Vater, seine Kinder in die Nationalschule zu schicken und die Kosten derselben mitzutragen. Durch sie bestimmt er sich selbst die Sprache, in der er von dem Staate Recht nehmen will. Durch sie schließt er sich von allen der örtlichen Majorität angehörigen Wohlfahrtseinrichtungen aus. Das schließt jede schikanöse Ausübung der Befugnis aus, und, was das wichtigste ist, es verschiebt ganz und gar die Angriffspunkte der nationalen Propaganda. (...) Ist die Erklärung nicht Feiertagsvergnügen beim sonntäglichen Bierkrug, sondern Rechtsinstitut, Recht und Pflicht, dann erfordert sie ernste Überlegung, dann hat jede Nationalität genauso viel Zugkraft gegenüber den Schwankenden und Verstreuten, als sie ernste nationale Kulturarbeit leistet."1 Und von Offermann hatte geschrieben: „Solange Parallelklassen, Hochschulen und so weiter aus den Taschen der Gesamtheit zu bestreiten sind, erkennt der Heißhunger gewisser Nationalitäten (...) niemals die Grenze des wirklichen Bedürfnisses an. Die allgemeine Anerkennung dieser Grenze wird erst mit der eigenen Bezahlung eintreten."2 Auf der anderen Seite hat man dem Personalprinzip dort, wo es die Alleinherrschaft haben sollte, auf dem Gebiet der Schulen und der sonstigen Kulturanstalten, nur allzu geringe Einräumungen gemacht, indem man die territorialen Organisationen einfach in nationale Teile spaltete, ohne diesen über die Grenzen des Territoriums hinaus Entwicklungsfreiheit zu gewähren. Seit 1884 hat jede nationale Minderheit das Recht auf eine Minoritätsschule mit ihrer Sprache als Unterrichtssprache, wenn im Umkreis einer Stunde und in fünfjährigem Durchschnitt wenigstens vierzig Kinder vorhanden sind, die mehr als vier Kilometer zurücklegen müßten, falls die Schule nicht zustande käme. Diese Ordnung hat eine entsprechende der Schulbehörden und dann auch anderer Körperschaften nach sich gezogen. Wir zitieren nach Bernatzik: „So zerfallen in Böhmen schon seit dem Jahre 1873 und in Mähren seit dem Jahre 1906 die Ortsschulräte in deutsche und tschechische nach der Nationalität der Schulen. In Mähren hat man im letzteren Jahre auch die Bezirksschulaufsicht so getrennt. So weit ist man bei der Organisierung der Landesschulräte nicht gegangen. Aber in beiden Ländern hat man sie, in Böhmen im Jahre 1890, in Mähren im Jahre 1906, für gewisse Angelegenheiten in nationale Sektionen geschieden. Ebenso sind die Landesschulinspektoren national geteilt worden und es vollzieht sich diese Teilung auch in anderen Ländern auf administrativem Wege. Die übrigen Mitglieder des Landesschulrates aber, in Mähren auch die der Bezirksschulräte, müssen nun nach dem böhmischen und mährischen Gesetz .Angehörige' je einer der beiden das Land bewohnenden Nationalitäten sein.

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Renner, Der Kampf der österreichischen Nationalitäten um den Staat, S. 67f. v. Offenbach, Die Bedingungen des konstitutionellen Osterreich, S. 74.

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Hier sehen Sie also zum ersten Male die Fähigkeit für gewisse Ämter geknüpft an diesen neuen Begriff der .Angehörigkeit' an eine Nationalität, der allerdings in keinem dieser Gesetze irgendwie bestimmt worden ist. Ebenso sind in Tirol seit dem Jahre 1892 in gemischten Orten im Ortsschulrat beide Nationalitäten vertreten; für jede werden besondere Ortsschulaufseher ernannt, und der Landesschulrat muß aus Angehörigen beider Nationalitäten bestehen. In Tirol, in Böhmen und in Mähren sind ferner die Landeskulturräte, in Böhmen und Mähren auch die Ärztekammern national getrennt. Auch die Einteilung der protestantischen Superintendenzen nach Nationalitäten in Böhmen gehört hierher. Einen gewissen Ansatz zu einer nationalen Trennung bietet ferner die Organisation des böhmischen Oberlandesgerichtes, welche die Regierung im Jahre 1890 verfügt hat. Auch die sogenannten Landsmannminister wollen manche als einen Anfang nationaler Sonderung der Ministerien betrachten - eine Ansicht, die ich allerdings nicht teile." 1 Die letzte Bemerkung zielt gegen Lukas, der die Meinung vertritt, daß die Institution der Landsmannministerien, ursprünglich ein Trick des Parlamentarismus, jetzt allmählich ein besonderes Glied innerhalb des Verwaltungsorganismus geworden ist, das sich dadurch charakterisiert, daß es die Interessen eines bestimmten Volksstammes in der Verwaltung nach einem durch interne Dienstesvorschriften geregelten Verfahren wahrzunehmen hat; eine Vernachlässigung dieser Obsorge wäre „Verletzung der Amtspflicht" 2 . Er „kommt zu dem Ergebnis, daß die fakultative Institution eigener nationaler Ministerien tatsächlich ein Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung geworden ist" 3 . So weit waren die Dinge vor dem Kriege gediehen. Es scheint uns keinem Zweifel zu unterliegen, daß sie vielleicht schon während der Friedensverhandlungen neu in Fluß kommen werden, und zwar in ganz Europa. In Österreich-Ungarn fordert schon das Interesse der Tschechen eine grundsätzliche und der Dauer fähige Ordnung ihres Verhältnisses zu den Deutschen, die nach dem Ausscheiden der galizischen Polen aus dem Reichsrate die Mehrheit von Zisleithanien bilden werden; noch mehr aber fordert das staatliche Gesamtinteresse eine solche Ordnung; und auch das mit der Donaumonarchie eng verbündete Deutsche Reich ist mit seinen vitalsten Interessen darauf angewiesen, daß sein Bundesgenosse sich von den Hemmungen befreie, die seine militärische und wirtschaftliche Kraft beeinträchtigten. Deutschland wird ferner bei der Gestaltung des neuen Polen darauf zu sehen haben, daß zum wenigsten die starke halbe Million Deutscher, die dort leben, in ihrer Sprache und Kultur nicht beunruhigt werden - sie haben es auch schon begonnen zu fordern und das wird wirksamer und für den Bestand des Bundesverhältnisses zwischen Deutschland und Polen ersprießlicher durch verfassungsmäßige Bestimmungen als diplomatischen Druck oder gar Aufsicht geschehen. Deutschland wird aber, um gutgläubig fordern zu können, seinerseits auch zu gewähren haben; es wird seinen Polen und wohl auch seinen Franzosen und Dänen in sprachlich-kultureller Hinsicht den Kopf freier geben müssen. Kürzlich verlangte die dem Frieden am meisten geneigte Gruppe der französischen Sozialisten als ihr erstes Kriegsziel für Elsaß-Lothringen die sprachliche Autonomie in der Schule und es würde die Friedensverhandlungen mit Frankreich gewiß sehr erleichtern, wenn man in dieser Beziehung entgegenkommen wollte. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Wallonen und Flamen im künftigen Belgien. Auch hier hat Deutschland starke Interessen zu schützen und kann sie gewiß nicht sicherer und wirksamer schützen als durch eine den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Selbstverwaltung entsprechen-

1 2 3

Bernatzik, Uber nationale Matriken, S. 18. Vgl. Lukas, Territoriais- und Personalitätsprinzip im österreichischen Nationalitätenrecht, S. 394. Ebenda, S. 396.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

de verfassungsmäßige Regelung: Aufsicht oder gar Zwang von außen her würden hier noch schwerer ertragen werden als in Polen. Ob Rußland nach der furchtbaren Prüfung dieses Krieges mehr als vorher geneigt und fähig sein wird, seinen „Fremdstämmigen" die Freiheiten zu gewähren, die mit dem Bestand des Reiches vereinbar sind, muß abgewartet werden. Aber auf dem Balkan wird sicherlich nicht eher Ruhe und Frieden einkehren, ehe nicht jedem Sprachstamm überall gewährt ist, was ihm in zivilisierten Staaten von Rechts wegen zukommt. Und an der endgültigen Löschung dieses gefährlichen Brandherdes ist die ganze Kulturwelt gleichmäßig interessiert. Uberall das gleiche Problem in immer neuer Erscheinungsform! Ehe es nicht grundsätzlich für alle Staaten Europas gelöst ist, ist überhaupt nicht daran zu denken, daß neue politische Grenzen gezogen werden können, hinter denen die zerfleischten Staaten sich eines einigermaßen sicheren Friedens erfreuen könnten. Der durch den Krieg noch rabiater als zuvor gewordene Nationalismus muß mit unschädlichen Einräumungen gesättigt werden, soll nicht an allen Grenzen aller Länder eine verstiegene Irredenta mit dem Feuer neuer Weltkatastrophen spielen. Der Friedenskongreß von Osnabrück und Münster brachte Europa nach entsetzlichen Leiden den konfessionellen Frieden. Wir müssen hoffen, daß der Friedenskongreß, der diesen ungeheuren Krieg beenden wird, dem zu Tode erschöpften Weltteil den nationalen Frieden bringen wird. Wenn diese Hoffnung unerfüllt bleibt, wenn die Widerstände nicht zu überwinden sind, die Ideologen und - Interessenten dem notwendigen Kulturfortschritt entgegenstellen, dann sehen wir die Zukunft Europas schwarz umwölkt.

Zur Tendenz der europäischen Entwicklung

[1917]1

In ganz prächtiger, ebenso klarer wie knapper Darstellung stellt Waldemar Mitscherlich die Tendenz der staatlich-wirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart dar.2 Er zeigt erst in scharfem Kontrast die beiden streitenden Grundauffassungen des wirtschaftlichen „Universalismus" und „Nationalismus" auf und zeigt, warum jener, der seinerzeit weit voraus eilte, vorerst dem zweiten Prinzip weichen mußte. Das erkennen wir heute mit Friedrich List wohl alle als wahr an, daß die Entwicklung keine Stufe überspringen konnte, und daß es aus der Zersplitterung der Stadt- und Territorialwirtschaften nur einen geschichtlich möglichen Weg gab, der durch die Nationalwirtschaft führte. Das forderte die Logik der wirtschaftlichen Entwicklung so gut wie die der staatlichen, die ebenfalls erst den Nationalstaat mit seiner charakteristischen Ausbildung entwickeln mußte, ehe sie die nächste Stufe ersteigen konnte. Aber der Nationalwirtschaft wie dem Nationalstaat schlägt jetzt die letzte Stunde. Gewaltige innere und äußere Kräfte treiben beide vorwärts zu neuen Horizonten. Die Wirtschaft hat immer mehr ihre Autarkie verloren, ist auf den Einkauf fremder Rohprodukte und daher auf den Verkauf ihrer Waren auf fremden Märkten mehr und mehr angewiesen. Ein Zurück ist nicht möglich: das bedeutet Armut, Stillstand, vielleicht sogar Rückgang der Bevölkerung und politische Ohnmacht und Gefährdung gegenüber den ökonomisch und politisch zu immer gewaltigerer Macht erstarkenden „Imperialwirtschaften" und „Imperialstaaten", zunächst Rußland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten, zu den später vielleicht noch Argentinien und China kommen könnten. Dieser wirtschaftliche Druck von innen und der wirtschaftlich-politische Druck durch die Imperialstaaten von außen, der die kleinen Nationalstaaten mit ökonomischer Abschnürung und politischer Vergewaltigung bedroht, wird sie wohl oder übel zwingen, sich zu „Unionswirtschaften" zusammenzuschließen, die vielleicht, wahrscheinlich sogar, die Tendenz haben werden, sich zu „Unionsstaaten" auszuwachsen. Wirtschaftlich spielt auch hier das „Ideal Mitteleuropa" die Hauptrolle, nur daß Mitscherlich, der hier eben „Tendenzen" zeichnen und nicht sofort ausführbare Vorschläge machen will, den Rahmen viel weiter steckt als Friedrich Naumann: er denkt an eine Wirtschaftsunion, die alle Länder germanischer Sprache, samt der Schweiz und Osterreich, umschließt. Die innere Ordnung denkt er sich ungefähr wie Naumann, ein sich mit den wirtschaftlichen Wechselbeziehungen allmählich verdichtendes Netz von Ordnungen, Verträgen und Behörden. Was den „Unionsstaat" anlangt, den er kommen sieht, so ist besonders erfreulich der Geist des echten Liberalismus (nicht des sogenannten, falschen), mit dem die großen Probleme angeschaut werden. Hier ist der böse, ausschließende oder terroristisch assimilierende Nationalismus, das Zerrbild allen echten Patriotismus, grundsätzlich durchaus überwunden. Entsprechend den besten An-

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[Dieser Aufsatz ist erstmals erschienen in: Weltwirtschaftliches Archiv, 9. Bd., Heft 1 (1917). Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 207-211.] Mitscherlich, Nationalstaat und Nationalwirtschaft und ihre Zukunft, Leipzig 1916, 51 Seiten.

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

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schauungen über das Sprachenproblem wird die Autonomie der Sprach- und Kulturgemeinschaften, die aufgrund freiwilliger Erklärung (ganz wie heute die Kirchengemeinschaften) gebildet werden sollen, gefordert; frei und ungestört sollen sie alle die Dinge ihrer Schule, Sprache und Sonderkultur selbständig auf ihre eigenen Kosten ordnen! Das ist das System der „Matriken", das in Osterreich von Sieg zu Sieg schreitet, - und es ist fast die einzige Hoffnung Europas, aus dem Hexenkreise des verstiegenen Nationalismus herauszugelangen, der es in eine Stätte der Verödung zu verwandeln begonnen hat. Ein schweres Problem nimmt Mitscherlich allerdings sehr leicht: die Einführung einer einzigen Staatssprache im inneren Dienst des Unionsstaates der Zukunft. Das ist ein stacheliger Punkt. Wir meinen, man löst das Problem besser nach Schweizer Muster, wo alle drei Sprachen in Parlament und innerer Verwaltung gleichberechtigt sind und eben deshalb von jedem Gebildeten verstanden werden. Aber von solchen Einzelheiten abgesehen, liegt hier eine Schrift vor, die der Aufmerksamkeit des deutschen Volkes und seiner Führer aufs wärmste empfohlen werden darf. Sie zeigt u. E. den einzigen Weg zu neuen Bahnen des Friedens und der Wohlfahrt. Zu genau demselben Ergebnis kommt die inhaltsschwere Schrift, die der geistvolle junge Nationalökonom der Czernowitzer Universität Professor Alfred Amonn erscheinen läßt.1 Er schließt folgendermaßen: „Die Nationen müssen innerhalb der Staaten neben der rein staatlichen eine eigene politische Organisations- und Wirkungssphäre erhalten (nationale Autonomie), die sich auf die ihnen eigentümlichen nationalen Aufgaben erstreckt, und müssen damit, zugleich ihre nationale Politik auf diese Wirkungssphäre beschränken. Solange alle nationalen Aufgaben zugleich staatliche Aufgaben sind, werden die Nationen alle staatlichen Aufgaben unter dem einseitig nationalen (nationalistischen) Gesichtspunkte betrachten; und solange keine Abgrenzung der Wirkungssphären der verschiedenen Nationen nebeneinander stattfindet, wird es an den fließenden nationalen Gebietsgrenzen immer ununterbrochene gegenseitige Eroberungsversuche und Reibungen geben, die den nationalen Gegensatz nur immerfort steigern und das Nationalgefühl schwächen. Das Problem, das in der Abgrenzung solcher nationalen Wirkungssphären liegt, ist eines der modernsten, wichtigsten und schwierigsten staats- und verwaltungspolitischen Probleme, von dessen Lösung die Vermeidung blutiger Völkerkonflikte in der Zukunft zum großen Teile abhängt. (...) Die einseitig nationale, auf der Herrschaft einer Nation über der anderen beruhende Organisation des Nationalitätenstaates wird sich mit der fortschreitenden wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Nationen, sowie der Demokratisierung der politischen Einrichtungen immer mehr als unhaltbar erweisen und das Problem der ,internationalen' Organisierung des Nationalitätenstaates (analog der ,interkonfessionellen' Ordnung der kirchlichen Verhältnisse) immer dringender machen. Vor dem Problem, das sich heute die allgemeine Beachtung in Österreich erzwungen hat, werden morgen Ungarn und übermorgen vielleicht die Türkei und Rußland stehen." Mit all dem dürfen wir uns Wort für Wort einverstanden erklären, nur mit der Erweiterung im Sinne Mitscherlichs, daß heute bereits der Weltkrieg auch die reinen Nationalstaaten vor das gleiche Problem stellt, weil er sie zwingt, sich mit anderen zu „Unionsstaaten" zu verbinden. Die Übereinstimmung hat nichts Verwunderliches; der Drang und die Not der Zeit stellen alle, die sich mit soziologischen Problemen zu befassen haben, vor die gleichen Fragen: und wir alle stoßen bei unse-

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A m o n n , Nationalgefühl und Staatsgefühl. Schriften des sozialwissenschaftlichen Akademischen Vereins in Czernowitz, München/Leipzig 1915, 46 Seiten.

Z«r Tendenz der europäischen

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ren Studien auf das gleiche grundlegende Buch, das diese Frage schon vor mehr als einem Jahrzehnt grundsätzlich erschöpfend beantwortet hat: auf des österreichischen Reichsrats-Abgeordneten Karl Renner geniales Werk: „Der Kampf der österreichischen Nationalitäten um den Staat". Amonn unterbaut seine Schlüsse breit und tief mit soziologischen Erörterungen im strengsten Sinne, die gleichfalls fast durchaus mit den Gedanken übereinstimmen, die der Referent seit vielen Jahren in Wort und Schrift vertritt. Der Sachverhalt ist folgender: der Träger allen sozialen Lebens ist die „Gruppe". Darunter versteht die moderne Soziologie einen Personenkreis, der durch gemeinsame Interessen zu gemeinsamer gesellschaftlicher Zweckhandlung motiviert wird, und innerhalb dessen aus diesem Grunde in bezug auf diese Interessen diejenige Gruppenempfindung besteht, die Giddings als „consciousness of kind", d. h. als das Bewußtsein bezeichnet, „von gleicher Art zu sein". Nun ist wichtig, daß ein und dasselbe Individuum so vieler sozialen Gruppen gleichzeitig angehören kann, wie es verschiedene Interessen hat, selbst wenn diese Interessen, und infolgedessen die Gruppen, zeitweilig gegeneinander spielen. Je nach der zur Zeit als übermächtig empfundenen Kraft der einen oder anderen Interessenknüpfung empfindet es sich bald dieser, bald jener Gruppe stärker verbunden und verpflichtet. Es ist eine der reizvollsten Aufgaben der gesamten Soziologie, zu beobachten und zu erklären, wie und warum diese Interessengruppen bald mit, bald gegeneinander wirken. Hier liegt die wichtigste Ursache allen geschichtlichen Geschehens verankert. Und immer wieder ruft dem Beobachter die Vielfältigkeit dieser Widerspiele Conrad Ferdinand Meyers prachtvolles Wort ins Gedächtnis: „Das macht, ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch." Ich bin diesem Gegensatz zuerst in meinem „Staat"1 nachgegangen, als ich den Gegensatz der „Klasseninteressen" resp. des Klassenbewußtseins der oberen und unteren Klasse einerseits - und des „Staatsbewußtseins" andererseits als das Kräftespiel beschrieb, das den Lauf der Staaten bestimmt, wie die Zentripetal- und Zentrifugalkraft den Lauf der Gestirne. Wenn ich eine Ergänzung der prächtigen Amonnschen Erörterung wünsche, so ist es nach dieser Richtung hin. Die widerstreitenden Klasseninteressen werden erwähnt, aber fast nur, um das Internationalgefühl der Arbeiterschaft im Gegensatz zum National- und Staatsgefühl abzuleiten. Nach meiner Meinung aber ist damit der sehr wichtige Gegensatz bei weitem nicht ausgeschöpft. Dagegen hat Amonn einen anderen Gegensatz, der dem Schriftchen den Namen gegeben hat, schärfer und klarer herausgearbeitet, als das bis jetzt meines Wissens irgendwo geschehen ist. Auch hier glaube ich vorangegangen zu sein. Ich habe vor etwa einem Jahrzehnt den leider wenig geglückten Versuch gemacht, den damals aufkommenden, seitdem beträchtlich erstarkten jüdischen Nationalismus in seine soziologisch berechtigten Grenzen einzuschließen. Es handelt sich um ein typisches Beispiel dessen, was Gabriel Tarde die „imitation par opposition" nennt: der jüdische Nationalismus ist nichts anderes, als der sogenannte wissenschaftliche Antisemitismus mit negativem Vorzeichen. Er will sich und anderen einbilden, daß die Juden Westeuropas jüdisches „Nationalbewußtsein" haben oder doch haben sollten. Ich habe damals zuerst im Zentralorgan der zionistischen Partei, der „Welt", unter dem Titel „Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein" darzulegen versucht, wie vielfältig die Gruppenzugehörigkeit eines Mitgliedes einer modernen Gesellschaft sein kann, und habe das auch noch später mehrfach in mir aufgezwungenen polemischen Kämpfen vertieft und erweitert, auch in meinen Vorlesungen über Soziologie ausführlich dargestellt. Ich habe von mir persönlich ausgesagt, ich hätte jüdisches Stammesbewußtsein, märkisches Heimatsbewußtsein, preußisches Staatsbewußtsein, deutsches Volksbewußtsein und schließlich deutsches, aber doch auch starkes europäisches Kulturbewußtsein.

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Oppenheimer, Der Staat, Frankfurt a. M. 1907. [Siehe im vorliegenden Band, S. 309-385; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Was hier gelegentlich entwickelt worden ist, hat Amonn das Verdienst, zum ersten Male in systematischer Anlage dargestellt und historisch breit und sicher unterbaut zu haben. Die kleine Schrift strotzt von Inhalt; ein weniger präziser und geschlossener Denker hätte leicht einen dicken Band daraus machen können. Um so mehr wünschen wir ihr aufmerksame Leser in Fülle; er erschließt viele weite und fruchtbare Ausblicke für diejenigen, für die es offenbar geschrieben ist, nämlich für Menschen, die eher nach Anregung zu eigenem Denken, als nach fertig bereiteter und womöglich schon vorgekauter Speise verlangen.

Staat und Gesellschaft [1924]1

Meine Damen und Herren! Von Staat und Gesellschaft reden, d. h. nicht von fernen Dingen reden, mit denen man sich, je nach Lust und Laune, beschäftigen kann oder auch nicht kann, sondern d. h.: von sich selbst, von seinen, vielleicht nicht höchsten, aber fundamentalsten Interessen reden. Aus den unzähligen Einzelproblemen, die das weltweite Thema in sich schließt, will ich heute zwei mir besonders wichtige herausheben. Die Entstehung unserer heutigen politischen Gesellschaft ist die erste Frage. Hier fassen wir Staat und Gesellschaft als ein einheitliches Erfahrungsobjekt auf, als ein Gewirke, das wir als ein Ganzes, und nicht auf seine Bestandteile hin betrachten. Das zweite Problem ist die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft zueinander. Hier fassen wir die Elemente, Schuß und Kette des Gewirks, ins Auge, ihr verschiedenes Wesen und ihren verschiedenen Ursprung in der Seele des Menschen. Die erste Frage nach der Entstehung der politischen Gesellschaft ist weit entfernt davon, nur akademisches Interesse zu besitzen. Sie hat vielmehr die schwerste, drohendste, furchtbarste praktische Bedeutung für unsere Gegenwart. Sie ist geradezu das Rätsel der Sphinx, das die europäische Menschheit lösen muß, heute noch, spätestens morgen lösen muß, oder sie zerschellt im Abgrunde. „Nichts ist gewaltiger als der Mensch", sagt das griechische Dichterwort. Der Poet hatte den einzelnen Menschen im Auge, die starke Persönlichkeit, den Helden, der das Schicksal noch, und gerade dann besiegt, wenn es ihn zermalmt. Wir aber denken heute, wenn wir das Wort anführen, weniger an den großen Einzelnen als an die Völker als Gesamtheiten. Ihre vereinte Kraft ist die gewaltigste Elementarkraft der Welt, im Frieden und im Kriege. Das haben wir während der letzten schweren Jahre in schauernder Ehrfurcht erkannt. Was sind Blitzschlag und Feuersbrunst, Sturmflut und Erdbeben gegen diese Zerstörungsgewalt, die ungezählte Millionen blühender Menschenleben vernichtet, die in ganzen Provinzen das reichste Ackerland in schauerliche Wüsteneien verwandelt, die Tausende von Dörfern und Städten niedergekeult hat? Es ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Soziologie, die Menschheit zu lehren, diese ungeheuerste aller Elementarkräfte ebenso sicher zu beherrschen, wie sie gelernt hat, den Dampf und die Elektrizität zu beherrschen; dann erst kann das Morgenrot wahrer Kultur an unserem Himmel emporsteigen; bisher hatten wir nur „Zivilisation", und das ist aufgedonnerte Barbarei! Was ist es, das die Völker zu einheitlichen Massen zusammenfaßt, und dadurch zu so riesenhaften Stoßkörpern verschmelzt und zu so ungeheuren Leistungen der Schöpfung und Zerstörung bewegt? Es sind Ideen\ Wir wollen hier nicht fragen, woher sie stammen, ob sie aus materiellen Interessen erwachsen oder nicht. Genug, daß sie die ersten uns erkennbaren Bewegerinnen, die proximae causae des geschichtlichen Geschehens sind.

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[Dieser Artikel ist erstmals erschienen in: Japanisch-Deutsche Zeitschrift für Wissenschaft und Technik, Bd. 2 (1924), S. 137-152; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Von einer solchen Idee habe ich Ihnen zuerst zu sprechen, von der zur Zeit gefährlichsten von allen. Sie ist es, die heute, um ein anderes, trüberes Weiswort aus Hellas anzuführen, jede Nation „in zwei Völker zerspaltet, die einander nach dem Leben trachten". Aristoteles sprach es aus in einer Zeit, die der unseren sehr ähnlich war in Verwirrung und Zersetzung. Wie damals, so tobt auch heute der Kampf der Klassen; und wie er damals die antike Gesellschaft zerstörte, so droht er heute die unsere in den Abgrund zu stürzen. Wie damals, so stehen auch heute die Ideen des bürgerlichen Liberalismus und des Kommunismus in tödlicher Feindschaft einander gegenüber. Ein Blick auf Rußland genügt, um uns zu zeigen, daß diese Zerstörungsgewalt noch größer ist als selbst die des Krieges. Was aber hat den Abgrund über den es keine Brücke gibt, zwischen den feindlichen Brüdern aufgerissen? Nichts anderes als eine Idee! Sie können sich im Praktischen nicht finden, weil sie sich im Theoretischen nicht einigen können. Warum aber können sie sich nicht einigen? Sind die Tatsachen überaus verworren und vielfältig, die es zu verstehen und dadurch zu beherrschen gilt? Durchaus nicht! Sie sind so einfach und durchsichtig wie nur möglich. Wir denken hier an ein drittes, an ein allertriibstes Weiswort aus Hellas' großer Zeit: „Was die Menschen in Verwirrung setzt, das sind nicht die Tatsachen, sondern das sind ihre Meinungen über die Tatsachen." Die Idee, die uns zu vernichten droht, ist solch eine „Meinung", ist eine falsche Idee, ist nichts als ein Irrtum. Ein uralter, kaum je angefochtener Irrtum, ein ohne Prüfung als wahr angenommener Satz, ein Axiom, daß den beiden großen Parteien als Voraussetzung ihrer Schlüsse dient. Weil sie beide von der gleichen falschen Prämisse ausgehen, können sie sich nicht einigen: und daran droht unsere Welt zu zerbrechen. Dieser verderbenschwangere Irrtum, diese Wurzel aller unserer Übel, ist die Theorie von der Entstehung von Staat und Gesellschaft, dem Fachmann bekannt als das „Gesetz von der ursprünglichen Akkumulation". Ich werde es kurz darstellen und bin darauf gefaßt, daß Sie achselzuckend über den Toren lächeln werden, der sich in theoretischer Verranntheit so weit versteigen kann, eine derartige Harmlosigkeit als den Sprengstoff anzuschauen, der eine ganze Welt in Atome zu zerstauben droht. Aber ich werde ihnen zu zeigen versuchen, daß hier die tiefste logische, ideenmäßige Wurzel sowohl der bürgerlichen wie der proletarischen Gesellschaftslehre steckt: die Wurzel, aus der der Klassenkampf unserer Zeit seine ungeheuere Kraft saugt, die treibende Kraft der Zerstörung. Das Gesetz von der ursprünglichen Akkumulation ist, auf seine kürzeste Formel gebracht, die Lehre, daß der entwickelte Staat und die entwickelte Gesellschaft, vor allem unser Staat und unsere Gesellschaft, die Schöpfung sind der freien Konkurrenz. Nach dieser Auffassung, die uns bereits aus dem Altertum, von den beiden sonst einander durchaus widersprechenden Philosophien der Stoa und Epikurs, überkommen ist, ist der Keimling von Staat und Gesellschaft die Urgesellschaft der Freien und Gleichen, die sich durch allmähliches Wachstum aus der Familie entfaltet hat. Sie wird im weiten, leeren fruchtbaren Ackergebiet immer zahlreicher, bis sie es aufgefüllt, bis an seine Grenzen besetzt hat. Bis zu diesem Zeitpunkte kann eine gröbere Differenzierung der Einkommen und daher der Vermögen nicht entstehen; denn so lange kann eine Klasse vermögensloser Arbeiter, „freier Arbeiter" in Marx' Ausdruck, nicht entstehen. Solange noch freies Land vorhanden ist, wird jeder aus dem noch so zahlreichen Nachwuchs Bauer oder wird Handwerker oder Händler für die Bauern, und irgendein Großeigentum an Grund und Boden oder an „Kapital" kann nicht entstehen oder bestehen, weil seine Voraussetzung fehlt: die Verfügung über eine Klasse vermögensloser, von ihrem Produktionsmittel getrennter, auf Lohnarbeit angewiesener Menschen. So stellen es die beiden Kirchenväter der bürgerlichen Soziologie dar, Turgot und Adam Smith; und gerade so, im Schlußkapitel des ersten Bandes seines „Kapital", der Kirchenvater des wissenschaftlichen Kommunismus, Karl Marx. Er sagt klipp und klar, daß in einer „freien Kolonie" mit reichlich fruchtbarem Boden kein Kapitalismus bestehen

Staat und

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kann, weil der freie Arbeiter verschwindet, „aber nicht ins Work-house", sondern sich des Landes als seines Produktionsmittels bemächtigt. Und ohne freie Arbeiter kein Kapitalismus! Wenn aber erst einmal alles freie Land besetzt ist, dann ändert sich das Bild. Dann entstehen die Klassen der Besitzenden oben und der Besitzlosen unten, und zwar durch die freie Konkurrenz! Glück und Begabung bringen den einen empor, Unglück und Mangel an Begabung den andern herab; hier häuft sich der Grund und Boden und das Kapital in einer Hand an, dort entstehen Arme: und jetzt kann das eben entstandene, relativ noch kleine Großeigentum bewirtschaftet, „exploitiert" werden, weil seine Voraussetzung, die Klasse freier Arbeiter, jetzt gegeben ist. Und nun schreitet die wirtschaftliche Differenzierung durch die freie Konkurrenz zwischen Begabten und Unbegabten, Glücklichen und Unglücklichen, immer gewaltiger und schneller voran; wo Tauben sind, fliegen Tauben zu; das Großeigentum an Grund und Boden schwillt immer riesenhafter an, die Klassen scheiden sich immer schroffer voneinander, werden aus wirtschaftlichen Vermögens- zu sozialen Rang- und Rechtsklassen - bis der entfaltete Staat, die entfaltete Gesellschaft, bis unser Staat, unsere Gesellschaft fertig dastehen, mit ihrem schamlosen Reichtum oben, ihrer zermalmenden Armut unten, ihrem Klassenkampf, ihren Wirtschaftskrisen, ihren internationalen Kämpfen um den Weltmarkt, um die Weltherrschaft der Weltausbeutung. Daß diese Lehre die Grundsäule aller bürgerlichen Gesellschaftslehre ist, keinem Fachmann wird es einfallen, es auch nur einen Augenblick zu bezweifeln. Alle Ökonomik und Historik der bürgerlichen Wissenschaft ruht auf ihr, als ihrem keines Beweises bedürftigen Axiom. Aber selbst Fachmänner werden erstaunt sein, die Behauptung zu vernehmen, daß auch die proletarische Gesellschaftslehre, der Kommunismus, auf dem gleichen Axiom beruht. Hat doch, wie bekannt, gerade Karl Marx die Schale seines grimmigsten Zornes über jene Theorie von der Klassenentstehung ausgeschüttet, die er hohnvoll als die „Kinderfibel von der ursprünglichen Akkumulation" bezeichnet hat! Er hat mit den stärksten historischen Tatsachen gezeigt, daß die heutige Gesellschaft und der heutige Staat nicht entstanden sind nach dem Schema jenes „bürgerlichen Idylls", nicht durch die freie Konkurrenz zwischen Gleichgestellten; sondern daß das Großeigentum auf der einen und die proletarische Klasse der Arbeiter auf der anderen Seite geschaffen worden sind „durch einen Prozeß, der in den Büchern der Weltgeschichte eingeschrieben ist mit Zügen von Blut und Feuer", durch Eroberung, Versklavung, Sklavenhandel, Raub, Wucher, Erpressung, Bestechung und derartige andere „außerökonomische" Handlungen. Wie kann, so fragt der Kenner seiner Werke, gegenüber dieser Tatsache die Behauptung gewagt werden, daß auch die Marxsche Theorie auf eben diesem, von ihm mit so viel Kraft und Glück widerlegten Gesetz beruhe? Und doch ist die Behauptung richtig. Karl Marx war bereits Kommunist, als er daran ging, die historischen Verhältnisse zu untersuchen, und es ist ihm niemals geglückt, sich von den Vorstellungen, den „Meinungen" seiner ersten Jugendzeit zu befreien. Er blieb Kommunist, weil er sich niemals klar gemacht hat, daß der Kommunismus gar keine andere logische Wurzel hat als eben jene Theorie, jene „Kinderfibel", und daß, wer diese Kinderfibel zerstört, mit ihr die einzige logische Wurzel des Kommunismus ausrodet. Darüber ein kurzes Wort. Was will der Kommunismus oder was erhofft er? Eine Gesellschaftswirtschaft ohne Markt, Preis und Geld! Wie kommt er auf diese im höchsten Maße fremdartige Konstruktion? Er muß zugeben, daß überall, wo eine Menschengesellschaft zu größerer Zahl und Dichte wuchs, der Markt mit allen seinen Attributen sich gerade so „natürlich" entwickelt hat, wie die Sprache und das Recht. Warum will er an die Stelle dieses Spiels der freien Kräfte, unter dessen Herrschaft die Völker doch immerhin gelebt haben, eine gewaltige, von einer Zentralstelle aus dirigierte Maschinerie der Erzeugung und Verteilung der Güter setzen, die noch niemals, eingestandenermaßen, in irgend großem Maßstabe funktioniert hat? und die - vorausgesetzt selbst, daß sie funktionieren wird - nur aufrecht erhalten werden kann, wieder eingestandenermaßen, nur mit unerträglichen,

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mindestens schwer erträglichen Beschränkungen der Freiheit fast aller Bürger, denen ihre Arbeit nach Zeit, Ort, Art und Maß von der Behörde angewiesen wird, und die in bezug auf ihren Verbrauch ebenfalls sich starken Beschränkungen unterwerfen müssen? Es gibt keinen erfahrungsmäßigen Grund für diese Absicht oder Hoffnung, sondern nur einen logischen Grund, und zwar den Glauben der „Kinderfibel", daß die freie Konkurrenz immer wieder jene Ungleichheiten der wirtschaftlichen Lage, jenen Klassenkampf herbeiführen müßte, selbst wenn der Zustand der Gleichheit durch irgendeine Umwälzung einmal auf einen Augenblick herbeigeführt wäre! So beruht denn in der Tat auch der proletarische Sozialismus, soweit er nicht überhaupt bloß in dumpfen Gefühlen des Hasses und Neides, sondern in Gedanken wurzelt, beruht sogar auch der großartige Bau des Marxschen wissenschaftlichen Kommunismus auf dem gleichen Grundaxiom, auf dem auch die bürgerliche Gesellschaftslehre ruht, auf dem Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, auf der Theorie, daß aus jedem Zustand der Gleichheit heraus die freie Konkurrenz zwischen verschieden Begabten binnen kurzer Zeit den Zustand der Klassenspaltung und des Klassenkampfes mit all ihren furchtbaren Folgen herbeiführen muß, unter dem wir jetzt zugrunde zu gehen drohen. Das ist die gemeinsame Prämisse. Und daraus ergibt sich die Unversöhnbarkeit der Folgerungen, die beide Parteien aus dieser gleichen Voraussetzung ziehen. Die Bürgerlichen sagen: ohne Markt und Konkurrenz kann die menschliche Wirtschaft, und daher die menschliche Gesellschaft nicht bestehen; wir müssen also notgedrungen ihre Schäden mit in Kauf nehmen und können nur danach streben, sie nach Möglichkeit zu mildern. Die Kommunisten aber sagen umgekehrt: diese Schäden sind unerträglich, sie zerstören Wirtschaft und Gesellschaft; folglich müssen Markt und Konkurrenz verschwinden und durch die „Produktion und Distribution für und durch die Gesellschaft", d. h. durch den Kommunismus ersetzt werden. Nun, die beiderseitige Voraussetzung ist falsch, und damit fallen die beiderseitigen Folgerungen. In der Tat, darin hat die bürgerliche Lehre, der Liberalismus, Recht, ist eine Volkswirtschaft ohne Markt nicht denkbar: aber er hat Unrecht, zu behaupten, daß jene schweren Schäden die Folge der Konkurrenz sind. Die Klassen sind nicht durch die Konkurrenz zwischen Menschen von verschiedener wirtschaftlicher Begabung entstanden; und nichts beweist, daß sich der Zustand der krassen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit unter der Wirkung der freien Konkurrenz alsbald wieder einstellen würde, wenn durch irgendeine Umwälzung ein Zustand der Gleichheit als neuer Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung geschaffen worden wäre. Fassen wir zunächst die erste, die historische Frage der Entstehung der geschichtlichen Klassen ins Auge, so liegt uns aus der allerletzten Zeit ein großartiger Versuch vor, die Grundvoraussetzung aller bürgerlichen Gesellschaftslehre erneut gegen die starken Angriffe zu sichern, die vor allem Marx, aber auch die neuere Völkerkunde, namentlich Wilhelm Wundt, dagegen gerichtet hatten. Ich spreche von Gustav Schmollers nachgelassenem Werke „Die soziale Frage". Hier hat der größte Vorkämpfer des Bürgertums noch aus dem Grabe heraus das äußerste getan, um den erschütterten Grundpfeiler neu zu stützen. Und das Ergebnis ist, daß er selbst ihn umgestürzt hat. Schmoller hat nicht mehr wagen dürfen, den Kernsatz zu verteidigen, daß die freie Konkurrenz der wirtschaftlich verschieden Begabten den heutigen Zustand herbeigeführt habe, daß also die wirtschaftliche Tugend den Preis gewonnen habe: der starke, fleißige, kluge, vorsichtige, sparsame Arbeiter. Sondern er läßt außer dem Kaufmann, den Priester und den Krieger den Kranz davon tragen, und zwar nicht dank wirtschaftlicher Tugend, sondern durch List und Gewalt. Das aber heißt, daß jener Grundpfeiler gestürzt ist. Denn von List und vor allem von Gewalt war in jener wirtschaftlichen Tugendlehre niemals die Rede, sondern nur von freier Konkurrenz unter gleichen ehrlichen Bedingungen des Wettlaufs. Schmoller macht hier einen typischen Kreisschluß; er schließt zuerst aus dem Erfolge des Priesters und Kriegers auf die Begabung, und leitet dann wieder aus der Begabung den Erfolg ab. Und vergißt im Eifer ganz, daß er den Erfolg nicht auf irgendwelche, sondern auf eine ganz bestimm-

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te, nämlich die rein wirtschaftliche Begabung zurückzuführen hatte, wenn er seine These wirklich beweisen wollte. Wie ist denn nun der Staat, wie ist die Gesellschaft, wie sind die Klassen in Wirklichkeit entstanden? Nun, die historischen Tatsachen sind klar und eindeutig. Was Marx behauptet hat und was Schmoller ihm notgedrungen hat zugeben müssen, ist unzweifelhaft Wahrheit: die Staaten und die Klassen haben sich nicht allmählich gebildet durch wirtschaftliche Differenzierung im Prozeß der freien Konkurrenz, sondern sind mit einem Schlage geschaffen worden durch außerökonomische Kräfte, durch List, geistliche Ubermacht und vor allem durch erobernde Gewalt. Freilich, am Anfang der Menschheitsgeschichte steht die Horde der Freien und Gleichen, die erweiterte Blutsfamilie der primitiven Jäger, die Ernst Große charakteristisch und richtig als „praktische Anarchisten" bezeichnet. Und freilich: diese Urgesellschaft ist gewachsen zum Hordenverband, zum Stamm und schließlich zum Stammesverband, wie ihn uns die höchste Bildung dieser Art, der Bund der Irokesen, darbietet. Aber bis zu dieser Stufe empor hat die freie Konkurrenz keine der ihr nachgesagten verhängnisvollen Wirkungen entfaltet. Die wirtschaftliche Differenzierung ist überaus winzig, macht nirgends auch nur den ersten Schritt zu der Bildung von Vermögensoder gar Rangklassen; die Verfassung bleibt bis zur höchsten Stufe empor die einer fast als ideal zu bezeichnenden Demokratie. Keine Spur ζ. B. von dem Mißbrauch der Ämter zum Zwecke der persönlichen Bereicherung oder Machtvermehrung! Und es ist bei aller Roheit doch ein schöner Typus von starkem stolzen Menschentum, den uns vor allem Morgans berühmtes Buch zeichnet. Nicht umsonst will jeder vornehme Amerikaner Indianerblut in seinen Adern haben, während die geringste Beimischimg von Negerblut den Träger ächtet! Vor allem aber: aus diesen vorstaatlichen Erweiterungen der alten Urhorde ist niemals und nirgends durch einfache Weiterentwicklung aus inneren Kräften heraus ein Staat im eigentlichen weltgeschichtlichen Sinne, d. h. eine Hierarchie einander über- und untergeordneter Klassen entstanden. Sondern diese Klassenstaaten und Klassengesellschaften sind ausnahmslos entstanden durch außerökonomische Gewalt, selten durch geistliche, in der Regel durch erobernde Waffengewalt, soweit es sich nicht um Pflanzstaaten handelt, die die Klassengliederung des Mutterlandes fertig in die neue Heimat herübernahmen. Das lehrt jeder Blick in die Weltgeschichte. Wo wir überhaupt den Ursprung der Staaten kennen, wissen wir, daß sie entstanden sind durch Unterwerfung eines Volkes durch das andere; Babyloner, Meder, und Perser, Ägypter und Hyksos, Kelten und Germanen, Briten und Sachsen, Sachsen und Normannen! Und das gleiche lehrt uns die Völkerkunde. Ratzel zeigt uns, daß in der alten Welt fast immer Hirten es waren, die Bauernvölker besiegten und sich als Adel über sie setzten, ihr Land und ihre Arbeitskraft für sich nahmen um sie politisch zu beherrschen und wirtschaftlich auszubeuten. In der neuen Welt übernehmen höhere Jäger die Rolle der altweltlichen Hirten. Und Wilhelm Wundt erklärt klipp und klar, daß die „politische Gesellschaft" eine Schöpfung nicht der friedlichen Differenzierung, sondern der Wanderung und Eroberung ist. Was die historische Induktion in allen ihr überhaupt zugänglichen Fällen zeigt, das läßt sich nun aber außerdem und geradezu zur mathematischen Evidenz erhärten durch die Deduktion. Wir haben am Anfang dieser Erörterung als gemeinsamen Besitz der beiden streitenden Lehrmeinungen den unbestrittenen und unbestreitbaren Satz kennengelernt, daß die wirtschaftliche Differenzierung durch die freie Konkurrenz erst von dem Augenblick an beginnen kann, wo dem Siedlungsbedürfnis kein freies Land mehr zur Verfügung steht. Nun, man braucht nur einmal nachzurechnen und man erkennt, daß heute noch, selbst in den dichtestbesiedelten Kulturländern, die verfügbare Fläche fruchtbaren Landes viel größer ist, als sie von der vorhandenen agrarischen Bevölkerung gebraucht werde. Um das uns am nächsten liegende Beispiel anzuführen, so hatte Deutschland in seinen Grenzen vor dem Kriege 34 Millionen Hektar Nutzland - ohne die Forsten.

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Eine deutsche Bauernfamilie braucht nach allen Autoritäten zu voller mittelständischer Selbständigkeit durchschnittlich 5 Hektar, gleich 1 Hektar pro Kopf. Deutschland könnte also bei gleicher Verteilung seines Nutzlandes 34 Millionen Köpfe selbständiger Bauernfamilien ernähren. Aber die gesamte agrarische Bevölkerung betrug nicht ganz die Hälfte dieser Summe, weniger als 17 Millionen Köpfe, und davon waren nicht weniger als 9 1/2 Millionen landwirtschaftliche Arbeiter samt ihren Angehörigen, also Leute ohne alles oder mit nur ganz wenigem Grundeigentum. Und von dem Rest waren auch noch viele Zwerg- und Parzellenbesitzer. Die Lösung des Rätsels ist, daß rund ein Viertel der Nutzfläche zwanzigtausend Großbesitzern und rund ein Drittel 225.000 Großbauern gehörte, so daß eine Viertel Million Besitzer über die Hälfte der Nutzfläche mit Beschlag belegten. Trotzdem würde der Rest immer noch ausreichen, um die gesamte Bevölkerung, weitere 5 1/2 Millionen Betriebe, in bäuerlicher Selbständigkeit unterzubringen, wenn nicht auch die größeren Mittelbauern weit über das doppelte der ihnen bei gleicher Verteilung zustehenden Durchschnittsfläche besäßen. Alle diese Kategorien, zusammen 5/4 Millionen Betriebe, belegen zusammen ungefähr 90% der Fläche. Da bleibt natürlich für die anderen 4 1/2 Millionen Betriebe nicht mehr genug übrig. Diese Tatsache, die in allen anderen Ländern in mindestens derselben Schärfe besteht, widerlegt die „Kinderfibel" endgültig. Nach ihr soll Großeigentum an Grund und Boden erst entstehen können von dem Augenblick an, wo alles Land von kleinen Mittelbauern besetzt ist. Dann erst kann eine Klasse besitzloser freier Arbeiter entstehen. Hier aber zeigt sich, daß Großeigentum und Arbeiterklasse schon zu einem Zeitpunkt vorhanden sind, wo die agrarische Gesamtbevölkerung noch nicht die Hälfte der erforderlichen Zahl erreicht hat. Also kann Großeigentum und Arbeiterklasse nicht nach dem Schema der „Kinderfibel" entstanden sein. Da sie aber beide vorhanden sind, so können sie nicht anders entstanden sein als dadurch, daß ein kleiner Teil der Bevölkerung den größten Teil des Grund und Bodens gewaltsam sperrte und derartig auf der einen Seite das Großeigentum und auf der anderen Seite die Arbeiterklasse mit einem Schlage außerökonomisch in die Welt setzte. Damit ist das erste unserer Probleme, die Entstehimg des Klassenstaats und der Klassengesellschaft, völlig gelöst. Wenden wir uns jetzt dem zweiten Problem zu, der Frage nämlich, ob die freie Konkurrenz binnen kürzester Zeit den Klassenstaat und die Klassengesellschaft wieder entwickeln werde aus einem Zustande der neugeschaffenen Gleichheit heraus, etwa nach einer Umwälzung, einer „weisen Teilung" wie die russischen Bauern des Zarenreiches sie erhofften? Auf den ersten Blick scheint die Meinung ohne jeden Grund. Nichts nämlich ist gewisser, als daß die freie Konkurrenz überall dort, wo sie sich auswirken kann, gerade umgekehrt, die Gleichheit der Einkommen und der Wirtschaftslage erzwingt. Die Ausgleichung der Profite in der Kapitalistenklasse und die Ausgleichung der Löhne in der Arbeiterklasse ist eine unbestrittene Tatsache. Wie kommt es, daß die freie Konkurrenz nicht auch zwischen Kapitalisten- und Arbeiterklasse die gleiche Ausgleichung der Einkommen herbeiführt. Besinnen wir uns, um die Antwort zu finden, auf den wissenschaftlich strengen Begriff der freien Konkurrenz. Sie ist nach Adolph Wagner nur dann gegeben, wenn jeder, der sich an einer Produktion beteiligen will, es auch kann und darf. D. h. mit anderen Worten: freie Konkurrenz besteht nur dort, wo kein Monopol besteht. Wo nämlich ein sogenanntes „natürliches" Monopol besteht, da kann, - wo ein rechtliches Monopol besteht, da darf sich nicht jeder an der Produktion beteiligen. Und da kann natürlich die Ausgleichung der Einkommen nicht eintreten. Da bezieht vielmehr der durch das Monopol Begünstigte über den Wert seiner Arbeitsleistung hinaus ein Plus, den „Monopolgewinn", den Mehrwert. Um diesen Mehrwert verkauft er sein Produkt teurer, als bei freier Konkurrenz geschehen würde (Verkaufsmonopol), oder kauft er das Produkt seines Kontrahenten billiger als bei freier Konkurrenz geschehen würde (Einkaufsmonopol). Das ganze Geheimnis beruht nun darin, daß die Kapitalistenklasse, als Gesamtheit, der Arbeiterklasse, wieder als

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Gesamtheit, als die Nutznießerin eines Einkaufsmonopols gegenübersteht. Das „gesellschaftliche Klassenverhältnis", als das Karl Marx in genialer Intuition das Kapital bezeichnete, ist von ihm als ein Klassenmonopolverhältnis auf das deutlichste beschrieben, aber leider nicht auch als solches bezeichnet worden, wie er denn überhaupt den Begriff des Monopols im Banne seines Meisters Ricardo fast gänzlich vernachlässigt hat. Und dieses Monopol wurzelt in der Sperrung des Grund und Bodens durch eine schmale Klasse der Besitzenden gegen die große Mehrheit des Volkes, die eben dadurch zu einer Klasse „freier Arbeiter" gemacht worden ist. Jedermann nämlich braucht Grund und Boden auf das Dringendste, mindestens als Wohnort und als Standort seiner Produktion, die Landwirte und Gärtner auch als ihr Produktionsmittel. Die Besitzenden verfügen über dieses Unentbehrliche und könnten im Notfall auch ohne fremde Lohnarbeiter davon existieren. Folglich ist im Verhältnis der Nichtgrundbesitzer zu den Grundbesitzern jene „einseitige Dringlichkeit des Austauschbedürfnisses" gegeben, die jedes Monopolverhältnis charakterisiert. Wir erhalten also folgenden Zusammenhang: ohne außerökonomische erobernde Gewalt gäbe es keine Bodensperrung; ohne Bodensperrung gäbe es keine Klasse freier Arbeiter; ohne freie Arbeiter gäbe es keinen Kapitalismus. Jedes noch so dicht besiedelte Land des Planeten wäre ohne jene erobernde Gewalt auch heute noch und auf unabsehbare Zeit hinaus eine „freie Kolonie" in Marx' Sinne, in der nach seiner ausdrücklichen Feststellung kein Kapitalismus möglich wäre, weil „der freie Boden den freien Arbeiter aufsaugt". Unser Ergebnis ist von der größten theoretischen und praktischen Bedeutung. Wenn es wahr ist - und wir sehen nicht, wie es noch bestritten werden könnte -, daß die Bodensperrung zwischen den beiden Klassen ein ungeheueres Monopolverhältnis konstituiert, ein Monopolverhältnis, das geradezu das Fundament dieses Staates und dieser Gesellschaft ist, dann hat seit drei Jahrtausenden eine Unschuldige unter dem ungerechtesten aller Verdammungsurteile geschmachtet: die freie Konkurrenz. Von Piaton bis auf Marx und Lenin hat sie der Sozialismus als die Urheberin aller Übel der Welt verurteilt - und jetzt stellt sich heraus, daß sie niemals die Herrschaft über diese Welt geführt hat. Denn - wir haben den wissenschaftlich strengen Begriff der freien Konkurrenz dargestellt - sie besteht nur dort, wo kein Monopol besteht; wir aber haben jetzt erkannt, daß der Klassenstaat und die Klassengesellschaft auf dem ungeheuersten und gewaltigsten aller Monopole aufgebaut sind, auf der Monopolisierung alles Grund und Bodens durch eine Minderheit. Folglich darf man im wissenschaftlich strengen Sinne nicht von freier Konkurrenz in dieser Gesellschaft sprechen. Was wir um uns beobachten, was wir irrtümlich bisher als freie Konkurrenz betrachtet haben, ist im Gegenteil ihr Gegenspiel und Widerpart, ist die „ungetreue Magd" des Märchens, die Namen und Gewand der echten Königstochter gestohlen hat, ist die „beschränkte Konkurrenz" der Monopolisten untereinander einerseits und der Monopolisten mit ihren Opfern, den freien Arbeitern, andererseits. Dieses Ergebnis ist, wir wiederholen es, von der größten theoretischen und praktischen Tragweite. Es zeigt, daß die Völker, um ihrer tödlichen Not zu entrinnen, nichts anderes zu tun haben, als den nie verwirklicht gewesenen Anfangszustand der Gleichheit erst einmal herzustellen; und daß sie dann voller Vertrauen die echte Königstochter auf den Thron setzen, die freie Konkurrenz walten lassen dürfen, um die einmal errungene Gleichheit durch die volle Freiheit in alle Ewigkeit zu erhalten. Ja, ich glaube sogar bewiesen zu haben, daß es völlig genügen würde, nur das Monopol der Bodensperrung durch die sanftesten aller Mittel zu beseitigen, um binnen kurzer Zeit durch die freie Konkurrenz die Gleichheit herzustellen. Aber das sind praktische Fragen, die hier nicht zur Erörterung stehen. Wenden wir uns jetzt von diesen praktischen Fragen dem zweiten unserer theoretischen Probleme zu, dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft zueinander.

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Dieses Problem haben sich weder das Altertum noch die beginnende Neuzeit gestellt. Von Piaton bis auf Hegel bedeuten den Philosophen Staat und Gesellschaft das gleiche: ein einziges unteilbares Realphänomen. Wenn Piaton und seine Nachfolger von der Politeia oder Civitas sprechen, so meinen sie Staat oder Gesellschaft; und Hegel braucht die Ausdrücke „Staat - Volk - Vaterland" als Synonyma. Wir verstehen heute sehr gut, daß und warum es nicht anders sein konnte. Die bewirtschaftete, ausgebeutete und beherrschte Klasse des Altertums ist die Sklavenschaft, die als Inbegriff rechtloser Haustiere von menschlicher Gestalt nicht zur Nation und nicht zur Gesellschaft gehört. Hier sind also der Staat und die Gesellschaft in diesem engeren Sinne, als der Inbegriff der politisch berechtigten Bürger, so gut wie identisch, wie sich denn überhaupt und überall - wir können es an der politischen Psychologie des modernen Deutschland vortrefflich studieren - die herrschende Klasse mit dem Staate gleichsetzt. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die Entdeckung, daß sich in dem „Erfahrungsobjekt" der modernen politischen Gesellschaft zwei eng miteinander verwobene, aber begrifflich und ihrer Wurzel nach streng zu scheidende „Erkenntnisobjekte" verbergen, ist genauso altwie die moderne Soziologie. Und diese beginnt, wie wir retrospektiv jetzt zu erkennen vermögen, mit dem Augenblick, wo die ersten Zweifel an der Wahrheit jenes Grundaxioms aller alten Staats- und Gesellschaftslehre auftauchen: der Lehre von der ursprünglichen Akkumulation. Wenn der Vater der Soziologie der Graf Saint-Simon ist, so ist ihr Großvater - oder doch einer ihrer Großväter - Quesnay. Man kann in seiner Lehre vielleicht den ersten, noch haarfeinen Ansatz der Spaltung erkennen, die im Laufe der nächsten 11/2 Jahrhunderte den so lange einheitlichen Begriff der politischen Gesellschaft in die beiden getrennten Begriffe von Staat und Gesellschaft zerlegte. Er unterscheidet bekanntlich scharf zwischen der politischen Gesellschaft, wie sie sein soll oder sollte, dem „ordre naturel" - und wie sie leider ist: dem „ordre positif". Die erste Ordnung ist die aus ihren eigenen inneren Kräften und Gesetzen heraus voll entwickelte Gesellschaft, namentlich die Wirtschaftgesellschaft. Der „ordre positif" aber, das ist die durch Eingriffe der übel beratenen Staatsgewalt verderbte und in ihrer natürlichen Funktion verzerrte Gesellschaft. Quesnay, der einer der größten Ärzte seiner Zeit war, faßt also den „ordre naturel" als die Gesundheit, den „ordre positif" als eine Krankheit des sozialen Körpers auf: denn Krankheit ist ja nichts anderes als der Ablauf des Lebens unter abnormalen Bedingungen. Wenn hier noch nur erst unterschieden wird zwischen der gesunden und der kranken politischen Gesellschaft oder, was noch ganz das gleiche bedeutet, zwischen dem kranken und den gesunden Staate, so haben wir bereits bei Saint-Simon die vollkommen klare Erkenntnis, daß es sich, sozusagen, nicht um eine zufällige, sondern um eine konstitutionelle Krankheit handelt. Saint-Simon bricht zuerst mit der „Kinderfibel". Er zeigt am Beispiele seines Frankreich, daß der moderne Staat durch Eroberung und Unterwerfung als Klassenstaat entstanden ist: Kelten und Germanen! Und er versteht es bereits fast vollkommen, die Unterscheidungslinie zu ziehen zwischen denjenigen Charakterzügen der politischen Gesellschaft, die aus der Unterwerfung, und denjenigen, die aus der inneren friedlichen Entwicklung erwachsen sind. Dort der Staat in seinem alten etymologischen Sinne, „lo stato": als der siegreiche Condottiere mit seiner Garde und seinem „Hofstaat" - das Wort deutet heute noch auf seinen Ursprung -; dort ferner die Herrschaft mit ihrem Amterwesen, der Adel, das feudale Großgrundeigentum, das Wesen der staatlichen Privilegien und Monopole. Hier aber, aus der friedlichen Entwicklung erwachsen, die Arbeitsteilung, die Gesellschaftswirtschaft, die „Industrie" als Inbegriff aller wirtschaftlichen Tätigkeit. Und er sieht bereits mit voller Klarheit, daß jene erstgenannten Institutionen nichts anderes sind als Schmarotzer, die auf dem Körper der Gesellschaft leben. Seine berühmte „Parabel" zeigt, daß das Leben Frankreichs unerschüttert weiter laufen würde, wenn eine Katastrophe plötzlich das Königspaar samt seiner ganzen Familie und den Hofstaat samt der Hochkirche fortraffen sollte; daß

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aber die schwerste Katastrophe unausbleiblich wäre, wenn der Tod plötzlich je fünfzig der leitenden Industriellen, Kaufleute, Bankiers, Chemiker usw. rauben würde. Was dieser Lehre im Grunde einzig noch fehlt, ist die terminologische Festlegung der Begriffe. Noch ist nicht klar zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden. Er unterscheidet anders - die Drohnen von den Bienen. Und er bereits findet in der Gegenwart die nachwirkende Schöpfung dieser gewaltsamen Eroberung als die Wurzel der sozialen Übel: das Großeigentum an Grund und Boden. Ihm will er durch eine konfiskatorische Erbschaftssteuer an die Lebenswurzel gehen und auf dieser Grundlage eine, wie man heute sagen würde, großartige „Planwirtschaft" aufrichten, die den alten Gewaltstaat ersetzen soll: eine Organisation des Volkes, die nicht mehr Herrschaft über die Menschen, sondern über die Sachen sein wird, eine Organisation, die im Sinne der modernen Soziologie nicht mehr „Staat", sondern nur noch „Gesellschaft" ist. Die Drohnen sind ausgerottet, es gibt nur noch Arbeitsbienen, und der soziale Friede im menschlichen Bienenstock ist für alle Zeit gesichert. Saint-Simon war noch nicht Sozialist, konnte es noch nicht sein. Denn die Zeit, in der er lebte, hatte den neuen Gegensatz zwischen den Klassen der industriellen Unternehmer und der Arbeiter noch kaum angelegt, geschweige denn voll entfaltet und zum Bewußtsein der Beteiligten gebracht. Noch fühlte sich der zumeist aus der Tiefe aufgestiegene relativ kleine Unternehmer jener Epoche als der frühere Arbeiter, und noch fühlte sich der Arbeiter als der künftige „Meister". Diesen neuen sozialen Gegensatz entwickelte und vertiefte erst das Menschenalter nach Saint-Simons Blütezeit, das machte seine Schüler zu voll bewußten Sozialisten, die nicht nur das feudale, sondern auch das bürgerliche Großeigentum als den Störenfried der sozialen Ordnung anklagten, Bazard und Enfantin an ihrer Spitze. Inzwischen hatte sich nun auch der sprachliche Ausdruck für den Gegensatz mehr und mehr eingebürgert. Ein anderer Schüler Saint-Simons, Auguste Comte, entwarf den Plan einer neuen Wissenschaft, die er zuerst „soziale Physik" und später „Soziologie" nannte. Damit war der Begriff der Gesellschaft neben dem des Staates eingeführt, und es blieb nur noch übrig, beide scharf gegeneinander abzugrenzen. Das aber stieß auf sehr bedeutende Schwierigkeiten. Denn der Begriff der Gesellschaft wurde von zwei einander feindlichen Gruppen für ihr Ideal in Anspruch genommen, von den zu Kapitalisten voll entfalteten städtischen Unternehmern, und von den Industrieproletariern, die sich inzwischen gleichfalls zu einer scharf abgegrenzten Klasse mit eigenem Klassenbewußtsein entwickelt hatten. Den „Bourgeois" galt ihre Gesellschaft des Kapitalismus grundsätzlich als das letzte Wort der geschichtlichen Entwicklung: als der ordre naturel; sie versuchten, diese Gesellschaft einerseits auf Kosten der immer noch bestehenden und nicht ganz ohnmächtigen Reste der Feudalverfassung auszudehnen, und andererseits gegen die immer stärker schwellenden Angriffe der Arbeiterklasse zu verteidigen. Dieser aber galt die bürgerliche Gesellschaft als eine todesreife und todeswürdige Staatsform, die durch die sozialistische Gesellschaft ersetzt werden soll und ersetzt werden wird. Jedermann sprach von der Gesellschaft, und jedermann verstand etwas anderes darunter: eine babylonische Sprachverwirrung, die nicht gerade dazu beitrug, das an sich schon schwierige sachliche Problem leichter lösbar zu machen. Die Verwirrung wurde zunächst noch größer, als diese Gedanken und Vorstellungen zuerst in die deutsche Staats- und Geschichtsphilosophie überflössen. Diese hatte sich in eigentümlicher Selbständigkeit neben der westeuropäischen, französisch-englischen entwickelt. Hier, im Westen, hatten von Descartes an Mathematiker und Naturwissenschaftler die Führung gehabt: in Deutschland waren es vorwiegend protestantische Theologen. Schon das bedang gewichtige Unterschiede der Auffassung; verstärkend dazu kam, daß die ganze modern-kapitalistische Entwicklung zu starken Einheitsstaaten im zersplitterten, zünftlerischen Deutschland noch kaum eingesetzt hatte, als England bereits auf der Höhe jener Entwicklung angelangt war, und das 1789 befreite Frankreich

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ihm mit Riesenschritten folgte. So fehlte hier der Gegensatz der Dinge und Klassen, und so konnte nur von jenseits der Westgrenze her in die deutsche Staats- und Geschichtsphilosophie ein Schimmer jener Problemstellungen fallen, mit denen die weiter vorgeschrittenen Nachbarn im Westen schon kräftig zu ringen hatten. So denkt denn auch noch der letzte der großen Philosophen unserer klassischen Zeit, Hegel, etwa platonisch. Und darum idealisiert er den Staat, wie ihn vor und nach ihm kein Denker von Rang idealisiert hat. Er verhält sich zu ihm etwa so, wie die bürgerlichen Theoretiker zur bürgerlichen Gesellschaft, vor allem der Wirtschaftsgesellschaft. Wie sie ihre kapitalistische Gesellschaft für das letzte Wort der geschichtlichen Entwicklung halten, für nicht eine historische, sondern „immanente Kategorie", d. h. für eine Institution, die dem Ideal so nahe kommt wie irdische Dinge aus grobem Stoff nun einmal der Idee nahe kommen können, so hält Hegel den Staat, in dem er lebt und lehrt, den aufgeklärten absolutistischen Beamtenstaat des vormärzlichen Preußen, für das Ideal des Staates an sich, grundsätzlich keiner weiteren Entwicklung und Verbesserung mehr fähig, trotz anerkannter kleiner Schäden im einzelnen. In dieser Gestalt kommt Anfang der vierziger Jahre die deutsche Staats- und Geschichtsphilosophie mit der französischen Soziologie in schöpferische Berührung. Es tritt sozusagen der Kurzschluß ein, und das Ergebnis ist die deutsche Soziologie und der deutsche wissenschaftliche Sozialismus. Im Jahre 1842 kommt einer der feinsten jungen Köpfe der Hegel-Schule, Dr. Lorenz Stein, nach Paris, um den zeitgenössischen Sozialismus und Kommunismus an der Quelle zu studieren. Er lernt alle die berühmten Schriftsteller persönlich kennen, vor allem die Saint-Simonisten, die den stärksten Einfluß auf ihn ausüben, aber auch Louis Blanc, den jungen Proudhon, Cabet und alle die anderen Häuptlinge der damals noch so einflußlosen und doch von den Spießbürgern aller Länder und ihren Regierungen so ingrimmig gehaßten und gefürchteten Sekten. Das Ergebnis seiner Studien war eines der einflußreichsten Bücher, die jemals die Presse verlassen haben: sein „Sozialismus und Kommunismus im heutigen Frankreich", zuerst 1842 erschienen, dann in erweiterter Form mehrfach neu aufgelegt. Peter v. Struve hat in der „Neuen Zeit" gezeigt, daß Karl Marx, der erst 1844, also zwei Jahre später, sich wissenschaftlich mit den sozialen Problemen zu befassen begann, hier seine wichtigsten Auffassungen gefunden hat. Wie man denn überhaupt, ohne der Größe des Mannes zu nahe zu treten, aussprechen darf, daß Karl Marx im wesentlichen nichts andres geleistet hat, als die nationalökonomische Theorie Ricardos und die soziologische Steins zu einem Rüstzeug für die Begründung und Propaganda des Kommunismus umzubiegen und umzuschmieden, dem er - wir haben es bereits gesagt - aus politischem Instinkt schon angehörte, bevor er wissenschaftlich darüber zu denken begann. Sein vorurteilsfreiester Schüler, Eduard Bernstein, sagt denn auch mit vollem Recht von ihm: „Dieser große Geist war schließlich doch der Gefangene einer Doktrin." Diese Doktrin ist der Kommunismus. So entstand aus der schöpferischen Berührung zwischen West und Ost der deutsche Sozialismus; und nicht minder entstand aus ihr die deutsche Soziologie. Von Stein stammt einerseits Schäffle und von diesem Spann, - stammt andererseits Gumplowicz ab. Von Stein stammt wahrscheinlich auch Eugen Dühring her, wenn es auch möglich sein mag, daß er unmittelbar von den Saint-Simonisten seine entscheidende Lehre „vom Gewalteigentum" entnommen hat, jenem durch feudale Gewalt entstandenem Großeigentum, das fortwirkend nach wie vor seine „Gewaltanteile" an der nationalen Gütererzeugung fordert und erhält. Von Dühring sind wieder Hertzka und meine eigene Wenigkeit entscheidend angeregt worden. Zunächst aber war die Folge des Steinschen Buches eine noch viel greulichere technologische Verwirrung. Stein brachte die ganze Staatsanbetung Hegels mit nach Paris und war noch nicht imstande, sich von der sprachlichen Form seines Meisters zu lösen. Und so nennt er den „ordre naturel" Staat und den „ordre positif" Gesellschaft. Der Staat, das bedeutet ihm die aus den inneren

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friedlichen Kräften der Menschengemeinschaft in organischem Wachstum herausgestaltete reine Idee dieser Gemeinschaft. Die Gesellschaft aber, das ist der Inbegriff der aus dem Großeigentum herrührenden, sozusagen illegitimen Machteinflüsse der herrschenden Klassen auf diesen idealen Staat, der, wie er schmerzvoll erkennt, dadurch nicht nur verzerrt und verderbt, sondern geradezu völlig gelähmt, unfähig gemacht wird, seine segensreiche Funktion zu erfüllen. Er nennt also „Staat" genau das, was wir heute Gesellschaft nennen, und „Gesellschaft", was wir heute Staat nennen. Einige seiner Schüler - z. B. C. Dietzel - sind ihm in dieser Wortwahl gefolgt. Aber dabei konnte es nicht bleiben. Der historische Sinn jener Zeit litt es nicht. Sobald man den Staat nicht mehr als philosophisches, sondern als historisches Objekt beobachtete, mußte es klar werden, daß der Hegeische Staatsbegriff den geschichtlichen Tatsachen auf das krasseste widersprach. Man konnte unmöglich ein Gedankending, eine „Idee", die nie und nirgends Wirklichkeit gewesen war, „Staat" nennen und für die unzähligen Wirklichkeitsgebilde der Vergangenheit, die die Historik immer als „Staaten" bezeichnet hatte, den neuen Begriff der Gesellschaft einführen. Die junge Soziologie, zu der in einem weiteren Sinne auch der Sozialismus gehört, besann sich immer mehr darauf, daß alle historischen Staaten von Anbeginn an, und zwar nicht nur sozusagen zufällig, sondern aus ihrem Werdegrund heraus Organisationen der Klassenherrschaft und klassenmäßigen Ausbeutung der Unterklasse waren und sind; sie hängte der Katze die Schelle um und nannte „Staat" jenes historische Wirklichkeitsgebilde, das immer Staat geheißen hatte, und „Gesellschaft" den Inbegriff jener Kräfte und Gewalten, die mit diesem historischen Ding der Wirklichkeit in ewigem Kampfe liegen und lagen und in weiterer Erstreckung den rein gedachten „ordre naturel". Diese Entwicklung wurde dadurch beschleunigt, daß der junge Sozialismus seinen Existenzkampf gegen die Staatsgewalt zu führen hatte, die er ingrimmig haßte und befehdete. So kam es, daß von Marx, Engels, Bakunin und Krapotkin an bis auf den gewaltigen Fanatiker, der alle diese Ideen verschmolz, bis auf Lenin, dasjenige „Staat" genannt wurde, was Stein „Gesellschaft" genannt hatte und umgekehrt. Ludwig Gumplowicz, der große Staatsrechtler, der die „Soziologische Staatsidee" in den Mittelpunkt der deutschen Soziologie gestellt hat, der im übrigen auch den von ihm grimmig befeindeten Anarchisten gedanklich sehr nahe stand, hat terminologisch ebenso entschieden. Und so hat sich diese Wortwahl heute fest eingebürgert. Uns allen bedeutet heute der Staat den Inbegriff der außerökonomischen Kräfte, die mitgewirkt haben, die menschliche Gemeinschaft zu formen: d. h. die geistliche und die erobernde Gewalt mit ihren nachwirkenden Polen der Klassenscheidung, dem Großeigentum an Grund und Boden und Kapital und der aus dieser „Verteilung der Produktionsfaktoren" mit Notwendigkeit folgenden kranken Verteilung der laufenden Gütererzeugung, die uns mit Tod und Verderben bedroht. Die Gesellschaft aber bedeutet uns den Inbegriff der friedlichen, namentlich der ökonomischen Kräfte, und bedeutet uns die Zukunftsgemeinschaft der Menschheit, wie sie ausschauen könnte, wenn niemals die Gewalt in die Entwicklung eingegriffen hätte - oder, wie sie ausschauen wird, wenn es der Menschheit gelungen sein wird, die letzten Reste jener Gewalt in Gestalt der Klassenscheidung und des Großeigentums aus sich auszumerzen. Und darum ist uns der Staat der Feind. Der Staat, der die Völkerfamilie in einander tödlich bekämpfende Gruppen spaltet, der sie im Interesse der herrschenden Klassen zu endlosen Kriegen gegeneinander hetzt, der in segensreichen, zur Kultur drängenden Kräfte durch seine tote Zivilisation erstickt und besudelt, wie er alle gesellschaftlichen Institutionen verderbt und besudelt: von der Religion an, die unter seinen Händen zur Klassenreligion wird und den urmenschlichen Aberglauben als Machtmittel konserviert, von der Schule an, die unter seinen Händen aus dem großen Mittel der Bildung von Menschen zum Mittel der Verbildung von Staatsbürgern wird, bis herab zur Verderbung der Schöpfung des freien Marktes, des Geldes, das der Staat immer wieder verfälscht und entwertet hat, um seinen parasitären Zwecken zu dienen.

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Demokratie

In dieser Grundauffassung sind wir mit dem Anarchismus einig. Aber wir unterscheiden uns von dieser Lehre auf das bedeutsamste dadurch, daß wir nicht wie sie Staat und Verwaltung verwechseln. Wir verwerfen Regierung und Verwaltung nur, insofern sie im Dienste des „Staates" in seinem engeren soziologischen Sinne stehen: aber wir sind der Uberzeugung, daß keine noch so rein vorgestellte Gesellschaft einer Verwaltung und Regierung entraten kann: „Selbst die himmlischen Heerscharen werden eines Exerzierreglements nicht entbehren können", sagt reizend Radbruch. Und nun noch ein letzter Gedanke zu diesem unerschöpflichen, weltweiten Gegenstande von Staat und Gesellschaft. Sie sind in ihrer reinen soziologischen Idee, wie alles menschlich-gemeinschaftliche, selbstverständlich Auswirkung psychologischer Kräfte. Und sind so tief wesensverschieden, daß es sich um Kräfte, Willenskr'iht handeln muß, die aus gänzlich verschiedener Seelenwurzel wachsen müssen. Welches sind diese Kräfte? Ich habe mich der Lösung dieses Problems schrittweise genähert. In meinen ersten Arbeiten entdeckte ich den Gegensatz in einem solchen des Rechts. Ich unterschied zwischen dem innerhalb der Genossenschaft herrschenden Tauschrecht oder Friedensrecht und dem zwischen den Horden und Staaten und innerhalb des Staates zwischen den Klassen herrschenden Kriegs- oder Gewaltrecht, das ich wohl auch als „Nomadenrecht" bezeichnete, weil, wie gesagt, Hirtennomaden die ersten Staatsgründer gewesen sind. Dann fand ich, daß diese beiden wurzelverschiedenen Rechte nichts anderes sind als der Ausdruck des immer gleichen Strebens der Menschen, ihre Bedürfnisse mit dem kleinsten Mittel zu befriedigen. Dieses kleinste Mittel ist innerhalb der Genossenschaft die Kooperation und der friedliche äquivalente Tausch, zwischen Ungenossen aber die unentgoltene gewaltsame Aneignung. Das erste Mittel nannte ich das ökonomische, weil aus ihm in seiner Entfaltung die Gesellschaft, namentlich die Wirtschaftsgesellschaft erwachsen ist. Das zweite Mittel nannte ich das politische, weil aus ihm der Staat erwachsen ist. Meine letzten Untersuchungen haben mich noch tiefer und nun sicherlich auf die letzte tiefste psychologische Wurzel des Gegensatzes geleitet. Darüber noch ein letztes Wort: Es gibt im strengsten Sinne kein „Individuum". Jeder Mensch war einmal nichts als ein Organ seiner Mutter, diese der ihren, die erste Menschenmutter ein Organ der letzten Affenmenschenmutter; so hängen wir alle durch die Nabelschnur zusammen, und so gibt es für die strengste naturwissenschaftliche Auffassung nur ein einziges Individuum: das über Zeit und Raum gespannte, in unzähligen Formen und Gestalten bestehende vergangene, gegenwärtige und künftige Leben. Was wir Individuum nennen, ist nichts als ein Gradbegriff. Der einzelne Mensch ist, von der einen Seite her gesehen, ein selbständiges Wesen, aber, von der anderen Seite her gesehen, ein lebendiger Teil jenes großen All-Lebens, ein Tropfen im Strome und so der Strom selbst, etwa wie Stefan George sagt: „Ich bin ein Fünklein nur der heiigen Flamme, Ich bin ein Dröhnen nur der heiligen Stimme." So wohnen - auch Goethe hat das gewußt - zwei Seelen in des Menschen Brust. Er hat eine Art von Interessen als gesondertes Einzelwesen und eine andere Art von Interessen als Teil des All-Lebens. Ich schlage vor, die ersten als das Ich-Interesse, die zweiten als das Wir-Interesse zusammenzufassen. Das erste, der Inbegriff der Bedürfnisse des Individuums, ist ihm immer klar bewußt. Das zweite, das „Wir-Interesse" aber, das starke Bewußtsein, daß die Interessen der Gesamtheit, als des im eigentlichen Sinne allein Lebenden, unbedingt vorzugswürdig sind, dieses Wir-Bewußtsein hat der durchschnittliche Mensch unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht, sondern nur in solchen Augenblicken, wo die Gemeinschaft von einer gewaltigen Gefahr bedroht wird. So war es in den ersten Augusttagen 1914. Der eigentlich religiöse Mensch aber, der Mystiker, hat dieses Bewußtsein immer, und ebenso in den Stunden der Begnadung der schöpferische Künstler, Gelehrte und Philo-

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soph. Dieses Wir-Interesse und das darauf bezogene Wir-Bewußtsein ist genau das, was Hegel den Volksgeist nannte, was die moderne Soziologie sich abmüht, als Gesamtwillen abzugrenzen. Ich-Interesse und Wir-Interesse sind die letzten psychologischen Willenswurzeln des Friedensrechts hier und des Kriegsrechts dort, des ökonomischen und politischen Mittels, der Gesellschaft und des Staates. Innerhalb der Genossenschaft, erst der Blutsverwandten, dann der Nachbarn, hält das Wir-Interesse in seiner Ausgestaltung als Gerechtigkeit und Billigkeit, als Friedensrecht, das IchInteresse in engen Schranken. Zwischen Ungenossen aber spricht das Wir-Bewußtsein nicht; der fremde Mensch hat kein Recht. Und so kann sich hier das Ich-Interesse ungehemmt austoben in Unterwerfung, Ausbeutung und Beherrschung. Ehrfurchtsvolle Dankbarkeit gebietet, hier des Mannes zu gedenken, der, ein berühmter Lehrer dieser Kieler Hochschule, zuerst in genialer Intuition den von uns behandelten Gegensatz auf letzte psychologische Willenswurzeln zurückzuführen versucht hat: Ferdinand Tönnies in seinem großen Jugendwerke: „Gemeinschaft und Gesellschaft". Gemeinschaft bedeutet ihm ungefähr das, was wir Gesellschaft nannten, und Gesellschaft ungefähr das, was wir Staat nannten. Jene läßt er erwachsen aus dem Willen, insofern in ihm das Denken beschlossen ist. Das nennt er den „Wesenswillen", einen nahen Verwandten von Schopenhauers schöpferischem „Willen zum Leben". Die Gesellschaft aber läßt er erwachsen aus dem Willen, soweit er im Denken beschlossen ist. Das nennt er: Den „Kür-Willen", das verstandesmäßige rationale Wollen aus Gründen des Selbstinteresses, des IchInteresses, wie wir jetzt sagen werden. Die Arbeit war mir unbekannt, als ich zu meinen eigenen ersten Konzeptionen gelangte. Ich bin auch heute der Meinung, daß sie in ihren letzten Folgerungen nicht die volle Wahrheit trifft. Ihre Hauptschwäche erblicke ich darin, daß sie nur eine ursprüngliche Seelenkraft annimmt, den WesenWillen, während sie den Kür-Willen erst im Laufe der Gesellschaftsentwicklung entstehen läßt. Aber das sind Kleinigkeiten im Verhältnis zu dem gewaltigen Wurfe des Ganzen, namentlich zu der Tiefe der Auffassung, die den schon seit langem bekannten Gegensatz der beiden Kräfte, die sich als Kette und Schuß zu der „Menschheit lebendigem Kleide" verwirken, zurückzuführen wußte auf einen tiefsten Gegensatz der im Menschen selbst wirkenden Willenskräfte.

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[1926]1

Was des Staates Wesen ist, kann nur erkennen, wer seinen Ursprung kennt: denn auch er hat sich entwickelt: „nach dem Gesetz, nach dem er angetreten". Den Ursprung des Staates aber kennt nicht der Ethnologe: denn Horde und Stamm sind noch nicht Staat; kennt nicht der Historiker: denn er findet den Staat fertig ausgebildet vor und kann, wie Kant sagt, mit seinen Mitteln nicht bis zu seinen Anfängen „hinauflangen"; ihn kennt auch nicht der Jurist: denn er fragt nur nach der Form und nicht nach dem Inhalt des Gebildes; und selbst den Ursprung dieser Form, das, was Hans Kelsen die „Ursprungsnorm" nennt, findet er bei jedem sich ihm darbietenden Staatswesen bereits fertig vor, wenn er seine Arbeit beginnt. Nun kann man noch den Philosophen fragen: aber der hat sich niemals für den Staat interessiert, wie er war und ist, sondern wie er sein soll: er fragt nicht nach dem Ursprung und dem heutigen Wesen, sondern nach dem Ziel der künftigen Entwicklung; ihm ist der Staat nicht gegeben, sondern aufgegeben. U m es in der Sprache der neueren Methodologie auszudrücken, so finden alle diese Betrachtungen den Staat als das gleiche „Erfahrungsobjekt vor: als ein Ding mit unzähligen Kennzeichen. Jede sucht sich diejenigen Kennzeichen heraus, und zwar jede Wissenschaft andere, die ihr vom Standort ihrer besonderen Fragestellung aus interessant sind, abstrahiert von allen anderen, und bildet sich daraus ihr „Erkenntnisobjekt". Der Gegenstand jeder Wissenschaft ist nicht, wie der Laie glaubt, eine empirische Wirklichkeit, sondern eine stark stilisierte Abstraktion. Auf unseren Fall angewendet heißt das folgendes: die politische Geschichte hat es nicht mit „dem" Staate, sondern mit „den" Staaten zu tun, deren Lebenslauf sie zu beschreiben und womöglich zu verstehen, d. h. rationell zu erklären sucht. Die Jurisprudenz stellt auf die Rechtsform, die Verfassung der einzelnen Staaten und, vergleichend, weiterhin des Staates an sich ab - und die Philosophie mißt den Staat der Wirklichkeit an einem Ideal, das sie aufrichtet, dem des Rechtszustandes. Aber sie bauen sämtlich auf schwankendem Grunde, solange sie nicht aus seinem Ursprung das wahre Wesen des Staates erkannt haben; bis dahin bleibt ihnen das letzte kausale Verständnis der Erscheinung notwendigerweise versagt. Jene Kenntnis aber kann ihnen allen nur die jüngste der Wissenschaften darbieten: die Soziologie, die sich als Synthese, als „Universaldisziplin", über alle Einzelwissenschaften von der Gesellschaft spannt, wie die Kuppel über den Dom, sie daher sämtlich zusammenfaßt und überschaut, und darum imstande ist, die ihnen gemeinsamen Grundprobleme zu stellen und mit ihren vereinigten Mitteln zu lösen. Von jeher war man geneigt, den Staat als die höchste Stufe einer Entwicklungsreihe aufzufassen, die aus eigenen inneren Kräften von den einfachsten und kleinsten menschlichen Verbänden aufsteigt. Horde, Hordenverband, Stamm und Stammesverband: das wären die Vorstufen; der Staatenoder Völkerbund und vielleicht der Weltstaat, das wären die noch zu ersteigenden Stufen der Leiter - eine Evolution, ganz gleichgesetzt derjenigen, die aus der Amöbe im Laufe der Erdgeschichte

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[Erstmals erschienen in: Neue Rundschau, Bd. 37 (1926). Originalquelle des vorliegenden Textes: Oppenheimer, Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 55-72; A.d.R.]

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zuletzt den Menschen geschaffen hat. Diese Auffassung, die sich schon auf Aristoteles beruft (nicht ganz mit Recht, wie wir zeigen konnten), faßt also den Staat als die reife Form auf, die, wie der Embryo im Mutterleibe, kraft einer „Entelechie" aus den Vorstufen hervorgegangen ist: jener dem Leben immanenten zielstrebigen Tendenz der Entwicklung zu einem bestimmten Zustande der Reife. Ihr erscheint bereits die primitive Menschenhorde als der „Urstaat"; so ζ. B. sprechen Schmidt-Koppers vom Pygmäenstaat der primitiven kleinwüchsigen Jägerstämmchen, die wir auf uferfernen Inseln, in Randgebieten und unzugänglichen Urwäldern noch hier und da antreffen; und ein Mann wie Eduard Meyer glaubt sogar, in der Herde der höheren Tiere schon alle Kennzeichen des Staates aufzufinden. Diese Lehre ist vollkommen unhaltbar geworden. Die moderne Soziologie hat sie zerstört. Ludwig Gumplowicz, der verstorbene Grazer Staatsrechtler, einer der Begründer der deutschen Soziologie, hat ihr die „soziologische Staatsidee" gegenübergestellt: die bereits auf den Altmeister SaintSimon zurückzuführende Erkenntnis, daß der historische Staat überall, in allen Zonen und Zeiten nicht durch ungestörtes Wachstum, durch innere immanente Kräfte, aus den Vorstufen entstanden ist, sondern durch äußere erobernde Gewalt, mit der eine Menschengruppe sich die andere unterwarf. Seine Lehre vom Staate, die allerdings im höchsten Maße „staatsgefährlich" ist, wurde und wird leidenschaftlich bekämpft, setzt sich aber unaufhaltsam durch, da sie von den Tatsachen mit derselben Evidenz erhärtet wird, wie von der deduktiven Erwägung. Uns ist kein Soziologe von einigem Rang bekannt, der sie nicht angenommen hätte. Besonders schwer wiegt das Urteil Wilhelm Wundts, der das Hochplateau der Soziologie von der Seite der Individual- und Völkerpsychologie aus erstiegen hatte. Er sagt klipp und klar: „Die Stammesorganisation der totemistischen Zeit ist nicht im geringsten eine unvollkommene, noch unausgebildete Staatsordnimg, sondern ganz etwas anderes." Alle vorstaatliche Organisation bis empor zu den bereits zahlreichen und mächtigen Stammesverbänden, deren bekanntester die fünf Nationen der Irokesen sind, trägt die Kennzeichen der echten Gemeinschaft und Genossenschaft: Frieden, Recht der Gleichheit und brüderliche Hilfe. Es gibt wirtschaftlich keine merklichen Verschiedenheiten des Einkommens oder gar des Vermögens: es gibt politisch keine Standesunterschiede und sozial keine Klassen. Es gibt Amter: Häuptlinge für Krieg und Frieden, „Kulttechniker", wie Max Weber die Priester nennt, aber nirgends auch nur den Versuch, die Führerschaft in Herrschaft umzugestalten, d. h., sich über die Ehre hinaus, die mit der Last und Verantwortung des Amtes verbunden ist, noch höhere Ehre und vor allem arbeitsloses Einkommen zu verschaffen. Nach der übereinstimmenden Mitteilung aller Ethnologen ist der Zusammenhalt in der engeren Familie wie in der weiteren Gruppe, selbstverständlich von vereinzelten, übrigens sehr seltenen, Impulshandlungen abgesehen, ein außerordentlich erfreulicher. Die Frauen stehen hoch in Achtung und haben alle politischen Rechte, die Kinder, liebevoll behandelt, lernen im Spiel und am Beispiel ohne Zwang alles, was die Tradition ihnen zu übergeben hat: gegenüber den Genossen befleißigt man sich, der innerlich empfundenen Hochschätzung auch praktisch in Höflichkeit und Hilfsbereitschaft Ausdruck zu geben. Von hier aus gibt es keine Weiterentwicklung aus inneren Kräften. Die Vorgeschichte wird von der Geschichte durch den tiefsten Abgrund getrennt, der die menschliche Geschichte auf diesem Planeten durchspaltet. Nach einem katastrophalen Zusammenbruch beginnt eine neue Epoche im eigentlichen Sinne des Wortes, das ja „Anfang" bedeutet. Zwischen Geschichte und Vorgeschichte liegt das von Wilhelm Wundt so genannte „Zeitalter der Wanderung und Eroberung". Völker, die durch ihre Zahl oder ihre Bewaffnung oder ihren Zusammenhalt militärisch stärker sind, überfallen schwächere Völker, um sie zuerst systematisch in immer wiederholten Raubzügen auszuplündern, bis sie sie zuletzt dauernd unterwerfen und über ihnen ihren „Staat" errichten, der nun allerdings „etwas ganz anderes ist" als die gleiche und brüderlich verbundene Gemeinschaft der Vorgeschichte. Die Eroberung und Unterwerfung setzt wirtschaftlich krasse Unterschiede des Vermögens, zunächst

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selbstverständlich des Grundvermögens, und daher des Einkommens: Grundrente; setzt politisch die Herrschaft als den gesetzlichen Anspruch auf höhere Ehre und arbeitslosen Genuß, und sozial die Klassen, zunächst in ihrer Gestalt als Stände. Alle Ämter von Einfluß sind der Herrenklasse vorbehalten, sowohl im Heeresbefehl wie in Staatsverwaltung und Kirche. Die Untertanen sind zu Sklaven oder Leibeigenen herabgedrückt, ihre Arbeitskraft und der Ertrag ihrer Arbeit sind kraft Rechtens Eigentum der Eroberer. Wir haben das alles in der Formel zusammenfassen können: „Der historische Staat ist eine Klassenorganisation", während die vorgeschichtliche Gruppe die klassenlose Gemeinschaft ist. Das ist die soziologische Begriffsbestimmung. Vom Standpunkt des Staatsrechts aus würde man etwa folgendermaßen zu definieren haben: „Der Staat ist eine Rechtseinrichtung, einer unterworfenen Gruppe aufgezwungen durch eine siegreiche Gruppe, mit dem zunächst einzigen Zwecke, die Besiegten zugunsten der Sieger so hoch und so dauernd wie möglich zu besteuern." Es ist hier nicht der Ort, darzustellen, wie dieser reine Eroberungsstaat fast schon im Augenblick seiner Entstehung dazu kommen muß, im eigensten Interesse der Herrengruppe den Schutz der Grenzen nach außen und des Rechts nach innen auf sich zu nehmen: die Steuerfähigkeit der Untertanen kann nur so auf ihrer Höhe erhalten werden. Der Leser versteht jetzt bereits, daß fast alle Staatslehrer diese Angliederung sekundärer Hilfszwecke an den primären Staatszweck für den eigentlichen Entstehungsgrund des Staates halten und glauben konnten, er sei begründet worden, um für alle seine Insassen gleichmäßig Recht und Sicherheit zu schaffen. Hier wird das von einer fernen Zukunft erhoffte Wunschziel der Staatsphilosophie in die Geschichte zurückprojiziert: was der Staat einmal werden soll, das sei er, so glaubt man, im Anfang gewesen: ein Gesellschaftsvertrag zwischen Freien und Gleichen zum Zwecke der Sicherung aller in ihren Rechten - und nur ein Sündenfall habe ihn in die so sehr unerfreuliche Organisation der Herrschaft und Ausbeutung verwandelt, als die wir ihn überall in der Vergangenheit und unserer eigenen Gegenwart erkennen müssen. So dachte schon der heilige Augustin, der der civitas dei scharf die civitas diaboli entgegensetzte; so die einflußreichen Lehrer des Naturrechts. Die Vorstellung ist die, daß aus rein innerstammlichen Beziehungen der Gruppengenossen untereinander, durch Mißbrauch angeborener Überlegenheit, durch Bosheit, Tücke, Wucher, Gewalt usw. die krassen Ungleichheiten der Rechte und Laster entstanden seien. Ich habe in meinem soeben erschienenen Werke „Der Staat"1 zur vollen Evidenz zeigen können, daß diese Entartung der alten Gemeinschaft aus solchen innerstammlichen Gründen nicht nur niemals eingetreten ist, sondern gar nicht eintreten konnte, und daß eine Entartung auch niemals wieder neu sich bilden könnte, wenn es einmal gelungen sein sollte, die letzten Reste jener alten Eroberung und Unterwerfung aus unserem Gesellschaftskörper auszurotten, Reste, die in ganz bestimmten, unmittelbar bis auf jenen Zeitpunkt zurückzuführenden Formen des Eigentums bestehen. Dennoch aber war es ein Sündenfall, der die Ungleichheit mit allen ihren verhängnisvollen Folgen erschaffen hat. Die Sage von Kain und Abel erzählt ihn uns. Kain, der Ackerbauer, erschlägt aus Neid Abel, den Hirten: das erste Menschenblut, von Menschenhand vergossen, befleckt Gottes Erde; der Mord ist in die Welt getreten. Hier klingt in seltsamster Verkleidung eine große allgemein-historische Wahrheit durch: überall in der Alten Welt sind es die, in ihrem Wirtschaftsbetriebe zu besonderer kriegerischer Tüchtigkeit und taktischer Geschlossenheit erzogenen Hirten, die über zersplitterte Ackerbauvölker herfallen und ihnen mit ihrem Staate Herrschaft und Ausbeutung auferlegen. Dieses Tun ist im ersten Beginn völlig ohne Sünde. Denn nur im Kreise der eigenen Genossenschaft gilt das Recht der Gleichheit und Brüderlichkeit: der Stammesfremde hat so wenig ein Recht wie das jagdbare Tier, um so weni-

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Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, Jena 1926.

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ger, als die Grenze zwischen Tier- und Menschenwelt in dem Bewußtsein primitiver Menschen längst nicht so scharf gezogen ist, wie in dem unseren. Wenn auch die Lehre des Epikur, des Thomas Hobbes und seines neuesten Nachfahren, Gustav Ratzenhofer, von der „absoluten Feindseligkeit" der Horden gegeneinander eine krasse Ubertreibung ist (es gibt vielfache friedliche Beziehungen, und selbst die kriegerischen stehen oft unter einem streng gewahrten Völkerrecht): so empfindet man doch dem Stammfremden gegenüber kein Pflichtgebot und ein Recht auf Wahrung seiner Interessen steht ihm nicht zu. Man darf ihn ohne Sünde töten, berauben, versklaven. Solange die zwischenstammlichen Beziehungen nur die der Grenzfeindschaft und des Raubkrieges sind, geschieht noch kein „Unrecht", gibt es noch keine „Sünde". Aber die dauernde Unterwerfung gestaltet die zwischenstammlichen in innerstaatliche um. Sieger und Besiegte, Herren und Untertanen verschmelzen zu einer einzigen Gesellschaft, die sich mindestens gegenüber den Außenstehenden jenseits der Grenzen als Einheit empfindet. In dieser neuen größeren Gruppe ist der „Fremde" zum „Menschen" geworden: denn Mensch bedeutet anfangs nichts anderes als das „Wir" der Gruppe, nichts anderes als den Gruppenbruder. Und damit sind die politische Ungleichheit und die wirtschaftliche Ausbeutung zu Verletzungen jenes obersten, ungeschriebenen Gesetzes geworden, das jede Gruppe beherrscht und beherrschen muß, wenn sie in ihrem Lebenskampfe soll bestehen können: des Pflichtgesetzes, des kategorischen Imperativs, der mir verbietet, einen Menschen zum bloßen Objekt meines Willens zu machen - der im Gegenteil gebietet, seine Interessen imparteiisch gegen die meinen abzuwägen: des Gesetzes von der Gleichheit der Würde aller Personen. Denn jetzt, wo die ehemals Unterworfenen zu Gruppengenossen geworden sind, sollte ihnen die volle Freiheit und die volle wirtschaftliche Gleichheit zurückgegeben werden: daß es nicht geschieht, das ist der große Sündenfall der Menschheit; das ist ihre Vertreibung aus dem Paradiese der vorgeschichtlichen Gemeinschaft. Denn selbstverständlich geschieht diese Sühne nicht. Statt ihrer treten nach strengen Seelengesetzen sonderbare psychologische Erscheinungen der „Verschiebung" auf, um dem beunruhigten Gewissen seine Ruhe wiederzugeben. Eine davon erkennen wir deutlich in jener biblischen Sage vom ersten Brudermord. Der Hirt, der Eroberer, schuf sich in ihr einen Vorwand, oder, wenn man will, einen Rechtsgrund, um den Bauern zu unterwerfen und auszubeuten: hat doch der Stammvater der Bauern, Kain, den Urahnen der Hirten, Abel, erschlagen! Dafür hat nach dem uralten Gesetz der Blutrache sein Geschlecht für ewige Zeiten zu büßen. Und so konstruiert der Hirt sich das Recht, das Leben des Bauern zu nehmen; der muß noch dankbar sein, wenn der Bluträcher sich damit begnügt, ihn nur seiner Habe und seiner Freiheit zu berauben. Einen entwickelteren Typus dieser umdeutenden Verschiebung stellen alle späteren legitimistischen Theorien dar, vor allem die heute so modernen und doch, ach, so alten Rassetheorien. Immer und überall erscheint der Unterworfene dem Sieger als ein Mensch schlechterer Art und Rasse, dem die bessere Rasse, und das ist selbstverständlich die seine!, das Schicksalsrecht, ja fast die Schicksalspflicht hat, sich zu unterwerfen. Noch heute spricht der konservative Brite von seiner Kolonialherrschaft gutgläubig als „the white man's burden". Die Untertanen sollen noch danken, weil sie nur auf diese Weise der Segnungen des Rechts und des Friedens teilhaftig werden können. Sich selbst überlassen würden sie sich durch Torheit und Bosheit gänzlich aneinander aufreiben! Das ist das Leitmotiv, das noch heute aus fast allen, noch so vervollkommneten Lehren vom Staate klingt, das ist der Selbstbetrug, mit dem sogar solche Völker, die auf ihre demokratische Gesinnung so stolz sind, wie die Franzosen und Amerikaner, ihr Gewissen zu beruhigen verstehen, nicht nur in lauten Worten gegenüber Kolonialvölkern geringerer Zivilisationsstufe, wenn auch vielleicht, wie Inder und Araber, nicht geringerer Kulturstufe, sondern auch gegenüber ihrer eigenen Unterklasse. Dennoch gelingt das nicht immer ganz. Und dann tritt eine andere Verschiebung ein, die überaus interessant ist. Um zu verstehen, was hier verstanden werden muß, ist eine kurze Vorbemerkung vonnöten:

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Der Motivationsapparat, d. h. der Inbegriff der Wertungen und Handlungsantriebe des Menschen, besteht regelmäßig aus zwei Schichten verschiedenen Alters. Die untere Schicht ist eine Mitgift aus der vorgesellschaftlichen Tierheit; sie besteht aus einer beschränkten Zahl wohlcharakterisierter, echter Instinkte und den sogenannten Pseudoinstinkten: der Suggestibilität, dem Triebe zur Nachahmung und der Sympathie. Zu diesen bereits im biologischen Apparat fest verwurzelten Anlagen, die zusammen die untere Schicht darstellen, treten nun in jeder Menschengruppe solche Wertungen und Handlungsantriebe, die der Erhaltung jeder Gruppe überhaupt und dieser Gruppe im besonderen dienen. In jeder Gruppe muß sich das uns bereits bekannte Pflichtgebot der Wahrung der Gleichheit der Würde aller Genossen finden. Es ist der psychische Kitt jeder Gruppe, die ohne ihn explodieren müßte, wie ein zerplatzendes Geschoß. Aus diesem Urtrieb erwachsen jene „Konstanten des Rechts", die allen Positivisten der Rechtsphilosophie so unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten: jene Rechts- und Sittengebote, die sich bei allen Völkern und auf allen Stufen ihrer Entwicklung finden; die in unseren Zehn Geboten ihren uns ehrwürdigsten Ausdruck gefunden haben; die von den römischen, rechtsvergleichenden Juristen als das jus gentium bezeichnet und mit gutem Fug dem Naturrecht der Philosophie gleichgesetzt wurden. Neben dieser, allen gemeinsamen, ethischen Urnorm besitzt nun jede Gruppe einen Stamm von oft sehr sonderbaren Normen und Imperativen, die jedem neu in sie hineingeborenen Mitglieder durch Domestikation, d. h. durch Tradition und Erziehung, eingeprägt werden. Ihre Verletzung wird je nach der Wichtigkeit der Norm als Frevel, Sünde, Verbrechen, Vergehen, Verstoß empfunden und mit Strafen geahndet, die von qualvoller Todesstrafe bis zu leiser Mißbilligung herabreichen. Die wichtigsten dieser Normen sind auf niederer Stufe die Vorschriften über die Verehrung der überirdischen Gewalten, von denen die Gruppe sich abhängig weiß, deren Kränkung daher nicht geduldet werden kann; und ferner vielfach höchst komplizierte Gesetze über das Ehewesen. Aber auch für alle Dinge von geringerer Wichtigkeit bestehen unzählige Vorschriften, die das Verhalten jedes Gruppengliedes von der Wiege bis zur Bahre zwingend bestimmen. Man kann beinahe sagen, daß jede erdenkliche Handlung, auch die Verrichtung der einfachen vitalen Funktionen, sakralen Charakter trägt, daß alles Tun und Lassen von der Gottheit geboten ist. Der primitive Mensch und auch auf unserer Stufe noch gemeinhin der Mensch der Unterklasse, vor allem der Bauer, sind derart im wesentlichen sozial gebunden. Wenn die erste Schicht des Bewußtseins, die wir oben betrachteten, als die des vorsozialen Tieres bezeichnet werden muß, so ist diese zweite Schicht die des sozial eingeordneten und durch seine Gruppennormen fast bis zur Bewegungslosigkeit gefesselten Menschen. Wir wollen der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß die Menschen der modernen Oberklassen es gelernt haben, sich diesen sakralen Bindungen in geringerem oder höherem Maße zu entwinden. In ihnen legt sich als jüngste und oberste Schicht über die beiden älteren noch der Motivationsapparat der „suprasozialen Persönlichkeit", die von dem sozialen Zwange mehr oder weniger emanzipiert ist. Hier steigt die Skala von der führenden Persönlichkeit, die eine unwesentliche Norm der Gruppe zu dehnen oder gar zu übertreten wagt, über die schöpferische Persönlichkeit bis zur höchsten und vornehmsten Blüte aller Menschheit, der freien Persönlichkeit auf, die, vom Gruppenzwang völlig gelöst, in stolzer Autonomie nur ihrem eigenen Gesetze folgt. Diese oberste Schicht wird in der Erörterung, die uns vorliegt, kaum eine Rolle zu spielen haben. Es handelt sich um jene „Verschiebung", von der wir oben sprachen. Die Sünde, in der der Mensch des Staates lebt, steckt in seinen sozialen Beziehungen, im Normenapparat seiner Gesellschaft, die die Herrschaft, die Ungleichheit und die Ausbeutung zum Grundrecht ihrer Verfassimg gemacht hat. Der Mensch aber, von seiner Stellung innerhalb dieser Gesellschaft in seinem Gewissen beunruhigt, wie es den Feinfühligeren geschieht, sucht den Sitz der Sünde nicht in der oberen, sondern in der unteren Schicht. Er glaubt, als Tier zu sündigen, während er doch als Mensch schul-

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dig wurde. Er ist geneigt, sein „Fleisch" zu kasteien: daß er statt dessen seine Gesellschaft reformieren sollte, kann er so leicht nicht erkennen. Denn der Staat, die Organisation der Herrschaft, hat sich mit allen Attributen der Gemeinschaft bekleidet, auf deren Leibe er schmarotzt. Er hat ihre wichtigsten Funktionen an sich gerissen und gibt sich nun für die Gemeinschaft aus - und der Mensch läßt sich täuschen und glaubt ihm, dem „kalten Untier, aus dessen Munde die größte aller Lügen geht, das sich so gerne in der Sonne guter Gewissen wärmt", wie Friedrich Nietzsche sagte, der diese Mimikry des Raubtiers aufs klarste durchschaut hatte. Weil der Staat die Grenzen schützt und die Götter ehrt, weil er so viel Recht und Sicherheit schafft, wie mit der Herrschaft der Ungleichheit und der Ausbeutung vereinbar ist, hält ihn der Untertan für jene gewachsene notwendige Verbindung, der sich unterzuordnen ihm seine mächtigsten Triebe gebieten. So kann sich der Räuber auch noch auf das Gewissen des Beraubten berufen und findet in ihm Jahrtausende hindurch sein kaum erschüttertes Fundament und auch das sah Nietzsche wohl - „nicht nur die Kurzsichtigen und Langgeohrten" täuscht er: auch die Uberwinder des alten Gottes unterliegen der großen Lüge. Nur so ist ζ. B. Hegels Staatsvergötzung zu verstehen: er glaubte, im Staate die Gemeinschaft zu erkennen, die er mit Recht als den Gott auf Erden erkannte. Ihm sind Volk, Vaterland und Staat ein und dasselbe. Sie sind aber nicht dasselbe! Wenn die Gemeinschaft, wie Hegel sagt, der Gott ist, ist der Staat der Teufel; hier ist St. Augustins Gegenüberstellung vom Staate Gottes und vom Staate des Teufels bittere Wahrheit. Denn alle Sünde stammt vom Staat! Jener erste Sündenfall der Menschheit gärt in ihr als schweres Krankheitsgift fort und jede Sünde jedes einzelnen ist nichts als ein Symptom dieser Krankheit. Schon längst hat die Moralstatistik (Alexander von Ottingen) von dem Verbrechen als der „Kollektivschuld der Gesellschaft" gesprochen; wir wissen seit Quetelet, daß jede Staatsgesellschaft ihr regelmäßiges „Kriminalbudget" besitzt, dessen „Soll" die Armen zu zahlen haben, die die himmlischen Mächte schuldig werden ließen. Und das gleiche gilt von aller Sünde. Nur muß man das Wort recht verstehen. Wir rechnen nicht zur Sünde die Handlungen des blinden Impulses, obgleich die Gesellschaft sie selbstverständlich strafen muß, um bestehen zu können. Eine Beschimpfung, ein Schlag, ein Messerstich in loher Wut entstammen nicht einer dauernden antisozialen Einstellung des Täters; sie müssen gestraft werden, um dem Impulse eine jener Hemmungen einzubauen, die sich alles Sozialleben in um so größerer Zahl und Kraft schaffen muß, je höher es sich staffelt: Organisation heißt nichts als Schaffung von Hemmungen gegen Impulse! Aber ethisch sind solche triebhaften Handlungen kaum anders zu bewerten wie Elementargeschehnisse, durch die menschliche Interessen verletzt oder Menschen getötet werden. Solche Taten sind immer vorgekommen und werden wahrscheinlich immer vorkommen. Wir müssen sogar eingestehen, daß wir nur sehr ungern in einer Gesellschaft leben möchten, in der nicht gelegentlich einmal ein junger Mensch in lichter Eifersucht seinem Nebenbuhler zu Leibe geht. Wir wünschen keine affektuell kastrierte Menschheit; wie keine Höchstleistung im Sport möglich ist, ohne daß einmal ein Opfer allzu hoch gesteckter Ziele fällt, so ist auch keine Herrschaft starker Seelen über sich selbst möglich, ohne daß einmal jene von der Gesellschaft errichteten Hemmungen niedergerissen werden, wie etwa nur ein starker Strom seine Deiche zerbricht. Wir wünschen, daß der Mensch der Zukunft sozusagen sechs feurige Hengste vor seinem Wagen habe, aber auch die Kraft, sie sicher zu zügeln und zu seinem Ziele zu lenken. Im übrigen wissen wir aus den verstaatlichen Gemeinschaften, daß in ihnen schwere Impulshandlungen gegenüber von Genossen sehr selten sind, viel seltener als in unserer „Zivilisation". Was wir „Sünde" nennen, sind im Gegenteil solche Handlungen, die aus dauernder antisozialer Einstellung des Täters, mit anderen Worten, aus dem erwachsen, was man als eine Eigenschaft des Charakters, „Sündhaftigkeit" nennt; die aber, samt ihren argen Folgen, wir wiederholen es, Schöpfung des historischen Staates ist, abgesehen vielleicht von ganz seltenen Fällen krankhafter geistiger Verfassung.

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Wir sagen ausdrücklich: vielleicht! Denn auch diese krankhafte Verfassung: die moral insanity, die absolute Ichsucht und absolute Gefühllosigkeit gegenüber dem fremden Interesse und Leben, ist in den meisten Fällen, die wir in unseren Staatsgesellschaften beobachten, Schöpfung der Klassenordnung. Wir wissen, daß fast alle „geborenen Verbrecher" Degenerierte sind und können die Wurzeln dieser Entartung fast ausnahmslos in den sozialen Bedingungen des Staatslebens aufdecken. Und wir wissen andererseits, daß in den wenigen wahren Gemeinschaften, die sich wie Inseln im kapitalistischen Ozean ein Weilchen zu halten vermochten: in den genossenschaftlichen Ansiedlungen kein geborener Verbrecher, ja überhaupt kein Verbrechen vorkam; und daß die Eltern ihren Kindern regelmäßig einen gesunden Leib und eine gesunde Seele ins Leben mitgaben. 1 Aber der geborene Verbrecher ist noch heute eine große Seltenheit gegenüber dem gewordenen Verbrecher, den nichts als seine soziale Lagerung auf den Weg zum Abgrund führte: in gesunden sozialen Verhältnissen wäre er ein guter und geehrter Bürger seiner Gemeinschaft gewesen und geblieben. Gotthold Ephraim Lessing sagt einmal in seinen Gesprächen für Freimaurer: „Und nun überlege man, wieviel Übles es in der Welt wohl gibt, das in dieser Verschiedenheit der Stände seinen Grund nicht hat." Wir wollen diese Überlegung einmal anstellen, nur mit der in unserer Zeit notwendigen Veränderung, daß wir statt von Ständen von Klassen sprechen werden. Rousseau, der die Dinge ganz so sah wie sein Gesinnungs- und Zeitgenosse Lessing, hat einmal die gute Formel geprägt von der Niederträchtigkeit einer Gesellschaft, in der einzelne reich genug sind, um andere kaufen zu können, und viele arm genug, um sich verkaufen zu müssen. Die Formel ist erschöpfend, wenn man nur das äußere Handeln anschaut: sie ist einer Ergänzung fähig, wenn man auch die innere Bereitschaft zum Handeln ins Auge fassen will - und das ist vielleicht wichtiger! Reichtum und Wohlstand sind Begriffe, die ganz verschiedenen Dimensionen angehören; das gilt auch für ihre Gegenbegriffe: Armut und Dürftigkeit. Wohlhabend ist, wer im Verhältnis zum Bedürfnisstande seiner Zeit und Gruppe mit Gütern wohl versorgt ist, reich, wer im Verhältnis zu anderen Menschen seiner Zeit und Gruppe wohl versorgt ist. Wohlstand bezeichnet die Verfügung über Sachen, Reichtum über Menschen. Reich ist ζ. B. ein Kaffernhäuptling, trotzdem er mit Wohnung, Kleidung, Geräten und sanitären Einrichtungen entfernt nicht so wohl versorgt ist wie etwa ein Arbeiter unserer Zeit; dieser „Reiche" lebt nach unseren Begriffen in trauriger Dürftigkeit, während der „arme" Arbeiter nach den Begriffen jenes Häuptlings einen überaus großen Wohlstand genießt. Wenn wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der jeder die Güterversorgung eines heutigen Millionärs hat, so gibt es hier zwar den höchsten Wohlstand, aber keinen Reichtum: denn alle verfügen über Sachen, und niemand über Menschen. Nur so darf auch die oft vorgetragene Lehre verstanden werden, daß es der „Luxus" war, welcher einst starke Völker zerstört hat. Gewöhnlich wird sie so verstanden, daß reiche Ernährung, üppige Kleidung, geräumige Wohnung und der Besitz von Kunstwerken den Menschen „verweichlichen". Die Geschichte beweist das Gegenteil: fast überall hat der Adel gerade umgekehrt unter den günstigen Bedingungen seiner Lebenshaltung sich zu einer dem Durchschnitt überlegenen Leiblichkeit emporzüchten können, und auch in der wohlhabendsten Bourgeoisie der Welt, der angelsächsischen, kann man beobachten, daß der Wohlstand die Ausbildung des Körpers befördert und nur der Reichtum zur Entartung führt. Nicht die Versorgung mit Sachen, sondern die Verfügung über Menschen, die solchen Sachbesitzes entbehren, ist die Gefahr. Wo die Oberklasse als Ganzes, oder wo einzelne ihrer Mitglieder entarten, geschieht es aus dem Grunde, weil sie in der Lage sind, Menschen zu kaufen, die arm genug sind, um sich verkaufen zu müssen. 1

Vgl. Oppenheimer, Die Utopie als Tatsache, [ursprünglich erschienen in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. 2 (1899); im vorliegenden Band, S. 3-14; A.d.R.].

Der Staat und die Sünde

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Diese soziale Schichtung in Klassen von gröblich verschiedenem Einkommen und Vermögen ruft nämlich sowohl oben wie unten eine ganz bestimmte, charakteristische Einstellung hervor, die schon den alten Griechen bekannt war: oben Ubermut und geschlechtliche Überreizung, unten Diebsgesinnung, kriechende Demut, Knechtseligkeit, verbunden mit Hinterhältigkeit und Tücke; in beiden Schichten, von oben nach unten reflektiert, die Verachtung der redlichen Arbeit, die allein dem Menschen Wert und Würde zu geben vermag, und daher oben wie unten die Verriegelung des Weges, der zur höchsten Steigerung des Menschenlebens und der Menschenwürde führt: zum vollkommen gebildeten Menschen, der das Vorzugswürdige erkennt und in freier Eigengesetzlichkeit aus dem heilig guten Willen heraus auch wählt und tut, als „freie autonome Persönlichkeit". Es ist nichts als die vom Staat eingesetzte Klassenordnung, die von oben nach unten die greulichste Prostitution verbreitet, das Wort gefaßt nicht bloß in seinem engen Sexualsinne, sondern in weitester Bedeutung: als feige Lüge und Speichelleckerei der Untergebenen vor den Oberen, der Armen vor den Reichen, der Presse vor den Inserenten, der Gelehrten vor den Mäzenen, der Künstler vor den Auftraggebern. Die Zeiten der großen Kunst und der hohen Wissenschaft und Philosophie waren sämtlich, im Hellas der perikleischen Zeit, in der italienischen, flandrisch-holländischen und deutschen Renaissance, Epochen einer freien und in unserem Sinne zwar sehr wohlhabenden, aber nicht reichen Bürgerschaft: ihr Sachbesitz war gewaltig, ihre Verfügung über Menschen gering, weil ein Zustand rationeller Gleichheit der Lebenslage bestand. In dem Maße, wie die Klassenscheidung sich vertiefte, verdorrten die schönen Blüten der Kultur überall. Es gibt kaum eine jammervollere, kulturärmere Zeit als die des Kapitalismus, der überall auf jene Epochen der Hochblüte folgte: wie ein Samum verwandelte er alle Fruchtfelder in Wüsteneien. Aber schlimmer: diese Vertiefung der die Klassen trennenden Kluft, die, wir wiederholen es mit allem Nachdruck, nur dort aufgerissen ist, wo äußere Gewalt den Staat samt der Klassenscheidung, der Herrschaft und der Ausbeutung gesetzt hat, zerstört unaufhaltsam die letzten Reste der alten gewachsenen Gemeinschaften: zerbricht die Geschlechtsverbände, unterdrückt die Einungen in Genossenschaft, Zunft und Mark, höhlt die Gemeindeverbände aus, entkräftet und vergiftet die religiösen Bindungen. Diese Zerstörung erreicht in dem häßlichsten Symptom der großen Volkskrankheit, der Großstadt, ihren letzten Gipfel. Dem Menschen schwindet sozusagen das Dach über dem Kopfe; er sieht sich allen Schutzes beraubt, mit dem ihn die alten Gemeinschaftsbildungen gedeckt hatten, sieht sich nackt und bloß in den stürmischen Ozean des jetzt entbrannten wüsten Kampfes aller gegen alle geworfen, auf nichts anderes mehr angewiesen als auf seinen individuellen Verstand. Damit triumphiert der Rationalismus, der nun sehr bald zum Sophismus entartet; nicht mehr der Mensch als Gruppenwesen, sondern das isolierte Individuum wird „das Maß aller Dinge". Ihm schwindet alle Ehrfurcht vor dem Gewachsenen und Gewordenen; die sakralen Bindungen haben ihre Kraft zum großen Teil verloren; er ist frei, aber auch frech geworden. Wie ihm der Schutz gegen die anderen mit seiner Genossenschaft verschwand, so verschwand ihm mit ihr auch der Schutz gegen sich selbst; er hat die meisten Hemmungen seines Trieblebens eingebüßt: die Furcht vor Gott, die Scheu vor bürgerlicher Mißachtung, den Trieb nach Ehre in seiner Gruppe, die ja verschwunden ist; nichts bleibt, um ihn zu bändigen, als die Furcht vor dem Strafrichter und, zum Glück, bei vielen doch noch der nicht zum Schweigen zu bringende Richter in der eigenen Brust, das Gewissen. Aber derer, die diesem inneren Berater folgen, werden immer weniger. Nicht ungerührt und ungestraft sieht der Mensch um sich herum immer wieder die Skrupellosen alle Kränze an sich reißen, während der Edle zurückgestoßen wird. Die antisoziale „Ordnung" dieser Gesellschaft erzeugt in immer mehr Menschenseelen mit Notwendigkeit die antisoziale Einstellung, die wir oben als Sündhaftigkeit bezeichneten. Oder, anders ausgedrückt: der Apparat von Normen und Imperativen, der das Tun und Lassen des in eine Gemeinschaft eingeordneten Menschen bestimmte, der seinen Trieben die starken

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

Hemmungen entgegenstellte, hat seine Kraft mit seiner sakralen Geltung zum großen Teil verloren. Das „Tier" ist seiner Fesseln ledig geworden. Also doch das Tier? Ja, aber man muß recht verstehen: das Tier ist unschuldig, ist sündlos, weil es Natur ist. Der Appetit auf gute Nahrung, die Liebe der Geschlechter, die Freude an Schmuck und Ehre: all das wird in der gewachsenen Gemeinschaft reicher und leichter befriedigt als im Zustande des isolierten Tieres, das kaum Kraft genug besitzt, um sich zu ernähren und fortzupflanzen. Und all das wird in der Gemeinschaft in Schranken gehalten, die das gleiche Recht aller wirksam schützen. Hier sind die sozialen Hemmungen stärker als die tierischen Triebe, der Deich hält den Strom. Ja sogar der Gehorsam gegen die Hemmungen erweckt Stolz, Lebensfreude, Genugtuung. Wenn aber die Gemeinschaft zerfallen ist, dann sind die Triebe stärker als die so gewaltig abgeschwächten Hemmungen, die Deiche müssen brechen. Aber alles, was hier an Sünde geschieht, beruht nicht darauf, daß das natürliche Tier allzu stark geworden ist, sondern lediglich darauf, daß, als Folge des Sündenfalls der Gesellschaft, ihre Hemmungen zu schwach geworden sind. Jetzt erst wird die Befriedigung der natürlichen Triebe zur Sünde. Der Primitive ist zuweilen ein Fresser - aber er ist nie ein Schlemmer. Denn Schlemmen heißt: sich teure Dinge leisten, deren „Köstlichkeit" lediglich darin besteht, daß sie viel „kosten", so daß ihr Genuß den Genießenden mit dem Prestige der Herrenklasse umwittert. Was das Schlemmermahl recht eigentlich würzt, ist das Bewußtsein, daß viele mit hungrigen Augen zuschauen. Und der Wilde und der Barbar wissen wahrscheinlich gar nichts von romantischer Liebe, aber dafür folgen sie unschuldig dem stärksten aller Triebe: sie prostituieren die Partnerin nicht durch Perversitäten und kaufen sich Liebe so wenig, wie sie sich, ζ. B. durch eine große Mitgift, zur Liebe kaufen lassen. „O Mensch, du Tier, sei doch Natur", ruft Richard Dehmel seinen Zeitgenossen zu: ja, wenn es nur möglich wäre, mitten in der Unnatur dieser Staatsgesellschaft Natur zu sein! Wie kann Liebe sich froh ausleben, wenn sie Armut und Druck mit sich bringen muß? Wie kann eine werdende Mutter ihrem Kinde in Seligkeit entgegenhoffen, wenn Elend und Schande sie beide erwarten? Wie kann das Verhältnis von Eltern zu Kindern sein, was es sein soll und in der gewachsenen Gemeinschaft auch wirklich ist, wenn die Kinder des Vaters Tod erwarten müssen, um frei und selbständig zu werden? Leuchtet der bittere Witz der Ostpreußen, den Arsenik als „Altsitzerzucker" zu bezeichnen, nicht tief in die grauenhaftesten Abgründe unserer Gesellschaft hinein?! Namentlich, wenn man der hier angedeuteten furchtbaren Sünde, die auch in Emile Zolas „La terre" in einer ebenso grauen- wie eindrucksvollen Szene als typischer Vorgang dargestellt wird, die Tatsache entgegenhält, daß alte Eltern überall dort mit der größten kindlichen Pietät auch heute noch gepflegt werden, wo sie eines Einkommens genießen, das mit ihrem Tode erlischt. Ehe und Elternschaft, Liebe und Freundschaft, wie selten sind sie nicht derart vergiftet! Schon unsere Kinder spüren auf der Schule den Unterschied der Klassen und nehmen je nachdem Hochmut und Verachtung der Unteren oder übles Ressentiment, Neid, Tücke und brutale Gewohnheiten mit in ihr künftiges Leben. Jetzt versteht man erst recht jene „Verschiebung", von der wir sprachen. Der Mensch fühlt das natürliche Tier in seinem Innern die Glieder dehnen und die Krallen recken. Er fürchtet sich davor, weil er aus Erfahrung weiß, wohin es ihn zwingen kann, wenn es ausbricht; er scheut sich davor, weil sein Gewissen ihn unerbittlich mahnt, es zu bändigen. Er weiß nicht und kann nicht wissen, daß die Bestie nur relativ stark wurde, weil ihr Gitter vermorscht ist; er sucht die Kraft der ihm verloren gegangenen Hemmungen im Gebet zu überirdischen Mächten; und er kasteit sein Fleisch, um das Tier zu schwächen. Zuweilen gelingt es ihm, aber nur auf Kosten seiner Lebendigkeit und Vollpersönlichkeit. Die Aufgabe ist aber, das Gitter so stark zu gestalten, daß das elementare Tier auch in seiner vollsten Naturkraft es nicht brechen kann. Der Weg zur Rettung ist klar gewiesen. Er kann nur zu Ende beschritten werden durch Ausrottung des „Staates". Das war auch die Hoffnung Lessings. Freilich erwartete er, ganz im Banne der Aufklärung, alles Heil vom Fortschritt der „Bildung" der einzelnen, isoliert betrachteten Person-

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lichkeiten: daß es eine Organisation der Gesellschaft geben könnte, die alle wohltätigen Funktionen des Staates auf sich nimmt, und dennoch nicht Staat ist, davon ahnte er nichts und konnte daher die letzte Wahrheit nicht erkennen, daß der einzelne im Staate zu der von ihm erhofften Vollendung der „vollkommen gebildeten Persönlichkeit" nicht gelangen kann. Für uns, die wir nicht mehr aufklärerisch alles vom Individuum erwarten, schreibt sich ein anderer Weg zur Errettung gebieterisch vor: wir müssen die Gemeinschaft, die civitas dei, von ihrem Schmarotzer, dem Staate, der civitas diaboli, erlösen, müssen sie in voller Kraft und Gesundheit wieder herstellen. Dann wird der Rechtszustand, das Endziel und die Aufgabe aller Geschichts- und Rechtsphilosophie, unerschütterlich begründet sein und dann erst kann sich in ihm die vollkommen gebildete Persönlichkeit, die höchste Stufe von Menschenwert und Menschenwürde, in größerer Zahl entfalten. Wir sagen mit gutem Bedacht: der Rechtszustand wird unerschütterlich begründet. Wenn er einmal geschaffen ist, kann er, das haben wir zur Evidenz nachweisen können, aus innerstaatlichen Ursachen nie wieder in Frage gestellt werden. Außere Gewalt aber kann die Gemeinschaft nicht von neuem überwältigen und verderben. Es gibt kein Naturvolk mehr, das ein zivilisiertes Volk mit kriegerischer Macht überrennen könnte. Alarich und Theodorich konnten mit ein paar tausend Kriegern das an Bevölkerungszahl und Wehrkraft unendlich geschwächte Römerreich überwältigen: heute würden ein paar Maschinengewehrkompanien ihre vereinigten Scharen vernichten. Was uns also zu tun ist, besteht darin, die letzten Reste der zur Macht gewordenen Gewalt in Gestalt der, aus alter Eroberung und Unterwerfung herstammenden, Eigentumsrechte aus unserem Gesellschaftskörper auszuroden: und das ist nichts als eine Frage der rechten Erkenntnis; praktische Schwierigkeiten von schwer zu überwindender Größe bestehen nicht. Dann wird die „klassenlose Gesellschaft" wieder in Lebendigkeit dastehen, für immer gegründet. Ich weiß, daß von tausend Lesern jetzt kaum einer nicht vor sich hin sagen wird: welch ein Utopist! Nun, mir liegt nur an nachdenklichen Lesern, und von denen denke ich viele zu überzeugen, die den Abschnitt von der „klassenlosen Gesellschaft" in meinem „Staat" aufmerksam lesen werden. Alle Wirklichkeit ist die Utopie von gestern -, und wer weiß, welche Utopie von heute die Wirklichkeit von morgen sein wird? Wenn dem Philister das geringste daran läge, sich nicht unsterblich zu blamieren - seine einzige Anwartschaft auf Unsterblichkeit! -, ja wenn er nur, zu seinem Glück, nicht ein allzu schwaches Gedächtnis hätte, um sich daran zu erinnern, daß er noch gestern als Unmöglichkeit verhöhnte, was er heute als den Triumph seiner(!) Zeit und seines(!) Volkes mit Wonnetönen begrunzt: so hätte er sich längst abgewöhnt, das Ungewohnte als das Unmögliche auszuschreien. Wir setzen seinem Hohn des ewig Blinden Immanuel Kants grimmigeren und besser begründeten Hohn des Sehenden entgegen, wenn er spricht von der „pöbelhaften Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten (der Staat) zur rechten Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus der Erfahrung geschöpft werden, alle gute Absicht vereitelt hätten". Aber nicht von der Möglichkeit, ja Sicherheit der nahen Erlösung soll heute und hier die Rede sein. Wir haben diesen Ausblick nur getan, weil sonst alles, was wir sagen mußten, dem trostlosesten Pessimismus Nahrung geben würde. Denn wenn alle Sündhaftigkeit und alle Sünde der Menschheit Kollektivschuld der Gesellschaft ist, dann kann es ja aus dieser Hölle von Dreck und Feuer, in der wir leben müssen, nur die eine Erlösung geben, daß die Gesellschaft selbst durch uns grundsätzlich und grundstürzend verbessert werden kann. Weil wir wissen, daß das möglich ist und in naher Zukunft sicherlich geschehen wird, deshalb dient unsere Anklage nicht der Lähmung des Wollens in hoffnungsloser Verzweiflung, sondern dem glühenden Willen zur Reform und im Notfall zur Revolution dieser kranken Gesellschaft, zur Vernichtung des Parasiten „Staat", der auf dem Leibe der Gemeinschaft schmarotzt. Und damit werden wir nicht nur unserer inneren Läuterung dienen, sondern geradezu den einzigen Weg betreten haben, um unser physisches Leben überhaupt zu erhalten. Wenn uns als Einzel-

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

ne die Sündhaftigkeit nur verwirrt und besudelt, so bedroht sie unsere Gesellschaft, den gewaltigen Organismus, dessen Zellen wir sind, mit dem unser individuelles Leben und Sterben untrennbar verknüpft ist, mit absoluter Vernichtung. Wenn die Weltgeschichte auch nicht für den Einzelnen das Weltgericht in dem Sinne ist, daß jeden Sünder hienieden die Strafe trifft, so ist sie doch gewiß das Weltgericht für die Völker. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen sicher. Ich habe in meinem „Staat" die erschütternde Krankheitsgeschichte der antiken Stadtstaaten noch einmal geschrieben und zeigen können, daß der gesamte ungeheure Prozeß sich, Zug für Zug, Symptom für Symptom, aus der einen und einzigen Ursache des durch Gewalt gesetzten Staates und der mit dem Staat gesetzten Klassenscheidung und Ausbeutung ableiten läßt. Ein Virus von fast gleicher zerstörender Gewalt ist auch in den Leib unserer modernen Gesellschaft eingedrungen; schon rüstet sich der kapitalistische Imperialismus des Westens und der sowjetistische Sozialismus des Ostens zum letzten Kampfe, in dem kein Pardon gegeben wird. Zwischen diesen Mühlsteinen wird die europäische Zivilisation, werden wir selbst zu Staub gemalmt werden, wenn nicht in letzter Stunde noch rechte Erkenntnis den rechten Weg beschreitet. Und dann wird noch einmal eine große mächtige Zivilisation an der alten Erbsünde zugrunde gegangen sein, die sie in ihrer Kinderzeit schuldigunschuldig beging.

Der Staat in nationalökonomischer Hinsicht [1926]

Inhalt

1. Einleitung Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt

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2. Die soziologische Staatsidee

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3. Der Staat in den nationalökonomischen Systemen

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4. Der Staat als Kategorie der nationalökonomischen Begriffe und Funktionen 5. Die Zwecke und Aufgaben des Staats

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6. Entwicklungstendenz der öffentlichen, besonders der Staatsleistungen namentlich im modernen Rechts-und Kulturstaat 7. Das Vorwalten des Präventivprinzips im entwickelten Rechts-und Kulturstaate

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8. Die Feststellung des Bereichs der Staatstätigkeit

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[Der vorliegende Aufsatz ist ursprünglich erschienen in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. von J . Conrad, L. Elster, W. Lexis, Ε. Loening, Bd. 7, 4. Aufl., Jena 1926; A.d.R.]

Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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Demokratie

1. Einleitung Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt Die wissenschaftlichen Anschauungen über Wesen und Begiff des Staates gehen, wie aus dem vorhergehenden Aufsatz hervorgeht, noch sehr weit auseinander. Dafür sind - außer den in der Sache liegenden Schwierigkeiten - namentlich zwei Gründe maßgebend. Erstens bestimmen den Forscher in der Regel seine klassenmäßigen Vorurteile1; und zweitens fehlt es fast überall durchaus an der methodologisch unerläßlichen Besinnung auf den Unterschied von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt. Von dem ersten Grunde wird ausführlicher zu handeln sein; hier mag der zweite Gesichtspunkt einleitend dargestellt werden.2 Was dem Beobachter ursprünglich dargeboten ist, ist immer nur ein „Erfahrungsobjekt" mit unzähligen Kennzeichen. Ein solches ist nicht Gegenstand, sondern erst Rohstoff der wissenschaftlichen Untersuchung, aus dem sie sich ihr „Erkenntnisobjekt" erst zu bereiten hat, und zwar dadurch, daß sie aus jenen unzähligen Kennzeichen diejenigen auswählt und im „Bilde" ordnet, die ihr besonderes „Interesse" erwecken. Derart ergibt das gleiche Erfahrungsobjekt die verschiedensten Erkenntnisobjekte verschiedener Wissenschaften. Ein und dasselbe Stück Eisen ζ. B. liefert für die Chemie, die Physik, die Technologie, die Kriminalistik usw. verschiedene Erkenntnisobjekte. So ist auch der Staat zunächst nichts als ein sozusagen amorphes Erfahrungsobjekt.3 Über die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit der historischen Staaten haben nach Wilhelm Dilthey die von ihm sogenannte Geisteswissenschaften drei verschiedene Arten von Aussagen zu machen: historische, theoretische und praktische. Die historischen Aussagen macht die politische oder Staatengeschichte; - die praktischen Wissenschaften vom Staate sind die „Realpolitik", die Klugheitsregeln zur Erreichung bestimmter Zwecke enthält, und die Staatsphilosophie, die Ziel und Wert des Staates aufgrund philosophischer Wertungen zu bestimmen versucht. Die theoretischen Aussagen machen die Staatsrechtslehre, die den Staat betrachtet wesentlich von seiner formalen Seite her als „den Inbegriff der Rechtsnormen, durch welche die Herrschergewalt und das Volk im Verhältnis der Über- und Unterordnung verbunden sind" (Loening); und die Soziologie, die den Staat als historisches Objekt in seinem Sein, vor allem in seinem Inhalt, untersucht. Derart erheben sich mehrere sehr verschiedene Begriffe des Staates, die durchaus nicht übereinzustimmen brauchen: sie dürfen sich nur nicht widersprechen!

2. Die soziologische Staatsidee Die Ökonomik ist eine soziologische Disziplin. Das beweist bereits ihre Definition: „Die Ökonomik ist die Wissenschaft von der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft."4 Die ökonomische Theorie geht zwar überall von dem Individuum aus, aber immer von einem durch die Lagerung und den Normenapparat seiner Gruppe in Vorstellung, Wertung und Handlung streng, und zwar in jeder Gesellschaft anders, determinierten Individuum.5 Als soziologische Disziplin kann die Ökonomik also nur von der soziologischen Staatsidee ausgehen. Diese ist zuerst von dem

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Seine „persönliche Gleichung" (Spencer); vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Jena 1922-1929, Bd. I, S. 203. Vgl. ebenda, Bd. I, S. 146ff.; Bd. II, S. Iff. und Bd. III, S. 195ff. Vgl. ebenda, Bd. I, S. 890f. Ebenda, Bd. III, S. 3. Ebenda, S. 52, 88, 91, 104, 172, 178, 186.

Der Staat in nationalökonomischer

Hinsicht

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Schöpfer der Soziologie, dem Grafen Saint-Simon, ausgearbeitet und dann namentlich von seinen sozialistischen Schülern, den Saint-Simonisten, vor allem Bazard, ausgestattet worden. Ludwig Gumplowicz hat sie zum Angelpunkt der jungen Wissenschaft gemacht.1 Sie kann in der Form, wie sie der Bearbeiter dieses Aufsatzes allmählich ausgearbeitet hat, folgendermaßen dargestellt werden: Wir wollen zum Zwecke der sehr notwendigen terminologischen Verständigung die jeweils größten Kreise menschlicher Vergesellschaftung als „nationale Rahmengruppen" bezeichnen, d. h. „die namentlich politisch nach außen, gegen andere Gesellschaften, abgegrenzten menschlichen Verbände, die gleichzeitig Wirtschaftsgesellschaften und in der Regel auch Sprach-, Religions- und Rechtsgesellschaften darstellen: also respektiv Horde, Hordenverband, Stamm, Stammesverband und Staat, prospektiv auch die Staatenverbände und .Völkerbünde' der Zukunft"2. Alle diese Bildungen stimmen ohne Ausnahme in zwei Punkten überein: sie sind Organisationen des Grenz- und Rechtsschutzes. Aber sie unterscheiden sich sehr stark in einem anderen Punkte: nur die der „Weltgeschichte" im engeren Sinne, d. h. der Staatengeschichte, angehörigen Verbände, die „Staaten" im gewöhnlichen Sinne des Sprachgebrauchs, sind Hierarchien einander über- und untergeordneter Klassen, während die der „Vorgeschichte" angehörigen Verbände dieses Kennzeichen nicht aufweisen. Noch die höchst entwickelte Bildung dieser letzten Art, der Stammesverband (die „fünf Nationen") der Irokesen, eine sehr wohlgeordnete und ζ. B. militärisch recht leistungsfähige Organisation, zeigte keine Andeutung einer Scheidung in Klassen. Auf diesen Gegensatz legt die soziologische Staatsidee den größten Nachdruck, und dadurch unterscheidet sie sich von allen früheren Staatslehren. Diese haben ohne Ausnahme das Klassenverhältnis überhaupt nicht beachtet. Wie ist dieses auffällige Ubersehen zu erklären? Alle diese Theorien halten die Entstehung der Klassen nicht bloß für eine historische, sondern für eine „immanente" Notwendigkeit. Oder mit anderen Worten: sie stehen sämtlich auf dem Boden des sogenannten „Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation". Das ist die schon aus dem griechischen Altertum stammende und in der Neuzeit zum tragenden Fundament der gesamten „bürgerlichen" Soziologie gewordene Lehre, daß die Klassen sich ohne das Eingreifen außerökonomischer Gewalt durch nichts anderes als die Auswirkung rein „ökonomischer" Begabungsdifferenzen aus einem Anfangszustande der Gesellschaft heraus entwickelt haben, in dem nur Freie und Gleichberechtigte nebeneinander standen, Klassen nicht existierten. Aber der Fleißige, Nüchterne, Sparsame, Vorausblickende sammelte Vermögen an, und aus den Unterschieden des Vermögens entstanden solche der sozialen Klasse. Gegen diese Lehre ging zuerst Saint-Simon mit induktiven Argumenten an. Er zeigte, daß die Klassenunterschiede Frankreichs auf der Unterwerfung der Kelten durch die Römer und später die Germanen beruhen. Ihm sind seine Schüler, in Deutschland vor allen Rodbertus und Marx gefolgt. Der an sich bereits genügenden induktiv-historischen Widerlegung des Gesetzes der ursprünglichen Akkumulation hat dann der Bearbeiter die deduktive Widerlegung angefügt.3 Sie beruht, in äußerster Kürze zusammengefaßt, auf folgender Überlegung: offenbar kann eine Klasse vermögensloser Menschen, die der eigenen Produktionsmittel entbehren und daher gezwungen sind, sich den Besitzern der Produktionsmittel als Dienstleistende anzubieten, nicht eher ent-

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Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 170ff. Ebenda, Bd. I, S. 465. Vgl. ebenda, Bd. I, S. 987ff.; Bd. III, S. 2 0 6 - 2 3 2 . In unserem soeben erschienenen zweiten Bande des Systems der Soziologie „Der Staat" haben wir in breitester geisteshistorischer Untersuchung die Wurzeln dieses angeblichen Gesetzes bloßgelegt und es dann erstens durch immanente Kritik widerlegt und zweitens mit den völlig widersprechenden Tatsachen konfrontiert. D e r Abschnitt umfaßt nahezu 300 Seiten. [Siehe im vorliegenden Band, S. 3 0 9 - 3 8 5 ; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

stehen, als bis alles Nutzland in Privateigentum übergegangen ist. Dieser an sich apodiktische Satz wird außerdem von den theoretischen Führern der beiden großen Gedankenrichtungen des Liberalismus und Sozialismus einhellig explizit vorgetragen: Von Turgot, Adam Smith und Karl Marx. Wenigstens die beiden letztgenannten haben auch gesehen und ausgesprochen, daß von jenem Augenblick an zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Besitzlosen ein Monopolverhältnis besteht. Bisher wurde aber allgemein ohne Prüfung angenommen, daß es sich hier um ein sogenanntes „natürliches Monopol" handle, weil der Boden im Verhältnis zu den Bodenbedürftigen in zu geringer Menge vorhanden sei. Die Untersuchung, nämlich die Division des vorhandenen Bodens durch die Zahl der Landbedürftigen, ergibt aber eindeutig sowohl in bezug auf den ganzen Planeten wie auch auf jedes größere einzelne Staatsgebiet, daß viel mehr Land vorhanden ist, als bei gleichmäßiger Teilung gebraucht wurde. Es handelt sich also nicht um ein natürliches, sondern um ein künstliches, „rechtliches" Monopol: der gesamte Boden ist durch die Oberklasse gegen die landbedürftige Unterklasse gesperrt worden, um sie eben dadurch in das Monopolverhältnis zu versetzen und tributpflichtig zu machen. Die Rechtsform dieser Sperrung ist das große Grundeigentum: es gibt kein anderes Mittel zur Durchführung der Sperre, als entweder alles Land einem einzigen Riesenbesitzer, dem Fürsten, zur privatwirtschaftlichen Ausbeutung zu überlassen: so ist es vielfach in Indien der Fall, wo alle Bauern, die „ryots", dem Radscha als Prekärpächter gegenüberstehen; oder das vorhandene Land in so großen Stücken den einzelnen Mitgliedern der Oberklasse zuzuweisen, daß für die große Mehrzahl der Bevölkerung nichts oder zu wenig übrig bleibt, um alle zu versorgen: das ist das System des europäischen Feudalismus, dessen Rechtsnachfolge das moderne Großgrundeigentum ist. Aus dieser Erwägung geht hervor, daß die soziologische Staatsauffassung das Schwergewicht nicht auf das Großgrundeigentum an sich, sondern auf die Bodensperre legt: vereinzeltes Großgrundeigentum wäre völlig harmlos: nur massenhaftes Großgrundeigentum, das in seiner Gesamtheit die Bodensperre konstituiert, wird als der Störenfried der gesellschaftlichen Ordnung angeklagt. Im übrigen darf gegenüber der fast höhnischen Verwerfung, die diese Auffassung noch bei vielen bürgerlichen und sozialistischen Theoretikern der Gegenwart erfährt, darauf verwiesen werden, daß, mit einziger Ausnahme der sogenannten „Vulgärökonomik", sämtliche besseren Schriftsteller und schlechthin alle Autoritäten unseres Fachs keinen Zweifel daran gehegt haben, daß irgendwie im Bodenbesitz die Ursache der sozialen Übel liegen müsse, außer Turgot und Smith: James und John Stuart Mill, Ricardo, Walras, Gossen und viele andere liberale, und fast alle sozialistischen Theoretiker von Rang ζ. B. Marx. Neu an der vorgetragenen Theorie ist nur die Zuspitzung auf eine besondere Form des Grundeigentums statt auf diese Rechtsinstitution im allgemeinen. Unser deduktiver Beweis gegen das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation wird also mit arithmetischen Mitteln geführt und erscheint uns als von mathematischer Gewißheit. Die neuere Völkerkunde steht denn auch mit nur geringen Ausnahmen, von denen sofort zu reden sein wird, auf unserem Standpunkt. Namentlich Wilhelm Wundt unterscheidet sehr scharf die ursprüngliche, auf wirklicher oder fiktiver Blutsverwandtschaft beruhende Gruppe von der „Politischen Gesellschaft", die im „Zeitalter der Wanderung und Eroberung" durch Unterwerfung einer ethnologischen Gruppe unter die andere, also durch außerökonomische Gewalt, entstanden ist: sie ist der Ursprung aller derjenigen Gebilde, die die politische Geschichte bisher als „Staaten" bezeichnet hat. Jenes Zeitalter bildet den tiefsten Einschnitt der menschlichen Geschichte: alles, was vorher geschah, gehört der Vorgeschichte, alles, was seitdem geschah, der eigentlichen Weltgeschichte, der Staatengeschichte an. Aus diesem Grunde, und das ist also eine rein terminologische, nicht im mindesten sachliche Entscheidung, bezeichnet die Soziologie nur die aus erobernder Gewalt entstandenen Rahmengruppen als „Staaten" und nennt die vorgeschichtlichen Bildungen „vorstaatliche Gemeinschaften". Diese Terminologie erfüllt den Anspruch, praktisch zu sein: denn alle Probleme der Historik knüp-

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fen sich nur an die Staaten in dieser Bedeutung. Man kann natürlich auch anders entscheiden und alle Rahmengruppen als „Staaten" bezeichnen: aber dann muß man eine Unterteilung vornehmen und die vorgeschichtlichen Staaten ohne Klassenscheidung von den geschichtlichen Klassenstaaten streng unterscheiden, wenn man nicht alle Probleme durch rein definitorische Mittel an der Wurzel abschneiden will. Diesen Fehler begehen einige neuere Ethnologen, von denen Holsti, Knabenhans und Schmidt genannt sein mögen. Sie nennen „Staat" jede geregelte, d. h. unter Gesetzen stehende und sich nach diesen Gesetzen verwaltende menschliche Gemeinschaft. Da diese Kennzeichen auch für die vorgeschichtlichen, vorstaatlichen Rahmengruppen zutreffen, so fallen selbstverständlich auch diese, durch unsere Definition ausgeschlossenen Gebilde unter die ihre, womit aber sachlich nicht das mindeste gegen uns bewiesen wird. Alle Schlüsse, die aus dieser weiteren Definition gezogen werden, beruhen dann darauf, daß Herrschaft und Regierung, Herrschaft und Führerschaft gleichgesetzt werden.1 Es handelt sich aber um Begriffe, die sehr sorgfältig unterschieden werden wollen. Führerschaft und organisierte dauernde Führerschaft, nämlich Regierung, sind beides völlig neutrale Begriffe, die zu den Kennzeichen aller irgendwie höher entwickelten Rahmengruppen gehören: aber Herrschaft entsteht nur durch zwangsmäßige Unterwerfung unter kriegerische oder in selteneren Fällen geistliche Ubergewalt. „Der Gegensatz von Führerschaft ist: Gefolgschaft und von Herrschaft: Untertanenschaft oder Dienerschaft. So wenig diese ihre Gegensätze, so wenig sind diese Begriffe selbst identisch."2 Wenn es sich hier im wesentlichen nur um einen großen Wortstreit handelt, so handelt es sich bei einer anderen Gruppe von Staatstheoretikern um sachliche Einwände, die allerdings u. E. kraftlos sind. Adolf Menzel hat diese Argumente in seinem Aufsatz: „Begriff und Wesen des Staates" zusammengetragen. Sie lauten in seiner Fassung erstens: „Selbst wenn der Nachweis gelungen wäre, daß die Unterjochung eines Volksstammes durch einen anderen den Ursprung der staatlichen Verbindimg darstelle, so folgt daraus keineswegs mit Notwendigkeit, daß das Wesen des Staates zu allen Zeiten in der Klassenherrschaft gelegen sei. Es ist die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß der Staat seinen ursprünglichen Charakter (Organisation einer siegreichen Menschengruppe) geändert haben kann." 3 Der Einwand ist kraftlos: denn, wenn einmal zugegeben wird, daß der Staat anfänglich eine Klassenorganisation gewesen ist, dann ist erstens das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation preisgegeben, und zweitens fällt dann offenbar das onus demonstrandi, daß der Staat seinen Charakter geändert habe, dem Gegner der soziologischen Staatsidee zu. Der zweite Einwand lautet: „Der empirische Beweis für die Lehre, daß die kriegerische Unterwerfung den einzigen oder auch nur den häufigsten Entstehungsgrund des Staates darstelle, ist keineswegs erbracht worden."4 Im Zweistromlande ζ. B. haben „nicht staatslose Volksstämme miteinander gekämpft und durch Unterwerfung einen bisher nicht existierenden Verband erzeugt, sondern es haben bereits bestehende Staaten von hoher Kultur miteinander gerungen". Auch dieser Einwand ist kraftlos. Denn es wird nicht der geringste Versuch gemacht, nachzuweisen, daß diese miteinander ringenden Staaten nicht auch schon „Klassenstaaten" gewesen sind. Wenn die soziologische Staatsauffassung derartige

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Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 232ff. Vgl. ebenda, Bd. I, S. 370. Menzel, Begriff und Wesen des Staates, in: Handbuch der Politik, Bd. I, 2. Aufl., Berlin 1914, S. 35ff. Ebenda.

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Tatsachen betont, so will sie damit nicht die erste Entstehung, sondern die Fortbildung des Staates illustrieren: er hat sich „fort und fort entwickelt nach dem Gesetz, nach dem er angetreten". Und wären selbst die ersten im Kriege zusammentreffenden Rahmengruppen noch keine Klassenstaaten gewesen, so wäre eben die Klassenscheidung, um die allein es sich handelt, durch diesen Krieg, d. h. durch außerökonomische Gewalt, entstanden, und das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation dennoch widerlegt. Auch dieser Einwand läuft also auf den reinen Wortstreit hinaus, ob man die noch klassenlosen Rahmengruppen des ersten Anfangs schon „Staaten" nennen soll oder nicht. Im übrigen läßt sich der Nachweis, daß die ersten zusammenstoßenden Gruppen noch nicht in Klassen geschieden waren, mit geschichtlichen Mitteln unmöglich erbringen. Menzel sagt selbst: „Die Weltgeschichte kennt überhaupt nur staatlich organisierte Völker; die soziologische Theorie kann daher nur als eine Hypothese für die vorgeschichtliche Zeit angesehen werden." Wir sind bis auf den Ausdruck „Hypothese" einverstanden: es handelt sich nicht um eine solche, sondern, wie wir bereits sagen durften, um eine mathematisch bewiesene Gewißheit. Menzel hütet sich denn auch wohl, diese unsere Rechnung auch nur zu erwähnen; er zieht es dagegen vor, sich auf eine auch von uns sehr hoch geschätzte Autorität, Eduard Meyer, zu berufen. Er habe „den überzeugenden Nachweis erbracht, daß die Annahme eines staatenlosen Urzustandes der Menschheit weder empirisch noch deduktiv beendet werden kann, daß der Staat ebenso alt ist wie das Menschengeschlecht". Wenn wir uns aber an die angegebene Arbeit Meyers, seine „Elemente der Anthropologie", wenden, so finden wir, daß auch er nur terminologisch anders entschieden hat. Er nennt „Staat" den „dominierenden Verband, der alle kleineren Verbände als untergeordnete Teile, als Gruppierungen innerhalb einer Einheit betrachtet und daher von allen seinem Machtbereich zugehörigen Gruppen und Individuen Unterordnung unter seinen Willen und seine Zwecke fordert und nötigenfalls erzwingt" 1 . In diesem Sinne ist der Staat freilich so alt wie der Mensch, denn „Mensch" wird der Bimane erst in der Gruppe, und zu deren Begriff gehört die rechtlich-sittliche Regelung der interindividuellen Beziehungen. Aber damit ist sachlich gegen den von uns vertretenen Standpunkt nicht das mindeste eingewendet. Wenn Meyer - und das ist beinahe der einzige erhebliche Punkt, in dem wir von ihm abweichen - nicht zu der unerläßlichen Einteilung der von ihm unterschiedslos als „Staaten" bezeichneten Rahmengruppen in klassenlose und klassengeschiedene gelangt, so liegt das nur daran, daß auch er, wie fast alle Historiker, Anhänger der Lehre von der ursprünglichen Akkumulation ist. Er trägt sie2 fast mit den Worten Lorenz v. Steins vor, dem sie auch zum Verhängnis geworden war 3 : „Zugleich aber steigert das Eigentum die natürliche Ungleichheit der Mitglieder des sozialen Verbandes, die bereits durch die physischen Eigenschaften jeden Individuums und seinen darauf beruhenden Einfluß gegeben ist. Denn der Besitz kann sich (auch wo er im wesentlichen durchaus homogen ist, wie bei einem Volk von Viehzüchtern) niemals überall gleichmäßig entwikkeln, äußere Zufälligkeiten so gut wie die Geschicklichkeit des Besitzers vermehren die Unterschiede ständig; der Gegensatz von Reichen und Armen und der dadurch gesteigerte Unterschied in Einfluß und Macht fehlt in keinem Stamm, auch da nicht, wo das Recht ihn ignoriert und die volle rechtliche Gleichheit aller Genossen des Verbandes postuliert."4 Hier geht Meyer von falschen Voraussetzungen aus. Ratzel sagt sogar noch von den Viehzüchtern, die in ihrer Organisation weit über den primitiven Jägern und sogar vielen Hackbauern stehen,

1 Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 1: Elemente der Anthropologie, 3. Aufl., Stuttgart 1910, S. 10. 2 Ebenda, S. 45. 3 Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 52, namentlich Anm. 4 Meyer, Elemente der Anthropologie, S. 45.

Der Staat in nationalökonomischer

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ohne Einschränkung: „Je friedlicher, ursprünglicher, echter der Nomade ist, um so weniger gibt es fühlbaren Unterschied des Besitzes." Aber er fährt fast unmittelbar anschließend fort: „Wo Krieg geführt und Beute gemacht wird, gibt es größere Unterschiede, die im Besitz von Sklaven, Weibern, Waffen, edlen Reittieren zum Ausdruck gelangen."1 Also erst mit der Einführung der Sklaverei, d. h. der Klassenscheidung2, der Ungleichheit der Mitglieder des Verbandes, treten fühlbare Besitzunterschiede auf! Im übrigen beruft sich Eduard Meyer auf einen der zeitlich ersten entschlossenen Vertreter der soziologischen Staatsidee, Ibn Chaldun mit folgenden Worten: „So wiederholt sich in den äußeren und inneren Schicksalen in den Völkern immer wieder der Kreislauf, in dem bereits der große maurische Historiker Ibn Chaldun die Grundform geschichtlichen Lebens erkannt hat: ein rohes kräftiges Volk - Ibn Chaldun kannte nur die Geschichte des Islams und der seinem Bereich angehörenden Wüstenstämme, doch gilt von allen anderen Völkern, die zu höherer Kultur gelangt sind, im Grunde dasselbe - setzt sich in einem Kulturlande fest und schafft eine höhere Kultur oder übernimmt dieselbe von der unterjochten älteren Bevölkerung." 3 Wir haben4 eine wahre Unzahl von Autoritäten für die soziologische Staatsauffassung zusammengestellt; unter ihnen fehlt kaum einer der großen Staats- und Rechtsphilosophen und Historiker. Der letzte Einwand unserer Gegner beruft sich „auf die zahlreichen Staaten, welche durch Kolonisation auf bisher unbesiedeltem Boden, ohne jede kriegerische Aktion, entstanden sind"5. Der Einwand hat auf den ersten Blick eine gewisse Stärke, wenn es auch recht unvorsichtig von Meyer ist, daß er sich ausgesucht auf die Vereinigten Staaten von Amerika beruft: denn es dürfte ihm nicht unbekannt sein, daß die Südstaaten ökonomisch zuerst ganz auf dem Import von Negersklaven, die Nordstaaten auf dem von halbversklavten „Kontraktarbeitern" aufgebaut waren. Nach Abschaffung dieser ständischen Klassenscheidung „hat sich die auszubeutende Menschenmasse selbst importiert", wie ich schrieb. Menzel findet das so sinnlos, daß er seine Kritik auf ein Ausrufungszeichen beschränkt. Aber es ist wirklich nicht ganz so sinnlos! Die Ausbildung von Klassenstaaten auf neuem Boden ohne unmittelbare Gewaltanwendung setzt zweierlei voraus: erstens die Herübernahme des Rechts und der Verfassung des Mutterstaates in ihren für das Klassenverhältnis wesentlichen Punkten; dann wächst aus dem Steckling eine Pflanze, die dem Stamme selbstverständlich gleichgeartet ist. Die Europäer der Oberklasse, die sich in den Kolonien niederließen, haben namentlich aufgrund des aus der Heimat mitgebrachten reinen Klassenrechts der Sperrung fast des gesamten Bodens gegen die Landbedürftigen (in der Rechtsform des großen Grundeigentums) überall die Bedingung jeder dauernden Klassenherrschaft geschaffen. Aber das allein hätte nicht genügt; es mußte als zweite Bedingung hinzutreten, daß die in den Klassenstaaten Europas allzu hart ausgebeutete Unterklasse massenhaft von dort auswanderte und sich also in die Kolonien „selbst importierte", wo inzwischen durch die Usurpation des Bodens dafür gesorgt war, daß sie niemals als Gesamtheit ihrer Klassenlage entrinnen konnte. Wir haben danach keine Veranlassung, unsere soziologische Definition des Staates aufzugeben: „Der Staat ist eine in Klassen gegliederte Rahmengruppe, die eine mit Machtmitteln versehene

1 2

Ratzel, Völkerkunde, Bd. II, Leipzig/Wien 1894/95, S. 555. Wenn wir von „Klassen" sprechen, so nehmen wir den Begriff in seinem weitesten Sinne, w o er nicht nur faktisch, durch Besitz- und Einkommensverschiedenheiten, getrennten Schichten, sondern auch die durch verfassungsmäßige Rechtsverschiedenheit getrennten Schichten, die „Stände", mit umfaßt.

3 4 5

Meyer, Elemente der Anthropologie, S. 82. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 25 Iff. Menzel, Begriff und Wesen des Staates, in: Handbuch der Politik, Bd. I.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus und Demokratie

Anstalt für den Grenz- und Rechtsschutz besitzt."' Für die Staatsrechtslehre haben wir schon längst die folgende Definition gegeben: „Der Staat ist eine Rechtseinrichtung, einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen durch eine siegreiche Menschengruppe, mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keine andere Absicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger." 2 Im Gegenteil, wir glauben, daß diese Begriffsbestimmung eine recht glückliche Synthese der meisten bisher versuchten Definitionen ist. Sie enthält in sich die „Machttheorie"; sie enthält ferner die rein juristische „Persönlichkeitstheorie" wenigstens insoweit, daß sie den Staat als eine „Rechtseinrichtung" versteht. Die große Schwierigkeit dieser Auffassung, ob der Staat das Recht oder das Recht den Staat voraussetzt, besteht für sie nicht: denn sie geht auf die vorstaatliche Rahmenguppe zurück, zu deren Begriff, wie gesagt, die rechtlich-sittliche Ordnung gehört oder, genetisch gesehen, die nur mit ihrem Recht zusammen aus der Tierheit der „Herde" entstanden sein kann. Und sie enthält schließlich auch die „organische Staatslehre": denn ihr ist der Staat in seinem Anfangszustande eine auf einer Gesellschaft schmarotzende andere Gesellschaft: eine Gesellschaft aber ist nach der bekannten Kantschen Definition ein „Organismus" 3 , allerdings nicht etwa ein individualer 4 . Eine (komplexe) Gesellschaft, und insofern auch ein Organismus, ist aber auch der entfaltete Staat, nachdem er die aller Gesellschaft zufallenden Aufgaben des Grenz- und Rechtsschutzes übernommen hat. Und was schließlich die sozialphilosophische (rechtsphilosophische) Staatsidee anlangt, so gibt ihr die soziologische Staatsauffassung erst die Möglichkeit, das Sollen des Staates genau zu bestimmen: die Ausmerzung aller der Gewalt und Herrschaft entsprungenen Institutionen und die Beibehaltung und Entwicklung aller aus rein genossenschaftlichen Beziehungen entstandenen Institutionen. Wobei es gleichgültig ist, ob man dieses Idealgebilde noch „Staat" nennen will oder nicht. Auch hier ist nur eine rein terminologische, also sachlich gleichgültige Entscheidung zu fällen. Zum Schluß dieses Abschnitts mag die in diesem Artikel in der 3. Auflage dieses Handwörterbuches5 enthaltene Äußerung Adolph Wagners über die soziologische Staatsauffassung wörtlich hierher gesetzt werden. Was der Bearbeiter an Kritischem gegen diese höchst ehrende Darstellung zu sagen hat, ist im vorstehenden bereits ausgesprochen worden. Nur das eine darf noch einmal herausgehoben werden, daß auch hier ein wesentlicher Teil der Meinungsverschiedenheiten rein definitorischer Art ist. Auch Wagner nennt alles rechtlich geregelte Zusammensein „Staat", und auch ihm mischt sich [sie] deshalb der Begriff des Staates, wie er war und ist, mit dem des Staates, wie er sein sollte und soll. „Auf eine andere, wenn auch einseitige, so doch bedeutsame Auffassung des Staats in eine in ihrer Art großartigen historischen Betrachtung konnte in diesem Artikel nicht mit eingegangen werden; es ist die von hervorragenden Soziologen, neuerdings namentlich von Gumplowicz und jetzt am charakteristischsten von Franz Oppenheimer6 vertretene, welche sich allerdings mit der sozialistischen vom bisherigen Staat als bloßem .Klassenstaat' nahe berührt. Der Staat wird hier als politisches Organisationsmittel zur wirtschaftlichen Ausbeutung der nichtbesitzenden

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Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 21. Vgl. Oppenheimer, Der Staat, [im vorliegenden Band, S. 313; A.d.R.]. Vgl. den vorhergehenden Artikel: Allgemeine Staatslehre, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 4. Aufl., Jena 1926, S. 75 Iff. Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 60ff. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 3. Aufl., Jena 1911, S. 730f. Oppenheimer, Der Staat, [im vorliegenden Band, S. 309-385; A.d.R.].

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Volksmasse durch die sachlichen Produktionsmittel, namentlich den Grund und Boden besitzenden höheren Klassen aufgefaßt. Tatsachen der Ethnologie dienen durch alle Zeitalter und alle Völker hindurch diesen Soziologen zur Beweisführung, bei Oppenheimer noch mit der einseitigen Zuspitzung, dem durch den Staat angenommenermaßen geschaffenen und geschützten Großgrundbesitz die maßgebende Bedeutung als Mittel zur wirtschaftlichen Ausbeutung zu vindizieren. Der Staat wird danach als Organisation zur Ermöglichung einer solchen Ausbeutung im Verlaufe aller Menschheitsgeschichte hingestellt. In der Fortentwicklung der Menschheit werde er aber einmal einer bloßen ,Freibürgerschaft' Platz machen. Dann werde es keinen ,Staat 1 , sondern nur noch Gesellschaft' geben, die Funktion des bisherigen Staats als eines politischen Mittels zur wirtschaftlichen Ausbeutung entfalten. 1 Bei aller Einseitigkeit eine Auffassung vom Staate, welche recht eigentlich eine solche vom .Staate in volkswirtschaftlicher Betrachtung' ist. Eine hier, wie gesagt, nicht mögliche und für den Zweck dieses Artikels auch nicht gebotene Auseinandersetzung mit dieser soziologischen und zugleich sozialistischen Auffassung und speziell mit der Oppenheimers würde wohl anzuerkennen haben, daß sie für den historischen Staat Punkte enthält, in denen ein Korn Wahrheit steckt, und daß das von der üblichen Geschichtsschreibung und auch von der Nationalökonomie bisher im allgemeinen zu wenig berücksichtigt ist. Aber andererseits würde eine solche Auseinandersetzung selbst mit einem solchen Zugeständnis, daß der historische Staat vielfach mit als politisches Mittel zur wirtschaftlichen Ausbeutung durch die Eigentümer der sachlichen Produktionsmittel gedient hat, doch nur darlegen, daß hier eben Mißbräuche vorliegen und daß es darauf ankomme, diese zu erkennen und zu beseitigen, nicht den Staat als solchen aufzuheben, auch nicht dessen Funktionen auf volkswirtschaftlichem Gebiete, gar bei hoher Kulturentwicklung. Gerade eine sozialistisch organisierte Volkswirtschaft werde, wie einer umfassenden Rechtsordnung für eine solche Organisation, auch einer Einrichtung bedürfen, welche alle Hauptfunktionen des historischen Staats in höchster Entwicklung in sich zu vereinigen hätte und daher, mag man sie nennen, wie man will, durchaus ,Staat' wäre. Die hier erwähnte soziologische Auffassung, speziell auch in der großzügigen Behandlungsweise von Oppenheimer, verdient jedenfalls gerade vom Nationalökonomen, Wirtschaftshistoriker und auch politischen Historiker ihre volle Beachtung. Sie eröffnet Tiefblicke in die volkswirtschaftliche Entwicklung und in den historischen Staat, wie auch der Gegner dieser Auffassung zugestehen sollte."

3. Der Staat in den nationalökonomischen Systemen Die Soziologie ist der „Versuch der Synthese von Aufklärung und Gegenaufklärung" 2 . Aus diesem Grunde ist auch ihre beherrschende Methode die mittlere Linie zwischen diesen beiden streitenden Auffassungen. Wenn die Aufklärung von dem isolierten, abstrakt gefaßten, „verabsolutierten" Individuum; - und wenn die Gegenaufklärung, die sogenannte Romantik, von den Ganzen der Völker oder gar der „Rassen" ihren Ausgangspunkt wählte, so geht die Soziologie von den, die Völker und Rassen zusammensetzenden „natürlichen Gruppen" aus: den territorialen, beruflichen usw. und vor allem den durch die Klassenscheidung geschaffenen. Sie sucht, in der Lagerung der Gruppe die Ursachen zu erkennen, aus denen das jeweils wirkende Gruppeninteresse sich als Folge ergibt: und sie leitet Gruppenhandlung aus diesem Interesse ab, indem sie zeigt, daß von ihm wieder die Vorstellung, Wertung und Handlung der einzelnen Gruppenglieder abhängt: die Gruppenglie-

1 2

[Oppenheimer, Der Staat; im vorliegenden Band, S. 381f.; A.d.R.] Derselbe, System der Soziologie, Bd. I, S. 6.

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der sind durch das Gruppeninteresse derart „sozialpsychologisch determiniert", daß ihnen alles gut, gerecht und verständig erscheint, was dieses Interesse fördert, alles das schlecht, ungerecht und töricht, was es kreuzt, hemmt und vereitelt.1 Von diesem Standpunkt aus ist es ohne weiteres klar, daß alle auf das soziale Zusammenleben bezüglichen Theorien nichts anderes als der Ausdruck solcher Gruppeninteressen gewesen sind und sind.2 Das gilt namentlich auch von den nationalökonomischen Systemen. Im Lichte dieser neueren Erkenntnis wollen die folgenden Ausführungen Adolph Wagners gelesen werden. Es handelt sich bei der Ausgestaltung und Fortbildung der nationalökonomischen Theorien im allgemeinen und ihrer Lehre vom Staat im besonderen nicht nur, wie man aus Wagner herauslesen könnte, um die „Eigengesetzlichkeit der Idee", die sich kraft einer immanenten Logik entfaltet, sondern vor allem darum, daß immer andere, anders gelagerte Gruppen mit anderen Interessen im Vordergrunde der politischen Bühne stehen und das Diapason der Zeit beherrschen. Der Merkantilismus ist der Ausdruck der Interessen der ersten mächtigen, bürgerlich-kapitalistischen Gruppe: der mit dem jungen absolutistischen Staat verbündeten Ubersee- und Fernhändler, der „merchant adventurers" und der von ihnen abhängigen Luxusgewerbe. Die Physiokratie ist der Ausdruck des gegen diese Klassenpolitik reagierenden Gruppeninteresses der kapitalistischen Landwirtschaft und der von ihr abhängigen, für den heimischen Markt produzierenden Stapelindustrie; das Industriesystem des Adam Smith ist der Vertreter des aufkommenden britischen Industriekapitalismus, die „Bourgeoisökonomik" seiner Nachfolger die Vertreterin der zur Macht gelangten Großbürgerschaft und der Sozialismus aller Spielarten der Ausdruck des Interesses der Unterklassen, zuerst der Landarbeiter, Pächter und Kleinbauern und der Kleingewerbetreibenden, später der neuentstandenen Arbeiterklasse, des Proletariats.3 Dieser eigentlich soziologische Gesichtspunkt kommt in den folgenden Ausführungen Adolph Wagners entschieden nicht zu seinem Rechte. Aber er ist freilich nicht der einzige Gesichtspunkt, der hier eingenommen werden muß. Jede Gruppentheorie wird außer durch die Lagerung der Gruppe im Verhältnis zu den anderen Gruppen ihrer eigenen Gesellschaft auch bestimmt durch die Lagerung dieser Gesellschaft als eines Ganzen zu anderen Rahmengruppen der gleichen politischen und wirtschaftlichen Sphäre und ferner auch im höchsten Maße durch die „entwicklungsmäßigen" Veränderungen des gesamten wirtschaftlichen, technischen und geistigen Zustandes der ganzen „europäischen Gesellschaft" als des Inbegriffs aller jener Rahmengruppen, die ja durch gegenseitigen Verkehr und Handel, durch einseitige oder wechselseitige „Akkulturation"4 psychologische Beziehungen zwischen den politisch getrennten Einheiten bewirken und derart eine „Gesellschaft" aus ihnen machen. Und so ist denn die Richtung der Klassentheorien über Staat und Gesellschaft in allen soeben kurz dargestellten Hauptsystemen einigermaßen verschieden je nach der besonderen Lage, die die betreffende Klasse oder ihr Staat im Augenblicke der Entstehung der Theorie einnahm. So ζ. B. sind die verschiedenen Systeme des Merkantilismus, wie August Oncken fein gezeigt hat, sehr verschieden ausgebildet, je nachdem der Staat seines Ursprungslandes eigene Edelmetallminen besaß oder nicht, je nachdem er durch seine Flotte die Weltfrachtfahrt beherrschte oder erst dahin strebte usw. Wir selbst haben zeigen können, daß der Sozialismus sich überall ganz charakteristisch färbt, je nachdem er im „engen Räume" der Staats- und Territorialwirtschaft oder im „weiten Räume" der Volks- und Internationalwirtschaft entsteht, und je nachdem er aus der Gruppe der Bauern und Kleinpächter oder der kleinbürgerlichen Schichten oder des erst im weiten Räume zusammen mit der Großtechnik und dem Hochkapitalismus entstehenden Proletariats hervorgeht.5

1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 598ff.

2

Ebenda, S. 679ff.; Bd. III, S. 159ff.

3

Vgl. ebenda, Bd. I, S. 684ff.

4

Letztere als „Kreuzbefruchtung der Kulturen"; vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 874ff.

5

Ebenda, S. 684ff.

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Und die Begründung der einzelnen Forderungen der verschiedenen Gruppen ist selbstverständlich gleichfalls von der geistigen Gesamthaltung der Zeit gefärbt; Wissenschaft und Philosophie werden als willkommene Bundesgenossen im Streite benützt - und oft genug vergewaltigt und deren Entfaltung, obgleich gewiß durch Stand und Entwicklung der Technik, der Bevölkerungszahl, der Politik usw. mächtig mitbeeinflußt, folgt doch ebenso gewiß auch eigenen, immanenten Gesetzen. Und diese Seite der Sache ist in Wagners Darstellung1, die wir jetzt ungekürzt folgen lassen, prächtig herausgearbeitet worden. ,„Die theoretischen Systeme der Nationalökonomie sind zugleich Systeme der - wirtschaftlichen - Verwaltung' sagt L. Stein einmal treffend. Damit, so können wir dies Wort auslegen, sind sie auch Systeme von Lehren und Forderungen für die Stellung des Staats zum Wirtschaftsleben überhaupt. Mit der Entwicklung der theoretischen Anschauungen über dieses Wirtschaftsleben entwickeln sich daher auch immer Anschauungen in der Wissenschaft und Forderungen in der Praxis und Politik hinsichtlich der Stellung, welche der Staat auf dem Gebiete der Volkswirtschaft richtigerweise einzunehmen habe. Kommen neue wirtschaftstheoretische Anschauungen zur Geltung, immer in Wechselwirkung mit Veränderungen der praktischen Wirtschaftsverhältnisse, der Produktionstechnik und -Ökonomik, des Verkehrswesens, der sittlichen und der Rechtsanschauungen, wie der Rechtsnormen für Freiheit und Eigentum, für die sozialen und wirtschaftlichen Klassen, schließlich auch mit Veränderungen des ganzen geistigen Lebens und der Kultur, - so werden auch die Lehren und Forderungen bezüglich des Staats- und Wirtschaftslebens andere. Alles ist auch hier im Fluß der Bewegung. In der ersten größeren wissenschaftlichen Periode der Nationalökonomie, der Periode der vorherrschend merkantilistischen Richtung, wird in Anknüpfung an die Entwicklungen der Praxis der Staat mit mehr oder weniger Konsequenz zum beherrschenden Faktor der Volkswirtschaft gemacht. Es ist die Zeit des 16., 17. und zum Teil noch, ja vielfach, wenigstens vor dem Revolutionszeitalter, gerade im ausgeprägtesten Maße, des 18. Jahrhunderts. Hier ringt sich in der europäischen Kulturwelt, zumal der west- und mitteleuropäischen, die territorial- und staatswirtschaftliche Epoche der Volkswirtschaft aus den Trümmern der älteren grundherrschaftlichen und stadtwirtschaftlichen hindurch, kommt zu einem gewissen vorläufigen Abschluß, die Naturalwirtschaft weicht immer weiter der Geldwirtschaft, und der Staat des Absolutismus übernimmt die umfassendsten Aufgaben in dieser Hinsicht, in der Bevölkerungs- und allgemeinen ,Landeskulturpolitik', namentlich auch die eingreifendste ökonomische und zum Teil selbst technische Regelung der Produktion, des Absatzes, des Handels, des gesamten Verkehrs. Vielfach so, daß er ältere Normen der kleineren autonomen Körper umgestaltet und weiter bildet, die Regelung des Agrar- und Gewerberechts an sich zieht, andererseits so, daß er neue Normen für ganz neue Verhältnisse (Hausindustrie und Verlegersystem, Manufakturen, auswärtigen und Kolonialhandel, Banken) aufstellt, private wirtschaftliche Unternehmungen mit den verschiedensten Mitteln fördert, auch direkt Wirtschaftsunternehmungen in seine Hand nimmt und durch Ausbildung des Grenzzollsystems, möglichste Ausdehnung der Zölle auf das ganze Staatsgebiet und Erhebung von Finanz- und besonders Schutzzöllen an der Grenze, durch teilweise Beseitigung innerer Zölle ein einheitliches Marktgebiet innerhalb einer Außenzollinie als territoriale Basis für die heimische Volkswirtschaft zu schaffen sucht. Die nationalökonomische Theorie nimmt diese Wirtschaftspolitik des zum ,modernen' werdenden Staats als die im wesentlichen richtige an, sucht sie ihrerseits wissenschaftlich zu begründen, bedient sich dabei auch der Argumente der Philosophie, der Rechts- und Staatslehre der Epoche, vertritt wie diese (im Zeitalter Chr. Wolffs) das eudämonistische Prinzip und gibt so dem Staate auch die beherrschende Stel1

Wagner, in: H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissenschaften, Bd. 7, 3. Aufl., Jena 1911, S. 727ff.

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lung im Wirtschaftsleben, wie er sie im politischen Leben erlangt. Die ,Wohlfahrts- (und Polizei-)staatstheorie' in allen ihren Konsequenzen gelangt so in der Nationalökonomie der Periode (17., besonders 18. Jahrhundert), d. h. in der Kameralwissenschaft und Polizeiwissenschaft, zur fast unbedingten Geltung. Die Wirtschaftslehre begeht dabei aber auch dieselben Fehler, Einseitigkeiten und Ubertreibungen wie die Wohlfahrtsstaatsphilosophie und wie die Praxis der Colbert, Ludwig XIV. und XV., der Friedrich Wilhelm I. und Friedrich des Großen, der Maria Theresia und Joseph Π. Sie kennt fast keine Grenzen mehr für die Staatstätigkeit auf volkswirtschaftlichem Gebiet, für die Zentralisation der wirtschaftlichen Verwaltung und deren Leitung von oben, für die Beschränkung der Einzelfreiheit und der individuellen, vielfach auch der genossenschaftlichen wirtschaftlichen Tätigkeit. Sie glaubt, daß der Staat alles machen kann und machen soll, sie vertritt, wie die Politik der Zeit, die Staatsomnipotenz auch gegenüber Gemeinden, Verbänden und in betreff deren bisheriger Funktionen auf wirtschaftlichem Gebiet. Allgemeinste Einmischung des Staats in die privaten wirtschaftlichen Verhältnisse, übermäßige Beschränkung der Selbstverwaltung der anderen öffentlichen Körper neben dem Staate, besonders der Gemeinden, auch der Städte, findet in der Theorie vielfach noch Unterstützung. Auch die Wissenschaft macht sich das Motto ,Alles für, nichts durch das Volk' zu eigen. ,Staatshilfe, nicht Selbsthilfe' wird auch ihre Parole. Hiergegen bildet die zweite große wissenschaftliche Periode der Nationalökonomie, die wohl als ,liberal-individualistische' am besten bezeichnet und zusammengefaßt werden kann, die gewaltige Reaktion, zuerst in der Form der Lehre der Physiokraten, dann in derjenigen der britischen Ökonomik, Adam Smiths und seiner Schule, schließlich in der extremen Form der sogenannten Manchesterdoktrin. Auch hier sind es philosophische Ideen (Rousseau, Kant), kosmopolitische Gesichtspunkte, literarische allgemeinere Strömungen (deutsche Sturm- und Drangperiode der schönen Literatur), politische Umgestaltungen (französische Revolution) und schließlich, das doch vielleicht am meisten durchschlagende Moment, die ungeheure Umgestaltung der Produktionstechnik und der Technik des Verkehrswesens im Zeitalter des Dampfes, der maschinellen Erfindungen, der naturwissenschaftlichen Begründung der Technik, welche alle zusammen auf die Ausbildung der liberal-individualistischen Wirtschaftstheorie einwirkten. Die neuen Doktrinen und Forderungen treten dann wie gewöhnlich in Wechselwirkung mit den Verhältnissen und Bedürfnissen der Praxis und der aus diesen unmittelbar sich entwickelnden Ideen, Interessen, Wünschen. Nun wird die Vielregiererei des Staats des aufgeklärten und unaufgeklärten Absolutismus und Despotismus, wie überhaupt, so speziell auch auf dem wirtschaftlichen Gebiete, angegriffen und verworfen, als praktisch meist schädlich, bestenfalls unnütz, als prinzipiell verwerflich, weil das Volk wie Kinder behandelnd: beneficia non obtruduntur. Laissez faire et passer, le monde va de lui-meme. ,Man (die Regierung) soll die sterilen Ausgaben sich selbst überlassen' (Quesnay). Der Staat soll seine Hand vom Wirtschaftsleben fortnehmen. Der Wohlfahrtszweck des Staats, in welchem nach der Doktrin wie nach dem Streben der Praxis in der vorausgehenden Periode alle Staatsaufgabe aufging, wird nunmehr prinzipiell negiert, Staatshilfe auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet wird verworfen. Nur der Rechtszweck des Staats, in enger Begrenzung, wird anerkannt, volkswirtschaftlich ausgedrückt: der Staat soll nur ,Produzent von Sicherheit' sein (deutsche Manchesterschule, Prince Smith). Mit der Gewährung und Garantie persönlicher Freiheit, freien und vollen Privateigentums, der Vertragsfreiheit, des Erbrechts erschien die Aufgabe des Staats auf wirtschaftlichem Gebiete erfüllt. Alles übrige war nach vorherrschender Ansicht vom Übel, nur Selbsthilfe des einzelnen für sich, allenfalls, aber keineswegs immer, freier Genossenschaften, - denen die ,liberale Theorie' mit ihrer individualistischen Auffassung lange selbst ablehnend gegenüberstand - .alles für das Volk, aber auch alles durch das Volk allein', d. h. im wesentlichen durch die Individuen für sich, wurde die Parole. Man, d. h. der einzelne, soll nicht durch den Staat zu seinem wirtschaftlichen Glück gezwungen werden,

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sondern sich frei bewegen, Ziele und Wege dazu frei selbst bestimmen können. Kant und Adam Smith und ihre beiden Schulen gelangen fast zu demselben Ergebnis bezüglich des Staats, höchstens daß letzterem noch einige Spezialaufgaben auf dem Gebiete des Volksbildungswesens und der Fürsorge für die Herstellung einzelner gemeinnütziger Einrichtungen bleiben, zu deren ausreichender Durchführung das privatwirtschaftliche Interesse fehlt oder nicht stark genug ist. Mächtig von der Idee der Freiheit getragen, entwickeln sich diese Lehren und Forderungen (W. v. Humboldt!), ohne jemals in der Praxis selbst in den wirtschaftsfreiesten Ländern (England, Amerika), in ihrer vollen Konsequenz zur Durchführung zu gelangen. Aber sie beherrschen vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des vorigen die ökonomische Doktrin in der Lehre von der nichtigen Stellung des Staats zur Volkswirtschaft' und genießen selbst noch bis in unsere Gegenwart Verbreitung und eine gewisse Geltung. Und die Praxis, die Staatsmänner, die Parlamente, die Gesetzgebung, die Verwaltung werden von dieser Doktrin vielfach entscheidend beeinflußt. Die modernen Agrar-, Gewerbe-, Handels-, Börsen-, Geld-, Kredit-, Bankverfassungen, die moderne Arbeitsverfassung im allgemeinen und zumal auf industriellem Gebiete mit ihrem Grundprinzip des .freien' Arbeitsvertrags, die ganze Volkswirtschaftspolitik, welche allen diesen Auffassungen auf den einzelnen wirtschaftlichen Gebieten zugrunde liegt, sind dafür Zeugen. Bis in die äußersten Ubertreibungen und die schroffsten theoretischen Zuspitzungen entwickelt sich die liberal-individualistische Lehre von der Stellung und Aufgabe des Staats im Wirtschaftsleben dann in der sogenannten Manchesterdoktrin. Diese kennt nur noch ein .freies Spiel der wirtschaftlichen Kräfte auf dem Markt', erwartet nur davon Heil, sieht in der Volkswirtschaft nur ein Nebeneinander von bloß durch und auf dem Markt verknüpften, im übrigen lediglich für sich sorgenden Einzelhaushalten und weist damit dem Staat schließlich, mit dem beißenden, aber treffenden Worte eines Gegners dieser Auffassungen, F. Lassalles, nur noch den ,Nachtwächterdienst' im Wirtschaftsleben zu (Britische Manchesterschule, Bastiat, Prince Smith, Deutsche Freihandelsschule, freilich unter letzterer viele besonnenere Stimmen, so doch selbst zur Zeit der Herrschaft dieser Schule im öffentlichen Leben, in der Presse, Publizistik, den Parlamenten, im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts, vollends später). In der Theorie führt dieser Standpunkt dazu, die nicht staatlich regulierte Volkswirtschaft als das allein Normale, das möglichst freigestaltete privatwirtschaftliche System der volkswirtschaftlichen Organisation eigentlich begrifflich allein als die wirkliche Volkswirtschaft aufzufassen. So war in bezug auf den Staat der übertriebenen ,Aktion' der spätmerkantilistischen Praxis und der eudämonistischen ökonomischen Doktrin eine nicht weniger übertriebene Reaktion gefolgt. Daß diese nicht dauernd in der nationalökonomischen Wissenschaft zum Siege gelangen konnte, war dann nur wieder natürlich. Der Umschwung in den Rechts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften zur sozialen aus der individualistischen, zur historischen aus der abstrakten, zur organischen aus der mechanischen Auffassung; die gerade im 19. Jahrhundert immer größer, schwieriger, aber auch notwendiger werdenden, an den Staat herantretenden neuen praktischen wirtschafts- und sozialpolitischen Aufgaben, die unvermeidliche Folge der sich steigernden Wirkung der Umgestaltung der Produktions- und Kommunikationstechnik und wieder davon die weiteren Folgen - die starke Bevölkerungsvermehrung, die vermehrte Wanderungsbewegung und lokale Anhäufung der Bevölkerung in Städten, Industrie- und Montanbezirken, die Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit allen seinen Begleiterscheinungen, namentlich auch des schrofferen Gegensatzes von Kapital und Arbeit, die Umgestaltung der Erwerbs-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse usw. usw. - das alles führte zu einem Rückschlag gegen die liberal-individualistische Wirtschaftstheorie und zumal gegen deren Lehren von der vermeintlich richtigen, d. h. lediglich passiven Stellung des Staats zum Wirtschaftsleben. Die kritische und positive sozialistische Literatur wirkte auch hier auf die ganze nationalökonomische Wissenschaft als gewaltiges Ferment, weil sie bei allen ihren Ubertreibungen den doch unverkennbaren Man-

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gel der liberal-individualistischen Theorie und der Staatspraxis des laisser faire auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete bloßlegte. In der deutschen Wissenschaft und Praxis war ohnehin auch in der Periode der Vorherrschaft der liberal-individualistischen Theorie und Praxis die alte kameralwissenschaftliche Tradition und die geschichtlich eingebürgerte legislative und administrative Praxis immer ununterbrochen von Bedeutung geblieben. Daran brauchte nur wieder offener und energischer angeknüpft zu werden. Von Seiten theoretischer und praktischer Gegner, den Vertretern des ökonomischen Individualismus und Liberalismus, wurde zwar lebhaft gewarnt vor ,Rückfall' in das System der Vielregiererei des alten Polizeistaats und vor der anderen, vermeintlich dann notwendigen Konsequenz, dem Anschluß an die Theorie des sozialistischen Zukunftsstaats' mit seiner vollständigen Leitung des ganzen Wirtschaftslebens, namentlich der ganzen Produktion vom Staate aus. Und Gefahren dieser Art lagen auch ohne Zweifel vor für eine theoretische und taktische Richtung, welche im Grunde darauf verzichtet, dem Staate nach genauen, knappen, abstrakten Formeln seine Aufgaben auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens, die ,Grenzen für seine Wirksamkeit', für seine ,Einmischung' zu ziehen, weil sie das für unmöglich hält und die Entscheidung nur von Fall zu Fall nach den gegebenen Verhältnissen treffen will. Aber das zeigt doch nur, daß in dem praktischen Problem selbst eben die eigentliche Schwierigkeit liegt und daß man mit dem Hinweis auf die Gefahr, zu weit zu gehen, dem Staat zu große Aufgaben zu überweisen, zwar mit Recht Theoretiker wie Gesetzgeber und Staatsmänner zur Vorsicht mahnt. Aber damit läßt sich noch keineswegs, wie die liberalindividualistische Doktrin es tun zu können wähnt, das ,Gebenlassen' und das .freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte' als die wahre Richtschnur für den Staat in der modernen Volkswirtschaft erweisen. Allmählich ist so doch, zumal in der deutschen Wissenschaft, aber, zum Teil unter ihrem Einfluß, auch immer mehr in derjenigen der anderen Kulturvölker, nach der Einseitigkeit der liberal-individualistischen Auffassung der zweiten Periode eine dritte neue Theorie von der Stellung des Staats zum Wirtschaftsleben und damit eine neue nationalökonomische Lehre vom Staat zur Entwicklung gelangt. Sie kann nach ihrem wichtigsten Merkmal wohl die soziale genannt werden. In ihr finden sich Berührungspunkte der merkantilistischen und sozialistischen Theorie vom Staate, aber die Einseitigkeiten und Ubertreibungen dieser beiden in sich verwandten Theorien sorgsam zu vermeiden gesucht. Die sozialistische Theorie vom ,Zukunftsstaat' erscheint gegenüber der hier sogenannten .sozialen' (vom Verfasser sonst auch wohl ,staatssozialistische' genannten) Theorie als das extreme Zerrbild, darin ihrem absoluten Gegenstück, der Manchestertheorie, in deren Verhältnis zur liberal-individualistischen Theorie analog. Der neueste wissenschaftliche, auf dem Evolutionsdogma und der materialistischen Geschichtsauffassung beruhende Sozialismus (Marx und seine Schule) verwirft zwar den Ausdruck und Begriff ,Zukunftsstaat' und stellt dem Staate wohl die Prognose, mit der Verwirklichung des sozialistischen Wirtschaftssystems der gesellschaftlichen Produktionsweise' auf der Grundlage der .Vergesellschaftung' sachlichen Produktionsmittel werde der Staat als solcher überhaupt überflüssig werden und aufhören. Das bedingt indessen keine andere Auffassung als die eben angegebene. Denn in dieser ganzen sozialistischen Doktrin handelt es sich um einen Wortstreit: Das, was dieser neueste Sozialismus die .gesellschaftliche Produktionsweise' nennt, wäre eben doch nur der alles wirtschaftliche, daher auch soziale Leben an sich ziehende, ja förmlich in sich aufsaugende ,Staat' in höchster Potenz: der sozialistische Staat, aber doch eine Einrichtung, welche alle Merkmale des Begriffes ,Staat' sogar im eminentesten Maße hätte. Die neue soziale Lehre von Staat und Wirtschaftsleben hält aber auch an wichtigen Grundlehren der liberal-individualistischen Periode fest. Sie vertritt noch das Ideal, welches ein klassischer Repräsentant des politischen Liberalismus und Individualismus in einem oft geführten Satze auf-

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Hinsicht

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gestellt hat: ,Das, worauf die ganze Größe des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung' (W. v. Humboldt). Die neue soziale Doktrin beruht nur auf der Annahme, daß gerade ein vielfach starkes Eingreifen des Staats in das ,freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte' unbedingt geboten sei, um dem einzelnen und schließlich möglichst vielen, wenn es geht, allen einzelnen, zumal aber den wirtschaftlich und sozial Schwächeren, die Erfüllung der wirtschaftlichen Bedingungen zu ermöglichen, damit sie dies Humboldtsche Ziel eher erreichen oder sich ihm doch mehr nähern können. Sie vertritt ein solches Eingreifen aber nicht in einem einseitigen Eudämonismus allein um des oder der einzelnen willen, sondern gerade um des Ganzen, um der Nation willen, um der Kulturgemeinschaft willen: das Wohl, das Gedeihen, die günstige Entwicklung dieses Ganzen und damit der einzelnen als seiner Glieder, die wirtschaftliche, die materielle Hebung auch der unteren Klassen, nicht bloß um dieser selbst, sondern um des Ganzen willen und als Voraussetzung möglichst allgemeiner sittlicher, geistiger, kulturlicher Hebung - das ist das Ziel, welches diese Theorie der Wirtschafts- und Sozialpolitik und dem Staate als dem Hauptorgane dieser Politik im Wirtschaftsleben stellt. Die eigentümliche nationalökonomische Lehre vom Staate in dieser Theorie ist aus diesen leitenden Gesichtspunkten zu erklären." So weit Wagner. Um die Stellung des Bearbeiters zu diesem großen Problem genau zu bezeichnen, so ist zu sagen, daß hier scharf zwischen Theorie und Praxis unterschieden werden muß. Theoretisch ist der Staatssozialismus oder „Interventionismus" so unbefriedigend wie nur möglich, eben weil die Richtung, um Wagner zu zitieren, „darauf verzichtet, dem Staate nach genauen, knappen, abstrakten Formeln seine Aufgabe auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens, die .Grenzen für seine Wirksamkeit', für seine ,Einmischung' zu ziehen, weil sie das für unmöglich hält und die Entscheidung nur von Fall zu Fall nach den gegebenen Verhältnissen treffen will". Das sieht fast aus, als solle hier aus der Not eine Tugend gemacht werden. Denn mangels genauer, knapper, abstrakter Formeln, d. h. einer zugrunde liegenden theoretischen Erkenntnis, gibt es für die „Entscheidung von Fall zu Fall" eben nicht den mindesten objektiven Maßstab, und so wird notgedrungen ein subjektiver Maßstab, nämlich die persönliche Uberzeugung des Entscheidenden von Recht und Billigkeit, Nützlichkeit oder Notwendigkeit, herhalten müssen, - wenn das nicht bloß darauf hinausläuft, „to split the difference", d. h. irgendwo zwischen den widerstreitenden Forderungen der Beteiligten die praktisch mögliche, schließlich von beiden annehmbare mittlere Linie zu finden. Das letztere ist selbstverständlich in der Praxis die einzig mögliche Verfahrensweise: aber, wie Max Weber einmal sagte: „Die mittlere Linie ist nicht um ein Haar wissenschaftlicher' als eines der Extreme." Und was die persönliche Überzeugung des Schiedsrichters anlangt, so wissen wir, daß er sozialpsychologisch durch die Interessen seiner Gruppe determiniert ist und bleiben muß, wenn ihm nicht eine fest fundierte theoretische Überzeugung es ermöglicht, diese seine „persönliche Gleichung" kennenzulernen und aus seiner Rechnung zu eliminieren. Eine solche feste theoretische Überzeugung hat ζ. B. der Kollektivismus Marxscher Prägung. Sie geht dahin, daß die kapitalistische Entwicklung dahin führen wird, alle Mittelstände in Stadt und Land auszurotten und dadurch die Gesellschaft auf das äußerste zu simplifizieren·, denn dann wird nichts mehr übrig sein als „am einen Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter" eine sehr kleine Zahl überreicher Menschen im Besitz aller produzierten und unproduzierten Produktionsmittel, eine winzige Clique miteinander verbündeter und verschwägerter Machthaber - und am anderen Ende die große Mehrheit des Volkes, verwandelt in besitzlose, aller Produktionsmittel beraubter Proletarier. Hand in Hand damit wird eine ebenso vollkommene Unifizierung des Konsums erreicht sein: dann ist es nur noch nötig, die kleine Klasse der „Expropriateure zu expropriieren" und die Gesellschaftswirtschaft ganz im bisherigen Gleis, nach Richtung und Maß, weiterzuführen, aber mit

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Verwendung des bisherigen Mehrwertes statt für die Herrenklasse für die gesamte Volksmasse. Hier würde der Staat im soziologischen Sinne völlig verschwunden sein, es gäbe keine „Herrschaft" mehr: aber die ganze Wirtschaft wäre unter „Führerschaft", unter die „Regierung" gestellt, also in diesem anderen Sinne, wie Wagner sagt, „verstaatlicht". Hier haben wir eine prinzipielle Lösung: leider ist sie theoretisch falsch. Der Bearbeiter hat mit der von Marx selbst angewendeten und als einzig beweisend anerkannten Methode, der der Deduktion, stringent nachweisen können, daß jene angebliche „Tendenz der kapitalistischen Entwicklung" nicht besteht. Aller Kollektivismus und Kommunismus ist nichts als die „imitation par opposition" d. h. das photographische Negativ des Manchesterliberalismus; beide sind dogmatisch; dieser erklärt schlechthin alle Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft, auch Klassenscheidung und Mehrwert, für immanente, jener schlechthin alle, auch Markt, Konkurrenz, Preis und Geld, für bloß „historische" Kategorien. Der letzte Grund dafür, daß sie sich niemals einigen können, ist der, daß sie beide von der gleichen falschen Prämisse, nämlich dem „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation" als einem keines Beweises bedürfenden Axiom ausgehen.1 Selbst Karl Marx, der jenes Gesetz grimmiger und erfolgreicher als irgendein anderer angriff und mit induktiven Mitteln widerlegte - er nennt es die „Kinderfibel" blieb unbewußt sein Leben lang von ihm abhängig: es ist die einzige Gedankengrundlage allen Kommunismus und Kollektivismus.2 Und so kam er dazu, sein „Gesetz der kapitalistischen Akkumulation" aufzustellen, das jene „Tendenz" zur Simplifikation und Unifikation der Gesellschaft deduzierte. Wir haben zeigen können, daß es logisch auf Trugschlüssen beruht und daß die quaestio facti an den Tatsachen, namentlich an der Entwicklung der Landwirtschaft, es ebenso widerlegt. 3 Unsere eigene Theorie bietet eine andere prinzipielle Lösung, und zwar ist es die der klassischen Ökonomik. Diese erklärte, das freie Spiel der Kräfte, d. h. die freie Konkurrenz, müsse die Ausgleichung der Vermögen und Einkommen herbeiführen mit einziger Ausnahme (zum Glück: denn das sei der Sporn des Wettbewerbs und der Hebel des Fortschritts) der durch die Verschiedenheit der Qualifikation gesetzten Unterschiede. Von freier Konkurrenz könne aber keine Rede sein, solange starke, durch „Verleihung" gesetzte, staatlich verliehene Monopole bestehen. Die praktische Aufgabe des Staates bestehe daher einzig und allein darin, diese Monopole abzubauen. Dieser Anschauving tritt der Bearbeiter grundsätzlich durchaus bei; er unterscheidet sich von Quesnay und Adam Smith nur in dem theoretisch wenig, praktisch allerdings alles bedeutenden einen Punkte, daß er die Bodensperrung in der Rechtsform massenhaften großen Grundeigentums nicht nur als Monopol betrachtet, sondern geradezu als den einzigen, nach Abschaffung der persönlichen Unfreiheit noch bestehenden wichtigen, primären Störenfried der gesellschaftlichen „Harmonie" anschaut, mit dessen Fall alle übrigen Störungen, als sekundär mitstürzen müßten. Dann wären nämlich alle größeren Länder, auch die heute am dichtesten bevölkerten, in „freie Kolonien" verwandelt, in denen nach Marx' und Kautskys ausdrücklicher Feststellung kein Kapitalismus bestehen kann, weil „jeder Ansiedler ein Stück Land in sein persönliches Eigentum und Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den späteren Pionier an der gleichen Operation zu hindern"; dann wäre der Zustand wiederhergestellt, vor der „Okkupation allen Grund und Bodens", in dem nach Turgot und Smith keine Klassenscheidung und kein Monopol entstehen kann, weil „kein arbeitsamer Mensch gesonnen sein wird, für andere zu arbeiten, solange er noch Zugang zu freiem Boden finden kann", und wo daher, wie Smith feststellt, sich gleiche Arbeitsmengen tauschen.

1 2 3

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, S. 190ff. Ebenda, S. 210. Derselbe, Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre, Berlin 1903, S. 33ff.; [siehe Oppenheimer, Gesammelte Schriften, Band I: Theoretische Grundlegung, Berlin 1995, S. 406ff.; A.d.R.].

Der Staat in nationalökonomischer

Hinsicht

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Vom Standpunkt dieser theoretischen Überzeugung aus ist daher die Frage nach den Grenzen der Staatstätigkeit in bezug auf die Gesellschaftswirtschaft dahin zu beantworten, daß in der, einmal als erreicht gedachten, Gesellschaft der wirklich freien, von allen Klassenmonopolen endgültig befreiten Konkurrenz, des „friedlichen Wettbewerbs", der Staat allerdings im wesentlichen auf die Rolle des „Produzenten von Recht und Sicherheit", des „Nachtwächters" eingeschränkt werden könnte und sollte, wobei allerdings auch die Herstellung des dauerhaften Weltfriedens Voraussetzung ist.1 Für die Gegenwart aber und für den Ubergangszustand von der kapitalistischen zur „reinen Wirtschaft" bleibt allerdings dem „Staat" in seiner Bedeutung noch sehr viel zu leisten. Er hat, solange die Klassenordnung besteht, Konflikte der Klassen soviel wie möglich zu verhüten und, wenn sie ausgebrochen sind, zu beschwören, zu schlichten oder im schlimmsten Falle zu unterdrücken. Hierfür irgendwelche grundsätzlichen Regeln aufzustellen, ist, darin stimmen wir Wagner zu, unmöglich: hier gibt es keine „Kunstlehre", sondern nur die rein empirische „Kunst" des Staatsmannes, der aufgrund der zur Zeit bestehenden Machtverhältnisse und der mit ihnen zusammenhängenden Rechtsanschauungen das Schiff des Staats so gut wie möglich vor Wind und Wetter zu halten hat. Und auch hier stehen wir grundsätzlich auf dem Standpunkte Wagners, der dem Staate die Aufgabe zuweist, in dubio für die schwächeren gegen die stärkeren zu entscheiden und durch alle ihm zugänglichen Maßnahmen (Gewerbe-, Sozial- usw. und auch Sfe«erpolitik) die schärfsten Spitzen der einseitig plutokratischen Entwicklung, der zum „feindlichen Wettkampf" verzerrten unfreien, „beschränkten" Konkurrenz, abzustumpfen. Viel mehr als eine schwache Milderung des Klassenkampfes und eine geringe Verzögerung der notwendigen Folgen der sozialen Krankheit, der Krisen und imperialistischen Weltkriege, ist freilich von solchen Palliativmitteln nicht zu erwarten. Die zweite Aufgabe des Staats ist, sich selbst zu reformieren, d. h. diejenigen Bestandteile auszustoßen, die aus der ursprünglich staatsbildenden Gewalt stammen, diejenigen zu bewahren, die aus den Lebensnotwendigkeiten der Gemeinschaft stammen; aufzuhören, Klassenstaat zu sein, und ganz „Regierung" im gemeinen Nutzen zu werden. Ob diese „Häutung" des alten Klassenstaates ohne die schwersten revolutionären Zuckungen sich wird vollziehen können, ist eine Frage, die die Theorie nicht beantworten kann. Es wird wesentlich davon abhängen, ob die hier vorgetragene Theorie der Prüfung wird standhalten können, und wenn, ob sie dann zur „Ideeforce" der großen Mehrheit der Kulturvölker werden wird. In diesem Falle wird die Durchführung der Reform ein leichtes sein, da es sich grundsätzlich nicht um einen komplizierten Λ w/bau, sondern wieder nur, wie in der „Großen Revolution" von 1789, um einen Abhzu handelt: um die (womöglich gegen Entschädigung erfolgende) Enteignung einer winzigen Klasse der Bevölkerung. Unmittelbar wird nur der Großgrundbesitz, mittelbar nicht einmal der Unternehmerstand, sondern lediglich das Großkapital betroffen, während alle anderen Schichten der Bevölkerung entweder überhaupt nicht betroffen oder sogar unmittelbar gehoben werden. Und niemand wird zu behaupten wagen, daß eine Gesellschaftswirtschaft ohne massenhaftes großes Grundeigentum (Großbetriebe könnten ruhig bestehen bleiben) undenkbar, den psychologischen oder ökonomischen Gesetzen widersprechend ist.

1

Vgl. dazu Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 7 2 6 - 8 1 1 : Schlußkapitel „Die klassische Gesellschaft".

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Demokratie

4. Der Staat als Kategorie der nationalökonomischen Begriffe und Funktionen Nach einer verbreiteten, doch nicht unbestrittenen, von Wagner für richtig gehaltenen Auffassung wird der Begriff „wirtschaftliches Gut" nicht auf körperliche Sachen beschränkt, sondern auf persönliche Dienste und auf „Verhältnisse zwischen Personen und Sachen" mit ausgedehnt. Ein solches Verhältnis sei auch der Staat, es sei daher nur folgerichtig, ihn unter den Begriff des „wirtschaftlichen Gutes" zu reihen. Nach seiner Funktion in und für die Produktion wirtschaftlicher Güter könne er auch unter die Kategorie des Kapitals, mit der Gesamtheit seiner Einrichtungen unter die stehenden „Immaterialkapitalien" der Volkswirtschaft gestellt werden (Roscher, K. Dietzel). Der Bearbeiter hält beide Auffassungen für abwegig, kann sich aber in seiner Kritik kurz fassen, weil sie bei Wagner eben nur erwähnt werden, um dann zu verschwinden. Der Staat kann nicht als „Gut" aufgefaßt werden, selbst wenn man diesen Begriff im weitesten Sinne faßt.1 Der Staat ist kein Wertding, das der einzelne für sich „beschaffen" und „verwalten" kann, und ist ebensowenig ein „Verhältnis zwischen Personen, vermittelt durch Sachen" (Karl Marx), das dem einzelnen privatwirtschaftliches Einkommen abwirft. Allenfalls könnte man, mit der soziologischen Staatsidee, den Staat als ein Klassen-,,Verhältnis" zwischen der Oberklasse und der Unterklasse verstehen, das sich die erstere durch Gewalt „beschafft" hat und „pfleglich gegen Verderb und Verlust verwaltet"; so haben wir den Sachverhalt in der Tat einmal dargestellt2: aber das ist sicher nicht dasjenige, was Wagner und seine Gewährsmänner meinten. Außerdem bleibt diese Anschauung in der allgemeinen Soziologie stecken, während die nationalökonomische Staatsidee zu dem ihr von der Soziologie bereiteten Oberbegriff ihre differentia specifica fügen muß, um ihr besonderes Erkenntnisobjekt zu formen. Soweit wir urteilen können, gehört die Lehre vom Staate in der theoretischen Ökonomik nur in das Kapitel von dem „Bau" der Wirtschaftsgesellschaft, und, im Abschnitt vom „Eigentum", auch in das Kapitel von der Rechtsform der Verwaltung, aber in der praktischen Ökonomik, den Kunstlehren, freilich auch in breitem Ausmaße in die Lehre von der Funktion, dem „Leben" der Wirtschaftsgesellschaft, der Gesellschaftswirtschaft. Denn die Kunstlehren, namentlich die „Volkswirtschaftspolitik" und die „Finanzwissenschaft", weniger die „Privatwirtschaftslehre"3, haben es selbstverständlich immer mit einem bestimmten Staatswesen zu tun. „Eine Gesellschaft ist eine Wirtschaftsgesellschaft, wenn ausschließlich die wirtschaftlichen Handlungen, also Beschaffung und Verwaltung von Werten, ausgewählt werden, um das besondere Erkenntnisobjekt zu bilden."4 Die Träger der wirtschaftlichen Handlungen nennen wir mit Adolph Wagner als eine Analogie zu den „juristischen" die „ökonomischen Personen". Unter diesen Personen spielt der Staat seine bedeutende Rolle. „Es handelt sich hier um den ,Staat' im soziologischen Sinne samt seinen Untergliedern, insofern diese Institute .wirtschaften', d. h. für ihre Zwecke Wertdinge beschaffen und verwalten."5 Der Staat selbst als Inbegriff, ferner die Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise, Amts- und Gutsbezirke und Gemeinden bzw. in anderen Staaten die Departements, Gouvernements, Kastellaneien, Woiwodschaften, Kirchspiele usw. sind im Gegensatz zu den individuellen und kollektiven Personen des Privatrechts „öffentlich-rechtliche ökonomische Per-

1

W i r haben vorgeschlagen, statt dessen als Oberbegriff der drei Unterklassen: Güter, Dienste und „Rechte und Verhältnisse" das W o r t : „Wertding" zu benützen; vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, S. 39.

2

Artikel: Staat und Gesellschaft, in: Handbuch der Politik, Bd. I.

3

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 3 - 7 .

4

Ebenda, Bd. ΙΠ, S. 243.

5

Ebenda, S. 325.

Der Staat in nationalökonomischer

Hinsicht

505

sonen" unserer Terminologie.1 Das ist denn auch die Lehre, die Wagner nach der Verbeugung vor der Guts- und Verhältnislehre ex professo vortrug: „Er erscheint aber vor allem als eine eigene, zur Kategorie der Gemeinwirtschaften insbesondere der auf dem Zwangsprinzip beruhenden öffentlichen Gemeinwirtschaften, gehörende Einrichtung, welche die höchste Form dieser Wirtschaft und damit eine wahre Gesamtwirtschaft des staatlich organisierten Volks darstellt. Mehr oder weniger, aber immer etwas und mit der Entwicklung des (modernen) Wirtschaftslebens im ganzen wird der Staat als solche Wirtschaft ein mächtiges, zum Teil beherrschendes Glied des ganzen volkswirtschaftlichen Organismus: im Produktionsgebiet wird er so teils Bedingung, teils förmlich, so bei Übernahme materiellwirtschaftlicher Zweige, Kausalfaktor vieler Vorgänge, im Verteilungsgebiet als Gesetzgeber und Rechtbildner, als Finanz- und besonders Steuergewalt und Finanzwirtschaft wird er so Verteilungsregulator." Um diese hier klargestellte wirtschaftliche Rolle des Staats theoretisch zu verstehen und praktisch beraten oder lenken zu können, muß man mit der soziologischen Staatsidee verstanden haben, daß der Staat ein zwieschlächtiges Wesen ist. Er ist seiner Entstehung nach organisierte Ausbeutung, übernimmt aber sofort nach seiner vollkommenen Ausgestaltung alle die gemeinnützigen Aufgaben, die die von ihm verdrängte Selbstverwaltung der Gemeinschaft vorher vollzog, außer dem Grenz- und Rechtsschutz auch alle gesellschaftliche Fürsorge: Erziehung der Jungen, Versorgung der Alten und Kranken, Abwehr elementarer Schäden und, in dem Staatskultus, die Pflege der Beziehungen der Gesellschaft zu den überirdischen Mächten. Er ist also von Anfang an sowohl Organisation des Klassen- wie des gemeinen Nutzens. Im allgemeinen scheint im geschichtlichen Verlauf die letztgenannte Funktion allmählich gegen die erste vorzudringen; und in den Untergliedern, besonders den Gemeinden, überwiegt in der Regel von Anfang an die Fürsorge für den gemeinen Nutzen, während im Staate selbst in seinem engeren Sinne der Nutzen seiner herrschenden Klasse bis auf den heutigen Tag selbst in den bestverwalteten Staaten wesentlich überwiegt. Man wird zweckmäßig unterscheiden die im engsten Sinne „staatlichen", weil vom Staate als Fiskus eingerichteten und besoldeten Kollektivpersonen der öffentlichen Verwaltung" - und die zum Teil im Staatsrecht (Verfassung), zum Teil im Privatrecht des vom Staate geschaffenen und geschützten („politischen") Eigentums wurzelnden Stände, Klassen und Parteien. Sie alle sind ökonomische Personen, insofern sie Wertdinge, Güter oder Dienste oder beides, beschaffen und zur Befriedigung gemeinsamer Bedürfnisse verwalten. Bei den erstgenannten erfolgt die Beschaffung in der Regel aufgrund des gesetzlichen Umlagerechts, das die Organisationen als souveräne Staaten besitzen oder das ihnen von der Staatsgewalt eingeräumt ist. Zu diesem Zwecke sind sie rechtlich als Zwangsverbände aufgebaut, mit der Befugnis, alle ihrem Rechtsbereich angehörigen Personen nach Maßgabe der bestehenden Gesetze zu Leistungen in Diensten heranzuziehen, wobei auch die Leistungsfähigkeit und die Größe der dem Leistungspflichtigen obliegenden Versorgungslast berücksichtigt werden. Mehr und mehr erfolgt neuerdings die Beschaffung der nötigen Mittel dadurch, daß die öffentlich-rechtlichen Kollektivpersonen selbst Unternehmungen betreiben, sei es als Monopole oder Regale, unter rechtlichem Ausschluß des privaten Wettbewerbs, sei es als Betriebe, die mit den privaten ökonomischen Personen in freien Wettbewerb treten. Als Grund der Einrichtung und Führung solcher öffentlicher Betriebsverwaltungen wird immer, und in der Regel gutgläubig, der gemeine Nutzen angegeben, ist es auch in der Tat oft ganz und noch öfter wenigstens zum Teile: in anderen Fällen wird freilich auch hier der Klassennutzen allein oder doch wenigstens mitgefördert. Darüber, inwieweit diese Art der Staatstä-

1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, S. 325.

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tigkeit gerechtfertigt ist und namentlich, inwieweit Monopole und Regale zulässig sind, haben wir uns grundsätzlich bereits oben unter Punkt 3 geäußert. Unbestritten ist jedenfalls, daß der Hauptgegenstand der Wirtschaft der öffentlich-rechtlichen Kollektivpersonen die „Verwaltung" in unserem Sinne ist: die Bewahrung der ihnen anvertrauten Menschen selbst und ihres Eigentums vor Verlust und Verderb: Grenzschutz und Rechtsschutz gegen Verbrechen und Unsittlichkeit; hierher gehört auch die „Staatsreligion" und „Staatskirche"; Güterschutz außerdem gegen Elementarschäden: Feuer-, Deich-, Seuchenschutz; ferner die Versorgung derjenigen Versorgungsbedürftigen, für die ein Versorgungspflichtiger Privater nicht herangezogen werden kann: Waisenpflege, Siechen-, Krüppel-, Blinden-, Altersversorgung, Pflege von Geisteskranken und Idioten usw. Wenn wir nun dazu übergehen, auch die Kollektivpersonen des Klassennutzens unter dem Rubrum „Staat in nationalökonomischer Hinsicht" zu behandeln, so geraten wir dadurch mit dem geltenden Sprachgebrauch einigermaßen in Widerstreit. Klassen und Parteien rechnen im allgemeinen nicht zu den „staatlichen" Einrichtungen, sondern erscheinen als rein private Verbände. Wir machen dagegen geltend, daß in vielen historischen Staatswesen die Klassen, die damals „Stände" hießen, eine Institution des Staatsrechts und der Verfassimg waren und daß es soziologischhistorisch falsch wäre, ihre Rechtsnachfolger, die Klassen, die, wirtschaftlich gesehen, ganz noch die gleichen positiven bzw. negativen Privilegien haben, anders als sie selbst einzuordnen. Daß aber das Klassenverhältnis nicht mit seiner alten Form, den ständischen Vorrechten, gefallen ist, läßt sich aus der soziologischen Staatsidee ohne weiteres verstehen: unsere landläufige Einteilung in öffentliches und Privatrecht versagt hier; auch im privaten Eigentum der herrschenden Massen steckt ein überwiegendes Stück „Staatlichkeit", alter zur Macht gewordener außerökonomischer Gewalt. Daher sind für diese Auffassung auch die Klassen und ihre organisierten Vertretungen, die Parteien, „öffentlich-rechtlich" und gehören in unsere Betrachtung, insofern sie wirtschaften, d. h. Wertdinge, Güter und Dienste, beschaffen und verwalten. Sie unterscheiden sich von den Behörden dadurch, daß sie keine Zwangsverbände mit rechtlicher Umlagebefugnis darstellen. Dieser Umstand erschwert aber die Aufbringung der nötigen Mittel nicht, solange die Parteien eben wirklich Klassen vertreten, von deren Bewußtsein sie getragen werden. Hier ersetzt der innere Zwang des „Gruppendeterminismus" 1 sehr wirksam den äußeren Zwang. Nicht alle Parteien sind Vertreter bestimmter Klassen. Es gibt auch um andere Interessen zentrierte Gruppen, die sich parteimäßig organisieren. Zu diesen gehört ζ. B. das in diesem Zusammenhang immer wieder genannte deutsche Zentrum. Wir haben uns über diesen Gegenstand und über die damit zusammenhängende These, daß „alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist", ausführlich im sechsten Abschnitt unseres „Der moderne Verfassungsstaat" 2 geäußert und müssen hier darauf verweisen. Für geschichtliche Zwecke muß noch die „herrschaftliche Kollektivperson" des bürgerlichen Staates erwähnt werden. Großfamilienwirtschaft der patriarchalischen Nomadenfürsten, die Großoikenwirtschaft der Antike und die Villen- oder Fronhofswirtschaft der feudalen Grundherren. Hier tritt die „Staatlichkeit" des Eigentumsverhältnisses besonders deutlich in die Erscheinung. Das scheint uns alles zu sein; was die „allgemeine theoretische Ökonomik" über den Staat „als Kategorie der nationalökonomischen Begriffe und Funktionen aussagen kann. U m so mehr hat die praktische Ökonomik, die Kunstlehre, namentlich, wie schon gesagt, in ihren beiden Zweigen der Volkswirtschaftspolitik und der Finanzwissenschaft darüber zu sagen. Hier dürfen wir Adolph Wagner allein das Wort geben, dessen große Objektivität, weiter Blick und tiefes Wissen sich gerade

1 2

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 505. Ebenda, Bd. II, S. 648ff.

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hier, in dem meisterhaft zusammenfassenden Aufsatz, dessen Bearbeitung uns zugefallen ist, aufs schönste gezeigt hat. Der kritische Leser wird jetzt aus den vorhergegangenen Ausführungen selbst erkennen, wo wir von dem Meister abweichen: es ist das namentlich der Fall in der Deutung gewisser, der modernen Staatstätigkeit zugrunde liegender Tatsachen, wo uns die treibende Kraft verkannt scheint, die Wagner, trotz all seines „Staatssozialismus" dennoch ein „bürgerlicher" Denker, auf „immanente" Notwendigkeiten der Entwicklung bezieht, während wir der Uberzeugung sind, daß es sich nur um „historische" Notwendigkeiten des ausgebildeten Klassenstaates handelt. So ζ. B. erscheint uns der Nationalismus und Imperialismus der kapitalistischen Staaten als eine nur aus der Klassenlage der herrschenden Bourgeoisie verständliche Entartung des gesunden Nationalgefühls.1 Und so noch an anderen Stellen. Aber, davon abgesehen, und vor allem, weil es sich ja hier durchaus nur um Dinge handelt, die den Klassenstaat der Gegenwart und allenfalls den „Übergang" zu neuen Gestaltungen betreffen, sind wir in allem wesentlichen einverstanden. Wagner schreibt:2 „Alles3, was der Staat an Dienstleistungen und Funktionen aller Art ausübt, den Privatwirtschaften und anderen öffentlichen Wirtschaften davon zuteil werden läßt, was er an Sachgütern gewinnt und zu den übrigen Sachgütern der Volkswirtschaft hinzufügt, was er aus letzteren an Sachgütern und Diensten an sich heranzieht, stellt immer auch wirtschaftliche' Vorgänge, insbesondere solche der Arbeitsteilung zwischen den Gliedern der Volkswirtschaft dar. Aber diese Verhältnisse sind eben hier nicht Produkte freier Verkehrsgestaltung, sondern autoritativer Bestimmung, des rechtlich und faktisch mit der ev. erforderlichen Zwangsgewalt zur Durchführung ausgerüsteten, des Souveränen' Staates. Aus dieser Verschiedenheit des Durchführungsprinzips bei der Arbeitsteilung in der staatlich organisierten Volkswirtschaft und in letzterer als freier Verkehrsgesellschaft ergeben sich wichtige weitere Folgen und Unterschiede, Vorzüge in einer, Gefahren und Bedenken in anderer Hinsicht für alle Staatstätigkeiten auf wirtschaftlichem Gebiete, verglichen mit den Tätigkeiten der jeder Zwangsgewalt entbehrenden Privatwirtschaften. Es sind deshalb immer Erwägungen geboten, ob, wie, wann der Staat etwas übernehmen, regulierend eingreifen, die materiellen Mittel zur Durchführung seiner Leistungen (insbesondere auch im Wege der Besteuerung) beschaffen soll. Nach einfachen Prinzipien, etwa gar in knappen Formeln gefaßten, wozu die Doktrin immer wieder leicht neigt, läßt sich das niemals allein und endgültig entscheiden, sondern stets nur von Fall zu Fall, aufgrund der Untersuchung der maßgebenden Umstände. So vollends in der Praxis, aber auch die Theorie muß betonen, daß die Dinge so liegen. Die besonderen Schwierigkeiten ergeben sich auch hier daraus, daß die meisten und wichtigsten öffentlichen Leistungen des Staates immaterieller Natur sind, den einzelnen Klassen und Individuen des Volkes in unmeßbarem, sicher aber doch oft in ungleichem Grade zugute kommen, einer Tauschwertschätzung meistens gar nicht, einer Gebrauchswertschätzung nur nach vagen 1 2 3

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 645 ff.; Bd. II, S. 600ff. Von hier bis zum Schluß folgt der Wagnersche Aufsatz, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, 3. Aufl., Jena 1911, ohne jede Änderung. Wagner folgt hier genau seiner Behandlung des Gegenstandes (hier und da im Wortlaut einzelner Fassungen) in seiner Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl., Leipzig 1893, besonders Bd. I, 1. Hälfte, § 119, S. 149ff., und Bd. I, 2. Hälfte, Buch 5 und namentlich Buch 6, S. 870ff., worauf auch für hier durch den beschränkten Raum ausgeschlossene Darlegung abweichender Auffassungen anderer Autoren und für kritische Auseinandersetzungen damit verwiesen wird. In diesem Aufsatze wird eine Quintessenz aus jenem Werke, daher werden hier mehr nur Thesen und dogmatische Behandlung, nicht genauere Beweisführung und Begründung gegeben. Auch für die kurz mit zu berührenden finanziellen Seiten des Staatsproblems sei auf Wagners Finanzwirtschaft, besonders Bd. I (3. Ausgabe) und Bd. II (2. Ausgabe) verwiesen, sowie auf seine Theoretische Sozialökonomik, Bd. I, Leipzig 1907, § 24, S. 105ff.

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Kriterien und subjektivem Ermessen, einer genaueren Vergleichung zwischen ihrem Nutzen für das Ganze und für die einzelnen und ihren Kosten nicht unterzogen werden können. Als ideale Richtschnur, die man aber wieder nur aufgrund von vielfach unsicheren Erwägungen über die mutmaßlichen Weiterwirkungen öffentlicher Leistungen auf das gesamte Volks- und Staatsleben folgen kann, läßt sich wohl der Satz hinstellen, daß die materiellen wirtschaftlichen Kosten der öffentlichen Leistungen, daher auch die dafür verwendeten Steuern, im Werte dieser Leistungen für Volk und Staat reproduziert und dadurch auch dauernd wirtschaftlich möglich gemacht werden sollen (,Prinzip der Reproduktivität'). Als leitender Gesichtspunkt der Kostendeckung öffentlicher Leistungen kann ferner der Satz gelten, daß Vorteile dieser Leistungen, welche sie in ihren Wirkungen differenzieren oder in stärkerem Maße von den Begünstigten in Steuern, in Gebühren usw. gezahlt werden sollen; ebenso solche Leistungen, welche von einzelnen provoziert oder nötig gemacht werden, von diesen. Bei der in der Sache selbst, in der ganzen Aufgabe unvermeidlich liegenden Schwierigkeit, Art, Umfang, Kosten öffentlicher Leistungen richtig zu bestimmen, werden auch vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus die Postulate des Liberalismus betreffs einer Mitwirkung der Bevölkerung in irgendwelchen Vertretungsorganen an der Gesetzgebung, an gewissen Kontrollen der Verwaltung, an der Regelung des Staatshaushaltes, an der Genehmigung der Ausgaben und der Bewilligung der Einnahmen, besonders der Steuern, der Gebühren, auch betreffs einer Gewährung von Rechtsschutz des einzelnen gegen Willkür und ungesetzliches Vorgehen der Verwaltung (Verwaltungspflege) Unterstützung finden. Dadurch soll, soweit das unter menschlichen Verhältnissen möglich, vermehrte Bürgschaft geschaffen werden für die richtige Bestimmung und Begrenzung des Staatsbereichs, für die richtige Dezentralisation der Staatsverwaltung und -Ordnung und begrenzte Selbständigkeit der Selbstverwaltung, für richtige finanzielle Gebarung und gerechte und privat- und volkswirtschaftlich zweckmäßige Verteilung der aus der Funktion des öffentlichen Körpers sich notwendig ergebenden öffentlichen Lasten auf die Bevölkerung und die einzelnen, auch für die streng gesetzmäßige Funktion der Verwaltung gegenüber ,Freiheit und Eigentum'.

5. Die Zwecke und Aufgaben des Staats Die neuere Staatslehre, welche unter möglichster Vermeidung der früheren Einseitigkeiten richtige wissenschaftliche Gesichtspunkte der Wohlfahrtsstaats- und der Rechtsstaatstheorie zu vereinigen sucht, unterscheidet gewöhnlich zwei eigentliche organische Staatszwecke, denen dann Hauptgruppen von Aufgaben und Leistungen entsprechen: den Rechts- und Machtzweck und den Kultur- und Wohlfahrtszweck. Sie betont dabei aber, daß diese Scheidung auf einer Abstraktion beruht und nicht äußerlich mechanisch aufgefaßt und durchgeführt werden darf und kann, vollends nicht auf den einzelnen Spezialgebieten. Die Nationalökonomie kann diese neuere Lehre von den Staatszwecken annehmen und dann von ihrem Standpunkte aus mit begründen und genauer ausführen helfen, wodurch sie der Staatslehre einen wesentlichen Dienst leistet. Namentlich hat die Nationalökonomie die Bedeutung des Staats für das ganze Wirtschaftsleben in Verbindung mit der Lehre von den Staatszwecken darzulegen und zu zeigen, wie es im hohen Maße wirtschaftliche Momente sind, welche die Entwicklung des Staats, seiner Aufgaben und Leistungen, seiner Verwaltungseinrichtungen mitbestimmen. Der Rechtszweck des Staats .besteht in der Fürsorge für das erste aller Gemeinbedürfnisse des menschlichen, völkerweisen Zusammenlebens, für die Rechtsordnung im Innern des Staats, des Volks und der Volkswirtschaft und nach außen zu, gegen andere Staaten, Völker und Volkswirtschaften. Nach beiden Seiten, vor allem aber nach außen zu gerichtet, erscheint der Rechtszweck

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als (nationaler) Machtzweck: Aufrechthaltung der Unabhängigkeit und der eigenen Souveränität von Staat und Volk'. Die richtige Erfüllung dieses Zweckes ist teils die Voraussetzung, teils die vornehmste Förderung alles wirtschaftlichen Lebens und Verkehrs in der an das Staatsgebiet zunächst, als an ihre territoriale Basis, sich anschließenden Volkswirtschaft. Die neuere geschichtliche Entwicklung, welche die hierher gebärenden einzelnen Aufgaben, der Gesetzgebung, der (präventiven und repressiven) Friedensbewahrung, des Gerichts-, Polizei-, Wehrwesens gerade immer mehr beim Staate selbst konzentriert, ihm großenteils ausschließlich übertragen, anderen autonomen öffentlichen Körpern (Gemeinden usw., auch Grundherrschaften) entzogen hat, abgesehen von Delegierungen auf sie seitens des Staats, ist zum Teil gerade durch volkswirtschaftliche Interessen mit bedingt und mit begünstigt worden und hat auch wieder wichtige volkswirtschaftliche und finanzielle Folgen gehabt (stehendes Berufsbeamtentum, staatliches Gerichts-, Heerwesen, finanzielle Einrichtungen als Grundlage dafür, s. u. Punkt 6 und 7). Der klar erkannte Kultur- und Wohlfahrtszweck des modernen Staats ,besteht in der Förderung der Staatsangehörigen, der Verfolgung ihrer Lebensaufgaben, ihrer physischen, wirtschaftlichen, sittlichen, geistigen, religiösen Interessen, namentlich soweit dabei Gemeinbedürfnisse ins Spiel kommen'. Möglichst sollen dabei zwar nur die allgemeinen Entwicklungsbedingungen der selbsttätigen einzelnen und ihrer freien Vereinigungen verbürgt werden: das ideale Ziel der richtigen Grenzziehung zwischen Staats- und Individualtätigkeit auch hier und gerade hier. Aber im Leben selbst sind eher Grenzen flüssig, im einzelnen Falle schwer genau zu ziehen, und gerade hier ist geschichtliche soziale Differenzierung der Bevölkerung, die Verschiedenheit von Besitz, Einkommen, Bildung, Charakter, Sitte, Lebensstellung so bedeutend, auch aus spezifischen Ursachen und Bedingungen modernen wirtschaftlichen Lebens, hier in besonders deutlicher Weise infolge der Gestaltung und Entwicklung der Produktion und Verkehrstechnik, wohl selbst in Steigerung und jedenfalls in beständiger Veränderung begriffen. Deshalb sind auf diesem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszweckes dem modernen Staate ganz besonders wichtige und schwierige Aufgaben zugewachsen und wachsen ihm immer weiter zu: ,soziale Hilfe' und Förderung zu gewähren, zumal den sozial und wirtschaftlich schwächeren Elementen der Bevölkerung, den nichts oder wenig besitzenden, den im wesentlichen vom .Privateigentum an den sachlichen Produktionsmitteln' ausgeschlossenen und von dem in den Händen der Besitzenden befindlichen abhängigen, den unsicher und wenig erwerbenden, den aus allen diesen Gründen in Bildung und zum Teil in Sitte niedriger stehenden ,unteren' Klassen. Auch findet daher vielfach, weil die anderen öffentlichen Körper (Gemeinden, öffentliche Verbände) nicht stark und leistungsfähig genug sind oder weil Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit der Einrichtungen und Maßnahmen geboten ist, ein Umsichgreifen der Staatstätigkeit an Stelle oder neben der Tätigkeit solcher anderer Körper statt, wenn auch nicht in gleichem Maße und nur vereinzelt (ζ. B. in Gebieten gewisser Zweige und Arten des Unterrichts- und Verkehrswesens) so ausschließlich wie auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzweckes. In zwei hauptsächlichen Formen treten die Leistungen des Staates auf diesem Gebiete des Kulturund Wohlfahrtszweckes dann hervor: einmal, mehr indirekt, in Maßnahmen, Vorkehrungen, Einrichtungen, finanziellen Beihilfen, welche Hemmnisse und Erschwerungen individueller, genossenschaftlicher, sonstiger korporativer (auch kommunaler) Tätigkeiten beseitigen oder vermindern; sodann, mehr direkt, in der Herrichtung und Bereitstellung von Staatseinrichtungen und Anstalten zur unmittelbaren Benutzung der einzelnen. Im ersten Falle bleibt der Privatwirtschaft und ev. auch kleineren anderen öffentlichen Wirtschaften (Gemeinde, Kreis, Provinz) eine umfassendere eigene Tätigkeit; im zweiten zieht die staatliche Gemeinwirtschaft (wie in engerem Kreise auch die kommunale) private, auch materielle Wirtschaftsgebiete in ihre Sphäre und verwaltet sie nach Grundsätzen, welche in ökonomischer und finanzieller Hinsicht ev. mehr oder weniger von den privatwirtschaftlichen abweichen. Es sind zum Teil wieder technische Gründe,

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Demokratie

welche auf die Ausdehnung gerade dieser zweiten Form von Staatsleistungen einwirken (V erkehrsanstalten). Wenn so auch im ganzen das Gebiet des Rechts- und Machtzwecks das hauptsächliche und wesentlichste auch des entwickelten Staats bleibt, so tritt doch das Gebiet des Kultur- und Wohlfahrtszwecks immer großartiger und ausgedehnter daneben. Der Staat wird nach treibenden Bedürfnissen der Bevölkerung, auch der Volkswirtschaft speziell, daher nach innerer gesetzmäßiger Entwicklung immer mehr wahrer .Rechts- und Kulturstaat'. Nicht Selbstzweck, sondern technische Mittel zur Verwirklichung der beiden organischen Staatszwecke sind die oberste Handhabung der Staatsgewalt (Regierung und Zentralleitung) und die staatliche Finanzverwaltung (Staatshaushalt). Die Regierung stellt in der vom Staate als Ganzem repräsentierten Gemeinwirtschaft das leitende (Rechts- und Wirtschafts-)Subjekt dar. Die Finanzverwaltung ist selbst wieder eine eigene (Produktions- und Erwerbs-)Wirtschaft für sich, wenn sie getrennt von der ganzen staatlichen Gemeinwirtschaft gedacht wird. Ihre Aufgabe ist eine spezifisch-ökonomische: die Beschaffung und Verwendung der sachlichen Mittel (Geld), welche zur Durchführung der Staatszwecke, also zur Herstellung der Staatsleistungen und für die eigenen Bedürfnisse der Regierung und der Finanzverwaltung gebraucht werden und zwar, indem dabei nach dem ökonomischen Prinzip, mit den geringsten Mitteln den größten Erfolg zu erzielen und überhaupt nur das zu übernehmen, was, nach dem Wert seines Erfolges bemessen, den Wert der Kosten deckt, vorgegangen wird. Mit der Entwicklung der Staatsaufgaben und Leistungen auf dem Gebiete der Staatszwecke muß daher notwendig eine entsprechende Entwicklung der Regierung und der Finanzverwaltung einhergehen (größeres, spezialisierteres, der feineren Arbeitsteilung entsprechendes Behördenwesen, Beamtentum, größere, gesicherte Ausgaben und Einnahmen).

6. Entwicklungstendenz der öffentlichen, besonders der Staatsleistungen namentlich im modernen Rechtsund Kulturstaat Beobachtungsmäßig, historisch und statistisch nachweisbar zeigt sich im Staate eine deutliche Tendenz zur Ausdehnung der öffentlichen bzw. Staatstätigkeiten mit dem Fortschritt der Volkswirtschaft und Kultur auf den Gebieten der beiden organischen Staatszwecke. Diese Ausdehnung erscheint als etwas so regelmäßiges und läßt sich so deutlich auf ihre inneren Ursachen und Bedingungen zurückführen, daß es statthaft erscheint, von einem ,Gesetz' der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen (inkl. kommunalen usw.), besonders der Staatstätigkeiten zu sprechen in dem Sinne, in welchem dieser Ausdruck auf dem Gebiete der sozialen und wirtschaftlichen Erscheinungen gebraucht wird und wohl auch gebraucht werden darf.1 Nationalökonomisch aufgefaßt, bedeutet dieses Gesetz absolut und selbst relativ wachsende Ausdehnung der öffentlichen, besonders der staatlichen gemeinschaftlichen Organisationsform neben und statt der wirtschaftlichen innerhalb der Volkswirtschaft. Die Ursachen liegen im Hervortreten neuer,

1 Siehe den Artikel: Gesetz (im gesellschaftlichen und statistischen Sinne) von Lexis in der 3. Auflage dieses Handwörterbuches der Staatswissenschaften, Bd. 4, S. 727ff., und Wagners Ausführungen über „wirtschaftliche Gesetze" in seiner Grundlegung der politischen Ökonomie, 3. Aufl., Leipzig 1893, Bd. I, 1. Hälfe, S. 225ff., sowie in seiner Theoretischen Sozialökonomik, Leipzig 1907, Bd. I, S. 25ff. [Anmerkung von Oppenheimer].

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vermehrter, feinerer öffentlicher Bedürfnisse, namentlich Gemeindebedürfnisse im ganzen Volksleben, die Bedingungen liegen in starkem Maße in Änderungen der Produktions- und Verkehrstechnik, welche die staatliche und ev. neben oder auch statt ihrer die sonstige öffentliche, kommunale usw. Funktion in höherem Grade ermöglichen und wünschen. Die Folgen sind, daß die Privatwirtschaften, ihre Bedürfnisbefriedigungen in immer stärkerem Maße durch Vermittlung des Staats und anderer öffentlicher Körper erreichen und dafür in Steuern und Gebühren Entgelt leisten oder daß der Staat und diese Körper privatwirtschaftliche Erwerbsquellen mehr an sich ziehen und aus deren Uberschüssen mit die Mittel für die Deckung der Kosten der öffentlichen Leistungen gewinnen. Voraussetzungen und wieder Folgen der Entwicklung sind daher auch speziell ökonomische und finanzielle: die privatwirtschaftlichen Entgeltlichkeitsnormen werden durch gemeinwirtschaftliche, der freie Verkehrspreis wird durch Gebühr, Taxe, Steuer ersetzt. Die öffentlichen, besonders die Staatsfinanzen dehnen sich in Einnahmen und Ausgaben immer mehr aus, nehmen neue Formen mit an, ,die Steuern wachsen', ohne fest bestimmbare Grenzen, aber die Besteuerten, die ganze Bevölkerung erhalten den Gegenwert und regelmäßig einen vollauf genügenden Gegenwert in vermehrten und vervollkommneten öffentlichen Leistungen. Nur wird vorher meist nicht mit jedem einzelnen über seinen individuellen Empfang von öffentlichen Leistungen, über die Werthöhe seiner Teilnahme daran und über seine individuelle Gegenleistung nach dem wirtschaftlichen Prinzip der Wertkorrespondenz von spezieller Leistung und Gegenleistung abgerechnet. Das geschieht nur einigermaßen im .finanziellen Gebührenwesen' und in verwandten Fällen, bei Gerichtskosten, Verwaltungskosten, Schulgeldern, Verkehrsabgaben nach Tarifen usw. Uberwiegend vielmehr werden die öffentlichen Leistungen der Gesamtheit des Volkes und den einzelnen als dessen Gliedern zur Verfügung gestellt, und nach dem gemeinwirtschaftlichen Prinzip der generellen Entgeltlichkeit werden die einzelnen dann nach bestimmten, für passend geltenden Normen zur individuellen Gegenleistung und zur Kostendeckung, regelmäßig zwangsweise, verhalten, d. h. sie werden in der Regel nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert. In der Entwicklung, Ausdehnung, Vergrößerung der öffentlichen, besonders der Staatsfinanzen reflektiert sich daher die Ausdehnung der öffentlichen Tätigkeiten. Auf dem Gebiete beider Staatszwecke zeigt sich diese Entwicklung auf demjenigen des Rechtsund Machtzwecks nur noch in schärferem Maße, gerade in betreff des Staats selbst, weil es durch die geschichtliche Entwicklung, die hervortretenden Bedürfnisse, namentlich wieder nach der schon erwähnten möglichsten Gleichmäßigkeit der öffentlichen Einrichtungen und Funktionen im ganzen Staatsgebiete bewirkt wird, daß gerade der Staat als solcher die Hauptaufgaben des Rechtsschutzes im Innern und nach außen ausschließlich, auch statt anderer öffentlicher Körper und Organe (Gemeinden, Grundherren), welche etwa früher daran beteiligt waren, an sich zieht (Heerwesen, Gerichtswesen, Polizei, Gesetzgebung, auswärtige Vertretung, s. u. Punkt 8). Auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszwecks liegen dieselben Bedürfnisse der Einheitlichkeit, Konzentration, Zentralisation der öffentlichen Einrichtungen und Funktionen vor, zum Teil gerade entgegengesetzte. Daher sind hier neben uns mitunter statt des Staats die übrigen öffentlichen Körper stark mit Leistungen beteiligt und werden es immer mehr. Neuere Verwaltungseinrichtungen, wie die Organisation größerer Selbstverwaltungskörper zwischen Ortsgemeinde und Staat, dienen mit diesem Zweck (,Verbände', Kreise, Bezirke, die neuerdings sogenannten ,Selbstverwaltungskörper höherer Ordnung'). Die mit den Fortschritten der Kultur, wieder zugleich als deren Voraussetzung und Folge, immer wichtiger werdende Garantie ungestörter Rechtssicherheit im Innern des Landes, der Volkswirtschaft, wie auch nach außen zu, von Land zu Land, von Volk zu Volk; die mit der steigenden Volksdichtigkeit, größerer lokaler Konzentration der Bevölkerung (Städtewesen, Industriesitze), mit der immer entwickelteren Arbeitsteilung stets komplizierter werdenden Ver-

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kehrs-, Wirtschafts- und Rechtsverhältnisse - das sind die entscheidenden Momente, welche zu einer extensiv und intensiv gesteigerten öffentlichen und insbesondere Staatstätigkeit auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzwecks fuhren. Zugleich dieselben Momente, welche, wie unten auszuführen (7), das Präventivprinzip und die diesem entsprechenden Einrichtungen immer mehr beherrschend hervortreten lassen. Die Bedürfnisse der entwickelten Volkswirtschaft namentlich treiben in diese beiden Richtungen hier hinein, und immer weiter und wechselwirkend werden dann die gut fungierenden öffentlichen Einrichtungen und deren Leistungen wieder die Voraussetzung gerade vieler volkswirtschaftlicher Fortschritte und damit eines allgemein höheren Kulturniveaus. Die große Gleichartigkeit der Entwicklung der öffentlichen Einrichtung und Leistung auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzwecks zeigt deutlich, daß hier allgemeine Bedürfnisse und Entwicklungsbedingungen vorliegen. Auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszwecks ist die Ausdehnung der öffentlichen, staatlichen wie kommunalen und Verbandseinrichtungen und -leistungen ebenso Wirkung und Folge wie wieder Ursache und Bedingung von Wirtschafts- und Kulturfortschritten. Nur geht die Entwicklung zeitlich und örtlich nicht so gleichmäßig vor, unterliegt vorübergehend und dauernd größeren Verschiedenheiten, namentlich auch in bezug auf die Verteilung der Einrichtungen und Leistungen auf Staat (Reich), Verbände, Gemeinden oder für einen einzelnen Zweck fungierende Körper. Aber einen entwicklungsgesetzmäßigen Charakter hat die Ausdehnungstendenz doch ebenfalls. Auf dem Gebiete der Sachgüterproduktion, bei der rechtlichen und ökonomischen Grundlage derselben, den Grundstücken, im Verkehrswesen sind es im besonderen Grade Momente der Entwicklung der Produktionstechnik, Bedürfnisse des Großbetriebs, Ubelstände des spekulativen Privatkapitals und der Organisationsformen desselben (Aktienwesen, Börse), allgemeine klimatische, sanitäre, ethische, politische Interessen der Volksgemeinschaft und ihres Wohngebiets, - sind es lauter solche Momente, welche auch hier die öffentlichen Einrichtungen, Anstalten, Leistungen des Staats, der Verbände, der Gemeinden an die Stelle der privatwirtschaftlichen der Individuen, der Erwerbsgesellschaften treten lassen. Damit ist dann eine Beibehaltung oder Ausdehnung .öffentlichen' Eigentums (wenn auch in privatrechtlicher Form), an Grundstücken, Gebäuden, Verkehrsvorrichtungen, Kapitalien verbunden (Staats-Forsten, -Bergwerke, -Banken, -Gewerbebetriebe, -Verkehrswege, -Verkehrsanstalten, -Post, -Telegraph, -Eisenbahnen, -Versicherungseinrichtungen, kommunale Verkehrs-, Markt-, Beleuchtungs-, Sanitätsanstalten usw.). Extensiv und intensiv dann eine immer reichere Entfaltung öffentlicher Einrichtungen und Leistungen auf den verschiedensten Spezialgebieten der Sachgüterproduktion und des Verkehrswesens: wieder ohne bestimmbare Grenzen. Aber doch, nach bisheriger Erfahrung, eben immer nur auf Spezialgebieten, aus besonderen Gründen, nach Entscheidung von Fall zu Fall, nicht nach einer allgemeinen Formel und einem absoluten Prinzip: ein Hauptirrtum des Sozialismus. Die gewöhnlichen Hauptgebiete des wirtschaftlichen Lebens, Landwirtschaft, Gewerbe, Handel sind und bleiben vermutlich, wenigstens in der Hauptsache und mit Recht, der Übernahme durch die staatliche, die kommunale Gemeinwirtschaft entrückt. Auf anderen Kulturgebieten eine ähnliche, aber im ganzen noch ausgedehntere und intensivere Entwicklung in der Richtung, Einrichtungen, Anstalten, Leistungen auf Staat, Gemeinde, Verbände zu übernehmen, so im Unterrichts-, Bildungs-, Schul-, Sanitäts-, Hilfs-, Armen-, Wohltätigkeitswesen usw. Zum Teil wiederum, weil es sich nach den beherrschenden Ideen der Kulturweit um wichtigere Angelegenheiten des Gemeinwohls, um Pflichten der Gesellschaft gegen die sozial und ökonomisch schwächeren Volkselemente, um große allgemeine Interessen des ganzen Volks, um größere Sicherung und reichlichere Bemessung der betreffenden Bedürfnisbefriedigungen, um großen Kostenaufwand dafür, um möglichste Zugänglichkeit für alle Kreise und Klassen des Volks, um die Folgen der wissenschaftlichen Fortschritte auf den verschiedensten

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Lebensgebieten, die Verwertung der Ergebnisse davon für die Steigerung und bessere Sicherung des Volkswohls, für die sichere Verhütung von Gefahren, Beseitigung von Übelständen handelt. Mit gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen, mit finanziellen Hilfsmitteln tritt der Staat hier wieder neben und vor und statt der kleineren öffentlichen Körper ein, weil auch größere Gleichmäßigkeit der Einrichtungen, Anstalten, Leistungen im Interesse des Erfolges verbürgt werden muß, oder weil er die beste Bürgschaft der Ausführung des Notwendigen und der vollkommensten, vielleicht auch der wohlfeilsten Ausführung bietet, oder weil er die Kosten am leichtesten und zweckmäßigsten aufbringt oder die Verteilung der Kosten auf die Bevölkerung am richtigsten durchführt (Besteuerung, Gebührenerhebung). U. a. sind die naturwissenschaftlichen Fortschritte in der Erkenntnis der Bedingungen von Gesundheit und Krankheit der Menschen, der Tiere, der Pflanzen in betreff von Licht, Luft, Wasser, Nahrungsmittel, Wohnung usw., Krankheitserregern, Vorkehrungsmitteln dabei in vielen dieser Beziehungen von Einfluß darauf, daß die öffentlichen, die Staatstätigkeiten sich im Gesamtinteresse immer weiter ausdehnen, um Wohlfahrtsbedingungen solcher Art zu verbürgen.

7. Das Vorwalten des Präventivprinzips im entwickelten Rechts- und Kulturstaate Wie überall in der Volkswirtschaft zeigt sich auch bei der Ausführung der Staatstätigkeiten auf höheren Stufen des Staatslebens eine steigende Bedeutung des Kapitalfaktors, besonders auch des stehenden Kapitals in Form großer, fester, dauernder Einrichtungen und Anstalten und, zum Teil damit verbunden, der qualifizierten Arbeit, in Form des berufsmäßig ausgebildeten Beamtentums, des Soldatentums. Diese Entwicklung steht namentlich auf dem Gebiete der Tätigkeiten des Rechts- und Machtzwecks, doch auch in einzelnen Fällen anderer Art, so im Sanitätswesen, mit einer besonders wichtigen und folgenreichen prinzipiellen Änderung in der ganzen Methode, nach welcher die öffentlichen Tätigkeiten ausgeführt werden, in Zusammenhang. Diese prinzipielle Änderung aber ist wieder durch den Gang der Kulturentwicklung und durch die aus dieser letzteren hervorgehenden Bedürfnisse des Volkslebens, auch speziell des wirtschaftlichen, bedingt und wird dadurch zur Notwendigkeit. Es gilt, der Möglichkeit von Störungen des Rechtszustandes im Innern und nach außen vorzubeugen und das Gefühl der möglichsten Sicherung in dieser Beziehung im Volksbewußtsein zu verbreiten. Das ist ein zivilisatorisches Ziel und eine Voraussetzung des ganzen wissenschaftlichen Getriebes und seiner ungestörten Funktion, zumal vielfach unter den verwickelten Verhältnissen der Arbeitsteilung und des Verkehrs auf den höheren Stufen der Volkswirtschaft - in der industriell-merkantilen Phase derselben, zumal bei steigender Bedeutung des Fernabsatzes der heimischen und des Fernbezugs der fremden Produkte, bei der wachsenden Beteiligung am weltwirtschaftlichen Verkehr, bei der Entwicklung der Kreditwirtschaft. So drängt alles darauf hin, durch große, diesem Zweck dienende Einrichtungen und Veranstaltungen Bürgschaften für die gesicherte Aufrechterhaltung des Rechtszustandes zu schaffen, damit Störungen des letzteren möglichst unterbleiben, im Keime unterdrückt werden und wenn dies dennoch nicht völlig gelingt, sie mit um so größerer Sicherheit und rasch wieder beseitigt werden können. Diese überall in der Kulturwelt nachweisbare, daher auch sehr gleichmäßige Entwicklung läßt sich in die Formel fassen: Das Präventivprinzip mit umfassenden Einrichtungen zur Prävention von Rechtsstörungen und anderen Übeln (so auf dem Gebiete des Gesundheitswesens), daher ein förmliches Präventivsystem wird immer mehr zur Durchführung gebracht, so daß das Repressivprinzip zurücktritt, um nur aufgrund der Präventiveinrichtungen, nötigenfalls, aber im Ganzen doch ausnahmsweise, mit um so stärkerem

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Nachdruck in Funktion gesetzt zu werden. Auch hier kann man wiederum, in dem oben erwähnten Sinn des Wortes, von einem ,Gesetz' des Vorwaltens des Präventivprinzips im entwikkelten Rechts- und Kulturstaat sprechen. Auf keinem Gebiete der Staatstätigkeit zeigt sich diese Entwicklung wohl großartiger und folgenreicher, auch in ökonomischer und finanzieller Hinsicht, als auf demjenigen des Wehrwesens, in der Einrichtung der stehenden Heere, zumal bei dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, der großen Befestigungen, der Kriegsflotte und bei den hiermit in Verbindung stehenden Anstalten. Aber auch die Sicherheitspolizei mit ihren großen Einrichtungen (Gendarmerie, Schutzmannschaft), die ganze Justizorganisation mit ihren stehenden, immer der Beanspruchung gewärtigen Gerichtshöfen, das Gefängniswesen, der stehende diplomatische und konsularische Dienst und auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszwecks vielerlei Vorbeugungseinrichtungen und Maßregeln des Sanitäts-, Medizinal-, Armen-, Hilfs-, Wohltätigkeitswesens sind charakteristische und wichtige Belege für jenes Gesetz. Großenteils bedingen diese Einrichtungen und Anstalten des Präventivsystems dann auch die Ausführung der Staats- und sonstigen öffentlichen Tätigkeiten durch qualifizierte Arbeiter und große kapitalistische Mittel. Mit daher [sie] die eigentümliche Organisation des ganzen modernen Staatsdienstes und Beamtentums, des von der privatwirtschaftlichen Lohnregelung vielfach prinzipiell abweichenden Besoldungs- und Pensionswesens dafür, einer Art von ,Sozialtaxen' nach Bedarfs- und Leistungswertskalen. Mit daher [sie] die großen stehenden Kapitalanlagen in den bestimmten Verwaltungszwecken angepaßten und bleibend dafür dienenden Gebäuden, Grundstücken, Inventaren, in dem System der Kriegsmaschinen, Waffen, Werkzeuge, Vorkehrungen in den Angriffs- und Verteidigungsmitteln des Land- und Seekriegs, alles wiederum Dinge, deren Beschaffenheit und Umfang vom Stande der Technik bestimmt wird und deren Gebrauch ein großes stehendes, regelmäßig, auch in Friedenszeit, eingeübtes Personal verlangt. Dieses Vorwalten des Präventivprinzips mit allen diesen Einrichtungen und den Bedingungen seiner Anwendung hat denn auch wieder weittragende Folgen für die Gestaltung der staatlichen Finanzwirtschaft. Es macht einen sehr großen, im ganzen schon nach den Ansprüchen der Technik steigenden, auch in gewöhnlicher ruhiger Zeit hoch verbleibenden Finanzbedarf notwendig und dieser wieder eine Gestaltung der Einnahmen, welche eine sichere regelmäßige Dekkung jenes Bedarfs verbirgt. Daher die riesigen Budgets auch mitten im Frieden, die hohen Steuern, die wichtigen sonstigen, nichtsteuerrechtlichen Einnahmen, welche die ganze Volkswirtschaft bleibend belasten, aber auch die Mittel sind, um Ruhe und Ordnung, als die erste Voraussetzung jedes gesunden Wirtschaftslebens und der ganzen Volkskultur, zu verbergen, insofern die volkswirtschaftlichen und kulturlichen ,Assekuranzkosten'. Die dennoch gelegentlich nötig werdende Repressivtätigkeit steigert dann freilich, um die Präventiveinrichtungen in die Funktion der Repression hinüberzuleiten, den Finanzbedarf noch außerordentlich (moderne größere Kriege!). Aber das gut vorbereitete, in die Repression übergehende Präventivsystem garantiert auch äußeren und vor allem rascheren Erfolg der Repression, damit schnellere Wiederherstellung des Rechtszustandes und der Ruhe, ein volkswirtschaftliches, soziales, ethisches Postulat ersten Ranges, wobei dann auch der große Kostenaufwand in der Zeit der Störungen (Krieg usw.) doch wegen der geringeren Dauer mäßiger bleiben kann.1 So erfolgt in finanzieller Hinsicht durch das Präventivsystem nicht sowohl, wie oft allgemein behauptet und beklagt wird, eine Steigerung des ganzen Finanzbedarfs, der Kosten des Staatswesens, als, wenigstens für längere Perioden wechselnder Volks- und Staatsschicksale betrachtet, eine andere und im ganzen eine auch volks-

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Das hätte Wagner wohl kaum stehen lassen, wenn er das Ende und die Folgen des Weltkrieges erlebt hätte. [Anmerkung von Oppenheimer; A.d.R.]

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wirtschaftlich günstigere Verteilung jenes Bedarfs und der zu seiner Deckung dienenden Finanzmittel (Steuer usw.) auf größere Zeiträume. Man wird daher im ganzen das Präventivsystem nicht bloß als notwendige Entwicklung, unter menschlichen Verhältnissen, wie sie auch alle heutigen Kulturvölker noch zeigen und vermutlich spätere ähnlich zeigen werden, sondern auch als etwas, zumal volkswirtschaftlich, überwiegend Günstiges ansehen dürfen. Was darin Übles liegt, ist nicht Schuld dieses Systems, sondern derjenigen Seiten menschlichen Wesens, welche ein solches System zur Aufrechthaltung von Recht, Ruhe und Ordnung einmal notwendig machen, wenn nicht für immer, was wahrscheinlich ist, da man es mit historisch und örtlich wenig wandelbaren Seiten menschlichen Wesens zu tun hat, so jedenfalls für unabsehbar lange Zeit.

8. Die Feststellung des Bereichs der Staatstätigkeit Dieser Bereich ist ein historisches Produkt, daher Veränderungen unterworfen, wie im vorausgehenden schon öfters hervorgehoben. Aber dennoch lassen sich einige allgemeinere Bedingungen und Regeln für die Feststellung dieses Bereichs formulieren. So bildet sich eine gewisse Richtschnur, die dann freilich im konkreten Falle speziellere Untersuchungen nicht nur nicht unnötig macht, sondern für ihre praktische Anwendung zur Ergänzung voraussetzt. Gerade auch die ,nationalökonomische Analyse' des Staats (Schäffle) gibt hier wertvolle Fingerzeige für die Feststellung des Bereichs der Staatstätigkeit überhaupt und insbesondere auch gegenüber der Tätigkeit der Privatwirtschaften und der übrigen öffentlichen Körper. Es lassen sich Merkmale ermitteln, deren einzelweises [sie] und vollends deren gemeinsames Vorkommen die Vermutimg erweckt, daß gerade eine Staatstätigkeit statt und vor derjenigen eines anderen öffentlichen Körpers, einer genossenschaftlichen oder auch einer Privattätigkeit angezeigt ist. Auch dabei bleibt im konkreten Falle noch eine genauere Begründung notwendig oder andererseits eine Widerlegung möglich. Aber erstere wird erleichtert und letztere wird mit Recht schwieriger, wenn jene Vermutung feststeht, dadurch wird die positive wie negative Entscheidung besser begründet. Die allgemeine Regel für Staatstätigkeit läßt sich also fassen: ,Der Staat hat diejenigen Tätigkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse seiner Angehörigen zu übernehmen, welche weder die Privatwirtschaften (einschließlich der Erwerbsgesellschaften) noch freie Vereine noch andere Zwangsgemeinschaften (öffentliche Selbstverwaltungskörper) überhaupt oder welche alle diese nur weniger gut oder mit bedenklichen sozialen und politischen Folgen oder nur kostspieliger ausüben können.' Die Vermutung aber auch im einzelnen Fall gerade für eine Staatstätigkeit steht besonders alsdann, wenn folgende drei Bedingungen für die gute Herstellung (Produktion) der betreffenden Leistung und eine vierte Bedingung für die Benutzung (Konsumtion) dieser Leistungen einzeln oder zumal vereint vorliegen: möglichste zeitliche Nachhaltigkeit, räumliche Ausdehnung und Einheitlichkeit oder selbst Ausschließlichkeit der erforderlichen Tätigkeiten in einer Hand, in ersterer, die Produktion betreffender Beziehung; ferner in zweiter, die Konsumtion betreffender Hinsicht, wenn die Konsumtion der Leistung unvermeidlich, nach der Natur der Sache eine gemeinsame vieler, selbst aller ist oder ohne besondere Schwierigkeiten, namentlich ohne entsprechend wachsende Kosten, eine solche werden kann, die Leistung überhaupt einer Mehrzahl einzelner, jedem davon in unermeßbarem Grade, zugute kommt (wesentlich nach Schäffle und Wagner). Gerade an dieser Regel und an diesen Bedingungen geprüft, erscheinen die großen Haupttätigkeiten auf dem Gebiete des Rechts- und Machtzwecks, welche nach der geschichtlichen Entwick-

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lung bei den Kulturvölkern ausschließlich oder überwiegend vom Staate übernommen sind, auch prinzipiell richtig dem Staate übertragen: Wehrwesen, Gerichtswesen, die Sicherheitspolizei, auswärtige Vertretung. Aber auch wichtige, gerade vom modernen Staat beibehaltene oder neu übernommene Aufgaben und Tätigkeiten auf dem Gebiete des Kultur- und Wohlfahrtszwecks lassen sich so prinzipiell als solche des Staats erklären und begründen. Staatsforstwesen, Gesetzgebung und Kontrolle über Privatforsten, Gewässer, Bergbau, Jagd, Fischerei; öffentliches, insbesondere staatliches Wege-, Verkehrswesen (Post, Telegraph, Eisenbahn); Maß- und Gewichts-, Geld- und Münz-, zum Teil Kredit- und Bank- und Versicherungswesen; Humanitäts-, Armen-, Hilfs-, Sanitäts-, Medizinalwesen; Bildungs- und Unterrichtswesen; Gesetzgebung über und Unterstützung von Landwirtschaft, Gewerbe, Handel, - alles Gebiete umfassender und sich ausdehnender Staatstätigkeit, zum Teil ausschließlicher, zum Teil einer nur mit den übrigen öffentlichen Körpern geteilten. Für die praktische Durchführung der Aufgaben zur richtigen Feststellung des Bereichs der Staatstätigkeit, auch der richtigen Lösung der dabei mitspielenden finanziellen Probleme, ist dann bei den Kulturvölkern wieder das politische Postulat einer Mitwirkung von Volksvertretungen neben der Regierung auch hier zu betonen (,System der konstitutionellen Budgetwirtschaft', Schäffle). Und zur praktischen Durchführung der übernommenen Staatstätigkeiten selbst ist auf die Bedeutung eines entsprechend tüchtigen Beamtentums hinzuweisen. Die großen Fragen der Organisation des Staatsdienstes, des Systems der Besetzung öffentlicher Amter, der Garantie der sittlichen Integrität, technischen Leistungsfähigkeit, unabhängigen Gesinnung und dennoch richtigen Subordination tauchen daher hier alle auf. Von ihrer guten Lösung hängt diejenige des Problems richtiger Feststellung des Bereichs der Staatstätigkeit, richtiger Einrichtung und Funktion der Staatsverwaltung, richtiger finanzieller Ordnungen und Einrichtungen wesentlich mit ab. So durchdringt denn freilich der moderne Rechts- und Kulturstaat immer mehr das ganze Volksleben nach allen diesen Seiten, die ganze Volkswirtschaft in allen ihren Verhältnissen. Aber - er saugt nicht auf, kann und soll nicht aufsaugen alle individuelle, Vereins- und Selbstverwaltungstätigkeit, die, von ihm beeinflußt, gefördert, geregelt werden, aber doch im Gesamtinteresse auch eine gewisse Selbständigkeit behaupten muß. Eine ganz bestimmte Grenze für die Staatstätigkeit gegenüber aller anderen, der Privaten, der Vereine, der Gesellschaften, der größeren und kleineren Selbstverwaltungskörper läßt sich nicht prinzipiell ziehen. Die richtige Grenze ist nach den angedeuteten Gesichtspunkten und Erwägungen zu bestimmen, sie ist niemals stabil, ändert sich und muß sich ändern mit der Änderung der Lebensverhältnisse des Volks, mit der Technik der Produktion, mit dem Verkehrswesen, mit den Veränderungen der Volkswirtschaft überhaupt. Aber eine Grenze ist dennoch da und wird immer da sein. Die ,Theorie', auch die der Nationalökonomie, der ,Sozialökonomie', kann nur jene Gesichtspunkte angeben. Die jeweilig relativ richtigste Grenze - das einzige für Menschen Erreichbare - zu ziehen, ist die Sache des Staatsmannes, des Gesetzgebers, der aber freilich auch wie die Geschichte, die bestehenden Verhältnisse und Bedürfnisse, die Tatsachen, um die es sich handelt, so die Theorie, die Wissenschaft vom Staate und von der Volkswirtschaft dabei zu berücksichtigen hat."1

[Von Seite 507 bis zum Ende dieses Artikels übernimmt Oppenheimer den Originaltext des Wagnerschen Aufsatzes; A.d.R.]

Die List der Idee [1927]1

Hier soll geredet werden von Wandlungen der geschichtsphilosophischen Auffassung und von deren merkwürdiger Folge auf die Einstellung der Völker zum Weltgeschehen. Dem antiken Denken bedeutet die Geschichte einen ewigen Kreislauf, der sich kraft eines Naturgesetzes vollzieht, gleich dem Kreislauf der Jahreszeiten oder den Phasen des Menschenlebens von der Kindheit über Jugendalter, Mannesalter und Greisenalter bis zum Tode. Ganz anders war die Auffassung der katholischen Wissenschaft des Mittelalters. Ihr erschien die Geschichte als die „Theophanie": in ihr und durch sie enthüllt sich der große Plan Gottes, der die Menschheit aus der Sünde zur Erlösung führt. Benedetto Croce hat gezeigt, daß jede eigentliche Geschichtsphilosophie irgendwie, offen oder versteckt, theologisch unterbaut sein muß. Und der aufmerksame Leser findet denn auch noch in der Geschichtsphilosophie der protestantischen Denker, die aus der Theophanie eine Ideophanie gemacht haben, theologische Reste zur Genüge. Der berühmte, fast berüchtigte Satz Hegels, daß alles, was ist, vernünftig ist, stammt ganz aus jenem Geiste: jede historische Erscheinung, mag sie an sich auch noch so weit von dem Ideal entfernt sein, die der Gesamtverlauf verwirklichen wird, ist doch zu der Zeit, wo sie auftritt, unvermeidlich, ist von Gott vorgesehen und gewollt. Indessen: das Mittelalter und der Katholizismus kamen doch über einen bestimmten Punkt nicht hinweg, konnten nicht über ihn hinwegkommen: über die „Erbsünde". Diese besteht in der Selbstsucht des stark von seinen Trieben beherrschten Menschen, bei der Verfolgung seiner Interessen über die ihm entgegenstehenden Interessen seiner Mitmenschen rücksichtslos wegzuschreiten, sie, statt als gleichgestellte Subjekte, als Objekte des eigenen Willens zu behandeln und dadurch zu mißbrauchen, zu entwürdigen und auszubeuten. Dieses Laster würde, so war der Gedanke, jede menschliche Gemeinschaft alsbald sprengen müssen, wenn Gott nicht fortwährend durch die von ihm eingesetzten Ausleger seiner Heiligen Schrift, durch die Nachfolger seines Sohnes, des Erlösers, die bösen Triebe zähmen und in Grenzen halten würde, innerhalb deren die Gemeinschaft noch bestehen kann. Wenn es wahr ist, und es ist in einem gewissen Umfange wahr, daß die sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen eine Gesellschaft lebt, die unabhängig Variable, der Unterbau sind, von dem der Oberbau der Ideologien als der abhängig Variablen bestimmt wird, ein Oberbau, der sich mit dem Unterbau „gesetzmäßig umwälzt", so lag in den weltlichen Verhältnissen des Mittelalters keine Möglichkeit, über diesen Punkt hinauszukommen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung und -Vereinigung waren noch überaus schwach entwickelt; von einer Konkurrenz im modernen Sinne war noch keine Rede; jedem Mitglied der Gesellschaft war sozusagen sein festes Haus bereitet, aber auch der Spielraum seiner wirtschaftlichen Tätigkeit starr begrenzt; jeder Versuch, darüber hinauszugreifen, galt bereits als sündig, und umgekehrt bestand fast alle Sünde in solchen Ubergrif-

1

[Erstmals erschienen in: Neue Rundschau, Bd. 38 (1927), S. 225-241; A.d.R.]

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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fen in das gottgesetzte Bereich des anderen. Der Fürst sollte sich des „ungerechten Krieges" zum Zwecke der bloßen Macht- und Ruhmvermehrung enthalten, der Ritter sollte seine Nachbarn nicht befehden, um sein Gut zu vermehren, Bürger und Bauer sollten sich mit ihrer „Nahrung" begnügen. Diese sozialökonomische Lagerung der west- und mitteleuropäischen Menschheit änderte sich nun grundstürzend mit der Umwälzung, durch die das Mittelalter von der Neuzeit geschieden wird. Wir können die Ursachen dieser Umwälzung hier nicht darstellen: hier muß es genügen, daß völlig gleichzeitig, geradezu aus einer Wurzel, entstehen: der moderne Staat, der Nationalismus und der Kapitalismus, dessen Träger der neu emporkommende Stand des Großbürgertums ist. Die alte Ordnung, die jeder Gesellschaftsschicht und innerhalb jeder Schicht jedem ihrer Mitglieder einen ganz bestimmten Spielraum gewährleistete, zerfiel; den Menschen verging sozusagen das Dach über dem Kopfe; sie sahen sich all der gewachsenen Bindungen plötzlich beraubt, die sie vor den anderen und nicht zuletzt auch vor sich selbst, vor den Ausschreitungen ihres eigenen Egoismus, geschätzt hatten, und sahen sich in ein stürmisches Meer geworfen, aus dem sich ans Ufer zu retten ihnen kein anderes Mittel verblieben war als die eigene Kraft, und vor allem die Kraft des eigenen Verstandes. So wurde als letztes Kind jener ungeheuren Revolution, als das Geschwister von modernem Staat, Kapitalismus und Nationalismus, auch noch der Rationalismus geboren, dessen letzte Zuspitzung die „Aufklärung" ist. Die Sieger dieses neuentbrannten Kampfes waren die Großbürger. Sie traten durch wirtschaftlichen Reichtum und politischen Einfluß zuerst neben und dann vor die alten herrschenden Stände. Nun bedarf aber jede derartige Vormachtstellung der Rechtfertigung. Die herrschenden Stände des Feudalstaates, Adel und Klerus, konnten sich auf göttliche Einsetzung und Berufung stützen, zum mindesten auf die Legitimität, die langer Besitz, ererbter Ruhm und Rang verleihen. Auf diese Weise konnten die neuen Reichen ihre faktischen Vorrechte nicht begründen; es bedurfte anderer Rechtstitel, und dieses gab ihnen das letzte Geschöpf der Umwälzung, der Rationalismus, in Gestalt des Naturrechts. Uberall, wo das Bürgertum in die Höhe kommt, wandelt sich der Begriff der „Tugend". Die kriegerische „Tugend", die Mannhaftigkeit (Virtus), auf die der Kriegsadel seine Vorrechte begründen durfte, verliert immer mehr an Schätzung, und dafür steigen die bürgerlichen Tugenden am Himmel auf, durch die sich die neue Herrenklasse ihre jetzige Stellung gerade so erworben hatte, wie einst der Feudaladel durch das Schwert. Diese Tugenden sind die des Kaufmanns: Fleiß, Nüchternheit, Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit im Geschäftsverkehr und Sparsamkeit, namentlich die letztere: das „Maßhalten", die bürgerliche Tugend par excellence. Aber es bedurfte mehr als dieser positiven Konstruktionen, um die Stellung der Bourgeoisie zu sichern. Noch hatte sie, wenngleich Sieger, schwere Kämpfe mit den Machthabern der Vorzeit zu bestehen, und so mußte auch negativ, aggressiv vorgegangen werden, um die Schlüsselstellung der Gegner zu nehmen und zu schleifen. Diese Stellung lag in dem Bekenntnis zur Erbsünde. Wenn die Selbstsucht in der Tat Sünde ist, so kann aller Erfolg des bürgerlichen Strebens nicht darüber wegtäuschen, daß dasjenige, was sie für ihre Tugend erklären, in jener Grundsünde seine einzige Wurzel hat. Damit war der Zielpunkt, das thema probandum, einer zur Ergänzung unentbehrlichen weiteren Theorie gegeben, die den Egoismus als mindestens unschädlich, womöglich selbst als eine Tugend hinstellte. Den ersten bedeutenden Schritt in dieser Richtung tat Richard Cumberland schon vor Locke; dann folgte der noch einflußreichere Graf Shaftesbury, der vor allem gegen den ätzenden Skeptiker Hobbes auftritt: es ist nicht wahr, daß alle menschlichen Handlungen der Selbstsucht entspringen; es gibt einen natürlichen Sinn im Menschen für das Erhabene und Schöne, der auch seinen moralischen Anschauungen zugrunde liegt. Hier knüpft die ganze Schule der optimistischen englischen Moralphilosophen an, deren Einfluß auf die kontinentale Geistesentwicklung und Politik gar nicht hoch genug eingeschätzt werden darf.

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Damit aber war der Egoismus nur sozusagen aus seiner beherrschenden Stellung verdrängt, blieb aber, wo er wirkte, immer noch im mittelalterlichen Sinne sündig. Den entscheidenden Schritt, um ihn und damit das Großbürgertum vollkommen zu legitimieren, tat der geistreiche Arztphilosoph Bernard de Mandeville in seiner heute ebenso berühmten wie zu seiner Zeit berüchtigten „Bienenfabel" mit dem Untertitel „Private Laster, öffentliche Tugenden". Hier versteht zum erstenmal ein genialer Kopf einigermaßen den großen Zusammenhang der volkswirtschaftlichen Erscheinungen; es dämmert ihm auf, was in letzter präzisester Formel auszusprechen erst mir selbst vor kurzer Zeit geglückt ist; daß Kooperation (gesellschaftliche Arbeitsteilung und -Vereinigung) und Konkurrenz eines und dasselbe sind, dasselbe Kräftespiel, gesehen einmal von unten her, vom Standpunkt der einzelnen Personalwirtschaft, als Konkurrenz - und das andere Mal von oben her, vom Standpunkt über dem Ganzen her, als Kooperation. Er zeigt in witzigster Form, daß die ganze Gesellschaftswirtschaft durch die privaten „Laster" als ihren Motor angetrieben und in Bewegimg gehalten wird. Von hier zur letzten Erreichung des gesteckten Ziels war kaum mehr als nur noch ein einziger Schritt zu tun. Mandeville hat den Egoismus immer noch als ein „Laster" aufgefaßt. Wenn er aber in der Tat in der Weise, wie der große Spötter es aufgezeigt hatte, den allgemeinen Wohlstand und damit das allgemeine Wohl so kräftig beförderte, ja, fast allein herbeiführte: dann konnte er doch unmöglich ein Laster sein! An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: im Mittelalter war der Egoismus verurteilt worden, weil er die Gesellschaft aus ihrer Ruhelage warf und die einzelnen schädigte. Jetzt stellte sich heraus, daß er umgekehrt die Gesellschaft in ihrer Ruhelage erhielt und den einzelnen nützte! Jenen letzten Schritt tat Adam Smith. Er zeigte, daß überall dort, wo der Staat sich nicht mit überflüssiger und fast immer schädlicher Tätigkeit einmischt, und vor allem, wo er keine Monopole schafft, die die segensreichen Tendenzen ablenken, die antagonistischen Egoismen sich in der wohltätigsten Weise gegenseitig begrenzen und ausgleichen, und daß die Folge einer solchen vollkommenen Entfesselung des Selbstinteresses sein muß eine gewaltige Vermehrung des allgemeinen Reichtums, und die Ausgleichung der Einkommen nach der Leistung, also die rationelle Gleichheit, und daher die allgemeine „Harmonie der Interessen". Man glaubt im allgemeinen, daß der Einfluß der Smithschen Lehre sich auf die Nationalökonomie und allenfalls auf die Moralphilosophie beschränkt hat. Niemand scheint sich darüber klar geworden zu sein, daß ihre Aufnahme in den Gedankenbestand der europäischen Menschheit viel mehr bedeutete, nämlich die vollkommene Uberwindung des mittelalterlichen Kanonismus, eine vollständige Umlegung des gesamten Weltgefühls und der gesamten Weltanschauung, wie sie ihren Niederschlag in der Philosophie findet: den Umschlag vom Pessimismus des katholischen Mittelalters in bezug auf den Menschen und seine Fähigkeit, aus eigener Kraft, ohne Einwirkung göttlicher Gnade, in sittlicher und gerechter Gemeinschaft zu leben, zum freudigsten Optimismus. Solange diese Lehre gilt, herrscht dieser Optimismus. Die Auffassung ist der katholischen in dem einen Gedanken nahe verwandt, daß Gott auch die Sünden des Menschen zu den Werkzeugen seines großen Heilsplanes macht. Wir lesen bei Kant in seiner berühmten Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht folgendes: „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer oft wider den anderen, ihre eigenen Absichten verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten. (...) Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft." Hier ist zwar die Welt bereits entgöttert, aber anstelle Gottes ist die „Natur" getreten, die ihre „Absichten" geradeso mit dem Zweck verfolgt, „die Entwicklung aller Anlagen (der Menschen)

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zustande zu bringen", wie ehemals Gott. Aber die Auffassung unterscheidet sich doch von der der alten Kirchenväter in zwei entscheidenden Punkten. Erstens erscheint jene Selbstsucht, die durch alle Mittel nach Hochgeltung im Kreise der Gesellschaft strebt, nicht mehr ohne weiteres als Sünde. Und zweitens und vor allem: hier wird nicht mehr an den Glauben appelliert, sondern die Auffassung beruht auf dem Wissen darum, daß wirklich durch ganz bestimmte Mittel, kraft der psychologischen Kausalität, und zwar nicht in einer unendlichen Annäherung, sondern daß es nur der Wegräumung bestimmter, genau bezeichneter Hindernisse bedarf, derer, die aus der Einmischung des Staates in den „naturgesetzlichen Ablauf" der gesellschaftlichen Gesamtfunktion hervorgehen, um den Idealzustand alsbald soweit zu verwirklichen, wie eine Idee sich überhaupt in der groben Wirklichkeit verwirklichen läßt. Die gesamte Auffassung heißt dann bei Hegel die Lehre von der List der Idee. Sie unterbaut, wir wiederholen es, den Optimismus nicht nur in bezug auf die Zukunft, und zwar auf einen bald erreichten gesellschaftlichen Zustand der Gerechtigkeit und des Wohlstandes, der Freiheit und rationellen Gleichheit, sondern auch auf die Vergangenheit und Gegenwart. Wenn der Egoismus kein Laster ist, wenn er ärgstenfalls moralisch neutral, genau beschaut aber sogar eine Tugend ist, dann ist ja der Mensch überhaupt nicht böse, sondern gut·, dann kann man ihn und seine Gesellschaft getrost der eigenen Entwicklung überlassen, selbstverständlich, nachdem man jene Hindernisse der Einschwankung in die Harmonie beseitigt hat. Damit ist nicht nur dem kanonischen Pessimismus die Pfahlwurzel durchgehauen, sondern auch jedem noch bestehenden Rest des Feudalismus und Absolutismus. Denn dann bedarf es weder einer göttlichen, noch einer von Gott eingesetzten irdischen Gewalt, um „der Bestie den Beißkorb anzulegen", um das Chaos der Anarchie zu vermeiden; dann ist politisch die Selbstverwaltung der Völker, die Demokratie, geradeso felsensicher begründet wie wirtschaftlich das System des laisser faire, laisser passer. Nur von hier aus läßt sich Rousseaus Glaube an die volonte generale verstehen, an jenen Ozean, in den sich alle volontes particulaires ergießen wie die Flüsse ins Meer, um in seiner fast unbewegten Ruhe ihre Sonderströmung zu verlieren und sich zur Harmonie der glatten Fläche auszugleichen, in der der Himmel sich mit allen seinen Sternen spiegelt: jener Allgemeinwille, der allgütig, allweise und allmächtig ist wie Gott selbst. Man weiß, mit welcher ungeheuren Gewalt gerade die Rousseauschen Ideen auf den jungen Kant eingewirkt haben. Diese freudige Stimmung zur Welt, dieser Glaube, der selig macht, gibt nicht nur der Philosophie, sondern auch der Kunst der klassischen Periode unserer Neuzeit ihr Gepräge. Ein Goethe (man denke an das herrliche Fragment vom Kreuz in den Rosen) und nun gar ein Schiller sind von hier aus völlig zu verstehen. Und das gleiche gilt von der Politik. Ein Freiherr vom Stein, ein Scharnweber waren von diesem Optimismus, waren von diesem Glauben an den Menschen und die ihm eingeborene Kraft zur Schaffung einer gesunden Gesellschaft getragen, als sie die Leibeigenschaft aufhoben und die Städteordnung samt der Gewerbefreiheit einführten. Leider hielt dieser Glaube nicht lange stand. Die Tatsachen der europäischen Entwicklung schienen ihn endgültig und vollkommen zu widerlegen. Man hatte, so schien es wenigstens, und so scheint es noch heute den meisten, den kranken Völkern den von der Smithschen Schule verordneten Heiltrank eingegeben: aber statt der erhofften Genesung verschlimmerten sich die Symptome von Tag zu Tag, anstelle der wirtschaftlichen Harmonie trat immer ärgere Disharmonie, anstelle des verheißenen Konsensus ein immer krasserer Dissensus. Die Not der Volksmasse in den Ländern des Frühkapitalismus schrie, nein stank zum Himmel. In einem Raubbau sondergleichen wurden die edelsten Bevölkerungen des Erdteils dem Moloch geopfert. „Die englische Textilindustrie hat in drei Generationen neun Generationen von Textilarbeitern verspeist." Zum Werkzeug der nordfranzösischen Spinnereiarbeiter gehörte ein Menschenalter nach Smith der Ochsenziemer, um die unglücklichen, oft kaum sechsjährigen Kinder, die als Helfer der Erwachsenen in vierzehn-, ja sechzehnstündiger Arbeitszeit zu fronden hatten, wach zu prügeln, wenn sie vor Ermattung einschlie-

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fen. Aber es ist überflüssig, hier noch einmal alle die Greuel jener grauenhaften Zeit aufzuzählen, durch die die Masse der Völker in „Elend, Unwissenheit und Brutalisierung" hinabgestampft wurde. Solchen Tatsachen gegenüber war es schwer, sich den Optimismus zu bewahren. Also war die Selbstsucht (in der apologetischen Sprache der Bourgeoisie das „Selbstinteresse") dennoch eine Kraft, nicht des Segens, sondern des Fluches, dennoch nicht gut, sondern böse, dennoch nicht Gottes, sondern des Teufels? All die zurückgedrängten Mächte der Vergangenheit erhoben triumphierend ihr Haupt und empfahlen das alte Glaubensbekenntnis anstelle des durch seine Wirkung - an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! - widerlegten neuen. Das war die geistige Gegenrevolution, deren einer Teil die „Romantik" ist. Man versteht aus diesem Zusammenhang sehr wohl, daß so viele hervorragende Protestanten jener Zeit in den Schoß der alleinseligmachenden katholischen Kirche zurückkehrten, der Lehre, die doch wenigstens noch einen Sinn in der Geschichte zeigte, die doch wenigstens das letzte, wenn auch noch so ferne Ziel einer im eigentlichen Sinne menschlichen, nämlich göttlichen Ordnung der Gesellschaft nicht aufzugeben brauchte. Diese geistige Gegenrevolution hat weithin gesiegt. Das Großbürgertum selbst verfiel mehr und mehr ihren Ideen, all jenen leitenden Vorstellungen des Feudalismus, für die es auch in seiner äußeren sozialökonomischen Lagerung reif geworden war, seit es aus einer gegen die Feudalmächte kämpfenden Unterklasse selbst zu einem Teil der Oberklasse geworden war. Leugnen konnte man jene grauenhaften Tatsachen nicht, und so blieb nichts anderes übrig, als sie, mittelalterlich, aus dem Willen Gottes oder der vergotteten Natur zu erklären und damit einigermaßen zu rechtfertigen; Elementarkatastrophen gegenüber ist ja die Frage nach gut und böse nicht erlaubt. Das geschah in der Historik durch die altfeudalen legitimistischen Theorien von der unendlich verschiedenen Begabung der „Rassen", in der Politik durch die Lehre vom Machtstaat, wie vor allem Treitschke sie vertrat, und in der Wirtschaftswissenschaft durch die „Bourgeoisieökonomik" eines Ricardo und namentlich eines Malthus und später durch die rein klassenadvokatorische „Vulgärökonomik" der Epigonen. Danach sollte die Spaltung der ursprünglich aus lauter Gleichen und Freien bestehenden Völker in Klassen, sollte die Entstehung des Großeigentums an Grund und Boden und Kapital die unvermeidliche Folge eines Naturgesetzes sein, dem gegenüber menschliche Einwirkung machtlos ist. Das ist das „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation", das sich überall durchsetzt, weil die Konkurrenz überall zwischen Menschen von verschiedener Begabung zur Wirtschaft (von verschiedener „wirtschaftlicher Tugend") wirkt. Da aber nach dieser Lehrmeinung eine entwickelte menschliche Gesellschaft ohne Konkurrenz, Markt, Preis und Geld nicht denkbar ist, so ist auch eine Gesellschaft ohne Klassenscheidung und Proletariat, ohne Großeigentum und Massenelend „naturgesetzlich" unmöglich. Jenes Gesetz wurde alsbald auch das Glaubensbekenntnis der leidenden Masse selbst. Sie war wohl darauf vorbereitet. Denn aller Sozialismus des Altertums und der beginnenden Neuzeit, der ganzen Periode also vor der Entdeckung jenes segensreichen Mechanismus von der List der Idee, war von der gleichen Überzeugung ausgegangen, von Piaton an bis auf Morus, Münzer, Campanella, Meslier, Baboeuf usw., und hatte aus ihr die zweite mögliche Konsequenz gezogen: wenn die Konkurrenz es ist, die alles Unheil über die Menschheit bringt, so mtiß sie eben abgeschafft werden. Das ist die einzige logische Grundlage jedes Kommunismus, der nun folgerecht eine Gesellschaftsordnung herbeizuführen versucht, aus der, negativ gesehen, die Konkurrenz mit ihrem gesamten Zubehör von Markt, Preis und Geld verschwunden ist, die also, positiv gesehen, die Erzeugung der Güter für eine ganze Volkswirtschaft, in letzter Instanz sogar für die ganze Weltwirtschaft, von einer zentralen Stelle aus vollziehen läßt und ebenso die Verteilung der derart beschafften Güter auf die Mitglieder der Gesellschaft ordnet. Diese Grundeinstellung zu dem großen Problem ist nun leider auch auf Karl Marx übergegangen. Er war geistig ein Abkömmling der Gegenrevolution; Benedetto Croce nennt ihn mit Recht „der Romantik treuesten Sohn". Wie er dieser Herkunft sein Größtes verdankt: die Genialität seiner

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soziologischen Einstellung, der immer das Ganze der Gesellschaft und nicht das abstrakte verabsolutierte Individuum der Aufklärung „vorschwebt", und die Großartigkeit seiner dialektischen Geschichtsauffassung: so hat er von ihr auch übernommen die Uberzeugung, daß die Konkurrenz die Wurzel aller sozialen Übel, und das einzige Heilmittel die von ihr erlöste marktlose Zukunftsgesellschaft, der Kommunismus oder Kollektivismus ist. Hier klafft in seinem großartigen System ein gewaltiger Widerspruch, der seinen Kritikern bisher entgangen zu sein scheint. Niemand hat das Gesetz der ursprünglichen Akkumulation mit schärferen Waffen angegriffen als gerade Marx in den wundervollsten geschichtlichen Kapiteln seines Werkes; und, insofern Tatsachen überhaupt fähig sind, ein deduktiv gewonnenes Theorem zu widerlegen, hat er es auch widerlegt: durch den Nachweis, daß in der modern-europäischen Geschichte, namentlich in England, die Bildung der Arbeiterklasse, des Proletariats, nicht geschehen ist nach jenem „bürgerlichen Idyll", sondern in einem Prozeß der politischen Vergewaltigung, der „außerökonomischen Gewalt", der „in den Büchern der Geschichte eingeschrieben steht mit Zügen von Blut und Feuer". Damit hatte er die Voraussetzung all der pessimistischen Folgerungen aufgegeben, die das Bürgertum selbst und mit ihm der „utopistische Sozialismus" seiner Vorgänger gezogen hatte: und dennoch hörte er nicht auf, sich zu dem Kommunismus zu bekennen, als dessen Gläubiger er an das Studium der gesellschaftlichen Erscheinungen herangetreten war. Oder mit anderen Worten: er hielt an der Konsequenz fest, deren Prämisse er selbst zerschlagen hatte. Marx hat dann freilich versucht, den Kommunismus, den er aus jenem miteingebrachten Vorurteil für die einzig denkbare Form des Sozialismus hielt, „von der Utopie zur Wissenschaft" zu erheben, indem er den Beweis führte, daß die kapitalistische Gesellschaft kraft der ihr eigenen immanenten Tendenz in diesen Zustand der marktlosen Gesellschaft, der Lenkung von Erzeugving und Verteilung von einer zentralen Stelle aus, einmünden müsse. Es ist hier nicht der Ort, diese mit erstaunlicher Kunst gefügte Argumentation darzustellen. Genug, daß sie heute als völlig widerlegt gelten darf: jene Tendenz besteht nicht, und was uns hier vor allem angeht: es ist nicht wahr, daß die Arbeiterklasse und mit ihr das „Kapitalverhältnis", das zugegebenermaßen durch außerökonomische Gewalt geschaffen ist, sich, wenn es einmal gegeben ist, durch innerökonomische Kräfte selbsttätig immer wieder aufs neue „reproduziert". Wie, wenn nun jene freudige Lehre von der List der Idee dennoch richtig wäre?! Wenn sie beweisbar wäre?! Wäre das nicht die froheste Botschaft, die den Völkern dieser verwirrten und zerquälten Zeit ins Ohr klingen kann? Wenn wir, nicht auf Grund von Phantasmen oder theologischen Verheißungen, sondern auf Grund sichersten Wissens wieder daran glauben könnten, daß die partikulären Egoismen sich zur Harmonie ausbalancieren, daß uns gerade aus der Freiheit die rationelle Gleichheit erblühen kann? Daß die Menschheit nicht für alle Ewigkeit vor der Qual der Wahl steht, zwischen diesen beiden gleich unentbehrlichen Gütern wählen zu müssen, daß sie, anders gesprochen, nicht nur die Entscheidung hat, ob sie an der Skylla oder an der Charybdis scheitern will? Denn sowohl die Gleichheit wie die Freiheit ohne die Gleichheit führen zur Vernichtimg. Die Menschheit ist so hoffensmüde geworden, daß sie nicht einmal mehr hinschaut, wenn ihr dieses herrlichste aller Wunschbilder wieder vor Augen gestellt wird. Die Palmen am blauen See: allzu oft hat sich ihr dieser Anblick während ihres traurigen Zuges durch die Wüste des Kapitalismus dargeboten; sie murmelt verzagt „Fata Morgana" und keucht weiter in Durst und Glut. Und doch ist es dieses Mal die wirkliche Oase, die am Horizonte sichtbar wird, kein Trugbild. Der segensreiche Mechanismus der List der Idee besteht in der Tat und wirkt in der Tat unablässig mit der Tendenz, jene Harmonie der Interessen, jenen Zustand der rationellen Gleichheit und mit ihm den Rechtsstaat herbeizuführen. Nur war die Zeit, die diesem historischen Wirken beschieden war, bisher allzu kurz, als daß es sein Ziel hätte erreichen können. Das läßt sich, so meine ich, mit vollster Sicherheit beweisen. Mag man es heute Utopie schelten: ich habe vor vielen Jahren geschrie-

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ben: „Alle Wirklichkeit ist die Utopie von gestern, und alle Utopie die Wirklichkeit von morgen!" Wir haben alle Märchen aus tausendundeiner Nacht verwirklicht, ja übertroffen: will man nicht wenigstens einmal hinhören, wenn ein leidlich anerkannter Fachmann der Ökonomik und Soziologie seine Beweise für seine These entwickelt, mag diese auch noch so unglaublich sein? Wir haben oben dargelegt, daß nach Adam Smith die Konkurrenz nur dort ihre Funktion der rationellen Ausgleichung der Einkommen nach der gesellschaftlichen Leistung vollziehen kann, wo ihr nicht Monopole entgegenstehen, die der Staat geschaffen hat. Die von ihm bezeichnete Aufgabe war, diese Monopole zu beseitigen, ehe man dem Selbstinteresse das Feld völlig frei überlassen könne. Es läßt sich zeigen, daß er grundsätzlich recht hatte und nur insofern irrte, als er das stärkste und gefährlichste aller Monopole nicht klar genug erkannte. Man schaue doch hin: sowohl in der Ober- wie in der Unterklasse wirkt die Konkurrenz ja in der Tat ausgleichend, wo ihr keine Monopole als Hindernisse im Wege stehen. Unten gleichen sich die Löhne aneinander an, und oben die Kapitalgewinne. Das ist unbestritten. Warum gleichen sich nun nicht die Einkommen zwischen oben und unten aus? Wenn man die überzeugende Lehre des Schotten fallen lassen will, so muß man beweisen, daß nicht ein Monopol die Schuld daran trägt. Aber es trägt wirklich ein Monopol die Schuld daran: das Bodenmonopol. Das gemeinsame Erbe des Menschengeschlechts, der von niemand erzeugte Grund und Boden, ist durch eine Minderheit überall in der Welt gegen die Volksmasse gesperrt, monopolisiert worden, die dadurch der naturgegebenen Bedingung aller Freiheit und Selbständigkeit beraubt wurde. Die Rechtsform dieser Sperrung ist das große Grundeigentum. Die Erde hat überreichlich Platz für alle ihre Kinder; noch auf Jahrtausende hinaus könnte ihre Zahl wachsen, ohne daß sie zu eng würde, wenn jedem nur soviel Land zu nehmen erlaubt wäre, wie er mit seiner eigenen Arbeit zu bestellen und zu nutzen vermag. Aber es war eben der Minderheit erlaubt, überall in der Welt sich Großgrundeigen in solchem Umfange zu nehmen, daß für die Mehrheit nichts mehr übrig blieb. Das geschah durch außerökonomische Gewalt, als durch kriegerische Eroberung der Staat entstand und die Sieger sich als Adel über die Besiegten setzten. Adel (Odal) bedeutet Großgrundeigentum. So, und nicht nach dem „bürgerlichen Idyll", nach der „Kinderfibel", entstand die Klassenscheidung gleich mit dem Staate. Der Staat ist seiner Entstehung nach gar nichts anderes als das Gehäuse dieses uralten und gewaltigen Monopols. Das Großgrundeigentum wird von aller ernsten Rechtsphilosophie so gut wie einstimmig verworfen. Jeder Sozialismus, nicht nur der Marxsche, hat ihm den Untergang geschworen; ja, alle gute bürgerliche Theorie hat im Bodeneigentum die Quelle der sozialen Übel gesucht, Adam Smith selbst in einigen bedeutsamen Sätzen, die wenige kennen und die er leider bei dem Aufbau seiner eigentlichen Theorie nicht [herangezogen hat, James Mill, John Stuart Mill, sein berühmter Sohn, Hermann Gossen, Walras bis herab auf die Bodenreformer unserer Zeit. Und kein Geringerer als Karl Marx selbst hat in seiner Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms den lapidaren Satz ausgesprochen: „Das Bodenmonopol ist sogar die Grundlage des Kapitalmonopols", nachdem er öfters ebenso lapidar gesagt hatte: „Die Grundlage des ganzen Prozesses bildet die Expropriation der Volksmasse von Grund und Boden." An dieser Expropriation aber, das stellt Marx selbst in jenen flammenden geschichtlichen Darlegungen seines großen Werkes dar, ist die freie Konkurrenz völlig unschuldig. Sie vollzog sich nicht nach dem Gesetz der ursprünglichen Akkumulation, sondern eben durch die Gewalt des Schwertes und später, im schon geschaffenen Staate selbst, fortschreitend durch den Mißbrauch seiner Machtmittel im Interesse der ihn beherrschenden Oberklasse, durch Rechtsbeugung und offenen Rechtsbruch. Derart wurde das „Kapitalverhältnis" produziert. Und reproduziert wird es, niemand braucht eine Statistik aufzuschlagen, um es zu erfahren, durch die massenhafte Fortwanderung der Landarbeiterschaft, die durch das Monopol der Bodensperrung daran verhindert wird, sich als selbständige Bauern und Gärtner auf dem überreichlich vorhandenen Lande selbständig zu machen und

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den Gewerben der Städte einen an Zahl und Kaufkraft immer wachsenden Markt zu gestalten. Daher die „Reservearmee", daher das Uberangebot auf dem Markte der Arbeit, daher der Tiefstand der Löhne; darum bleibt den städtischen Kapitalisten der „Mehrwert" übrig, darum sind „Geld und Produktionsmittel" Kapital, d. h. „Mehrwert heckender Wert". All das steht mit den dürrsten Worten im 25. Kapitel des Marxschen „Kapitals" zu lesen. Wenn es doch anstatt des letzten das erste Kapitel des Riesenwerkes geworden wäre! Hier soll keine ökonomische Theorie gelehrt werden. Wer die Dinge näher kennen lernen will, muß sich schon an meine wissenschaftlichen Schriften halten. Ich habe neuerdings in meinem „Staat", im 6. Abschnitt unter dem Titel „Der kapitalistische Dissensus", die Dinge in äußerster Knappheit dargestellt.1 Hier möchte ich mir ein geschichtliches Gesamtbild entwerfen: Unsere zeitgenössische Literatur ist „industriezentrisch" eingestellt. D. h., sie sieht wie gebannt immer nur die städtischen Dinge, Gewerbe und Handel, aber zieht niemals das platte Land und die Landwirtschaft gehörig in ihren Bereich, obgleich der erste Blick zeigen sollte, daß die Landwirtschaft, als der Markt der städtischen Gewerbe, für sie von der allerersten Wichtigkeit ist. Aus diesem Grundirrtum heraus faßt sie auch den Begriff des „Kapitalismus" seinem Sachgehalt nach und deshalb seiner zeitlichen Erstreckung nach viel zu eng. Sie setzt den Kapitalismus begrifflich ungefähr gleich dem Maschinismus, einer Zeit also, die technisch durch die Zähmung der Elementarkräfte des Dampfes und der Elektrizität gekennzeichnet ist. Man muß aber den Begriff viel weiter fassen: jeder Betrieb ist kapitalistisch, und jede Wirtschaftsgesellschaft ist es, die mit ausgebeuteten Α rbeitskräften Waren für einen geldwirtschaftlich entfalteten Markt produziert. Man spricht denn auch von jeher von der kapitalistischen Sklavenwirtschaft der Antike und der Pflanzungskolonien der Neuzeit. Geradeso muß man nun auch von dem agrarischen Kapitalismus der Neuzeit sprechen. Er beginnt in dem Augenblick, wo der hochgewerblich entwickelte Westen mit seiner eigenen landwirtschaftlichen Grundlage nicht mehr auszulangen vermag und von den weiten leeren Ländern östlich der Elbe, in Deutschland und seinen slawischen Nachbarstaaten, Zufuhren von Getreide fordert. Da verwandelt sich, wie Knapp sagt, der Ritter in den Rittergutsbesitzer, und die Exploitation der unfreien Hintersassen zur Lieferung von Getreide auf den Markt beginnt ebenso wie die mit allen Mitteln außerökonomischer Gewalt betriebene Expropriation der freien Bauern dieses Gebietes, die in Leibeigenschaft herabgepreßt werden. Dieser agrarische Kapitalismus geht der Maschine und dem industriellen Kapitalismus überall um Jahrhunderte voraus. Knapp hat erklärt, daß der ostelbische Großgutsbetrieb „der erste kapitalistische Betrieb der Neuzeit" ist. Und den gleichen Zusammenhang hat jetzt Brodnitz in seiner englischen Wirtschaftsgeschichte für das kapitalistische Musterland festgestellt. Solange die Freizügigkeit der agrarischen Hintersassen nicht erkämpft ist, entfaltet sich der gewerbliche Maschinismus und Kapitalismus nur überaus zögernd, auch in England, wo die Landbevölkerung zwar persönlich frei, aber durch die Kirchspielgesetze, die ihren Zug vom Lande fort, und die Zunftstatuten, die ihren Zuzug in die Städte hin fast zur Unmöglichkeit machten, faktisch dennoch fast „schollengebunden" war. Unter diesen Umständen war die Lage der dem Bodenmonopol wehrlos ausgelieferten landlosen Agrarbevölkerung die denkbar schlimmste. Ich zitiere aus meiner „Theorie der reinen und politischen Ökonomie": „Hier, auf den Besitzungen der großen Feudalherren, in den Höhlen der hörigen Bauern, fern von den Stätten, auf die die Augen der ersten Beobachter des Wirtschaftslebens wie hypnotisiert gerichtet waren, hatte menschliches Elend längst den höchsten Grad erreicht, bis zur Vernich-

1 [Siehe im vorliegenden Band, S. 381-385; A.d.R.]

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tung der Reproduktionskraft der Rasse. Denken wir an die Schilderungen, die Labruyere und Voltaire von den französischen Bauern, die Gray von den irischen, Ε. M. Arndt von den deutschen und die Kropotkin von den russischen Bauern der präkapitalistischen Zeit gibt, von jenen menschenähnlichen Tieren, die in Erdhöhlen wohnen, schwarzes Brot essen und den Acker ihres Herrn umwühlen, denken wir an jene ,Wilden', von denen Taine erzählt, an jene zottigen Bauern der Auvergne, die herabsteigen von ihren Berghöhlen, blutgierig, verelendet, wie hungrige Wölfe. Bis die Revolution ihnen das Recht der Freizügigkeit gab, hatten diese Ackersklaven ihr eigenes Dasein geführt, fern jeder Kultur, gelöst aus dem Zusammenhang mit dem übrigen Volke. Niemand hatte ihrer acht, niemand wußte etwas von ihren Leiden, die wie in einem verborgenen Reservoir Jahrhunderte hindurch aufgesammelt wurden." 1 Aber die Entfaltung der städtischen Gewerbe bringt die Erlösung; je länger, je mehr fühlen sie sich unerträglich beengt und gehemmt durch die Fesseln des Feudalsystems, und nach langen schweren Kämpfen gelingt es dem Liberalismus, die Burg der Gegner zu brechen. Der freie Zug der Bevölkerung wird mit manchen anderen Rechten gewonnen, die Abwanderung setzt ein, und nun scheinen sich alle Pforten der Hölle aufgetan zu haben. Diese ganze ungeheure Masse alten aufgehäuften Elends ergoß sich mit einem Male über die Städte und ihre unglücklichen Bewohner, und nun riß die Hungerkonkurrenz dieser auf das äußerste Maß menschlicher Entwürdigung herabgedrückten Landarbeiter auch die Löhne der alten städtischen Arbeiter in die Tiefe. Den ersten Beobachtern, den Malthus, Ricardo und ihren sozialistischen Zeitgenossen, erschienen diese furchtbaren Erscheinungen als ein wirtschaftsgeschichtliches Novum, als etwas noch nie Dagewesenes, das jetzt mit einem Mal, wie aus dem Nichts gestampft, in den Gewerbezentren selbst entstanden sei. Und auch heute noch blendet dieser alte Irrtum die Augen fast aller Volkswirte. Es war aber ein Irrtum. Was den Beobachtern als ein Prozeß erschien, der nichts als Elend und Not über die Welt brachte, das war in der Tat ein Prozeß der Ausgleichung zwischen zwei, bis dahin durch eine unüberschreitbare Grenze geschiedenen Schichten der Bevölkerung, einer relativ hoch- und einer unglaublich tiefstehenden, die plötzlich miteinander in Verbindung gebracht wurden. Man hat bis jetzt immer nur die eine Seite gesehen, den Niedergang der höheren Schicht, aber man kann dem Vorgang nur gerecht werden, wenn man auch die Rückseite der Medaille ansieht, nämlich den Aufstieg der unteren Schicht. Für die Einwanderer war der Prozeß der Ausgleichung ein Segen, wie er für die alten Städter ein Fluch war. 2 Man sieht also: die Konkurrenz hat auch hier all das geleistet, was sie der Theorie nach überhaupt leisten kann, zunächst die Ausgleichung der Einkommen innerhalb desjenigen Kreises, in dem sie überhaupt besteht, weil kein Monopol sie hindert. Und sie hat ferner, wieder der Theorie vollkommen entsprechend, auch noch geleistet die Erhöhung der Einkommen: „Dieser Prozeß der Ausgleichung erfolgte zuerst mit ungeheurer Gewalt, solange, bis der Überschuß der in den Großgrundbezirken aufgestauten Proletariermassen abgeströmt war. Dann begann unter der Wirkung der Konkurrenz, dank der durch die Abwanderung und Auswanderung sich immer verschärfenden Leutenot, die Hebung der Landarbeiterlöhne, die seitdem ohne Ende

1 Oppenheimer, Theorie der reinen und politischen Ökonomie, Berlin 1910, S. 641. 2 Nach einer bei Rosa Luxemburg: „Die Akkumulation des Kapitals", Berlin 1913, S. 143 Anm., zitierten Schrift eines freihändlerischen englischen Parlamentariers, waren die Löhne der schottischen Weber „plötzlich" (suddenly) von 25 bis 27 Schilling bis auf 5 1/2 bis 6 Schilling im Jahre 1819 gefallen. Auf S. 146 berichtet sie nach Sismondi: J e d e s Schiff bringt täglich Legionen Irländer, die zu billigerem Preise arbeiten als die Engländer und diese aus allen Gewerben vertreiben." Aber beide machen dafür den „Maschinismus" verantwortlich.

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fortgeschritten ist, und mit der sich der Lohn der städtischen Arbeiter regelmäßig mitgehoben hat. Diesem Prozeß ist kein Ende abzusehen." Diese Voraussage, die ich 1909 niederschrieb, hat sich schneller und großartiger bewahrheitet, als ich selbst damals anzunehmen wagte. Wenn auch in dem durch den Krieg verarmten und in lauter Kleinstaaten zermetzten Europa die Verhältnisse sich noch nicht bessern konnten, so ist doch in den Vereinigten Staaten eine Entwicklung eingetreten, die weder die Bourgeoisökonomie mit ihrem Gesetz der ursprünglichen Akkumulation noch der Marxismus mit seinem Gesetz der kapitalistischen Akkumulation auch nur von fern verstehen und erklären können. Seit man die Einwanderung dorthin so stark abgedrosselt hat, sind Lohn und Lebenshaltung der bereits eingelebten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf eine Höhe gestiegen, um die sie auch der höhere europäische Mittelstand beneiden muß, und sie wären noch höher gestiegen, wenn nicht die Einwanderung über die mexikanische Grenze freigeblieben wäre. Von dort her beziehen die amerikanischen Kapitalisten immer noch Hunderttausende der jammervollsten Kulis, die sogenannten Peons, unglückliche Menschen, die der Halbsklaverei ihres Landes entronnen sind, die weder lesen noch schreiben können und, wenn überhaupt, nur überaus langsam und mühsam der gewerkschaftlichen Erziehung und Organisation zugänglich sind. Und was ist Mexiko? Ein Land der ungeheuerlichsten Latifundien! Ein fast menschenleeres, riesenhaftes Gebiet, aus dem dennoch die Landbevölkerung abströmen muß, weil das Monopol der Bodensperre sie an der Selbständigkeit, ja fast am Leben hindert. Ich habe an jener Stelle noch eine andere Prophezeiung ausgesprochen: Ich habe die Umwälzung der Agrarverhältnisse in Rußland kommen sehen und habe dazu geschrieben: „Und auch dieser letzte Hammerschlag, der die Fesseln der mündig gewordenen Menschheit ganz zerbrechen wird, wird geführt werden von dem arg verlästerten Liberalismus, dem Widerpart und Besieger des Feudalstaates. Wir sehen also: die Konkurrenz ist völlig unschuldig. Sie hat vom ersten Tage ihres Wirkens an den Durchschnittslohn der menschlichen Arbeit in immer steigendem Maße erhöht: es war nicht ihre Schuld, daß der Durchschnitt im Anfang viel niedriger sein mußte, als das bisherige Einkommen der städtischen Arbeiterschaft. Die Konkurrenz und der viel verschriene Liberalismus, der sie entfesselt hat, sind im Gegenteil die Kräfte des Segens, die ganz allein das durch die feudale Gewaltpolitik geschaffene Massenelend bereits unmeßbar gemildert haben; und es erscheint mir zweifellos, daß sie in absehbarer Zeit dahin gelangen werden, es ganz aufzuheben." Die von mir zum erstenmal dargelegten geschichtlichen Zusammenhänge sind völlig unbestreitbar. Und sie beweisen entgegen dem Pessimismus der beiden heute miteinander streitenden Schulen und Parteien, an deren Streit Europa zu zerschellen droht, daß beide unrecht haben. Recht aber hat gesehen der frühe, noch nicht zur Bourgeoisökonomik entartete Liberalismus. Wir dürfen, nicht aufgrund phantastischer Annahmen oder theologischer Verheißungen, sondern aufgrund des sichersten Wissens, aufgrund der Ubereinstimmung der theoretischen Erwägung und der historischen Betrachtung, den frohen Glauben haben an eine nahe Zeit, in der uns die beiden unentbehrlichen Güter der Menschheit gleichzeitig beglücken werden, die Freiheit und die Gleichheit. Dahin wird uns führen die List der Idee.

The Idolatry of the State [1927]1

What is the State? Everyone seems to make an idol of it. Some regard it as the most beneficent of deities, which men should worship with all their heart and with all their soul, while to others it is the worst of devils, the curse of mankind, and deserves to be sent back to the hell from which it came. What is the reality between these two extremes? The answer which I have given in my System der Soziologie is that it is a mixed form of human relationships, the bastard offspring of might and right, of "ethos and kratos". The primitive forms of human relationship are two: The first I have called the "we" relationship, because in it the sense of "I" falls into the background, or indeed entirely disappears, giving place to the sense of "we". In his sense of values, his judgment and his actions the individual combines with his comrades in his group as an indivisible unity, a whole of which he feels himself not a part, but a member. In primitive times this collective consciousness and collective interest existed within the tribe, in the relations between the members of the same horde or clan. The second form of relationship, the "not-we" relationship, existed between one tribe and another, in the relations between the men of a clan and strangers, or members of another horde or clan. In this relationship the individual ego and the group ego stand in strong opposition to the ego of the strange clan. The "we" relationship stands for peace, morality and natural justice. The group within which it prevails corresponds more or less to what Tönnies calls the natural community, of which he writes: "Communal life is reciprocal possession and enjoyment, and possession and enjoyment of common goods. The will to possession and enjoyment is the will to defence and unity." Where this is the case, the relationship of the members is that of cooperation. The "not-we" relationship, on the other hand, is characterized by the sense of foreignness [sic]. This means that the foreigner has no rights for "us", and "we" have no duties to him. This does not however necessarily result, in primitive times, in that constant warfare of all against all which the Epicureans and Hobbes held to be the beginning of the history of mankind, or in that "absolute hostility" which Ratzenhofer imagined. On the contrary, we have evidence, in Australia for example, of numerous cases of peaceful intercourse between different clans or tribes. At this stage war has not yet become an end in itself; it is avoided as far as possible, not out of any regard for the interests of the foreigner, but in the best interests of the tribe itself. The clans are still so small that the loss of even a few men in war may weaken them seriously, and in some cases even endanger their existence. Thus, originally, it is not hostility which constitutes the "not-we" relationship, but rather that cold indifference which primitive man also feels towards animals - a complete lack of interest in the weal or woe of the stranger. Where "my" or "our" interests are at stake, his do not

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[Erstmals erschienen in: Review of Nations, an organ for pan-humanism and spiritual freedom, Nr. 2 (1927), Genf, S. 13-26; A.d.R.] Translated into English from the German Manuscript by Miss Monica CurtisGenewa.

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count at all. The stranger can be deprived of his property or his life without sin. Sin only comes into play in a man's dealings with his comrades. The transition between prehistoric and historic times is the age of migration and conquest. At this stage the clans have become larger, and have either developed or combined so as to form tribes, and in many cases even associated groups of tribes. Here and there their own territory becomes too small for their primitive methods of cultivation, and a tendency to expansion arises. A more numerous or better armed tribe, or one which is capable of better tactical cooperation or more perfect discipline, attacks and conquers another tribe. This, in all parts of the world, is the origin of the State. The active factors in the formation of the State are in the Old World the pastoral peoples and the sea-faring peoples which proceed from them; in the New World the active factors are the more highly-developed hunting peoples. The passive factors are as a general rule the less highly developed cultivators, those who still cultivate their land by hoeing it by hand. The use of the plough for cultivation only begins in the State, when the draught animals introduced by the pastoral peoples horses, oxen or camels - are harnessed to the instrument used for tilling. The object of conquest and the subjection of other clans is everywhere the same: it is exploitation. The conquered are compelled to work for their conquerors without recompense, or to pay them tribute. The form assumed by exploitation is mastership, which must not be confused with the leadership of earlier times, which did not involve any kind of exploitation. Mastership is leadership combined with exploitation. Two institutions are created for the purposes of mastership: the separation of classes and the large-scale ownership of land. These two form an indivisible whole. The large-scale ownership of land has no real economic meaning (because only then does it bring in income), except where there is a dependent laboring class which tills the land for the benefit of an owner who does not work himself. Conversely, a laboring class can only exist where the large estate as a legal form of land ownership exists to such an extent that it makes large areas of land unavailable for free settlement, so that there is a large landless [sic] population which is obliged to take service on the land of a master in order not to starve. The identity between land ownership and class superiority is reflected in language; in the states created by the conquest of Germanic tribes the nobility are called "Adel"; and "Adel" (Odal) means nothing else than large-scale land ownership. The whole process must be presented in terms of economics if it is to be properly understood. It is an act of satisfaction of economic needs on the part of the conquerors. They obtain control of the subject populations by precisely the same means and for precisely the same purpose as in earlier times, when they were predatory nomads, they forcibly seized the herds of cattle or horses of their neighbors in order to use them for their own benefit. Economy requires, however, that acquired property should be carefully administered so that it is not lost or spoiled. The human herd must be protected just as the herds of cattle which were carried off were protected from enemies who wished to seize them; and just as care was taken to maintain and if possible to improve the state of health and nutrition of the herd of cattle, so care must be taken that the human herd does not decrease in numbers or lose its working capacity. For this purpose the ruling class which has come into existence since the creation of the State must at once undertake two tasks: frontier defence and the maintenance of justice. The frontier has to be defended against other warlike and predatory tribes of the steppe or of the sea-board; justice has to be maintained in the face of any attempt at revolt by those who are now subjects, and not less in the face of excesses of other members of the ruling class itself which might diminish the productive capacity of the subjects. The State is thus a society divided into classes and possessing institutions for the defence of the frontier and the maintenance of justice; its form is mastership, its content exploitation. In other words, the State is the vehicle of exploitation and mastership.

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Sociology has up to the present almost always seen only one aspect of the historical State. It has only seen the State as the guardian of peace and justice. Indeed it is commonly assumed that peace and justice did not exist until the State came into being. This is a great error; the community which preceded the State defended its territory and the lives and property of its members to the utmost, and was exceedingly energetic in maintaining internal equality of rights. The State merely took over from the community these two tasks, which must be carried out if any kind of society is to exist at all. This misconception cherished by previous sociology is the cause of its idolatry of the State, taking the form of State-worship. Peace and justice are great benefits to society, and consequently it is assumed that the State, which is regarded not merely as the guardian of peace and justice, but as the only possible means by which they can be created, must be the greatest of all benefits. In reality, however, the State is nothing but one community living as a parasite upon another. The victorious group so to speak eats itself into the subject group just as Baron von Münchhausen^ wolf eats itself into the horse so that it finds itself in its harness and has to draw the sledge. Similarly the victorious group has to draw the vehicle of society as a whole by carrying out its most important functions. If it is permitted to anticipate a little, it may be said here that the most extreme social doctrine of the lower classes, which is anarchism, is based on the opposite misconception. It sees nothing in the State but mastership and exploitation, and does not see its function as the protector of peace and justice. It therefore desires to get rid of the State altogether, and, grossly overestimating the goodness of human nature, believes that peace and justice will then automatically establish and maintain themselves. This is also idolatry of the State, but the State is made into a devil instead of a god. The one theory is as untenable as the other. As soon as the State is created, sin comes into the world. For conquerors and conquered now form a single society, in which - largely under the influence of the defensive functions of the State a "we" consciousness rapidly comes into being. On the positive side this "we" consciousness embraces all the members of the State, the lower as well as the upper classes, while on the negative side it excludes all those who are not members of the State as "not-we". The two groups which constitute the State become amalgamated by intermarriage or by connections outside marriage, speak the same language, worship the same gods, and soon come to have a common tradition, built up largely out of the glorious victories which they have jointly won against foreign enemies; in short, they become what Mc Dougall calls a highly organized group. In a group of this kind, however, the spirit of comradeship ought to prevail; there should be peace, morality and natural justice - justice based on the innate sense of what is right; and justice means that all persons should be recognized as equal in dignity. This is not the demand of a philosopher remote from life who wants to arrange everything according to his own personal ideas; it is the demand of morality itself, which speaks clearly and unmistakably in every one of us as the voice of conscience. Man, trained into humanity in the prehuman [sic] horde, is a "social animal", as Aristotle said long ago. This means that he feels within himself the categorical imperative which commands each man to treat his comrades in his own group as his equals, to respect each man's personal dignity, and always to treat him as a free agent and never as the mere object of another's will. For this reason mastership and exploitation within any group that has a "we" consciousness is sin. That this is the case can be proved in two ways, even without venturing on to the heights of abstract philosophy. The first proof is the following: Let the proudest aristocrat, the greatest despiser [sic] of the lower classes, be thrown into a dungeon; let him be starved, ill-treated and insulted. He will not accept his fate with resignation as a mere misfortune or Art of God, but he will feel it with angry indignation as an injustice - thus achieving his own reductio ad absurdum. The second proof is that every ruling class has invented a special class theory of its own to justify the prevailing state of injustice, and to make it appear to itself as well as to the lower class as a state of justice. Thus the categorical imperative is recognized even while it is denied.

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The formula for this justification was given long ago by Plato: "Equality for equals, inequality for unequals." That is the sense of all the class theories of the ruling classes. Wherever it was, or still is, desired to justify the most extreme form of class system, namely, slavery, the view which always has been and still is advanced is that expressed by Aristotle: "The barbarians are slaves by nature and exist for the purpose of serving the nobler race of the Hellenes." It is more than probable that although they had never heard of Aristotle the planters of the Southern States of the United States said exactly the same of the negroes, and that all land-owning magnates have said the same of their serves and bondsmen. Even in the Edda we read that in the beginning of all things the gods created three races, the slender aristocratic fair-haired jarl, the sturdy peasant (carl) and the clumsy, stupid, flat-footed thrall (the born servant). All race theories are some such attempt to legitimize injustice. This also applies to the "popular" anti-Semitism of today. Just as according to the discoveries of modern folk-lore all national costumes and all folk-songs are nothing else than costumes formerly worn by the nobility and former courtly songs which have come down in the world, so the racial theories of the populace of today are nothing else but class theories of the nobility which have come down in the world and have greatly deteriorated in the process; the false pride of the mob, which believes itself to be naturally superior and more aristocratic on account of its socalled "Aryan" blood, just as formerly the noble believed himself superior on account of his "blue" blood. Although it is somewhat differently colored, the class theory of the bourgeoisie is at bottom the same. The bourgeoisie rises above the lower classes by means of its wealth, and thus, in the course of history, it comes into conflict first of all with the two ruling classes of the feudal State, the nobility and the clergy. After its victory it comes into conflict with the other members of what was formerly its own class who have not risen, i. e. the proletariat. Here again the watchword is "Equality for equals, inequality for unequals". In this case, however, the inequality is considered to reside not in race but in gifts. The virtues by means of which the merchant rises: industry, punctuality, sobriety, economy, are believed to result in a gradual differentiation of the originally uniform mass, first of all into strata differing from one another in the amount of their income and soon also in the amount of their property, which gradually crystallize into different social classes. This is the "law of original accumulation" which Karl Marx, in a famous passage of "Das Kapital", derides as an old wives' tale: "It plays approximately the same part in political economy that the Fall of Man plays in theology. Adam ate the apple, and so the human race became subject to sin (...) In long past ages there were on the one hand an industrious, intelligent and above all thrifty elite, and on the other hand good-for-nothings who were idle and squandered all that they had and more (...) Thus it happened that the former accumulated wealth, while the latter finally had nothing left to sell but their own skins. And from this Fall of Man dates the poverty of the masses, who still, however much they may work, have nothing to sell but themselves, and the wealth of the few, which continues to increase although they have long since ceased to work." This attempt at justification is just as unsound as the legitimist justification of the nobility. In the first place there is every reason to assume that the distribution of talent in human society is not essentially different from the distribution of those qualities such as physical development, muscular strength, acuteness of the senses etc. which can be directly measured. Intellectual differences unfortunately cannot be measured; but if they are to account for the difference in income and property between a Crassus and a Sicilian farm slave, or between a Rockefeller and an East-End proletarian, then the minds of men must differ from one another not merely as much as Gulliver from the midgets of Lilliputia or the Brobdingnagian giants, but as the Lilliputians from the Brobdingnagians. In the second place, even if such immense differences in mental gifts really existed, they could never have given rise to differences of income and property of real importance, and certainly not of sufficient importance to form classes, until all the arable land of the earth was so completely

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occupied by peasants cultivating small or medium-sized holdings that, as Jean-Jacques Rousseau puts it, all the holdings, each touching another, cover the whole land. This is an obviously true statement which is accepted by all authorities, whether bourgeois or socialist. The great Turgot said: "So long as the industrious man can still find land on which he can work independently, he will not be inclined to work for anyone else"; Adam Smith, the father of economic science, definitely lays it down that until the land is fully occupied there can be no working class, no ground rents and no profit on capital. Karl Marx expresses exactly the same view in the last chapter of the first volume of "Das Kapital": "So long as any settler can still transform a piece of land into his private property and his individual means of production, without preventing future settlers from carrying out the same operation", there is no class of wage-earners and consequently no capitalism. As a matter of fact, however, a working class and capitalism have existed for the last five hundred years. Consequently there is no more land freely available for men without means who need land. The only question is whether it was really occupied in the way presupposed by the "old wives' tale" in which Turgot and Adam Smith believed. Did one free peasant really settle next to another until all the holdings, each touching the other, covered the whole land? This question can be answered by a simple calculation. We know accurately how much land an independent peasant needs if he is not in a position to hire paid workers as farm hands; on an average he requires not more than one hectare per head, i. e. 5-7 hectares for the whole family, for the holding. If we divide the cultivable area of the earth by this figure, we find to our astonishment that the number of independent peasants who could live on the earth is from four to eight times (different geographers' estimates of the cultivable area of the earth differ very widely) the total population of the world. If we take one of the most densely populated countries in the world, e. g. Germany, we shall find that there is room for independent peasants with middle-sized holdings to a number equal to double that of the total rural population; and yet more than half of the rural population consists of landless [sic] agricultural proletarians, and even among the holders of land there are immense numbers who have only dwarf holdings or plots which do not provide them with a living, and who are obliged to supplement their income by means of paid work. Thus if the settlement of the earth or of a single large country had taken place in the way that Rousseau believed, then only one-quarter or perhaps one-eighth of the earth, and in a country such as Germany barely one-half, would be occupied; and the formation of a working class and the consequent accumulation of wealth in a few hands could not even begin for centuries or perhaps even for thousands of years, not withstanding any differences in individual talent, however great. The complete occupation of the land must therefore have taken place in some other way than Rousseau believed. There is only one other possibility: the masses must have been shut out from the land; it was monopolized by the conquering class under the legal form of the large estate in order to create a working class and to make large incomes and accumulations of wealth possible. It was said above that there can only be a working class where under the legal form of the large estate the land is made unavailable for free settlement to such an extent that there is a large surplus population which is compelled to work on the land of a master in order to avoid starvation. We have now proved this statement to be true. These considerations make the nature and the method of procedure of the modern State comprehensible. It has already been said that every State is the vehicle of mastership and exploitation. This also applies to the modern State. The form of exploitation which it both embodies and protects is capitalism. And capitalism is the direct consequence of the closing of access to the land. If this fact has not hitherto been realized, the chief reason is that capitalism has been far too narrowly conceived, both as regards its nature and as regards the time of its appearance. Bourgeois sociology, and still more bourgeois economics - which in this respect as in so many others is almost

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slavishly followed by socialist theory in general - centers round industry; it is hypnotized by what has taken place in the towns, and takes no account whatever of the development of affairs in the country - although it must surely be clear even to the casual observer that urban trade, commerce and industry are merely a secondary growth on the main stem of national economy, whose growth, prosperity and decay are closely bound up with the growth, prosperity and decay of the main stem, which represents the market for the products of urban industry. Starting from this erroneous standpoint, it is believed that historically capitalism begins with the development of the stock system and of the factory, and only attains its full development with the development of power-driven machinery in the towns. Capitalism is practically identified with the machine system. In reality, however, capitalism is much older and much more widespread. Capitalism exists wherever employers who can dispose of the labor of exploited proletarians supply goods to a market under a developed financial system. The exploited workers need not be free citizens. They may be slaves; thus it is customary to speak of the capitalistic slave-system of Greek and Roman antiquity. They may also be serves, bondsmen or an agricultural proletariat bound to the soil; and in actual fact modern capitalism everywhere began in the country as a system of exploitation of workers bound to the soil. Brodnitz, in his economic history of England, has conclusively shown this to be true in the case of England, the classic example of a capitalist country. In that country the workers enjoyed personal freedom from the Middle Ages onwards, but they did not enjoy freedom of movement because the parochial laws hindered free movement from the land, while the rules of the guilds and corporations made migration to the towns almost impossible. Thus agrarian capitalism, the supply of food to the urban markets, preceded industrial capitalism by hundreds of years; the latter only followed very slowly and hesitatingly, and did not really develop until a time when freedom of movement had been attained. What happened in Germany was precisely the same. Georg Friedrich Knapp has established that "the large estate east of the Elbe is the first capitalistic undertaking of modern times". In this case also the agricultural workers were tied to the soil, or were made so in the course of the process by open or legally veiled force. Here too agrarian capitalism came into existence centuries before industrial capitalism, and here too the latter only followed slowly and with hesitation, and did not fully develop until freedom of movement had been attained - in Germany by the emancipation laws of Stein and Hardenberg, in Austria-Hungary and Russia after the freeing of the serves. This is in outline the way in which capitalism and the modern State, which enshrines it, must be regarded in order to be properly understood. All previous attempts to explain capitalism have taken industry as their starting-point. They have sought the cause of the central phenomenon which accounts for everything else, namely the constant surplus of labor on the market, solely in the conditions of urban industry. All these attempts have failed, both the bourgeois explanation, the Malthusian law of population, and the socialist explanation, the replacement of human labor by machinery. Of the former there is no need to speak; it is now entirely abandoned, and it is in fact untenable. The second explanation is contrary to all the statistical data. The number of workers and employees engaged in industry and commerce in all capitalist countries increases at an enormously greater rate than the total population. If there were no influx from without, the average wage would in these circumstances have risen very much more than is actually the case. There is however always such an influx. It can come from nowhere else than the country. But it does not come to the same extent from all rural districts, but chiefly from those where there are large estates and those, therefore, are alone responsible for the surplus of labor on the market. This was established statistically by von der Goltz as early as 1874, and it can also be established deductively. The day laborers on the large estates are subject to the "law of increasing pressure from one direction", and this drives them to mass migration.

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In this way, and in this way only, the history of capitalism can be understood in all its phases. First of all there are the horrors of the early days of industrial capitalism throughout the world. Before freedom of movement had been achieved, industry developed very slowly; there were only few and small undertakings, and these employed only a small number of comparatively prosperous and well-paid workers. The moment that freedom of movement from the country became possible, a reservoir of misery which had been accumulating for ages suddenly poured itself out; for agrarian capitalism had forced the tied agricultural proletariat down to and even below the physiological minimum standard of living. The supply of labor thus created flooded the labor market, and the wages of the older working class were dragged down, while under the influence of low wages urban capitalism shot up as in a forcing-house. Migration, however, thinned out the rural proletariat, while at the same time the rapid growth of the towns led to an increased demand for foodstuffs. Consequently the price of foodstuffs rose, and agriculture was driven to adopt intensive methods. This meant not only the use of machinery, but also an increased demand for labor. This again resulted in a rise in wages. Higher wages in agriculture had to outbid the still-growing industries; this in itself resulted in a further rise of industrial wages, especially as the proportion between the inflowing agricultural proletarians and the industrial proletariat already established was constantly growing more favorable to the latter; where previously hundreds of thousands had flowed in on tens of thousands, now tens of thousands were flowing in on hundreds of thousands. The pressure on the labor market grew comparatively easier, even if the absolute number of rural workers migrating to the towns had remained the same; but as a matter of fact it decreased as soon the first rush of the dammed-up flood had ceased. This is the perfectly simple explanation of the appalling misery which accompanied industrial capitalism in the first decades of its existence, and the gradual improvement in the wages and living conditions of the workers in all countries in which the capitalist order has prevailed for any length of time. It is not trade unionism, as so many people suppose, which has brought this miracle to pass, but the proportional decrease in the influx of rural workers; and the result would have been better still if all these countries had not received a large stream of immigrants from foreign countries which were still industrially undeveloped, and where the large estate and consequently agrarian capitalism still prevailed. This contention is fully proved by the amazing development of capitalism in the United States, especially in the last ten years. There the wages and standard of living of the majority of the workers, those at all events who have acquired the language of the country and learnt to understand its social conditions, have risen to an extent that neither bourgeois nor Marxist theory can even begin to explain. Twenty years ago, in an essay entitled "What Russian agrarian reform means to us", I wrote as follows: "Here, in the feudal agrarian constitution of the Old World, reside, clearly recognizable, the roots of the serious evils from which the New World suffers. Freedom cannot prosper anywhere so long as slavery still exists anywhere else. For it is an infection which spreads across mountain and ocean. Suppose that as a result of Russian or rather of Eastern European agrarian reform mass immigration into the United States ceased even for a decade, what would become of American capitalism? The already high wages of urban and rural workers would rise enormously; the already colossal requirements of foodstuffs and industrial products on the home market would reach giddy heights; labor would become the rarest of commodities." This prophecy has been literally fulfilled. I have before me a book published in 1926 by Thomas Nixon Carver, Professor at Harvard University, entitled "The present economic Revolution in the United States". On p.VIII appears the following passage: "Notably, because of the stoppage of immigration by the war, followed by restrictive legislation, our wage workers have continued to earn a larger share in this prosperity than wage workers have ever gained." The author sees quite clearly that American capitalism, which in spite of his rosy optimism he cannot deny, is only to be explained by immigration:

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"For forty years preceding the Great War we were importing manual laborers, literally by the millions. We were not importing any very large number of employers or capitalists."1 This was the cause of the surplus on the labor market. But "during the last half-dozen years, since we have removed the disturbing factor, or greatly reduced it - that is, the importation of vast numbers of unskilled laborers, - we are gradually relieving the occupational congestion under which we suffered for at least two generations."2 The results produced are already extraordinary, even although the immigration over the Canadian and still more the Mexican frontier still brings in enormous numbers of workers who are not only unskilled and of different race, but quite illiterate and difficult if not impossible to adapt to the conditions of civilized life - who are in fact coolies or peons. This is paving the way for a new negro question. At the same time the workers who have been assimilated already enjoy a standard of living which might well be envied by even the upper middle classes of a country such as Germany. A mason employed on piece-work in New York earns as much as 14 dollars a day, or allowing 25 working days to the month, 1.500 marks a month. All the statistics show that the workers are not only able to put by something for a rainy day, but that they can actually accumulate a considerable capital. One workers' bank after another is instituted, and these banks are beginning to take an active part, to the benefit of the class for which they were created, in the financing of industry. Brady estimates the sum annually paid as wages to industrial workers in the United States at the present day at 25 milliards of dollars, and the amount of this saved annually at 6-7 milliard dollars. Even if this is a considerable over-estimate, the fact remains that if anything like these sums are flowing into the workers' banks, they will soon be in a position to control an increasingly large section of industry and to direct its wages and price policy in the interests of the workers. Even today it can be proved that in many of the largest and most influential undertakings a considerable proportion of the shares are in the hands of the workers and employees. Everyone will of course realize the dangers to which a development of this kind is exposed. Everyone knows that in certain circumstances, and in the hands of unscrupulous capitalists, the joint stock company is a very convenient arrangement for expropriating the small shareholder by the manipulation of the exchange market. This however is not the decisive factor in the matter under consideration. The decisive factor is that the workers should be in a position to accumulate such immense sums; if they suffer from setbacks, they will learn by experience where they can invest their savings safely and profitably. The best means for this purpose is certainly the institution of workers' banks with proper regulations and subject to the supervision of expert and reliable persons. The savings of European workers, which in their total represent a large body of capital, even though the separate items may be very small, have hitherto been invested in a way which so far from benefiting the workers, only serves to rivet their chains more firmly. The savings banks in which their scanty savings are placed have had no possibility open to them except short-term investments in bills of exchange and long-term investments in mortgages, principally on urban real estate. Thus they have increased the capital of financiers and contributed to the strength of the worst enemy of the working classes - speculation and profiteering in land. To return to the United States and Prof. Carver, it is quite clear that American opinion has as yet no inkling that the large estate is the ultimate cause of all the evils which formerly existed, and which, in spite of the improvement which has taken place, still persist. Carver dismisses in a few words the enormously important fact that in the last two hundred years the State has made a present of the immense treasure of the national land to itself, i. e. to its upper classes, in order to shut

1 Carver, The present economic Revolution in the United States, [ohne Ort und Jahr], S. 37. 2 Ebenda, S. 45f.

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the lower classes out from it and thus to create the working class which was required. In my "System der Soziologie" 1 1 have described this deplorable practice, which has prevailed not only in America but in all European colonies. This is the real reason why for a whole generation an excessive proportion of the European immigrants have remained in the large towns, and this although most of the immigrants were agricultural workers. And when did these immigrants come? Almost entirely from the European region of large estates, first from Germany east of the Elbe and Ireland, from England, and then from Poland, Russia, Rumania, Sweden, Southern Italy etc. The peasant countries of Europe only contributed a few small tributaries to the immense stream, only a small percentage of the total number. And what is the position in Mexico? Mexico is a land of the most enormous estates, where the land is enclosed to an unprecedented extent. The consequence is that in spite of its immense size and extremely scanty population its people are forced to emigrate because the way to a livelihood at home is blocked. A further consequence is that the peons are "animals without souls", like the agricultural workers in all countries where the large estate prevails. The words of Isaiah apply to Mexico: "Woe unto them that join house to house, that lay field to field, till there be no place, that they may be placed alone in the midst of the earth!" With this the chain of proof may be said to be complete. It has be said that the State, that creature of forcible conquest, that parasite on the body of the community, created two institutions as soon as it came into existence: the division of classes and the large estate. The division of classes has been destroyed by the great revolutions of 1649 in England, of 1789 in France, of 1848 in Germany, and of 1917 in Russia; the large estate has up to the present only been radically abolished in Russia. In the latter country the revolution was however bound up with activities which were not only entirely superfluous but exceedingly destructive, and that is the only reason why this region, which is equal to the United States in natural resources, is unable to achieve prosperity. The other nations still have before them the task of uprooting from their midst this last remaining creation of primitive violence, of completing the work of the middle class revolution, and thus of bringing into the world real freedom, which can never exist where, as Rousseau puts it, "some are rich enough to be able to buy many, and many so poor that they have to sell themselves." We have now ascertained the nature and the future of the modern State. It is in reality the vehicle of capitalism; but we have learnt from the history of its development that capitalism is neither quite so good nor quite so bad as is still almost universally believed in Europe. It too is a mixture of kratos and ethos. And so the capitalist State does not deserve to be made into an idol, either good or bad; it deserves neither apotheosis, nor, if a word may be coined, "apodiabolosis". It is the bastard offspring of slavery and freedom; and the great task before us is to get rid of the remaining traces of slavery and bring full freedom into being. Our descendants will then live under an order which will still be a State in so far as it possesses fixed laws and institutions with the duty and power of enforcing them, but yet will not be a State because it will not, like all previous States known to history, represent mastership and exploitation.

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Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. ΙΠ, Jena 1922-1929, S. 540ff.

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[1930]1

Wir leben in einer Zeit der schwersten Krisis, einer Krisis von so großer Gefährlichkeit, wie sie die Weltgeschichte nicht mehr gesehen hat, seit das gewaltige römische Kaiserreich in seinen Grundfesten wankte, um zuletzt in einen ungeheueren Trümmerhaufen zusammenzustürzen. Im Inneren der Staaten spannen sich die unterirdischen Kräfte immer drohender; es grollt und donnert in den Tiefen, und es ist nicht unmöglich, daß der soziale Vulkan sich in Ausbrüchen entladen wird, von denen vielleicht alles in die Luft geblasen wird, was wir Europas Reichtum und, mit einem allzu stolzen Ausdruck, Europas Kultur nennen. Und nicht minder drohend haben sich die internationalen Verhältnisse gestaltet. Trotz Völkerbund und Kellogg-Pakt sind wir keineswegs sicher vor einem neuen, noch grauenhafteren Zusammenstoß der in Waffen klirrenden Mächte, vor einem Massenmord und einer Massenzerstörung, zu denen sich die des letzten Krieges verhalten werden wie eine leicht hingeworfene Skizze zu dem voll ausgeführten Großgemälde. Hier walten sich elementare Kräfte aus, entbunden im sozialen Prozeß, viel stärker und ungleich gefährlicher als alle die Elementargewalten, die in Erdbeben, Sturmfluten, Feuersbrünsten und Volksseuchen sich auswirken. Denn „nichts ist gewaltiger als der Mensch". Gewaltig in seinen Leidenschaften, gewaltig in seinen Irrtümern. Aber, zum Glück auch gewaltig in seinem Geiste. Der ist uns gegeben, um die Elementargewalt in unseren Dienst zu zwingen. Mit seiner Hilfe haben wir die vier Elemente unterjocht, Land, Wasser, Feuer und Luft, haben uns im Dampf und der Elektrizität jene riesenstarken Sklaven geschaffen, von denen das orientalische Märchen träumt. Aber was wir auf diese Weise geschaffen haben, ist nur Zivilisation. Jetzt ist es unsere letzte, höchste und schwerste Aufgabe, auch jene stärkste und gefährlichste Elementarkraft zu bändigen, die im Zusammenleben der Menschen entsteht; und damit erst wird Kultur beginnen. Nur der menschliche Geist kann diese Aufgabe lösen, der menschliche Geist in seiner feinsten Ausgestaltung als Wissenschaft. Sie hat bis an die Wurzel der Übel hinabzugraben, die uns mit Tod und Vernichtung bedrohen, und dann heißt es auch hier: „Erkenne, um zu heilen". Der Mensch handelt aus Gründen zu Zwecken. Die Gründe müssen auf Irrtümern beruhen, die Ziele müssen falsch gesteckt sein. Es ist Aufgabe der Wissenschaft, die Irrtümer aufzuklären und die rechten Ziele zu weisen. Nichts ist so praktisch wie die Theorie·, das ist das Kernwort, das ich seit Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit rastlos wiederhole. „Savoir pour prevoir, prevoir pour prevenir", erkennen, um vorauszusehen, vorauszusehen, um vorzubeugen, so hat schon August Comte die Aufgabe der Wissenschaft vom sozialen Prozeß, der Soziologie, bestimmt. Und ist damit nur den Spuren eines Größeren gefolgt, unseres unsterblichen Kant, der jenes bitterspöttische Wort geprägt hat, von der „pöbelhaften Berufung auf vergeblich widerstreitende Erfahrung". Seit ich wissenschaftlich zu denken und zu arbeiten angefangen habe, habe ich mit einem Instinkt, den nichts beirren konnte, gegen jene Irrtümer gekämpft, gegen die wirtschaftliche und die politische Theorie des Kapitalismus und den Marxismus. Der Marxismus ist kaum mehr als das

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[Erstmals erschienen als eigenständige Publikation im Philo Verlag, Berlin 1930; A.d.R.]

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photographische Negativ der kapitalistischen Theorie; er setzt nur schwarz, wo jene weiß, und weiß, wo jene schwarz malt, er legt den Wert dorthin, wo diese den Unwert, und den Unwert, wo diese den Wert setzt. Und auch die kapitalistische Theorie ist im Grunde nur eine einzige: eine ebenso krasse wie gefährliche Uberhebung, die sich wirtschaftlich nach innen hin gegen die Arbeiterschaft, und politisch nach außen hin gegen die fremden Staaten und Gruppen richtet. Nur von dieser letzteren soll heute die Rede sein, vom Nationalismus, in seiner besonderen Ausgestaltung als Rassenlehre. Ein Wort der Verwahrung zuvor. Die Leutchen, mit denen wir uns hier auseinanderzusetzen haben, machen den Unterschied nicht, den wir zu machen und sorgfältig festzuhalten haben, den zwischen dem guten Nationalgefühl und dem bösen Nationalismus. Solange wir uns nur der Tatsache erfreuen, daß wir Deutsche und daß wir Juden sind, solange ist alles in schönster Ordnung. Jedes Volk und jede Gruppe hat zu dem heutigen Reichtum der Menschheit beigetragen und hat ein Recht, dessen mit Stolz zu gedenken. Aber die Sache kommt sofort in Unordnung, wenn sich dieser Stolz angreiferisch gegen andere Völker und Gruppen wendet, wenn er, um mit Lessings Nathan zu sprechen, sich „vermißt, ein Wipfelchen zu sein, das allein dem Boden nicht entsprossen ist". Das ist jene Uberhebung, die sich nach außen richtet, gerade so wie sie sich innen gegen die Arbeiterschaft richtet; das ist die Hybris, der Frevel, der in der antiken Tragödie zuletzt die Vernichtung des Helden herbeiführt. Der böse Nationalismus, der Rassenfimmel, ist eine spezifische Angelegenheit des Bürgertums, und ich habe deshalb vorgeschlagen, ihn als den „Adelsdünkel der Rotüre" zu bezeichnen. Der Adel ist immer international; sein Eheverband und Gesellschaftsverband reichen über alle politischen Grenzen hinaus. Aber das Bürgertum jedes Landes steht dem jedes anderen Landes in Kampfstellung gegenüber; es ist der Streit um die Weltmärkte, der sich hier auswirkt, und er rechtfertigt sich durch die Einbildung, man sei von besserer Rasse als die anderen, gerade so, wie der Adel sich einbildet, von besserem Blute zu sein. Beide Einbildungen sind gleich unsinnig; was den Adel anlangt, so ist nichts gewisser, als daß er zu wenigstens 99% aus den untersten Schichten der Völker emporgestiegen ist; und die Bürger aller Länder des europäisch-amerikanischen Kulturkreises sind ganz bestimmt aus den gleichen rassischen Elementen, und zwar zu ungefähr den gleichen Teilen gemischt. Aber die Einbildung besteht nun einmal auf allen Seiten der politischen Grenzen, besteht als Waffe im politischen Kampfe, und jede Einbildung solcher Art versucht, sich wissenschaftlich zu unterbauen, sich zu legitimieren. Selbstverständlich kann es sich nur um eine Pseudo-Wissenschaft, sozusagen um eine Mimikry der Wissenschaft handeln: denn Wissenschaft kann nur wahre Vorstellungen wirklich rechtfertigen. Im folgenden soll versucht werden, den Knäuel von MißVorstellungen einigermaßen zu entwirren, den diese heute so einflußreiche angebliche Wissenschaft von der Rasse darstellt.1 Die erste Mißvorstellung ist die der Gleichsetzung von Sprachgruppe und Rassengruppe. Die Sprache beweist nicht das mindeste für den russischen Zusammenhang. Alle heutigen Völker sind, das wissen wir mit Bestimmtheit, aus den verschiedensten Elementen gemischt, die ursprünglich den verschiedensten Sprachgruppen angehörten. In Deutschland ζ. B. fanden die keltische und später die römische Eroberung im ganzen Süden und Westen des Landes seßhafte Elemente unbekannter, vielleicht finnischer oder ligurischer Rasse vor, die bestimmt weder keltisch noch lateinisch sprachen. Im Norden sitzen neben den von jeher germanisch sprechenden Volksteilen massenhaft germanisierte Slawen; eingesprengt sind die ehemals semitischredenden Juden und zahlrei-

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In meinem letzten Buche „Rom und die Germanen", Bd. IV meines „System der Soziologie" [Jena 1922-1929; A.d.R.] findet sich eine sehr ausführliche Darstellung und Kritik der verschiedenen Rassentheorien, auf die der näher interessierte Leser verwiesen sein mag.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

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che Elemente, die der Sklavenhandel von der Römerzeit an ins Land gebracht hat, Nordafrikaner, Syrer usw. Und das ist in allen anderen Ländern genau ebenso. Bei diesem Verschmelzungsprozeß der Völker und der Sprachen ist ebenso oft die Sprache der Eroberer verschwunden wie die der Unterworfenen; so ζ. B. ist die Sprache der Langobarden, des einzigen deutschen Volkes, das sein Reich aufgrund wirklicher Eroberung auf Römerboden für längere Zeit errichten konnte, in wenigen Jahrhunderten vollkommen verschwunden, und diese Germanen romanischer Zunge bilden die Kerngruppe des Mussolinischen Faszismus1, der im Namen der „lateinischen Rasse" heute die Deutschen Südtirols ihrer Sprache zu berauben versucht. Wenn die Sprache entschiede, so wären die Neger Nordamerikas rassenechte Angelsachsen, und wir deutschen Juden ebenso rassenechte Germanen. Ebenso sinnlos und gegenstandslos ist die Bemühung, die Rasseneitelkeit auf gewisse anatomische Eigenschaften des Wuchses und namentlich der Schädelform aufzustützen. Hier haben namentlich die Deutschen gesündigt, indem sie erstens nach der Schilderung des Tacitus von den hochgewachsenen Germanen das blonde oder rötliche Haar und die trutzigen blauen Augen als Kennzeichen ihrer Rasse in Anspruch nahmen, und zweitens sich, wie wir wissen, sehr zu unrecht, als die unvermischten Nachkommen dieser gewaltigen Krieger ausgaben. Die moderne Schädelforschung hat sich bemüht, ein weiteres anatomisches Kennzeichen dieser Rasse festzustellen; den langen, hohen und schmalen Schädel. Aber sehr viele auch der am wenigsten begabten und geachteten Völker sind gleichfalls von hohem Wuchs und langem Schädel, so ζ. B. die Kaffern. Und einer der größten Sprachforscher der Welt, der Oxforder Max Müller, hat spöttisch ausgesprochen: „Wer von einem indogermanischen Schädel spricht, ist für mich ein ebenso großer Sünder, wie ein Sprachforscher, der von einem langköpfigen Wörterbuch oder einer kurzköpfigen Grammatik spricht." Dazu kommt, daß die Körpergröße ganz sicherlich von der Ernährung abhängt: alle urtümlichen Jäger sind bis zur Zwergenhaftigkeit klein, fast alle Viehzüchter sehr groß; und ferner kommt dazu, daß der Schädel offenbar sehr plastisch ist. Schon dadurch, daß man neugeborene Kinder auf eine harte oder weiche Unterlage bettet, wird der Schädel in seinem „Index", dem Verhältnis von Breite und Länge, sehr beträchtlich verändert. Noch mehr wirkt die Ernährung, die Arbeitsart und vor allem der Beruf. Primitive Nahrung, die eine sehr starke Anspannung der Kaumuskulatur erfordert, macht den Schädel schmal und lang; das gleiche gilt von körperlicher Arbeit, besonders in gebückter Haltung; vor allem aber wird es immer klarer, daß geistige Arbeit den Schädel der Kurzform, ja der Rundform anzunähern strebt. Viele unserer größten Genies: Napoleon, Bismarck, Raffael waren kurzköpfig, Schiller war überkurzköpfig und Kant hatte einen fast kreisrunden Schädel. Der Germanist Kern schreibt, das wachsende Gehirn suche sich Platz, wo es könne, und finde den geringeren Widerstand offenbar in der Breiten-Richtung des Schädels. Unter diesen Erkenntnissen hat sich denn auch die soziologische Rassentheorie vielfach „umgruppieren" müssen, indem sie sich gleichzeitig den Fortschritten der naturwissenschaftlichen Forschimg einigermaßen anzupassen versuchte. Der erste, und gleichzeitig der geistvollste aller Rassentheoretiker, der Graf Gobineau, der noch ganz naiv Sprachgruppe und Rassengruppe zusammenwarf und von diesem Standpunkt aus die ewige Herrschaft der Germanen über die minderwertigen Kelten und Slawen proklamierte, lebte noch in der Zeit vor dem Siegeszuge der Entwicklungslehre, den Darwin vollendete. So war es ihm noch erlaubt, die Völker als dasjenige aufzufassen, was die Zoologie damals „gute Arten" nannte. Wie der liebe Gott bei der Schöpfung Wolf, Hund und Fuchs, Katze, Löwe und Tiger als Wesen eigener Art mit eigenen, immer wiederkehrenden, nie fehlenden Kennzeichen erschuf, so hat er auch den Germanen, den Kelten, den Slawen, den

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[Im Originaltext verwendet Oppenheimer den Begriff Faszismus statt dem später üblichen Terminus Faschismus; A . d . R . ]

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Perser und Afghanen in die Welt gesetzt, und als edelsten von allen den Germanen, der der König der Menschen etwa in demselben Sinne ist, wie der Löwe der König der Tiere. Sein ist die Herrschaft, die ganze Geschichte nichts anderes als die Unterwerfung der unedleren Rassen durch die edleren, und wehe der Welt, wenn die letzte und edelste von ihnen, eben die Germanen, an ihrer Herrschaft kämpfend stirbt oder sich durch Kreuzung mit den schlechteren Rassen bastardiert und entadelt. Diese Geschichtsklitterung hatte schon damals einen komischen Anstrich. Denn dieser erste aller Germanomanen war seiner Abstammung und seinem Aussehen nach ein typischer, südlicher Keltoromane, der Abkömmling einer großbürgerlichen Strumpfwirkerfamilie aus Südfrankreich, die in den Waldenserkriegen auf der katholischen Seite gestanden und Rang und Grundbesitz erworben hatte. Aber er wollte gern als reinblütiger Nachkomme eines der Germanenhäuptlinge gelten, die als kriegerische Eroberer Gallien unterworfen hatten. Das ganze Buch hatte im Grunde nur die eine Absicht, die französische Revolution von 1789, durch die die Adelsherrschaft in Frankreich gestürzt worden war, als einen „Sklavenaufstand" anzuprangern, der das Land zugrunde gerichtet habe. Wie gesagt, das war alles sehr komisch, wie dieser keltoromanische Strumpfwirkersprosse sich mit dem Stierhelm und dem Wikingerschwert Otar Jarls maskierte: aber die Auffassung war doch an sich damals noch erlaubt, war sozusagen zoologisch möglich. Seine Nachfolger hatten es nicht mehr so bequem. Denn inzwischen hatte Darwin gesiegt, und man wußte, daß es „gute Arten" in jenem alten Sinne nicht gibt. Wie Wolf, Fuchs und Hund einerseits, Katze, Löwe und Tiger andererseits von je einem gemeinsamen Stammvater abstammen, ja, wie jener Urhund Lind jene Urkatze auch wieder von einem einzigen Punkte der Tierreihe aus sich entwickelt haben, so gehören Kelte, Slawe und Germane einer und derselben Spielart der weißen Rasse an und haben etwas weiter rückwärts ganz den gleichen Ursprung wie die anderen Spielarten der weißen Rasse, wie nicht nur Romanen, Hellenen und Thraker, sondern auch wie Juden, Perser und Afghanen; und es ist zwar nicht vollkommen sicher, aber höchst wahrscheinlich, daß alle Menschenrassen, auch die Neger, die Mongolen, Indianer und Malaien von einer einzigen Anthropoiden-Art abstammen. So mußten denn die späteren Vertreter der Germanomanie, unter denen der Anglodeutsche Houston Stuart Chamberlain der geistreichste und gefährlichste ist, die Voraussetzungen fallen lassen, hielten aber an den Schlußfolgerungen wohlgemut fest. Hatte Gobineau noch den Begriff gehabt: „Rasse als Anfang und Dauerzustand", so wandelt sich jetzt der Begriff in den der „Rasse als Ende", als das Ergebnis eines langen Prozesses der Entwicklung durch die Zuchtwahl, die den Besten zum Uberdauern und zum Siege über alle anderen Rassen führt. Da man inzwischen aber auch gelernt hatte, daß weder die Sprache noch der anatomische Bau zuverlässige Rassenzeichen sind, und da man nicht leugnen konnte, daß schlechthin alle heutigen Völker aus allen möglichen Rassen und Sprachgruppen gemischt sind, so muß Chamberlain eingestehen, daß es kein einziges objektives Kennzeichen gibt, um irgendeinen Menschen einer bestimmten Rasse zuzuordnen. Und so muß er sich auf ein subjektives Kennzeichen stützen, auf dasjenige, was er „das Gefühl der Rasse im eigenen Busen" nennt. Damit ist der Bankrott dieser ganzen Geschichtsphilosophie offen erklärt. Denn nichts ist so trügerisch wie gerade dieses „Gefühl". Das geht schon daraus hervor, daß hier eine Einigung unmöglich ist, die doch sonst bei allen wissenschaftlichen Problemen erstrebt wird und wenigstens theoretisch denkbar ist. Niemals wird der Engländer dem Deutschen, oder der Deutsche dem Franzosen, oder der Japaner dem Chinesen, oder der Chinese den „roten Teufeln" des Westens in Bausch und Bogen, die Überzeugung beibringen können, daß ausgerechnet er ihm oder ihnen an wissenschaftlicher und künstlerischer Begabung, an angeborener staatsbildender Kraft, an kriegerischer Tugend und Sittlichkeit weit überlegen ist. Hier heißt es schlicht und grob: „Jedem Narren gefällt seine Kappe". Diese Überheblichkeit, diese Verachtung der Nachbarn, die übrigens der Bewohner von Oberschönhausen gerade so gegen den von Unterschönhausen, der Bayer gegen den Schwaben, der Süddeutsche gegen den Norddeutschen empfindet, dieser uralte Nachbarhaß ist gerade jene elementare Macht, die uns mit Tod und Verderben

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bedroht, und die der menschliche Geist die Aufgabe hat, in seinen Dienst zu zwingen; und es ist das Gegenteil von Wissenschaft, diesen Grundirrtum zur Methode zu machen, anstatt ihn zu bekämpfen. Auch diese „Kappen-Narrheit" hat Methode - aber sie ist auch danach! Was wir bis jetzt behandelt haben, ist die soziologische oder gescbichtsphilosophische Rassentheorie. Aber es gibt noch eine zweite: die naturwissenschaftliche. Diese ist an sich ein berechtigter und sogar sehr wichtiger Zweig der biologischen Wissenschaft. Solange sie in ihren Grenzen bleibt, ist nicht das mindeste dagegen einzuwenden. Aber manche ihrer Vertreter haben sich von den Rassemonomanen der verrückt gewordenen Soziologie das Gesetz vorschreiben lassen und versuchen, mit ihren Forschungsergebnissen jenen geschichts-philosophischen Nationalismus zu unterbauen und zu stützen. Sie sind es, die heute noch, trotz aller Enttäuschungen und Niederlagen, es immer wieder versuchen, anatomische Unterschiede namentlich des Schädels festzustellen, die als untrügliche Rassezeichen gelten sollen. Unter diesem Bemühen werden die früher sehr einfachen Methoden der Messung immer komplizierter und dabei anerkanntermaßen, wie sich auch von selbst versteht, immer unzuverlässiger. Irgend etwas erhebliches ist dabei nicht herausgekommen. Und zweitens versucht man jetzt, mit dem neuesten Verfahren, dem der Blutuntersuchung, dem Problem näherzukommen. Hier ist das Ergebnis noch nicht abzusehen, aber man darf heute schon voraussagen, daß es ausfallen möge wie immer: dennoch wird es irgendwie für die politischen Zwecke und Liebhabereien aller Gruppen zurechtgeknetet und zurechtgebogen werden. Das werden wir also in Ruhe abzuwarten haben. Was aber heute schon festgestellt werden kann und muß, ist die Tatsache, daß der Begriff der Rasse, wie ihn die Naturwissenschaftler gebrauchen, ein vollkommen anderer ist als derjenige, den die Pseudosoziologie gebraucht. Diese geht zurück auf die uralten Bemühungen, innerhalb der zoologischen Art „Mensch" gewisse Grenzlinien zu ziehen, gewisse Unterarten zu unterscheiden. Dabei wurde regelmäßig, was ich bitten muß festzuhalten, eine Mehrheit von körperlichen Kennzeichen zu einem Bilde zusammengefaßt. So ζ. B. heißt es bei Blumenbach vom Indianer, er habe rote Haut, straffes schwarzes Haar, etwas vorstehende Backenknochen und Adlernase; den Mongolen kennzeichnet die Kombination der Eigenschaften: gelbe Haut, hohe Jochbeine, geschlitzte Augen, spärlicher Bartwuchs usw. Auf ganz die gleiche Weise ist auch der soziologische Rassenbegriff gebildet worden, nur, was in diesem Zusammenhang überaus wichtig ist, in der Weise, daß man auch bestimmte Eigenschaften des Geistes und Willens mit aufgenommen hat. So ζ. B. ist das Rassenbild des Germanen zusammengesetzt aus den Kennzeichen: hoher Wuchs, langer Schädel, blondes Haar, helle Augen, kriegerische Tapferkeit, Edelmut usw. Hier spielt natürlich die persönliche Sympathie und Antipathie des betreffenden Autors eine sehr lustige Rolle. Gobineau erklärt den Germanen für den geborenen Katholiken, Chamberlain mit derselben Gewißheit für den geborenen Protestanten, und Eugen Dühring, ein so konsequenter Antisemit, daß er auch das Christentum als jüdische Erfindung völlig verwarf, erklärte ihn für den geborenen Antichristen. Die Auswahl zwischen diesen drei Narrenkappen steht jedem völlig frei. Das ist so ein kleines Beispiel für die Zuverlässigkeit der ganzen Methode. Jedenfalls handelt es sich hier, um es noch einmal ausdrücklich zu betonen, um die Kombination einer ganzen Reihe von Eigenschaften, die zusammen den Begriff einer Rasse im soziologischen Sinne ausmachen. Ganz anders aber ist der Rassenbegriff der neueren naturwissenschaftlichen Rassenforschung. Hier genügt ein einziges abweichendes Kennzeichen, und man spricht bereits von einer neuen Rasse. Um nur ein sehr charakteristisches Beispiel zu geben: man hat bisher zwölf sogenannte „Erbfaktoren" gefunden, von deren Kombination nichts anderes als bloß die Färbung der Kaninchen abhängt. Aus ihnen ließen sich theoretisch, wie der bedeutende Rassenforscher Baur sagt, nicht weniger als 2.306 verschiedene „Rassen" züchten. Wir erkennen ohne weiteres, daß dieser Begriff der Rasse außerordentlich viel klarer, aber auch außerordentlich viel bescheidener ist, als der pseudosoziologische, der nicht auf einer leicht feststellbaren Verschiedenheit, sondern auf einer ganzen Kombination von schwer oder gar nicht feststellbaren Verschiedenheiten aufstützt. Und wir

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können verstehen, welche greuliche Verwirrung herauskommen muß, wenn in irgendeiner Untersuchung diese beiden völlig verschiedenen Begriffe gleichgesetzt werden, was überaus häufig der Fall ist. Es wird interessant und für unseren Zweck förderlich sein, wenn ich in den kürzesten Worten die heutige naturwissenschaftliche Auffassung von der Rasse zusammenfasse. Sie ist die folgende: die Nachkommen sind ihren Eltern in der Regel sehr ähnlich, aber so gut wie niemals vollkommen gleich. Sie variieren. Und zwar unterscheidet man drei Arten von Variation. Die erste ist die sogenannte Mischänderung (Mixovariation). Sie beruht darauf, daß bei allen höheren Wesen zwei Eltern vorhanden sind, deren Keimsubstanzen sich in der verschiedensten Weise mischen. Die zweite ist die Erbänderung (Idiovariation). Hier treten bei den Nachkommen Eigenschaften auf, die in der Reihe der Aszendenten nicht nachgewiesen werden können. Man nennt sie auch Mutationen oder Sports. Sie sind erblich, d. h. gehen auf die Nachkommen über. Die dritte ist die Nebenänderung (Paravariation); sie beruht auf den Einflüssen der Umgebung und ist nicht erblich. Wenn ζ. B. von mehreren Jungen eines Wurfs, etwa von Schweinen, die eine Hälfte ausgezeichnet gepflegt und gefüttert, die andere Hälfte bei Hungerkost vernachlässigt wird, so werden die Tiere, wenn sie erwachsen sind, vollkommen verschieden aussehen. Kommen sie aber zur Fortpflanzung, so werden ihre Nachkommen einander wieder sehr ähnlich sein und sich entsprechend der Behandlung entwickeln, die ihnen zuteil wird. Hier ist also die Erbsubstanz nicht beteiligt. U m von diesen Erfahrungen mit Tieren und Pflanzen die Brücke zum Menschlichen zu schlagen, ist es zunächst notwendig, die Frage zu beantworten, ob auch die Erbsubstanz durch Einflüsse der Umgebung geändert werden kann oder nicht. Das unterliegt nun gar keiner Frage. Ganz abgesehen davon, daß das Problem bereits durch gewisse Versuche an Tieren, ζ. B. am Koloradokäfer, nach der positiven Seite hin entschieden ist, beweist die ganze Entwicklungsgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt, daß solche Einflüsse der Umwelt derart auf die Wesen einwirken können, daß ihre Erbsubstanz sich ändert und die neu erworbenen Eigenschaften den Nachkommen übermittelt. Nur auf diese Weise ist zu verstehen, daß ein ins Wasser gegangenes Säugetier, der Walfisch, die Form eines Fisches angenommen hat, daß aus Landtieren Fledermäuse und Vögel wurden, daß Maulwurf und Höhlenolm die ihnen nicht mehr notwendigen Augen einbüßten, und daß pflanzliche und tierische Parasiten gar alle Organe mit Ausnahme derjenigen der Anklammerung und Ernährung verloren. Es ist also wohl denkbar, daß die Einflüsse der Umgebung auch aus einer ursprünglich gleichartigen Menschengruppe zwei verschiedene „Rassen" machen könnten, die dann ihre erworbenen Eigenschaften weitervererben. Man könnte sich ζ. B. vorstellen, daß unter den Einflüssen des indischen Kastenwesens die oberste Kaste, die der Brahmanen, wohl ernährt, wohl behaust, in Selbstachtung auferzogen, geistig wohl ausgebildet, zu einer Erbrasse von überlegener Kraft und Schönheit geworden ist, während die Kaste der Paria, verhungert, verelendet, verachtet, aller Mittel der Bildung beraubt, sich zu einer erblichen Rasse von Häßlichkeit und Schwäche ausgebildet haben könnte. Aber wir brauchen diese Hypothese, gegen die die meisten Rassentheoretiker die heftigsten Einwendungen erheben werden, gar nicht, um zu zeigen, daß auch von ihrem eigenen Standpunkt aus die Verschiedenheit der sogenannten Rassen und sozialen Gruppen sich leicht genug erklären läßt. Man stelle sich vor, daß von jenem Wurf junger Schweine immer wieder die Nachkommen der begünstigten Exemplare in den günstigsten, die der benachteiligten immer wieder in den ungünstigsten Umständen aufwachsen: und man sieht ohne weiteres, daß hier in beiden Fällen Erbrassen vorgetäuscht werden, selbst wenn sie nicht bestehen. Nur die Probe könnte hier Klarheit bringen, ob die Nachkommen der oberen Schweinekaste bei schlechter Behandlung gerade so miserable Exemplare, und die Nachkommen der unteren Schweinekaste bei guter Behandlung gerade so edle Exemplare der Schweinenation werden, als stammten sie, die ersten von unedlen, die zweiten von

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edlen Eltern ab. Nur auf diese Weise würde sich herausstellen können, daß die scheinbare Erbrasse in Wirklichkeit gar keine ist. Es ist sehr merkwürdig, daß sich in der gesamten Literatur über den Gegenstand, so weit ich sie übersehe, auch nicht die geringste Andeutung davon findet, daß dieser überaus wichtige Gesichtspunkt jemals eingenommen worden ist. Und doch ist es einer der häufigsten Sätze der tierzüchterischen Erfahrung, auf die diese naturwissenschaftliche Rassenlehre sich immer beruft, daß „die halbe Rasse durchs Maul geht". Freilich finden wir hier auch die Lösung des Rätsels, warum unsere Erwägung niemals angestellt worden ist. Der Züchter hat nämlich kein Interesse daran, unedle Tiere zu züchten, die er nicht brauchen und verkaufen kann, und darum versteht es sich von selbst, daß er alle seine jungen Tiere gut füttert, behaust und behandelt. Aber die Weltgeschichte ist kein Züchter, und sie hat das Experiment unzählige Male angestellt und durch viele Jahrhunderte durchgeführt. Sie hat gewisse Gruppen der Völker in die günstigsten und andere in die ungünstigsten Verhältnisse versetzt und darin festgehalten. Ja, sie hat sogar durch Zuchtwahl der Schlechtesten, durch Aussiebimg und Ausjätung der Besten, der Ausbildung miserabler Erbrassen so viel wie möglich nachgeholfen, indem sie immer die edelsten Männer ausrottete, die eine Verbesserung der jammervollen sozialen Verhältnisse erstrebten; „die töricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten, ihr Schauen, ihr Gefühl dem Pöbel offenbarten, hat man von je gefoltert und verbrannt". Auf diese Weise sind überall Schein-Erbrassen entstanden, die sich sofort als die Wirkung fortgesetzter Nebenveränderungen enthüllten, als die Umwelt sich änderte. Das gilt für oben wie für unten. Ich sagte schon, daß der Adel überall zu wenigstens 99% aus der tiefsten Schicht der Untertanen sich emporgedient hat, und ich kann hinzufügen, daß es nur selten die rühmlicheren menschlichen Eigenschaften waren, die seinen Ahnen die Laufbahn erschlossen. Bestenfalls war es kriegerischer Mut: und der ist eine Eigenschaft, die sich durch Erziehung ausbilden läßt. Das wird bewiesen durch die Geschichte aller stehenden Heere, die aus ursprünglich unkriegerischen Bauern zusammengesetzt waren, vor allem durch die Mamelucken und die Impis der Zulu, die zum allergrößten Teile aus fortgeschleppten Knaben der unterworfenen, ganz unkriegerischen Völker bestanden. Die meisten Ahnen des heutigen Adels aber sind emporgekommen durch sehr unsaubere Dienste an den Höfen, durch Sklavenhandel, Wucher, Seeraub und Landraub im großen, durch Kriegslieferungen aufgrund guter Beziehungen, d. h. durch Bestechung und dergleichen. Der alte Volksadel aber ist sowohl in Rom wie in den Germanenstaaten überall so gut wie vollkommen ausgerottet worden. Und dennoch ist gerade der englische Hochadel, der ganz jungen bürgerlichen Ursprungs ist, ist aber auch unzweifelhaft der kontinentale Adel, gerade so wie übrigens auch die Oberklasse der Vereinigten Staaten, überwiegend in körperlicher Hinsicht eine erfreuliche, schlanke, feingliederige, energische und mutige Menschengruppe; auch hier ist die Rasse, um uns höflich auszudrücken, durch den Mund hereingekommen. Ein noch besseres Beispiel bildet die Bevölkerung des ostelbischen Deutschland. Zur Zeit der Stein-Hardenbergschen Gesetze bestand sie einheitlich aus den sogenannten „Gutsuntertanen" oder Leibeigenen. Jene Gesetze schieden sie in „die Landleute ohne Dienst" und die „Dienstleute ohne Land", wie Knapp sagt, und es war bestenfalls der Zufall, wohin der Einzelne geworfen wurde: in die neue Klasse der freien Bauern oder in die der landlosen Ackerproletarier. Bestenfalls! Denn auch hier wird sehr oft Liebedienerei und unwürdige Haltung gegenüber dem allmächtigen Herrn darüber entschieden haben, wer den Hof bekam und wer nicht. Der trotzige und freimütige Mann ging wohl in der Regel leer aus, aber der Knecht, der sich entschloß, ein Mädchen zu heiraten, das ihm ein Junkerkind mitbrachte, wurde belohnt. Darüber sind 120 Jahre vergangen, vier Generationen, d. h. die heutigen Landproletarier und die heutigen Bauern hatten die gleichen Urgroßväter. Und schauen aus und verhalten sich sittlich, als wären sie zwei völlig verschiedene Erbrassen. Der Bauer ist stärker, größer, schlanker und gesünder als der Knecht; er stellte zum deutschen Heere zweieinhalbmal soviel vollkräftige Rekruten als sein Vetter, der nur drei Viertel des Durchschnitts liefern

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konnte. Und was den Charakter anlangt, so sind sie verschieden an Wachheit, Energie, Tüchtigkeit und Sittlichkeit etwa wie der Neger vom Buren. Mir scheint, daß auch die europäischen Juden ein gutes Beispiel für diese Zusammenhänge darstellen. Ursprünglich sind sie sowenig von einer Rasse wie alle anderen geschichtlichen Völker. Die erste Urbevölkerung Palästinas, der wir begegnen, waren Menschen vom Mittelmeerschlage, wahrscheinlich nahe verwandt den Charri, die den Hauptstamm der Bewohner des Reiches der Hethiter und des benachbarten Reiches von Mitani bildeten. Aber wie hier uns sofort eine Herrenklasse iranisch-indischen Blutes und der gleichen Sprache entgegentritt, so finden wir solche Elemente schon früh auch in Palästina. Dann haben die ägyptischen Garnisonen gewiß reiche Spuren im Lande hinterlassen, und dann erst, sehr spät, erst im 14. Jahrhundert, finden wir mit den Söhnen Israel die ersten Semiten im Lande. All das hat sich schon vor der Königszeit gemischt. Dann traten in der großen Völkerwanderung gegen Ende des zwölften vorchristlichen Jahrhunderts die vielleicht nordischen, vielleicht pelasgischen Philister und die ihnen verbündeten Zakkari in die Mischung ein, später Assyrer, Meder, Perser, Griechen, Römer, von denen sich viele der jüdischen Religion anschlossen, die eine Zeitlang große Anziehungskraft hatte. Nach der Zerstreuimg ging die Mischung weiter. Wie unzählige Juden durch die Taufe ihrer Religion und ihrem Volkstum verloren gingen, so traten doch auch viele Heiden in die Gemeinschaft ein. Wir wissen aus dem Frankenreiche, daß auch vornehme Herren sich beschneiden ließen, daß zahlreiche Sklaven zu Juden wurden, um bei ihren Herren bleiben zu können, denen die Haltung christlicher Sklaven bald verboten wurde, und wir wissen, daß ein ganzes mächtiges Großreich, das der Chazaren an der Wolga, mit der Hauptstadt Itil, Religion und Priesterschaft von der jüdischen Kolonie in Babylonien bezog, weil der Khan auch hier der fremden Priester als seiner Kreaturen zur Domestikation seines wilden Volkes bedurfte, die Römer und Byzantiner aber allzu hohe Forderungen erhoben. So stellt unsere Gemeinschaft eine Mischung aus allen möglichen Sprach- und vielleicht Rassengruppen der weißen Rasse dar. Und ist dann fast zwei Jahrtausende hindurch eines der Probierkaninchen gewesen, an denen die Weltgeschichte ihre züchterischen Experimente angestellt hat, aber in etwas anderer Versuchsanordnung, als wir es soeben sahen. Freilich: die Behandlung blieb immer die gleiche, schlechte, die Ernährung und Behausung war miserabel, das soziale Milieu so schlimm wie nur möglich. Aber die Zuchtwahl wirkte hier in entgegengesetzter Richtung wie bei den anderen Völkern in bezug auf den Charakter. Sie schied, durch die Taufe, alles aus, was in allen den Jahrhunderten schwach und feig war, und ließ nur die in der Gruppe, die um ihrer Menschenwürde willen alles zu ertragen willens waren. Mag sie dabei auch solche Eigenschaften ausgebildet haben, die wir nicht sonderlich hoch schätzen, weil wir den schlauen Fuchs weniger bewundern als den starken Löwen, so können wir uns doch rühmen, der einzige wahre Adel der Geschichte zu sein, insofern wir nur edle Vorväter haben; wäre nur ein einziger von ihnen feig und schwach gewesen, so wären wir nicht mehr Juden. So ist denn eine Menschenspielart gezüchtet worden, die ganz ausschaut, als wäre sie eine Erbrasse, die es aber wahrscheinlich nicht ist, sondern nur eine Scheinrasse, deren Elemente durch so lange Zeit hindurch immer den gleichen Einflüssen der Umwelt unterworfen waren: Paravariation, nicht Idiovariation. Daß dem so ist, scheint mir sehr klar aus der erstaunlichen Verbesserung des leiblichen Typus hervorzugehen, die wir an der jungen Generation der Juden überall feststellen können. Sie werden größer, muskelstärker, gewandter und mutiger, und das würde noch mehr auffallen, wenn nicht auch sie zum Teil der Degeneration verfallen wären, die das ganze wohlhabende Bürgertum im Zeitalter des Kapitalismus auf den Hund zu bringen schien, bis der von England hergebrachte Sport ein wenig Einhalt gebot. Aber auch so ist es doch sehr merkwürdig, wie viele Sportleute allererster Klasse diese einst so verachtete kleine Gruppe stellt, viel mehr, als ihrer Verhältniszahl entspräche. Das ist dem Gruppenehrgeiz zuzuschreiben, der alle Kräfte spannt, um zu beweisen, daß man mindestens ebensogut ist wie die anderen; er hat die Hakoah in Wien zum ersten Fußballklub Europas gemacht, er hat so viele Turner, Leichtathleten und sogar Boxer

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Demokratie

zur höchsten Leistungsfähigkeit erzogen. Denken Sie an den Wunderschmied Breitbarth aus Polen, den stärksten Mann der Welt, an den „Finnen" Fuchs und den „deutschen" Läufer Kohn, an den deutschen Tennis-Champion, den Ostjuden Prenn, an den kühnen Bergsteiger Preuß, an den Turner Flatow und so viele andere, auch an die Halbjüdin, die beste Fechterin der Welt, Helene Mayer. Wenn ich versuchen soll, zum Schluß noch einiges über die Geschichte der menschlichen Rassen überhaupt und vor allem in Europa zu sagen, so muß ich vorausschicken, daß wir hier noch nirgend auf völlig festem Boden stehen. Wir sind ganz oder fast ganz auf die Wissenschaft des Spatens angewiesen, die Prähistorik. Aber viele Länder der Erde sind noch so gut wie unerforscht, und jeder neue Fund kann unsere Vorstellungen umwälzen. Unter diesem Vorbehalt sei gesagt, daß die meisten Forscher der Vorstellung zuneigen, daß alle Völker von einer einzigen zoologischen Art abstammen. Nur Klaatsch und einige andere glauben, daß der sogenannte Neandertaler, der „Tierschnauzenmensch" der ältesten Steinzeit, dem Gorilla näher verwandt sei, während die späteren Rassen dem Schimpansen oder Orang näher stünden. Da der Neandertaler später völlig verschwunden ist, ist die Frage soziologisch ohne Belang. Die ältesten Menschen gehörten dem Kulturkreise der primitiven Jäger an, der „Urkultur", wie Schmidt sie nennt, die über die ganze Erde hin gleichmäßig verbreitet war. Daraus entwickelten sich drei sogenannte „Primärkulturen": die der höheren Jäger oder Totemisten, der Hackbauern und der Viehzüchter. Nach den neuesten Forschungen, wie sie namentlich von Oswald Menghin in Wien vertreten werden, haben sich diese drei, an verschiedenen Stellen der Erde gleichzeitig entstandenen Kulturen schon sehr früh, schon vor dem Jahre 5000 vor Christus, in Nordeuropa gemischt; und er glaubt, daß es sich dabei auch um die Mischimg dreier verschiedener Rassen gehandelt hat. Daraus sei die nordische Rasse entstanden, die seit dem Neolithikum, der Zeit der polierten Steingeräte, in unveränderter körperlicher Beschaffenheit diese Länder bewohnt. Schon diese Nordrasse wäre also eine sekundäre, ursprünglich gemischte, aber durch die Umwelt und die Inzucht einheitlich gestaltete Rasse. Es scheint nun, daß diese nordische Rasse, die unter den Einflüssen des Klimas abgeblaßt und zur weißen Rasse geworden sein mag, später in drei verschiedene Sprachgruppen auseinanderfiel. Die Hypothese, die ich jetzt vortrage, will nichts mehr sein als eben eine Arbeitshypothese. Immerhin darf ich sagen, daß ich in langer Gedankenarbeit keine andere Möglichkeit gefunden habe, die bis jetzt bekannten Tatsachen in Zusammenhang zu bringen, und daß ganz unabhängig von mir Prof. Kern in Bonn zu fast übereinstimmenden Vorstellungen gelangt ist. Die erste Gruppe der weißen Rasse ist das Volk der sog. Megalithbauten, der Hünengräber, Ganggräber, Dolmen, Menhirs usw., die sich an den Küsten von fast ganz Europa, von der Ostsee an, und in Nordafrika, Palästina und sogar in Indien und Südamerika in charakteristischer Ausbildung und immer nur in einer Situation vorfinden, die ihre Errichtung durch ein Volk von Seefahrern zur Gewißheit macht. Sie haben ihre Ursitze offenbar auf denjenigen Teilen des europäischen Festlandes gehabt, die auch zur Zeit der größten Vereisung frei blieben, und hatten vor ihren Verwandten daher den doppelten Vorzug einer fruchtbareren Umgebung und der Berührung mit dem Meere, die überall das weltläufige Wesen von Kaufleuten erzeugt, die gleichzeitig Piraten sind. Sie müssen ihren Rassenverwandten aus diesen Gründen sehr bald in allen Dingen der Kultur weit überlegen gewesen sein. Zu diesen Seefahrern gehören wahrscheinlich die den Alten noch bekannten Völker der Iberer im Westen und der Pelasger im Osten des Mittelmeeres; ihre Sprache und Kultur scheint in grauester Urzeit ganz Europa beherrscht zu haben. Noch heute soll das Baskische, der letzte lebendige Rest des Iberischen, einigen kaukasischen Sprachen, vielleicht den letzten Resten des Pelasgischen, aufs nächste verwandt sein. Aber alle alten Reste dieser Sprachen sind uns heute noch unverständlich, vor allem das Etruskische, obgleich es in vielen Inschriften erhalten ist.

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Die zweite Sprachgruppe der weißen Rasse ist die der Indogermanen, die nicht, wie man früher annahm, aus Indien nach Europa gelangt, sondern irgendwo im Binnenlande, südlich des großen Eiszeitgletschers, vielleicht in Südrußland, zu ihrer Ausbildung gelangt ist, um sich dann mit dem Rückzüge des Gletschers nördlich bis an die allmählich freiwerdende See auszudehnen, während andere Teile sich ost- und südwärts ausdehnten und sich dabei sprachlich immer stärker differenzierten. Das Meer war ihnen anfänglich unbekannt; als sie sich bis dahin ausdehnten, haben sie überall das Kulturvolk der Megalithbauten dort vorgefunden, das sich an den Küsten entlang vorschob, und haben sich mit ihm vermischt. Auf diese Weise entstand, durch Vermischung der Megalithiker mit dem sogenannten Volke der Streitaxt, ζ. B. das Volk der Prä- oder Urgermanen. Daher kommt es, daß die germanischen Sprachen ungeheuer reich an Worten sind, die sich auf keine indogermanische Wurzel zurückführen lassen; etwa ein Drittel der Worte sind unbekannter Wurzel, und darunter befinden sich alle Worte für Seeschiffahrt und Fischerei. Bei dieser Vermischimg der Sprachen und Völker kam es auch zu dem bekannten Lautwechsel und der erstaunlichen Verarmung der germanischen Sprache an grammatischen Formen. Die dritte Sprachgruppe der weißen Rasse sind die Semiten, denen man neuerdings die afrikanischen Hamiten als ihre nächsten Verwandten, vielleicht Vettern, vielleicht gar Brüder, zugesellt. Die Herkunft der Semiten aus der arabischen Wüste ist heute aufgegeben; damit fällt, nebenbei gesagt, die ebenso kühne wie falsche Hypothese Werner Sombarts von dem „heißen WüstenWandervolk" der Juden, das zwischen die „naßkalten Wandervölker" Nordeuropas versprengt sei. Semiten, Indogermanen, Polynesier und Hamiten gehören, das ist heute unbestritten, einem einzigen Kulturkreise an. Kern sagt davon, daß die Einheitlichkeit dieser sogenannten jüngeren vaterrechtlichen Völker, „ihre Ubereinstimmung im Sagenbesitz, in der Weltanschauung, im Verfassungswesen sowie im sachlichen Kulturbesitz oft von geradezu überraschender Deutlichkeit ist". Daß auch die indogermanischen und die semitischen Sprachen nahe verwandt sind, wird seit langer Zeit von ausgezeichneten Linguisten behauptet, von anderen heftig bestritten, scheint sich aber doch immer mehr zu bestätigen. Wer die Wissenschaftler kennt, wird es nicht für unmöglich halten, daß manche Sprachforscher sich dieser Erkenntnis aus Gründen der Germanomanie verschließen. Aber schon aus der Tatsache des gleichen Kulturbesitzes geht mit Sicherheit hervor, daß, wie Kern sagt, „diese verwandten Völker in der Vorzeit einmal näher beieinander gewohnt haben als heute". Die Semiten werden südlich und östlich von den Indogermanen gewohnt haben. Es gibt gewisse Gründe, um anzunehmen, daß sie noch zu einer Zeit höhere Jäger waren, als die Indogermanen ihrer Mehrzahl nach bereits zum Hackbau gelangt waren. Sie bildeten sozusagen den ausschwärmenden Vortrab der weißen Rasse, hinter dem die Hauptmacht der langsam weitersiedelnden Bauern folgte. So gelangten sie südlich vom Kaukasus in das Land der zwei Ströme und in die arabische Wüste, nachdem sie mittlerweile durch Berührung mit den in Sibirien ausgebildeten Viehzüchtern zu sekundären Hirten geworden waren, wie auch der Vortrab der eigentlichen Indogermanen, die sogenannten Arier, d. h. die Perser, Inder und ihre nächsten Verwandten. Und ganz wie ihre Verwandten, haben sie überall die Urbewohner unterworfen und über ihnen ihre mächtigen Staaten gebildet, haben Reichtum geschaffen und Kultur entwickelt: eines der großen Herrenvölker der Geschichte. Aber auch sie haben überall nur eine schmale Herrenschicht über den Besiegten gebildet und haben sich in Mischung mit ihnen in Typus und Mentalität verändert. Aber damit habe ich die Grenze erreicht, wo die Soziologie die Feder der Geschichte übergeben muß.

Machtverhältnis [1931J

Inhalt: 1. Begriff; 2. Sozialpsychologische Wurzeln; 3. Führerschaft und Herrschaft; 4. Vorstaatliche Gemeinschaft und staatliche Gesellschaft; 5. Gewalt und Macht (Kampf- und Machtverhältnis); 6. Klassenmacht; 7. Klassenpsychologie; 8. Klassenverhältnis; 9. Internationale Machtverhältnisse; 10. Die Machthaber.

1.

Begriff

W i r wollen mit Max Weber den Begriff der Macht folgendermaßen definieren: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht." Wir wollen diesen Satz insofern sinngemäß einschränken, als wir das reine Gewaltverhältnis, in dem der Wille des einen nur durch äußere Gewalt oder durch pure Einschüchterung sich durchsetzt, nicht als eine „soziale Beziehung" betrachten. Macht ist also immer ein Verhältnis zwischen einem Machthaber und einem Machtunterworfenen. Sowohl jenes aktive wie dieses passive Element können entweder Individuen oder Gruppen sein.

2.

Sozialpsychologische Wurzeln

In jeder Gesellschaft, auch der tierischen, besteht in jedem Augenblick eine bestimmte Rangordnung, die in tierischen wie in primitiven menschlichen Gesellschaften sich ändert, wenn neue Mitglieder der Gruppe beitreten, die sich erst einzuordnen haben, und vor allem, wenn das hier dem Machtverhältnis zugrunde liegende Verhältnis der gegenseitigen Begabung an Körper und Geist sich durch das Altern der einen und durch das Reifen der anderen Mitglieder ändert. Dann findet eine Revision der Ordnung statt, die in der Regel durch Kämpfe festgestellt werden muß, dann aber bis zu neuer notwendiger Verschiebung gilt, d. h. von der Gruppe als einem Ganzen und von den einzelnen Mitgliedern anerkannt wird. Diese Einstellung zu immer neuem Gleichgewicht, zu im wesentlichen kampflosem Zustande der Gruppe vollzieht sich hauptsächlich unter der Wirkung zweier „sozialer Triebe", die einander entgegenwirken und in diesem Gegenspiel wie eine „List der Idee" das Gleichgewicht und die Harmonie der Gruppe herzustellen tendieren. Es sind dies die erst im sozialen Leben entstandenen, aus der Weiterentwicklung vorsozialer echter Instinkte erwachsenen Instinkte des Selbstgefühls und der Unterordnung. 2 Der erstere hat nach Vierkandt 3 zum Ziel, 1 2 3

[Dieser Artikel erschien erstmals in: Handwörterbuch der Soziologie, hrsg. von Alfred Vierkandt, Stuttgart 1931, S. 338-348; A.d.R.] Vgl. Artikel: Sozialpsychologie, Punkt 2 und 3; [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1928, S. 24.

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wertvoll zu sein und als wertvoll zu gelten, derart, daß primär beides als eins erlebt wird. „Träger des maßgebenden Werturteiles ist nämlich ursprünglich die Gruppe, deren Anerkennung oder Mißbilligung der Beurteilte nicht als ein äußeres Faktum, sondern als einen Teil seines eigenen Wesens empfindet." Diese Bestimmimg schließt mit Recht das Verhalten bloßer Ubergewalt aus, die nichts weiter will als über das Verhalten der anderen zu herrschen, dasjenige, was Vierkandt „äußere Macht" nennt. Das echte soziale Selbstgefühl will „innere Macht" : die Herrschaft über Seelen. Es will Wert durch Geltung, denn „wertvoll sein und für wertvoll gelten ist ursprünglich eins (...). Erst die Gruppe schafft und erhält oder vernichtet durch ihr Urteil die sittliche Existenz des einzelnen". So wenigstens ist es idealtypisch, und so ist es annähernd verwirklicht in primitiven Gruppen. Auf höherer oder vielmehr höchster Stufe weichen Gelten und Sein bei der autonomen Persönlichkeit auseinander, „die sich stolz-bescheiden die eigene Ehre gibt und wenig fragt, ob sie die Nachbarn lästern oder neiden" 1 . Von den Formen dieses Instinktes ist für uns am wichtigsten der Machttrieb („aktiver Machttrieb"). Macht wird begehrt, weil sie Geltung, Prestige, gibt, und ζ. B. Reichtum fast nur, weil er Macht verleiht. Der physische Genuß, den er gewährt, spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle. 2 Der zweite dieser sozialen Ordnungstriebe wird von Vierkandt folgendermaßen beschrieben: „Die wesentliche Wurzel des Gehorsams bildet ein angeborener Trieb zur Unterordnung. Er ist wohl zu unterscheiden von der Furcht, mit der er tatsächlich verbunden sein kann. Wesenhaft verknüpft ist er normal mit dem Instinkt des Selbstgefühls vermöge einer inneren Verbindung des Gehorchenden mit dem Gebietenden, die sich typisch bekundet als Nachahmung von innen heraus, d. h. als Wille, sich die verehrte Persönlichkeit zu eigen zu machen. Erregt wird er durch das Wertvolle." 3 Von dem rein durch äußere Macht erzwungenen Gehorsam unterscheidet sich dieser Gehorsam durch die „innere Hingabe mit ihrer Freudigkeit und Freiwilligkeit"; von Hemmung und Lähmung, wie sie bei der Furcht, der Schüchternheit und Verlegenheit auftreten, ist hier nicht die Rede, „vielmehr werden gerade alle Kräfte entfaltet. Die Abhängigkeit vom Führer (...) hat durchaus den Charakter der Förderung, Entfaltung und Steigerung (...) zwar sind alle Kräfte, die sich gegen den Führer richten könnten, gleichsam aufgehoben; die ganze Persönlichkeit ist polarisiert. Denn der Aufhebung der Kräfte steht gerade ihre volle Entfaltung nach der vom Führer selbst angestrebten Richtung gegenüber". Die begleitenden Affekte sind nicht wie beim Fluchtinstinkt die Furcht, sondern „je nachdem die Verehrung und bei voller Entfaltung die Liebe in jener besonderen Form, in der sie sich mit dem verehrenden Aufblick zu einem überlegenen verbindet". Daraus folgt, daß der „Pseudoinstinkt" der Nachahmung hier kräftig wirkt: der Führer wird zum Vorbild. Dieser ganze Komplex kann sich auch im Verhältnis des einzelnen zu seiner Gruppe oder einer Gruppe zu einer anderen einstellen. „Diese Nachahmung richtet sich also auf das Ganze der Person (bzw. Gruppe) als eine Einheit (...) die verehrte Person (Gruppe) waltet als Ganzes in der Seele des Verehrenden: eben damit bringt sie ihren Stil und ihre Formen in ihm (...) zur Geltung."

1 2 3

Vgl. über einzelne Typen des Triebes: Artikel: Sozialpsychologie, Punkt 2; [in: Handwörterbuch der Soziologie, S. 338-348; A.d.R.]. Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, Jena 1922-1929, S. 286. Vierkandt, Gesellschaftslehre, S. 37.

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Das Ergebnis ist unbedingte Folgsamkeit, „und zwar nicht im passiven Sinne des Sklavengehorsams, sondern im aktiven der eifervollen Hingabe. Der Untergeordnete (...) verliert seine Persönlichkeit, findet aber in der Gemeinschaft mit dem Überlegenen eine neue wieder, die er als seine geläuterte eigene empfindet (...). Das Wesen der sittlichen Freiheit fügt sich dem Gesagten gut ein: der Mensch erlebt seine Gebundenheit als innere Freiheit, weil sie die Entfaltung derjenigen Wesenszüge in ihm bedeutet, die er als seine wertvollsten empfindet (...) überall bedeutet das Eingehen auf den Willen des Überlegenen zugleich, daß man sich zu ihm erhebt: die Unterordnung bedeutet zugleich ein inneres Teilhaben an der Größe des Übergeordneten." So der reine Trieb; in der Wirklichkeit verbindet er sich in aller Regel mit dem Instinkt der Furcht und mit Erwägungen der Nützlichkeit: der Überlegene kann ebensowohl fördern wie schädigen. Diese Beimischungen sind um so stärker, je mehr äußere Macht mit der inneren Macht verbunden ist, sind also stärker in den Organisationen, die unter dem Prinzip der Herrschaft, als in denen, die unter dem Prinzip der Genossenschaft stehen. Davon sofort! Wie die beiden Triebe in ihrer Verbindung miteinander jedem einzelnen seine Stellung innerhalb der Gruppe anweisen, lehrt die Betrachtung schon jedes Hühnerhofes (die „Hackordnung"), aber auch jeder Schulklasse und jedes Vereins. Das neue Mitglied lernt, daß allzu viel Selbstgefühl gerade so zu Unannehmlichkeiten und Niederlagen führt wie allzu viel Demut: „Hochmut kommt vor dem Fall" und „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen", sagen die Sprichwörter. All das gilt grundsätzlich auch vom Verhältnis der Gruppen, auch der Staatsvölker, zueinander. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß ein siegreicher Staat leicht geneigt ist, sein kollektives Selbstgefühl zu übertreiben und dadurch die Erregung der Nachbarn weckt, die ihn wieder ducken.

3.

Führerschaft und Herrschaft

Macht ist empirisch mit zwei gesellschaftlichen Stellungen verknüpft, die idealtypisch auf das schärfste getrennt werden müssen, wenn sie auch praktisch in vielerlei Mischformen auftreten. Diese Stellungen heißen: Führerschaft und Herrschaft. Man erkennt den Gegensatz sofort, wenn man die Konträrbegriffe aufsucht: der Führerschaft steht die Gefolgschaft, der Herrschaft die Untertanenschaft oder Dienerschaft gegenüber. Wenn wir die von Tönnies vorgenommene Unterscheidung von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft"1 zugrunde legen, und als „Genossenschaft" die Gemeinschaft verstehen, insofern als sie handelt, dann gehört Führerschaft zur Genossenschaft, und Herrschaft zur Gesellschaft. Der idealtypisch rein gedachte Führer ist nichts anderes als der primus inter pares, denn die Genossenschaft ist ihrem Begriffe nach ein Verband von Gleichen, von „Personen gleicher Würde" (Nelson). Sie ist daher, wie Max Weber sagt, „autonom" und „autokephal". Das bedeutet, „daß nicht wie bei Heteronomie die Ordnung des Verbandes durch Außenstehende gesetzt wird, sondern durch Verbandsgenossen kraft dieser ihrer Qualität. (...) Und Autokephalie bedeutet, daß der Leiter und der Verbandsstab nach den eigenen Ordnungen des Verbandes, nicht, wie bei Heterokephalie, durch Außenstehende gestellt wird." 2 Der Führer ist also hier nur der Beamte der Genossen, von ihnen zu praktischen Zwecken berufen, und nur so lange beamtet, wie die praktische Notwendigkeit besteht, und er ist vor allem absetzbar,

1 2

Vgl. Artikel: Gemeinschaft und Gesellschaft, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921, S. 26.

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sobald er ihr Vertrauen nicht mehr genießt.1 Mit dieser Beschreibung ist der größere Teil der genau entgegengesetzten Attribute des genau entgegengesetzten Begriffs der Herrschaft bereits gegeben. Der idealtypisch rein gedachte Herr oder Herrscher ist nicht der primus inter pares, sondern der superior super inferioribus; der Verband ist heteronom und heterokephal; und vor allem, was sogar Max Weber nicht gesehen hat: das Herrschaftsverhältnis kennzeichnet begrifflich keine vorübergehende, sondern eine dauernde Beziehung. Der Hausvater und der Lehrer herrschen nicht2, sondern führen, obgleich auf sie die von Weber gegebene Definition des Begriffs Herrschaft zutrifft: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden." Dementsprechend ist die Beimengung äußerer Macht zur Herrschaft in aller Regel bedeutend größer als zur Führerschaft. Aber beide geben Macht. Macht ist ein neutraler, ein „amorpher" Begriff.

4.

Vorstaatliche Gemeinschaft und staatliche Gesellschaft

Man kann mit geringen Fehlern, idealtypisch ohne jeden Fehler, die vorstaatlichen Gruppen als Gemeinschaften betrachten, die unter Führerschaft stehen und die Staatsvölker als Gesellschaften, die unter Herrschaft stehen. Ich habe zeigen können3, daß sowohl in der „Urkultur" der primitiven Jäger (Pygmoiden) wie in den drei „Primärkulturen" der vaterrechtlichen höheren Jäger (Totemisten), der mutterrechtlichen Hackbauern und der Viehzüchter die Gemeinschaft fast im idealtypischen Sinne besteht, und die Gruppen daher nicht unter Herrschaft, sondern unter Führerschaft stehen. Das erste drückt sich aus in dem Verhalten der Erwachsenen untereinander, der Männer zu den Frauen, der Eltern zu den Kindern, und der älteren Geschwister zu den jüngeren; es wird übereinstimmend als selbst bei den wildesten Kannibalen erfreulich geschildert; die gleiche Würde der Person wird überall gewahrt, abgesehen natürlich von gelegentlichen Ausbrüchen der Leidenschaft, die aber alsbald von der Gruppe geahndet werden. Es zeigt sich ferner darin, daß die wirtschaftliche Gleichheit durchaus erhalten bleibt; die öffentliche Meinung zwingt den Glücklicheren unwiderstehlich, Bedürftigeren abzugeben: ein Stück von „Liebeskommunismus". Und über dieser Gemeinschaft steht, solange nur intrasoziale, innergruppliche Beziehungen wirksam sind, niemals die Herrschaft, sondern immer die Führerschaft. Die Stellung der Häuptlinge ist überaus von geringer Machtvollkommenheit, ein Amt das mit der Würde eine oft schwerere Bürde, und keineswegs höheren Rang und Reichtum verleiht. Nur während des Krieges hat der Kriegshäuptling absolute Macht, aber kraft des Willens der Gefolgschaft, weil hier die Notwendigkeit straffster Disziplin einleuchtet. Einen „Adel" gibt es nirgend in dem späteren Sinne des Wortes. Es gibt nur einzelne Familien, in denen sich, wenn geeignete Vertreter vorhanden sind, gewisse Ämter fortpflanzen, und zwar aus dem Grunde, weil die Gunst der Götter ihnen bisher gnädig war und weiter zu sein verspricht. Aber sie ragen kaum durch ihre Würde, und gar nicht durch Rang und Reichtum über die anderen hinaus, die sich ihnen als völlig gleich geordnet betrachten. Das alles gilt sogar von einem so kriegerischen Raubstamm wie den Masai.4

1 2 3 4

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 370f.; vgl. auch den Artikel: Genossenschaftliche Gesellschaftsform, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29, 123. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. IV, Ethnologische Grundlegung. Vgl. Artikel: Genossenschaftliche Gesellschaftsform der Naturvölker, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.].

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Aus rein innergrupplichen, „endogenen" (Vierkandt) Ursachen kann niemals Gemeinschaft in Gesellschaft, Führerschaft in Herrschaft umschlagen. Die Annahme, daß dies möglich sei, ist der Springpunkt der wichtigsten soziologischen Irrtümer. Die „bürgerliche" Wissenschaft behauptet, daß die Differenzierung der Klassen und damit die Ausbildung der Herrschaft sich notwendig überall vollziehen müsse dank den angeborenen Unterschieden der wirtschaftlichen Begabung: „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation." Die Starken, Klugen, Nüchternen, Sparsamen kämen zu höherem Einkommen und allmählich zu Vermögen, während die Schwachen, Törichten, Verschwenderischen arm blieben oder noch ärmer würden. Diese Auffassung überschätzt zunächst einmal die Größe der Begabungsunterschiede in grotesker Weise. Adam Smith sagt einmal ungefähr, von Natur aus sei zwischen einem Philosophen und einem Sackträger ein geringerer Unterschied als zwischen einem Schäferhund und einem Bulldogg. Um aber die bestehende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen zu erklären, müßten die Menschen an Begabung voneinander so verschieden sein, wie die Däumlinge von Liliput von den Giganten Brobdingnags. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die wirtschaftliche Begabung größere Verschiedenheit aufweise als die des Körpers und des Willens, die wir objektiv messen können. Wäre sie aber auch unendlich viel größer, so ist doch ein evidenter Satz, über den alle Autoritäten übereinstimmen, daß nicht eher Klassenverschiedenheiten eintreten können, als wenn kein Land mehr der Besiedlung frei zugänglich ist. Unter der Voraussetzung ursprünglicher Gleichheit und rein endogener Wirkungskräfte hätte diese Vollbesetzung des Landes sich durch nichts als Mittelbauern vollziehen müssen, „indem eine Hufe sich an die andere legte, bis sie das ganze Land bedeckten" (Rousseau). Unter dieser Voraussetzung aber wäre heute noch überall der größte Teil des Landes für neue Siedler verfügbar: und um so viel mehr versagt die bürgerliche Erklärung gegenüber den Zuständen der Vorzeit, wo trotz unendlich viel dünnerer Bevölkerung der Erde sich doch schon sofort beim Aufgang der Geschichte die größten Klassenverschiedenheiten finden: ein großgrundbesitzender Adel oben, eine rechtlose Bevölkerung von Sklaven oder Hörigen unten. Ebensowenig läßt sich die Entstehung der Klassen endogen durch Anwendung von Gewalt ableiten. Das würde voraussetzen entweder, daß einer stärker ist als viele, was eine absurde Vorstellung ist, oder, daß eine siegreich heimkehrende Schar von Jungkriegern ihrem charismatischen Häuptling dazu behilflich ist, die eigenen Eltern und Geschwister ihrer Rechte zu berauben, was ebenso absurd ist: „Alles was in der Gruppe Kraft hat, die Blutsliebe und die religiöse Uberlieferung mit ihrem ungeheuren Einfluß würde sich gegen eine solche Usurpation empören müssen."1 Alle Herrschaft führt ursprünglich auf exogene Ursachen zurück. Ihr erster Keim findet sich in derjenigen Form der Sklaverei, in welcher der unterworfene Mensch wirtschaftlich ausgenutzt wird, und das ist nur bei den höheren Fischern und vor allem bei den Viehzüchtern der Fall. Mit dem Eintritt von Arbeitsknechten in die Gruppe ist die Gemeinschaft gesprengt, verschwindet der genossenschaftliche Geist, und beginnt die Differenzierung der Vermögen und Einkommen nach dem von mir zuerst beschriebenen, dem bürgerlichen „Gesetz der ursprünglichen Akkumulation" scharf entgegengesetzten und ihm zu substituierenden „Gesetz der Agglomeration um vorhandene Vermögenskerne"! Ich habe zeigen können, daß diese Differenzierung erst mit dem Eintritt von Sklaven in die Gemeinschaft beginnt und mit ihrer Zahl und dem Grade ihrer Ausbeutung wächst. Besonders charakteristisch zeigen das Gesetz die drei großen Völker des afrikanischen Nordosthorns, die Galla, Somali und Danaquil. In gleichem Schritt mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung (die aber aus politischen Wurzeln erwächst) verdrängt Herrschaft immer mehr Führerschaft, mengt sich dieser immer mehr äußere Macht bei.

1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 243ff.

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Ihre volle Höhe erreicht diese Entwicklung erst im Staate1. Herrschaft in ihrer höchsten Gipfelung, als Alleinherrschaft, kann nur dort entstehen, wo der Herrschbegierige innerhalb seiner Gesellschaft eine Gruppe gegen die andere ausspielen kann. Solche Gruppenbildung ist aber innerhalb der Gemeinschaft weder, wie wir zeigten, empirisch beobachtet, noch theoretisch möglich. Sie ist in einem für die Zwecke der Alleinherrschaft ausreichenden Maße erst im Staate möglich: und der Staat ist durchaus die Schöpfung exogener Gewalt. Darüber sind sich alle Ethnologen von Rang einig, und nur sie sind in dieser Frage kompetent. Der Historiker kann mit seinen Mitteln niemals bis auf die Ursprünge des Staates zurückgelangen, denn alle Geschichte ist bereits Geschichte von Staaten, alle „Urkunden" sind bereits Staatsurkunden. Der Staat entsteht im „Zeitalter der Wanderung und Eroberung" (W. Wundt) dadurch, daß wandernde Stämme Stämme von Hackbauern kriegerisch unterwerfen und sich als echter „Adel", als herrschende, vorberechtigte Großgrundeigentümer über sie setzen. Die Eroberer sind in der Alten Welt zunächst die von mir sogenannten „primären Hirten", dann aber auch die „sekundären Hirten", nämlich Völker von Hackbauern, die durch den Anprall der ersteren erschüttert, an ihnen militärisch gebildet und zur gleichen Mentalität gelangt sind.2 Der zunächst einzige Zweck des Staates besteht darin, die Unterworfenen so hoch zu besteuern, wie es auf die Dauer möglich ist, um der Herrenklasse ein Herreneinkommen zu leisten. Erst im Dienste dieses Zweckes übernimmt die Herrengruppe sekundär die wichtigen Aufgaben der von ihr besiegten Gemeinschaft: den Rechts- und Grenzschutz. War die Differenzierung in Vermögens- und Rangklassen bei den sklavenhaltenden Hirten bereits in geringem Maße entwikkelt, so erlangt sie im Staate mit einem Schlage ungleich größeres Ausmaß und, verwurzelt im Großgrundbesitz, vor allem ungleich größere Dauer. Und damit sind nun auch die Bedingungen gegeben, die ein herrschbegieriger Führer braucht, um zur Alleinherrschaft zu gelangen: er kann sich auf die entrechtete Untergruppe stützen, um mit ihrer Hilfe auch über die eigene Gruppe die Macht zu gewinnen. In der Tat zeigt denn auch die Geschichte aller primitiveren Staaten einerseits die Ausrottung des alten „Adels" der Gau- und Geschlechtshäupter, andrerseits den Aufstieg eines neuen, im eigentlichen Sinne so zu nennenden Adels aus den Beamten und Offizieren des Herrschers. Die Dinge sind in ihrer historischen Verflechtung aus dem Grunde etwas schwierig zu durchschauen, weil ursprünglich es eine Gemeinschaft ist, die eine andere beherrscht, und weil der König zunächst innerhalb der Herrengruppe nur erst Führer, gegenüber der Untertanengruppe aber schon Herrscher ist. Auf die Weise allein entsteht mit der Herrschaft Klassenmacht als ein Verhältnis zwischen einer bevorrechteten und einer minderberechtigten Klasse.

5.

Gewalt und Macht (Kampf- und Machtverhältnis)

Pure Gewalt und Einschüchterung begründen noch keine soziale Beziehung. Das Verhältnis ist „wie das des Tischlers zu seiner Hobelbank" (G. Simmel). Um eine soziale Beziehung im strengen Sinne zu werden, d. h. eine solche, aus der „Gebilde" erwachsen, muß Gewalt zur Macht werden. D. h. sie muß sich „mit einem Tropfen demokratischen Öls salben", muß aus dem Verhältnis der Gleichheit und der Anerkennung die für den Zusammenhalt der Gesellschaft unentbehrlichen Elemente in sich aufnehmen. Damit ist nicht gesagt, daß alle Schöpfungen und Wirkungen der staatsbildenden Gewalt restlos verschwinden, sondern nur, daß die Gewalt innerhalb der neu geschaffenen Gesellschaft sich einschränkt, daß sie geregelt wird, und zwar entweder durch Herkommen, Sitte und Moral 1 [Vgl. Oppenheimer, Der Staat; im vorliegenden Band, S. 309-385; A.d.R.] 2 Derselbe, System der Soziologie, Bd. IV, S. 18ff.

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oder durch die öffentliche Meinung oder durch den Staat. Das so geschaffene soziale Verhältnis nennt Vierkandt das „Kampfverhältnis". Es ist eingeschränkt durch „eine besondere Kampfmoral und ein besonderes Kampfrecht" und steht unter zwei überall aufzufindenden Geboten; dem der Anerkennung: der Kampf ist an sich freigegeben, und dem der Einschränkung: der Kampf darf nicht „leiblich, geistig, wirtschaftlich oder gesellschaftlich in einer unverhältnismäßigen Weise, auf keinen Fall bis an die Wurzeln seines ganzen Daseins den Unterlegenen schädigen". 1 Dieses Kampfverhältnis tritt überall auf, wo der Machtwille auf Widerstand stößt: wo er Fügsamkeit findet, besteht das „Ubermachtverhältnis". Es ist gleichfalls ein durch Moral und Recht geregeltes innergesellschaftliches Verhältnis zwischen Ober- und Unterklasse. Nur ist es nicht mehr das Recht im Sinne der Gerechtigkeit, d. h. der „Gleichheit der persönlichen Würde aller", sondern im Sinne eines geltenden „positiven Rechtes". Innerhalb des weiten Spielraums, den dieses Recht der Ungleichheit und die Sitte ihr lassen, waltet die Macht im allgemeinen willkürlich; neben der Machtregelung steht die Machtwillkür. Damit meint Vierkandt, daß der Machthaber in aller Regel von dem Spielraum seiner Macht bis an die letzte Grenze Gebrauch macht, die ihm Recht und Sitte stecken. Als drittes Merkmal des Ubermachtverhältnisses findet er den „Willkürwahn von unten", erwachsen aus dem, was wir das „passive Machtstreben" nennen: außer in Krisenzeiten pflegt der Schwache auch die Übermacht willig anzuerkennen, es sei denn, daß sie ihm nicht einmal erlaubt, die Mittel der Selbst- und Arterhaltung zu erwerben, wodurch die Gesellschaft sich selbst auflöst. Bis dahin ist sie geneigt, für wirkliches Recht der Gerechtigkeit zu halten, für wirkliche Reziprozität der Leistung und Gegenleistung, was doch nur „subjektive Reziprozität" ist. 2 In diesem Sinne ist jedes Machtverhältnis, auch das Ubermachtverhältnis, ein Rechtsverhältnis.

6.

Klassenmacht

Unter Klasse wollen wir verstehen „erbliche, einander über- und untergeordnete Dauergruppen". Unter diesen Begriff der Klasse im weiteren Sinne subsumieren wir die Kasten, Stände und Klassen (im engeren Sinn). „Sie sind unterschieden namentlich durch die Schwierigkeit, die das Ausscheiden aus der Gruppe mit sich bringt. Soziologisch aber bedeutsamer ist, was sie an Gemeinsamem haben, daß sie nämlich dauernde erbliche Verhältnisse der Individuen, daß sie, vom Ganzen her gesehen, erbliche Gruppen oder Schichten sind, deren Personenbestand in der Regel und im großen durch den Zufall der Geburt bestimmt ist und bleibt." 3 Den vorgeschichtlichen Rahmengruppen ist diese hierarchische Ordnung unbekannt: die sogenannten Alters- und Heiratsklassen sind, die ersten nicht dauernd, und die letzten einander nicht über- und untergeordnet. Klassen in unserem Sinne finden sich nur im geschichtlichen Staate, der, dank seiner Entstehung, von vornherein ein Klassenstaat ist. Und so finden wir denn auch nur hier Klassenmacht. Ihre Charakteristika zählt Vierkandt 4 folgendermaßen auf: erstens sind die Träger des Machtverhältnisses jetzt Teilgruppen·, im einfachsten Falle steht nur eine Herrengruppe einer Untertanengruppe gegenüber. Nach dem Satz von der Stileinheit der Kultur wandeln sich hier aber auch die rein persönlichen Verhältnisse der Führerschaft mehr und mehr in solche der Herrschaft um. In der patriarchalischen Familienordnung, die in ihrer Reinheit sich nur bei den primären Hirten findet, steht der Hausvater seinen Frauen und Kindern, stehen auch die älteren Geschwister, namentlich der älteste Sohn den jüngeren Geschwi-

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Über den Typus der „Ventilsitten", die zur Beseitigung gefährlicher Spannungen dienen, s. den Artikel: Sittlichkeit, Punkt 5, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 908. Ebenda, Bd. II, S. 21. Vierkandt, Gesellschaftslehre, S. 286ff.

Machtverhältnis

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stern, mit viel größerer Macht gegenüber, indem sich äußere Macht verstärkt dazugesellt, während gleichzeitig die innere Macht gewaltig gesteigert wird. Namentlich sinkt auf dieser Stufe die Stellung der Frau tief unter diejenige, die sie in der Gemeinschaft einnimmt.1 Für diese Wandlung ist charakteristisch das Wort Familie" selbst, das, von famulus abgeleitet, Sklavenschaft bedeutet; im Lateinischen sind die Kinder die freien Mitglieder dieser dem Patriarchen völlig unterworfenen Gruppe, die „liberi". Von dieser Familie, nicht aber von der modernen Kleinfamilie, die nur Frau und Kinder umfaßt, hat Aristoteles den Staat abgeleitet! Zweitens ist diese Klassenmacht institutionell begründet, zuerst im Recht der Verfassung und des Eigentums, nach Aufhebung der formellen Standesvorrechte nur noch in dem letzteren. Drittens spielt, wie schon gesagt, die Macht hier eine viel größere Rolle, und dadurch ist die Fülle der Macht außerordentlich gesteigert.

7.

Klassenpsychologie

Mit der Machtungleichheit verbindet sich die Wertungleichheit der beteiligten Teilgruppen, genauer gesprochen die beiderseitige Uberzeugung solcher Wertungleichheit, ein schroffer Dualismus von höherwertigen und minderwertigen Menschen auch im Bewußtsein der Unterklasse, und daher ein ausgesprochenes Bewußtsein der Distanz zwischen beiden Schichten. Die Oberklasse ist in ihrer Lebensführung und Gesamthaltung das ideale Vorbild der Unterklasse, auch noch in Zeiten, wo eine veränderte Lagerung der Klassenmacht die innere Macht der Oberklasse bereits stark erschüttert hat. „Der deutsche Arbeiter war im tiefsten Herzen trotz alles theoretischen Anti-Militarismus und Pazifismus ein glühender Bewunderer unseres Heerwesens und seines Ruhmes. - Der britische Arbeiter liest nichts mit soviel Leidenschaft wie die echt-englische, immer wiederkehrende Erzählung von dem armen Knaben, der durch einen glücklichen Unglücksfall zu einer Lordschaft samt dem zugehörigen Rieseneinkommen gelangt, eine Geschichte, die ihn doch wahrhaftig wenig angeht, da er kein Peerage zu erwarten hat, selbst wenn seine sämtlichen männlichen Verwandten plötzlich hingerafft würden. Die ,poor white' der Südstaaten waren mindestens so fanatische AntiAbolitionisten wie die Sklavenhalter selbst, obgleich ihre Notlage und Entwürdigimg offenbar in der Sklaverei wurzelte. - Die gehobenen Arbeiter der gesamten anglosächsischen Welt, vor allem in Neuseeland, haben keinen größeren Ehrgeiz, als das Leben der ,gentlemen' in jeder Beziehung, wenn nicht zu führen, so doch nachzuahmen: sie halten sogar, in starkem Unterschied von den meisten ihrer Klassengenossen in Europa, an dem .gentlemanliken' allsonntäglichen Kirchenbesuch eisern fest.2 Und daß die Mittelklasse aller Welt sich mit Erfolg bemüht, sich durch die Nachahmung der Oberen lächerlich und unausstehlich zu machen, braucht kaum erwähnt zu werden."3 Dieses Klassenideal ist verschieden, je nachdem die Haltung der Oberklasse verschieden ist, und das hängt vielleicht(?) ein wenig mit der „Rasse", und sehr stark mit der wirtschaftlichen Stellung zusammen. So ζ. B. verwirft in England auch der Mittelstand das Duell, seit der völlig kommerzialisierte Adel es aufgegeben hat, während er in Kontinentaleuropa wie der noch nicht völlig kommerzialisierte Adel daran festhält: der Unterschied zwischen dem „Blutadel" der Großgrundeigentümer und der „Nobilität" oder „nuova gente" der kapitalistischen Herrenschicht. Ein Versuch von hier aus die Mentalität der am Weltkrieg beteiligten Völker zu konstruieren, scheint mir nicht übel geglückt zu sein.4

1 2

Vgl. Artikel: Familie I, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Metin, Le Socialisme sans Doctrines, Paris 1901, S. 268.

3

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. I, S. 703.

4

Ebenda, S. 702ff.

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

Alle „Volkskunst", bis zum Volkslied, ist herabgesunkene Herrenkunst, alle Volkstracht gesunkene Herrentracht (Hans Naumann). Ja, man kann sagen, daß der wichtigere Teil aller Kirnst von allem Anfang an Herrenkunst gewesen ist. Bekanntlich hatte der Jäger eine in ihrer Art sehr vollkommene naturalistische Kunst, der vorstaatliche primitive Bauer eine gänzlich unnaturalistische, „geometrische" Kunst, die hauptsächlich von Weibern geübt wurde und durch Jahrtausende hindurch gänzlich unverändert blieb. Neben und über sie tritt dann mit dem Zeitalter der Wanderung und Eroberung, mit der Bildung der Stände und des Staates, die Herrenkunst. Ihr Auftreten ist neben dem befestigter Burgen sozusagen das Leitfossil, an dem der Prähistoriker die Entstehung der Klassenmacht erkennen kann. Die gemeinsamen Züge des Herrenstils sind nach Hoernes1: negativ die Uberwindung des alten Bauernstils, positiv das Herrentümliche und kriegerisch Prunkhafte, stofflicher Reichtum und stolze Prachtentfaltung, reichliche Verwendung von Edelmetall und edlem Gestein, Glasflüssen, kunstvoll eingelegte mehrfarbige und durchbrochene Arbeiten, üppiger Leibesschmuck und besonders stattlicher Waffenprunk. Charakteristisch für diese Stilart ist die Arabeske die Pflanzenranke oder der rankenförmig zerdehnte und verschlungene Tierkörper. „Das stilisierte Pflanzen- und Tierornament ist etwas durchaus Neues gegenüber dem alten Naturalismus und dem reinen Geometrismus (...), der klare Ausdruck des parasitischen Lebens auf symbiotischer Grundlage."2 Um zu unserem Gegenstande zurückzukehren, so ist diese innere Macht der Oberklasse über die Unterklasse natürlich viel stärker in primitiven Zeiten, wo noch der Traditionalismus die Seelen beherrscht, als in unseren modernen Zeiten, wo der Klassenkampf entbrannt ist und sich seine legitimierenden Ideologien geschaffen hat - und wir haben gezeigt, wie stark jene Macht noch heute ist. Mc Dougall kann aussprechen: „Der Engländer liebt einen Lord notorisch und ahmt ihn nach."3 Dem passiven Machtbewußtsein der Unterklasse entspricht seitens der Oberklasse das aktive Machtbewußtsein und äußert sich sofort als „Herrenton", der die Distanz betont. Aber ursprünglich begegnen sich beide Teile in der unbezweifelten überlegenen Stellung der Vornehmen. Die Gesellschaftsordnung erscheint beiden angesichts der anerkannten Ungleichheit als natürlich und gebührend, als vernünftig und gottgewollt. Wo das Klassenverhältnis sich kräftig mit Elementen der Gemeinschaft mischt, im sogenannten patriarchalischen Verhältnis, stehen sich Herrschende und Gehorchende gegenüber, die aber zugleich durch das Bewußtsein, der gleichen Gruppe anzugehören, und die damit verbundene Gesinnung der gegenseitigen Förderungsbereitschaft miteinander verknüpft sind. Das Bewußtsein, zu der Gruppe „dazugehören", ist für den Lebensgehalt der abhängigen Glieder von größter Bedeutung, indem es sie vor einer Verengung auf ihre eigene kleine Person bewahrt und sie statt dessen an dem vollen Gehalt des größeren Ganzen teilnehmen läßt: das ist der wichtigste Inhalt des sogenannten Corpsgeistes, wie er sich in jeder von Mc Dougall sogenannten „hochorganisierten Gruppe" findet. Um eine solche zu bilden, sind ihm zufolge außer den aller Vergesellschaftung zugrunde liegenden Faktoren noch die fünf folgenden besonderen Bedingungen erfordert: erstens eine gewisse Kontinuität, dargestellt entweder materiell durch das Beharren der gleichen Persönlichkeiten oder formell durch das Fortbestehen eines Systems von allgemein anerkannten Stellungen, die hintereinander von verschiedenen Personen besetzt sind; zweitens muß sich in dem Bewußtsein der Masse der Glieder eine ausreichende Vorstellung von der Gruppe, ihrer Natur, Zusammensetzung, Funktion und Leistungsfähigkeit, und von den Beziehungen der Individuen zu der Gruppe finden. Eine dritte, wichtige, aber vielleicht nicht unerläßliche Bedingung ist die Wechselwirkung mit anderen Gruppen in Gestalt des Konfliktes oder Wettbewerbs, durch die

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Hoernes, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, Wien/Leipzig 1929, S. 111. Vgl. Artikel· Kunst, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. McDougall, Social Psychology, London 1908, S. 344f.

Machtverhältnis

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das Gruppenselbstbewußtsein erweckt oder gefördert wird. Viertens ein Wissen um einen Körper von Uberlieferung, Gewohnheit und Brauch in den Gliedern. Und schließlich fünftens eine Organisation der Gruppe, bestehend in der Entfaltung und Besonderung der Funktionen ihrer Mitglieder.1 Diese sämtlichen Bedingungen sind sowohl in der Gruppe als Ganzem wie in den besonderen Organisationen vorhanden, die der äußeren Macht der Oberklasse vor allem zu dienen haben, nämlich in Heer, Polizei, Kirche und Schule. Auch die der Unterklasse angehörigen Glieder dieser Organisationen sind von einer zuweilen geradezu fanatischen Anerkennung des Klassenverhältnisses beseelt und geben den Herrenton verstärkt und vergröbert nach unten hin weiter, fühlen sich geradezu als Mitglieder der Oberschicht, derart, daß auf diese Weise, durch innere Macht, die äußere Macht auf das äußerste verstärkt wird, welche die Oberklasse in diesen Organisationen sich verfügungsbereit gestaltet hat. Überall, wo der Konflikt der Klassen noch nicht im offenen Kampfe ausgebrochen ist, pflegt der Unteroffizier noch konservativer zu sein als seine Vorgesetzten, und in vielen englischen Romanen erscheint der oberste der männlichen Diener einer adligen Familie, der Butler, als der wahre Hort konservativer Gesinnung und altväterischer Haltung. Wo aber die Klassenverhältnisse zum Problem geworden sind, d. h. wo der Interessengegensatz als solcher der Unterklasse zum Bewußtsein gelangt ist, da bilden sich oben wie unten charakteristische Klassenideologien aus, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern die gleichen Grundzüge aufweisen. Die Ideologie der Oberklasse ist der Legitimismus, die der Unterklasse das Naturrecht. Beide wollen, wie alle Ideologien, das Ziel und die Mittel des Kampfes legitimieren. Die Herrengruppe, die Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden anerkennt, erklärt sich selbst, als die Sieger - und von ihrem Standpunkt aus ganz mit Recht - , als die bessere, tüchtigere „Rasse", eine Anschauung, die sich verstärken muß in dem Maße, wie die Unterklasse bei harter Arbeit, schmaler Kost und schlechter, entwürdigender Behandlung leiblich und seelisch herabkommt. (Hier entstehen „Schein-Erbrassen". Das Milieu nämlich wirkt auf den „Phänotyp" gewaltig ein, während der „Genotyp" sich nicht ändert: sogenannte „Paravariation". Da nun im historischen Klassenverhältnis die Oberklasse immer den gleichen günstigen, die Unterklasse aber immer den gleichen ungünstigen Bedingungen der Ernährung - „die halbe Rasse geht durchs Maul", sagen die Züchter - , Behausung und Behandlung unterworfen bleibt, entsteht der Anschein wirklich verschiedener, echter Erbrassen.2 Hier wurzeln alle Rassentheorien, die immer den ganz gleichen Inhalt haben, ob nun Arier oder Mongolen, Hamiten oder Semiten die Oberschicht darstellen.) Da nun ferner der Stammesgott der Herrenklasse in der neuen, durch Verschmelzung entstandenen Staatsreligion zum Obergott geworden ist, so erklärt die Herrengruppe und wieder von ihrem Standpunkt aus ganz mit Recht - die Klassen- und Staatsordnung für gottgewollt, für „tabu". Sie wird durch äußere Macht gesichert, aber der eigentliche Grund ihrer Anerkennung durch die Unterklasse ist wieder innere Macht, und zwar in zwiefacher Beziehung. Erstens hat die religiöse Sanktion des Tabu bis auf sehr hohe Stufen herauf eine von innen her wirkende starke Gewalt, und zweitens hat ja der Klassenstaat die Funktionen der alten Gemeinschaft übernommen und wird daher als Ganzes, nicht nur in seinen einzelnen Befehlen, von dem Schimmer ihrer „Heiligkeit" umwittert:

1

McDougall, T h e Group Mind, Cambridge 1920, S. 49f.

2

Vgl. dazu Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. IV, S. 182ff., sowie den Artikel: Rasse, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.].

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Zweiter Teil: Staat, Nationalismus

und

Demokratie

„Indem die herrschende Klasse sich mit der Staatsgewalt identifiziert, nimmt sie in ganz natürlicher Weise alsbald jene Idee der Heiligkeit, Unverletzlichkeit, Göttlichkeit des Staates für sich, für ihr gesellschaftliches Recht in Anspruch."1 Durch einfache logische Umkehrung erscheint der Oberklasse andererseits die unterworfene Gruppe als schlechtere Rasse, als störrisch, tückisch, träge und feige und ganz und gar nicht fähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen. Ferner erscheint der Herrenklasse ebenfalls durch einfache Umkehrung jede Auflehnung gegen ihre Herrschaft als Empörung gegen Gott und sein Sittengesetz. Darum steht die Herrengruppe überall in enger Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen rekrutiert und an allen ihren Rechten und Privilegien ihren Anteil hat. Sie ist es, die durch die innere Macht der religiösen Sanktion das Machtverhältnis stärker stützt, als alle äußere Macht es vermochte. Der äußere Ausdruck dieser Einstellung ist die Junkerpsychologie", ihr wichtigster Zug ist der „Junkerstolz", die tiefe Verachtung der Arbeit und der arbeitenden Unterschicht. Dem Edlen ziemt nicht die Arbeit, sondern nur Jagd, Krieg und Raub. Ein zweiter, kaum weniger charakteristischer Zug ist die überzeugte oder doch wenigstens nach außen hin stark betonte Frömmigkeit: überall ist die Oberklasse der geschworene Verbündete der offiziellen Staatsreligion, deren höhere Priesterstellen, wie schon gesagt, immer von ihren jüngeren Söhnen besetzt werden. Regelmäßiger Kirchenbesuch gehört noch heute zu den Ehrenpflichten des Landadels in vielen Ländern. Dabei erscheint Gott den Mitgliedern der Herrenklasse als ihr besonderer Stammes- und Klassengott: als Kriegsgott und als Schirmherr der „gottgewollten Abhängigkeiten", d. h. der Klassenordnung. Um das Bild der Herrenpsychologie zu vollenden, nennen wir noch die Neigung zur Verschwendung, die sich oft edler als Freigebigkeit darstellen kann: leicht verständlich bei dem, „der nicht weiß, wie die Arbeit schmeckt", und als schönsten Zug die todverachtende Tapferkeit, mitgebracht aus der Kriegerzeit, wach erhalten durch den der Minderheit obliegenden Zwang, ihre Rechte jeden Augenblick mit der Waffe zu verteidigen, und begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die es gestattet, den Körper in Jagd, Sport und Fehde auszubilden. Ihr Zerrbild ist die Rauflust und die bis zur Verrücktheit gehende Uberspitzimg des persönlichen Ehrgefühls, in Japan nicht weniger als in Mittel- und Westeuropa. Die Klassenideologie der Unterklasse ist, sobald sie zum Bewußtsein des Gegensatzes erwacht, notwendigerweise eben liberal und revolutionär wie die der Oberklasse legitimistisch und konservativ. Sie beruft sich auf das „natürliche Recht", das unverrückbar in den ewigen Sternen hängt, und auf die Gleichheit der Menschen vor Gott wenigstens seit dem Siege des Christentums. Gegen das legitimistische Schlagwort „Autorität, nicht Majorität" stellt sie den umgekehrten Satz „Majorität, nicht Autorität". Sie steht der offiziellen Religion und Kirche, die sie mit den Gegnern verbündet sieht, häufig sehr skeptisch gegenüber und neigt zur Sektenbildung: Hochkirche und niedere Kirche in England. Aber selbst in ihren offiziell antireligiösen, ja atheistischen Formen wie namentlich im modernen Bolschewismus, ist die Grundhaltung dennoch stark religiös gefärbt, ist chiliastischenthusiastisch unterlegt, schon kraft des Zusammenhangs mit dem Naturrecht, das ja als über Zeit und Raum stehend, als irgendwie göttlichen Ursprungs empfunden wird. Selbstverständlich gilt aller Adelsstolz als pure Anmaßung, während die Rassetheorien abgelehnt werden; und vom Standpunkt der Unterklasse aus wieder mit vollem Recht, weil sie sich dessen bewußt ist, und weil es ihr zudem von oben her immer gepredigt wird, daß Fleiß, Geduld und Gehorsam hohe und Gott ganz besonders wohlgefällige Tugenden darstellen. Hier zeigt sich der oben dargestellte Dualismus des ganzen Machtverhältnisses in Gestalt der „doppelten Moral". 2

1 von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. I, München 1921, S. 61. 2 Vgl. Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 334ff.

Machtverhältnis

8.

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Klassenverhältnis

Den Inhalt der Klassenherrschaft und damit die Grundlage der Klassenmacht können wir in Anlehnung an Max Weber folgendermaßen zusammenfassen: die Herrenklasse ist gegen die Untertanenklasse, also nach außen, „geschlossen", insofern sie die Zulassung ausschließt oder beschränkt oder Bedingungen knüpft. Sie verwehrt ihr den Zutritt zu den „monopolisierten Chancen", die sie kraft des positiven Rechtes besitzt, „Chancen der Befriedigung innerer oder äußerer Interessen". Diese Chancen heißen, wenn sie appropriiert sind, „Rechte", und wenn sie erblich appropriiert sind, „Eigentum". Zum Begriff der Klassenmacht gehört mit anderen Worten nicht nur die Rechtsungleichheit, sondern auch die wirtschaftliche Ausbeutung aufgrund der monopolisierten Eigentumsrechte. W o das Eigentum an den Personen der Unterklasse selbst besteht, da bestehen die Verfassungen der Sklaverei oder der Hörigkeit. W o aber die persönliche Freiheit bereits garantiert ist, aber die Existenzmittel, vor allem die Arbeitsmittel, erblich appropriiert sind, da besteht der Kapitalismus: die durch diese Monopole „beschränkte", nicht aber, wie allgemein angenommen wird, die „freie" Konkurrenz. Die „kapitalistische Verteilung" ist bestimmt durch die aus dem Feudalstaat mit eingebrachte Verteilung des Eigentums: wer dieses besitzt, dem fließt selbstverständlich auch das Einkommen daraus zu. Das Klassenverhältnis ist also Anwendung der „Ursprungsnorm" (Kelsen) des Klassenrechts und der schon aus ihr entsprungenen sekundären Normen, also eines im soziologischen Sinne echten Rechts, das freilich durchaus nicht das „Recht der Gerechtigkeit" ist. Es regelt die Vorrechte und Ansprüche der Herren und die Gehorsam- und Ehrenpflichten der Untertanen derart, daß deren Prästationsfähigkeit möglichst nicht leide. Der Leistungspflicht der Untertanen entspricht die Schutzpflicht der Herren, die sich auf verbotene Handlungen der eigenen Klassengenossen ebenso erstreckt wie auf Angriffe der äußeren Feinde. Der Inhalt der Herrschaft ist außer den Ehrenrechten der oberen und den entsprechenden Pflichten der unteren Klasse die Verteilung in dreifachem Sinne. Von allem Anfang an wird das Eigentum entweder ganz den Herren vorbehalten, oder sie nehmen sich Großeigen, wo den Unteren nur Kleineigen gestattet ist. Die Arbeit wird derart verteilt, daß alle angenehme, ehrenvolle, leichte und lohnende Arbeit (Jagd, Krieg, politische Tätigkeit im Rate, als Gesandte, als Beamte) den Herren vorbehalten bleibt, während alle schwere, lästige, schmutzige, gesundheitschädliche Arbeit der Unterklasse zufällt. Und der Ertrag der gesellschaftlichen Arbeit wird derart verteilt, daß die Unterklasse womöglich auf die Dauer nur die Lebensnotdurft, und die Oberklasse den ganzen Uberschuß erhält.1 Bis zur gesetzlichen Abschaffung der ständischen Privilegien durch die bürgerlichen Revolutionen genießt die Herrenklasse außer ihrem privatrechtlichen Klassenmonopol des Großeigentums auch noch [das; A.d.R.] des öffentlich rechtlichen Monopols der Staatsverwaltung. Dieses gibt ihr die äußere Macht in die Hand, um Unruhen und Aufstände der Unterklasse zu unterdrücken. Alle ehrenvollen und gut besoldeten Stellungen sind ihnen rechtlich vorbehalten: im Hof-, Militär-, Verwaltungs- und Regierungsdienst. Aufgrund dieses Privilegs verwalten sie den Staat ganz offen und ohne Skrupel lediglich im Interesse ihrer Klasse, teils durch eine formelle Klassengesetzgebung, durch die sie ihre nutzbaren Rechte befestigen und erweitern, teils durch eine bloß praktische Klassenpolitik, Klassenverwaltung und Klassenjustiz. Durch die Gesetzgebung statuieren sie ζ. B. ihr Recht der Steuerfreiheit. Ihre Klassenpolitik führt außenpolitisch den Staat zu Kolonialerwerbungen und Kriegen, deren Geld- und Blutlast die Masse trägt, während ihre Vorteile der herrschenden Klasse zufließen; - und äußert sich innenpolitisch in der Handels- und Zollpolitik, indem zu Lasten der Masse Verträge geschlossen werden, die die herrschende Klasse bereichern; in der Finanzpolitik,

1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. II, S. 325.

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indem Anleihen für Zwecke der Herrenklasse aufgenommen werden, die die Masse verzinsen und tilgen muß; in der Steuerpolitik durch Abwälzung aller Lasten nach unten und „Liebesgaben" für oben; in der Kirchen- und Schulpolitik durch eine nur für die höhere Klasse zweckmäßige Erziehung und Leitung der unteren. Und das alles wird gesichert durch immer neue Klassenrechte, die dann die Klassenjustiz so wendet, daß die scharfe Schneide immer nach unten, der stumpfe Rücken immer nach oben gekehrt ist. In all dem hat sich seit der Errichtung der bürgerlichen Verfassungsstaaten formell viel, aber praktisch nur wenig geändert. Selbst der Staat der Sowjets ist ein ausgesprochener Klassenstaat und unterscheidet sich von dem Bürgerstaate ebenso wie der Faszismus nur dadurch, daß er den Klassenkampf mit all diesen Waffen zum offenen Staatsprinzip erklärt hat, während der Bürgerstaat die Gleichheit aller seiner Glieder offiziell bekennt und durch Rechtsbeugung, Terrorismus, Bestechung usw. hintenherum erreicht, was er auf geradem Wege nicht erreichen kann.1

9.

Internationale

Machtverhältnisse

Wir haben in der Begriffsbestimmung dargelegt, daß das Machtverhältnis nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen Gruppen bestehen kann. Wir wollen hier unter dem etwas irreführenden Titel kurz betrachten: die im modernen Sinne internationalen Machtbeziehungen zwischen politisch souveränen Staaten, aber auch die vorstaatlichen, die zwischen selbständigen Gruppen, „Rahmengruppen", und schließlich auch noch diejenigen Machtbeziehungen, die innerhalb eines und desselben Staatswesens zwischen nationalen bzw. religiösen Mehrheiten und den entsprechenden Minderheiten bestehen. Um zunächst von den internationalen im engeren Sinne und den intertribalen, oder: von den zwischenstaatlichen und zwischenstammlichen Beziehungen zu sprechen, so ist die allgemeine Auffassung weit übertrieben, daß hier lediglich die äußere Macht und das Kampfverhältnis walten. Die alte epikuräische Auffassung, die Hobbes und neuerdings noch Ratzenhofer vertraten, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ist eine logische Konsequenz der unhaltbaren soziologischen Auffassung, die, statt von der Gruppe, vom isolierten „verabsolutierten" Individuum ausgeht. Selbst der äußere Machtkampf zwischen benachbarten vorstaatlichen Gruppen ist fast immer ein geregeltes Kampfverhältnis; das Recht der Parlamentäre ζ. B. wird wohl überall streng gewahrt.2 Aber das Kampfverhältnis ist in der vorstaatlichen Stufe durchaus nicht die Regel; es spielen starke friedliche Beziehungen zwischen den benachbarten Gruppen in Handel und Geselligkeit, Beziehungen, die durch den über viele Gruppen des gleichen Bezirkes verteilten gleichen Totem oder Kobong vermittelt und gestärkt werden: eine Folge der weitverbreiteten Exogamie. Diese ursprünglichen „gemeinschaftlichen" Beziehungen zwischen Gleichen3 können unter Umständen durch Ubermacht der einen Seite Beimischung von Herrschaftsverhältnissen erlangen; so ζ. B. wird berichtet, daß schwache Gruppen genötigt werden oder sich doch genötigt fühlen, im Austausch von Gast- oder Friedensgeschenken mehr zu geben, als sie empfangen. Ein Verhältnis der reinen Gewalt findet sich nur im ersten Stadium der Staatsbildung, dem „Bärenstadium"; schon vom zweiten, dem „Imkerstadium" an, ist das Ubermachtverhältnis geregelt, und mischt sich der äußeren Macht starke innere Macht aus dem Grunde zu, weil bereits hier die Herrengruppe die Landesverteidigung und

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Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. III, S. 518ff. Uber geregelten und ungeregelten Kampf, insbesondere Krieg vgl. Artikel: Genossenschaftliche Gesellschaftsform, Punkt 8, und Artikel: Sittlichkeit, Punkt 7; [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Vgl. hierüber den Artikel: Genossenschaftliche Gesellschaftsform, Punkt 4; [ebenda].

Machtverhältnis

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den Rechtsschutz nach innen auf sich genommen hat.1 Aber auch zwischen gleich starken souveränen Stämmen bzw. Staaten mischt sich dem Verhältnis der äußeren Macht häufig ein solches der inneren Macht bei. Manche Gruppen genießen in ihrer Umgebung eines bedeutenden Prestige [sie], ihrer Tapferkeit oder ihrer Zauberkraft halber; so ζ. B. wird der Frieden der Märkte im allgemeinen auch von den gefährlichsten Raubstämmen pünktlich eingehalten.2 Institutionen, Sitten und Werkzeuge solcher besonders hoch geachteter Stämme oder Staaten werden vielfach nachgeahmt; schon Bagehot hat das in bezug auf die Kriegsberühmtheit beobachtet: „Jede Nation bestrebte sich fortwährend, die stärkste zu sein, und machte die besten Waffen oder ahmte sie nach; durch bewußte und unbewußte Nachahmung bildete sich jede Nation einen für den Krieg und die Eroberung passenden Charaktertypus."3 Erzbischof Söderblom berichtet, daß die Kulturärmeren die Tabugebräuche von ihren Nachbarn entlehnen und sich dadurch als höhere Wesen fühlen. Ein solches Prestige und eine solche innere Macht haben auch entwickelte Staaten gegenüber anderen. Ein gutes Beispiel für das Altertum ist das durch seine Kunst und Wissenschaft hochberühmte Athen, das auf dieses Prestige hin sich gegenüber den Römern mehr herausnehmen durfte als andere unterworfene Kleinstaaten. In unserer Gegenwart genießt die Schweiz eines ähnlichen Prestige und dadurch einer größeren Sicherheit, als ihre militärische Stärke allein zu schaffen vermochte. Ähnlichen Bedingungen verdanken etwa das friderizianische Heerwesen, der englische Sport und Komfort und die französische Mode ihre mustergebende innere Macht gegenüber fremden Staaten und Völkern. Die Emanzipation der russischen Leibeigenen durch Alexander Π. war großenteils auch nichts anderes als eine Nachahmimg der prestigebehafteten Mächte jenseits der Westgrenze. Das Verhältnis der verschiedenen religiösen bzw. nationalen Gruppen innerhalb desselben politischen Staatswesens kann alle Stadien vom puren Gewaltverhältnis (Zwangstaufen usw.) bis zur völlig gemeinschaftlichen Organisation der vollkommenen Gleichberechtigung durchlaufen. In den meisten Kulturstaaten ist die Beziehung der religiösen Gruppen zueinander bereits nahezu gemeinschaftlich geordnet, freilich vielfach erst in allerletzter Zeit: Gleichberechtigung der Katholiken und Juden in England. Bis dahin bestand in der Regel noch ein Ubermachtverhältnis der Mehrheit gegenüber der Minderheit (Kulturkampf in Preußen). Im heutigen Rußland hat die bolschewistische Staatsreligion die krasse Unduldsamkeit der zaristischen Orthodoxie übernommen. Was die nationalen Minderheiten anlangt, so besteht außer in der Schweiz überall noch ein Verhältnis der Ubermacht, das sich in allen Ausmaßen der Zurücksetzung, ζ. B. im Amtswesen, und gelegentlich sogar in einem gänzlich kruden Verhältnis reiner Gewalt äußern kann. Ein gutes Beispiel dafür ist die türkische Politik gegen die Armenier, ein anderes die Politik des zaristischen Rußland gegenüber den Pogromen, die Preisgabe der Juden an den Pöbel: die Juden Rußlands stellen nämlich gleichzeitig eine religiöse und nationale Minderheit dar.

10. Die Machthaber Max Weber unterscheidet drei Typen legitimer Herrschaftsmacht. Er fügt hinzu, daß es die reinen Formen in der Wirklichkeit kaum gibt, und wir müssen hier daran erinnern, daß er die notwendige Unterscheidung zwischen Herrschaft und Führerschaft nicht gemacht hat. Die Herrschaftsmacht ist erstens rationalen Charakters: ruhend auf dem Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen und 1

Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. Π, S. 285.

2

Ebenda, S. 371.

3

Bagehot, Ursprung der Nationen, Leipzig 1872, S. 58.

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des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen (legale Herrschaft): zweitens traditionalen Charakters: ruhend auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen (traditionelle Herrschaft); drittens charismatischen Charakters: ruhend auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen (charismatische Herrschaft). Im Fall der satzungsmäßigen Herrschaft wird der legal gesetzten unpersönlichen Ordnung und dem durch sie bestimmten Vorgesetzten kraft formaler Legalität seiner Anordnungen und in deren Umkreis gehorcht. Im Fall der traditionalen Herrschaft wird der Person des durch Tradition berufenen und an die Tradition (in deren Bereich) gebundenen Herren kraft Pietät im Umkreis des Gewohnten gehorcht. Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Heldentum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht.1 Die Macht des Machthabers über die Seele der Machtunterworfenen kann, idealtypisch gesehen, beruhen auf Autorität oder Prestige; in der Wirklichkeit finden sich beide in den verschiedensten Mischungen verbunden. Autorität beruht nach Leopold und Vierkandt auf eigener Beobachtung und Würdigung sowohl der Persönlichkeit im ganzen wie ihrer Leistungen, die man fachmännisch zu beurteilen imstande ist, weil man die Sache selbst versteht. Beim Prestige aber fehlen entweder die tatsächlichen Erfahrungen dieser Überlegenheit, oder es fehlt wenigstens an einem verständnisvollen Erleben dieser Überlegenheit; an ihre Stelle tritt ein bloßer Eindruck oder das verständnislose Erleben. Die Quellen des Prestige sind erstens als angeboren eine gewisse Ausdruckshaltung und Ausdrucksbewegung, die die „Zauberkraft" der Persönlichkeit darstellen. Zweitens, als erworben, eine gewisse Stellung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art, drittens Überlieferung, Berichte und Gerüchte; die Legitimität hat mehr Prestige als der Usurpator. Autorität und Prestige wirken beide zunächst verstärkend auf das negative Selbstgefühl der Machtunterworfenen. Aber dort verbindet sich damit das positive Selbstgefühl, aus eigenem Sachverständnis heraus urteilen zu können; der einzelne und ebenso die Gruppe nimmt innerlich teil an der Größe des Starken, kann sich ihr anpassen und sie sogar zum Teil beeinflussen. Beim Prestige aber fehlt diese wohltätige Ergänzung, dazu ist die innere und äußere Distanz zu groß. Der Machtunterworfene ist gleichsam gelähmt. Das Bewußtsein der fördernden Überlegenheit ist viel schwächer als gegenüber der Autorität; es beschränkt sich auf die Hoffnung, daß der Mächtige wenigstens fördern kann, wenn er will; sonst hätten wir die reine Furchtbeziehung. Tönnies sagt: „Furcht wird zu Ehrfurcht." 2 In der vorgeschichtlichen Gemeinschaft und der heutigen genossenschaftlichen Gesellschaftsform überwiegt die Autorität bei weitem; für die Verbreitung von Prestige fehlen hier die wichtigsten Bedingungen, nämlich Distanz, Laientum, Anhäufung von Massen, und die großen sozialen Krisen, in denen der charismatische Führer als Kriegsheld, Parteihaupt oder Prophet auftritt. In diesen Gruppen haben eigentliches Prestige nur die mit der Magie zusammenhängenden Personen, Gruppen und Institutionen, also ζ. B. der Medizinmann, die geheimen Männerbünde und Kultfeiern. Dagegen spielt das Prestige in der Klassengesellschaft als wichtiges Mittel der Klassenmacht eine sehr große Rolle. Vierkandt, dem wir hier weitgehend gefolgt sind, sagt: „Im Führerverhältnis herrscht die Autorität, im Herrschaftsverhältnis das Prestige."3

1 2 3

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124. Vgl. Artikel: Sozialpsychologie, Punkt 3, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Über die Aufgaben der Machthaber siehe Geiger, Führen und Folgen, Berlin ohne Jahr, S. 16ff., sowie seinen Artikel: Führung II, [in: Handwörterbuch der Soziologie; A.d.R.]. Vgl. auch den Artikel: Genossenschaftliche Gesellschaftsform, [ebenda].

Staat und Nationalismus [1932/1933]1

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Staat als Oberbegriff und dem modernen Nationalstaat als einer seiner historischen Erscheinungsformen, als Unterbegriff. Schon als Oberbegriff gefaßt, ist der Staat eine sehr junge Erscheinung. Ungefähr hunderttausend Jahre wenigstens lebt der Mensch in Europa: aber der Staat ist wenig über 5.000 Jahre alt. Er entstand im „Zeitalter der Wanderung und Eroberung", als um die Mitte des vierten Jahrtausends v. Chr. die Reiterhirten Westasiens den Weg nach Europa gangbar fanden, den ihnen bis dahin der große Gletscher von Norden her, das zentralasiatische Mittelmeer von Süden her, und in der schmalen Gasse dazwischen, der ungeheure Urstrom mit seinen Sümpfen und dichten Wäldern gesperrt hatte. Damals zuerst entstand durch Unterwerfung der neolithischen Bauernschaften der Staat in seinem geschichtlichen Sinne, als eine Hierarchie einander über- und untergeordneter Klassen: die Erobererherren oben als vorberechtigt, die Unterworfenen unten als vorverpflichtet. Der Staat ist gewaltgeschaffen! Sein ursprünglicher Zweck bestand in nichts anderem als in der Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen; die Steuer- und Leistungspflicht der Untertanen wird derart geregelt, daß diesen die Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Sie werden bewirtschaftet wie eine Herde, die ihr Besitzer vor tierischen und menschlichen Räubern schützt und in Notzeiten füttert - um sie scheren und schlachten zu können. Aber das ist nur der erste Anfang. Um sich zu erhalten, muß der Staat die Funktionen der von ihm, wenn nicht völlig zerstörten, so doch von ihm ein- und sich selbst untergeordneten alten „Gemeinschaft" der naturwüchsigen Einung von Verwandten und Nachbarn übernehmen: den Grenzschutz nach außen und, vor allem, den Rechtsschutz nach innen. So wird er ein Bastard von Herrschaft und Genossenschaft, von Gleichheit und Ungleichheit, von Recht gewordenem Unrecht und wirklichem Recht; er hört auf, nur ein „magnum latrocinium" zu sein und wird ein „corpus mixtum". Das hat Nietzsche besonders klar erkannt (jetzt haben es auch die Ethnologen eingesehen): „Ich, der Staat, bin das Volk, brüllt das kalte Untier". Das ist der Staat im allgemeinen. Der Nationalstaat ist noch viel jünger, kaum 700 Jahre alt; er entsteht erst im 13. und 14. Jahrhundert zunächst in Frankreich und England. Bis dahin war der Staat ein Haufwerk von Gauen und Provinzen ohne inneren Zusammenhang, abgesehen von dem allen gleichmäßig aufgezwungenen religiösen Glauben. Nichts hielt die Teile zusammen als die gemeinsame Steuerpflicht und Dienstpflicht gegenüber einer gemeinsamen Dynastie. Rasse und Sprache waren den Gewalthabern völlig gleichgültig; nichts interessierte sie als die Steuer- und Dienstleistung. Aber um jene Zeit wirken eine ganze Anzahl von Umständen zusammen, um die Änderung herbeizuführen. Die „Christenheit", weltlich unter dem Kaiser, geistlich unter dem Papst zusammengefaßt, ist zerfallen. Die Verlotterung des Papsttums, die ungeheuren Summen, die es den Län-

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[Erstmals erschienen in: Der Morgen, 8. Jg. (1932/33), S. 438-444; A.d.R.]

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dem erpreßte, um seine Italienpolitik zu betreiben, der Gebrauch des Bannfluches für offenkundig politische Zwecke eben dieser Politik, der ausschweifende Luxus der Kirche drückten schwer auf die Länder. Hier hatte sich in den Städten eine starke Kraft des Widerstandes gebildet; sie ging zuerst mit den Landesfürsten zusammen, die die Auspowerung ihrer Länder und die Einmischung der Kirche in ihre inneren Verhältnisse nicht dulden konnten. In diesen Städten kam ein Rationalismus auf, den der naturgebundene Landmann ebensowenig aufbringen kann, wie die militärische Widerstandskraft, die der Städter hinter seinen Mauern besitzt. Dieser Rationalismus höhlt die abergläubische Furcht vor den kirchlichen Machtmitteln mehr und mehr aus. Das Papsttum gelangt zeitweilig unter die Kontrolle der französischen Könige, und zwar während des langen „Exils" in Avignon, namentlich während des Schisma, das dem Papsttum allen Kredit raubte. So entsteht der absolute Staat, gestützt auf die Städte und die neu aufkommende rationalistische Wissenschaft des Rechtes und auch der Theologie: die Legisten der Universität von Paris, Wicliff und Occam in England; er entsteht als eine Notwendigkeit, um der Anarchie ein Ende zu machen, in die der Feudalismus die in Atome zersplitterte Gesellschaft versetzt hatte. So entstehen gleichzeitig aus einer einzigen Wurzel der Absolutismus, der Nationalismus, und der Kapitalismus, zunächst, vor allem in England, als agrarischer Kapitalismus, in dem das Land zur Ware wird, die von Hand zu Hand geht. Es sind drei Schößlinge aus einer einzigen Wurzel - und der ganze Kampf der letzten Jahrhunderte, der ganze Inhalt der Weltgeschichte seit dieser Zeit, ist nur zu verstehen als der Kampf der Gemeinschaft mit diesen verbündeten Feinden. Denn - in letztem Grunde ist der Staat immer noch, was er von allem Anfang an war: die geregelte Gewalt zum Zweck der Bewirtschaftung des Menschen durch den Menschen, der Ausbeutung der Unterklasse seitens der Oberklasse. Die Oberklasse, jetzt nicht mehr feudal, sondern auch in ihren agrarischen Mitgliedern kapitalistisch, braucht den Staat, um sich gegenüber der ausgebeuteten Klasse in ihren Vorrechten zu behaupten. Der Staat braucht den Kapitalismus, um das stehende Heer zu besolden, das allein ihn nach außen und nach innen schützen kann, nachdem die feudale Wehrverfassung verfallen ist. Beide bekennen sich zum Nationalismus: die Staatsgewalt, weil sie in der Idee des Vaterlandes und der gemeinsamen Abstammimg eine stärkere Stütze findet als in der Idee der Dynastie, die mit dem frommen Glauben sehr viel von ihrer früheren Macht über die Seelen verloren hat. Die Kapitalistenklasse braucht den Nationalismus, weil sie im Wettkampf um die Märkte der Welt vor allem den Binnenmarkt für sich monopolisieren will. Der Ausdruck dieser Haltung ist der Merkantilismus, das Bündnis zwischen Krone und Kommerz. „Machtbilanz" und „Geldbilanz" sind gleich einem Doppelstern das Zeichen, nach dem dieses Staatsschiff gesteuert wird. Diese Trias, dieser dreiköpfige Gott des Todes und Verderbens, hat nur einen Feind, den er zu fürchten hat: den Verbündeten seiner Anfänge, den Rationalismus. Er wird die Geister oder besser: den Geist, nicht mehr los, den er selbst rief. Von den Kampfschriften an, die im Investiturstreit die großen Gegner Papsttum und Kaisertum gegeneinander erließen, führt eine einzige Linie der Entwicklung über Calvin, Althusius und die Monarchomachen bis zu Rousseau und den Enzyklopädisten: mit dem Ergebnis, daß der in seiner Versteinerung zum Hindernis der kapitalistischen Wirtschaft gewordene Absolutismus niedergerungen wird. Aber der neue Staat, der Verfassungsstaat, ist immer noch der alte Staat der Gewalt und der klassenmäßigen Ausbeutung. Und so muß der Rationalismus den Kampf weiterführen. Diesmal erscheint der Rationalismus in der Gestalt des Sozialismus der verschiedenen Richtungen. Jetzt ist nicht nur mehr bloß der Staat der Gegenstand seiner immer gewaltiger werdenden Angriffe, sondern der Kapitalismus, dessen Gehäuse dieser Staat nur noch darstellt. Wie dieser Kampf auslaufen wird, kann keinem Zweifel unterliegen. Es gibt ein altes deutsches Weiswort: „Hunderttausend Jahre Unrecht machen noch keine Stunde Recht." Schon heute sind die antikapitalistischen Elemente der Völker weit in der Mehrheit. Wenn sie über den Weg zu

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ihrem gemeinsamen Ziele einig wären, könnte nichts sie hindern, das Antlitz der Welt völlig zu verändern, den Staat als Oberbegriff, den historischen Klassenstaat, aufzuheben, und die alte „Gemeinschaft" in ungeheuer erweitertem Rahmen in ihre unverlierbaren Rechte wieder einzusetzen. „Genährt wird einst das menschliche Geschlecht mit Wahrheit werden und getränkt mit Recht", sagt C. F. Meyer in seinem „Hutten". Ich habe in meinen letzten Schriften, in wissenschaftlicher Fassung in „Weder Kapitalismus - noch Kommunismus", in volkstümlicher Fassung in „Der dritte Weg" den Weg zu zeigen versucht, der zu dem gemeinsamen Ziele führt. Die Dinge liegen, geschichtsphilosophisch betrachtet, unendlich einfach. Die urtümliche Gewalt jener Anfänge hat sich in zwei Institutionen ihre Rechtsform, ihre Verfassungsform geschaffen, die einander ergänzen, deren jede ohne die andere unmöglich ist: die Unterwerfung des Menschen in der Gestalt von Sklaverei und Hörigkeit einerseits, und die Unterwerfung des Bodens, die Monopolisierung der Erde in Gestalt des geschlossenen, d. h. die Unterklasse ausschließenden Großgrundeigentums andererseits. Die „bürgerlichen" Revolutionen taten nur den ersten Schritt. Sie haben den Menschen befreit. Der zweite und letzte Schritt ist noch zu tun, und er wird bald geschehen: nun auch die Erde zu befreien. Damit wird das Klassenverhältnis verschwunden sein, das immer noch besteht, trotzdem das formelle Standesverhältnis beseitigt ist. Und damit werden verschwunden sein die beiden anderen Schößlinge aus der gleichen Wurzel: der Kapitalismus und sein Gehäuse, der Klassenstaat. Die Menschen werden wieder in „Gemeinschaft" leben. Die Logik führt zum gleichen Ergebnis wie die Ethik, und das beweist die Richtigkeit der Auffassung: nur dort, wo beide übereinstimmen, sind wir sicher, die Wahrheit erreicht zu haben. Nun hat aber das Bestehende selbstverständlich seine Verteidiger, zumeist Gutgläubige: denn der Mensch ist so geartet - es ist das sozialpsychologische Hauptgesetz - daß er alles das für wahr und gut hält, was seiner Gruppe oder Klasse nützlich ist, und alles das für falsch und schlecht, was ihr schadet. Da nun Logik und Vernunft auf Seiten der Gegner sind, so bleibt den Verteidigern nur übrig, Logik und Vernunft zu mißbrauchen oder ganz zu leugnen. Das erste geschieht durch die Klassenwissenschaft und die Klassenreligion. Von der letzteren ist nur zu sagen, daß sie die Vernunft durch die Berufung auf eine höhere, dem Menschen nur allenfalls zu erahnende, aber niemals zu verstehende göttliche Vernunft mundtot zu machen versucht. Die Klassenwissenschaft leugnet die Logik nicht, aber sie mißbraucht sie. Sie wird Klassenadvokatie, wird in den Händen bezahlter Klassenadvokaten bösartigste Rabulistik. Wir wollen hier nur von den gutgläubigen Dingen kurz sprechen, es liegt uns fern, den Gegnern mala fides zuzuschreiben: wir keimen die Fracht der Klassenblendung allzugut. Hierher gehört erstens die Verteidigung des Kapitalismus durch fast die gesamte Nationalökonomie der Gegenwart. Und da der Kommunismus gar nichts anderes ist als das fotografische Negativ des Kapitalismus, mit dem einzigen Unterschiede, daß er die Wertakzente umkehrt, schwarz und weiß vertauscht, so gehört hierher auch der Marxismus, wobei mit Marx selbst („Moi, je ne suis pas marxiste") gesagt werden muß, daß der heutige Marxismus nicht etwa als die reine Lehre seines Heros eponymicus betrachtet werden darf. Hierher gehören zweitens alle die Lehren, die den Staat, den historischen Klassenstaat, geradezu vergotten, wie es als Erste Hegel, dann, viel plumper, aber gerade darum auch viel wirksamer, Treitschke, getan haben. Die höchste Zuspitzung dieser Auffassung bedeutet in der Theorie die Lehre vom „absoluten Staat", in der Praxis der Staat der Sowjets und des Faszismus'. Hier überall 1

[Im Originaltext verwendet Oppenheimer den Begriff Faszismus statt dem später üblichen Terminus Faschismus-, A.d.R.]

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wird der Absolutismus zu seiner äußersten Vollendung, Zuspitzung und Überspitzung ausgedacht oder auszugestalten versucht. Hierher gehört drittens die wissenschaftliche Form, in der der letzte der Verbündeten, der Nationalismus, sich heute präsentiert. Das sind die Rassentheorien. Vor dem Forum der Logik können alle diese Lehren ebensowenig bestehen, wie vor dem der Ethik. Sie sind in ihren sämtlichen Gestaltungen vollkommen widerlegt. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Aber es wird schon dadurch bewiesen, daß innerhalb der Anhänger jeder dieser Lehren Streitigkeiten ohne Ende bestehen, nicht nur über die Ereignisse, sondern sogar über die Methode, und ohne Methode kann es ja keine Wissenschaft geben. Die bürgerlichen Ökonomisten streiten nicht nur mit den Marxisten, sondern unter sich über jeden einzigen Punkt; und das gleiche gilt von den Marxisten unter sich. Auch die Staatstheoretiker sind ebensowenig einig wie die Rassentheoretiker. Da nun die Logik gegenüber der Aufgabe, die heutige „Ordnung" zu legitimieren, offenbar versagt, so tun die rabiatesten ihrer Verfechter den letzten möglichen Schritt. Sie wenden den Satz: „credo quia absurdum", der in seiner Berufung auf eine überirdische Instanz immerhin noch etwas Großartiges an sich hatte, weil er Resignation in Demut bedeutete - sie wenden den gleichen Satz frech auf die irdischen Dinge ohne die Berufung auf eine andere Instanz als ihren eigenen unverschämten Hochmut. Sie leugnen die Logik und die Ethik überhaupt. Sie berufen sich nicht auf Gott, sondern auf die tierische Natur als die letzte Instanz überhaupt - sie berufen sich auf das „Blut". Sie wollen keine Gründe hören, wollen nicht mit Gründen die Wahrheit ergründen und ihre Handlungen begründen: der Gegner, weil angeblich anderen Blutes, hat ja doch eine andere Logik als sie; er kann sie so wenig verstehen wie sie ihn. Er hat, wie schon einer der ersten Vertreter dieser oberfährlichen Spielart, Houston Stuart Chamberlain, zu sagen wagte, andere „plis de la pensee". Soviel für die Theorie! Und daraus ergibt sich, daß auch in der Praxis nur das „Blut" entscheiden kann und soll, aber hier in dem furchtbaren Sinne, daß derjenige Unrecht behält, dessen Blut in dem Kampfe verrinnt, der auf Grund dieser unmenschlichen Auffassung auf der Strecke bleibt Damit hat sich der Kreis geschlossen: die Gewalt, die diesen Staat, diesen Kapitalismus, und diesen Nationalismus geschaffen hat, beruft sich als letzte Instanz auf sich selbst. Es gibt kein Recht mehr, es gibt keine Menschlichkeit mehr, es gibt nur noch Gewalt, die die Macht erstrebt, um sich mit unmenschlichen Mitteln durchzusetzen. Das ist die Krisis, in der sich die europäisch-amerikanische Menschheit heute befindet. Viel ärger und gefährlicher als die wirtschaftliche Krise, die aus den gleichen Wurzeln erwachsen ist. Diese kann, und wird vielleicht, noch einmal überwunden werden: aber die geistig-sittliche Verwirrung mag tödlich sein. Die irregeleitete Klassenwirtschaft und Klassenreligion haben es fertig gebracht, dem Schiffe, in dem die verzweifelte Menschheit über einen vom Taifun aufgewühlten Ozean treibt, Steuer und Kompaß zu rauben: den Glauben an die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen und das Recht zu erobern. Der geistreiche Dr. Oettli hat vor einiger Zeit in einer kleinen Streitschrift gegen Ludwig Klages dessen Richtung vorgeworfen, daß bei ihr der „Geist" genau die gleiche Rolle spiele, wie der Teufel in der scholastischen Literatur. D. h., den Nagel auf den Kopf treffen! Richtig ist, daß der wirkliche Teufel dieser ganze Spuk der Romantik ist, der den Geist zu verachten vorgibt, weil er den Weg der Gewalt, zur civitas diaboli, sperrt: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft, Laß nur in Blend- und Zauberwerken Dich von dem Lügengeist bestärken, So hab ich Dich schon unbedingt",

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läßt Goethe seinen Mephisto sagen. Wenn wir nicht zugrunde gehen wollen, so müssen wir diesem Spuk in entschlossener Kehrtwendung den Rücken kehren und uns vom Geist, der Gottes ist, führen lassen zum Rechtsstaat, zur civitas dei.

Quellenverzeichnis

Aufgrund der Vielzahl der in diesem Band aufgenommenen Schriften von Franz Oppenheimer werden die darin vom Autor zitierten Werke im folgenden insgesamt alphabetisch aufgeführt.

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Namenverzeichnis

Die kursiv gesetzten Zahlen beziehen sich auf Namen aus den Fußnoten. Abel 476,477 Achelis, Thomas 315 Agamemnon 255 Alarich 483 Alexander der Große 254 AlexanderΠ. 559 Althusius, Johannes 562 Ambrosius 260, 399 Amonn, Alfred 259, 393, 395, 411, 458-460 Ancillon, Johann Peter Friedrich 312 Angell, Norman 116 Annunzio, Gabriele d' 432, 443 Arbuez, Pedro de 413 Aristoteles 312, 420, 462, 475, 529-30, 553 Arius 412 Arndt, Ernst Moritz 525 Arnulf 276 Ascher, Saul 390 Attila 273,359 Augustinus 412, 475, 479 Avogados 18 Babeuf, Franfois Noel 521 Bagehot, Walter 559 Bahr, Hermann 151 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 471 Barth, Paul 270, 408 Bastiat, Frederic 499 Baur, Erwin 540 Bauer 73 Bazard, Albert 117,469 Baertling, Peter Konrad 112 Belek 253 Berchtold, Graf v. 445 Bernatzik, Edmund 451, 453-455

Bernstein, Eduard 15-18, 20-22, 24-25, 106, 470 Buddha 271 Bismarck, Otto v. 27, 29, 273, 276-277, 395 Björnson, Björnsterne 411 Blumenbach, Eugen 540 Bluntschi, Johann Caspar 313 Böhm-Bawerk, Eugen v. 39, 57 Bolle, Carl 131 Boleslaw der Rote 359 Bowditch 361 Brady 534 Brehmer, Hermann 393 Breitbarth 544 Breysig, Kurt 280, 351, 406 Brodnitz, Georg 134, 524, 532 Bruno, Giordano 400 Buber, Martin 311 Buchenberger 135 Bücher, Karl 344-345, 403, 411 Buchez, Phillipe Benjamin 27 Büchsenschütz, Bernhard 353 Buckle, Henry Thomas 287 Buhl, Frants 329,350,360 Büsser 152 Cabet, Etienne 470 Calvin, Johann 562 Cäsar, Gaius Iulius 254, 271, 275-276, 366, 419 Campanella, Tommaso 27, 400, 418, 521 Carey, Charles Henry 38, 99, 117, 286, 312313 Carlyle, Thomas 273 Carver, George Washington 533-534 Catilina 276

572 Chaldun, Ibn 493 Chamberlain, Houston Stuart 258-261, 298, 391, 398-401, 411-413, 432, 449, 540, 564 Chiari, Hans 452 Chlodwig 295,359 Christus 271, 274-276, 399 Cicero, Marcus Tullius 313 Cieza de Leon 330 Clemenceau 244 Colbert, Jean Baptiste 498 Comte, Auguste 262, 469, 536 Cook, James 342 Croce, Benedetto 517, 521 Cromwell, Oliver 254 Cumberland, Richard 518 Cunow, Heinrich 317, 330, 360 Cuvier, Georges Baron v. 253 Cyrus 359 Dante Alighieri 412 Darwin, Charles 428, 538-539 Dehmel, Richard 409,482 Delbrück, Hans 392 Descartes, Rene 469 Dietzel, C. 471,504 Ditzel, Heinrich 281 Driesmans, Heinrich 390 Dschingis-Khan 273,359 Dühring, Eugen 3, 38, 105, 118, 286, 470, 540 Dürkheim, Emil 410 Dyk, Victor 82-83 Eden, Anthony 243 Ehrenberg, Richard 128, 411 Eisenhart, Hugo 376 Enfantin, Prosper 117, 469 Engels, Friedrich 33, 287-288, 471 Epikur 421,462,477 Erich, Herzog v. 283 Erismann 402 Fichte, Johann Gottlieb 27, 313 Finotjean 392-393 Flatow, Alfred 544 Fourier, Charles 48, 105 Frank, Ludwig 262 Franklin, Benjamin 131

Namenverzeichnis Franzi. 128 Friedrich der Große 27, 381, 498 Friedrich Wilhelm I. 498 Friedrich Wilhelm, Kurfürst v. Brandenburg 128 Friesen, Heinrich Freiherr v. 262 Fritsch, Gustav 404 Frundsberg, Georg v. 134 Fuchs 544 Fürst, Carl 402 Ganz, Hugo 439 Geiger, Theodor 560 George, Henry 38, 48, 59, 67, 383, 406 George, Lloyd 435 George, Stefan 472 Giddings, Franklin Henry 451,459 Gierke, Otto 160 Gobineau, Arthur Graf von 257-258, 260, 298, 389, 391, 396, 398-399, 411, 412, 538-540 Goethe, Johann Wolfgang 116, 119, 246, 254, 262, 265, 395, 472 Goltz, Theodor Freiherr v. d. 59, 91, 136, 532 Gossen, Hermann Heinrich 490 Gray, Thomas 525 Große, Ernst 316-318, 407, 419, 465 Grotius, Hugo 312 Gumplowicz, Ludwig 15-17, 20-21, 143, 279, 283, 293, 298, 315, 334, 382, 390-391, 410, 418, 421, 431, 443, 470-471, 475, 489, 494 Hamilton, Alexander 245 Hardenberg, Karl August Fürst v. 135, 136, 532 Hartmann, Robert 392 Hastings, Warren 119 Hauptmann, Gerhart 147 Heckmann, Gustav 151 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 272, 313, 382, 417, 468, 470, 472, 479, 517, 520, 562 Heine, Heinrich 262 Herder, Johann Gottfried 272, 382 Herrntritt, Rudolf Hermann v. 451 Herodot 347,361 Hertz, Friedrich 391, 394-395 Hertzka, Theodor 117,383,470 Hieronymus 441 Hilferding, Rudolf 29

Namenverzeichnis Hindenburg, Paul v. 73 Hitler, Adolf 246,247 Hobbes, Thomas 312, 477, 518, 558 Hoernes, Moritz 554 Homer 322 Huber, Victor Aime 27 Humboldt, Wilhelm v. 499, 501 Hume, David 27 Ignatius von Loyola 413 Inama-Sternegg, Karl Theodor v. 339, 364, 367, 369 Israels 262 Jäger 401 Jellinek, Georg 313 Jesaja 142, 143 Jordan, Wilhelm 390 Joseph Π. 498 Josua 273 Kain 476,477 Kandt, Richard 329 Kant, Immanuel 141, 263, 273, 280, 395, 418, 474-475, 483, 498, 499, 519, 520, 536, 538 Karl der Große 123, 276, 354-355, 359, 368 Karl V. 128 Karl, Herzog 284 Kautsky, Karl 21, 47, 67-68, 83, 91, 93, 97, 98, 105, 142, 502 Kelsen, Hans 274, 474, 557 Kern, Franz 538,540,545 Ketteier, Wilhelm Emmanuel Freiherr v. 27, 441 Keup 103-104 Kindermann, Karl 281 Kintzing, Pearce 391 Klages, Ludwig 564 Kleist, Heinrich v. 390 Klemm, Carl Julius 400 Knapp, Georg Friedrich 55, 62-63, 125-126, 134-135, 524, 532, 542 Kopp, Waldemar 336 Koppers, Wilhelm 475 Kosch 453 Krecke, Hermann 6 Kropotkin, Peter 383, 471, 525 Krupp, Alfred 151

573 Kruse 394,403 Kulischer 322, 342, 345, 353 Labruyere, Jean 525 Lagarde, Paul de 27 Lamarck, Jean-Baptiste 428 Lamennais, Franfois Robert de 27 Lämmel, Martin 129 Lamprecht, Karl 6, 41, 134, 407 Landis, Charles K. 4, 121 Landsberger, Benno 402 Laplace, Pierre Simon Marquis de 395 Lapouge, Vacher de 390, 395 Lassalle, Ferdinand 24, 499 Laveleye, Emile de 318, 319 Lehmann, Walter 253 Lenin, Wladimir Üjitsch 467, 471 Lensch, Paul 29-33,41 Lessing, Gotthold Ephraim 418, 480, 482, 537 Lewis, Sinclair 14 Lexis, Wilhelm 150, 570 Leyden, Johann v. 64 Lichtenberg, Bernhard 244 Liebig, Justus v. 402 Lilienfeld, Paul v. 332 Lippen, Julius 283, 315, 320, 322, 346, 347 List, Friedrich 27, 99, 457 Livi 402 L o c k e j o h n 312,518 Ludwig XIV. 256,498 Ludwig XV. 256,498 Lukas, Joseph 448, 450, 452, 455 Luther, Martin 128, 276, 412-413 Luxemburg, Rosa 525 Machiavelli, Niccolo 255 Maeterlings 323 Mahdi 285 Maimun, Salomon 262 Maine, Henry 313 Malthus, Thomas Robert 153, 384, 521, 525 Mandeville, Bernard de 519 Manouvrier, Leonce 393 Marat, Jean-Paul 426 Maria Theresia 498 Marburg, Konrad v. 413 Marius Gaius 276,419,422 Mayer, Helene 544

574 Marx, Karl 14, 16, 23-24,28-29, 31, 33, 39, 40, 45, 48, 55, 57, 60, 65-67, 70, 72, 87-93, 97, 102, 104-106, 113, 128, 134, 137, 141, 150, 155, 276, 287-288, 304, 306, 316, 382, 384,402, 417, 463-465, 467, 470-471, 489490, 502, 504, 522-523, 530-531, 563 McDougall, William 529, 554-555 Meitzen, August 318, 364, 366, 369 Mendelssohn, Moses 262 Menelaus 260 Menghin, Oswald 544 Menzel, Adolf 491, 492, 493 Meslier, Jean 521 Metin 123,553 Meyer, Eduard 134, 287, 475, 492, 493 Meyer, Conrad Friedrich 459, 563 Mill, John Stuart 38, 88, 143, 490, 523 Mill, James 490,523 Mitscherlich, Waldemar 457, 458 Mohammed 274,275,285 Moll, Bruno 113, 114, 118, 134, 135 Möllendorf, Wichard v. 27 Mommsen, Theodor 141, 272, 320, 337, 347, 349, 350-351, 353, 362, 365-366, 373, 408 Morgan, Lewis 465 Morris, William 27 Morus, Thomas 27, 63, 418, 521 Mosilikatse 359 Mührer 103-104 Müller, Adam 390 Müller, Max 391,538 Multatuli (Pseudonym für: Douwes-Decker, Eduard) 351 Müntzer, Thomas 64, 285, 521 Musser, Milton 12, 123 Mussolini, Benito 247 Napoleon Bonaparte 254, 395-396, 538 Naumann, Friedrich 246, 457 Naumann, Hans 554 Nelson, Leonard 549 Neumann, Friedrich Julius 123 Newton, Isaac 21 Nietzsche, Friedrich 273, 479, 561 Nordhoff, Heinrich 4 Nyström, Johan Frederik 394 Offermann, Alfred Freiherr v. 451,454

Namenverzeichnis Oettli, Samuel 564 Omar, Ibn Chattab 273, 359 Ottlingen, Alexander v. 479 Owen, Robert 119 Pare, William 5 Pascal, Blaise 395 Pedro 132 Peel, Sir Robert 66, 142, 150 Peschel, Oscar 343 Peter der Große 405 Piaton 27, 34, 104, 107, 312, 467-468, 521, 530 Plenge 27 Plinius 60,143 Plügge 133 Poincare 244 Pompejus 276 Preyer 82 Proudhon, Pierre Joseph 48, 105, 117, 420 Quesnay, Francois 38, 50, 71, 383, 418, 440, 468, 498, 502 Quetelet, Lambert Adolphe Jaques 479 Radbruch 472 Raffael 395,538 Rahmer, Sigismund 390 Ramses der Große 390 Ranke, Johannes 394 Rathenau, Walther 28 Ratzel, Friedrich 291, 307, 317-330, 333, 335, 339-340, 343-346, 348-351, 358-364, 366, 369, 373, 403-405, 465, 492 Ratzenhofer, Gustav 397, 404, 408, 527, 558 Ravenstein 53 Reinhold, Karl Theodor 411 Renner, Karl 451-454,459 Retzius, Anders Adolf 402 Ricardo, David 40, 92, 106, 141, 466, 470, 490, 521, 525 Riehl, Wühelm Heinrich 411 Robespierre, Maximilien 426 Rodbertus-Jagetzow, Carl 286, 313, 489 Roscher, Wilhelm 123, 504 Rospigliosi, Fürst v. 120 Ross, Edward Aisworth 410 Rousseau, Jean-Jacques 34, 119, 141, 312, 420, 480, 498, 520, 530-531, 534, 550, 562

Namenverzeichnis Rümelin, Gustaf

575 263

Saint Hillaires, Geoffrey 405 Saint-Simon, Claude Henry Comte de 27, 105, 117, 118, 272, 382, 390, 418, 420, 440, 468469, 475, 489 Salandra, Antonio 432 Salomo 360 Saphiea 255 Sargon 359 Savigny, Friedrich Karl v. 313 Say, Jean Baptiste 141-142, 420 Schachner, Robert 132 Schäffle, Albert 151,470,515-516 Schallmayer, Wilhelm 390 Scharnweber 520 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 313 Scherr, Johannes 255 Schiller, Friedrich 332, 395, 520, 538 Schleiermacher, Friedrich 272, 382 Schmidt, Wilhelm 475, 491, 544 Schmoller, Gustav 6, 18, 62, 124-125, 135, 411, 464-465 Schneider, Hermann 363, 364 Schopenhauer, Arthur 315, 334, 473 Schumpeter, Joseph Alois 39, 57 Sering, Max 97, 426 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 440, 518 Siegfried, Andre 385 Simmel, Georg 551 Sinclair, U p t o n 57 Sismondi, Jean Charles Leonard Simonde de 13, 107, 120, 525 Smith, Adam 19, 20, 27, 38, 50, 54-55, 58, 65, 90, 106, 128, 141, 149, 375, 383, 490, 496, 498-499, 502, 519-520, 523, 531, 550 Smythe, William A. 3, 7, 13, 122 Söderblom, Nathan 559 Solon 415 Sombart, Werner 62, 125, 280-281, 307, 336, 391, 407, 545 Spann, O t t m a r 470 Spencer, Herbert 262-264, 371, 425, 488 Spinoza, Baruch 262, 264, 312 Stahl, Friedrich Wilhelm 16, 313 Stalin, Josip Wissarionowitsch 247 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 135,136

Stein, Lorenz v. 27, 287, 443, 470-471, 491, 497, 519, 532, 556 Strabo 322,347 Struve, Peter v. 470 Stumm, Karl Freiherr v. 151 Sulla 276,419,423 Tacitus 538 Taine, Hippolyte 407, 525 Tamerlan 359 Tarde, Gabriel 410, 433, 459 Tertullian 441 Teutobod 273 Theoderich 273,483 Thompson, William 422 Thurnwald, Richard 326, 364, 366, 368-370, 376, 377 Tiza, Graf v. 445 Tolstoi, Leo 27,344,440 Tönnies, Ferdinand 281-282, 395, 473, 527, 548, 560 Treitschke, Heinrich 521, 563 Troeltsch, Ernst 33 Turgot, Anne Robert Jaques 141, 422, 462, 490, 502, 531 U hi and, Ludwig

336-337

Vandeleur 5,119 V e r n e j u l e s 397 Vierkandt, Alfred 345-547, 550, 552, 560, 573 Voltaire (Franfois-Marie Arouet) 27, 525 Wagner, Adolph 119, 466, 494, 496, 497, 501502, 506-507,510,514-515 Wakefield, Edward Gibbon 66-67 Wallenstein, Albrecht 137, 376 Walras, Marie Esprit Leon 523 Washington, George 131 Weber, Max 125, 475, 501, 546, 548-549, 557, 559-560 Wells, Hebe M. 13 Westermarck, Eduard 339, 343-344, 346 Whittington 144 Wiese, Leopold v. 33-38 Wilson, Woodrow 244 Wirth, Albrecht 396-397, 402 Wißmann, Hermann v. 403

576 Wolf, Julius 411 Wolff, Christian Freiherr v. 497 Woltmann, Ludwig 390, 395-396, 412 Woodruff, Wilford 8 Wundt, Wilhelm 464-465, 475, 490, 551

Namenverzeichnis Young, Brigham 7-11, 13-14, 122 Zaharo, Basil 247 Zola, Emile 482

Von der Aufgabe der Freiheit Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995 CHRISTIAN JANSEN / L U T Z NIETHAMMER / B E R N D W E I S B R O D ( H g . )

1995. 758 Seiten - 47 Abbildungen - 170 mm χ 240 mm Gb, DM/sFr 98,-/ öS 715,— ISBN 3-05-002835-1 Der Band ehrt einen der bedeutendsten deutschen Historiker anläßlich seines 65. Geburtstages. Die Beiträge greifen Mommsens große Thesen zur deutschen Zeitgeschichte auf, wie die kumulative Radikalisierung des Nationalsozialismus. Sie beziehen sich auf Debatten, in denen er sich stark engagiert hat, wie die um die „Modernität" des Dritten Reiches. Sie knüpfen an seine großen Themen an, so das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur nationalen Frage oder die Verantwortung der deutschen Führungsschichten. Sie stehen ihm nahe in der Verknüpfung von politischer und Sozialgeschichte oder im kämpferischen Impuls ihrer historischen Urteilsbildung. Sie teilen mit ihm die Erfahrung, daß in Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Selbstverantwortung aufgegeben und die Freiheit verspielt wurde, und sie betonen deshalb die Freiheit als Aufgabe. Aus dem Inhalt: I. Gelehrte Politik mit Beiträgen von: R. Vierhaus, Ch. Jansen, F. Klein, S. Friedländer, W. Schulze, B. Faulenbach II. Die Linke und die Nation mit Beiträgen von: D. Groh, B. Bonwetsch, J. Koralka, H. Steiner, Η. A. Turner, Jr. Η. Ο. Hemmer, Κ. von Beyme, Η. Grebing III. Die Rechte und die Demokratie mit Beiträgen von: G. D. Feldman, L. E. Jones, K. Rudolph, W. Schieder, B. Weisbrod, H.-U. Wehler IV. Zerstörte Freiheit mit Beiträgen von: I. Kershaw, G. Brakelmann, H.-D. Kreikamp, G. Botz, R. Angermund, D. Petzina, Ch. Kopper, M. Zimmermann, U. Herbert, U. Heinemann V. Vergangenheitspolitik und Neuorientierung mit Beiträgen von: L. Niethammer, N. Frei, O. Groehler, R. Bessel, S. Lokatis, G. Aly, E. Holtmann, W. Fischer, J. Kocka, M. R. Lepsius VI. Verstricktes Gedächtnis mit Beiträgen von: U. Borsdorf, F. Trommler, R. Schulte, M. Geyer, W. Benz, M. Steinhauser

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JÜRGEN SCHMÄDEKE

Wählerbewegung im Wilhelminischen Deutschland Eine historisch-statistische Untersuchung zu den Reichstagswahlen von 1890 bis 1912 1995. XXXVI 1020 Seiten Tabellen-Anhang 32 Karten - 336 Tabellen 77 Abbildungen 170 mm χ 240 mm Hc, 2 Bände im Schuber DM/sFr 4 7 5 - / öS 3.468,ISBN 3-05-002442-9

Jürgen Schmädeke untersucht in seiner historisch-statistisehen Analyse die Auswirkungen, welche die Dynamik der politischen und sozialen Veränderungen in den letzten zwei Jahrzehnten des Kaiserreichs auf das Wählerverhalten und die Parteienlandschaft hatte. Er analysiert die Zusammenhänge, die insbesondere zwischen der Sozial- und Konfessionsstruktur, aber auch regionalen Traditionen ei-

nerseits und dem Wählerverhalten und seinen Veränderungen andererseits bis zum Ersten Weltkrieg bestanden. Der Autor bedient sich dabei auch moderner statistischer Methoden wie der Korrelationsanalyse, beschreibt deren Ergebnisse indessen - im Text sowie in zahlreichen erläuternden Tabellen, Graphiken und Kartenbildern - in einer auch für den Nicht-Statistiker verständlichen Form. Die bisherige Literatur analysiert das Wählerverhalten zumeist einerseits in eng begrenzten regionalen Ausschnitten, andererseits in großflächigen Überblicken für das gesamte Reich. Hier werden beide Ebenen miteinander kombiniert. Datengrundlage sind die 397 Wahlkreise des gesamten Reichs, auf die erstmals auch die Ergebnisse der Berufs- und Gewerbezählungen von 1895 und 1907 umgerechnet wurden. Auf dieser Basis können ebenso lokale und regionale Sonderentwicklungen festgestellt wie übergreifende Trends sichtbar gemacht werden. Nach einer methodischen Einleitung und einem Überblick über die Wählerfluktuationen zwischen den sechs Reichstagswahlen von 1890 bis 1912 wird die Entwicklung der Stimmenanteile für die fünf großen Parteirichtungen (Sozialdemokratie, Zentrum, Linksliberale, Nationaliberale, Deutsch-Konservative), aber auch für kleinere Gruppierungen, insbesondere des rechten und regionalen Spektrums, in ihren strukturellen Abhängigkeiten von bestimmten Sozialmilieus untersucht. Abschließend werden die Ergebnisse zum einen regional, zum anderen nach Parteirichtungen zusammengefaßt. Insgesamt werden damit viele Annahmen über strukturelle und regionale Abhängigkeiten der Wählerverhaltens auf einer statistisch nachvollziehbaren Basis überprüft. Das Buch kann damit zugleich ein Fundament für zahlreiche weitere Detailstudien und deren Einordnung in einen Gesamtrahmen bieten.

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